Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit: Die ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen 9783110260502, 9783110260496

To date ‘Melusine’ – as an example of a literary book that has over the centuries reached different groups of readers in

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German Pages 423 [430] Year 2012

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Table of contents :
Verzeichnisse und Übersichten
Verzeichnis der allgemeinen Abkürzungen
Verzeichnis der abgekürzten Quellenbibliographien
Verzeichnis der Siglen zur »Melusine«-Drucküberlieferung
Übersicht über die »Melusine«-Drucküberlieferung
Buch und Werk
Text und Paratext. »Melusine«-Drucke des 16. Jahrhunderts
Drei ›Londoner‹ Spätausläufer der »Melusine«-Überlieferung
»Auf ein Neues übersehen, mit reinem Deutsch verbessert und mit schönen Figuren gezieret«. Beobachtungen zur Drucklegung der »Melusine« im 18. Jahrhundert
Wieder eine »Melusine« – und immer noch nicht genug?-. Vom Warum, vom Wie und vom Wert einer Neuausgabe der »Historischen Wunderbeschreibung von der sogenannten Schonen Melusina«
Melusine und die Vektorialität des Textes
Buch und Text
Ein Text wird in Ketten gelegt. Der Wandel transsyntaktisch kohäsionsstiftender Verknüpfungsmittel in der Überlieferung der »Melusine« vom 15. bis zum 17. Jahrhundert
Den Leser im Blick. Die Professionalisierung des Setzerhandwerks im 16. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf die Orthographie der Druckausgaben der »Melusine«
Druckersprachen und gesprochene Varietäten. Der Zeugniswert von Bämlers »Melusine«-Druck (1474) für eine bedeutende Frage der Sprachgeschichte
Zum Zusammenhang mikro- und makrostruktureller textueller Merkmale in der Tradition des Frühneuhochdeutschen Prosaromans
»Welche König Helmas in Albanien Tochter/ und ein Meer=Wunder gewesen.« Zur Syntax von Titelblattern des 16. und 17. Jahrhunderts
Buch und Bild
Drucke für die Kunst und Drucke für den Kunden-. Wandlung der »Melusine«-Illustrationen während vier Jahrhunderten
›Berühmte Frauen‹ im frühen Buchdruck: Melusine, Griseldis, Sigismunda und Lucretia
Die Darstellung des Wunderbaren. Zur Ikonographie der Illustrationen in den französischen und deutschen Handschriften und Wiegendrucken des »Melusine«-Romans
Bildtransfer und Textinnovation-. Zur Stellung der französischen Erstausgabe der »Mélusine« des Jean d’Arras von Adam Steinschaber 1478
Zur Überlieferungsgeschichte der Holzschnitte Hans Brosamers in den Frankfurter »Melusine«-Drucken des 16. Jahrhunderts
Missgeburt und Erbkrankheit – Mythos, Märchenfigur und Sagengestalt. Die pathologische Anatomie der Melusine
Register
Personenregister
Handschriftenregister
Ortsregister
Titelregister der anonym erschienenen Unterhaltungsliteratur (einschließlich der unfirmierten Melusine-Ausgaben)
Autorenverzeichnis
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Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit: Die ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen
 9783110260502, 9783110260496

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Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit

author 17 pt_Max Mustermann, Beate Buch, Christian Copytext, Doris Durchschuss

Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit Die »Melusine« des Thüring von Ringoltingen Herausgegeben von Ursula Rautenberg, Hans-Jörg Künast, Mechthild Habermann und Heidrun Stein-Kecks

ISBN 978-3-11-026049-6 e-ISBN 978-3-11-026050-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.d-nb.de. © 2013 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston. Typesetting: Medien Profis GmbH, Leipzig Printing: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Vorbemerkung Der Aufsatzband dokumentiert die Ergebnisse der interdisziplinären Tagung »Typographie, Text und Bild – Zeichensprachen des literarischen Buchs in der frühen Neuzeit« vom 14. bis 16. Oktober 2010 an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Teilgenommen haben Buchwissenschaftler/innen, Sprach- und Kunsthistoriker/ innen aus Deutschland, der Schweiz, England und Frankreich. Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die ihre Beiträge für die Publikation überarbeitet und zur Verfügung gestellt haben. Die Tagung ist aus dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft von 2007 bis 2011 geförderten Projekt »Die ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen in der deutschen Drucküberlieferung von ca. 1473/74 bis ins 19. Jahrhundert – Buch, Text und Bild« hervorgegangen. Die Projektergebnisse werden publiziert unter dem Titel Die Überlieferung der ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen: Buch, Text und Bild. Kommentierte Quellenbibliographie, buchwissenschaftliche, sprachwissenschaftliche und kunsthistorische Aufsätze (Hans-Jörg Künast/Ursula Rautenberg in Verbindung mit Martin Behr und Benedicta Feraudi-Denier; De Gruyter). In den Aufsätzen wird verschiedentlich auf die darin enthaltenen bibliographischen Beschreibungen der Melusine-Ausgaben verwiesen. Der Leser sei besonders auf die graphische Darstellung der Überlieferungszusammenhänge (erstellt von Nikolaus Weichselbaumer, Buchwissenschaft Erlangen) und das Siglenverzeichnis verwiesen, das beiden Bänden zur Orientierung vorgeschaltet ist. Zuletzt gilt unser Dank den materiellen Förderern: der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der German-Schweiger-Stiftung der FAU Erlangen-Nürnberg, die die Tagung ermöglicht haben, weiter der Deutschen Forschungsgemeinschaft für einen Beitrag zu den Druckkosten sowie dem Verlag De Gruyter für die Aufnahme in sein geisteswissenschaftliches Programm. Die redaktionelle Endbearbeitung, großzügig gefördert durch die German-Schweiger-Stiftung, lag bei Celestina Filbrandt, Tübingen.

Ursula Rautenberg, Hans-Jörg Künast, Mechthild Habermann, Heidrun Stein-Kecks Erlangen, im März 2012

Inhaltsverzeichnis Verzeichnisse und Übersichten  3 Verzeichnis der allgemeinen Abkürzungen  Verzeichnis der abgekürzten Quellenbibliographien   5 Verzeichnis der Siglen zur »Melusine«-Drucküberlieferung  Übersicht über die »Melusine«-Drucküberlieferung   9

 6

Buch und Werk Jan-Dirk Müller Text und Paratext   17 »Melusine«-Drucke des 16. Jahrhunderts John L. Flood Drei ›Londoner‹ Spätausläufer der »Melusine«-Überlieferung 

 33

Hans-Jörg Künast »Auf ein Neues übersehen, mit reinem Deutsch verbessert und mit schönen Figuren gezieret«   53 Beobachtungen zur Drucklegung der »Melusine« im 18. Jahrhundert André Schnyder Wieder eine »Melusine« – und immer noch nicht genug?   73 Vom Warum, vom Wie und vom Wert einer Neuausgabe der »Historischen Wunderbeschreibung von der sogenannten Schönen Melusina« Frédéric Barbier Melusine und die Vektorialität des Textes 

 99

Buch und Text Martin Behr Ein Text wird in Ketten gelegt   121 Der Wandel transsyntaktisch kohäsionsstiftender Verknüpfungsmittel in der Überlieferung der »Melusine« vom 15. bis zum 17. Jahrhundert

Inhaltsverzeichnis 

 VII

Anja Voeste Den Leser im Blick   141 Die Professionalisierung des Setzerhandwerks im 16. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf die Orthographie der Druckausgaben der »Melusine« Arend Mihm Druckersprachen und gesprochene Varietäten   163 Der Zeugniswert von Bämlers »Melusine«-Druck (1474) für eine bedeutende Frage der Sprachgeschichte Franz Simmler Zum Zusammenhang mikro- und makrostruktureller textueller Merkmale in der Tradition des Frühneuhochdeutschen Prosaromans   205 Ursula Götz »Welche König Helmas in Albanien Tochter / und ein Meer=Wunder gewesen.«  Zur Syntax von Titelblättern des 16. und 17. Jahrhunderts

Buch und Bild Benedicta Feraudi-Denier Drucke für die Kunst und Drucke für den Kunden   263 Wandlung der »Melusine«-Illustrationen während vier Jahrhunderten Kristina Domanski ›Berühmte Frauen‹ im frühen Buchdruck: Melusine, Griseldis, Sigismunda und Lucretia 

 291

Françoise Clier-Colombani Die Darstellung des Wunderbaren   321 Zur Ikonographie der Illustrationen in den französischen und deutschen Handschriften und Wiegendrucken des »Melusine«-Romans Nicolas Bock Bildtransfer und Textinnovation   347 Zur Stellung der französischen Erstausgabe der »Mélusine« des Jean d’Arras von Adam Steinschaber 1478

 237

VIII 

 Inhaltsverzeichnis

Bodo Gotzkowsky Zur Überlieferungsgeschichte der Holzschnitte Hans Brosamers in den Frankfurter »Melusine«-Drucken des 16. Jahrhunderts   377 Helmuth Steininger Missgeburt und Erbkrankheit – Mythos, Märchenfigur und Sagengestalt  Die pathologische Anatomie der Melusine

Register  Personenregister   411 Handschriftenregister   415  Ortsregister   416  Titelregister der anonym erschienenen Unterhaltungsliteratur (einschließlich der unfirmierten Melusine-Ausgaben)   417  Autorenverzeichnis 

 419

 395

Verzeichnisse und Übersichten

Verzeichnisse und Übersichten

Verzeichnis der allgemeinen Abkürzungen 

Verzeichnis der allgemeinen Abkürzungen Adj. Adjektiv adj. adjektivisch Adv. Adverb adv. adverbial ahd. althochdeutsch Akk. Akkusativ Akt. Aktiv alem. alemannisch Attr. Attribut attr. attributiv bair. bairisch Bd. Band BJ Biblioteka Jagiellonska Bl./Bll. Blatt/Blätter BL British Library BnF Bibliothèque nationale de France BNU Bibliothèque nationale et universitaire BSB Bayerische Staatsbibliothek Dat. Dativ Dekl. Deklination Dem. Demonstrativum Dim. Diminutivum dt. deutsch els. elsässisch Ex. Exemplar FB Forschungsbibliothek frnhd. frühneuhochdeutsch Fut. Futur Gen. Genitiv gez. gezeichnet GNM Germanisches Nationalmuseum Herzogin Anna Amalia Bibliothek HAAB HAB Herzog August Bibliothek halem. hochalemannisch hd. hochdeutsch Hlz. Holzschnitt Hs. Handschrift hs. handschriftlich i.d.R. in der Regel Imp. Imperativ Ind. Indikativ Inf. Infinitiv Jh. Jahrhundert Kj. Konjunktiv Konj. Konjunktion Konjug. Konjugation

Lat./lat. Latein/lateinisch LB Landesbibliothek Lz. Leerzeile m. maskulin Mask. Maskulinum max. maximal mbair. mittelbairisch md. mitteldeutsch mhd. mittelhochdeutsch mnd. mittelniederdeutsch mslfrk. moselfränkisch n. Neutrum Niederalem. niederalemannisch nd. niederdeutsch nfrk. niederfränkisch nhd. neuhochdeutsch Nom. Nominativ Num. Numerus obd. oberdeutsch Obj. Objekt obl. obliquus ofrk. ostfränkisch omd. ostmitteldeutsch ÖNB Österreichische Nationalbibliothek oobd. ostoberdeutsch Part. Partizip Perf. Perfekt Pl. Plural Plquperf. Plusquamperfekt Präp. Präposition Präs. Präsens Prät. Präterium [r] Rot-Druck refl. reflexiv rib. ribuarisch rhfrk. rheinfränkisch [s] Schwarz-Druck Rt. Rückentitel S. Seite SB-PK Staatsbibilothek Preußischer Kulturbesitz sw. schwach schwäb. schwäbisch Sg. Singular Sp. Spalte st. stark

Verzeichnis der allgemeinen Abkürzungen

 3

4 

 Verzeichnisse und Übersichten

St. Stamm StB Stadtbibliothek StudB Studienbibliothek Stadt- und Universitätsbibliothek SUB Subj. Subjekt Subst. Substantiv Staats- und Stadtbibilothek SuStB u. und ungez. ungezeichnet

unvollst. unvollständig UB Universitätsbibliothek Universitäts- und LandesULB bibliothek wmd. westmitteldeutsch wobd. westoberdeutsch Z. Zeile ZB Zentralbibilothek

Verzeichnis der abgekürzten Quellenbibliographien 

 5

Verzeichnis der abgekürzten Quellenbibliographien Gotzkowsky I bzw. II

Gotzkowsky, Bodo: »Volksbücher«. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke. Teil 1: Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts. Teil 2: Drucke des 17. Jahrhunderts. Mit Ergänzungen zu Bd. 1 (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 125/142). Baden-Baden 1991/1994.

GW

Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Hrsg. von der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Bd. 1–7. Leipzig 1925–1940. 2. Aufl. Bd. 1–7 hrsg. von der Kommission für den Gesamtkatalog der Wiegendrucke. Stuttgart / New York 1968. – Bd. 8ff. hrsg. von der Deutschen Staatsbibliothek zu Berlin. Bd. 8. Stuttgart / Berlin / New York 1978. Bd. 9. Stuttgart / Berlin 1991. Bd. 10ff. Stuttgart 2000ff. [online unter URL: http://gesamtkatalogderwiegendrucke.de]

Heitz / Ritter

Heitz, Paul / Ritter, Friedrich: Versuch einer Zusammenstellung der deutschen Volksbücher des 15. und 16. Jahrhunderts nebst deren späteren Ausgaben und Literatur. Straßburg 1924.

ISTC

Incunabula Short Title Catalogue. London: British Library 2008ff. [online unter URL: http://www.bl.uk/catalogues/istc/index.html]

VD16

Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16). Hrsg. von der Bayerischen Staatsbibliothek in München in Verbindung mit der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. I. Abteilung: Verfasser – Körperschaften – Anonyma. Bd. 1–22. Stuttgart 1983–1995. II. Abteilung: Register der Herausgeber, Kommentatoren, Übersetzer und literarischen Beiträger. Bd. 1–2. Stuttgart 1997. III. Abteilung: Register der Druckorte, Drucker, Verleger und Erscheinungsjahre. Stuttgart 2000. Online-Ausgabe mit Nachträgen: Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts. München: Bayerische Staatsbibliothek 2004ff. [online unter URL: http://www.vd16.de]

VD17

Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts. Berlin: Staatsbibliothek-Preußischer Kulturbesitz, München: Bayerische Staatsbibliothek, Wolfenbüttel: Herzog-August-Bibliothek 2007ff. [online unter URL: http://www.vd17.de]

VD18

Digitale Bibliothek deutscher Drucke des 18. Jahrhunderts. VD18. Halle: Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Berlin: StaatsbibliothekPreußischer Kulturbesitz, Dresden: Staats- und Universitätsbibliothek, Göttingen: Staats- und Universitätsbibliothek, München: Bayerischse Staatsbibliothek 2009ff. [online unter URL: http://www.vd18de]

Verzeichnis der abgekürzten Quellenbibliographien

6 

 Verzeichnisse und Übersichten

Verzeichnis der Siglen zur »Melusine«-Drucküberlieferung Sigle

Druckort

Drucker

Jahresangabe

Nr. der Beschreibung

I Inkunabelüberlieferung (2. Hälfte 15. Jahrhundert) Richel-1473/74

[Basel]

[Bernhard Richel]

[1473/1474]

I.1

Bämler-1474

Augsburg

Johann Bämler

02.11.1474

I.2

Knoblochtzer-1477

[Straßburg]

[Heinrich Knoblochtzer]

[um 1477]

I.3

Prüss-1478

[Straßburg]

[Johann Prüss d.Ä.]

[um 1478]

I.4

Knoblochtzer-1478

[Straßburg]

[Heinrich Knoblochtzer]

[um 1478]

I.5

Brandis-1479

[Lübeck]

[Lucas Brandis]

[um 1479]

I.6

Bämler-1480

Augsburg

Johann Bämler

19.05.1480

I.7

Knoblochtzer-1482

[Straßburg]

[Heinrich Knoblochtzer]

[1482]

I.8

Schönsperger-1488

[Augsburg]

[Johann Schönsperger d.Ä.] [um 1488]

I.9

Knoblochtzer-1491

Heidelberg

Heinrich Knoblochtzer

I.10

13.12.1491

II Straßburg-Augsburger Überlieferung (1. Häfte 16. Jahrhundert) Hupfuff-1506

Straßburg

Matthias Hupfuff

24.08.1506

II.1

Knobloch-1516

Straßburg

Johann Knobloch d.Ä.

1516

II.2

Steiner-1538

Augsburg

Heinrich Steiner

1538

II.3

Steiner-1539

Augsburg

Heinrich Steiner

1539

II.4

Messerschmidt-1539

Straßburg

Georg Messerschmidt

1539

II.5

Steiner-1540

Augsburg

Heinrich Steiner

1540

II.6

Steiner-1543

Augsburg

Heinrich Steiner

1543

II.7

III Frankfurter Überlieferung, Streuüberlieferung Augsburg und Straßburg (2. Häfte 16. Jahrhundert) Gülfferich-1549

Frankfurt a.M.

Hermann Gülfferich

1549

III.1

Gülfferich-1554

Frankfurt a.M.

Hermann Gülfferich

1554

III.2

Han-1556

Frankfurt a.M.

Weigand Han

1556

III.3

Han-1562

Frankfurt a.M.

Weigand Han

[vor 1562]

III.4

Han-1564

Frankfurt a.M.

Georg Rab und Weigand Han Erben

[1563/1564]

III.5

Rebart/Han-1571

Frankfurt a.M.

Katharina Rebart und Kilian Han

1571

III.6

Manger-1574

Augsburg

Michael Manger

1574

III.7

Müller-1577

Straßburg

Christian Müller

1577

III.8

Reffeler/Han-1577

Frankfurt a.M.

Paul Reffeler für Kilian Han

1577

III.9

Verzeichnis der Siglen zur »Melusine«-Drucküberlieferung 

 7

Sigle

Druckort

Drucker

Jahresangabe

Nr. der Beschreibung

Egenolff-1578

[Frankfurt a.M.]

[Christian Egenolff Erben]

[um 1578]

Egenolff-1580

[Frankfurt a.M.]

[Christian Egenolff Erben]

[vor 1580/81]

III.11

Feyerabend-1587

Frankfurt a.M.

Johann Feyerabend für Sigmund Feyerabend

1587

III.12

IV Streuüberliefrung (17. Jahrhundert) Pfeiffer-1649

Hamburg

Michael Pfeiffer

1649

IV.1

Endter-1672

Nürnberg

Michael und Johann Friedrich Endter

1672

IV.2

ohne Ort-1692

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

1692

IV.3

Nicolai-1692/93

Annaberg

David Nicolai

1692/93

IV.4

[1709–1735]

V.1

V »Historische Wunderbeschreibung« I (um 1700 bis um 1810) HWB I.1 (Wf)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

HWB I.2 (Sa)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

[1. Hälfte 18.Jh.]

V.2

HWB I.3 (Go)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

[1. Hälfte 18.Jh.]

V.3

HWB I.4 (We)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

[1. Hälfte 18.Jh.]

V.4

HWB I.5 (Be)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

[1. Hälfte 18.Jh.]

V.5

HWB I.6 (St)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

[um 1800]

V.6

HWB I.7 (Er)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

[um 1800]

V.7

HWB I.8 (Ev)

Köln

Christian Everaerts

[um 1810]

V.8

VI »Historische Wunderbeschreibung« II (um 1700 bis um 1810) HWB II.1 (Wi)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

[1. Hälfte 18.Jh.]

VI.1

HWB II.2 (1776)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

1776

VI.2

HWB II.3 (1782)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

1782

VI.3

HWB II.4 (1788)

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

1788

VI.4

HWB II.5 (Fl 1)

Reutlingen

Justus Fleischhauer

[vor 1813]

VI.5

HWB II.6 (Fl 2)

Reutlingen

Justus Fleischhauer

[vor 1813]

VI.6

HWB II.7 (Fl 3)

Reutlingen

Justus Fleischhauer

[vor 1813]

VI.7

VII Sächsische Überlieferung »Wunderbare Geschichte« (nach 1785 bis um 1810) WG 1 (Sol 1)

[Leipzig]

[Solbrig]

[nach 1785/ um 1800]

VII.1

WG 2

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

[um 1800]

VII.2

WG 3 (Sol 2)

[Leipzig]

[Solbrig]

[nach 1785/ um 1810]

VII.3

WG 4 (Sol 3)

[Leipzig]

[Solbrig]

[um 1810/20]

VII.4

WG 5 (Br)

[Bautzen]/ Dresden

[Johann Gottlieb Lehmann] für H. B. Brückmann

[um 1810/20]

VII.5

Verzeichnis der Siglen zur »Melusine«Drucküberlieferung

8 

 Verzeichnisse und Übersichten

Sigle

Druckort

Drucker

Jahresangabe

Nr. der Beschreibung

VIII Streuüberlieferung (18. Jahrhundert) ohne Ort-1739

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

1739

VIII.1

ohne Ort-1770

[ohne Ort]

[ohne Drucker]

[um 1770]

VIII.2

Ziernwald-1800

Linz

Ziernwald

[um 1800/ vor 1816]

VIII.3

[ohne Drucker]

[um 1830]

IX.1

IX »Volksbuch«-Bearbeitungen (nach 1830 bis um 1900) Frankfurt I

Frankfurt a.M./ Leipzig

Liesching-1837

Stuttgart

S. G. Liesching

1837

IX.2

Wigand-1838

Leipzig

Bei Otto Wigand

1838

IX.3

Liesching-1843

Stuttgart

S. G. Liesching

1843

IX.4

Brönner-1847

Frankfurt a.M.

Heinrich Ludwig Brönner

1847

IX.5

Winter-1857

Frankfurt a.M.

Christian Winter

[1847/1857]

IX.6

Fleischhauer/ Spohn-1848

Reutlingen

Fleischhauer und Spohn

1848

IX.7

Lenk-1850

Znaim

M[artin] F[erdinand] Lenk

[um 1850]

IX.8

Frankfurt II

Frankfurt a.M./ Leipzig

[ohne Drucker]

[Mitte 19. Jh. oder später]

IX.9

Fleischhauer/ Spohn-1855

Reutlingen

Fleischhauer und Spohn

1855

IX.10

Hümer-1858

Linz

Hümers Witwe

1858

IX.11

Lutzenberger-1860

Burghausen

Lutzenberger

[um 1860]

IX.12

Enßlin/Laiblin-1865

Reutlingen

A. d’Angelo für Enßlin und Laiblin

[um 1865]

IX.13

Enßlin/Laiblin-1870

Reutlingen

Enßlin und Laiblin

[um 1870]

IX.14

Bohm/Enßlin/ Laiblin-1870

Reutlingen

Bohm für Enßlin und Laiblin [um 1870]

IX.15

Enßlin/Laiblin-1874

Reutlingen

Enßlin und Laiblin

1874

IX.16

Enßlin/Laiblin-1877

Reutlingen

Enßlin und Laiblin

[1877]

IX.17

Sipmann-1878

Marburg

B. C. S. Sipmann

[vor 1878]

IX.18

Bardtenschlager-1878 Reutlingen

Robert Bardtenschlager

[1878]

IX.19

Greßner/ Schramm-1890

Greßner und Schramm

[um 1890]

IX.20

Leipzig

Übersicht über die »Melusine«-Drucküberlieferung 

Übersicht über die »Melusine«-Drucküberlieferung I Inkunabelüberlieferung (2. Hälfte 15. Jahrhundert) Handschriftenüberlieferung Oberrheinische Überlieferung

Augsburger Überlieferung

I.1 Basel: Richel-1473/74 I.3 Straßburg: Knoblochtzer-1477 I.5 Straßburg: Knoblochtzer-1478

I.2 Augsburg: Bämler-1474 I.4 Straßburg: Prüss-1478

I.7 Augsburg: Bämler-1480

I.6 Lübeck: Brandis-1479

I.9 Augsburg: Schönsperger-1488

I.8 Straßburg: Knoblochtzer-1482 I.10 Heidelberg: Knoblochtzer-1491

Übersicht über die »Melusine«Drucküberlieferung

 9

10 

 Verzeichnisse und Übersichten

II Straßburg-Augsburger Überlieferung (1. Hälfte 16. Jahrhundert) Oberrheinische Bildtradition

Augsburger Inkunabelüberlieferung II.1 Straßburg: Hupfuff-1506

II.2 Straßburg: Knobloch-1516 II.3 Augsburg: Steiner-1538 II.5 Straßburg: Messerschmidt-1539

II.4 Augsburg: Steiner-1539 II.6 Augsburg: Steiner-1540 II.7 Augsburg: Steiner-1543

III Frankfurter Überlieferung (2. Hälfte 16. Jahrhundert) III.1 Frankfurt: Gülfferich-1549 III.2 Frankfurt: Gülfferich-1554 III.3 Frankfurt: Han-1556 III.4 Frankfurt: Han-1562 III.8 Straßburg: Müller-1577 III.10 Frankfurt: Egenolff-1578

III.5 Frankfurt: Han-1564 III.6 Frankfurt: Rebhart/Han-1571 III.7 Augsburg: Manger-1574 III.9 Frankfurt: Reffeler/Han-1577

III.11 Frankfurt: Egenolff-1580

III.12 Frankfurt: Feyerabend-1587

Übersicht über die »Melusine«-Drucküberlieferung 

 11

Frankfurter Überlieferung

IV Streuüberlieferung 2. Hälfte 17. Jahrhundert Überlieferungslücke 1587–1648 Nachgewiesene, aber verlorene Ausgaben: Köln: Nettesheim-1601 Augsburg: Franck-1612 Straßburg: Heyden-1624 Leipzig: Nehrlich-1626

IV.1 Hamburg: Pfeiffer-1649

IV.2 Nürnberg: Endter-1672

IV.3 ohne Ort-1692 IV.4 Annaberg: Nicolai-1692/92

12 

 Verzeichnisse und Übersichten

IV.3 ohne Ort-1692

V »Historische Wunderbeschreibung« I (um 1700 bis um 1800)

VI »Historische Wunderbeschreibung« II (um 1700 bis um 1800)

V.1 HWB I.1 (Wf) [nach 1709–1735] V.2 HWB I.2 (Sa) [1. Hälfte 18. Jh.]

VI.1 HWB II.1 (Wi) [1. Hälfte 18. Jh.]

V.3 HWB I.3 (Go) [1. Hälfte 18. Jh.]

VI.2 HWB II.2 [1776]

V.4 HWB I.4 (We) [1. Hälfte 18. Jh.]

VI.3 HWB II.3 [1782]

V.5 HWB I.5 (Be) [1. Hälfte 18. Jh.]

VI.4 HWB II.4 [1788]

V.6 HWB I.6 (St) [um 1800]

VI.5 Reutlingen: HWB II.5 (FI 1) [vor 1813]

V.7 HWB I.7 (Er) [um 1800]

VI.6 Reutlingen: HWB II.6 (FI 2) [vor 1813]

V.8 Köln: HWB I.8 (Ev) [um 1810]

VI.7 Reutlingen: HWB II.7 (FI 3) [vor 1813]

Übersicht über die »Melusine«-Drucküberlieferung 

 13

IV.4 Annaberg: Nicolai-1692/93

VII »Wunderbare Geschichte« (nach 1785 bis um 1820)

VIII Streuüberlieferung (18. Jahrhundert)

VII.1 Leipzig: WG 1 (Sol 1) [nach 1785/um 1800]

VIII.1 ohne Ort-1739 VIII.2 ohne Ort-1770 VIII.3 Linz: Ziernwald-1800

VII.2 WG 2 [um 1800] VII.3 Leipzig: WG 3 (Sol 2) [nach 1785/um 1810] VII.4 Leipzig: WG 4 (Sol 3) [um 1820] VII.5 Dresden: WG 5 (Br) [um 1820]

IX Volksbuch-Bearbeitungen (nach 1830 bis um 1900) IX.1 IX.2 IX.3 IX.4 IX.5 IX.6 IX.7 IX.8 IX.9 IX.10 IX.11 IX.12 IX.13 IX.14 IX.15 IX.16 IX.17 IX.18 IX.19 IX.20

Frankfurt a.M./Leipzig: [ohne Drucker, um 1830] Stuttgart: Liesching-1837 Leipzig: Wiegand-1838 Stuttgart: Liesching-1843 Frankfurt a.M.: Brönner-1847 Frankfurt a.M.: Winter-1857 Reutlingen: Fleischhauer/Spohn-1848 Znaim: Lenk-1850 Frankfurt a.M./Leipzig: [ohne Drucker, Mitte 19. Jh oder später] Reutlingen: Fleischhauer/Spohn-1855 Linz: Hümer-1858 Burghausen: Lutzenberger-1860 Reutlingen: Enßlin/Laiblin-1865 Reutlingen: Enßlin/Laiblin-1870 Reutlingen: Bohm/Enßlin/Laiblin-1870 Reutlingen: Enßlin/Laiblin-1874 Reutlingen: Enßlin/Laiblin-1877 Marburg: Sipmann-1878 Reutlingen: Bardtenschläger-1878 Leipzig: Geßner/Schramm-1890

Buch und Werk

Jan-Dirk Müller

Text und Paratexte »Melusine«-Drucke des 16. Jahrhunderts Zusammenfassung: An den Veränderungen im Layout und in den Paratexten des Melusine-Romans im 16. Jahrhundert lässt sich der Umbau literarischer Kommunikation beim Übergang vom Manuskript- zum Druckzeitalter beobachten. Sie spiegeln Verschiebungen in den literarischen Interessen, in den Gattungsvorstellungen, im Verhältnis von Autor und Publikum und bereiten die Transformation des von einem Autor verantworteten Romans zu einem anonymen Volksbuch vor.

1 Einleitung Im Jahr 1838 erscheint in der von Gotthard Oswald Marbach herausgegebenen Reihe Volksbücher als dritter Band die Geschichte von der edlen und schönen Melusina, welche ein Merwunder und des Königs Helmas Tochter war (Wigand-1838). Wie in der Serie überwiegend üblich, gibt es keinen Verfassernamen, und es fehlen die Paratexte, die in Handschriften und Frühdrucken die Melusine begleiteten. Sie enthielten die kurze Angabe des Gegenstandes und seine Qualifizierung als »experientz«, d. h. durch Erfahrung gestützte Wahrheit, eine Berufung auf Aristoteles und auf das menschliche Bestreben, möglichst viel zu wissen, das Psalmzitat »Mirabilis deus in operibus suis«, das die abenteuerliche Geschichte an christliche Welterfahrung zurückbindet, die namentliche Nennung des Übersetzers, die des Markgrafen Rudolf von Hochberg, der die französische Vorlage verschaffte, sowie die Angabe des Themas: eine Frau, »die nit nach ganczer menschlicher natur ein weýb gewesen ist«, aber trotzdem zur Stammmutter der vornehmsten Familien Europas wurde.1 Ebenso fehlt in der Volksbuchausgabe die ursprünglich ins erste Kapitel integrierte Entstehungsgeschichte der Vorlage, d. h. der Auftrag der Grafen von Parthenay an ihren Kaplan, die Familiensage von der Fee als Ahnfrau zu bearbeiten. Das Volksbuch setzt gleich mit der Handlung, der Geschichte des jungen Raimund, ein. Es spart auch die Geschichten der Schwestern Melusines aus und endet mit dem Tod von Raimunds Sohn Goffroy.2 Eine summarische Notiz über die weitere

1 Müller: Romane, S. 11 f. Zitate im Folgenden nach dieser Ausgabe (Textgrundlage ist Bämler-1474). 2 Von der Geschichte der zweiten Schwester bleibt nur der Schluss: Die Botschaft an Goffroy, er möge ein Schatz hütendes Gespenst in Aragonien bekämpfen. Das erinnert diesen an das, was er am Grab von Melusines Vater Helmas erfahren hatte: dass nur ein Ritter aus seinem Hause in der Lage sei, den Schatz zu erobern. Doch als er sich für das Abenteuer rüstet, wird er vom Tod ereilt.

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Ausbreitung der Herren von Lusinia auf Fürstenthronen schließt die Erzählung ab.3 Sie bleibt auf die Kernfabel beschränkt. Es fehlen wiederum die paratextuellen Bemerkungen, mit denen Thüring von Ringoltingen geschlossen hatte:4 die Augenzeugenschaft seines Gewährsmanns Coudrette, des Dichters des französischen Versromans, für das Grabmal des Goffroy; die penible Aufzählung der von Melusine abstammenden und mit den Lusignan verwandten Herrschergeschlechter; Coudrettes Nachricht vom Tod seines Auftraggebers Wilhelm von Parthenay und der Fortsetzung des Werks unter seinem Sohn Johann. Es fehlen das Datum vom Abschluss der Übersetzung, Thürings nochmalige Begründung seines Interesses an derartigen Abenteuern, seine Bitte an den Markgrafen, das Buch zu bessern, wo er dies für nötig hält. Erst recht kann der Bearbeiter des 19. Jahrhunderts nichts mit der Nachricht anfangen, dass ein Freund und Standesgenosse des Übersetzers die Orte, an denen Melusine wirkte, besucht hat und noch viele Bauten vorfand, die auf sie zurückgehen, woraus zu schließen sei, dass die Gründungssage als historia, als faktisch wahr aufzufassen ist. Das Publikum, auf das das Heftchen zielt, ist an all dem nicht interessiert.

2 Die spätmittelalterliche »Melusine« Die Geschichte, wie sie das Volksbuch darbietet, ist kontextlos. Dagegen ist die ursprüngliche histori in ein kulturelles Netz eingebettet, das die Vergangenheit der Sage mit der Gegenwart des Übersetzers und seines Publikums verknüpft. Die Geschichte greift chronologisch weit aus. Sie erzählt nicht nur von der unglücklichen Fee und ihren erfolgreichen Söhnen, sondern enthält auch die Vorgeschichte, die den Fluch, der auf Melusine lastet, erklärt, zugleich aber Quellpunkt weiterer Geschichten ist. Die Vorgeschichte findet deshalb ihre Fortsetzung in den Geschichten der Schwestern Melusines, die unter dem gleichen Fluch wie diese leiden und ebenfalls nicht erlöst werden. Die Geschichte der zweiten Schwester Palestina spielt eine Generation später als die Hauptgeschichte, in der Melusines Sohn Goffroy noch am Leben ist, der als einziger dieses Abenteuer bewältigen könnte; sie gehört insoweit noch zur Kernfabel hinzu. Aber sie greift auch darüber hinaus, denn der Kampf gegen den Drachen, der den Schatz der Palestina hütet, ist ein Abenteuer, das die Ritterschaft Europas insgesamt angeht, von dem ein »iunger Merlins« kündet. An diesem Abenteuer versuchen sich viele Ritter vergeblich, darunter einer von »herr Tristans geschlecht geporen«; er wollte mit dem Schatz das Heilige Land gewinnen. Während sich damit in der Palestina-Episode die Melusine auf die Abenteuerzeit des höfischen Romans (Tristan, Kreuzzugsepik) öffnet, öffnet sie sich in der Erzählung von der anderen Schwester auf

3 Wigand-1838, S. 72. 4 Müller: Romane, S. 172 u. 176.

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den Raum der Geschichte.5 Dieses Abenteuer spielt noch später. Den vergeblichen Versuch, Meliora zu erlösen, unternimmt nämlich ein Nachkomme eines der Söhne Melusines, der König von (Klein-)Armenien geworden war.6 Dieser Nachkomme verspielt mit seinem Fehlverhalten nicht nur die Erlösung der Meliora, sondern ruiniert auch die Herrschaft der Lusignan in Armenien. Sein Reich beginnt besonders unter den Nachfolgern zu verfallen, bis zu jenem unglücklichen aus Armenien vertriebenen König, der 1393 – also zu Lebzeiten des Verfassers der französischen Melusine – nach Paris kommt, dort stirbt und bei den Celestinern auf eine Aufsehen erregende Weise beerdigt wird: »Vnd waren alle seine diener in weiß gekleidet. Das doch gancz wider des landes vnd des ganczen künigkreichs gewonheit was vnd auch des alles volck gar ser verwundert vnd sy fremd nam dann desßgleichen in franckreich als die alten das redten vor nie mer gesehen noch vernommen was warumb aber das geschehe wußte der tichter diß puͦches nit.«7 Man befindet sich also bereits kurz vor der Zeit, in der die Grafen von Parthenay, beide ebenfalls Nachkommen der Melusine, Coudrette den Auftrag zur Abfassung der Familiengeschichte erteilen. Von diesem Auftrag erzählt dieser im Prolog seines Versromans; im Epilog spricht er vom Tod des Vaters, Wilhelm von Parthenay, im Jahre 1400 und von der weiteren Förderung seiner Arbeit durch dessen Sohn Johann. Diese Informationen von Pro- und Epilog werden in Thürings Übersetzung ins erste bzw. letzte Kapitel des Romans integriert. Sie sind Teil der Erzählung, die damit bis an Thürings eigene Gegenwart heranreicht. Am Ende gibt er ein historisches Resümee, eine mehrteilige Übersicht über den Aufstieg der Lusignan auf europäische Fürstenthrone. Doch geht die Geschichte noch weiter: Mit dem Markgrafen Rudolf von Hochberg, zu dessen Ehren die Übersetzung entsteht und der dem Übersetzer wohl den Text vermittelt hat, und mit Ulrich von Erlach, der die Wahrheit beglaubigt, befindet man sich in Thürings eigener Zeit und Umgebung. Schlusspunkt ist die Datierung der Vollendung der Bearbeitung auf den St. Vinzenztag 1456. Teil des Romans ist also auch die Geschichte seiner Aufzeichnung. Die Kernhandlung um die Fee ist nur ein Abschnitt in einer von sagenhafter Vorzeit bis in die eigene Gegenwart reichenden Chronik. Der Text ist nach vorne unabgeschlossen. Er ist ein Gemeinschaftswerk, an dem immer weiter geschrieben wird. Die Erzählerstimme ist

5 Müller: Romane, S. 170 f.; vgl. S. 166–171; zum Verhältnis von Mythos und Geschichte vgl. Kiening: Unheilige Familien, S. 190. 6 Der Erzähler verlässt den Goffroy betreffenden Erzählstrang, um von seinem Bruder, dem König von Armenien, zu erzählen, setzt dann aber ein: »Nu was in Armenie ein künigk […]« (Müller: Romane, S. 157): Dabei handelt es sich jedoch nicht um diesen Bruder Gyot, sondern um einen Giß, der als dessen Nachkomme zu denken ist, über dessen Stellung in der Genealogie jedoch nichts gesagt wird. 7 Müller: Romane, S. 164 f.; zum historischen Hintergrund vgl. S. 1083. – Das Sperberabenteuer ist übrigens auch anderwärts bezeugt, so in den Reisebeschreibungen des Jean de Mandeville. Das bestätigt den historiographischen Geltungsanspruch.

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nicht durchweg eindeutig fixiert. Coudrette adaptiert, wie er schreibt, ältere Bücher. In den die eigentliche Erzählung rahmenden Texten vermischen sich die Stimmen Coudrettes und Thürings. Manchmal zitiert Thüring den Vorgänger ausdrücklich als seine Quelle, etwa wenn er vom Auftrag für den Versroman und vom Tod des ersten Gönners spricht, manchmal übernimmt er stillschweigend die Worte des Verfassers, so die Berufung auf Aristoteles und den Wunsch des Menschen, viel zu wissen. Manchmal aber spricht der Übersetzer auch in eigener Sache, wenn er beispielsweise sein Interesse an Rittergeschichten betont oder seine Berner Umgebung erwähnt. Die Übersetzung tritt nicht einfach an die Stelle des Ausgangstextes, sondern verschmilzt mit ihm und setzt ihn fort. Auch der Kommunikationsrahmen, in dem die Geschichte steht, wird miterzählt und steuert ihr Verständnis. Für Coudrette und seine Auftraggeber handelt es sich bei der Geschichte Melusines um ›haus- und sippengebundene Literatur‹ (Karl Hauck). Der Übersetzer möchte – seiner Vorlage entsprechend – im Sinne des Philosophen viel wissen, bezieht diesen Wunsch dann vornehmlich auf abenteuerliche, doch beglaubigte Geschichten wie die Geschlechtermythologie der Lusignan, die er am Schluss noch einmal zusammenfasst und die beweist, dass man die Geschichte der Melusine »für ein warheit« ansehen muss.8 Auch sein Freund von Erlach scheint an deren (historischer) Wahrheit interessiert. Der Widmungsträger Rudolf von Hochberg hält die Geschichte der Übersetzung wert. Als einer der Erzähler der Cent nouvelles nouvelles gehört er zum elitären Zirkel der burgundischen Hofliteratur,9 von dem der Berner Patrizier damit auch einen Zipfel erwischt. Die Akteure befinden sich in unterschiedlichen Gesprächszusammenhängen, in denen sie die Geschichte ›angeht‹. Insoweit ist Thürings Melusine ein typisches Produkt des Manuskriptzeitalters: Thüring schreibt an der Geschichte Coudrettes einfach weiter, so wie dieser die Geschichte, die er aus Chroniken zusammengelesen hat, fortsetzt, indem er Ereignisse der jüngeren Vergangenheit hinzufügt, die mit ihr in Verbindung stehen. Auch andere schreiben mit: Ein Bekannter des Übersetzers beglaubigt das Erzählte nachträglich durch seine Reiseerfahrungen. Erzählte Geschichte und Erzählsituation sind nicht deutlich getrennt, sondern durch ein Kontinuum von Geschichten miteinander verbunden. Die einzelnen Anteile sind ineinander verschränkt. Der Text und seine Geschichte sind Gegenstand persönlicher Interaktionen; er hat eine pragmatische Funktion: ursprünglich Geschlechtermythologie eines westfranzösischen Adelsgeschlechts, dann Beitrag zu einer gesamteuropäischen Geschichte von Herrscherhäusern. Der Gattungsstatus ist dadurch unsicher. Von ihrer Attraktivität her den höfischen Romanen vergleichbar, ist die Melusine auch historisch bezeugte »experientz«. Aus diesem doppelten Netz beginnt die Melusine sich schon zu lösen, wenn der Roman zu Beginn der 1470er Jahren in Basel oder Augsburg erstmals im Druck er-

8 Müller: Romane, S. 176. 9 Müller: Romane, S. 1022.

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scheint.10 Man darf gewiss schon in der vorausgehenden handschriftlichen Überlieferung nicht damit rechnen, dass der doppelte Rahmen der Verständigung mit tradiert wird; trotzdem scheinen die Adressaten dem ursprünglichen Rezeptionskontext noch sehr nahe.11 Betrachtet man die Melusine-Inkunabeln, dann hat sich da nur wenig gegenüber der handschriftlichen Überlieferung geändert. Die Paratexte sind erhalten, sogar das Layout bleibt im Ganzen dasselbe. Trotzdem ist durch den Medienwechsel nicht mehr sichergestellt, dass der Text auf ein vergleichbares Interesse stößt. Prinzipiell, wenn auch noch lange nicht faktisch, ist der Wirkungskreis offen, und ›in the long run‹ wird der Druck all jene Elemente abstoßen, die sich auf den primären Verständigungskontext beziehen. Dieser Prozess, der mit Wigand-1838 seinen Endpunkt erreicht, beginnt bereits im 16. Jahrhundert. Diese Veränderungen sollen im Folgenden aus drei Blickwinkeln nachgezeichnet werden: Erstens im Hinblick auf Aussagen der Titel zum ästhetischen Status in einigen Drucken, zweitens auf das in den Paratexten implizierte Gattungsverständnis und schließlich drittens auf die Behandlung von Autorschaft und Anonymität. Interessant wäre, auch die Illustrationen mit einzubeziehen, was an dieser Stelle jedoch zu weit führen würde.12 Nur verwiesen werden kann darauf, dass die Umformung der Melusine zum ›Volksbuch‹ parallel an vergleichbaren Prosaromanen zu beobachten ist.13 Bereits im 16. Jahrhundert werden die großformatigen und in der Ausstattung aufwendigen Inkunabeldrucke durch billigere Oktavausgaben auf schlechterem Papier ersetzt. Die Holzschnitte – etwa in den Drucken Heinrich Steiners – werden aus Kostengründen für unterschiedliche Romane verwendet, manchmal ohne Rücksicht auf ihr Verhältnis zum Text.14

10 In Müller: Romane wurde davon ausgegangen, dass Bämler-1474 die Erstausgabe sei; sie wurde deshalb der Edition zugrundegelegt. Ursula Rautenberg und André Schnyder haben plausibel gemacht, dass die Basler Ausgabe Richel-1473/74 die ältere ist und haben diese herausgegeben. Vgl. Schnyder / Rautenberg: Thüring von Ringoltingen und bes. Rautenberg: Melusine. – Schmidt: Nachdruck eines Wiegendrucks, hat die Abhängigkeit der Holzschnitte Bämlers von denen Richels in Frage gestellt. Dazu vgl. den Aufsatz von Feraudi-Denier in diesem Band. 11 Müller: Melusine in Bern, S. 71–74. Die Handschriftenbeschreibungen der »Melusine« geben einige wenige Hinweise; vgl. hierzu Schneider: Thüring von Ringoltingen, S. 7–17. 12 Vgl. hierzu die kunsthistorischen Beiträge in diesem Band. 13 Müller: Volksbuch / Prosaroman. 14 Die folgenden Ausführungen wollen an einigen herausgegriffenen Beispielen zeigen, wie sich Detailvergleiche von Holzschnitten, Kapitelüberschriften und -grenzen, Auslassungen, Ergänzungen, Umstellungen in den einzelnen Drucken lohnen. Mit der zunehmenden Digitalisierung von Altbeständen werden sie künftig flächendeckend möglich sein. In Bezug auf tschechische Adaptationen von Prosaromanen werden diese Aspekte von Jan Hon in einer Dissertation untersucht. Im Folgenden stehen Beobachtungen zu konzeptionellen Verschiebungen im Vordergrund, doch wird sich sicherlich nicht für alle die oft unscheinbaren Veränderungen in der Druckgeschichte ein konzeptioneller Grund angeben lassen.

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3 Titel und ästhetischer Status Bämler-1474 setzt noch ein wie eine Handschrift: »Das abenteürlich buͦch beweiset uns von einer frawen genandt Melusina [...].«15 Das entspricht einem verbreiteten Typus von Incipits, die dem folgenden Werk eine Art Inhaltsangabe vorausstellen. In der Kopenhagener Melusine-Handschrift, die Karin Schneider als die beste ihrer Ausgabe zugrunde gelegt hat, ist im Vergleich mit dem Druck nur die für die Manuskriptkultur typische deiktische Geste stärker: »Düß aventürlich buͦch bewiset unß von einer frowen genant Melusine [...].«16 Doch wie ähnliche Werke auch sonst erhält die Melusine schon früh einen Buchtitel: So steht bereits bei Knoblochtzer-1491 auf einem gesonderten Titelblatt »Melosine. geschicht. Mit den figuren.«17 Das ursprünglich den Titel ersetzende deiktische Incipit erscheint jetzt als erster, vom Folgenden abgesetzter Teil der Vorrede (»Dyß owentürlich buͦch beweyset […]«). Mit »Geschicht« im Titel und »owentürlich buͦch« im Incipit ist das Gattungsspektrum abgesteckt, ohne dass eine klare Entscheidung getroffen würde. Zuerst scheint die genealogisch-historische Auffassung zu dominieren. In den Drucken Heinrich Steiners aus den 1530er Jahren heißt der Titel Die Histori oder geschicht vonn der edeln vnnd schoͤnen Melusina.18 Darunter befindet sich der Titelholzschnitt, der für einen großen Teil der späteren Druckgeschichte vorbildlich wurde. Er zeigt in der Mitte Melusine, halb Schlange, halb Frau, im Bad: das »merwunder«. Von ihr gehen fünf Zweige aus, an deren Ende die Köpfe von fünf Königen wachsen: die Söhne auf den europäischen Fürstenthronen. Nur Goffroy ist an seinem großen Zahn erkennbar, die anderen vier sind alt und nicht durch ihre im Text beschriebenen Missbildungen unterscheidbar, wobei sich diese Missbildungen im übrigen ja bei den jüngeren Söhnen ohnehin verlieren. Die problematischen Söhne Horribel (der Unhold) und Fromont (der Mönch) fehlen. Rechts und links sind im Vordergrund Melusines Schwestern abgebildet (Meliora mit dem Sperber und Palestina mit dem Drachen). Der Holzschnitt versammelt also das wichtigste Personal, wobei die fünf männlichen Gestalten für die weite Verbreitung der Lusignan auf europäischen Fürstenthronen stehen. Im Fall von Goffroy geschieht dies zu Unrecht, da er kinderlos stirbt. Das Baum-Jesse-Modell, das dieser Darstellung zugrunde liegt, kündigt einen

15 Müller: Romane, S. 11. 16 Kopenhagen, Det Kongelige Bibliotek, Nr. 423; zitiert nach Schneider: Thüring von Ringoltingen, S. 36. 17 Die älteren Straßburger Drucke von Knoblochtzer (Knoblochtzer-1477, -1478 und -1482) haben noch keinen Titel. Knoblochtzer-1491 ist zweispaltig gedruckt. 18 So die zitierte Ausgabe Steiner-1539. Das Münchner Exemplar (München UB, 4° P.germ. 235/5) ist falsch gebunden: die vorletzte Lage folgt der letzten, so dass der Eindruck entsteht, der Text sei unvollständig (freundlicher Hinweis von Herrn Jan Hon).

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genealogischen Text an.19 Mit den Bezeichnungen »Histori oder geschicht« könnte einerseits die narrative Organisation des Textes akzentuiert sein oder andererseits der Anspruch, res factae zu erzählen. Dass Faktenanspruch und Wunderbericht sehr wohl zusammengehen können, zeigt die Straßburger Melusine-Ausgabe Müller-1577. Der Titel lautet: »Melusina. Die schoͤne vnd liebliche Histori oder wunderbarliche Geschicht/ von der Edlen vnd schoͤnen Melusina. Darauß man des Gluͤcks vnd zeitlichen wesens vnbestendigkeit mit fleiß erlernen mage.«20 ›Schön‹ und ›lieblich‹ sind ästhetische Qualitäten, die der »Histori« zugeschrieben werden. ›Schöne Historien‹ ist ein Synonym für die frühen Prosaromane.21 Der Akzent beginnt sich auf die ästhetische Qualität des Textes zu verschieben. In der Frankfurter Ausgabe Egenolff-1580 lautet der Titel: »Melusina. Von Lieb vnd Leyd/ Ein schoͤne vnnd lustige Histori. Ausz Frantzoͤsischer Spraach in Teutsch verwandelt. Darinn des Glücks vnd zeitlichen wesens vnbestendigkeyt angezeygt. Nützlich vnd kurtzweilig zulesen vnd zuhoͤren.«22 Vor allem das Epitheton ›lustig‹ zielt auf das ästhetische Vergnügen, ›kurtzweilig‹ auf Unterhaltung. Obwohl weiter der ›genealogische‹ Holzschnitt auf dem Titelblatt steht, verlagert sich schon im Titel das Interesse weg vom Historischen hin auf allgemein menschliche Schicksale (»Lieb vnd Leyd«), die weniger faktisch wahr als empathisch nachvollziehbar sein wollen. Den Übergang zur fiktionalen Unterhaltungsliteratur markiert dann deutlich das Buch der Liebe, das 1587 bei Sigmund Feyerabend erscheint. Es handelt sich um eine Sammlung von dreizehn anonymen oder anonymisierten (Jörg Wickram!) Romanen, die im 16. Jahrhundert zuvor als Einzeldrucke erfolgreich gewesen waren. Thema ist, so die Ankündigung, »was recht ehrliche/ dargegen auch was vnordentliche Bulerische Lieb sey«. Es wird erzählt, mit welch seltsamen Abenteuern, Gefahren und Wechselfällen des Glücks sie verbunden sei, alles in hochadeligen Kreisen, natürlich auch lehrhaft und nützlich, doch vor allem »so wol zu lesen lieblich vnd kurtzweilig«.23 Zu diesen teils traurigen, teils erbaulichen Geschichten von der Liebe hoher Standespersonen passt auch die Melusine, die hier übrigens zur Königin avanciert ist: »Ein wunderbarliche Geschicht/ Historia vnd Geschicht von Melusina/ der Edlen vnd Hochgebornen Koͤnigin auß Franckreich/ etc. Vnd mit was seltzamen Gespensten dieselbige/ alle Sonnabend oder Sambstag/ in ein Meerwunder ist verwandelt worden.«24

19 So auch schon der Titelholzschnitt der Ausgabe Hupfuff-1506, abgebildet bei Gotzkowsky I, S. 112. – Zur genealogischen Struktur Kellner: Ursprung und Kontinuität, S. 397–458. 20 VD 16 M-4480. 21 Müller: Volksbuch / Prosaroman, S. 80–88. 22 Künast: Die Drucküberlieferung des »Melusine«-Romans, S. 335. Die Ausgabe Egenolff-1578 hat als signifikante Variante: »Von Lieb vnd Leyd/ Histori oder Geschicht«. Vgl. Künast: Die Drucküberlieferung des Melusine-Romans, S. 332. 23 Titel des Gesamtwerks. 24 Feyerabend-1587, Bl. 262b. Dieser Abdruck der »Melusine« liegt Roloffs Ausgabe zugrunde; vgl. Roloff: Thüringen von Ringoltingen, S. 3.

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Das ist ein neuer Kontext. Ziel ist, ein ständisch herausgehobenes Publikum an den wunderbaren Schicksalen noch höherer Standespersonen teilhaben zu lassen: »Allen hohen Standts personen/ Ehrliebenden vom Adel/ zuͤchtigen Frauwen vnd Jungfrauwen/ Auch jederman in gemein so wol zu lesen lieblich vnd kurtzweilig als liebs vnd leyds nahe verwandtschafft [Glückswechsel, Gottes Hilfe in der Not] zu erkennen/ vnd in dergleichen faͤllen sich desto bescheidener zu verhalten/ fast nuͤtzlich vnd vortraͤglich.«25 Wenn der praktische Nutzen der Melusine für das eigene Leben nicht allzu hoch veranschlagt wird, dann bleibt sie Medium einer exklusiven Traumfabrik. Der erste Holzschnitt in Feyerabend-1587 zitiert zwar den auf Steiners Titelholzschnitt gewählten Typus: Das Schlangenweib Melusine ist im Vordergrund in der Mitte abgebildet, rechts und links (seitenvertauscht), jedoch jetzt schon im Hintergrund, ihre beiden Schwestern. Dagegen fehlt der ›Stamm‹ des Hauses Lusignan mit den Söhnen der Fee. Was fasziniert, ist nicht das Geschichtliche, sondern das Wunderbare. Das Wunderbare ist in der frühneuzeitlichen Ästhetik das, was die Dichtung gegenüber der gewöhnlichen Alltagswelt auszeichnet. In Deutschland werden die Schweizer Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im 18. Jahrhundert ihre Ästhetik auf das Wunderbare gründen und damit gegen Johann Christoph Gottscheds Aufklärungsästhetik das Dichtungsverständnis des 16. und 17. Jahrhunderts wieder zur Geltung bringen.26 So spiegelt sich in den Formulierungen der Titel eine Verschiebung vom Historischen zum Literarischen. Eine explizite ästhetische Reflexion wird man bei diesem Texttypus zwar nicht erwarten dürfen, und die Schweizer hätten für diese Form des Wunderbaren nur Verachtung übrig gehabt, aber die Richtung wird klar gewiesen.

4 Die Paratexte und die Gattungsfrage Das Incipit der frühen Ausgaben der Melusine hielt daran fest, dass Melusines Geschichte auf »experientz« beruhe. Dieses Incipit wird auch in den Drucken, die ein eigenes Titelblatt haben, im Kern unverändert zu einer Art Klappentext. Bei Steiner-1539 befindet es sich auf der Verso-Seite des Titelblatts: »Dises buͦch sagt uns von

25 Titel des Gesamtwerks. 26 Stahl: Das Wunderbare; Bodmer: Critische Abhandlung vom Wunderbaren; Bender: Bodmer und Breitinger. Die poetologische Diskussion der Frühen Neuzeit hat freilich ganz andere Texte und Phänomene im Blick als die schlichten Prosaerzählungen (Dante, Torquato Tasso, Milton, die Gattung des hohen Epos und die Bedeutung des Wunders für eine christliche Weltauffassung). Trotzdem gibt es eine unterschwellige Affinität zur generellen Faszination der Epoche durch Wunder und Magie. Die frommen Kritiker ästhetischer Erfahrung in den konkurrierenden Konfessionen haben das klar gesehen; zur frühneuzeitlichen Diskussion um Fiktionalität und Moral vgl. Wahrenburg: Funktionswandel des Romans, S. 17–32.

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einer frawen ist genandt Melusina [...]«. Der Klappentext endet mit der Behauptung, »das dise materi durch jhre experiencz beweyst vnd anzeygt/ das dise Histori war vnd gerecht an jr selbs ist«. Entsprechend fehlt, jedenfalls bei Steiner,27 am Anfang das Epitheton »abenteürlich«. Es findet sich erst im zweiten Teil des Vorworts, der auf einer neuen Seite als selbstständiger Text erscheint. Es ist damit ins Innere des Buchs verbannt und aus der Ankündigung herausgenommen. Diese Anordnung der beiden Teile der Vorrede setzt sich in der Folgezeit durch.28 Die Charakterisierung als Erfahrungswissen bereitet allerdings zunehmend Probleme. So lässt schon die Ausgabe Egenolff-1578 im ›Klappentext‹ diese Behauptung weg. Zwar werden weiterhin die vielen adligen Familien erwähnt, die ihren Ursprung auf Melusine zurückführen, doch heißt es dann lakonisch: »Wie in disem buͦch klaͤrlich vnnd lustig nach der leng bschrieben/ kurtzweilig zu lesen vnd zu hoͤren«; nichts von »experientz.«29 Das Buch der Liebe geht noch einen Schritt weiter und tilgt die gesamte Vorrede. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts beruft sich die Melusine somit nicht mehr auf Erfahrungswissen noch auf Wissen überhaupt. Das zeigt auch die Behandlung des zweiten Teils der Vorrede. Er beginnt bekanntlich mit dem Satz des Aristoteles über die Wissbegier des Menschen und bringt als Beispiel die »selczame vnd auch gar wunderliche fremde«, aber ausweislich ihrer Nachkommenschaft wahre Geschichte von Melusine.30 Dieser Textteil wird durchweg vom ›Klappentext‹ als eigentliche Vorrede abgesetzt, so in den Steinerdrucken und den von ihnen abhängigen Drucken der Ausgaben Egenolff-1578 und Egenolff-1580. Jedoch schon die erste bei Gülfferich in Frankfurt erscheinende Ausgabe von 1549 verbannt den zweiten Teil der Vorrede an den Schluss des Buchs.31 Dadurch entfällt die vorgängige Einbindung der Geschichte in die ursprünglichen personalen, sozialen und kulturellen Kontexte und in die Geschichte des menschlichen Wissens. Auf den ›Waschzettel‹ folgt hier sogleich die Überschrift des ersten Kapitels: »Wie Herr Johannes von Portenach seinem Caplan befalh/ diß Buͦch in Frantzoͤsischer sprache zu machen/ vnd zu vertranslatieren.«32 Allerdings ist die Herauslösung aus dem ursprünglichen Verstehensrahmen halbherzig, denn am Ende des Drucks wird in einem mit »Beschluß« überschriebenem

27 Es fehlt noch nicht bei Knoblochtzer-1491. 28 Sie findet sich z. B. noch in Müller-1577, Bl. A1b. 29 Egenolff-1578, Bl. A1b. 30 Müller: Romane, S. 11. 31 Gülfferich-1549. Der Titel ist konventionell »History oder Geschicht«. Der Druck hat Oktavformat; die »Melusine« ist hier schon auf dem Weg zum billigen ›Volksbuch‹. In dem auf billige Produktionen spezialisierten Haus von Gülfferich-Han und Erben erschienen sechs weitere Melusinen-Drucke (Gotzkowsky I, 8,21–8,26; vgl. Schmidt: Die Bücher aus der Frankfurter Offizin Gülfferich, S. 196 f. – In einem älteren Beitrag (Müller: Augsburger Drucke, S. 350) hatte ich diese Umstellung fälschlich der Ausgabe Steiners von 1539 zugeschrieben; das ist zu korrigieren. 32 Gülfferich-1549, Bl. A2a.

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Abschnitt der zuvor ausgelassene zweite Teil der Vorrede inklusive des Aristoteleszitats doch noch, und nahezu unverändert, angefügt. An dieser Stelle wirkt er freilich als funktionsloses Anhängsel. Der Grund für die ungeschickte Anfügung dürfte sein, dass der ursprüngliche Schluss des Romans, den Gülfferich-1549 übernimmt, die Themen der Vorrede noch einmal aufgriff, indem Coudrette von der weiteren Entstehungsgeschichte seiner Versdichtung berichtete und Thüring von Ringoltingen noch einmal von sich, seinem Widmungsträger und seinem Bekannten, dem Augenzeugen, sprach. Ohne die Vorrede hängen diese Informationen aber in der Luft, denn es wird etwas fortgesetzt, was noch gar nicht zur Sprache gekommen war, und deshalb scheint man die Vorrede jetzt doch nachgeholt zu haben, obwohl durch die geänderte Reihenfolge einzelne Aussagen unverständlich bleiben. Dieses Durcheinander beseitigt die Ausgabe Egenolff-1578. Sie belässt es bei der ursprünglichen Reihenfolge, verkürzt, wie beschrieben, den ›Waschzettel‹ um die »experientz«, verzichtet auf das Zitat aus der Metaphysik des Aristoteles, die Angaben zum Übersetzer und dessen Gönner und erwähnt nur den Zwischenstatus der Melusine zwischen Mensch und Gespenst.33 Den in der Vorrede ausgelassenen Namen des Übersetzers fügt dieser Druck in den Epilog ein, wo der Übersetzer in eigener Sache wieder das Wort ergreift und sich auf seine Aussagen in der Vorrede zurückbezieht.34 Die in Gülfferich-1549 entstandene Unordnung ist hier also korrigiert. Beide Eingriffe zeigen aber, dass der Verständigungsrahmen, den Thüring vorweg entworfen hatte, entbehrlich geworden ist: Die Melusine ist nicht mehr Teil der Wissensgeschichte, so wenig wie ihr Stoff »experientz«. Wieder zieht das Buch der Liebe (Feyerabend-1587) die Konsequenz, indem es beide Teile der Vorrede einfach weglässt.35 Das Gewicht hat sich auf die res ficta verschoben. In einem anderen Punkt dagegen bleiben die Drucke des 16. Jahrhunderts konservativ. Sie setzen, wenn sie mit der Erzählung beginnen, nicht mit deren Helden Raimund und Melusine ein, sondern immer noch mit dem Auftrag der Grafen von Parthenay an ihren Kaplan, die Geschichte ihres Hauses zusammenzusuchen und aufzuzeichnen. Für den Übersetzer war dies ebenso ›historisches‹ Material gewesen wie die eigentliche Geschichte und deshalb auf einer Ebene mit ihr erzählt worden, und ganz genau so bleibt auch in den Drucken die Textgeschichte – wenn auch zunehmend verkürzt36 – Bestandteil des Romans. Zwischen den unterschiedlichen Zeit- und Diskurs-

33 Melusine war »ein fraw/ vnd ein Meerwunder […] nit nach gantzer menschlicher natur ein weib/ eim fast grossen gotswunder oder gespenst gleich« (Egenolff-1578, Bl. A2a). 34 Egenolff-1578, Bl. T3b. 35 Allerdings verfährt der Druck nicht konsequent. So wird der Epilog mit der Geschichte der Vollendung des Werks, der Entstehung und Adressierung der Übersetzung und dem Zeugnis dessen von Erlach für die Wahrheit der Geschichte übernommen. Vgl. Feyerabend-1587, Bl. 284. 36 Einige Details, Coudrettes Quellen betreffend, fallen gegenüber der hs. Version zunehmend weg: die Fundorte der Quellen, genauere Angaben zur Sprache und zur Zahl der Vorlagen. Sie dokumentieren den historischen Zeugniswert des Erzählten und werden mit dem Zurücktreten des histori-

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ebenen wird so wenig unterschieden, dass die Geschichte Raimunds und Melusines manchmal – so bei Steiner und Gülfferich-Han – sogar ohne Absatz und in derselben Zeile einsetzen kann, in der zuvor von der Entstehung des Textes die Rede war: »Nach der zeit des Koͤnigs von Franckreich [...].«37 In diesen Drucken gibt es nicht einmal eine minimale Grenze zwischen der Textgeschichte (die in modernen Büchern zum Paratext würde) und der Geschichte selbst.38 Im Buch der Liebe (Feyerabend-1587) setzt die Geschichte Raimunds und Melusines immerhin mit einem neuen Abschnitt ein, doch geht ihr die Textgeschichte voraus: Sie ist Teil der Geschichte und wird deshalb im Epilog fortgesetzt.39 Erst in den Drucken des 19. Jahrhunderts haben sich die Geschichte des Textes und die im Text erzählte Geschichte voneinander gelöst. Das erste Kapitel der Marbach-Bearbeitung (Wigand-1838), überschrieben mit »Raimund, des Grafen von Forst Sohn, kommt an den Hof des Grafen Emmerich von Poitiers« beginnt: »Zur Zeit da König Otto in Frankreich herrschte [...].«40

5 Anonymisierung In den Handschriften hat die Melusine weder Überschrift noch Verfassernamen. Auch wenn schon früh ein Titel extrahiert wird, fehlen durchweg der Name des Übersetzers ebenso wie der Name des Verfassers der Vorlage. Das erste wäre auch überflüssig, denn der Übersetzer nennt sich in der Vorrede, die neben dem Epilog umfassend darüber informiert, in welches personale Netz die Erzählung eingelassen ist. Jeder der Namen der vornehmen Personen dort ist gleich wichtig, denn sie können der Geschichte Ansehen verschaffen. Der Verfasser ist von geringerem Interesse. Er wird in diesem Personengeflecht nur mit seiner Funktion – Kaplan der Grafen von Parthenay – genannt, wobei sein Name durchweg fehlt. Dagegen kommt der Übersetzer ausführlich zu Wort. Er spricht von sich selbst in der ersten Person (ich). Die Drucke drängen dieses Ich allmählich in den Hintergrund. In der handschriftlichen Version hatte es noch geheißen: »Uß den dryen büchern dis buͦch, so ich in welscher zungen fand, zuͦsamen gelesen ist, und ist der synn der hystorien zu tütsch also.«41 Auch Bämler-1474 hat noch ich.42 Dann aber wird die Präsenz des Übersetzers

schen Interesses allmählich entbehrlich. Der genaue Nachweis muss einer späteren Untersuchung vorbehalten werden. 37 So Gülfferich-1549, Bl. A2b. Diese Anordnung findet sich in den meisten Ausgaben, so z. B. Steiner-1539, Bl. A2b oder Müller-1577, Bl. A3b. 38 In modernen Ausgaben werden die beiden Teile selbstverständlich abgesetzt; vgl. Schneider: Thüring von Ringoltingen, S. 37; Müller: Romane, S. 14. 39 Feyerabend-1587, Bl. 262b. 40 Wigand-1838, S. 3. 41 Schneider: Thüring von Ringoltingen, S. 37. 42 Müller: Romane, S. 13.

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allmählich durch die Anonymität des Übersetzungsvorgangs ersetzt. In den SteinerDrucken (und auch späteren Ausgaben) spricht nicht mehr der Übersetzer in eigener Person. Die Übersetzung »auß den selben buͤchern« präsentiert sich selbst: »vnd was der sinn der selben geschrifften zuͦ teütsch also.«43 Der Berner Kontext wird unkenntlich, zumal die Namen zunehmend verballhornt werden.44 Die Ersetzung von ich ist zunächst nicht besonders wichtig, da ja der zweite Teil der Vorrede den Übersetzer namentlich nennt. Wenn aber wie in Gülfferich-1549 dieser ganze Passus ans Ende rückt (»Beschluß«45), dann bleibt die Erzählerstimme zuvor anonym. Das ist besonders auffällig im Epilog, der jetzt der Nennung des Übersetzers voraufgeht. Ohne die (hier nachgestellte) Vorrede weiß man nicht, wer ich sagt; deshalb können auch die übrigen Namen, die genannt werden (der Widmungsträger, der Standesgenosse) nicht zugeordnet werden, und wenn der Text sich auf vorher Gesagtes bezieht (»vor geschrieben« oder »obgenannt«), dann hat das keine Referenz.46 Der Name klappt nach. Solche Schlampigkeiten zeigen, dass die Paratexte ihre Funktion verlieren. Der Epilog schließt in Gülfferich-1549 zunächst mit: »Also hat diß Buͤchlin ein end/ Gott vnns allen seinen Heiligen frieden send/ AMEN.«47 Warum kommt dann noch einmal ein weiterer »Beschluß« (die alte Vorrede) mit ähnlichen, allenfalls weniger präzisen Informationen, auch sie mit »AMEN« endend und mit »Ende der History von der Edlen Melusina«?48 Offensichtlich stehen sich die beiden Abschnitte im Weg. Das aber nimmt der Drucker in Kauf. Als Einziges ersetzt er die Ankündigung in der ursprünglichen Vorrede (»werdent ir alles hie nach hören uff das kurtzesze begriffen«) durch einen Rückblick auf die zuvor erzählte Geschichte (»wie jhr denn gehoͤrt habt«).49 Wieder kommt im Buch der Liebe (Feyerabend-1587) die Entwicklung zu einem vorläufigen Abschluss. Hier ist das letzte, 66. Kapitel – nach dem Tod des Helden Goffroy – wie folgt überschrieben: »Von Goffroy Geschlecht und Herkommen/ Auch von dem Tichter dieses Buchs.«50 Immer noch wird die Geschichte des Textes als Teil der Geschichte selbst betrachtet. Unklar aber bleibt, wer der »Tichter dieses Buchs« ist.

43 Steiner-1539, Bl. A3a. 44 In Steiner-1539, Bl. A2a: »Darumb so hab ich N. Thuͤrigen« (so auch Gülfferich-1549, Bl. J8a) »genannt/ von Ringeltlingen/ gelegen bey Bern im Vchtlande [...].« Diese und verwandte Namensformen (z. B. »N. Thuͤringer genant/ von Ringeltlingen/ gelegen bei Bern/ in Vchtlande« (Egenolff-1578, Bl. T3b) oder »Rintgeltlingen« (Müller-1577, Bl. M2b; ähnlich Gülfferich-1549, Bl. J8a) zeigen, dass die näheren lokalen Umstände nicht mehr präsent sind, aber das trifft auch für einen Teil der handschriftlichen Überlieferung schon zu. 45 Gülfferich-1549, Bl. J7b–J8a. 46 Der Epilog: Gülfferich-1549, Bl. J5a–J7a; die Zitate Bl. J6b. 47 Gülfferich-1549, Bl. J7a. 48 Gülfferich-1549, Bl. J8a. 49 Vgl. Schneider: Thüring von Ringoltingen, S. 37 mit Gülfferich-1549, Bl. J8a. 50 Feyerabend-1587, Bl. 284b; Roloff: Thüring von Ringoltingen, S. 137. – Der erste Teil der Überschrift ist missverständlich: Goffroy hat keine leiblichen Nachkommen.

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Wie in älteren Drucken ist damit in erster Linie der Dichter der Versvorlage gemeint, der von seinen Schwierigkeiten berichtet, das Werk nach dem Tod seines Gönners Wilhelm von Parthenay fertigzustellen. Von ihm war auch in den vorausgehenden Drucken immer schon in der dritten Person als »tihter« die Rede gewesen. Doch wenn im Buch der Liebe der Drucker auf die ich-Aussagen des Übersetzers stößt, dann schreibt er auch diese konsequent dem »tihter« zu und fügt sogar ein: »ich Tichter dieses Buchs«.51 Dass ich eine doppelte Referenz hat, die Autorinstanzen verwirrt sind, spielt offenbar keine Rolle. Da die Vorrede weggelassen wurde, fehlt auch der Name Thürings. Doch bleibt die Anonymisierung, wie nicht selten im Frühdruck, auf halbem Weg stehen, indem man zwar zwei »tihter« hat, aber keinen Namen.52 Die Autorschaft ist nicht getilgt, jedoch anonymisiert. Das 19. Jahrhundert braucht einen Namen, und so lautet der letzte Satz in Wigand-1838: »Einer aus dem Geschlechte Lusinia, mit Namen Wilhelm von Portenach, hat auch zuerst diese Geschichte in welscher Sprache geschrieben:«53 Der Name des Auftraggebers ist als einziger übrig geblieben, und so muss er der Verfasser sein. Das ist die Schwundstufe eines Prozesses, der Schritt für Schritt personale Konstellationen eliminiert.

6 Fazit Die Melusine-Ausgaben spiegeln den langwierigen und schwierigen Prozess eines Umbaus literarischer Kommunikation des Manuskriptzeitalters unter den Bedingungen des Buchdrucks. Dieser Prozess wird im Allgemeinen nur als ein mediengeschichtlicher betrachtet, doch verändern sich in seinem Verlauf die Textualität, Gattungszuordnung und Autorschaft. Die einzelnen Teile des spätmittelalterlichen Textes werden funktional ausdifferenziert, Texte und Paratexte getrennt, neue Paratexte hinzugefügt sowie Textgeschichte von erzählter Geschichte gesondert. In einem diffusen Bereich von historia, der Phantastisches und Erfahrungswissen, Erfundenes und Bezeugtes, Historiographisches und Naturgeschichtliches umgreift, werden Grenzlinien eingezogen, die zwischen verschiedenen Textsorten zu unterscheiden erlauben. An die Stelle eines kontinuierlichen Weiterschreibens ohne klare Autorinstanzen tritt zunächst der konsequente Rückzug in die Anonymität, dann der (misslungene) Versuch, im Gewirr der Stimmen und Namen einen als den des Autors auszumachen. Auf diesem Weg beginnt sich der in der Moderne übliche Buchtypus herauszukristallisieren.

51 Feyerabend-1587, Bl. 284b; Roloff: Thüring von Ringoltingen, S. 140: »Vnnd mich Tichter dieses Buchs beduͤncket:« Das ist ein Zusatz des Feyerabend-1587, der in Gülfferich-1549 noch fehlt. 52 Zu diesem Problem Müller: Ich vngenant, S. 149–154. 53 Wigand-1838, S. 72.

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Auf dem Weg zu Marbachs ›Volksbuch‹ (Wigand-1838) lassen sich unterschiedliche Stationen unterscheiden. Als Tendenzen konnten gezeigt werden: –– Verschiebung des literarischen Status von res facta auf res ficta –– Auflösung des personal geprägten Verständnisrahmens und Kommunikationszusammenhangs durch Veränderung und Tilgung der Paratexte –– Anonymisierung Der Prozess verläuft dabei keineswegs konsequent und geradlinig in eine Richtung, denn Änderungen werden nicht konsequent durchgeführt, Tilgungen erfolgen punktuell, Obsoletes bleibt stehen und Errungenschaften verschwinden wieder. Das zeigt sich z. B. am Nürnberger Druck Endter-1672, der die Tendenzen der 1570er und 1580er Jahre nicht fortsetzt: Hier ist auf dem Holzschnitt der Stammbaum verschwunden, nur die Harfe spielende Chimäre Melusine ist übriggeblieben. Es geht um Unterhaltung durch eine ›wunderbare‹ Geschichte, die doch zugleich Faktenwahrheit beansprucht. Der Titel lautet: »Historia oder wunderbare Geschicht/ von der edlen und schoͤnen Melusina […] zu Ergetzung der Gemuͤther/ uͤbersetzet:« Das kündigt Unterhaltung an. Der ›Waschzettel‹ aber spricht wieder von »Erfahrenheit«, die für den faktischen Wahrheitsgehalt des Erzählten spreche.54 Die »Historia« scheint anonym, aber in der nachgestellten Vorrede erhält man doch einen Namen. Auf die Vertauschung der Textteile wird keine Rücksicht genommen und der Epilog weist auf Dinge zurück, die nie gesagt wurden.55 Reste des alten Rahmens sind noch da, doch fragmentarisch und ohne Zusammenhang. So zeichnen sich in der Druckgeschichte zwar aufs Ganze gesehen übergreifende Tendenzen ab, aber sie ergeben sich nur aus unabgestimmten Ad-hoc-Maßnahmen, die auch wieder rückgängig gemacht werden können. Konzeptionelle Konsequenz darf man nicht erwarten. Doch bereitet sich Schritt für Schritt die Ausdifferenzierung von Text und Paratexten vor, wie wir sie aus gegenwärtigen Büchern kennen.

7 Literaturverzeichnis Bender, Wolfgang: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger (Sammlung Metzler, Abt. D 113). Stuttgart 1973. Bodmer, Johann Jakob: Critische Abhandlung vom Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen. In einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohrnen Paradiese […]. Zürich 1740 [Faks. Stuttgart 1966]. Kellner, Beate: Ursprung und Kontinuität. Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter. München 2004.

54 »dabey man wissen und verstehen soll/ weil die Erfahrenheit es genugsam beweiset und bekraͤftiget/ daß die Historia wahr und recht an ihr selber seye« (Endter-1672, Bl. A1b). 55 Endter-1672 , Bl. O2a–b.

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Kiening, Christian: Unheilige Familien. Sinnmuster mittelalterlichen Erzählens (Philologie der Kultur 1). Würzburg 2009. Künast, Hans-Jörg: Die Drucküberlieferung des »Melusine«-Romans in Frankfurt am Main in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In: Drittenbass, Catherine / Schnyder, André in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz (Hrsg.): Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 (Chloe. Beihefte zum Daphnis 42). Amsterdam / New York 2010, S. 325–340. Müller, Jan-Dirk: Melusine in Bern. Zum Problem der »Verbürgerlichung« höfischer Epik im 15. Jahrhundert. In: Kaiser, Gert (Hrsg.): Literatur, Publikum, historischer Kontext (Beiträge zur älteren Deutschen Literaturgeschichte 1). Bern u. a. 1977, S. 29–77. Müller, Jan-Dirk: Volksbuch / Prosaroman im 15./16. Jahrhundert – Perspektiven der Forschung. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur. Sonderheft 1 (1985), S. 1–128. Müller, Jan-Dirk: Ich Vngenant und die leüt. Literarische Kommunikation zwischen mündlicher Verständigung und anonymer Öffentlichkeit. In: Smolka-Koerdt, Gisela u. a. (Hrsg.): Der Ursprung von Literatur (Materialität der Zeichen 1; Reihe A). München 1988, S. 149–174. Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten (Bibliothek der frühen Neuzeit Abt. 1. Literatur im Zeitalter des Humanismus und der Reformation 1 / Bibliothek deutscher Klassiker 54). Frankfurt a. M. 1990. Müller, Jan-Dirk: Augsburger Drucke von Prosaromanen im 15. und 16. Jahrhundert. In: Gier, Helmut / Janota, Johannes (Hrsg.): Augsburger Buchdruck und Verlagswesen. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Wiesbaden 1997, S. 337–352. Rautenberg, Ursula: Die »Melusine« des Thüring von Ringoltingen und der Basler Erstdruck des Bernhard Richel. In: Schnyder, André / in Verbindung mit Ursula Rautenberg (Hrsg.): Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Bd. 2: Kommentar und Aufsätze. Wiesbaden 2006, S. 61–99. Roloff, Hans-Gert (Hrsg.): Thüring von Ringoltingen: Melusine in der Fassung des Buchs der Liebe (1587) mit 22 Holzschnitten (Reclams Universal-Bibliothek 1484). Stuttgart 1991. Schmidt, Imke: Die Bücher aus der Frankfurter Offizin Gülfferich – Han – Weigand – Han-Erben. Eine literarhistorische und buchgeschichtliche Untersuchung zum Buchdruck in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Wolfenbütteler Untersuchungen zur Geschichte des Buchwesens 26). Wiesbaden 1996. Schmidt, Peter: Nachdruck eines Wiegendrucks. Die »Melusine« des Thüring von Ringoltingen in einer neuen kommentierten Ausgabe. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur Online. http://www.iaslonline.lmu.de/index.php?vorgang_id=1696 [17.07.2009 / 26.07.2011]. [Rezension zu Schnyder, André / in Verbindung mit Ursula Rautenberg (Hrsg.): Thüring von Ringoltingen: Melusine]. Schneider, Karin (Hrsg.): Melusine. Thüring von Ringoltingen. Nach den Handschriften kritisch herausgegeben (Texte des späten Mittelalters 9). Berlin 1958. Schnyder, André / in Verbindung mit Ursula Rautenberg (Hrsg.): Thüring von Ringoltingen: Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Bd. 1: Edition, Übersetzung und Faksimile der Bildseiten. Bd. 2: Kommentar und Aufsätze. Wiesbaden 2006. Stahl, Karl-Heinz: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1975. Wahrenburg, Fritz: Funktionswandel des Romans und ästhetische Norm. Die Entwicklung seiner Theorie in Deutschland bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts (Studien zur allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft 11). Stuttgart 1971.

John L. Flood

Drei ›Londoner‹ Spätausläufer der »Melusine«-Überlieferung Zusammenfassung: Die Spätausläufer der Drucküberlieferung der Prosaerzählungen der Frühen Neuzeit (der sog. ›Volksbücher‹) sind, vor allem weil sie meist undatiert und häufig auch unfirmiert sind, von jeher ein Stiefkind der Forschung geblieben. Dieser Beitrag untersucht drei Beispiele aus dem sog. ›Sächsischen Überlieferungszweig‹ der Melusine aus dem 18. bzw. 19. Jahrhundert, die sich zufällig in Londoner Bibliotheken erhalten haben: Probleme der Datierung und Firmierung, die solche Drucke aufgeben, werden vor Augen geführt. Im Anschluss daran wird gezeigt, wie es etwa durch Heranziehung anderer zeitgenössischer Drucke vergleichbarer Texte (z. B. Herzog Ernst und Der Gehörnte Siegfried) und die Analyse der Druckeinrichtung und der Holzschnittillustrationen dennoch möglich ist, mehr Klarheit über die Entstehung und die Verwandtschaftsverhältnisse undatierter und unfirmierter Ausgaben zu gewinnen.

1 Einleitung Bei aller Anerkennung der Akribie, die Bodo Gotzkowsky seiner bekannten Volksbücher-Bibliographie hat angedeihen lassen, ist jedoch zu bedauern, dass er – im Unterschied zu Paul Heitz und François Ritter in ihrem Versuch einer Zusammenstellung der deutschen Volksbücher – die späteren und spätesten Ausläufer der Überlieferung nicht berücksichtigt hat: Über das 17. Jahrhundert geht Gotzkowsky nicht hinaus.1 Zwar beanspruchen die Spätlinge des 18. und 19. Jahrhunderts kaum das Interesse des Bibliophilen, denn meistens sind es ganz unscheinbare Produkte der Druckkunst, dennoch sind sie wichtig, weil sie wertvolle Zeugnisse der Langlebigkeit dieser frühneuzeitlichen Prosaromane abgeben. Für Forscher wie Joseph Görres und Karl Simrock im 19. Jahrhundert war die »anhaltende Fortwirkung« dieser Texte ja geradezu ein Definitionskriterium der »Volksbücher«.2 Ohne Experte auf dem Gebiet der Melusine-Forschung zu sein und eher aus buchhistorischer Sicht habe ich mit Texten dieser Art schon mehrfach gearbeitet, besonders mit den Spätausläufern der Überlieferung. In The Survival of German ›Volks-

1 Gotzkowsky I und II. Dazu die Rezensionen von Flood: The bibliography of German »Volksbücher« (Gotzkowsky I); Flood: [Rezension zu Gotzkowsky II] und Schanze: [Rezension zu Gotzkowsky I und II]. Vgl. Heitz / Ritter. 2 Kreutzer: Mythos, S. 96.

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bücher‹ standen drei besonders langlebige Texte im Mittelpunkt der Betrachtung: Herzog Ernst, Wigoleis vom Rade und Der Gehörnte Siegfried.3 Die Melusine wurde damals nicht berücksichtigt, aber in diesem Beitrag sollen drei ›Londoner‹ Spätausläufer der Überlieferung unter die Lupe genommen werden. ›Londoner‹ heißt hier, dass die Drucke in Londoner Bibliotheken vorhanden sind, und nicht, dass sie in London gedruckt wurden, denn die Überlieferung der Melusine auf Englisch ist ausgesprochen spärlich, obwohl die Erzählung verhältnismäßig früh in englischer Übersetzung (nach der französischen Vorlage) erschien. So wurde eine Ausgabe 1510 von Wynkyn de Worde in London gedruckt, von der wir allerdings nur ein Fragment in der Bodleiana in Oxford kennen.4

2 Die Leipziger Ausgabe Solbrig, nach 1788/um 1800 Mit seinem Beitrag »Auf ein Neues übersehen, mit reinem Deutsch verbessert und mit schönen Figuren gezieret« – Beobachtungen zur Drucklegung der »Melusine« im 18. Jahrhundert hat Hans-Jörg Künast im vorliegenden Band einige der Probleme skizziert, die undatierte und unfirmierte Ausgaben aufgeben können. Solche Probleme begegnen uns auch in den drei späten Zeugen der Melusine-Überlieferung in Londoner Bibliotheken, die hier untersucht werden sollen. Zweifelsohne ist nachfolgende Ausgabe der älteste Textzeuge5 (WG 1 [Sol 1]); er wird in den Katalogen der British Library jedoch zu früh auf das Jahr ›1750?‹ angesetzt: Wunderbare Geschichte || von der edlen und schönen || M e l u s i n a , || welche || Eine Tochter des Königs Helmas || und ein Meerwunder gewesen ist; || wie solche || aus dem Berge Awelon in Frankreich ge= || kommen ist, und was für wunderbare Zufälle || sich mit ihr begeben haben. || [TH: Meerweib mit Harfe] || Anjetzo aufs neue übersehen, und mit || schönen Figuren gezieret. || [Dünner Strich, 72 mm] || Gedruckt in diesem Jahre.      (10 || 8° A–H8 J4 K8 = 152 S. 32 Zeilen pro volle Textseite. S. 1 = Titel; S. 2 leer; S. 3–4: Vorrede; S. 5–152 Text. 24 Holzschnitte (mit 5 Wiederholungen) auf S. 1, 7, 12, 27, 53 [= 27], 54, 57, 59, 60, 63, 66, 68 [= 27], 72, 78 [= 1], 83, 88, 100, 102, 119, 121 [= 83], 125, 128, 144, 148 [= 66]. S. 6–152 paginiert; Paginierung oben, zentriert in der Form – 35 – Blattsignaturen ca. 3 cm vom rechten Rand des Druckspiegels eingerückt. Kustoden: meist ein Wort bzw. eine Silbe.

3 Flood: The Survival of German »Volksbücher«. 4 STC 14648. Zu Wynkyn de Worde vgl. Hellinga: Printing in England, bes. S. 207–210, wo allerdings nur dessen Drucke bis um 1506 berücksichtigt werden. 5 London BL, 12450.b.37.

Drei ›Londoner‹ Spätausläufer der »Melusine«-Überlieferung  

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Dieser Druck ist als Nr. 40 in Schorbachs Liste der ihm bekannten Melusine-Ausgaben aufgeführt, nur schreibt dieser »edeln« statt »edlen«.6 Eine ›ähnliche Ausgabe‹ in einem defekten Exemplar in Hannover erwähnt Schorbach als Nr. 41.7 Das Ganze ist sauber gedruckt, jedoch auf schlechtem Papier. Sehr wichtig ist – besonders bei unfirmierten und undatierten Drucken –, dass Einzelheiten wie die Form und Position der Seitenzählung, die Position der Blattsignaturen und die Form der Kustoden (ob ganze Wörter oder nur einzelne Silben) festgehalten werden, denn – wie Richard Sayce gezeigt hat – können solche technischen Einzelheiten sehr aufschlussreich sein, wenn es darum geht, einzelne Druckoffizine voneinander zu unterscheiden.8 Was »Anjetzo aufs neue übersehen« in diesem Fall genau meinen soll, konnte nicht ermittelt werden. Es genügt vielleicht darauf hinzuweisen, dass der Text schon seit der handschriftlichen Überlieferung den Leser geradezu auffordert, Verbesserungen vorzunehmen, denn im »Beschluß« heißt es: Diese Historia habe ich mit der Hülfe Gottes im Jahre 1456 völlig zu Stande gebracht, und muß zwar bekennen, daß solche nicht zum besten ausgefallen ist, weil ich etwas aus einer Sprache in die andere zu bringen kein Meister bin. Meinen gnädigsten Herrn, den Markgrafen zu Röteln, bitte ich, so sie die Sprache besser verstehen, mir meine Fehler zu gute zu halten. Desgleichen ersuche ich auch einen jeden, der die Sprache verstehet, und diesem Buche zu helfen weiß, solches zu verbessern, wo es nöthig ist. […] (WG 1 (Sol 1), S. 151)

Diese Bemerkungen stehen in der Tradition der seit dem Mittelalter häufig belegten Demutsformel.9 Ein wichtiges Detail ist die Zahl »(10« in der rechten unteren Ecke des Titelblatts. Diese Zahl ist nicht etwa eine laufende Nummer des Buchs innerhalb einer Reihe, wie wir sie zum Beispiel aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, etwa bei Gotthard Oswald Marbach oder Karl Simrock, kennen.10 Sie zeigt vielmehr an, wie viele Bogen das Buch hat, und wurde offenbar dazu benutzt, den Handelspreis bzw. den Tauschwert des Druckes festzulegen. In diesem Fall also berechnete der Verlag zehn Bogen, während es eigentlich nur neuneinhalb waren; er machte also genau genommen auf diese Weise einen zusätzlichen Gewinn von fünf Prozent der Papierkosten. Auf diesen Druck (WG 1 [Sol 1]) wird nochmals zurückzukommen sein, aber schon jetzt kann festgehalten werden, dass es unwahrscheinlich ist, dass er aus der glei-

6 Schorbach: Die Historie von der schönen Melusine, S. 140. 7 Nicht näher nachgewiesen. Der Katalog der Gottfried Wilhelm Leibniz-Bibliothek verzeichnet nur die Ausgabe HWB I.8 (Ev): »Historische Wunder-Beschreibung von der sogenannten schönen Melusina, Königs Helmas in Albanien Tochter: Welche eine Sirene und Meer-Wunder gewesen, und ihrer Hervorkunft aus dem in Frankreich gelegenen Berg Adelon, Auch was sich allda sehr seltsam und merkwürdiges mit ihr zugetragen.« Köln: Everaerts, [ohne Jahr] (Hannover LB, Lh 5371:3). 8 Sayce: Compositorial practices. 9 Dazu Schwietering: Demutsformel. 10 Zu Marbach und Simrock vgl. Kreutzer: Mythos, S. 178 f. bzw. S. 179 f.

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chen Offizin stammt wie eine Reihe von unfirmierten Drucken des Gehörnten Siegfried, die ebenfalls den Vermerk »Gedruckt in diesem Jahr« besitzen. Einer von diesen Siegfried-Drucken11 unterscheidet sich in der Druckausstattung von derjenigen der Melusine-Ausgabe in mehreren, möglicherweise bezeichnenden Einzelheiten. Dieser hat »Gedruckt in diesem Jahr 5« auf dem Titelblatt, wohlgemerkt »5« ohne jegliche Klammer; außerdem steht die Seitenzählung in nach außen gekehrten Klammern – etwa ») 35 (« – und der gefüllte Satzspiegel zählt 33 Zeilen (gegenüber 32 Zeilen in der Melusine-Ausgabe).12 Der Titelholzschnitt in diesem Siegfried-Druck stammt von demselben Holzstock wie in zwei weiteren Siegfried-Ausgaben »Gedruckt in diesem Jahr«, ebenfalls mit 33 Zeilen, die in Halle und Philadelphia nachweisbar sind.13 Aus dem gleichen Verlag wie diese Siegfried-Drucke stammt eine ebenfalls unfirmierte Ausgabe von Herzog Ernst, wie der lädierte Zustand des Titelholzschnittes beweist.14

3 Die Ausgabe Dresden: H. B. Brückmann, um 1820 Beim zweiten Druck (WG 5 [Br]) handelt es sich um eine Ausgabe, die immerhin einen Hinweis auf ihren Verlagsort liefert: Geschichte || der || edlen und schönen || M e l u s i n a || eine || Tochter des Königs Helmas. || [TH: Meerweib mit Harfe] || [Zierstrich] || Dresden, || zu haben bey dem Buchbinder H. B. Brückmann, || Breitegasse No, 63    (9) || 8° A–G8 = 112 Seiten. 39 Zeilen pro volle Druckseite. 19 Holzschnitte (mit 4 Wiederholungen) auf S. 1, 7, 10, 21, 40 [= 21], 41, 43, 45, 46, 48, 50, 52, 59 [= 1], 64, 66, 89 [= 10], 93, 95, 110 [=50]. S. 5–112 paginiert; Paginierung oben, zentriert in der Form – 35 – Blattsignaturen ca. 2 cm vom rechten Rand des Druckspiegels eingerückt. Keine Kustoden.

Das Londoner Exemplar15 von WG 5 (Br) stammt aus dem Besitz des Altgermanisten Robert Priebsch (1866–1935), dessen wertvolle Privatbibliothek über seinen Schwiegersohn, den ebenfalls verdienten Germanisten August Closs (1898–1990), größten-

11 London BL, C.143.cc.20 (1). 12 Dazu Paisey: German popular literature, S. 79 f. mit Abb. des Titelblatts. 13 Halle ULB, Dd 2037P bzw. Philadelphia, Library of the American Philosophical Society, 293/ W96. Vgl. Flood: The Survival of German »Volksbücher«, Bd. 2, S. 50 bzw. 51. Von der erstgenannten Ausgabe besaß Elias von Steinmeyer (1848–1922) ein Exemplar (vgl. Golther: Das Lied vom Hürnen Seyfrid, S. xlix). 14 Halle ULB, Dd 2037P/5. Vgl. Flood: The Survival of German »Volksbücher«, Bd. 1, S. 196. 15 University of London, Institute of Germanic and Romance Studies, C88 (N78) 4 Mel; ein weiteres Exemplar findet sich in Weimar HAAB, Koe I: 224 [c]. Das Weimarer Exemplar erwähnt Schorbach: Die Historie von der schönen Melusine, S. 140, Nr. 45.

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teils in den Besitz des Institute of Germanic and Romance Studies der Universität London überging.16 Laut Katalog des Instituts ist der Druck auf das Jahr 1820 zu datieren.17 Der Gemeinsame Verbundkatalog (GVK) verzeichnet 23 Brückmann-Ausgaben, von denen 20 ihr Erscheinungsjahr nicht verraten, darunter Der gehörnte Siegfried (um 1828)18 und Till Eulenspiegel (um 1800).19 Zu beachten ist beim Melusine-Druck die Zahl »(9)« in der unteren rechten Ecke des Titelblatts. Der Druck hat in Wirklichkeit nicht neun, sondern nur sieben Bogen. Es wäre interessant zu wissen, ob hier nur eine kleine Unachtsamkeit oder ein absichtliches Betrugsmanöver vorliegt. Wie es scheint, macht der Verleger im Hinblick auf die Menge des benötigten Papiers einen unberechtigten Gewinn von 22 Prozent! Brückmann bezeichnet sich nicht als Buchdrucker, sondern als Buchbinder und auch als Verleger. Die Breitegasse, wo er sein Geschäft hatte, lag unweit der Kreuzkirche in Dresden. Gedruckt wurde das Buch jedoch nicht in Dresden, sondern höchstwahrscheinlich von Johann Gottlieb Lehmann in Bautzen, der jedenfalls in den späteren 1820er Jahren nachweislich u. a. mehrmals auch den Gehörnten Siegfried für Brückmann druckte, und zwar wie es scheint, mindestens viermal. Möglicherweise ist auch die Melusine mehr als einmal aufgelegt worden, nur sind die Bücher restlos untergegangen. Zwei der Siegfried-Ausgaben, die für Brückmann gedruckt wurden, haben den Druckvermerk »Bautzen, gedruckt in der J. G. Lehmann’schen Buchdruckerei«. Diese beiden sollen nach Wolfgang Golther die Variante »Ebentheuer« (statt »Abentheuer«) im Titel aufgewiesen haben.20 In einem weiteren Siegfried-Druck befindet sich der Druckvermerk »Bautzen, gedruckt bei Johann Gottlieb Lehmann«.21 Der vierte Druck, ebenfalls »zu haben bei dem Buchbinder H. B. Brückmann«, hat dagegen keinen Druckvermerk, ist aber sicher auch von Lehmann in Bautzen gedruckt.22

16 Vgl. Priebsch: [Rezension zu Heitz / Ritter], S. 226. Ihm ist eine kleine Ungenauigkeit unterlaufen: Er gibt Brückmanns Adresse mit »Braitegasse, Nr. 68« an, richtig ist ›Breitegasse, Nr. 63‹. Zu Priebsch, Ordinarius für Germanistik am University College London, vgl. Flood: Priebsch. 17 Der Druck ist bei Heitz / Ritter nicht verzeichnet. 18 Göttingen SUB, 8 Fab VI, 1152. 19 Weimar HAAB, Koe I: 224 [b]. 20 Nach Golther: Das Lied vom Hürnen Seyfrid, S. li–lii, gehörte einer dieser Drucke (Flood: The Survival of German »Volksbücher«, Bd. 2, S. 77, Sigle G2) dem Erlanger Professor Elias von Steinmeyer, der andere (Flood: The Survival of German »Volksbücher«, Bd. 2, S. 78, Sigle G3) dem Weimarer Bibliothekar Reinhold Köhler (1830–1892). Abgesehen davon, dass G2 die Worte »ins deutsche übersetzt«, G3 dagegen »ins Deutsche übersetzt« im Titel hatten, ist aus Golthers Beschreibung nicht ersichtlich, wie sich die beiden inzwischen verschollenen Ausgaben im Einzelnen unterschieden. 21 London BL, C.143.cc.20.(2.). Ein weiteres Exemplar dieser Ausgabe in Göttingen SUB wurde oben, Anm. 18, schon erwähnt. Vgl. auch Flood: The Survival of German »Volksbücher«, Bd. 2, S. 76, Sigle G1. 22 Exemplar in Weimar HAAB, Koe I: 224d. Vgl. Flood: The Survival of German »Volksbücher«, Bd. 2, S. 79, Sigle G4. Außer einem Titelholzschnitt enthalten die »Siegfried«-Ausgaben keine Bilder.

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Abb. 1 (links) Holzschnitt mit Hochzeitsszene. Melusina, Bautzen und Dresden: J. G. Lehmann für H. B. Brückmann, um 1820, S. 40 (WG 5 (Br); University of London, Institute of Germanic and Romance Studies, C88 (N78) 4 Mel.); (rechts): Holzschnitt mit Hochzeitsszene. Herzog Ernst, Bautzen: J. G. Lehmann, ohne Jahr, S. 3 (Weimar HAAB, N 31258)

Er unterscheidet sich nur geringfügig von der Ausgabe in der British Library.23 Alle vier Siegfried-Ausgaben haben, wie auch der Melusine-Druck, 39 Zeilen im gefüllten Satzspiegel. Ebenso vermeldet eine Herzog Ernst-Ausgabe »Zu haben in der Lehmannschen Buchdruckerey in Bautzen« auf dem Titelblatt.24 Dass die Melusine und der Herzog Ernst aus derselben Druckerei hervorgingen, beweist der Umstand, dass beide z. T. die gleichen Holzschnitte aufweisen, also mit den gleichen Holzstöcken gedruckt wurden (Abb. 1). Zu beachten ist allerdings, dass die verwendete Drucktype jeweils eine andere ist, was eventuell auf einen zeitlichen Unterschied hinweisen könnte.

23 Z. B. haben G1 und G4 jeweils einen anderen Zierstrich auf dem Titelblatt, in G1 ist S. 38 falsch gezählt (48, statt 38), außerdem weisen sie kleinere Unterschiede im Text auf; zu den Einzelheiten vgl. Flood: The Survival of German »Volksbücher«, Bd. 2, S. 135. 24 Weimar HAAB, N 31258. »Der Herzog Ernst«-Druck hat 38 Zeilen bei gefülltem Satzspiegel.

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Abb. 2 (links): Titelblatt. Melusina, Leipzig: Solbrig, nach 1788/um1800 (WG 1 (Sol 1); London BL, 12450.b.37.); (rechts): Titelblatt. Melusina, Bautzen und Dresden: J. G. Lehmann für H. B. Brückmann, um 1820 (WG 5 (Br); University of London, Institute of Germanic and Romance Studies, C8 (N78) 4 Mel.)

Vom Motiv her ähneln die Holzschnitte in den Lehmannschen Ausgaben denen von WG 1 (Sol 1). Sie sind aber eindeutig von anderen Holzstöcken gedruckt, was bereits aus einem genauen Vergleich der Titelholzschnitte der beiden Drucke ersichtlich ist: Das zottlige Haar und die Brustwarzen des Schlangenweibs sehen im Einzelnen jeweils anders aus; das Gleiche gilt auch für die Konturen der Wellen und die Schraffierung am Schwanz des Schlangenweibs (Abb. 2). Was Lehmanns Melusine- und Herzog Ernst-Ausgaben betrifft, so lässt sich feststellen, dass diese sich auch sonst in der Ausstattung ähneln.25 Beide haben einen Titelholzschnitt mit dem breiten äußeren Rahmen. Ebenso besitzt Brückmanns Siegfried-

25 Das Titelblatt des »Herzog Ernst« zeigt die Nummer »(5)« in der unteren rechten Ecke; in Wirklichkeit sind es nicht fünf Bogen, sondern viereinhalb, denn der Druck hat nur 72 Seiten.

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Ausgabe einen Titelholzschnitt im selben Stil und gleicher Rahmengestaltung, wobei es sich jedoch um einen Nachschnitt des Titelbildes in einer anderen unfirmierten und undatierten Siegfried-Ausgabe handelt. Das Exemplar dieses unfirmierten Siegfried-Druckes im Freien Deutschen Hochstift in Frankfurt deckt sich mit der Ausgabe, von der, Wolfgang Golther zufolge, der Erlanger Professor Elias von Steinmeyer einmal ein Exemplar besaß, nur mit dem Unterschied, dass Steinmeyers Exemplar die Worte »Solbrigs Verlag in Leipzig« möglicherweise auf einem Etikett unten auf dem Titelblatt trug.26 Christian Friedrich Solbrig druckte von 1772 bis 1799 in Leipzig, seine Witwe führte das Geschäft, offenbar zusammen mit ihrem Sohn Carl August Solbrig, bis 1810 weiter. Es hat also den Anschein, dass die beiden Siegfried-Drucke aus dem Raum Bautzen / Leipzig stammen, was sehr wahrscheinlich auch für die vorhin besprochenen Melusine-Drucke gilt. Der Raum Bautzen / Dresden / Leipzig ist freilich ziemlich groß: Von Bautzen nach Leipzig sind es immerhin 170 Kilometer, aber präzisere Aussagen sind vorerst nicht möglich. Auf jeden Fall dürfte feststehen, dass beide Drucke zum sächsischen Zweig der Melusine-Überlieferung gehören. Zur Person Brückmanns, zu seinem volkstümlichen Verlag und seiner Geschäftsverbindung mit Lehmann in Bautzen würde man gerne mehr wissen, aber es ist bislang nicht gelungen, viel darüber in Erfahrung zu bringen. Wie schon erwähnt, verzeichnet der Gemeinsame Verbundkatalog (GVK) 23 Brückmann-Ausgaben, von denen 20 ihr Erscheinungsjahr verschweigen. Der früheste datierte Druck – Christian Constans Frenkel: Predigt am XIV. Sonntage nach dem Feste der Dreieinigkeit […] – stammt aus dem Jahre 1804, die beiden anderen aus den späteren 1820er Jahren: Ein schöne anmuthige und lesenswürdige Historie von der unschuldig bedrängten heiligen Pfalzgräfin Genofeva […], 1828, und Begebenheiten des Prinzen Gerbino und der Prinzessin Rosina, 1829. Die Suche nach Ausgaben, die erklärtermaßen von Lehmann in Bautzen gedruckt wurden, ist noch weniger ergiebig. Der GVK verzeichnet nur fünf Drucke aus dem Zeitraum »um 1800« bis 1839: Eine lesenswürdige Historia vom Herzog Ernst (um 1800); Carl Merkel: Biela oder Beschreibung der westlichen sächsisch böhmischen Schweitz (1826); Beschreibung von dem großen Helden und Herzogen Heinrich dem Löwen (um 1830); Johann Caspar Lavater: Religiöse Denksprüche (1832); und Wilhelm Valentin Reichel: 60 Predigten auf alle Sonntage und Festtage (1839). Erfreulicherweise aber enthalten Brückmanns Melusine und seine Siegfried-Ausgabe am Schluss ein Verzeichnis von fünfzig Drucken aus dem gleichen Verlag, über-

26 Frankfurt am Main, Freies Deutsches Hochstift, A V 4. Golther: Das Lied vom Hürnen Seyfrid, S. li. Vgl. auch Flood: The Survival of German »Volksbücher«, Bd. 2, S. 75. Wohin Steinmeyers Druck gekommen ist, ist mir nicht bekannt; im OPAC der UB Erlangen-Nürnberg ist er nicht zu finden. – Schorbach: Die Historie von der schönen Melusine, Nr. 44, erwähnt eine »Geschichte der edlen und schönen Melusine, o. O. u. J. 8° (Leipzig, bei Solbrig ca. 1810)« in Berlin.

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schrieben »Bei dem Verleger dieses sind auch folgende Volks-Bücher zu bekommen«.27 Der einzige Unterschied ist, dass in der Liste in der Siegfried-Ausgabe der 49. Titel – Peter Waldmann: Traumbuch. Nach alphabetischer Ordnung – absichtlich mit Druckerschwärze unleserlich gemacht worden ist. Offenbar war dieser Titel inzwischen vergriffen, woraus wir vielleicht ableiten können, dass die Melusine-Ausgabe etwas früher als der Siegfried-Druck erschien. Dieses Verlagsverzeichnis ist ein interessantes Dokument, das behilflich sein kann, nicht nur das Erscheinungsjahr von Brückmanns Melusine-Ausgabe ungefähr zu bestimmen, sondern das darüber hinaus zeigt, in welcher Gesellschaft sich die Melusine jetzt befand. ›Volksbücher‹ im Sinne von volkstümlichen Erzählungen sind es keineswegs allein. Es sind auch mehrere Unterhaltungsbüchlein, wie beispielsweise Rätselbücher, und praktische Handbücher (Briefsteller usw.) darunter. Die Liste ist nicht etwa in der Reihenfolge der Erscheinung der Drucke, sondern weitgehend alphabetisch angelegt.28 Von den fünfzig Titeln lassen sich 24, also fast die Hälfte, heute nicht mehr nachweisen.29 13 Publikationen wiederum sind zweifelsohne schon als Brückmann-Ausgaben belegt.30 Die verbleibenden 13 Titel sind im GVK nachgewiesen, allerdings nur aus anderen Verlagen (z. B. Solbrig in Leipzig und Zürngibl in Berlin) oder eben ohne Angabe des Verlags oder Verlagsorts. In Brückmanns Verlagsliste ist bei keinem der Titel ein Erscheinungsjahr angegeben, und soweit sich Exemplare davon im GVK nachweisen lassen, sind sie bis auf zwei – Genofeva (Nr. 16) aus dem Jahre 1828 und Prinz Gerbino und Prinzessin Rosina (Nr.  17) aus dem Jahre 182931 – alle ohne Jahresangabe erschienen. Leider lässt sich nicht sagen, ob Brückmann diese Titel nur einmal und nur im genannten Jahr

27 Hinzu käme als einziger Titel aus Brückmanns Verlag, der nicht in dieser Liste steht: »Verbesserter Müller Ehrenkranz: oder recht gemessener Urkund von dem wahrhaften Cirkels-Grund, so den Mühlhandwerk zu Ehren gethan ein Mühlknappe namens Georg Bohrmann, seine Mit-Consorten damit zu beschenken [...]«, Dresden: Brückmann [ca. 1750 (sicher entschieden zu früh angesetzt!)] (Ex. Weimar HAAB). – Die Literatur zu solchen beigedruckten Verzeichnissen (im Unterschied zu separat erschienenen Verlagskatalogen) ist spärlich; einige Hinweise finden sich in: Lindenbaum: Publishersʼ Booklists. 28 Die jeweiligen Stichworte (von »Anekdotenerzähler« bis »Waise«) wurden im kommentierten Abdruck (siehe Anhang) kursiv gesetzt. 29 Nicht im GVK nachgewiesen sind Nr. 1–4, 7, 9, 10, 12, 15, 21, 24, 27–29, 32–37, 40, 47, 49 u. 50. 30 »Die drei Bucklichten von Damaskus« (Nr. 5), »Das Dorfconvent« (Nr. 8), »Eulenspiegel« (Nr. 14), »Genofeva« (Nr. 16), »Begebenheiten des Prinzen Gerbino und der Prinzessin Rosina« (Nr. 17), »Die Geschichte des berühmten Berggeist Gnome auf dem schlesischen Sudetengebirge« (Nr. 19), »Heinrich der Löwe« (Nr. 22), »Helena« (Nr. 23), »Melusine« (Nr. 31), »Riesengeschichte, oder kurzweilige Historie vom König Eginhard aus Böhmen« (Nr. 39), »Die drei Rolands-Knappen« (Nr. 41), »Rothkopfs Jürge, der lustige Dorffiedler genannt« (Nr. 42) und »Der gehörnte Siegfried« (Nr. 46). Hinzu käme »Markgraf Walther« (Nr. 23), von dem eine Brückmann-Ausgabe wenigstens bei Köhler: Die Quelle von Bürgers Lenardo und Blandine, S. 102, Anm. 1, nachgewiesen wird. 31 Beides in Weimar HAAB. Überhaupt sind mehrere dieser Brückmann-Bücher in Weimar vorhanden.

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herausgebracht hat. Auch die übrigen Titel sind nicht besonders ergiebig, wenn man versucht, das Entstehungsjahr der Verlagsliste zu bestimmen. Das Buch, betitelt Die sonderbare Erbschaft (Nr. 13), nimmt Bezug auf die Schlacht bei Jena, die am 14. Oktober 1806 stattfand. Das Abentheuer der Neujahrsnacht (Nr. 33) ist eine 1818 geschriebene Erzählung von Heinrich Zschokke (1771–1848), und Ernst Raupachs Die Christnacht. Schauerliches Gemälde der Folgen des Aberglaubens (Nr. 10) wurde erst 1826 verfasst.32 So kann die Verlagsliste nicht vor 1826 erschienen sein, und wenn die Brückmann-Ausgabe von Prinz Gerbino auch erst 1829 gedruckt wurde, wäre die Liste »um 1830« anzusetzen. Die Melusine-Ausgabe dürfte also ebenfalls aus den späteren 1820er Jahren stammen. Was aus Brückmanns Verlagsliste nicht hervorgeht, ist, ob alle fünfzig Titel für ihn bei Lehmann in Bautzen gedruckt wurden – es wäre eine reizvolle Aufgabe, die nachgewiesenen Drucke auf typographische Gemeinsamkeiten zu untersuchen. Möglicherweise hat Brückmann die Titel bei mehreren Druckern herstellen lassen. Einige der Titel auf der Liste wurden nämlich nachweislich auch von Solbrig in Leipzig gedruckt, z. B. Das Dorfconvent (Nr. 8), Die drei Schwestern (Nr. 44), eine Erzählung von Johann Karl August Musäus (1735–1787) und Die böse Tochter (Nr. 48). Andere Titel hingegen sind heute nicht mehr als Brückmann-Drucke nachgewiesen, sondern nur noch in Drucken aus anderen Verlagen, z. B. Die schöne Caroline als Husaren-Oberst (Nr. 6; Berlin: Zürngibl, 1816), Schinderhannes (Nr. 43; Berlin: Trowitzsch, um 1810), und Hirlanda (Nr. 25; Köln: Everaerts, um 1750).33 Fazit dieses Überblicks ist also, dass nicht einwandfrei nachgewiesen werden kann, dass alle Titel in dieser Liste von Lehmann in Bautzen für Brückmann in Dresden gedruckt wurden; vielleicht bot Brückmann auch Bücher aus anderen Druckereien und Verlagen an.

32 Goedeke: Grundriß, Bd. 8, S. 662, Nr. 27. 33 Wilhelm Zürngibl (Zirngibl) druckte von 1802 bis 1817 in Berlin (Am Haakschen Markt Nr. 2). Die Witwe führte das Geschäft bis 1819 weiter, bis sie es an Anton Albert Obst verkaufte (vgl. Potthast: Geschichte der Buchdruckerkunst zu Berlin, S. 52, 58, 62). Zu Trowitzsch & Sohn vgl. Mangelsdorf: Das Haus Trowitzsch & Sohn und Graf: Zweieinhalb Jahrhunderte. Zu Everaerts vgl. Heitjan: Die Kölner Druckereibetriebe, S. 1551–1553 sowie auch Flood: The Survival of German »Volksbücher«, Bd. 1, S. 320 f.

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4 Das Mährlein von der schönen Melusine Für die Rezeption der Melusine ist der dritte Druck besonders interessant.34 Er trägt den Titel: [schwarz:] Zwey schöne || [rot:] neue Mährlein. || [schwarz:] als || [Spalte a:] I. Von der schönen Me= || lusinen; einer Meer= || fey. || [Spalte b:] II. Von einer untreuen || Braut, die der Teu= || fel hohlen sollen. || [Einspaltig:] [Strich] || Der lieben Jugend, und dem ehrsamen Frauen= || zimmer zu beliebiger Kurzweil, || in Reime verfasset. || [Devise: Zwei Kolben im Lorbeerkranz] || [Dicker Strich] || [rot:] Leipzig, || [schwarz:] Jn der Jubilatenmesse 1772. || 8° π2A–C8D6 = 64 Seiten.35

Über die Entstehung dieses Textes informieren Beigaben auf Seite 3 und 4 im Titelbogen: Aus einem Schreiben an einen Freund. Ich muß Ihnen noch mit zwey Worten sagen, wie die poetische Kleinigkeit entstanden ist, die ich Ihnen hiebey übersende. Ich speiste in voriger Leipziger Michaelmesse mit der liebenswürdigen Madam R** bey Herrn Wölpling, als einer von der niedrigern Klasse der litterarischen Handlanger, der seinen ganzen Buchladen in einem Korbe herumträgt, uns verschiedenes von seiner gelehrten Waare anbot. Der Madam R** fielen die Mährchen von der schönen Melusine, von einer untreuen Braut, von der schönen Magellone & in die Hände. Sie blätterte darinn, kaufte sie dem Herumträger ab, [S. 4] und gab sie mir, indem sie mit ihrer holdseliggebietrischen Mine sagte: dies möchte ich wohl einmal anders gemacht haben. Wie denn anders? Madam! (gab ich zur Antwort) Ach! (sagte sie) fragen Sie mich nicht lange! Das wissen sie ja wohl! Wie Sie wollen! Aber anders! Und daß ich es die Ostermesse hier gedruckt erhalte. Ich mußte lachen, nahm aber doch das Büchlein mit nach Hause, und machte daraus anders: Die schöne M e lu s i n e , und d i e u n t re u e B r au t . Ob auch besser, das werden mir ja die Herren Kunstrichter wohl sagen.

Beide Texte sind als Reimpaargedichte verarbeitet – die Melusine hat 482 Verse. Da das Buch zur Jubilatenmesse, also zur Frühjahrsmesse 1772, erschien, fand das hier berichtete Gespräch (vorausgesetzt, dass es sich um eine wahre Begebenheit und nicht um eine Fiktion handelt36) wohl im September des Vorjahres, also 1771, statt.

34 London BL, 011528.e.84. 35 Weitere Exemplare in Berlin SB-PK; Braunschweig UB; Göttingen Niedersächsische ULB; Halberstadt, Gleimhaus; Hamburg SUB; Weimar HAAB (nach GVK liest das Exemplar »Kurzweill«, das der elektronischen Ausgabe in Deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts online [München: Saur, 2008; http://db.saur.de/DLO/login.jsf;jsessionid=e0b799 f54d837cd12c565b21ebd8] zugrunde liegt); Wolfenbüttel HAB. Dem Online-Katalog der British Library zufolge hat der Druck 60 Seiten; tatsächlich sind es 64 – offenbar wurden die vier nicht nummerierten Seiten am Anfang übersehen. 36 Vgl. Steinkämper: Melusine, S. 259: »Ob es sich hierbei um eine literarische Fiktion handelt, mit der der aufgeklärte Autor seine Beschäftigung mit niederer Massenliteratur entschuldigen wollte, oder ob es sich um eine wahre Begebenheit handelt, lässt sich nicht entscheiden.« Ich halte es doch

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Der Verfasser verrät seinen Namen nicht, aber es handelt sich offenbar um ein Werk des Braunschweiger Dichters Justus Friedrich Wilhelm Zachariae (1726–1777), über den es in der Allgemeinen Deutschen Biographie etwas griesgrämig heißt: »Als Schriftsteller gehört Z[achariae] zu der nicht geringen Zahl derer, die mit ihrem Erstlingswerke sogleich den Gipfelpunkt ihres dichterischen Könnens erreichten«.37 Vermutlich meinen Heitz / Ritter diese Ausgabe, wenn sie eine »Bearbeitung von Zachariae« aus dem Jahre 1778 anführen.38 Eine Ausgabe aus diesem Jahr ist heute nicht mehr nachweisbar, es sei denn Heitz / Ritter beziehen sich auf die Gesamtausgabe von Zachariaes dichterischem Werk, den Poetische Schriften (Karlsruhe 1778). Zachariae teilt sein Gedicht in acht kleinere Abschnitte ein, die jeweils durch eine Überschrift eingeleitet werden. Zwei davon scheinen mehr oder weniger aus Kapitelüberschriften in der Melusine-Prosa entlehnt zu sein: Zachariaes »Wie der Ritter die schöne Melusine im Bad erblicket« (S. 27) geht vielleicht auf die Überschrift »Reymund siehet Melusinam im Bade, erschrickt darüber […]« (S. 77 im unfirmierten Druck) zurück. »Wie der Ritter sich vom Zorn hinreißen lassen, daß er sein Ehgemahl vor den Leuten beschämt« (Zachariae, S. 32) erinnert entfernt an die Überschrift »Melusine will Reymunden in seinem großen Zorn, den er um seines Sohnes Goffroy Missethat willen hat, trösten, und wird von Reymunden vor den Leuten beschämet, daß sie ein Meerwunder wäre« (S. 93 im unfirmierten Druck). Die Anklänge sind aber zu vage, als dass man sagen könnte, Zachariae müsse unbedingt diese oder jene Ausgabe zur Vorlage für sein Gedicht benutzt haben. Da sich aber die Begebenheit, auf die das Gedicht zurückgeht, angeblich in Leipzig abspielte, gehen wir wohl nicht fehl mit der Annahme, dass Zachariae eine aus dieser Stadt stammende Ausgabe zur Vorlage benutzt habe. Überlieferungsgeschichtlich hängen diese drei Drucke womöglich eng zusammen, und zwar etwa so: ohne Ort, Drucker und Jahr [Solbrig: nach 1788 / um 1800]

Zachariae: Mährlein von der schönen Melusine

Bautzen: Lehmann für Brückmann in Dresden [um 1820]

Abb. 3: Stemma zur Überlieferungsgeschichte der drei Melusine-Drucke (Darstellung des Autors)

schon für möglich, dass es sich um eine wahre Begebenheit handelt, obwohl es mir nicht gelungen ist, die »liebenswürdige Madam R**« oder den »Herrn Wölpling« in Leipzig dingfest zu machen. 37 Schüddekopf: Zachariae, S. 637; weiter heißt es dort (S. 640): »Auch den Knittelvers handhabte Z. in Gelegenheitsgedichten mit vielem Geschick; dagegen war es ein Mißgriff, daß er in demselben Versmaß (1772) ›Zwey schöne neue Mährlein‹ von der edlen Melusine und der untreuen Braut im Romanzenton parodierte, wie es durch Gleim Mode geworden war.« 38 Heitz / Ritter, S. 130.

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Die Erfahrung lehrt, dass die späteren Ausgaben häufig weniger Bilder haben und die Seiten enger bedruckt sind als die früheren, weil die Drucker unnötige Kosten sparen wollten, was auch hier der Fall ist. Der Bautzener Druck hat 112 Seiten à 39 Zeilen und nur 19 Holzschnitte gegenüber 152 Seiten à 32 Zeilen mit 24 Holzschnitten in der unfirmierten Ausgabe. Von der Konzeption her ist der Bautzener Druck von dem unfirmierten Druck beeinflusst – und zwar sowohl vom Text39 wie auch von der Bebilderung her: Die Holzschnitte sind vom Motiv her ähnlich, jedoch nicht mit den gleichen Holzstöcken gedruckt. Aus dem Umstand, dass es sich bei den Bildern um Nachschnitte handelt, dürfen wir wohl annehmen, dass der unfirmierte Druck nicht von Lehmann in Bautzen gedruckt wurde. Dennoch wäre eben aus der Ähnlichkeit der Druckausstattung und der Bebilderung zu schließen, dass der unfirmierte Druck aus einer nahegelegenen Gegend stammen könnte, etwa aus dem ca. 170 Kilometer weit weg liegenden Leipzig. Möglicherweise war es ein Exemplar dieser ›Leipziger‹ Ausgabe, welches die Madam R** auf der Leipziger Messe von dem Büchertrödler erstanden hat. Eine Ausgabe »Frankfurt und Leipzig« (um 1750), welche allerdings nicht unbedingt in Frankfurt oder Leipzig gedruckt worden zu sein braucht, verzeichnen Heitz / Ritter,40 aber es könnte auch andere aus der Leipziger Gegend gegeben haben. Dieser Beitrag versteht sich als Ergänzung zur Erhellung des ›Sächsischen Überlieferungszweigs‹ im vom Erlanger DFG-Projekt »Die Melusine des Thüring von Ringoltingen – Buch, Text und Bild« eruierten Stemma. Mit diesen Ausführungen sollte – wenn auch im beschränkten Umfang – gezeigt werden, dass es gelegentlich sehr wohl möglich ist, dem Problem der vielen unfirmierten Drucke der Spätzeit beizukommen, und zwar vor allem dann, wenn man den einzelnen Text im größeren Umfeld weiterer verwandter Texte untersucht.

5 Quellen- und Literaturverzeichnis 5.1 Quellen und alte Drucke Golther, Wolfgang: Das Lied vom Hürnen Seyfrid nach der Druckredaktion des 16. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Das Volksbuch vom gehörnten Siegfried nach der ältesten Ausgabe (1726) (Neudrucke deutscher Litteraturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 81/82). 2. Aufl. Halle (Saale) 1911.

39 Die textlichen Unterschiede sind unerheblich. Der Bautzener Druck hat z. B. die Namensform ›Reimund‹ gegenüber ›Reymund‹ in der unfirmierten Ausgabe.

40 Heitz / Ritter, S. 130. Danach gab es Exemplare in Wernigerode und Wien (vermutlich Wien ÖNB, 5788-A Alt Mag). Ein weiteres scheint in Frankfurt am Main, Freies Deutsches Hochstift, III E 46 / c 46 vorzuliegen.

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5.2 Literaturverzeichnis Flood, John L.: The Survival of German »Volksbücher«. Three Studies in Bibliography. 2 Bde. London 1980. [Ph.D. thesis, University of London. Erhältlich über: British Library Document Supply Centre, Boston Spa, Wetherby, West Yorkshire LS23 7BQ, Signatur: D 36114/81.] Flood, John L.: The bibliography of German »Volksbücher«. A review article. In: The Modern Language Review 88 (1993), S. 894–904 [Rezension zu Gotzkowsky I]. Flood, John L.: [Rezension zu Gotzkowsky II]. In: The Modern Language Review 91 (1996), S. 781–82. Flood, John L.: Priebsch, Robert. In: Oxford Dictionary of National Biography. http://www.oxforddnb. com/view/article/98340 [05.2010 / 01.05.2012]. Goedeke, Karl: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. 2. Aufl. Bd. 8. Dresden 1905. Nachdruck: Nendeln 1979. Gotzkowsky, Bodo: »Volksbücher«. Prosaromane, Renaissancenovellen, Versdichtungen und Schwankbücher. Bibliographie der deutschen Drucke. Teil I: Drucke des 15. und 16. Jahrhunderts. Teil II: Drucke des 17. Jahrhunderts (Bibliotheca Bibliographica Aureliana 125 / 142). Baden-Baden 1991, 1994. Graf, Andreas: Zweieinhalb Jahrhunderte Produktion populärer Schriften: Die Verlage Trowitzsch & Sohn in Frankfurt/Oder und Berlin (1711–1952). In: Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte 19 (2010), S. 9–41. GVK = Gemeinsamer Verbundkatalog. http: //gso.gbv.de. Heitjan, Isabel: Die Kölner Druckereibetriebe und Buchhandlungen 1810. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4 (1963), Sp. 1549–1556. Heitz, Paul / Ritter, François: Versuch einer Zusammenstellung der deutschen Volksbücher des 15. und 16. Jahrhunderts nebst deren späteren Ausgaben und Literatur. Straßburg 1924. Hellinga, Lotte: Printing in England in the Fifteenth Century. E. Gordon Duff’s Bibliography with supplementary descriptions, chronologies and a census of copies. London 2009. Köhler, Reinhold: Die Quelle von Bürgers Lenardo und Blandine. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 8 (1877), S. 101–104. Kreutzer, Hans-Joachim: Der Mythos vom Volksbuch. Studien zur Wirkungsgeschichte des frühen deutschen Romans seit der Romantik. Stuttgart 1977. Lindenbaum, Peter: Publishers’ Booklists in Late Seventeenth-Century London. In: The Library, 7th series 11 (2010), H. 4, S. 381–404. Mangelsdorf, Edmund: Das Haus Trowitzsch & Sohn in Berlin. Sein Ursprung und seine Geschichte von 1711 bis 1911. Berlin 1911. Paisey, David: German popular literature as seen in some recent antiquarian acquisitions. In: The British Library Journal 5 (1979), S. 91–101. Potthast, August: Geschichte der Buchdruckerkunst zu Berlin im Umriß. Hrsg. von Ernst Crous. Berlin 1926. Priebsch, Robert: [Rezension von Heitz / Ritter: Versuch einer Zusammenstellung der deutschen Volksbücher]. In: The Modern Language Review 20 (1925), S. 224–226. Sayce, R[ichard] A[nthony]: Compositorial Practices and the Localization of Printed Books, 1530–1800 (Oxford Bibliographical Society. Occasional publications 13). Oxford 1979. Schanze, Frieder: [Rezension zu Gotzkowsky I, II]. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 118 (1996), S. 314–324. Schorbach, Karl: Die Historie von der schönen Melusine. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 1 (1897/98), S. 132–142. [Nachtrag in 9 (1905/06), H. 1, S. 148]. Schüddekopf, Carl: Zachariae, Just Friedrich Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 44. Leipzig 1898, S. 634–641. Schwietering, Julius: Die Demutsformel mittelhochdeutscher Dichter (Abhandlungen der K. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge 17, Nr. 3). Berlin 1921.

Drei ›Londoner‹ Spätausläufer der »Melusine«-Überlieferung  

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STC = A Short-Title Catalogue of Books, Printed in England, Scotland, & Ireland and of English Books Printed Abroad, 1475–1640. First compiled by A. W. Pollard and G. R. Redgrave. 2nd ed., revised and enlarged [...] by W. A. Jackson, F. S. Ferguson [...] Katharine F. Pantzer. 3 Bde. London 1976–1991. Steinkämper, Claudia: Melusine – vom Schlangenweib zum »Beauté mit dem Fischschwanz«. Geschichte einer literarischen Aneignung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 233). Göttingen 2007.

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6 Anhang H. B. Brückmann: Verlagsverzeichnis [um 1820] Die folgende tabellarische Übersicht des Verlagsverzeichnisses ist um Nachweise erhaltener Exemplare ergänzt worden; die kursivierten Titelstichwörter zeigen das alphabetische Ordnungsprinzip an. Lfd. Nr.1

Titel

Ort, Verleger, Jahr (nach GVK)

Exemplar­ nachweis

[S. 1] Der lustige Geschichte- u. Anekdoten­erzähler zur 1 Unterhaltung fröhlicher Gesellschaften



2

Der gesellschaftliche Unterhalter mit drolligen Geschichten und Anekdoten [Nachtrag zu Nr. 1]



3

Magister Zimpels Post- und Brautfahrt [­ vgl. August Friedrich Ernst Langbein (1757– 1835): Magister Zimpel’s Brautfahrt, Berlin 1820, Exemplar in Dresden SLUB]



4

Neuester Briefsteller [...]



5

Die drei Bucklichten von Damaskus

Dresden: Brückmann, Weimar HAAB [um 1820]

6

Die schöne Caroline als Husaren-Oberst [...]

Berlin: Zürngibl, 1816

7

Kleine Sammlung von Charaden oder Räthseln

8

Das Dorfconvent, welches allerlei Gespräche von Hexen, Gespenstern [...] enthält

9

Ritter von Felsenburg, der Geistererlöser, oder die Abentheuer dreier Nächte

— Dresden: Brückmann, Weimar HAAB [um 1770 ?] Auch Leipzig: Solbrig Berlin SB-PK —

[S. 2] Die Christnacht. Schauerliches Gemälde der 10 Folgen des Aberglaubens, von Dr. Ernst Raupach [lt. Goedeke: Grundriß, Bd. VIII, S. 662, Nr. 27, erst 1826 verfasst] 11

Der Pachter Frühauf, oder Wohltätigkeit trägt Zinsen

12

Beschreibung von Dresden in 654 Versen 2 

13

Die sonderbare Erbschaft, oder ein armes Tagelöhnermädchen findet in einem französischen Offizier ihren unbekannten leiblichen Bruder. Eine wahre außerordentlich rührende Geschichte von der Schlacht bei Jena [Schlacht bei Jena 14. Oktober 1806]

Berlin SB-PK



o. O. [19. Jh.]

Weimar HAAB —

o. O. [um 1820]

Leipzig, Deutsches Buch- und Schrift­museum

Drei ›Londoner‹ Spätausläufer der »Melusine«-Überlieferung  

 49

Lfd. Nr.1

Titel

Ort, Verleger, Jahr (nach GVK)

Exemplar­ nachweis

14

Leben und sonderbare Thaten Till Eulenspiegels, eines Bauern Sohn. Neuerdings lustig beschrieben und mit anmuthigen Erzählungen vermehrt

Dresden: Brückmann, Weimar HAAB [um 1800]

15

Zwei neue Frag- und Antwortspiele zur Unter­ haltung bei fröhlichen Gesellschaften

16

Eine schöne anmuthige und lesenswürdige Historie von der unschuldig bedrängten Heiligen Pfalzgräfin Genofeva

Dresden: Brückmann, Weimar HAAB 1828

17

Begebenheiten des Prinzen Gerbino und der Prinzessin Rosina. Eine wahre Geschichte

Dresden: Brückmann, Weimar HAAB 1829

18

Neues Glücks-Buch, welches mit mancherley kurzweiligen Sprüchen und Schwänken vieler Vögel und vierfüssigen Thiere erfüllet und zusammen getragen worden

o. O. [um 1820]

19

Die Geschichte des berühmten Berggeist Gnome auf dem schlesischen Sudetengebirge

Dresden: Brückmann, Weimar HAAB [um 1800]

20

Tharandts Heilige Hallen

Halle: Tharandt, um 1850 [?]



[S. 3] Jahn der Büßende. Erzählung aus dem Mittelalter. 21 [Verfasser: Wilhelm Blumenhagen (1781–1839). Keine Separatausgabe aus dieser Zeit bekannt]

Berlin SB-PK

— —

22

Beschreibung von dem großen Helden und Herzogen Heinrich dem Löwen, und seiner wunderbaren und höchst gefährlichen Reise3 

Dresden: Brückmann, Weimar HAAB um 1800 Bautzen: Lehmann, Wolfenbüttel um 1830 HAB

23

Anmuthige und lesenswürdige Historie von der geduldigen Helena, Tochter des Kaisers Antonii [...]

Dresden: Brückmann, Apelsche Kultur[um 1800] stiftung, Ermlitz (Halle ULB) Weimar HAAB

24

Eine lesenswürdige Historie vom Herzog Ernst in Bayern und Oestreich [...]

Bautzen: Lehmann, o. J.

Weimar HAAB

25

Die über die Bosheit triumphirende Unschuld, das ist, Hirlanda, eine geborene Herzogin von Britannien [...]

Köln, um 1750

Weimar HAAB

26

Geschichte der Libussa, einer Elfentochter und ehemaligen Herzogin von Böhmen

o. O. um 1800

Weimar HAAB

27

Maria von Gitschina, oder das Marienthal bei Schrelberau. Eine interessante und wahre Geschichte aus dem Hussitenkriege



50 

Lfd. Nr.1

 John L. Flood

Titel

Ort, Verleger, Jahr (nach GVK)

Exemplar­ nachweis

[S. 4] Fernando Lomelli, der kühne Räuber 28



29

Die schöne Marcedille



30

Schöne anmuthige Historie von Markgraf Walthern, darinnen dessen Leben und Wandel [...] vor Augen gestellet wird

Dresden: Brückmann o. J. Frankfurt a. d. Oder, um 1800

— 4 Apelsche Kulturstiftung, Ermlitz (Halle ULB)

31

Geschichte der edlen und schönen Melusina, einer Tochter des Königs Helmas

Dresden: Brückmann [um 1820] WG 5 (Br)

London, Institute of Germanic & Romance Studies Weimar HAAB

32

Der Müller in seinem Wirkungskreise



33

Das Abentheuer der Neujahrsnacht, oder der Prinz der Nachtwächter. [Von Heinrich Zschokke (1771–1848). GVK verzeichnet eine Ausgabe Aarau 1825]



34

Die Prügelsuppe. Ein Schwank



35

Neuvermehrte Punktirkunst, welche von vielen in der Welt hoch geachtet wird. [Vgl. Neuvermehrte Punktir-Kunst, ein prophetisches Gesellschaftsspiel zur Aufheiterung freundschaftlicher Kreise. Rostock: Hinstorff [um 1850] (Schwerin LB)]



36

Neues und schönes Räthselbuch nebst Unterricht, wie im Pfänderspiel die Pfänder ausgelöset werden können



[S. 5] Ein neues und lustiges politisches Räthsel37 Büchlein [...]



38

Die Nachbarskinder. Eine wahre höchst interessante Erzählung. [? = Die Nachbarskinder. Erzählungen aus dem Kindesalter für dasselbe. Von Friedrich Hesekiel (1794–1840). Halle 1825]



39

Riesengeschichte, oder kurzweilige Geschichte vom König Eginhard aus Böhmen [...] [ Hrsg. von Leopold Richter]

40

Der verlorene und wiedergefundene Ring. Eine Erzählung für junge Leute

41

Die drei Rolands-Knappen, mit welchen sich nach der Schlacht bei Roncevall viele merkwürdige Begebenheiten ereigneten

Dresden: Brückmann, Weimar HAAB [um 1800] — Dresden: Brückmann, Berlin SB-PK [um 1800] Weimar HAAB

Drei ›Londoner‹ Spätausläufer der »Melusine«-Überlieferung  

 51

Lfd. Nr.1

Titel

Ort, Verleger, Jahr (nach GVK)

42

Rothkopfs Jürge, der lustige Dorffiedler genannt

Dresden: Brückmann, Göttingen SUB [um 1840] Weimar HAAB

43

Lebensbeschreibung des berüchtigten Räuberhauptmanns Schinderhannes und einiger seiner Spießgesellen

Berlin: Trowitsch, [um 1810] Auch: Reutlingen 1835

Weimar HAAB

Die drei Schwestern, eine Geschichte von vielen Abentheuern und Bezauberungen [...] [Von Joh. Karl August Musäus (1735–1787)]

[Leipzig: Solbrig] [mehrere Ausgaben um 1794] Auch Frankfurt a. d. Oder: Trowitzsch, [um 1820]

Berlin SB-PK Weimar HAAB

Das schöne Suschen. Ein Beispiel seltner Herzhaftigkeit

Berlin: Zürngibl, 1809 Weimar HAAB Leipzig: Solbrig o.J. Berlin SB-PK

44

45

[S. 6] Die wunderschöne Historie von dem gehörnten 46 Siegfried [...]

Exemplar­ nachweis

Berlin SB-PK

Weimar HAAB

Dresden: Brückmann, Göttingen SUB [um 1828]

47

Sammlung verschiedener Spiele, bei Versammlungen fröhlicher Gesellschaften sich die Zeit zu verkürzen

48

Die böse Tochter, oder so wird Bosheit und Ungehorsam gegen die Aeltern bestraft. Eine Geschichte zur Warnung

49

Peter Waldmanns Traumbuch. Nach alphabetischer Ordnung5 



50

Helene, oder die Waise von St. Valerius. Von Louis de FOr. 3 Theile





O. O. [um 1810] Leipzig: Solbrig, [um 1820]

Weimar HAAB Greifswald UB

 Im Verlagsverzeichnis sind die Titel nicht nummeriert.  Ab Nr. 12 ist die bisherige alphabetische Reihenfolge gestört; sie setzt bei ›Dresden‹ wieder ein. 3  Die alphabetische Reihenfolge wird hier nochmals gestört; sie endet bei ›Jahn‹ bzw. ›Löwen‹ und setzt bei ›Heinrich‹ bzw. ›Helena‹ wieder ein. 4  Vgl. Köhler: Die Quelle von Bürgers Lenardo und Blandine, S. 102, Anm. 1. 5  Dieser Titel ist in der »Siegfried«-Ausgabe mit Druckerschwärze unleserlich gemacht. Vgl. dazu: Ganz neu vermehrte Traum-Buch in welchem allerhand Träume mit ihren wahren Bedeutungen in gehöriger Ordnung nach dem Alphabet zu finden sind: Nebst einem Anhange, worinnen die [...] Träume nach des Mondes Lauf [...] ausgelegt werden [...] zusammen getragen von Peter Waldmann einem Irrländer. O. O. u. J. (Ex. Berlin SB-PK). Auch: Des alten berühmten Schäfers Peter Waldmann’s Traumbuch, welcher Fürsten und andern hochgestellten Personen die Träume auslegte und die künftigen Ereignisse des Lebens daraus zu schließen wußte; nebst seinen erforschten und verheimlichten Glücksnummern, die auf jeden gehabten Traum fallen. Mügeln: Kunde, 1877 [bzw. Leipzig: Senf, 1877] (Ex. Weimar HAAB). 1

2

Hans-Jörg Künast

»Auf ein Neues übersehen, mit reinem Deutsch verbessert und mit schönen Figuren gezieret« Beobachtungen zur Drucklegung der »Melusine« im 18. Jahrhundert Zusammenfassung: Die Bearbeitungen des Melusine-Romans, die unter dem Titel Historische Wunderbeschreibung von der sogenannten schönen Melusina bzw. Wunderbare Geschichte von der edlen und schönen Melusina veröffentlicht wurden, sind bibliographisch bislang nur unzureichend erfasst worden. Auch die literaturwissenschaftliche Forschung hat die jüngere Melusine-Überlieferung des 18. und frühen 19. Jahrhunderts übergangen, deren Ausgaben sehr häufig ohne Angaben zum Druckort und Drucker erschienen sind. Datierte Ausgaben gibt es nur im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts. Da diese Drucke in jeder Hinsicht einen ›barocken‹ Eindruck machen, nahm man bisher an, dass es sich um Bearbeitungen aus der Mitte des 17. Jahrhunderts handelt. Eine Reihe von Indizien führt jedoch zu dem eindeutigen Schluss, dass sie in das 18. Jahrhundert zu datieren und als Druckwerke anzusehen sind, die speziell für den Kolportagehandel hergestellt wurden. Die hier gemachten Beobachtungen lassen sich auf die Bearbeitungs- und Nachdruckpraxis von spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Prosaromanen im 18. Jahrhundert verallgemeinern. Auch wenn es noch der genaueren Überprüfung auf breiterer Quellenbasis bedarf, so zeigen erste Stichproben, dass auch ein Teil der neu erschienenen Unterhaltungsliteratur des 18. Jahrhunderts, die speziell auf den Kolportagehandel zielte, die gleichen charakteristischen Merkmale wie die Melusine besitzen. Ferner werden praktische Hinweise gegeben, wie Druckvarianten von Neuauflagen unterschieden werden können, auch wenn es sich um zeilengetreue Nachdrucke bei identischer Schreibung handelt.

1 Die bibliographische Erfassung der »Melusine«-Überlieferung Bibliographien des 19. Jahrhunderts sind im Fall der Drucküberlieferung der spätmittelalterlichen Romanliteratur nur für den Zeitraum vom 15. bis 17. Jahrhundert hilfreich. Für die spätere Zeit sind Titelaufnahmen mit dem Hinweis »ohne Ort, ohne Jahr« und mit Exemplarnachweisen, die heute nicht oder nur sehr schwer überprüfbar sind, so ungenau, dass mit diesen Angaben häufig nicht viel anzufangen ist. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um Allgemein- oder Spezialbibliographien handelt.1

1 Goedeke: Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung; Graesse: Trésor de livres;

54 

 Hans-Jörg Künast

Einzige Ausnahme ist die Bibliotheca Germanorum Erotica & Curiosa, die verlässliche Beschreibungen zumeist auch für Ausgaben des 18. und 19. Jahrhunderts liefert und zudem auf ihre Quellen bzw. benutzte Exemplare verweist.2 Allerdings verzeichnet sie nur einen Bruchteil der heute noch nachweisbaren Ausgaben aus dieser Zeit. Für die Überlieferung der Melusine im 18. und 19. Jahrhundert helfen leider auch jüngere Bibliographien nicht weiter. So wird von Thomas Veitschegger weder im bibliographischen Anhang zu seiner Monographie zum Buch der Liebe die Überlieferung nach 1587 berücksichtigt, noch in einem 1994 veröffentlichten kurzen Überblick, während die Bibliographie von Bodo Gotzkowsky zu den ›Volksbüchern‹ mit dem 17. Jahrhundert endet.3 Umfangreiche Recherchen waren daher erforderlich, um diese Lücke der bibliographischen Beschreibung der jüngeren Melusine-Überlieferung zu schließen und die Ausgaben des 18. und 19. Jahrhunderts möglichst vollständig zu erfassen. Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 18. Jahrhunderts (VD18), dessen Pilotphase im November 2009 begann, war dabei keine Hilfe, denn dort ist bislang keine einzige Melusine verzeichnet.4 Im VD17 sind jedoch einige Ausgaben nachgewiesen, die im 18. Jahrhundert gedruckt wurden, was u. a. in diesem Beitrag dargelegt werden soll.

2 Neubearbeitungen der »Melusine« 2.1 »Historische Wunderbeschreibung von der sogenannten schönen Melusina« Von den rund 80 erhaltenen Melusine-Ausgaben aus der Zeit zwischen 1473/74 und 1870 besitzen nur rund die Hälfte Angaben zu Druckort, Drucker und Erscheinungsjahr. Mit Hilfe der Typenanalyse und der Untersuchung des typographischen Buchschmucks sind die Drucker der Melusine für das 15. bis 17. Jahrhundert inzwischen alle eindeutig identifiziert, und auch der Zeitpunkt der Drucklegung konnte für die undatierten Drucke auf zwei bis drei Jahre genau bestimmt werden.5 Bei rund 20 Ausgaben, die bislang für den Zeitraum zwischen Mitte des 17. Jahrhunderts und Beginn

Heitz / Ritter; Schorbach: Die Historie von der schönen Melusine; Weller: Annalen der Poetischen National-Literatur der Deutschen. 2 Hayn / Gotendorf: Bibliotheca Germanorum Erotica & Curiosa. 3 Veitschegger: Das »Buch der Liebe«; Veitschegger: »Das abenteürlich buch« (sehr unzuverlässig, weil keinerlei Unterschied zwischen bibliographischen Phantomen, verlorenen und erhaltenen Ausgaben gemacht wird); Gotzkowsky I und II. 4 Dort sind gegenwärtig knapp über 51 000 Werke verzeichnet (Stand: 15. Januar 2011). 5 Die letzte Lücke für Ausgaben aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde geschlossen in Künast: Die Drucküberlieferung des »Melusine«-Romans.

Beobachtungen zur Drucklegung der »Melusine« im 18. Jahrhundert 

 55

Abb. 1: Titelblatt. Historische Wunderbeschreibung von der so genannten schönen Melusina, ohne Ort u. Drucker, 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts (HWB I.2 (Sa); Salzburg UB, R 73.386 I)

des 19. Jahrhunderts angesetzt wurden, fehlen Angaben zu Druckort, Drucker und Erscheinungsjahr zumeist ganz oder sie sind unvollständig. Die ab 1837 erscheinenden Ausgaben in den ›Volksbuch‹-Reihen bereiten dagegen keine Schwierigkeiten mehr, da sie in der Regel ein Impressum besitzen. Fehlendes Impressum oder Kolophon fällt besonders bei einer Bearbeitung auf, die unter dem Titel Historische Wunderbeschreibung von der sogenannten schönen Melusina (HWB) veröffentlicht wurde (Abb. 1; vgl. den Beitrag Schnyder, Abb. 4). Dabei handelt es sich um eine komplette Neubearbeitung des Werks im Vergleich zu den firmierten Ausgaben des 16. und 17. Jahrhunderts, denn es wurde nicht nur der Text dramatisiert und an einigen Stellen gekürzt sowie die Sprache modernisiert, son-

56 

 Hans-Jörg Künast

Ausgabe

Vergleich: Umfang, Illustration, Nebengruppe des Titels, Lagenziffer, Kolumnenstrich

Pfeiffer-1649

108 ungez. Bl., 69 Hlze., Jetzund auffs new uͤberſehen/ vnd mit ſchoͤnen ‖ Figuren verbeſſert., keine Lagenziffer, kein Kolumnenstrich

Endter-1672

108 ungez. Bl., 63 Hlze., Aus Frantzoͤſiſcher Sprache in die Teutſche/ zu Ergetzung der Gemuͤther/ uͤberſetzet., keine Lagenziffer, kein Kolumnenstrich

ohne Ort-1692

112 ungez. Bl., 34 (+1?) Hlze., Anietzo auffs neue mit Fleiß uͤberſehen/ und mit ſchoͤnen Figuren verbeſſert., keine Lagenziffer, kein Kolumnenstrich

Nicolai-1692/93

104 ungez. Bl., 33 Hlze., Jetzund auffs neue uͤberſehen/ und mit ſchoͤnen Figuren gezieret., keine Lagenziffer, kein Kolumnenstrich

HWB I.1 (Wf)

188 S., 23 Hlze., Auf ein Neues uͤberſehen/ mit reinem [Textverlust: Deutsch] verbaͤſſert/ vnd mit ſchoͤnen Figuren geziere[t.], Lagenziffer?,6 kein Kolumnenstrich

HWB I.2 (Sa)

190 S., 23 Hlze., Auf ein neues uͤberſehen/ mit reinem Teutſch verbeſſert/ und mit ſchoͤnen Figuren gezieret., Lagenziffer: 12, kein Kolumnenstrich

HWB I.3 (Go)

190 S., 23 Hlze., Auf ein Neues uͤberſehen/ mit reinem Teutſch verbeſſert/ und mit ſchoͤnen Figuren gezieret., Lagenziffer: 10, kein Kolumnenstrich

HWB I.4 (We)

190 S., 23 Hlze., Auf ein Neues uͤberſehen, mit reinem Teutſch verbeſſert, ‖ und mit ſchoͤnen Figuren gezieret.; Lagenziffer: 12, kein Kolumnenstrich

HWB I.5 (Be)

190 S., 23 Hlze., Auf ein Neues uͤberſehen, mit reinem Teutſch verbeſſert, ‖ und mit ſchoͤnen Figuren gezieret.; Lagenziffer: 12, kein Kolumnenstrich

HWB I.6 (St)

190 S., 24 Hlze., Auf ein Neues uͤberſehen, mit reinem Teutſch ver=‖beſſert und mit ſchoͤnen figuren gezieret.; keine Lagenziffer, kein Kolumnenstrich

HWB I.7 (Er)

190 S., 24 Hlze., Auf ein Neues uͤberſehen, und mit ſehr ſchoͤnen ‖ Figuren gezieret.; keine Lagenziffer, kein Kolumnenstrich

HWB I.8 (Ev)

191. S.; nur Titelholzschnitt; Koͤln, in Verlag bey Chriſtian Everaerts unter ‖ Goldſchmidt N. 2040. (19.) Lagenziffer: 13, kein Kolumnenstrich

HWB II.1 (Wi)

190 S., 23 Hlze., Auf ein neues uͤberſehen/ und mit ‖ ſchoͤnen Figuren gezieret.; Lagenziffer: 12, Kolumnenstrich

HWB II.2 (1776)

183 S., 23 Hlze., Auf ein neues ůberſehen/ und mit ‖ ſchoͤnen Figuren gezieret. 1776.; Lagenziffer: 12, Kolumnenstrich

HWB II.3 (1782)

184 S., 23 Hlze., Auf ein neues uͤberſehen, und mit ‖ ſchoͤnen Figuren gezieret. 1782.: Lagenziffer: 12, Kolumnenstrich

HWB II.4 (1788)

184 S., 23 Hlze., Auf ein neues uͤberſehen, und mit ‖ ſchoͤnen Figuren gezieret. 1782.; Lagenziffer: 12, Kolumnenstrich

HWB II.5 (Fl 1)

184 S., 23 Hlze., Reutlingen, ‖ bei Juſtus Fleiſchhauer.; keine Lagenziffer, kein Kolumnenstrich

HWB II.6 (Fl 2)

184 S., 23 Hlze., Reutlingen, ‖ bei Juſtus Fleiſchhauer.; keine Lagenziffer, kein Kolumnenstrich

HWB II.7 (Fl 3)

184 S., 23 Hlze., Reutlingen, ‖ bei Juſtus Fleiſchhauer.; keine Lagenziffer, kein Kolumnenstrich

6 Abb. 2: Vergleich der datierten Melusine-Ausgaben des 17. Jahrhunderts mit der Überlieferung der HWB (Darstellung des Autors)

6 Das Titelblatt ist defekt, weshalb die Lagenziffer nicht zu ermitteln ist.

Beobachtungen zur Drucklegung der »Melusine« im 18. Jahrhundert 

 57

dern auch das Illustrationsprogramm und das Titelblatt wurden völlig neu entworfen. Diese Beobachtungen ließen bereits vermuten, dass hier eine Zäsur in der Überlieferungsgeschichte des Melusine-Romans vorliegen könnte. Schon der Vergleich weniger Merkmale vermittelt bereits ein deutliches Bild davon, wie grundlegend sich die Ausgaben aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von der Neubearbeitung unterscheiden. Die einzige Gemeinsamkeit der Ausgaben des 17. mit jenen des 18. Jahrhunderts beschränkt sich darauf, dass alle Melusinen im Oktav-Format gedruckt sind. Bereits durch die sehr einheitliche Formulierung der Werbung in der Nebengruppe des Titelblatts, weisen sich die unfirmierten Ausgaben als zusammengehörige Überlieferungslinie aus: »Auf ein Neues übersehen, mit reinem Deutsch verbessert und mit schönen Figuren gezieret«. Erst die späten firmierten Ausgaben des frühen 19. Jahrhunderts weichen hiervon ab. Sehr einheitlich ist zudem die Illustrierung mit 23 bzw. 24 Holzschnitten. Eine Neuheit ist in den HWB die erstmals verwendete Seitenzählung, während bis dahin die Melusine ohne Blatt- oder Seitenzählung publiziert worden war. Eine wichtige Beobachtung ist, dass Besonderheiten im Layout bereits Hinweise darauf geben, zu welcher Überlieferungslinie der HWB ein Exemplar gehört. So unterscheiden sich die HWB I von HWB II durch einen Kolumnenstrich, der die Textkolumne vom Kolumnentitel trennt. Erst die späten Ausgaben von Justus Fleischhauer verzichten wieder auf den Kolumnenstrich. Leider ist es bislang nicht möglich, Aussagen zu Textbearbeiter(n) und Buchillustrator(en) der HWB zu machen. Wann die Neubearbeitung jedoch auf den Buchmarkt kam, war dagegen annähernd bestimmbar. In Bibliographien und Bibliothekskatalogen werden sie zwischen Mitte des 17. Jahrhunderts und Ende des 18. Jahrhunderts angesetzt. Diese breite Streuung der Datierung erklärt sich u. a. mit der Seltenheit dieser Drucke, sodass es selbst in bedeutenden Bibliotheken nur wenig Vergleichsmöglichkeiten gibt. Zudem fehlen in diesem Fall geeignete Nachschlagwerke und Forschungsliteratur, auf die Bibliothekare in der Datierungsfrage hätten zurückgreifen können. Eine detaillierte Untersuchung aller erhaltenen Exemplare führte zu dem Ergebnis, dass vor allem die frühen Ansetzungen auf die Mitte des 17. Jahrhunderts nicht zu halten sind. Zu der frühen Datierung dürfte das ›barocke‹ Layout verführt haben. Sieht man sich beispielsweise die Titelblätter der HWB an, so sind die Titel bis in die 1780er Jahre rot-schwarz gedruckt.7 Solches ist im 18. Jahrhundert eigentlich nicht mehr üblich, vor allem nicht in Norddeutschland. Es ist daher sicherlich nicht falsch, die Drucker der HWB im süddeutschen Raum zu suchen.

7 Die Titelblätter von HWB II.3 (1782) und HWB II.4 (1788) sind noch rot-schwarz gesetzt, erst HWB II.5–7 (Fl 1–3) schwarz. – Im Text werden Eigennamen in Versalien oder gesperrt gedruckt. Auch dies ist im 18. Jahrhundert in der Regel nicht mehr üblich.

58 

 Hans-Jörg Künast

Zur Klärung der Datierungsfrage waren zunächst die Abhängigkeiten zwischen den erhaltenen fünfzehn Auflagen zu klären, woraus sich schließlich ergab, welche Auflage als älteste anzusetzen ist.8 Dabei stellte sich heraus, dass ein Exemplar der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel Textzeuge für die älteste erhaltene Ausgabe ist (HWB I.1 [Wf]).9 Glücklicherweise ist der Besitzer dieses Exemplars zu ermitteln, denn es besitzt ein Exlibris. Das Buch stammt aus der Bibliothek von Herzog Ludwig Rudolf von Braunschweig-Lüneburg (1671–1735), von dem bekannt ist, dass er zwischen 1709 und 1735 seine Büchersammlung anlegte.10 Da es sich bei der HWB um ein unterhaltendes Werk handelt, das zudem für billiges Geld über den Kolportagehandel vertrieben wurde (vgl. Kap. 3), so ist davon auszugehen, dass eine Auflage sehr rasch verkauft wurde und es keine langen Lagerzeiten wie für wissenschaftliche Werk gab. Dies legt eine Datierung der ersten erhaltenen Ausgabe der HWB auf den Zeitraum um 1710/20 (sicher vor 1735) nahe. Eine noch präzisere Aussage ist leider nicht möglich, solange keine neuen Archivquellen oder weiteren Exemplare mit hilfreichen Hinweisen zur Datierung gefunden werden, weil alle Ausgaben auf billigsten Papiersorten gedruckt wurden, die keine Wasserzeichen besitzen. Unter den HWB gibt es immerhin drei datierte Ausgaben von 1776, 1782 und 1788 (HWB II.2–4) sowie firmierte Ausgaben aus Köln (HWB I.8 [Ev]) und Reutlingen (HWB II.5–7 [Fl 1–3]), die ebenfalls in das späte 18. Jahrhundert, mit großer Wahrscheinlichkeit sogar in das frühe 19. Jahrhundert gehören. Die HWB war folglich etwa 100 Jahre – zwischen etwa 1710/20 bis 1810/20 – auf dem Buchmarkt und war damit die wichtigste Überlieferungslinie der Melusine im 18. Jahrhundert. Diese Indizien legen nahe, einige im VD17 verzeichnete HWB-Ausgaben auf jeden Fall auf das Ende des 17. Jahrhunderts neu zu datieren und »um 1700 oder später« anzusetzen oder sogar in das VD18 zu verschieben.11

8 Die einzige datierte, aber leider nicht firmierte Ausgabe aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde im Jahr 1739 gedruckt (ohne Ort-1739). Sie steht jedoch in keinerlei Verbindung mit den Ausgaben der HWB, sondern folgt in Text und Illustration einer Ausgabe vom Ende des 17. Jahrhunderts (ohne Ort-1692). Sie ist deshalb wenig hilfreich bei der Datierung der HWB. Jedoch handelt es sich um ein sprechendes Beispiel dafür, dass ältere Textzeugen nicht immer von Neubearbeitungen verdrängt wurden, sondern als Vorlagen für Neuauflagen dienen konnten. 9 Vgl. Stemma zur Überlieferung des 18. Jahrhunderts. Eine ausführliche Begründung für die Ansetzung der Abhängigkeiten und Chronologie ist zu finden in Künast / Rautenberg: Die Überlieferung der »Melusine«. – Nur kurz verwiesen sei darauf, dass neben den Text- und Illustrationsabhängigkeiten die Buchausstattung eine wichtige Rolle spielt, um die Überlieferungslinien zu rekonstruieren und die einzelnen Ausgaben chronologisch einzuordnen. Wichtige Hinweise hierbei geben beispielsweise der Verzicht von Rotdruck auf dem Titelblatt, von üppigem Buchschmuck wie Zierinitialen, Vignetten und Zierleisten oder das Fehlen von Auszeichnung des Textes durch Versalien und Schriftwechsel, z. B. die Verwendung von Antiqua für lateinische Zitate. 10 Zimmermann: Ludwig Rudolf, S. 541–543; Jark: Braunschweigisches Biographisches Lexikon, S. 461. 11 HWB I.1 (Wf)=VD17 23:328114X (früher ca. 1660, inzwischen geändert zu ca. 1700); HWB I.3 (Go)= VD17 547:698434 f (ca. 1660); HWB I.4 (We)= VD17 32:636001P (ca. 1660).

Beobachtungen zur Drucklegung der »Melusine« im 18. Jahrhundert 

 59

2.2 »Wunderbare Geschichte von der edlen und schönen Melusina« Eine zweite Neubearbeitung der Melusine wurde im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert mit dem Titel Wunderbare Geschichte von der edlen und schönen Melusina (WG) publiziert (vgl. den Beitrag Flood, Abb. 2). Während bislang noch offen ist, an welchen Orten die HWB gedruckt wurde (vermutlich in Süddeutschland), so gelang es, die WG im sächsischen Raum zu lokalisieren. Für drei Ausgaben war die in Leipzig ansässige Druckerei Solbrig verantwortlich. Christian Friedrich Solbrig druckte von 1772 bis 1799, seine Witwe führte das Geschäft mit ihrem Sohn Carl August Solbrig etwa bis 1810 oder etwas später weiter (vgl. den Beitrag Flood, Abb. 1–2; WG 1 [Sol 1], WG 3–4 [Sol 2–3]). Auch die Vorlage für diese Überlieferungslinie kommt aus Sachsen, denn hierfür diente ein Druck aus Annaberg (Nicolai-1692/93). Solbrig hat zudem eine Reihe von weiteren Prosaromanen gedruckt, die ein Impressum besitzen und daher zu Vergleichszwecken herangezogen werden konnten. Das dort verwendete Typenmaterial ist identisch mit dem seiner Melusine-Ausgaben. Auch die Illustrationen für seine Romane können auf gleiche Bezugsquellen zurückgeführt werden. Da auch die jüngste Ausgabe in Dresden verlegt und in Bautzen gedruckt worden ist (WG 5 [Br]), bietet es sich an, diesen Überlieferungsstrang unter dem Titel ›Sächsische Überlieferung‹ zusammenzufassen.12 Von der HWB unterscheidet sie sich in Text, Illustration und Layout deutlich.

Ausgabe

Vergleich: Umfang, Illustration, Nebengruppe des Titels, Lagenziffer, Kolumnenstrich

WG 1 (Sol 1)

152 S. 21 Hlze; Anjetzo aufs neue uͤberſehen, und mit ‖ ſchoͤnen Figuren gezieret. ‖ Gedruckt in diesem Jahre.; Lagenziffer: 10, kein Kolumnenstrich

WG 2

152 S. 21 Hlze; [A]njetzo aufs neue uͤberſehen, und mit ‖ ſchoͤnen Figuren geziert. ‖ Gedruckt in diesem Jahre.; Lagenziffer: 10, kein Kolumnenstrich

WG 3 (Sol 2)

128 S. 21 Hlze; Aufs neue uͤberſehen, und mit ſchoͤnen Figuren ‖ gezieret.; Lagenziffer: 10, kein Kolumnenstrich

WG 4 (Sol 3)

128 S. 21 Hlze; Aufs neue [uͤb]erſehen, und mit ſchoͤnen Figuren ‖ gezieret.; Lagenziffer: II (?), kein Kolumnenstrich

WG 5 (Br)

112 S. 18 Hlze; Dresden, ‖ zu haben bey dem Buchbinder H. B. Bruͤckmann, ‖ Breitegaſſe No. 63.; Lagenziffer: 9, kein Kolumnenstrich

Abb. 3: Merkmale der Überlieferung der WG (Darstellung des Autors)

12 Vgl. hierzu auch den Beitrag von John L. Flood in diesem Band, S. 33–52.

60 

 Hans-Jörg Künast

Um 1820 verloren Verleger und Drucker das Interesse an der HWB- und WGÜberlieferung. Erneut an die Leserinteressen der Zeit angepasst, wurde die Melusine jedoch in die Volksbuchreihen des 19. Jahrhunderts aufgenommen. Auch wenn diese zumeist für sich reklamieren, auf den ältesten Ausgaben zu beruhen, so sind in der Regel doch die Ausgaben des 18. Jahrhunderts die Textgrundlage gewesen. Allerdings wurde von den jetzt namentlich bekannten Herausgebern und Bearbeitern wie Gotthard Oswald Marbach, Wilhelm Raible, Gustav Schwab, Ottmar Schönhuth und Karl Simrock der Text so überformt, dass von der Melusine des Thüring von Ringoltingen nicht mehr viel übrig blieb.

3 Drucke für den Kolportagehandel Die Ausgaben der HWB und der WG waren für den Kolportagehandel bestimmt wie Kalender, religiöse Erbauungsliteratur und Gebetbücher. Beim Kauf einer Melusine im 18. Jahrhundert erwarb der Kunde nämlich keine ineinandergelegten Bögen, die erst zum Buchbinder gebracht werden mussten, um ein benutzbares Buch zu erhalten. Die Romane wurden gebrauchsfertig vertrieben. Sie erhielten jedoch keine Einbände, sondern lediglich eine Fadenheftung, wobei der Buchrücken zumeist mit einem aufgeklebten Buntpapierstreifen verstärkt und dadurch gleichzeitig die Heftung verborgen wurde (vgl. den Beitrag Schnyder, Abb. 4).13 Deshalb sind die Titelblätter meist verschmutzt und häufig defekt. Wurde ein Exemplar später umgebunden, so ist immer noch ein Klebestreifen zu erkennen, da die Ablösung des Papierstreifens vom Buchrücken zu Beschädigungen des Titelblatts führen musste (Abb. 1). Im Kolportagehandel spielten Buchbinder als Buchhändler eine wichtige Rolle, was auch für die Melusine nachweisbar ist. In der letzten Ausgabe der ›Sächsischen Überlieferung‹ wird als Verleger ein Buchbinder genannt: »Dresden, zu haben bey dem Buchbinder H. B. Brückmann, Breitegasse No. 63« (WG 5 [Br]). Weitere Argumente, dass HWB und WG im Kolportagehandel vertrieben wurden, finden sich noch auf dem Titelblatt.

13 Abbildung eines Kalenders im Originalzustand mit Fadenheftung und mit einem Papierstreifen überklebten Buchrücken in Künast: In der Früh sehr kalt, S. 80.

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4 Das Titelblatt als Informationsquelle für die Datierung von Drucken 4.1 Erste Besonderheit: die ›Lagenziffer‹ Eine Besonderheit auf den Titelblättern der HWB und WG, die aber auch bei anderen Romanen zu sehen ist, befindet sich in der Nebengruppe des Titels: eine rechts abgesetzte Ziffer (Abb. 1, 4–6; vgl. auch den Beitrag Flood, Abb. 2).14 Dabei handelt es sich um eine Titelblattneuerung, die bislang in der Forschungsliteratur nirgends beschrieben wird, für die es auch keinen Terminus technicus gibt und die wohl erst im Laufe des 18. Jahrhunderts aufgekommen ist. Daher gaben diese Zahlenangaben zunächst Rätsel auf. Des Rätsels Lösung war, dass hier der Umfang des Werks angegeben wird. Die HWB I.2 (Sa) hat einen Umfang von zwölf Druckbögen (Signatur: A–M8), weshalb sie den Titelblattvermerk »(12)« besitzt (Abb. 1). Die Lagenziffer, wie dieser Vermerk nachfolgend benannt werden soll, ist nicht immer korrekt. Entweder die Drucker haben absichtlich falsche (immer zu hohe) Angaben gemacht, oder in der Setzerei wurde eine Vorlage blind übernommen, auch wenn der Text gekürzt oder durch den Einsatz kleinerer Schriften Papier gespart wurde. In einem interessanten Sammelband mit Unterhaltungsliteratur, der neben einer Melusine auch einen Fortunatus-Druck enthält (Abb. 4), ist ferner noch eine Neuerscheinung mit dem Titel Der allzeit lustige Student von einem unbekannten Autor namens Gottfried Rudolf von Sinnersberg beigebunden (Abb. 5).15 Das letztgenannte Werk wurde in Augsburg bei Andreas Brinhauser im Jahr 1770 gedruckt. Die Besonderheit dieses Werks liegt darin, dass hier ein vollständiges Impressum und eine Lagenziffer gemeinsam erscheinen. Brinhauser, der zwischen 1742 und 1779 tätig war, gehört zu den wichtigen protestantischen Druckern dieser Zeit in Augsburg. Eine Neuerwerbung der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg aus dem Jahr 2010, eine Ausgabe von Kaiser Octavianus, legt die Vermutung nahe, dass die Offizin Brinhauser Prosaromane in größerem Umfang druckte (Abb. 6).16 Für diesen Druck ist der Sohn Andreas Brin-hausers verantwortlich. Johann Andreas (aktiv 1779–1814) legte einen Schwerpunkt seines Verlags auf den Kalenderdruck.17 Damit lag es nahe, auch Unterhaltungsliteratur zu drucken, für die dieselben Vertriebskanäle des Kolportagehandels genutzt werden konnten wie für die Kalender.

14 Die Ziffer kann frei stehen, links mit einer runden Klammer oder von zwei runden Klammern gefasst sein. 15 1. HWB I.2 (Sa). – 2. Fortunatus mit seinem Seckel. – 3. Sinnersberg: Der allzeit lustige Student. 16 Kayser Octavianus. 17 Zu Andreas bzw. Johann Andreas Brinhauser vgl. Künast: Dokumentation, S. 1279 bzw. S. 1293.

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Abb. 4: Titelblatt. Fortunatus, ohne Ort u. Drucker, um 1720 (Salzburg UB, R 73.386 I, angeb. 1)

Die Angabe der Lagenziffer auf dem Titelblatt war hilfreich für den Buchhandel, in erster Linie für den bargeldlosen Verkehr zwischen Buchhändlern. Da Kolporteure und Buchbinder in der Regel nur über wenig Kapital verfügten, bot sich der Tausch von Büchern an, um das Literaturangebot zu erweitern. Hierfür scheint die Lagenziffer eine praktische Hilfe gewesen zu sein. Die Lagenziffer liefert zudem eine Datierungshilfe, denn sie scheint erst im 18. Jahrhundert aufgekommen zu sein.

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Abb. 5: Titelblatt. Gottfried Rudolf von Sinnersberg: Der allzeit lustige Student, Augsburg: Andreas Brinhauser, 1770 (Salzburg UB, R 73.386 I, angeb. 2)

4.2 Zweite Besonderheit: der Vermerk »Gedruckt in diesem Jahr« Einige Ausgaben der WG besitzen eine weitere Besonderheit, denn auf dem Titelblatt ist der eigentlich überflüssige Vermerk »Gedruckt in diesem Jahr« zu lesen (vgl. den Beitrag Flood, Abb. 2). Für die Grobdatierung von Drucken im Zeitalter der Handpresse sind solche Angaben in der Nebengruppe des Titelblatts aber durchaus hilfreich, wie bereits die Ausführungen zur Lagenziffer gezeigt haben. Daher lohnt es sich, diesen scheinbar unwichtigen Details nachzugehen.

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Abb. 6: Titelblatt. Kaiser Octavianus, Augsburg: Johann Andreas Brinhauser, um 1800 (Augsburg SuStB, L.D. 16.443)

In einer gründlichen Studie legte Irmgard Bezzel dar, dass mit dem Titelblattvermerk »Erstlich gedruckt« in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts tatsächlich auf eine Erstausgabe hingewiesen wird. Allerdings findet sich diese Angabe nur ganz selten.18 Ab 1560 vereinzelt, in den 1590er Jahren einen Höhepunkt erreichend, wurde auf Titelblättern mit »Erstlich gedruckt« die Herkunft eines Drucks zwar verschleiert, jedoch zumindest noch darauf aufmerksam gemacht, dass es sich um einen Nachdruck handelt.19 Diese Angabe wurde vor allem in ›Neuen Zeitungen‹, amtlichen Verlautbarungen und Publikationen von Predigten zu speziellen Anlässen gemacht. In der Regel war es übliche, wenn auch nicht sehr häufige Praxis, auf dem Titelblatt die Angabe

18 Bezzel: »Erstlich gedruckt«, S. 309. 19 Bezzel, S. 310–328.

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»Erstlich gedruckt in diesem Jahr« in Verbindung mit einem Druckort zu setzen. Ganz ausführlich erfolgte dies beispielsweise bei einer ›Neuen Zeitung‹ von 1626: »Zu Erst in Erffurt bey Jacob Jacobi/ vnd nach gedruckt in diesem 1626 Jahr.«20 Gegenwärtig ist der jüngste Druck, der im VD17 mit solch einem Vermerk verzeichnet ist, aus dem Jahr 1665.21 In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ist er offensichtlich aus der Mode gekommen. Bezzels Studie kann nun für den Vermerk »Gedruckt in diesem Jahr« ins 18. Jahrhundert fortgesetzt werden. Bei einer Abfrage des VD17 erhält man nur ganz wenige Treffer, die in der Nebengruppe des Titelblatts diese Angabe besitzen. Alle Werke gehören zu den sehr populären Werken mit langer Überlieferungstradition. Sie sind, gleich der Melusine, bereits im 15. und 16. Jahrhundert häufig aufgelegt worden, wie z. B. die Zwölff Sibyllen Weissagungen. Insgesamt sind es jedoch nur ganz vereinzelte Drucke, die eindeutig in das 17. Jahrhundert zu datieren sind. Der älteste Druck mit »Gedruckt in diesem Jahr« stammt aus dem Jahr 1681. Dabei handelt es sich um eine Predigt am Drei-Königs-Tag des Jahres 1681 des lutherischen Theologen Aegidius Strauch (1632–1682), der in Danzig als Pastor und Leiter des dortigen Gymnasiums tätig war.22 Der Nachdruck beruht auf Danziger Ausgaben aus der Offizin von David Friedrich Rhete.23 Im frühen 18. Jahrhundert ist der Vermerk für Gelegenheitsdrucke belegt, wie z. B. für eine Perioche zu einem Theaterstück über den Kriegshelden Karl XII., König von Schweden, im Kampf gegen die Türken oder für eine Flugschrift zur Wahl von Joseph II. zum König des Heiligen Römischen Reiches.24 Sechs Jahre vor der Predigt von Strauch erschien mit dem Zeit=Verkürtzer ein kleines Werk der Unterhaltungsliteratur mit folgender Formulierung: »Gantz neu heraus gegeben und Gedruckt in diesem 1675. Jahr zu Augspurg«.25 Dies sind bereits alle Drucke, die im VD17 eindeutig datierbar sind. Alle weiteren Werke, welche das VD17 verzeichnet, sind mit großer Wahrscheinlichkeit Drucke des 18. Jahrhunderts. Für diese Annahme spricht, dass der Vermerk mit der Ergänzung einer Jahresangabe bisher erst in Drucken nachweisbar ist, die seit 1720 publiziert wurden. Hierfür können ein Kaiser Octavianus aus dem Jahr 1720 und eine Schöne Magelone von 1725 genannt werden.26 Die These, dass es sich durchwegs um Drucke des 18. Jahrhunderts handeln muss, wird durch die Volksaufklärungsforschung gestützt. Die Volksaufklärung setz-

20 Waarhaffte Zeitung von einem Newen Propheten. 21 Eine erschröckliche Neue Zeitung von einem Becken mit Nahmen Johann Schwab. 22 Strauch: Von der Weisen aus Morgen=Lande. 23 VD17 32:655631T und 14:072992M. 24 Historische und Summarische Nachricht. – Der von Gott gegebene römische König Josephus. 25 Mancherley artige annehmliche Historien und Geschichte oder Zeitverkürzer. 26 Anmuthige Historien, wie Kaiser Octavianus sein Weib in das Elend verschicket. – Historia von der Schönen Magelona.

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te im deutschen Sprachraum bekanntlich im 18. Jahrhundert ein, entwickelte sich zu einer breiten Bewegung erst Mitte des 18. Jahrhunderts, um ihren Höhepunkt in den Jahren zwischen 1780 und 1800 zu erreichen.27 In den volksaufklärerischen Publikationen findet sich immer wieder, wenn auch nicht so häufig wie bei der Romanliteratur, der Vermerk »Gedruckt in diesem Jahr«. In einem Beitrag zu Nachdruck und zum Reichsbuchhandel im 18. Jahrhundert zieht Reinhart Siegert diesbezüglich folgendes Resümee: Und selbst die dubiose Angabe ›Gedruckt in diesem Jahr‹ ist als Hinweis auf einen Nachdruck untauglich: sie war bei herkömmlichen, von keinerlei Urheberrechtsproblemen belasteten Volkslesestoffen üblich, wurde aber auch bei aufklärerisch intendierten verwendet als Markenzeichen, die die Popularität unterstreichen und ganz bewusst schon in der Erstausgabe zur ›Volkstümlichkeit‹ einer Schrift beitragen sollte.28

Wie lange der Vermerk in Gebrauch war, lässt sich noch nicht abschließend beantworten. Für Frankfurter Melusine-Ausgaben aus der Mitte des 19. Jahrhunderts war er auf jeden Fall noch üblich (Brönner-1847, Winter-1857).

5 Wie unterscheidet man Druckvarianten von Neuauflagen im 18. Jahrhundert? Im VD17 werden die bibliographischen Angaben durch die Zusatzinformation des Fingerprints ergänzt, die zur Unterscheidung von Ausgaben dient.29 Beim Fingerprint handelt es sich um eine Abfolge von Zeichen, die an festgelegten Stellen eines Drucks entnommen werden. Denn nur mit Hilfe einer diplomatisch getreuen Titelaufnahme lassen sich Auflagen eines Werks im 17. Jahrhundert häufig nicht mehr unterscheiden. Ganz abgesehen davon, dass die meisten Benutzer historischer Drucke und auch viele Bibliothekare mit den Angaben von Fingerprints nichts anzufangen wissen, weil sie die Regeln nicht kennen, stößt die Methode an ihre Grenzen, sobald seiten- und zeilenidentische Nachdrucke vorliegen, deren Druckersprache zudem kaum noch Varianten besitzt. Genau dies ist jedoch bei den Ausgaben der HWB und WG der Fall. An Textausschnitten von drei Reutlinger Ausgaben von Justus Fleischhauer (HWB II.5–7 [Fl 1–3]) soll dies exemplarisch gezeigt werden.

27 Diese Entwicklung lässt sich gut bei Böning / Siegert: Volksaufklärung nachvollziehen. 28 Siegert: Nachdruck und »Reichsbuchhandel«. – Beispiele sind nach Siegert die von Johann Ferdinand Schlez herausgegebenen volksaufklärerischen Schriftenreihen »Der Volksfreund« und »Fliegende Volksblätter«, die im Kolportagehandel vertrieben wurden. Vgl. Böning / Siegert: Volksaufklärung, Bd. 2.2, Nr. 4992 und Nr. 4752. 29 Fingerprints.

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Abb. 7: Vergleich eines Textausschnitts von Bl. B1a aus: Melusine, Reutlingen: Justus Fleischhauer, vor 1813 (HWB II.5–7 (Fl 1–3); München, Internationale Jugendbibliothek, H/S 166 150; Basel UB, Steff 3804; Jena ULB, 8 G.B. 1131)

Der Text ist mit einer Ausnahme in Seiten- und Zeilenumbruch sowie in der Rechtschreibung völlig identisch. Die Variante ist in der 18. Zeile von unten zu finden, wo in zwei Ausgaben »und die Bestie« und einmal »u. die Bestie« gesetzt ist. Dass es sich nicht nur um Druckvarianten einer Ausgabe handelt, sondern dass hier drei komplett neu gesetzte Ausgaben vorliegen, ist jedoch schnell und eindeutig durch die Position der Bogensignaturen zu ermitteln. In unserem Beispiel steht die Bogensignatur B unter der letzten Textzeile zwischen »herkommen, sprach« an verschiedenen Stellen: Im ersten Druck wurde das ›B‹ unter die Minuskel p von »sprach« platziert, im zweiten unter die Minuskel n von »herkommen« und im dritten unter das Spatium zwischen den zwei Wörtern. Während die Setzer in der Offizin von Justus Fleischhauer darauf achteten, den Text möglichst genau zu reproduzieren, haben sie die Bogensignatur beliebig positioniert. Mit Hilfe der Bogensignaturen kann man also sicher die

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Auflagen unterscheiden ohne die zeitaufwendige Identifizierung von Textvarianten, die zudem nicht unbedingt eindeutige Ergebnisse liefert. Ganz kann man auf die Ermittlung von Textvarianten und Setzerfehlern sowie falsch gesetzte Kustoden bzw. falsche Anschlüsse beim Seitenwechsel jedoch nicht verzichten. In Kombination mit ausgetauschten Buchillustrationen helfen sie, die Abfolge der Auflagen zu ermitteln. Weil Satz und Druck in Formen erfolgte, wurden hier oft Fehler lange nicht verbessert und die Gefahr war immer gegeben, dass neue gemacht wurden. Die Abfolge von Fehlern, die nie verbessert wurden, Korrekturen und neu eingebaute Fehler liefern auch bei normierter Rechtschreibung und identischer Satzeinrichtung eindeutige Belege für die Reihenfolge der Ausgaben.

6 Ergebnisse und Ausblick Im Hinblick auf die Melusine-Ausgaben des 18. und frühen 19. Jahrhunderts kann folgendes Resümee gezogen werden: Die Umarbeitung der Melusine zur HWB erfolgte um 1710/20 vermutlich im süddeutschen Raum und wurde zum wichtigsten Überlieferungsstrang für ein Jahrhundert. Die Ausgaben des 17. Jahrhunderts und der HWB unterscheiden sich grundlegend voneinander, was an der kompletten Überarbeitung des Texts, der Neukonzeption des Illustrationszyklus und des Layouts zu ersehen ist. Die Drucklegung der WG setzte um 1790 ein, endete schon etwa drei Jahrzehnte später und war geographisch auf den sächsischen Raum beschränkt. Der Roman in dieser Bearbeitung wurde in Leipzig, Dresden und Bautzen verlegt und gedruckt. Die Neubearbeitung und Modernisierung des Texts der Melusine am Beginn und Ende des 18. Jahrhunderts gewährleistete, dass der Roman ein sehr populärer Stoff blieb und regelmäßig Neuauflagen erfuhr. Es gibt in älteren Bücherverzeichnissen und Bibliographien Hinweise darauf, dass von der HWB und der WG noch weitere Auflagen gedruckt wurden, die heute nicht mehr durch Exemplare nachweisbar sind. Viele Ausgaben sind zudem nur durch einen Textzeugen belegt, ein zusätzliches Indiz für die hohe anzunehmende Verlustrate. Autoren wie Johann Wolfgang von Goethe oder Theodor Fontane erhielten Anregungen für ihre Werke über den Melusine-Stoff von diesen späten Ausgaben, die leicht erhältlich waren.30

30 Goethe: Aus meinem Leben, S. 33: »Der Verlag oder vielmehr die Fabrik jener Bücher, welche in der folgenden Zeit unter dem Titel ›Volksschriften, Volksbücher‹ bekannt und sogar berühmt geworden, war in Frankfurt selbst, und sie wurden wegen des großen Abgangs mit stehenden Lettern auf das schrecklichste Löschpapier fast unleserlich gedruckt. Wir Kinder hatten also das Glück, diese schätzbaren Überreste der Mittelzeit auf einem Tischchen vor der Haustüre eines Büchertrödlers täglich zu finden und sie uns für ein paar Kreuzer zuzueignen. Der Eulenspiegel, die Vier Haimonskinder, Die schöne Melusine, Der Kaiser Oktavian, Die schöne Magelone, Fortunatus, ... alles stand uns zu Diensten, sobald uns gelüstete, nach diesen Werken anstatt nach irgend einer Näscherei zu

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Es sollte in der Zukunft noch genauer untersucht werden, inwiefern die Besonderheiten der späten Druck- und Überlieferungsgeschichte der Melusine allgemeinere Gültigkeit für die Drucklegung von populärer Unterhaltungsliteratur im 18. Jahrhundert besitzen. So sind der Vermerk »Gedruckt in diesem Jahr« und die Lagenziffer bislang nur auf Titelblättern auf Drucken gefunden worden, die zu diesem Marktsegment zu rechnen sind. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um alte Romanstoffe, sondern auch Neuerscheinungen waren darunter. »Gedruckt in diesem Jahr« und/ oder Lagenziffer konnten nur in Drucken des 18. Jahrhunderts sicher nachgewiesen werden, wobei »Gedruckt in diesem Jahr« sich wohl erst in der zweiten Jahrhunderthälfte verbreitete. Die Lagenziffern sind zudem ein Hinweis darauf, dass die Drucke im Kolportagehandel vertrieben wurden. Diese machten den Zwischenhandel einfach, da mit Festpreisen für Papier gerechnet wurde, und ermöglichten dadurch bargeldlosen Tauschhandel. Solche Festpreise im Handel unter Buchhändlern mit populärer Literatur sind seit der Mitte des 16. Jahrhunderts bekannt, als in Abrechnungen meist Papiermengen und keine Preise festgehalten wurden.31 Für die Verbreitung dieser Literatur durch den Kolportagehandel spricht auch, dass die Drucke als Fertigprodukte verkauft wurden und Buchbinder daran beteiligt waren. Um den Druckern von unfirmierten und undatierten Drucken ab dem 17. Jahrhundert auf die Spur zu kommen, ist – neben der Berücksichtigung des Typen- und Illustrationsmaterials – auf viele unscheinbare Kleinigkeiten des Titelblatts und des Layouts zu achten. Beispiele hierfür waren in diesem Beitrag die Nebengruppe des Titelblatts, die Lagenziffer und auch das Seitenlayout mit oder ohne Kolumnenstrich. Weitere hilfreiche Hinweise liefern z. B. die Form und Position der Seitenzählung (zentriert, rechts- bzw. linksbündig, Zählung in runden Klammern oder von Strichen unterschiedlicher Länge gerahmt etc.), die Position der Bogensignaturen oder die Platzierung und Form der Kustoden (ganze Wörter oder einzelne Silben). Diese Details helfen bei der Einordnung in Überlieferungsgruppen, denn sie legen Konventionen offen, welche die Setzer in einer Offizin gepflegt haben.32 Es gibt also durchaus Ansätze, die Probleme bei unfirmierter und undatierter Unterhaltungsliteratur in den Griff zu bekommen. Allerdings genügt es nicht, nur die Melusine in den Blick zu nehmen, sondern es müsste zumindest die gesamte Prosaromanüberlieferung, die im 18. und frühen 19. Jahrhundert im Kolportagehandel vertrieben wurde, erfasst und untersucht werden. So konnten mit den Augsburgern

greifen. Der größte Vorteil dabei war, dass, wenn wir ein solches Heft zerlesen oder sonst beschädigt hatten, es bald wieder angeschafft und aufs neue verschlungen werden konnte.« 31 Kelchner / Wülcker: Mess-Memorial. In Harders »Memorial« sind auch »Melusine«-Ausgaben aus Frankfurt verzeichnet. 32 Vgl. hierzu Sayce: Compositorial Practices, dessen Arbeit in der deutschen Forschung bisher kaum berücksichtigt wurde.

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Andreas und Johann Andreas Brinhauser Drucker identifiziert werden, von denen bisher nicht bekannt war, dass sie Romane in ihrem Verlagsprogramm führten. Da sowohl die erhaltenen Drucke als auch die beteiligten Druckereien und Verlage vermutlich überschaubar sind, ist ein solches Projekt machbar, wenn das VD18 in fernerer Zukunft eine ausreichende Quellenbasis bereitstellt.

7 Quellen- und Literaturverzeichnis 7.1 Quellen und alte Drucke [r] Anmuthige Hiſtorien/ ‖ [s] Wie ‖ [r] Kayſer Octa=‖vianus ſein Weib/ ſammt ‖ [s] zweyen Soͤhnen in das Elend verſchicket ‖ hat/ vnd wie dieſelbigen hernach doch wunderbarlicher ‖ Weiſe/ in Franckreich bey den frommen Koͤnig ‖ Dagoberto wiederum zuſammen ‖ kommen ſind. ‖ [Holzschnitt] ‖ [r] Neulich aus Frantzoͤ ſiſcher Sprache in ‖ [s] das Teutſche verdolmetſchet. ‖ [r] Gedruckt in dieſem 1720ſten Jahre. ‖ [ohne Ort], 1720. 8° 240 gez. S. VD18 1085066X (vollständiges Digitalisat unter VD18-Nr. abrufbar). Der ‖ Von GOtt gegebene ‖ Roͤmiſche Koͤnig ‖ JOSEPHUS. ‖ Wie Derſelbe durch eine ‖ Freye und ordentliche Wahl ‖ des geſamten ‖ Chur=Fuͤrſtlichen Collegii ‖ In der ‖ Des Heil. Roͤm. Reichs Freyen ‖ Stadt Augſpurg/ ‖ Jn der Kirchen zu St Ulrich ‖ Nach allen uͤblichen Solennitaͤten/ den 24. Januarii ‖ dieſes 1690. Jahres/ gluͤcklichſt erwaͤhlet und vorgeſtellet ‖ worden. ‖ [Holzschnitt] ‖ Gedruckt in dieſem Jahr. ‖ [ohne Ort, 1690]. 4° 16 gez. S., 3 gefaltete Bl. VD17 32:644603 f (digitalisierte Schlüsselseiten unter VD17-Nr. abrufbar). Eine erschröckliche Neue Zeitung/ Von einem Becken/ mit Nahmen Johann Schwab/ welche sich begeben in Steyrmarck/ in der Stadt Loyben/ da der Vatter/ Mutter/ Sohn/ Töchter und 2 Tochter-Männer/ 12. Jahr Raub und Mord getrieben/ welche bekandt 182. Mord/ [...] Erstlich gedruckt zu Wien/ Im Jahr 1665. [ohne Ort, um 1665]. 8° 7 ungez. Bl. VD17 75:703166A (ohne digitalisierte Schlüsselseiten). [r] Fortunatus ‖ [s] mit ſeinem ‖ [r] (S)eckel und Wuͤnſch=‖Huͤtlein/ ‖ [s] Wie er daſſelbige bekommen und ihm ‖ damit ergangen, in einer uͤberaus luſtigen ‖ [r] Lebens=Beſchreibung. ‖ [s] Vorgeſtellet, ‖ Jetzt wiederum von neuem mit ſchoͤnen Fi=‖guren gezieret. ‖ [Holzschnitt] ‖ Wiederum gantz neu auſgeleget. (10.) ‖ [ohne Ort, um 1720]. 8° 160 (?) gez. S. Salzburg UB, 73386 I, angeb. 1. [s] Hiſtoria von der ‖ Schoͤnen Mage=‖lona/ eines Koͤnigs Tochter von ‖ [s] Neaples, und einem Ritter, genannt ‖ Peter mit den Silbern Schluͤſſeln, eines ‖ Grafen Sohn von Provincia. ‖ [Holzschnitt] ‖ [r] Aus Frantzoͤſiſcher Sprache in das ‖ [s] Teutſche verdolmetſchet, ‖ [r] Durch M. Vitum Wartheck. [sic] ‖ [s] Gedruckt in dieſem 1725. Jahr. ‖ [ohne Ort], 1725. 8° 72 ungez. Bl. VD18 10850678 (vollständiges Digitalisat unter VD18-Nr. abrufbar). Hiſtoriſche und Summariſche ‖ Nachricht ‖ von der remarquablen Action, ‖ genannt: ‖ Schwediſche Glück= und Unglücks=Pro=‖ben bey der triumphirenden ‖ Großmuth und Tapfferkeit ‖ CAROLI XII. ‖ Königes in Schweden ‖ Uber die Orientaliſche Verrätherey. ‖ Oder: ‖ Theatraliſche Vorſtellung. ‖ Der jenigen Verrätherey/ welche die rebellirenden ‖ Tartarn/ wider höchſtgedachte Se. Majeſt./ Anno 1713. ‖ den 1. Febr. ſtyl. nov. zwar auſzuführen geſuchet/ ‖ aber glücklich überwunden worden ‖ Gedruckt in dieſem Jahr. ‖ [ohne Ort, um 1713]. 4° 23 gez. S. Augsburg SuStB, 4° L.D. 654 (unvollst.: Bl. A2–3 fehlen). [r] Kayſer ‖ Octavianus/ ‖ [s] das iſt: ‖ [r] Eine ſchoͤne und anmuthige Hi=‖ſtorie, wie Kayſer Octavianus ſeine ‖ [s] Frau, ſammt zweyen Soͤhnen in das Elend ‖ verſchicket hat und wie

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dieſelbige hernach doch wun=‖derbarlicher Weiſe in Frankreich, bey dem from=‖men Koͤnig Dagoberte, wiederum zuſam=‖men kommen ſind. ‖ [r] Aus der franzoͤſiſchen Sprache in das ‖ [s] Teutſche uͤberſezt. ‖ [Holzschnitt] ‖ [r] Augsburg ‖ [s] Verlegt bey Joh. Andreas Brinhaußer. (14) ‖ Augsburg: Johann Andreas Brinhauser, [ohne Jahr]. 8° 207 gez. S. Augsburg SuStB, L.D. 16.443. [s] Mancherley artige annehmliche ‖ [r] Hiſtorien und Geſchichte/ ‖ [s] Oder ‖ [r] Zeit=Verkuͤrtzer/ ‖ [s] Bey allerhand luſtigen Bege=‖benheiten/ Geſellſchafften/ Reiſen/ ‖ auch bey Frauen=Zimmer ſehr lustig und ‖ kurtzweilig zu leſen und zuerzehlen. ‖ [Holzschnitt] ‖ [r] Gantz neu heraus gegeben und Ge=‖[s] druckt in dieſem 1675. Jahr ‖ zu Augſpurg. ‖ Augsburg: [ohne Drucker], 1675. 8° 48 ungez. Bl. VD17 1:658538D (digitalisierte Schlüsselseiten unter VD17-Nr. abrufbar). Sinnersberg, Gottfried Rudolf von: Der allzeit luſtige ‖ Student, ‖ erweiſet ſich ‖ hier mit 174. in vielerley ungemei=‖nen raren und wunderbahren ‖ Geſchichten dieſer Zeit, ‖ welche ‖ an verſchiedenen Orthen in der Welt, ‖ bey hohen und niedern Stands=Perſo=‖nen, vielfaͤltig ſich ereignet und zuge=‖tragen haben. ‖ ... ‖ AUGSPURG, ‖ bey Andreas Brinhaußer, An. 1770. (10.) ‖ 8° 143 gez. S. Salzburg UB, 73386 I, angeb. 2. Strauch, Aegidius: Von ‖ der Weiſen aus Morgen=Lande Alte ‖ Und ‖ dem ietzigen Neuen ‖ Wunder=Sternen/ ‖ unterrichtete/ auß GOTTES Wort/ ‖ am alſo=genanten ‖ Heiligen drey König=Tage/ ‖ deß Jahrs 1681. ‖ Seine Chriſtliche Zuhoͤrer ‖ D. Egidius Strauch/ ‖ der Kirchen zur Heil. Dreyfaltigkeit Paſtor, ‖ und des Gymanſii Rector. ‖ Gedruckt in dieſem Jahr. ‖ [ohne Ort, 1681]. 4° 31 gez. S. VD17 32:702234S (digitalisierte Schlüsselseiten unter VD17-Nr. abrufbar). Waarhaffte Zeitung ‖ von einem Newen Propheten/ ‖ Welcher ſich ſchon ein geraume Zeit in der ‖ Herrſchafft Henneberg sehen leſt/ ... ‖ [Holzschnitt] ‖ Zu Erſt in Erffurt bey Jacob ‖ Jacobi/ vnd nachgedruckt in dieſen ‖ 1626. Jahr. ‖ [s.l.], 1626. 4° 2 ungez. Bl. VD17 23:238103K (digitalisierte Schlüsselseiten unter VD17-Nr. abrufbar). [s] Zwoͤlff Sibyllen ‖ [r] Weiſſagungen/ ‖ Von Anfang biß zu Ende der Welt, ‖ [s] des Koͤnigs von Sabo, dem Koͤnig Salomon ‖ gethane Prophezeyung. ‖ ... ‖ [Holzschnitt] ‖ [r] Flavij Joſephi, des Juͤdiſchen Geſchicht=Schrei=‖[s] bers herrlich Zeugniß vom HErrn JEſu CHriſto. ‖ [r] Gedruckt in dieſem Jahr. ‖ [ohne Ort, um 1700 (vielmehr 18. Jh.)]. 4° 39 ungez. Bl. VD17 3:652783H (vollständiges Digitalisat unter VD17-Nr. abrufbar).

7.2 Literaturverzeichnis Bezzel, Irmgard: »Erstlich gedruckt«. Zu einem Topos in Neuigkeitsberichten des späten 16. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 47 (1997), S. 309–328. Böning, Holger / Siegert, Reinhart: Volksaufklärung. Bibliographisches Handbuch zur Popularisierung aufklärerischen Denkens im deutschen Sprachraum von den Anfängen bis 1850. Bd. 1: Die Genese der Volksaufklärung und ihre Entwicklung bis 1780. Bd. 2.1–2.2: Der Höhepunkt der Volksaufklärung 1781–1800 und die Zäsur durch die Französische Revolution. Stuttgart /  Bad Cannstatt 1990–2001. Fingerprints: Regeln und Beispiele. Nach der englisch-französisch-italienischen Ausgabe des Instituts de Recherche et d’Histoire des Textes (CNRS) und der National Library of Scotland. Übers. und eingeleitet von Wolfgang Müller. Berlin 1992. Goedeke, Karl: Grundrisz zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Bd. 1: Das Mittelalter. 2. ganz neu überarb. Aufl. Dresden 1884. Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Berlin 1903. Graesse, Jean George Théodore: Trésor de livres rares et précieux ou nouveau dictionnaire bibliographique. Bd. 3: G–J. Reprint Milano 1950: Leipzig / Paris 1900. Hayn, Hugo / Gotendorf, Alfred N. (Hrsg.): Bibliotheca Germanorum Erotica & Curiosa. Verzeichnis der gesamten deutschen erotischen Literatur mit Einschluß der Übersetzungen, nebst Beifügung der Originale. Bd. 4 (L–M). München 1913.

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 Hans-Jörg Künast

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André Schnyder

Wieder eine »Melusine« – und immer noch nicht genug? Vom Warum, vom Wie und vom Wert einer Neuausgabe der »Historischen Wunderbeschreibung von der sogenannten Schönen Melusina« Zusammenfassung: In der mehrhundertjährigen Druckgeschichte des MelusineRomans kommt es etwa im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts zu einer folgenreichen Neuorientierung. Neben die ›Vulgata‹, also den Text, der letztlich über den Basler Erstdruck von Bernhard Richel aus den Jahren 1473/74 (Richel-1473/74) noch mit der handschriftlichen Überlieferung zusammenhängt, tritt nun eine neue Fassung. Diese stellt nicht − wie die Vulgata-Drucke des 15. bis 17. Jahrhunderts − eine Anpassung an die mittlerweile eingetretenen sprachgeschichtlichen Umwälzungen dar, sondern gestaltet den Wortlaut des Romans auf der Ebene der ›elocutio‹ völlig neu, lässt dagegen die ›materia‹ der Melusine-Geschichte weitgehend unberührt. Diese Neufassung wird unter dem gleichbleibenden Titel Historische Wunderbeschreibung von der sogenannten Schönen Melusina (HWB) in gleicher äußerer Aufmachung, versehen mit Illustrationen, allermeist unfirmiert, undatiert und ohne jeden Hinweis auf die Urheberschaft der Neubearbeitung in 15 Auflagen die Rezeption des Romans bis ins frühe 19. Jahrhundert weitgehend bestimmen. Der Beitrag versucht, zum einen durch Diskussion ausgewählter Varianten die Frage der Vorlage einer Klärung näher zu bringen, untersucht anschliessend das Autorenprofil Thürings von Ringoltingen und des Anonymus im Vergleich und charakterisiert zum anderen die neue Fassung als Ganzes. Zum Schluss wird das Konzept einer Neuausgabe der HWB im Paralleldruck mit der späten Vulgata-Überlieferung beschrieben.

1 Einleitung Es leuchtet wohl ein, dass die 2007 im Zuge bibliographischer Recherchen1 wieder ans Licht gekommene anonyme und undatierte Melusine-Bearbeitung auf den heuti-

1 Ich danke dem Erlanger DFG-Projekt, besonders Herrn Hans-Jörg Künast (Erlangen) für mancherlei Auskünfte und Unterstützung im Zusammenhang mit den Forschungen zur HWB und Herrn Martin Behr (Erlangen) für die Diskussion über einige wichtige Aspekte der Vorlagenfrage. Dank geht schließlich auch an meine Lausanner Mitarbeiterin Simone Waser für die Hilfe bei der Korrektur des Typoskripts.

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gen Betrachter eine gewisse Faszination ausüben kann. Da ist einmal die Tatsache, ein durch das 18. Jahrhundert hindurch in mindestens 15 Auflagen verbreitetes und immer wieder gelesenes literarisches Werk, das der Germanistik seit ihren Anfängen bekannt war, aber unbeachtet blieb,2 in Händen zu halten. Dazu kommt das Doppelrätsel der Anonymität der meist nicht bekannten bzw. nur erschlossenen Verleger und der fehlenden Datierung. Und schließlich strahlen das Interesse und der Reiz des originalen Thüringschen Romans ganz selbstverständlich auch auf die Bearbeitung aus. Nach einer Rezeption von mehr als zwei Jahrhunderten wurde im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts ein Originaltext sprachlich grundlegend bearbeitet und trat so mit neuen Kleidern aufgeputzt wieder den Weg zum Publikum an. Macht man nun geltend, dass eine solche Ausgangslage gute Voraussetzungen bietet, das Spiel der Konstanten und Variationen im Horizont grundlegend gewandelter kultureller Konstellationen zu verfolgen, dann tritt anstelle eines spontanen Gefühls der Faszination durch das Anonyme, Unbekannte und Vergessene schon ein wissenschaftskonformes Räsonnement als Begründung eingehender Beschäftigung mit einem anscheinend abgelegenen Gegenstand. Der hier begrenzte Raum mag es also rechtfertigen, die Antworten auf die Frage nach dem ›Warum‹ mit diesen Andeutungen abzubrechen. So stellen sich dann vorrangig die Fragen nach dem ›Wie‹ und dem ›Was‹? Genauer: Wie eine Neuausgabe zu bewerkstelligen wäre und was sich mit ihr anstellen ließe. Rund zweihundert Seiten zählt die neue Version und sie liegt in etwa zwei Dutzend Exemplaren vor, die mangels eines Impressums zunächst nur über ihre Bibliotheksstandorte zu erfassen waren. Sortiert man mit Hilfe buchwissenschaftlicher Methoden der Beschreibung und Bestimmung alter Drucke Doppelexemplare aus, dann bleiben immer noch 15 distinkte Überlieferungsträger, deren genauer Inhalt und damit das Verhältnis zum Original von 1456 vorerst nur vermutungsweise erfassbar ist. Eine weitere Sichtung nochmals mit Hilfe buchwissenschaftlicher Methoden gestattet es sodann, den ältesten der erhaltenen Drucke der Serie zu bestimmen: das Wolfenbütteler Exemplar (HWB I.1 [Wf]).3 Doch an diesem Punkt angelangt, sieht sich der Literatur-

2 Die Brüder Grimm verfügten über ein Exemplar, das unikal eine nicht firmierte und undatierte Ausgabe repräsentiert. Jacob äussert sich an abgelegener Stelle in einer Rezension aus dem Jahre 1812 (Grimm: Kleinere Schriften, Bd. 6, S. 84) negativ über diese Fassung (»papierne[r] complimentenstil«) und über die zu große »literarische betriebsamkeit«, die solche – in seinen Augen unnötigen – Bearbeitungen hervorgebracht habe – ein Urteil, das angesichts der Fixierung der frühen (und lange auch: späteren) Germanistik auf das Alte, Ursprüngliche und Originale wenig verwundern kann. Das Exemplar befindet sich heute in der Grimm-Bibliothek der Humboldt-Universität Berlin (Signatur: Yi 31760:F 8); vgl. auch eine etwa um 2000 erschienene Faksimile-Ausgabe (99 A 2044). 3 Ein textuelles Indiz für die Spitzenstellung des Drucks im Stemma ist das einzig hier beobachtbare Auftreten eines Paratextes, der inhaltlich dem rotgedruckten Vorspann des Erstdrucks entspricht; vgl. Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Bd. 1, S. 5−7; Schnyder: Historische Wunder-Beschreibung, S. 400 f.

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wissenschafter erneut und dringlicher vor der Frage, wie die Differenzen dieser neuen Fassung überhaupt greifbar gemacht werden können und wie sie zu beurteilen sind. Die Anonymität, die unsichere Datierung und die Wortkargheit des Bearbeiters hinsichtlich seines Vorgehens und seiner Ziele erschweren die Erfassung und Einordnung von deutungsrelevanten Differenzen zu einer möglichen Vorlage erheblich. Zwar liegt es nahe, etwa bei Kernstellen des alten Romans anzusetzen und im Vergleich zu prüfen, was der Anonymus daraus gemacht hat. Dieses Vorgehen hätte immer auch den Vorteil, dass sich über die reichen Ergebnisse des vergangenen Vierteljahrhunderts zum Verständnis des Originals von 1456 detaillierte Bilder erstellen lassen, vor deren Hintergrund sich – vielleicht – die Gestaltung der neuen Fassung deutlich abhebt. Doch dieser Weg endet, wenn man ihn versuchsweise begeht, rasch im weglosen Dickicht der Einzelfragen und Einzelbefunde. Ausschlaggebend dafür ist das Paradox, dass in der Neufassung zwar manches anders ist, dass jedoch diese Differenzen sich durch ihre inhaltliche Geringfügigkeit einem rasch und sicher einordnenden Zugriff entziehen. Variation mutet in diesem Falle immer wieder als Mimikry der Konstanz an. In dieser etwas undurchschaubaren Situation bot es sich an, bei einer genauen, nur langsam vorwärtsgehenden Wort für Wort wägenden Kommentierung anzufangen; dabei sollte die Blickrichtung doppelt sein: einmal auf den Text selber, sodann auf sein Verhältnis zur Vorlage. Da diese vorerst nicht näher bekannt war, wurde bei der Erstellung des ersten Arbeitsinstrumentes eine pragmatische Lösung gewählt: Der älteste Text (Richel-1473/74) wurde Seite für Seite dessen inhaltlich entsprechendem Abschnitt gegenübergestellt. Diese dank Vorarbeiten rasch erstellte Hilfsausgabe bot eine brauchbare, wenn auch bei Fragen der literarischen Interdependenzen nur sehr bedachtsam zu benutzende Grundlage. Die wichtigsten Ergebnisse sollen hier vorgestellt werden – nicht in Form des fortlaufenden Kommentars, wie er jetzt in erster Fassung vorliegt, sondern in problemorientierter Synthese. Vorab soll erstens die Vorlagenfrage geklärt werden, zweitens die Frage nach der Figur des Autors im Text und drittens kommt der Versuch hinzu, das Profil des Werks insgesamt grob zu charakterisieren.

2 Überlieferungszusammenhänge 2.1 Die Suche nach der Vorlage für die HWB-Redaktion: Vorgaben Bei der Frage nach der Textgeschichte, genauer danach, welche Stelle unsere Fassung in der langen Reihe der Überlieferungsträger von 1456 bis um 1800 einnimmt, sind vorab einige Prämissen zu vergegenwärtigen: (1) Die Werkgestalt der HWB, eine durchgehende Neuredaktion der alten Geschichte, verunmöglicht eine beim Einzelwortlaut ansetzende textkritische ›recensio‹ der Überlieferung.

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(2) Die Untersuchung von Weglassungen und Zufügungen von Elementen in der HWB hilft bei der Vorlagenbestimmung zunächst wenig, da diese Kürzungen oder Erweiterungen ja durchaus auf unseren anonymen Bearbeiter und nicht auf seine Vorlage zurückgehen können. Aussagekräftig werden solche Momente erst, wenn HWB sie mit einem Teil der möglichen Vorlagen gemeinsam hat, mit einem anderen Teil nicht. (3) Aus dem eben Gesagten ergibt sich, dass inhaltliche Veränderungen, die weder als Zusätze noch Streichungen zu charakterisieren sind, bei einer Vorlagenbestimmung besonders hilfreich sein könnten. (4) In der traditionellen Textkritik ist das entscheidende Kriterium für die Vorlagenbestimmung der Fehler. Neben Zusätzen und Lücken des Textes (die ja auch als fehlerhafte Abweichungen von einem normativ als vollständig betrachteten Textbestand eines hypothetischen Originals fassbar sind) tritt der Fehler vorab im Bereich der sprachlichen Normen oder beim Inhalt auf. – In unserem Falle dagegen kann die erste Kategorie, der grammatisch-sprachliche Fehler auf der Ebene des Einzelwortlautes, wegen der unter (1) angesprochenen Voraussetzung bei der Vorlagenbestimmung kaum weiterhelfen; die Aufmerksamkeit richtet sich so auf inhaltliche Fehler. Dabei verdient die reiche Namenwelt des Romans besondere Aufmerksamkeit. (5) In jedem Fall gilt (was auch bei der Anwendung klassischer Methoden der Textkritik zutrifft): Aussagen über die Abhängigkeit von Textzeugen basieren vorab auf einer Arbeitshypothese; diese lautet: Der Bearbeiter (wie der Abschreiber) verfügte nur über eine einzige Vorlage, nicht über mehrere, deren Wortlaut er hätte kombinieren können. (6) Zu erinnern ist schließlich an ein fundamentales Prinzip historischer Arbeit überhaupt: Es ist mit Überlieferungsverlusten zu rechnen; das Gesuchte, die unmittelbare Vorlage, kann also verloren gegangen sein. (7) Die Melusine-Drucke vereinigen Texte und Bilder, sind also ›multimediale‹ Gebilde; aus pragmatischen Gründen aber werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Bilder zur Bestimmung von Abhängigkeiten nicht herangezogen. Soweit die wichtigsten Voraussetzungen. Nachfolgend soll nun durch Prüfung einiger Stellen die Vorlage näher bestimmt werden. Die Tatsache, dass der älteste erhaltene Druck der HWB nach dem Befund des Erlanger Melusine-Projekts im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts anzusetzen sein dürfte,4 schließt einige spätere Drucke aus dem 18. Jahrhundert schon gleich als Vorlagen aus. Auch wird man einmal annehmen können, dass dem Bearbeiter ein möglichst rezenter Druck, also eine Ausgabe aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, vorgelegen haben dürfte. Es sind dies:

4 Eine Begründung liefert Künast an anderer Stelle; vgl. auch unten, Anm. 68.

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Abb. 1: Titelblatt. Historie von der schönen Melusine, Annaberg: David Nicolai, 1692/93 (Nicolai-1692/93; Nürnberg GNM, 8° L 1875)

(1) (2) (3) (4)

Hamburg: Michael Pfeiffer, 1649 (Pfeiffer-1649) Nürnberg: Michael und Johann Friedrich Endter, 1672 (Endter-1672) ohne Ort: ohne Druckernamen, 1692 (ohne Ort-1692; Abb. 3) Annaberg: David Nicolai, 1692/93 (Nicolai-1692/93; Abb. 1)

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2.2 Die Suche nach der Vorlage für die HWB-Redaktion: Variantenprüfung 2.2.1 Die Selbstnennung Thürings Prüfenswert ist einmal die Selbstnennung Thürings von Ringoltingen; in HWB5 lautet sie: »Demnach habe ich N. Thuͤringer genannt/ gebuͤrtig von Ringeltlingen/ bey Bern im Uchtland gelegen« (S. 3). In Richel-1473/74, dem Erstdruck, hingegen stellte sich der Autor-Übersetzer so vor: »[...] ich/ Thuͮring von Ringoltingē von bern vß uͮcht lant«.6 Eine Prüfung der bis 1693 uns heute noch fassbaren Ausgaben zeigt, dass die Namensform der HWB erstmals im Straßburger Druck Hupfuff-15067 auftritt und sich in der Folge dann durchgehend etabliert.8 In einem einzigen Druck – dies ein zweites Ergebnis – ist der ›Vulgata‹-Text anonymisiert: in Feyerabend-1587; dieser scheidet somit als Vorlage für die HWB aus. Doch es bleibt damit immer noch die stattliche Reihe der andern Drucke des 16. und 17. Jahrhunderts. – Dies ein erstes Zwischenresultat.

2.2.2 Die Gestaltung von Vor- und Nachwort Zur Prüfung laden sodann Vor- und Nachwort des Romans ein. HWB enthält die Vorrede Thürings vollständig in neu redigierter Form. Hingegen fehlt das Nachwort. Ein Indiz lässt vermuten, dass dem Bearbeiter allerdings dieses Nachwort vorlag, denn er schließt seinen Text mit den Worten »[...] dieſer zwar wunderbaren/ ſehr Curioͤſen und ſelzamen [sic]/ doch in gantz Franckreich fuͤr war beglaubten [sic] Geſchichte (worvon noch etliche Rudera und Denck=Maͤler hier und dar gezeiget werden/)«.9 Der Anonymus dürfte also die originale Berufung auf den Herrn von Erlach und dessen

5 Im Folgenden wird nach HWB I.1 (Wf) zeichengetreu zitiert (Ex.: Wolfenbüttel HAB, Lm 3b; vgl. Abb. 4). 6 Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Bd. 1, Z. 18 f. 7 Vgl. Gotzkowsky I, S. 111 f. Nr. 12. 8 In noch einigen weiteren Fällen lässt sich übrigens beobachten, dass Hupfuff-1506 eine erstmals auftretende Variante bietet, welche in der Folge die ganze spätere Überlieferung prägen wird; stellvertretend sei auf einen Fall hingewiesen, nämlich den Namen des Berges in Aragonien, auf den die dritte Persina-Tochter namens »Palantia« oder »Palantina« verbannt wird; in HWB lautet er verballhornt: »Rottnitsche«. Richtigerweise (gemessen an der französischen Vorlage) hatte er noch durch die ganze Inkunabeltradierung hindurch: »Konitsche« (oder ähnlich, Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Bd. 1, Z. 3180) geheißen. Das falsche ›R‹ etablierte sich erst bei Hupfuff; in diesem Fall dürfte der Setzer offenbar die sehr ähnlichen Buchstaben R- und K- in seiner Vorlage verwechselt haben. Der Fall erinnert an jenen der Umdeutung von nicht mehr verstandenem »Voland« zu »Roland« unter dem Eindruck zweideutiger Typographie (vgl. unten, S. 81). 9 HWB I.1 (Wf), S. 188.

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Bezeugung der melusinischen Bauten10 gekannt haben; er hat sie in der Folge bis auf die zitierte Andeutung gestrichen. Mustert man nun die Vulgata auf die Wiedergabe von Vor- und Nachwort hin, dann ergeben sich folgende Überlieferungstypen (vgl. Abb. 2): Vorrede

Nachwort

Typus 1

vollständig / am Platz

vollständig / am Platz

Typus 2

vollständig / ans Werkende versetzt

vollständig / am Platz

Typus 3

Fehlend

vollständig / am Platz

Typus 4

vollständig / am Platz

ergänzt durch Wiederholung des Autornamens / am Platz

Typus 5

gekürzt (bis auf das argumentum11) / ergänzt durch Wiederholung des Autornamens / am Platz am Platz

Abb. 2: Überlieferungstypen der Vulgata bei der Wiedergabe von Vor- und Nachwort (Darstellung des Autors)11

Typus 1 und 2 sind häufig, die Typen 3 bis 5 hingegen je singulär. Die HWB-Ausgabe steht dem Typus 1 am nächsten, bringt sie doch einerseits das Vorwort samt ›Argumentum‹ vollständig, endet zwar bei der Entsprechung zu Z. 3340 von Richel-1473/74 und fügt aber noch – wie eben dargelegt – einen Satz an, der Kenntnis von Z. 3353 bis 3359 verrät. Damit grenzt sich die Auswahl12 möglicher Vorlagen stark ein, nämlich auf: Pfeiffer-1649, ohne Ort-1692 und Nicolai-1692/93. – Soweit das zweite Zwischenergebnis.

2.2.3 Der Aufbruch von Uriens und Gyot Im Roman schließt sich an die Geschichte des Protagonistenpaares Melusine und Raimund eine Reihe von Auszugsaventiuren, in welchen die Söhne eine Hauptrolle spielen. Voran steht dabei der Auszug des Uriens, des ältesten Sohnes, gemeinsam mit seinem Bruder Gyot. Der Erstdruck erzählt dies: »nuͦn begerte ſin iuͮnger bruͦder/ Gyott vor genant mit yme czuͦ faren wie wol er iung was/ So wolte in vriens lieber haben/ Vnd mitt yme vß fuͮren denn ſiner bruͮderen keinen«.13

10 Vgl. Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Bd. 1, Z. 3353–3359. 11 Damit ist der resümierende Passus ganz am Werkanfang gemeint, Schnyder 2006, Bd. 1 Z. 1–11, in der HWB-Überlieferung erscheint er nur im Wolfenbütteler Exemplar, später nicht mehr. 12 Abgesehen von den auf Grund der oben dargelegten Überlegung (S. 76) in die engere Auswahl einbezogenen Ausgaben des 17. Jahrhunderts gehört zu Typus 2, auch noch der Straßburger Druck Müller-1577. 13 Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Bd. 1, Z. 757–760.

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In der HWB liest sich der Passus hingegen so: Solches nun ſein juͤngerer Bruder Gyot ſehende/ bekame hierauf Luſt mit ihme zu fahren/ wiewol er noch juͤnger/ weder sein Bruder Gedes ware/ der da auch zu solcher Reiſe Belieben mit truge. Doch wieſe ¦ der tapffermuͤthige Uriens noch mehrere Wolneigung und Affection/ auf ſeinen Bruder Gyot/ daß er ſelbigen ſich zu ſeinem Reiß=Compan erwaͤhlete/ mit ihme die See=Fahrt anzutretten/ und alſo den Bruder Getes vor dieſes mal zuruck lieſſe.14

Die HWB führt hier also eine Konkurrenz zwischen dem zweiten und dritten Sohn um die Möglichkeit einer Ausfahrt ein. Es handelt sich offenbar um einen Zusatz; nach unseren vorher aufgestellten Verfahrensregeln wäre dies somit für die Vorlagenbestimmung kaum von Belang, denn die kreativen Vorgänge im Kopf unseres Bearbeiters sind uns nicht zugänglich. Aufmerksamkeit erregt indessen ein Blick in den Wortlaut dieser Stelle im zweiten Druck der ›Vulgata‹ von Johann Bämler im Jahr 1474; dieser hat eine kleine Erweiterung gegenüber Richel-1473/74; der Passus lautet: »Nun begert sein jünger bruͦder Gÿott genant mit jm ze faren/ wie wol er vast junger was denn Vriens/ da wolt in doch Vriens lieber haben vnd mit jm außfuͤren denn keinen andern seiner bruͤder«.15 Dieser Wortlaut ist in der ›Vulgata‹ weit verbreitet; eine Reihe der Frankfurter Drucke des mittleren und späteren 16. Jahrhunderts weist ihn etwa auf, so der Abdruck im Buch der Liebe (Feyerabend-1587): »Nun begeret ſein juͤnger Bruder/ Gyot genannt/ auch mit jhm zu fahren/ wiewol er juͤnger war denn ſein Bruder Vriens/ doch wolt jhn Vriens lieber haben/ vnnd mit jhm außfuͤhren/ denn kein andern ſeiner Bruͤder.«16 Nun zeigt der Wortlaut bei Feyerabend eine leicht komische Redundanz der Aussage, die bei Richel-1473/74 und Bämler-1474 noch fehlte: Gyot ist der jüngere Bruder und: Er will mit Uriens reisen, obwohl er der jüngere Bruder ist. Diese Redundanz verstärkt sich noch, wenn man bedenkt, dass Uriens als ältester Sohn eigentlich ausschließlich jüngere Brüder haben kann! Etwas Zweites kommt hinzu: Es genügt, in diesem Wortlaut der Vulgata an einer Stelle einen Namen auszutauschen (oder vielleicht auch: versehentlich zu vertauschen), dann hat man eine Aussage, die inhaltlich jener in der HWB entspricht. Im Folgenden als hypothetische Variante formuliert: »Nun begeret ſein juͤnger Bruder/ Gyot genannt/ auch mit jhm zu fahren/ wiewol er juͤnger war denn ſein Bruder Gedes/ doch wolt jhn Vriens lieber haben/ vnnd mit jhm außfuͤhren/ denn kein andern ſeiner Bruͤder.« Diese von mir zunächst einmal nur angenommene Lesart hat immerhin den Vorzug, dass sie die Sachlogik wieder herstellt und dass die vorher erwähnte Redundanz entfällt. Man könnte an sich vermuten, dass der Wortlaut in HWB ohne Vorlage durch eine auf reiner Logik fußenden Verbesserung durch den Bearbeiter entstanden ist. Dennoch bleibt zu prüfen, ob es nicht doch Vulgata-Drucke gibt, welche eine solche Lesart auch wirklich enthalten.

14 HWB I.1 (Wf), S. 50 f. 15 Müller: Romane, S. 51,2–5. 16 Vgl. Gotzkowsky I, S. 122, Nr. 30 und S. 67–70, die zitierte Stelle: Bl. 267a, rechte Spalte.

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Und es gibt sie wirklich! Die Ausgaben Pfeiffer-1649, Endter-1672, ohne Ort-1692 und Nicolai-1692/93 und noch weitere, jüngere (die deshalb hier außer Betracht fallen) haben den folgenden Text (unter Absehung von hier unwichtigen Varianten):17 »Nun begehrete ſein juͤnger18 Bruder Gyot genant/ auch mit jhm zu fahren/ wiewol er juͤnger war denn ſein Bruder Dedes [sic]/ doch wolte jhn Uriens lieber haben/ und mit jhm außfahren/ denn keinen andern ſeiner Bruͤder«. Soweit das dritte Zwischenergebnis.

2.2.4 Ein französischer Ortsname HWB erzählt von Loyers, dem Sohn des vierten Melusine-Sohnes, er habe »zum erſten Jaoy/ dann auch die Brücke zu Maſiers erbauet« (S. 94), für »Jaoy« steht am Beginn der Drucküberlieferung »Yuoy«;19 unter unseren Drucken zeigt einzig noch Pfeiffer-1649 diese Variante. Das »Jaoy« der beiden Drucke von ohne Ort-1692 und Nicolai-1692/93 lässt diese als denkbare Vorlagen für die HWB-Tradition erscheinen. Damit ist mit einem vierten Zwischenschritt die Auswahl auf zwei Drucke eingeengt.

2.2.5 ›Voland‹ vs. ›Roland‹ Eine weitere Ausscheidung gelingt dann freilich mit den hier bekannten Varianten nicht; die missverständliche und missverstandene Bezeichnung des Riesen Grymold als »Roland«20 verbindet zwar die Ausgabe ohne Ort-1692 mit der HWB und schließt Nicolai-1692/93 aus, doch an einer Reihe von Stellen (vgl. die Nr. 3, 7, 8, 10 in Abb. 5) gehen Nicolai-1692/93 und HWB zusammen gegen ohne Ort-1692.

2.2.6 Das Gesamtfazit und die Konsequenzen daraus Diese Befunde dürften auf einen verlorenen Textzeugen zwischen 1692 und dem ersten Viertel des 18. Jahrhunderts hinweisen, der Merkmale der beiden hier in der engeren Auswahl stehenden erhaltenen Drucke verbunden hat. Eine andere Erklärung

17 Ohne Ort-1692, Bl. D2bf. 18 Der Druck Nicolai-1692/93 hat hier als einziger unter den genannten Drucken das sachlich falsche »juͤngster«. 19 Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Bd. 1, Z. 1483. Diese Namensform entspricht noch genau jener der französischen Vorlage (Roach: Le roman de Mélusine, V. 2730); gemeint ist wohl der seit einem Besitzerwechsel im Jahre 1662 Carignan genannte Ort in den französischen Ardennen, dessen Bewohner heute noch als Yvoisiens bezeichnet werden (anders Vincensini: Jean d’Arras Mélusine, S. 551, Anm. 2: gemeint sei Avioth im frz. Departement Meuse). 20 HWB I.1 (Wf), S. 130.

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wäre, dass dem Bearbeiter der HWB mehrere Drucke vorlagen, die er nebeneinander benutzt hat.21 Im Übrigen zeigt ein Indiz, dass HWB I.1 (Wf) wohl nicht die Erstausgabe von HWB sein kann; es handelt sich dabei um einen Setzfehler im Bereich der Kolumnentitel. Ab Seite 163 lautet dieser »Der wunderb. Armenische Schloß=Geiſt«; inhaltswidrig setzt er sich auch im Bereich des Palantina-Teils fort (ab S. 173), bis er auf Seite 185 durch »Schluß oder Ende dieſer Hiſtori« abgelöst wird. Anomal an diesem Befund mutet auch an, dass bis Seite 162 der in zwei Hälften geteilte Kolumnentitel sich über eine Doppelseite erstreckt und sich zudem auf das Werk und nicht bloß auf einen Abschnitt desselben bezieht. Eine denkbare Erklärung für die Entstehung dieser Irregularität bietet sich schlagartig an, wenn man sich die Stelle etwa HWB I.3 (Go)22 ansieht: Dort beginnt der neue Erzählabschnitt »Allein wir laſſen anjetzo alles andere beyſeits« zuoberst auf der Seite; der dort ebenfalls erscheinende Kolumnentitel »Der wunderbare Arm. Schloß=Geiſt« kann bei dieser Seiteneinrichtung als Kapitelüberschrift (miss)gedeutet werden.23 Die Erklärung wäre dann darin zu suchen, dass die verlorene Erstausgabe von HWB tatsächlich eine solche Zeile als Kapitelüberschrift aufgewiesen hätte; aufgrund eines Seitenumbruchs wie in HWB I.3 (Go) wäre dann daraus in den späteren Ausgaben ein Kolumnentitel geworden.24 Wie auch immer. Die editionspraktische Folgerung liegt auf der Hand: Die ›Vulgata‹-Tradition in der geplanten Ausgabe25 ist durch einen der beiden Drucke von 1692 bzw. 1692/93 – nämlich ohne Ort-1692 und Nicolai-1692/93 – vorzugsweise wohl durch jenen ohne Ort-1692 darzustellen (dafür spricht vorab die ›Voland/Roland‹-

21 Dass der HWB-Bearbeiter ein aufmerksamer Leser war und nicht einfach die Vorlage linear umsetzte, zeigt die Bemerkung im Zusammenhang mit »Roland«, der aus altem »vâlant« missverstandenen und zum Namen umgedeuteten Bezeichnung für den Riesen Grimolt. Der Bearbeiter, offenbar auf die Unstimmigkeit der zwei Namen aufmerksam geworden, fügt eine ad hoc-Erklärung dafür ein: »alſo wurde er insgemein / von allem Volck ... genennet« (HWB I.1 (Wf), S. 130, der richtige Name Grimolt dort S. 130. 22 HWB I.3 (Go) (Ex.: Gotha FB, Poes 2017/1), dort S. 166. 23 Auch im Falle HWB I.3 (Go) handelt es sich um einen Kolumnentitel. 24 Die ›Vulgata‹-Überlieferung, noch ganz im Banne der erzählergesteuerten Werkgliederung, besitzt an diesem Einschnitt keinen Zwischentitel. Dass die optisch orientierte Leselogik des 18. Jahrhunderts, die in HWB sich nun der alten Geschichte bemächtigt hat, diese Sachlage angesichts des deutlichen Erzählstrangwechsels als unbefriedigend empfand, zeigen zwei weitere Indizien. HWB I.1 (Wf) platziert vor dem neuen Abschnitt, der dort in der Seitenmitte beginnt, einen breiten Leerraum und bestückt diesen zudem mit einigen Asterisken als optischen Trennern. Ferner setzen sowohl HWB I.1 (Wf) wie HWB I.3 (Go) die übliche Kapitelinitiale bei »Allein ...«. Man sah hier somit den Beginn eines Kapitels, verfügte jedoch über keine Kapitelüberschrift, weshalb man sich mit optischen Signalen behalf. Dieser Befund gilt fast für die ganze übrige HWB-Tradition. Ausnahmen: der Druck von Christian Everaerts (HWB I.8 [Ev]), der ohne jede Markierung des Strangwechsels den neuen Abschnitt folgen lässt, und die drei Reutlinger Drucke (HWB II.5–7), die nun aus dem Kolumnentitel (wieder) eine Kapitelüberschrift machen; sie weisen im Übrigen durchgehend keinen Kolumnentitel auf). 25 Vgl. dazu auch unten, S. 95.

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Variante); ergänzend ist die Transkription26 dieser Fassung mit einem Apparat, der die sinntangierenden Varianten des anderen Drucks (in diesem Falle: Nicolai-1692/93) zeigt, zu versehen.

3 Das Profil der beiden Autorschaften 3.1 Der Fall Thürings Thüring ist – gemessen an den Verhältnissen der Handschriftenzeit – ein durchaus ›starker Autor‹, wie man die Tatsache, dass ein Verfasser in seinem Werk deutliche Spuren hinterlässt und sich damit als dessen Urheber zu erkennen gibt, benannt hat.27 Der Rahmen seines Werks außerhalb der eigentlichen Erzählung, das Vor- und das Nachwort, bildet zugleich den Ort seiner markantesten Auftritte. Es seien hier die wesentlichen Elemente zusammengestellt,28 zunächst jene aus der Vorrede: Thüring nennt sich uns mit vollem Namen, erwähnt mit der Berufung auf den Markgrafen Rudolf von Hochberg eine wichtige Bezugsperson (im Nachwort wird er noch den bernischen Standesgenossen, den Herrn von Erlach, nennen), er äußert sich zudem über die Veranlassung seines Schreibens. Indem er andererseits Elemente des Prologs aus seiner französischen Vorlage an den Beginn der eigentlichen Erzählung stellt und so auch den französischen Autor, Coudrette, seinem bernischen Publikum genauer präsentiert (freilich ohne ihn namentlich zu nennen), gewinnt indirekt sein eigenes Tun in einem wesentlichen Punkt zusätzliches Profil: Coudrette schreibt auf herrschaftlichen Auftrag hin, während Thüring, selber der adligen Elite zugehörig, für sein selbstbestimmtes Schreiben Motivationen aus der Sache selber, noble Wissbegier nämlich und Erkenntnistrieb, gewinnt.29 Dementsprechend ist der Markgraf Widmungsempfänger, aber keinesfalls Besteller des Melusine-Romans.

26 Die Transkription hält große Vorlagentreue (auch im Bereich der Graphemik und der Zeichensetzung) und beschränkt sich auf die Korrektur offensichtlicher Druckfehler. 27 Der Begriff und sein Gegenstück, der »schwache Autor«, bei Assmann: Schrift und Autorschaft. Sie bezieht sich allerdings auf das Druckzeitalter und konstruiert dabei einen sachlich unberechtigten scharfen Gegensatz zwischen der Handschriftenkultur (wo es ihr zufolge anscheinend keine »starken« Autoren gab) und dem Druckzeitalter (S. 18 u. 20). 28 Vgl. die ausführliche Darstellung mit weiterführender Literatur in Schnyder: Des Autors Stimme und Schrift. 29 Damit kann auch zusammenhängen, dass Thüring die Umstände, unter denen er den Roman kennenlernte und in den Besitz einer Handschrift kam, nicht klärt; die Kenntnisnahme erscheint so als Resultat der eingangs beschworenen anthropologischen Konstante der Wissbegier. Bei Coudrette wird hingegen die übliche Beschaffung der Vorlage durch den Auftraggeber erwähnt (vgl. Roach: Le roman de Mélusine, V. 58–61).

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Ein weiteres markantes Moment dieser Autorschaft ist das Beharren dessen, der primär als Übersetzer aufzutreten hat, auf einer gewissen Gestaltungsfreiheit. Die bekannte Stelle lautet: »[die Geschichte, die ich] gemacht vn̄ trāſlatiert hab noch minē beſten vermuͮgē vn̄ ob ich den ſinne der materye nicht gancz noch dem welſchen geſetzet hab So hab ich doch die ſubſtantz der materye ſo beſt ich kunde begriffē«30. Das Nachwort bringt weitere wesentliche Ergänzungen zu diesem Selbstbild des Autors. Zuerst registrieren wir seinen Anspruch, ein solches Werk als erster und einziger einer deutschen Leserschaft zu vermitteln. Es folgt bekanntlich die genaue Datierung des Werkabschlusses und zwar so gewendet, dass zugleich über das Vinzenz-Fest als Fixpunkt der Datierung Bern und sein Münsterbau, bei dem sich die von Ringoltingen nun ihrerseits als Mäzenaten profilieren und Gleiches tun wie Melusine, am Horizont des Lesers erscheinen. Voll verständlich war dieser Bezug freilich nur für den engsten Leserkreis in Bern; an diesen dachte unser Autor gewiss zuerst, jedoch bestimmt nicht ausschließlich. Eine gewisse Zurückhaltung scheint das Selbstbewusstsein des Autors dann zu zeigen, wenn auf mögliche Übersetzungsfehler hingewiesen und das Publikum aufgefordert wird, am Text allenfalls Verbesserungen vorzunehmen: Aber wan ich ſolliches gedicht von einer ſprach in ein ander ſetzen vnd zuͦ tranſlatierē nit ein meiſter bin noch des vormols gebrucht hab So wil ich den vorgemeltē minē gnedigē herren margraffē demuͤtlichen bitten wan er die ſprach bas kan dan ich vnd bitt ouch einen ieglichen der ſich des baß wiſſe czuͦ behelffen denn ich das er es beſſern Vnd corrigern ouch reformiern woͤlle wo Das nottuͮrfftig ſige31

Kann man eine solche Aussage beim Wort nehmen? Verleiht ihr nicht schon allein der unmittelbare Kontext mit Komplimenten an den Markgrafen einen topisch-uneigentlichen Charakter? Und weist nicht die Überlegung, dass ein Leser doch wohl nur mit einigen Umständen und auf Umwegen überhaupt an den französischen Originaltext herankommen konnte (was Voraussetzung für einen kritischen Nachvollzug der Übersetzung wäre) in dieselbe Richtung? Hilfreicher als Mutmaßungen oder das weitere Reflexionen ultimativ abschneidende Verdikt ›topisch‹ könnte es freilich sein, das Problem im Horizont der Diskussionen um den beweglichen Text zu bedenken. In dieser Perspektive situiert sich dann der Autor Thüring mit seinem Werk in einem Spannungsfeld zwischen festem und unfestem Text, zwischen einem vom AutorÜbersetzer autorisierten Konstrukt, das der Leser so hinnehmen darf und muss32

30 Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Bd. 1, Z. 24–26, vereinfachte Wiedergabe unter Verzicht auf die Markierung editorischer Eingriffe bei fehlerhafter Überlieferung. 31 Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Bd. 1, Z. 3347–3352. 32 Man denke – dies für das ›darf‹ – an den impliziten Anspruch, dem deutsch lesenden Publikum bisher nicht Verfügbares gebracht zu haben (Z. 3341–3343) und ferner an die Erklärung – hierin liegt das ›muss‹ –, die Geschichte nach eigenen Vorstellungen modelliert zu haben (Z. 25 f.).

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einerseits und anderseits einem veränderbaren Gebilde, dessen Perfektibilität Eingriffe Dritter provozieren kann und muss. Zwei weitere Elemente komplettieren das Selbstbild des Autors, sie erscheinen beide im Dienste des Anspruchs auf Wahrheit des Erzählten. Thüring kennt erstens den Herrn von Erlach, der wiederum die Bauten Melusines besucht und gesehen hat; dazu kommt zweitens dann das Zeugnis aus eigener Leseerfahrung: keine der gelesenen »ſchoͤne[n] hyſtorien/ vnd buͮcher«33 kommt an ästhetisch genießbarer Fremdheit bei gleichzeitiger Tatsächlichkeit der Geschichte Melusines gleich. Das Nachwort34 ist an Elemente aus dem originalen Epilog geknüpft wie die Vorrede an den französischen Prolog. Allerdings scheint hier weniger die Absetzung von Coudrette Ziel des Bezugs zu sein; dessen Nachwort verfolgt mit der Erzählung vom (übrigens genau datierten) Tod des ursprünglichen Mäzens, Wilhelms VIII. von Parthenay, vor Abschluss des Werks und von der Sicherung der Fertigstellung desselben durch den nachfolgenden Sohn eine andere Intention. Thürings Absicht scheint eher im Aufweis der Traditionskette zu liegen, welche Melusine und die beglaubigte Memoria ihres Lebens mit der Gegenwart Thürings verbindet. Aus dem Blickwinkel Thürings bilden Coudrette und seine zwei Mäzene, Vater und Sohn, das (vorläufig) vorletzte Glied in dieser Kette. Entsprechend erscheinen die ursprünglichen EpilogElemente nun in die eigentliche Melusine-Erzählung hinein versetzt. So viel zur Autorschaft, wie sie sich uns bei Thüring präsentieren kann. Aus der Perspektive des Nachher ist dem noch beizufügen, dass Thürings Name an einem für die Handschriftenkultur üblichen Ort, in der Vorrede, seinen Platz gefunden hat; dort verharrt er auch unter den Darstellungsbedingungen der Typographie, die den Autor-Übersetzer normalerweise auf das Titelblatt rückt; kaum je ist jedoch in den Dutzenden von frühneuzeitlichen Drucken der Name verloren gegangen – auch dies also ein sperriger, nicht glatt einzuordnender Befund.35

3.2 Der Fall des Anonymus der HWB Wie präsentiert sich demgegenüber der Autor der Bearbeitung? Keinen Moment lang lüftet er die Anonymität. Sie ist vollständig, d. h. wir erfahren nicht nur seinen Namen nicht, sondern wir bleiben auch hinsichtlich eines möglichen Auftraggebers völlig im Dunkeln; einzig ein flüchtiger Hinweis hinsichtlich der Motivation und Zielsetzung der Neufassung erfolgt. Einher geht diese Anonymität mit der weiterhin bewahrten

33 Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Bd. 1, Z. 3360. 34 Dieses kann ab Z. 3304 von Richel-1473/74 angesetzt werden. Die Zeilen 3304–3340 entsprechen bei starker Raffung inhaltlich den Versen 6737–6980 Coudrettes. 35 Es fehlen Beobachtungen über die Positionierung von Autornamen in analogen Fällen, also bei Texten, welche sowohl skriptographisch wie typographisch überliefert sind.

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Abb. 3: Titelblatt. Wahrhaftige und liebliche Historie von der schönen Melusine, ohne Ort u. Drucker, 1692 (ohne Ort-1692; Krakau BJ, Lit. niem. 370)

Autorschaft Thürings. Dass diesem auch jetzt noch die Ich-Instanz in Vor- und Nachwort zugeordnet wird, dass also nicht etwa die Entstehung der Thüringschen Melusine historisiert wird (wie Thüring das mit Coudrette und dessen Versroman gemacht hatte): Dies markiert zusätzlich die Anonymität und das Verschwinden des nunmehrigen neuen Bearbeiters. Freilich ist Thürings Name nun einigermaßen verballhornt: »Demnach habe ich N. Thuͤringer genannt/ gebuͤrtig von Ringeltlingen/ bey Bern im Uchtland gelegen ...«36

36 HWB I.1 (Wf), S. [3].

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Abb. 4: Titelblatt. Historische Wunderbeschreibung von der so genannten schönen Melusina, ohne Ort u. Drucker, vor 1735 (HWB I.1 (Wf); Wolfenbüttel HAB, Lm 3b)

Die Konsequenzen dieser Verschiebungen des Namens sind schwerer, als sie auf den ersten Blick scheinen mögen. Aus dem adelsstolzen bernischen Patrizier, dem Herrn von Ringoltingen, ist hier nun tatsächlich ein bürgerlicher Autor geworden, von dem die ältere Melusine-Forschung so lange ausging.37 Der HWB-Bearbeiter steht hier freilich weder als erster, noch allein; denn die soziale Herabstufung des Berner Autor-

37 Widerlegt wird diese Vorstellung erstmals systematisch in der Arbeit von Müller: Melusine in Bern. Im Übrigen sei an die nichtadlige Herkunft der Familie Thürings und darüber hinaus daran erinnert, dass Thürings Vater Rudolf den ursprünglichen und wenig fashionablen Familiennamen »Zigerli« durch »von Ringoltingen« zu verdrängen suchte (Bartlome: Thüring von Ringoltingen, S. 51 u. Anm. 33).

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Übersetzers hat sich durch diese Namensform – wie vorher (vgl. S. 78) gezeigt – seit Hupfuff-1506 in der Normalversion eingebürgert. Zum ›bürgerlichen‹ Melusine-Autor »N. Thüringer« passt übrigens, dass ein Leser des 18. Jahrhunderts, hatte er das Zedlersche Universallexikon zur Hand, sehr wohl über Thüring von Ringoltingen informiert sein konnte, diesen aber als bernischen Staatsmann und nicht etwa als Autor der Melusine kannte.38 Wie oben erwähnt (vgl. S. 78 f.), verrät der Hinweis auf die melusinischen Bauten am Schluss der HWB, dass deren Urheber das originale Nachwort Thürings sehr wohl vorlag. Wir dürfen somit die eben aufgezählten Veränderungen am Bild des Vorgängers (anders als bei der Namensverzerrung) als gewollt betrachten, denn das Nachwort lag dem Bearbeiter nicht etwa nicht vor, sondern er hat es getilgt.39 Damit veränderte sich das Profil Thürings im Bewusstsein der Leser noch zusätzlich; so entfielen nämlich einige, hier bereits früher erwähnte Elemente: die Abhebung des Werks von der Tradition fiktiver Epik, der Bernbezug durch das Datum mit Erwähnung des Münsterpatrons und die Selbstverortung Thürings im bernischen Patriziat durch die Erwähnung des Herrn von Erlach. Der anonyme Bearbeiter belässt also dem namentlich bekannten Autor seine Rechte;40 allerdings wird dieser Autor offenbar absichtlich vom Leser ferngerückt. Diese Doppelstrategie findet ihr Pendant in der Weise, wie die sprachliche Neugestaltung auf dem Titelblatt und an der zitierten Stelle am Ende des Vorworts dargestellt wird: »Auf ein Neues übersehen/ mit reinem Teutsch verbaͤſſert«.41 Die Formulierung, mag sie auch formelhaft sein, hebt einerseits die Bekanntheit des Textes heraus, macht anderseits dem nicht informierten Leser die Tiefe dieser Neuredaktion ebenso wenig sichtbar wie die einschlägige Stelle im Vorwort,42 wo sich anders als auf dem Titelblatt immerhin Raum zu einer ausführlicheren Thematisierung geboten hätte. Doch wo liegen die Gründe für diese Anonymität? Es scheint nicht verfehlt, sie vorab in der Einschätzung zu suchen, die man um 1730 von der Tätigkeit des Redigie-

38 Vgl. Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 31, Sp. 1680; Thüring wird (neben einigen seiner Vorfahren) im Rahmen eines Ortsartikels zu Ringoldingen erwähnt. 39 Diese Verschiebungen könnten in der Wahrnehmung der Leserschaft den Thüringschen Anspruch auf die Historizität des Berichteten beeinträchtigt haben. 40 Dies spricht auch gegen die Volksbuchthese in abgeschwächter Form in dem Sinne, als sei die »Melusine« in der späteren Zeit ihrer Rezeption zu einem anonymen Text geworden. Anonymisiert im Sinne der Volksbuchtheorie hat das Werk erst Gustav Schwab, indem er der HWB Einleitung und Schluss wegschnitt und den Rest einer erneuten stilistischen Revision unterzog. 41 Vgl. Abb. 4: Titelseite des ältesten erhaltenen Exemplars der HWB (HWB I.1 [Wf]). Die meisten späteren Ausgaben übernehmen diesen Hinweis; er fehlt einzig bei den drei Ausgaben von Justus Fleischhauer (HWB II.5–7 [Fl 1–3]) und in jener von Christian Everaerts (HWB I.8 [Ev]). An dieser funktionsentsprechenden Position des Titels erscheint in der ›Vulgata‹-Tradition vielfach die Bemerkung »Jetzund auffs neue überſehen«, vgl. Abb. 1: Titelseite von Nicolai-1692/93 u. Abb. 3: Titelseite von ohne Ort-1692. 42 Vgl. das Zitat unten, S. 92.

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rens und des Umschreibens auf aktuelle Sprach- und Stilnormen hatte. Nötig wäre hier also die Hilfe der Sprachwissenschaft bei der Klärung der Frage nach den Inhalten, Trägern und Formen der Sprachpflege im frühen 18. Jahrhundert. Nun scheint da, wenn eine erste Umschau in Handbüchern43 verlässlich ist, eine Wissenslücke zu existieren. Zwar sind die hier einschlägigen barocken Sprachgesellschaften breit erforscht; doch bieten sich da wenige Anschlussmöglichkeiten für unsere Überlegung. Denn zum einen liegen die als besonders wichtig und innovativ angesehenen Sprachgesellschaften zeitlich früher, was eine umstandslose Übertragung von Befunden aus dem Barock ins 18. Jahrhundert methodisch bedenklich macht. Zum andern scheint gerade in der Tätigkeit dieser Gesellschaften die Nicht-Anonymität ihrer Protagonisten zentral (und beruhe sie auch auf sinnreich gewählten Pseudonymen44). Für die Anonymität der HWB mögen außerdem weitere, okkasionelle, in der Person des Bearbeiters oder in den Umständen seiner Tätigkeit liegende Gründe dazugekommen sein; für uns bleiben sie verborgen.

4 Zum Profil der Neufassung Damit wenden wir uns von der Beobachtung der Randbereiche des Werks dessen Binnenteil zu. Selbstverständlich lässt sich dieser im hier gegebenen Rahmen nur oberflächlich charakterisieren; die Aussagen sind nachfolgend den zwei groben Kategorien Inhalt und Form zugeordnet. Inhaltlich hat sich im Großen und Ganzen nichts Wesentliches geändert. Handlungsablauf, Episodenbestand, Figurenprofile sind übernommen worden. In Umkehrung heißt dies, dass diese neue Melusine weiterhin so gelesen werden kann wie die alte; nämlich (um einige der häufig eingenommenen Standpunkte der Interpreten in Erinnerung zu rufen): Die Melusine ist ein Feenroman; sie ist die Geschichte einer scheiternden Ehe, die (mindestens im Rückblick der beteiligten Figuren) eine Liebesehe war; sie ist die Erzählung über die Ursprünge und die Ausbreitung eines bedeutenden Adelsgeschlechtes über mehrere Generationen hin, ja es ist eine Erzählung über den Ursprung des Adels überhaupt;45 sie ist ein Geschichtsroman: ›Geschichte‹ verstanden als die Folge der erst im Rückblick und nur teilweise sich zu einem sinnvollen Muster fügenden Ereignisse, wie sie sich durch den Zwang der äußeren Umstände und das moralisch oft fragwürdige, ja verbrecherische Handeln von Menschen ergeben. Soviel zur Konstanz. Eine wichtige Verschiebung, Diskontinuität , ergibt sich ganz ohne Zutun eines Bearbeiters ganz einfach durch die seit 1456 eingetretenen historischen Verände-

43 Herangezogen wurden bes. Polenz: Deutsche Sprachgeschichte und einschlägige Kapitel aus: Besch u. a.: Sprachgeschichte, hier bes. Gardt: Sprachgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts. 44 Vgl. dazu Polenz: Deutsche Sprachgeschichte, Bd. 2, S. 114. 45 Vgl. zu diesem letzten Aspekt: Müller: Romane, S. 1029.

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rungen: Ließ sich aus Thürings Sicht die Geschichte der Lusignan und der mit ihnen verbundenen Geschlechter als ›global‹ verstehen, so stimmt das für den Leser von 1730 bei radikal gewandeltem Weltbild nicht mehr. Der Kommentar einer künftigen Neuausgabe der HWB wird neben anderem zu zeigen haben, wie sich diesem späten Leser die reich ausgestaltete Topographie der Melusine darbot. Zudem hatte sich für den Leser von 1730 die politische Ordnung in seit jeher bekannten Räumen gegenüber 1456 sehr verschoben: man denke an die türkische Vorherrschaft im Mittelmeerraum. Gleiches wie für die Topographie gilt auch für die Religion: Bildeten die Einrichtungen, Riten und Glaubensnormen der alten Kirche den ganz selbstverständlichen Rahmen, in dem sich die Figuren der Geschichte noch um 1500 bewegten, so ist dieser Rahmen seit dem 16. Jahrhundert für unseren neuen Leser nicht mehr in jedem Fall verbindlich. Hier hatte nun bereits die ›Vulgata‹-Überlieferung des 16. und 17. Jahrhunderts eingegriffen. Etwa die nicht seltenen Erwähnungen des Messbesuchs der Figuren sind schon da getilgt oder modifiziert, indem neu von der »Predigt« die Rede ist.46 Systematisch sind solche Änderungen allerdings nicht, sie hätten ja eine Umstülpung wesentlicher Handlungsmomente erfordert: Man denke bloß etwa an den folgenreichen Klostereintritt Fraimunds, den Rückzug des alten Raimund aus der Welt, den Bußgang von Vater und Sohn ad limina Petri, das fromme Sterben des alten Haudegens Goffroy. Setzt man die Sonde tiefer an als nur auf die rituellen und institutionellen Aspekte der Religion, etwa auf religiös fundierte Verhaltensweisen der Figuren, dann kompliziert sich das Bild jedenfalls. Das Beispiel des Augustinus-Exempels und des ihm zugeordneten Diktums kann das illustrieren. Thüring liefert damit an einem entscheidenden Wendepunkt der Handlung bekanntlich einen Kommentar dahingehend, dass weltlicher Erfolg ein Anzeichen ewiger Verdammung sei.47 Die HWB-Vorlage hat diesen Passus mit nur oberflächlicher Änderung bewahrt.48 HWB jedoch tilgt die Beispielerzählung und modifiziert den Erzählerkommentar in Richtung auf eine ganz in der Immanenz bleibenden Fortuna-Thematik hin: »Gleichwie aber jederzeit das Leid/ die Freude in der Welt gemeiniglich zu begleiten/ und ſelbiger auf dem Fuß zu folgen pfleget/ alſo verhielte es ſich auch allhier/ bey dieſer beyden Eltern und ihrer Soͤhne hohem Gluͤcks=Steigen.«49 Zwischen Thürings Epoche und jener der HWB liegt die breite und tiefe Rezeption der Antike und ihrer Literatur. Der Humanismus hat offenbar auch bei der Abfassung der jüngeren Version Spuren hinterlassen; Beispiele dafür sind etwa: Melusine wird

46 Die Messe erwähnt Thüring etwa: Z. 482, 555, 565, 905, 2491. 47 Vgl. Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Z. 1578–1593. 48 In ohne Ort-1692 lautet die Kernstelle: »denn gemeiniglich die Glückſeligkeit zu dieſer zeit ein Ende nimmet mit Jammer/ Leid/ Kümmernüß und Schmertzen/ ob das nicht geſchicht/ ſo iſt es eine Gewißheit der Verdamnüß. Als wir auch leſen in einem Exempel vom H. Lehrer Sanct [H1r] Auguſtin ...«. 49 HWB I.1 (Wf), S. 98.

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bereits auf dem Titelblatt als »Sirene« bezeichnet; sie und ihre Schwestern erscheinen in der Quellenszene als »Nymphen«; Raimund reflektiert über Armut und Reichtum, indem er an Iros (eine Odyssee-Anspielung) und an Crösus denkt.50 – Andererseits verschmäht der Redaktor ein Boethius- und zwei Seneca-Zitate der Thüring-Fassung.51 Kamen sie ihm apokryph vor? Antikisierend sind zudem die Illustrationen von HWB I.1 (Wf). Verschiebungen werden auch im Bereich der materialen Kultur fassbar; ein schönes Beispiel bietet die Weinliste, die der Berner in meist enger Anlehnung an seine französische Vorlage52 gibt, wenn er von der Hochzeit Melusines und Raimunds berichtet. Noch die Überlieferung um 1700 hat sie, wohl abgekoppelt von den Umbrüchen auf dem europäischen Weinmarkt, getreulich erhalten; in der Ausgabe ohne Ort-1692 las man dies: »Und beſonder war auch da viel und manckerley Wein/ und gar köſtlich von Dames Rotſchelle/ und von Damars/ Byunt Cyaret/ Roßmarin und Jpocras/ Wein von Tornis und von Teutſchen Landen/ auch ſonſt von manchen Enden«.53 Der HWB-Bearbeiter macht daraus dann Folgendes: »Auch ſahe man die koͤſtlichſten Weine/ von unterſchiedlichen/ und zwar nur der koͤſtbarſten Gattung/ in eitel guldene Pocale eingeſchencket/ welches keine andere als Malvaſier/ Seck/ Muſcate/ Frontineack/ und dergleichen waren/ [...]«.54 Das lässt sich als Aktualisierung, als Anpassung an zeitgenössische Trinkgewohnheiten verstehen; zudem liegt rhetorisch eine ›augmentatio‹ vor, denn die meisten der genannten Gewächse waren rar und teuer: Malvasier kam aus Kreta, war aber nach der Eroberung der Insel durch die Türken selten, weswegen er oft »von andern Nationen aus allerhand Specereyen nachgekünstelt«55 wurde. Den Prosecco rühmt Zedler als »vortrefflich«56 und der ausländische Muscateller-Wein, darunter der Muscat de Frontignac »wird wegen seiner Lieblichkeit am Geschmack und Geruch unter die delicatesten Weine gezehlet«.57

50 Er sagt nach dem Jagdunfall in seiner Ansprache an das missgünstige Glück: »Nun haſt du mich zu einem Jrus/ und armen Bettler gemachet/ der ich gedachte/ ein reicher und beguͤterter Croͤſus zu werden« (HWB I.1 (Wf), S. 14). – Iros ist ein Parasit am Hof des Odysseus (Odyssee, 18. Gesang); vgl. Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 14, Sp. 1284; Hederich: Gründliches mythologisches Lexicon, Sp. 1372. 51 Vgl. Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Z. 1124 f. (Boethius über die Undankbarkeit, dazu auch: Z. 966) und Z. 2024–2028 (zwei Pseudo-Seneca Maximen über den Zorn, dazu der Kommentar: Bd. 2, S. 30 f.). 52 Vgl. Schnyder, Bd. 1, Z. 580–582; Thüring hat die Liste einzig um die deutschen Weine erweitert. 53 So ohne Ort-1692, Bl. C5a. 54 HWB I.1 (Wf), S. 39. 55 Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 19, Sp. 810. 56 Zedler, Bd. 29, Sp. 917 f.; vielleicht ist »Sect«, ein spanischer Süßwein, gemeint, vgl. Bd. 36, Sp. 934. 57 Zedler, Bd. 22, Sp. 1022–1024, bes. Sp. 1023; »Muscate/ Frontineack« dürfte gestützt auf den zitierten Artikel und ungeachtet der Interpunktion, die vielleicht die geringe Vertrautheit des Druckers mit derartigen Luxusgewächsen verrät, ein und denselben Wein bezeichnen.

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Aber um den Luxuscharakter seiner Weinliste zusätzlich zu unterstreichen, setzt der Bearbeiter noch ein Mittel ein, das der Aktualisierung, der chronologischen Annäherung also, zuwiderläuft, indem er durch Vergleich distanzierend anfügt: »[...] mit denen man ohne einige Sparſamkeit/ ſo vertreulich umgienge/ als ob es bloſſes Bier waͤre/ auch die Knechte und Bedienten ſo gar/ hatten nichts anders als ſolche Weine zu trincken/ darinnen ſie ſich vergnuͤglich abweyden kunten«.58 So wird die reale Welt des aktuellen Lesers, den wir uns vorwiegend in der mittelund norddeutschen Bierwelt zu Hause denken, der Romanwelt entgegengestellt.59 Die Diskrepanz zwischen dem realen Hier und Jetzt und der erzählten, räumlich und zeitlich entfernten Welt hilft mit, das Ausmaß melusinischen Hofprunks zur Anschauung zu bringen. Blicken wir jetzt von diesen inhaltsbezogenen auf die formalen Seiten des Werks, dann kommt die tiefgreifende Umgestaltung vollends in unseren Blick: Der Roman ist von der ersten bis zur letzten Zeile neu redigiert worden. Dabei sind nicht nur veraltete sprachliche Formen durch die neuen, nunmehr normgerechten ersetzt worden – dies ein Anpassungsprozess, der bereits auf der Ebene skripturaler Überlieferung eingesetzt hatte und sich in der frühen Typographie verstärkt fortsetzte. Schon ein flüchtiger Vergleich zwischen zwei inhaltlich entsprechenden Passagen kann den neuen sprachlichen Duktus belegen. Dabei gibt uns der Umarbeiter den denkbar knappsten Verweis auf diese Umwälzung. An gerade mal zwei Stellen deutet er sie an. So lesen wir auf dem Titelblatt, der Roman sei nun »mit reinem Teutsch verbaͤſſert«. Und am Ende der Vorrede spricht er ganz kurz im eigenen, statt im Namen des N. Thüringer, wenn es heißt: Gleichwie nun die Geſchicht an ſich ſelbſt recht anmuthig und ergetzlich zu leſen/ alſo zweiffelt man auch nicht/ daß ſie [...] auch dem Curioͤſen und verſtaͤndigen Leſer/ ſehr nuͤtzlich/ und etlicher Maſſen erbaulich/ zur beſondern Nachricht dienend ſeyn werde. Maſſen ſelbiger den Kern der Denkwuͤrdigkeit/ wie eine Roſe unter geringern Blumen/ durch reiffen Verstand/ ſchon von ſelbſten vor ſich finden/ und aus der in reines Teutſch verfaſſten/ und baͤſſer fuͤrgeſtellten Materi/ wird ausklauben koͤnnen.60

Wenngleich diese zwei Hinweise knapp ausfallen, sind sie in sich aufschlussreich, denn sie begründen offenbar die durchgängige sprachliche Neukonzeption des Werks. Es eröffnet sich damit die Möglichkeit, das Tun des Bearbeiters in einen sprachge-

58 Vgl. HWB I, 1 (Wf), S. 39. 59 Vgl. Zedler, Bd. 3, Sp. 1789–1794; das Bier gilt als unentbehrliches Alltagsgetränk in Gegenden, die klimatisch bedingt keinen Weinbau kennen; ergänzend dazu der Artikel über die deutschen Weine: Zedler, Bd. 43, Sp. 261–263; dessen Tenor ist hinsichtlich der Qualität der einschlägigen Provenienzen recht gedämpft und diätetische Aspekte dominieren. Aufschlussreich ist auch am Artikelende das engagierte Plädoyer aus merkantilistischem Geist für ›einheimischen‹ Konsum. Hinsichtlich der Qualität deutscher Weine in der Frühen Neuzeit dürfte die Klimaverschlechterung der sog. ›kleinen Eiszeit‹ ihre Rolle gespielt haben. 60 HWB I.1 (Wf), S. 4.

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schichtlichen Horizont einzuordnen; mit Verallgemeinerung umschreibend lässt sich dieser benennen mit: »Sprachpflege aus kulturpatriotischen Motiven«,61 wie sie für die Sprachenpolitik des 17. und 18. Jahrhunderts charakteristisch ist. Das in den zwei Zitaten je vorkommende Wort »rein« etwa ist ein Leitbegriff in der sozietären Sprachpflege des 18. Jahrhunderts.62 Der zweite Passus stellt eine Verbindung zwischen der sprachlichen ›puritas‹ und der Deutungsleistung des »verständigen« Lesers her. Dieser charakterisiert sich dadurch, dass er nicht bei der Suche nach ›delectatio‹ durch die Lektüre stehen bleibt, sondern einen Nutzen anstrebt. Eine neben der sprachlichen Verbesserung weitere Vorleistung des anonymen Redaktors besteht darin, die »Materie baͤſſer fürgeſtellt« zu haben, was das »Ausklauben« des Kerns durch den verständigen Leser erst ermögliche. Zwar ist nicht ohne Weiteres klar, ob sich das ›Fürstellen der Materie‹ auf typographische oder sprachliche Maßnahmen oder beides bezieht; deutlich ist hingegen die Zuschreibung größerer Aktivität an den Leser.63 Diese neue, da aktivere Leserrolle scheint komplementär zu dem in HWB beobachtbaren Zurücktreten der im Originalwerk sehr markanten, dabei vom Autor nur schlecht oder überhaupt nicht unterscheidbaren Erzählinstanz.64 Außerdem lässt sich ein Zusammenhang mit der mehrfach beobachtbaren Zurückhaltung des neu gestalteten Erzählers gegenüber Kommentaren und Exempeln65 vermuten. Für einen sprachgeschichtlich-linguistischen Zugriff bietet dieser neue Text verschiedene weitere interessante Zugänge; erwähnt sei etwa: die Untersuchung der Anredeformen im Rahmen der im 17. Jahrhundert gängigen Normen und vor dem Hintergrund des älteren einfachen Systems bei Thüring, die Untersuchung des recht hohen Fremdwortbestands, die Untersuchung der Kompositabildung, die Untersuchung des Satzbaus,66 die Untersuchung der Mikro- und Makrogliederung mit einer Methode,

61 Polenz: Deutsche Sprachgeschichte, Bd. 2, Kap. 5.6. u. 5.7; einen illustrativen Beleg für die zeitgenössische Diskussion um ein gepflegtes Deutsch liefert Leibniz mit seinem Traktat »Ermahnung an die Teutsche, ihren Verstand und Sprache besser zu üben« (1679; Leibniz: Politische Schriften, Bd. 3, S. 795–820). 62 Vgl. Garth: Sprachgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts, S. 345. 63 Vgl. dazu: Schnyder: Historische Wunder-Beschreibungen, S. 398–402. 64 Das Erzählen in Thürings Werk mit den zahlreichen Anreden an eine Hörerschaft mutet immer wieder sehr stark als körpergebundene Interaktion unter Anwesenden an. Zudem werden gelegentlich und gewiss kalkuliert zur Erzielung von Spezialeffekten auch die Personen der Handlung in diesen Austausch einbezogen. Markantestes Beispiel ist die Anrede des Erzählers an Raimund beim Eintritt der Katastrophe (Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Z. 2041–2049). HWB macht daraus eine Rede Melusines (HWB I.1 [Wf], S. 119); vgl. die eingehende Analyse der Erzählfunktion bei Drittenbass: Aspekte des Erzählens. 65 Vgl. zu den Boethius- und Seneca-Maximen oben, S. 91 und Anm. 51, ferner ist an die Tilgung des Augustinus- und des Susanna-Exemplums (Schnyder: Thüring von Ringoltingen, Z. 3069) zu erinnern. 66 Lötscher hat ein mögliches Vorgehen aufgezeigt. Vgl. Lötscher: Satzbau und narrative Mikrostrukturen in Prosaromanen.

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wie sie Franz Simmler67 für den frühneuhochdeutschen Prosaroman entwickelt hat. Mit der letzten Thematik bewegt man sich schon auf der Grenze zwischen rein sprachsystematischen Ansätzen und solchen, welche diese mit literarisch-narratologischen Aspekten wie jene der Pro- und Analepsen oder der Dialoggestaltung verbinden.

5 Schluss: Zusammenfassung und Ausblick Diese Andeutungen über noch ungelöste Fragen, die HWB dem Interpreten stellt, müssen hier genügen. Abschließend seien die bisher gemachten Beobachtungen zusammengefasst und ein Ausblick auf das weitere Vorgehen gegeben: –– Die HWB, entstanden etwa im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts,68 dürfte – unter Ansetzung der zuvor dargelegten, hier nicht zu wiederholenden Prämissen – aus einer verlorenen Ausgabe von der Wende des 17. zum 18. Jahrhunderts stammen; diese vereinigte Merkmale der Ausgaben ohne Ort-1692 und Nicolai-1692/93. –– Die HWB muss im 18. Jahrhundert die Wahrnehmung des alten Romans weitgehend geprägt haben. Welches Verhältnis zur anderen – geht man von der Zahl der erhaltenen Ausgaben aus – freilich minder bedeutenden Fassung, der ›Sächsischen Überlieferung‹,69 bestand, bleibt noch zu prüfen. Jedenfalls vermittelt die Werkbibliographie den Eindruck, dass die nicht nur laut- und formengeschichtlich, sondern auch stilistisch modernisierte Fassung der HWB im 18. Jahrhundert im Wesentlichen die Weitertradierung des Romans sicherte; dessen Weitergabe in der ›Vulgata‹-Form, wie sie die Ausgaben aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts präsentieren, wäre wohl nicht mehr denkbar gewesen. Ohne die HWB-Version wäre der Roman vermutlich, da für den zeitgenössischen literarischen Geschmack unlesbar geworden, vergessen gegangen.70 –– Im Verhältnis zwischen Thürings Original einerseits (für das wir hypothetisch den Richelschen Erstdruck setzen) und in der HWB andererseits spiegelt sich in extremer Verkleinerung und Verkürzung der Gang der Sprachgeschichte vom älteren Frühneuhochdeutsch zum frühen Neuhochdeutsch, also von einem Deutsch, das in seiner Graphemik und Lexik noch stark regional begrenzt, morphologisch und

67 Vgl. als neuestes Beispiel dieses Ansatzes Simmler: Zur Verbindung sprachwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Methoden (mit Hinweisen auf ältere Arbeiten). 68 Bei der zeitlichen Situierung des Drucks spielt das in Wolfenbüttel HAB, Lm 3b (HWB I.1 [Wf]) eingefügte Exlibris des von 1731–1735 regierenden Herzogs Ludwig Rudolf von Braunschweig-Wolfenbüttel eine gewisse Rolle; vgl. auch Anm. 4. 69 Vgl. Künast / Rautenberg: Die Überlieferung der »Melusine«. 70 Wie dann in der zweiten Jahrhunderthälfte auch die HWB für einen ›progressiven‹ literarischen Geschmack ungenießbar wurde, belegt der übrigens auch den Kolportagehandel illustrierende hübsche Bericht, den Justus Friedrich Wilhelm Zachariae im Nachwort zu seiner ›galanten‹ Neubearbeitung des Stoffes von 1772 gibt. Vgl. Zachariae: Zwey ſchoͤne Neue Maͤhrlein.

Wieder eine »Melusine« – und immer noch nicht genug?  

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syntaktisch dem Mittelhochdeutsch noch nahe stehend auf die Kommunikationsbedingungen der Handschriftenzeit ausgerichtet ist, hin zu einem Deutsch, das auf allen Ebenen – Orthographie, Formenbildung, Satzbau, Textstrukturen (und schließlich: stilistischen Ansprüchen) – der Hochsprache des um 1700 ansetzenden – nach Peter von Polenz – »bildungsbürgerlichen Zeitalters«71 konform ist. Damit verfügen wir über ein Corpus, dessen Wert für die Untersuchung sprachgeschichtlicher Prozesse anhand einer Serie chronologischer Querschnitte schwer zu überschätzen ist. –– Der Plot der alten Melusine ist im Wesentlichen unverändert; zahlreich sind aber Veränderungen im Kleinen. Hier wird der Literaturhistoriker ansetzen müssen, wenn er die neue Version umfassend beurteilen will. Dazu ist er jedoch auf eine Ausgabe angewiesen, die die Vulgata und die Neubearbeitung in einer Synopse gegenüber stellt. Zweckmäßig ist eine Kombination von Transkription und Reprographie; dabei erscheint die HWB nach dem Wolfenbütteler Exemplar (HWB I.1 [Wf]) in reprographischer Wiedergabe, was eine Beurteilung auch der materialen Aspekte der Überlieferung sichert. Seitenweise wird dieser Neufassung die alte Version in inhaltsentsprechender Segmentierung gegenübergestellt; um angesichts des unterschiedlichen Textverlaufs dies zu ermöglichen, ist diese Fassung möglichst vorlagennah zu transkribieren. Die Bilder72 der Leitausgabe (nach aktuellem Stand der Erkenntnisse ist dies der Druck ohne Ort-1692) werden in der Transkription stellengenau reproduziert, die Illustrationen der ›Konkurrenz‹Ausgabe Nicolai-1692/93 erscheinen in einem Anhang. –– Die ›Vulgata‹ auf dem Stand von 1692 und die HWB bilden zwei Glieder einer vom frühen 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart reichenden Überlieferungskette des Romans. Um Vergleiche zwischen den verschiedenen Tradierungsstufen und -formen zu erleichtern, soll eine Kopfleiste der künftigen Edition den Standort der jeweiligen Passage in den heute verfügbaren Ausgaben des Werks anzeigen. –– Die HWB beeinflusst über ihre Aufnahme in Gustav Schwabs Volksbuchsammlung von 1836/37 teilweise die romantisch mitgeprägte Rezeption des Werks im 19. Jahrhundert;73 und über Gustav Schwabs Sammlung bleibt die HWB, wenn auch verdeckt, bis heute wirksam, dies nicht zuletzt in der produktiven Rezeption des Stoffes durch eine lange Reihe von Autoren des 19. und 20. Jahrhunderts.74

71 Polenz: Deutsche Sprachgeschichte, Bd. 2, S. 1 f. u. Sachregister. 72 In dieser Ausgabe hat der Drucker Fremdmaterial (vermutlich aus einem »Magelone«-Zyklus) für die Illustration benutzt; die Bilder haben oft nur sehr ungefähren Bezug zur Stelle im Roman, die sie darstellen sollen; hingegen hat die Annaberger Ausgabe ein »Melusine«-spezifisches Bildprogramm. 73 Vgl. dazu Schnyder: Ein Volksbuch machen. 74 Vgl. dazu Böschenstein: Melusine in der Neuzeit; weiter die Beiträge von Achim Diehr (zur musikalischen Rezeption) und Carmen Stange (zu den »Melusine«-Novellen von Paul Heyse) in Schnyder / Mühlethaler: 550 Jahre deutsche Melusine sowie Steinkämper: Melusine. ― Neuere Arbeiten zur außerdeutschen Rezeption des Mythos bietet Babbi: Melusine.

Krbeſtforſt (Bl. A2v)

vorhanden (Bl. C8v)

Jndy (Bl. F8r)

Voland (Bl. F8r, J7r, K1r)

Cabrerit (Bl. M3r)

Giß (Bl. M4r)

Mellus Jünger (Bl. N5r)

Cadrerie (Bl. N8r)

Krbsfort (Bl. A3v)

Uriens/Gedes-Variante (Bl. D2v)

Jvoy (Bl. G3r)

Voland (Bl. G3v, K2v, K4v)

Cabrerit (Bl. M5r)

Gyß (Bl. M5v)

Melius Jünger (Bl. N6v)

Cadrerie (Bl. O1v)

Liste d. Verwandten d. Joh. v. Mathefelon = ›Vulgata‹ (Bl. O1v)

3

4

5

6

7

8

9

10

11

75 Durch Fehler: Augensprung bei Homoioleteuton.

Abb. 5: Zur Vorlagenbestimmung des Wolfenbütteler Druckes1

Liste ~ ›Vulgata‹ (Bl. N8v)

keine Vorrede

Anordnung von Vor- und Nachwort gem. Erstdruck

Liste der ›Vulgata‹ gekürzt75 (Bl. N5rf.)

Caderic (Bl. N5v)

Melius Jünger (Bl. N2r)

Gyoß (Bl. M2r)

Caperit (Bl. M1r)

Voland (Bl. G2r, J6v J7v)

Jaoy (Bl. G2r)

vorhanden(Bl. D1vf.)

Krbsfort (Bl. A3v)

Anordnung von Vor- und Nachwort gem. Erstdruck

(S. 187) Caderic (oder Caderie) Liste der ›Vulgata‹ gekürzt (S. 188)

Liste = ›Vulgata‹ (Bl. O5vf.)

Melius Jünger (S. 181)

Gyos (S. 169)

Caperit (S. 163)

Roland (S. 104, 130, 133)

Jaoy (S. 94)

vorhanden (S. 50 f.)

Kürbsfort (S. 6)

Anordnung von Vor- und Nachwort gem. Erstdruck

Cadrerie (Bl. O6r)

Melius Jünger (Bl. O2v)

Gyß (Bl. N2v)

Capreit (Bl. N1v)

Roland (Bl. G5v, K7r, L1r)

Jaoy (Bl. G5v)

vorhanden (Bl. D3rf.)

Krbs=Forſt (Bl. A4r)

Anordnung von Vor- und Nachwort gem. Erstdruck

N. Thringer genannt/ gebrtig von Ringeltlingen/ bey Bern (S. 3)

2

N. Thringer genant/ von Rintgeltlingen gelegen bey Bern (Bl. A2r)



N. Thringer genandt/ von Rintgeltlingen/ gelegen bey Bern (Bl. A2r)

1

N. Thringer genandt/ von Rintgeltlingen/ gelegen bey Bern (Bl. A2r)

Ex. HAB Wolfenbüttel

o. O. o. N. 1692

Nürnberg 1672

Hamburg 1649

Annaberg 1692/1693

HWb

Vulgata

Zur Vorlagenbestimmung des Wolfenbütteler Druckes (Auflistung wichtiger Varianten in der Reihenfolge ihres Auftretens in HWb)

96   André Schnyder

Wieder eine »Melusine« – und immer noch nicht genug?  

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6 Quellen- und Literaturverzeichnis 6.1 Quellen und alte Drucke Leibniz, Gottfried Wilhelm: Politische Schriften. Hrsg. vom Zentralinstitut für Philosophie an der Akademie der Wissenschaften der DDR (Sämtliche Schriften und Briefe 4). Bd. 3. Berlin 1986. Müller, Jan-Dirk (Hrsg.): Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten (Bibliothek der frühen Neuzeit 1,1). Frankfurt 1990. Roach, Eleanor (Hrsg.): Le roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan. Édition avec introduction, notes et glossaire (Bibliothèque Française et Romane 18). Paris 1982. Schnyder, André / in Verbindung mit Ursula Rautenberg (Hrsg.): Thüring von Ringoltingen Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. 2 Bde. Wiesbaden 2006. Vincensini, Jacques (Hrsg.): Jean d’Arras Mélusine ou La Noble Histoire de Lusignan. Roman du XIVe siècle. Nouvelle édition critique d’après le manuscrit de la Bibliothèque de l’Arsenal (Lettres gothiques). Paris 2003. [Zachariae, Justus Friedrich Wilhelm:] Zwey ſchoͤne ‖ Neue Maͤhrlein. ‖ als ‖ I. Von der ſchoͤnen Meluſinen; einer Meerfey. II. Von einer untreuen Braut, die der Teufel hohlen ſollen. ‖ Der lieben Jugend, und dem ehrſamen Frauen= ‖ zimmer zu beliebiger Kurzweil, ‖ in Reime verfaſſet. Leipzig, ‖ Jn der Jubilatemeſſe 1772.

6.2 Literaturverzeichnis Assmann, Aleida: Schrift und Autorschaft im Spiegel der Mediengeschichte. In: Wolfgang Müller-Funk u. a. (Hrsg.): Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien. Wien 1996, S. 13–24. Babbi, Anna Maria (Hrsg.): Melusine. Atti del Convegno internazionale Verona, 10–11 novembre 2006 (Medioevi 12). Verona 2009. Bartlome, Vinzenz: Thüring von Ringoltingen – ein Lebensbild. In: Schnyder, André / in Verbindung mit Ursula Rautenberg (Hrsg.): Thüring von Ringoltingen Melusine (1456). Nach dem Erstdruck Basel: Richel um 1473/74. Bd. 2. Wiesbaden 2006, S. 49–60. Besch, Werner u. a. (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1–4). 2., vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. 4 Teilbde. Berlin 1998–2004. Böschenstein, Renate: Melusine in der Neuzeit. In: Müller, Ulrich u. a. (Hrsg.): Verführer, Schurken, Magier (Mittelalter-Mythen 3). St. Gallen 2001, S. 645–661. Drittenbass, Catherine / Schnyder, André (Hrsg.): Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz (Chloe. Beiheft zu Daphnis 42). Amsterdam 2010. Drittenbass, Catherine: Aspekte des Erzählens in der Melusine Thürings von Ringoltingen. Dialoge, Zeitstruktur und Medialität des Romans (Beiträge zur älteren Literaturgeschichte). Heidelberg 2011. Gardt, Andreas: Sprachgesellschaften des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Besch, Werner u. a. (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1). 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. 1. Teilbd. Berlin / New York 1998, S. 332–348. Grimm, Jacob: Kleinere Schriften. 8 Bde. Berlin 1864–1890. Hederich, Benjamin: Gründliches mythologisches Lexicon. Leipzig 1770. [Nachdruck: Darmstadt 1996].

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 André Schnyder

Künast, Hans-Jörg / Rautenberg, Ursula in Verbindung mit Martin Behr und Benedicta Feraudi-Denier (Hrsg.): Die Überlieferung der ›Melusine‹ des Thüring von Ringoltingen: Buch, Text und Bild. Kommentierte Quellenbibliographie, buchwissenschaftliche, sprachwissenschaftliche und kunsthistorische Aufsätze (in Vorbereitung). Lötscher, Andreas: Satzbau und narrative Mikrostrukturen in Prosaromanen des 15. und 16. Jahrhunderts. In: Schwarz, Alexander / Abplanalp, Laure (Hrsg.): Text im Kontext. Anleitung zur Lektüre deutscher Texte der frühen Neuzeit (Tausch 9). Bern 1997, S. 155–170. Müller, Jan-Dirk: Melusine in Bern. Zum Problem der »Verbürgerlichung« höfischer Epik im 15. Jahrhundert. In: Bumke, Joachim u. a. (Hrsg.): Literatur – Publikum – historischer Kontext (Beiträge zur Älteren Deutschen Literaturgeschichte 1). Bern 1977, S. 29–77. Polenz, Peter von: Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (de Gruyter Studienbücher). Berlin / New York. Bd. 1: Einführung, Grundbegriffe, 14. bis 16. Jahrhundert. 2., überarb. u. erg. Aufl. 2000. Bd. 2: 17. und 18. Jahrhundert. 1994. Bd. 3: 19. und 20. Jahrhundert. 1999. Schnyder, André / Mühlethaler, Jean-Claude (Hrsg.): 550 Jahre deutsche Melusine – Coudrette und Thüring von Ringoltingen. 550 ans de Mélusine allemande – Coudrette et Thüring von Ringoltingen. Beiträge der wissenschaftlichen Tagung der Universitäten Bern und Lausanne vom August 2006. Actes du colloque organisé par les Universités de Berne et de Lausanne en août 2006 (Tausch 16). Bern 2008. Schnyder, André: Des Autors Stimme und Schrift. Das Beispiel der Mélusine/Melusine. In: Rubini Messerli, Luisa u. a. (Hrsg.): Stimmen, Texte und Bilder zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit. Voix, textes et images du Moyen-Age à l’aube des temps modernes (Tausch 17). Bern 2009, S. 53–73. Schnyder, André: Ein Volksbuch machen. Zur Rezeption des Melusine-Romans bei Gustav Schwab und Gotthard Oswald Marbach. In: Euphorion 103 (2009), S. 327–368. Schnyder, André: Historische Wunder-Beschreibung von der sogenannten schönen Melusina. Zu einer neu entdeckten Version des Melusine-Romans. In: Drittenbass, Catherine / Schnyder, André (Hrsg.): Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz (Chloe. Beiheft zu Daphnis 42). Amsterdam 2010, S. 383–407. Simmler, Franz: Zur Verbindung sprachwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Methoden bei der Konstitution einer Textsorte »Frühneuhochdeutscher Prosaroman«. In: Drittenbass, Catherine / Schnyder, André (Hrsg.): Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden. Akten der Lausanner Tagung vom 2. bis 4. Oktober 2008 in Zusammenarbeit mit Alexander Schwarz (Chloe. Beiheft zu Daphnis 42). Amsterdam 2010, S. 89–144. Steinkämper, Claudia: Melusine – vom Schlangenweib zur »Beauté mit dem Fischschwanz«. Geschichte einer literarischen Aneignung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 233). Göttingen 2007. Zedler, Johann Heinrich (Hrsg.): Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. 64 Bde. 4 Supplementbde. Leipzig 1732–1754. [Nachdruck: Graz 1961–1964.] http://www.zedler-lexikon.de [01.12.2011].

Frédéric Barbier

Melusine und die Vektorialität des Textes Fées (Belles-Lettr.). Terme que l’on rencontre fréquemment dans les vieux romans & les anciennes traditions. Il signifie une espèce de génies ou de divinités imaginaires [...]. Les fées de nos romans modernes sont des êtres imaginaires que les auteurs de ces sortes d’ouvrages ont employés pour opérer le merveilleux ou le ridicule qu’ils y sèment [...]. Avec ce secours, il n’y a point d’idée folle & bizarre qu’on ne puisse hasarder.1

Zusammenfassung: Für den Buchhistoriker verweist ein gegebener Text auf kein abstraktes Konzept, sondern auf die Konvergenz von Inhalt, materieller Schnittstelle (das Medium bzw. das gedruckte Werk) und der Gesamtheit seiner Präsentation und Rezeption sowie der Praktiken des Vertriebs. Der Text des Melusine-Romans ist nicht durch das gedruckte Wort festgelegt, sondern sein Werdegang ändert sich im Verlauf der Überlieferung. Diese Flexibilität wird in diesem Beitrag mit dem Begriff ›Vektorialität‹ benannt. Im Fall der Melusine lässt sich Folgendes beobachten: Das Werk richtete sich im 15. und 16. Jahrhundert an den königlichen Hof und Adel. In den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts wurde es zur Unterhaltungsliteratur in der Bibliothèque bleue abgewertet. Gleichzeitig entwickelte sich der bibliophile Buchmarkt dahingehend, dass mit Batârde-Schriften gedruckte französische Bücher von wohlhabenden Sammlern gesucht wurden, wie z. B. von Jean-Daniel Huet. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Melusine in den Kanon der sich ausbildenden französischen Nationalliteratur integriert, ehe sie im 19. Jahrhundert Untersuchungsobjekt der universitären Philologie wurde.

1 Produktinnovation und Publizieren in den Volkssprachen Zwei Jahrzehnte nach der von Gutenberg eingeführten sogenannten Innovation in der Buchherstellung wird bereits eine erste Überproduktionskrise in den 1470er Jahren spürbar. Zwar wollte Gutenberg nichts grundsätzlich Neues erfinden, sondern vielmehr das, was schon existierte, nämlich Handschriften, schneller und billiger für die Handschriftenleser reproduzieren. Nach zwei Jahrzehnten aber existierten schon in 16 europäischen Städten Buchdruckereien, die 241 Titel im Zeitraum von 1454 bis 1470

1 Denis Diderot u. a.: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des artes et des métiers. Nouvelle édition. Genève: Pellet, 1777, Bd. XIII, S. 941 f.

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herstellten, was einer Gesamtauflage von vermutlich 100 000 Exemplaren entspricht. Dadurch wurde die Nachfrage des traditionellen Leserpublikums größtenteils abgedeckt, sodass sich die unverkäuflichen Bände bei Buchdruckern und -händlern zunehmend stapelten, wodurch die folgende Überproduktionskrise die finanzielle Basis der ganzen Branche bedrohte.2 In dieser schwierigen konjunkturellen Lage setzte die zweite langfristige Phase eines klassischen Entwicklungsprozesses ein: Nach der Erfindung eines neuen Herstellungsverfahrens folgen Innovationen, die das Produkt selbst betreffen. Ab den späten 1470er Jahren unterschied sich das gedruckte Buch immer mehr von den mittelalterlichen Handschriften und zeichnet sich u. a. durch Titelseite, spezifisches Layout (mit Foliierung und später Paginierung, usw.) sowie durch die Entwicklung der modernen Medialität (u. a. der sogenannten Paratexte und der Intertextualität) aus.3 Überdies wird der Wandel auch inhaltlich spürbar, handelte es sich doch teilweise um neue, für den Buchdruck bestimmte Texte, die verlegt wurden. Zudem wurden immer mehr Bücher mit Illustrationen ausgestattet, und eine eigenständige Buchornamentik entwickelt sich. Die berühmte, in Nürnberg von Anton Koberger im Jahr 1493 gedruckte Schedelsche Weltchronik (Liber chronicarum) kann als Paradigma eines Modells des neuen modernen Buchs gelten. Die Produktionsstatistiken zum 15. Jahrhundert bestätigen die in dieser Hinsicht innovative Rolle einiger Städte wie Nürnberg, Basel oder Augsburg und Lyon. Sie bezeugen gleichfalls eine wachsende geographisch-kapitalistische Konzentration der Buchproduktion in den Handelsstädten von europäischem Rang und in den Händen von einigen großen spezialisierten Unternehmern. Die Statistiken belegen zudem eine Neuorganisation des gesamten literarischen Feldes, u. a. mit dem Aufstieg der modernen Figur des Autors4 und mit ersten Versuchen, die finanziellen Interessen von Buchproduzenten durch Privilegien zu verteidigen (zuerst in Venedig). Der Strukturwandel zur Modernisierung des gedruckten Buchs, des Buchmarkts,5 des literarischen Lebens und der Lesepraktiken entwickelte sich unter dem Druck der bereits genannten ersten Überproduktionskrise. Die retrospektive bibliographische Statistik ermöglicht es, diese Zusammenhänge präziser zu erforschen sowie den gesamten Modernisierungsprozess in seinen Voraussetzungen und Folgen zu thematisieren. Dass die Veröffentlichung von mittelalterlichen Romanstoffen – wie der Melusine 1473/74 in Basel und fast gleichzeitig 1474 in Augsburg6 – durch Buchdrucker und

2 Barbier: L’Europe de Gutenberg. 3 Waquet: Le Paratexte. 4 Barbier: Gutenberg. 5 Barbier: L’invention du marché du livre. 6 Richel-1473/74 und Bämler-1474. – Thüring von Ringoltingen (um 1415–1483) übersetzte im Jahr 1456 den Text der Melusine aus dem Französischen ins Deutsche nach der Vorlage von Coudrette und widmet seine Arbeit Rudolf von Hochberg, Graf von Neuenburg/Neuchâtel. Das Vers-Epos von Coudrette wurde von ihm in Prosa übertragen, und diese deutsche Fassung war Grundlage der

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Buchhändler keine radikale Innovation darstellte, ist offensichtlich: Prosaromane bildeten schließlich einen nicht zu vernachlässigenden Teil der Handschriftenproduktion des späten Mittelalters. Die weitere Verbreitung dieser Texte durch den Buchdruck soll nachfolgend dennoch als ein bedeutsamer Innovationsprozess analysiert werden. Die erste Käuferschaft der Druckerverleger konzentrierte sich vor allem auf Kirche und Universitäten, die sich des Lateins bedienten und auf deren Bedürfnisse die Buchproduktion zunächst ausgerichtet war. Die mechanische Vervielfältigung von Literatur in den Volkssprachen trug folglich die Möglichkeit einer grundlegenden Ausweitung der Buchkultur in sich, die breitere Schichten der spätmittelalterlichen städtischen Gesellschaft erreichen konnte.7 Die Entwicklung hin zu einem anonymen Publikum war in ihren Konsequenzen jedoch viel weitreichender als die Zeitgenossen voraussehen oder auch befürchten konnten. Gleichzeitig stellte sich auf Seiten der Obrigkeiten zunehmend die Frage, ob und mit welchen Mitteln die allgemeine Zugänglichkeit von Literatur für ein breiteres Publikum zu kontrollieren wäre. Das Spannungsfeld zwischen Freiheit und Kontrolle wurde zu einem zentralen Kennzeichen des Buchwesens während des gesamten Ancien Régime und auch noch im 19. Jahrhundert.

2 Ein französischer Sonderweg? Dass die Volkssprache in Frankreich früh eine bedeutende Rolle als Kultursprache spielte, ist den Königen des Landes geschuldet, vor allen Johann II. (Regierungszeit 1350–1364) und seinem Sohn und Nachfolger Karl V. (Regierungszeit 1364–1380). Karl V. gilt als Begründer der Königlichen Bibliothek (Bibliothèque royale), in der Handschriften in französischer Sprache schon 1380 die lateinischen überwogen. Zusätzlich ließ er klassische Texte, besonders die wichtigsten Werke des Aristoteles, von Raoul de Presles und weiteren, mit dem Hof verbundenen Gelehrten aus dem Lateinischen ins Französische übersetzen.8 Nach dem Idealtyp der Königlichen Bibliothek wurden in Frankreich zahlreiche adelige Bibliotheken in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gegründet, die prächtigen Handschriften breiten Raum gewährten, die sich der Hofsprache bedienten und

Druckausgaben. Vgl. Pinto-Mathieu: Le Roman de Mélusine (geht noch davon aus, dass Bämler-1474 der Erstdruck ist); vgl. dagegen auch: Rautenberg: Melusine. – Während der Autor und das Publikum der frühen deutschen »Melusine«-Handschriften »aus dem Adel bzw. der städtischen Oberschicht stammten« (vgl. Steinkämper: Melusine, S. 82), ist dies bei den ersten gedruckten deutschen Ausgaben schon nicht mehr der Fall. Die Leserschaft dieser Drucke umfasste vermutlich breitere gebildete Kreise des Bürgertums in den süddeutschen Städten. 7 Barbier: L’invention de l’imprimerie. 8 Avril / Lafaurie: La Librairie de Charles V.

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häufig mit prunkvollen Miniaturen ausgeschmückt wurden.9 Die anschließenden politisch unruhigen Zeiten während des Kriegs gegen England, innere Unruhen und ein regierungsunfähiger König Karl VI. (Regierungszeit 1380–1422) hatten zur Folge, dass nun das Vorbild einer fürstlichen Bibliothek von den Nebenlinien der Königsfamilie nachgeahmt wurde. Die Sammlungen der Herzöge von Burgund und Berry, beide Brüder des Königs, sind zu den prächtigsten und berühmtesten Bibliotheken Europas zu rechnen und zeichneten sich besonders dadurch aus, dass sie Handschriften in Französisch und besonders französische Romanliteratur sammelten. Philipp der Gute (1396–1467), Herzog von Burgund, war der reichste Mäzen und Bibliophile seiner Zeit; er erwarb eine Bibliothek von etwa 900 Handschriften in seiner Hauptstadt Lille: Ritterromane, Chroniken, Übersetzungen der Klassiker – fast alles auf Französisch. Johann I., Herzog von Berry und Graf von Poitou (1340–1416), spielte eine entscheidende Rolle bei der Befreiung der Provinz Poitou von der englischen Besatzung und ging bald daran, seine gräfliche Residenz Poitiers neu zu erbauen. In Poitiers versammelte sich 1418 das königliche Parlament, und 1431 wurde die Universität von Poitiers gegründet. In der Folge nahm die Stadt eine wachsende Zahl von Studenten, Professoren und Buchproduzenten wie Autoren und Kopisten, später Buchhändler und Buchdrucker (ab 1478/79) auf.10 Der literarische Erfolg des von dem gräflichen Sekretär Jean d’Arras am Ende des 14. Jahrhunderts zum ersten Mal niedergeschriebenen Romans der Mélusine kann aus den politisch-kulturellen Besonderheiten einer Residenzstadt verstanden werden, deren Geschick eng mit dem der königlichen Dynastie verbunden war. Wie bereits angedeutet, änderten sich mit der Zeit die Relationen zwischen Latein und den Volkssprachen nach Einführung des Buchdrucks. Die quantitative Analyse der Inkunabelproduktion liefert hierzu ziemlich präzise Daten, besonders über die geographische und sprachliche Verteilung. Der Anteil der Volkssprachen an der gesamten Buchproduktion erhöhte sich nach 1480 deutlich: 1467 wurden noch 97 % der veröffentlichten Titel auf Latein publiziert, dessen Anteil bis 1492 auf etwa zwei Drittel absank (65 %). Unter den Volkssprachen ist Deutsch die wichtigste mit mehr als 2300 Inkunabelausgaben; danach folgen Italienisch (mit rund 2200 Titeln) und mit deutlicherem Abstand Französisch. Die meisten der 1260 französischen Titel wurden in den letzten beiden Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts gedruckt. Ihr Anteil an der französischen Buchproduktion stieg auf bis zu 30 % an. Darüber hinaus wurde Französisch schon am Ende des Jahrhunderts eine Sprache, die Vorlagen für Übersetzungen in andere Volkssprachen lieferte. Die Rolle des Französischen wurde z. B. deutlich, als das berühmte, ursprünglich auf Deutsch verfasste Narrenschiff von Sebastian Brant in mehrere Volkssprachen am Ende des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts übersetzt wurde. Die französi-

9 Barbier: Représentation, contrôle, identité. 10 Richard: Le Livre à Poitiers.

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sche Fassung fußte zwar noch auf einer lateinischen Vorlage, doch wurde das Narrenschiff nach einer französischen Vorlage zuerst ins Flämische und einige Jahre danach ins Englische übersetzt.11 Überdies hatte die Rezeption der Volkssprache als Hof- und Kultursprache schon bedeutende Folgen für eine standardisierte Gestaltung von Handschrift und gedrucktem Buch in der zweiten Hälfte des 14. und im 15. Jahrhundert. Damit gemeint ist die Bâtarde-Schrift, die ursprünglich wohl von den Kalligraphen und Kopisten verwendet wurde, die in Brügge für die herzoglich-burgundische Bibliothek arbeiteten (z. B. David Aubert). Diese Bâtarde verwendeten nach 1476 alle Pariser Buchdrucker, die in der Volkssprache veröffentlichten, sodass die spektakuläre ›noble‹ Schrift zu einem Kennzeichen der prächtigen Pariser Ausgaben von Romanen und französischen Übersetzungen am Ende des 15. Jahrhunderts wurde. Da die meisten französischen Titel mit dem bestimmten Artikel ›le‹ oder ›la‹ anfangen, stellten die Drucker bzw. Verleger die L-Initiale als Holzschnitte in zahlreichen Varianten her. Zu den berühmtesten Beispielen zählt die Majuskel L, die die Titelseite von Mer des histoires ziert und von Pierre Le Rouge 1488 zum ersten Mal benutzt wurde. Der Holzschnitt wurde danach in Paris, Lyon sowie in Genf nachgeschnitten, um französischsprachige Ausgaben wiederum zu schmücken.12 Die in derselben Tradition von dem Pariser Antoine Vérard publizierten französischen Bücher gelten als Meisterwerke der Buchdruckkunst zur Zeit der Wiegendrucke. Gilbert Gadoffre schlug vor, von einer »kulturellen Revolution« in Frankreich für die Jahre um 1500 zu sprechen.13 Die neue, tief durch das Vorbild des klassischen Altertums geprägte Ästhetik, die sich zu dieser Zeit am königlichen Hof verbreitete, führte zu einer veränderten Wahrnehmung der Batârde-Schrift, die als Kennzeichen eines ›dunklen‹ Mittelalters nach und nach wahrgenommen wurde. Folglich sollte die lateinische Schrift auch für Bücher in französischer Sprache benutzt werden. Das erste epochale Beispiel für diese Schriftumstellung liefert die französische Übersetzung der Schrift De Asse von Guillaume Budé.14 Die Frage des Schriftwandels thematisierte ebenfalls François Rabelais in seinem in Lyon 1534 veröffentlichten Roman Gargantua. Der rückständige Pädagoge des jungen Riesen lehrt ihn, in Fraktur bzw. Gotik zu schreiben, was als ein Kennzeichen des Archaismus des sogenannten ›sophiste en lettres latines‹ von damaligen Lesern verstanden werden sollte: »On lui enseigna un grand docteur sophiste nommé Tubalde Holoferne [...]. Il luy apprenoit à escripre gotticquement et escrivoit tous ses livres, car l’art d’impression n’estoit encore en usaige« (Gargantua, XIV).

11 Barbier: La Nef des fous. 12 Hillard: Histoires de L. 13 Gadoffre: La Révolution culturelle. 14 Guillaume Budé: Summaire ou Epitomé du livre de Asse fait par le commandement du Roy. Paris: Pierre Vidoue für Galliot Dupré, 1522.

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3 Volkssprache und Illustrationen Ein weiteres wichtiges Kennzeichen volkssprachlicher Texte besteht darin, dass sowohl Handschriften als auch Drucke nicht selten mit Miniaturen bzw. mit Holzschnitten illustriert wurden.15 Das erste gedruckte Buch mit Holzschnitten ist der in Bamberg von Albrecht Pfister 1461 veröffentlichte Edelstein von Ulrich Boner, in dem der Text jeder Fabel von einem Holzschnitt begleitet wird.16 Ein Jahr später, 1462, verlegte Pfister seinen illustrierten Ackermann von Böhmen von Johann von Tepl.17 Dieselbe Verbindung von Volkssprache und Bildern finden wir danach in Augsburg, als Günther Zainer 1471 eine deutsche, illustrierte Ausgabe der Legenda aurea des Jacobus de Voragine herausgab. 1474 druckte dann der Augsburger Johann Bämler die deutsche Melusine mit Holzschnitten. Es ist kein Zufall, wenn die Doppelinnovation von Volkssprache und Illustration in denjenigen Städten aufkam, die wie Bamberg und Augsburg keine Universität besaßen und die sich gegen die Konkurrenz anderer Druckerstädte zu behaupten suchten, indem sie neue Wege einschlugen. Die gleichen Beobachtungen wie in Deutschland lassen sich auch in Frankreich machen, wo das Buchgewerbe ebenfalls unter starkem Konkurrenzdruck litt. Die erste Buchdruckerei wurde im Jahr 1470 von Deutschen in der Hauptstadt Paris gegründet, wobei die Rolle der Universität kaum zu überschätzen ist. Die Ausgangslage war grundverschieden in Lyon, wo der Buchdruck durch den aus Lüttich stammenden Guillaume Le Roy drei Jahre nach Paris eingeführt wurde. Lyon war kein wichtiges politisches Zentrum und keine Universitätsstadt, dafür aber der zentrale Handels- und Bankenplatz in Südfrankreich. Um gegen die mächtigen Pariser Kollegen zu bestehen, mussten die dortigen Druckerverleger neue Märkte erschließen. Der Konkurrenzdruck führte folglich zur Produktinnovation. Der erste Titel in französischer Sprache wurde in Lyon in den Jahren 1473/74 publiziert, nämlich das Büchlein Merveilles du monde,18 genauso wie das erste illustrierte Buch mit dem von Julien Macho übersetzten bzw. adaptierten und von Martin Huss 147819 gedruckten Miroir de rédemption de l’humain lignaige.20 Das Buch bezeugt überdies die Rolle von Transferprozessen: Der aus Württemberg stammende Martin Huss hatte zuerst einige Jahre in Basel gearbeitet, wo ein illustrierter Spiegel des menschlichen Behältnisses schon mehrfach erschienen war. Nachdem Huss nach Lyon umgezogen war, nahm er diese Anregung auf, indem er den Text ins Französi-

15 Barbier: Le texte et l’image. 16 Geldner: Die deutschen Inkunabeldrucker, Bd. 1. 17 Kiening: Schwierige Modernität. 18 Les Merveilles du monde. [Lyon: Guillaume Le Roy, um 1473/74] (ISTC im00504600; GW M22932; C 3626). 19 Fau: Dictionnaire des imprimeurs. 20 [Speculum humanae salvationis (franz.)] Le mirouer de la rédemption. [Lyon: Martin Huss?], 1478 (ISTC is00661000; GW M43026).

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sche übertragen und mit ziemlich groben Holzschnitten nach Basler Vorlage illustrieren ließ. Die zweite französische Ausgabe der Mélusine ist ebenfalls illustriert und wurde etwa ein Jahr später von demselben Martin Huss herausgegeben.21 Illustrierte französische Bücher zu publizieren, öffnete derart günstige Verkaufsperspektiven, dass Pariser Druckerverleger nicht nur das in Lyon eingeführte Modell nachahmten, sondern diese Produktion dank des königlichen Hofes und einer vermögenden Kundschaft schnell und beträchtlich weiterentwickeln konnten. Den ersten Pariser Titel in französischer Sprache druckte um 1476/77 Pasquier Bonhomme. Es handelt sich um die dreibändigen Chroniques de France, die als das erste Beispiel eines tatsächlich in echter Bâtarde-Schrift gedruckten Werks gilt.22 Als erster illustrierter Pariser Titel ist eine Werkausgabe von Giovanni Boccaccio anzusehen, die 1483/84 von Jean Dupré veröffentlicht wurde.23 Zu den schönen, von Dupré im 15. Jahrhundert verlegten illustrierten Ausgaben zählt noch die Legenda aurea von 1495.24 Die Frage der Illustration von Prosaromanen zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert wurde von Manuel Braun in einem anregenden Beitrag vor einigen Jahren bearbeitet.25 Braun stellt fest, dass die Mehrheit der im 15. Jahrhundert erschienenen Romane mit Holzschnitten ausgestattet sind, doch werden diese danach und bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts immer seltener illustriert, bevor illustrierte Romane im 18. Jahrhundert wieder häufiger vorkommen. Die Argumentation Brauns, nach der die gedruckten Bilder allmählich aus den Romanen verschwinden, weil die Alphabetisierung zunahm, wiederholt die alte These des illustrierten Buchs als ›Buch der Armen‹. Ein bedeutender Teil der frühen Romanproduktion zielte jedoch auf eine ziemlich wohlhabende und verhältnismäßig gebildete Kundschaft, wie die obigen Ausführungen für Frankreich belegen. Dass die Bilder allmählich verschwanden, ist vielmehr damit zu erklären, dass sich der Status der Romanliteratur veränderte: Der Begriff der Vektorialität erlaubt uns, diesen Strukturwandel näher zu erklären. Dieser hier neu eingeführte texttheoretische Begriff hat drei Dimensionen: (1) Der Text stellt keinesfalls ein geschlossenes Konzept dar (der Diskurs an und für sich), sondern bezeichnet die Artikulation zwischen dem abstrakten Diskurs, der Materialität des Mediums (nämlich des physischen Buchs) und die soziokulturelle Darstellung des Gegenstands und der Praktiken seiner Rezeption. (2) Diese Beziehungen sind nichts fest Gegebenes, sondern sie verändern sich mit der Zeit, je nach Wandel des Mediums. Die physischen Kennzeichen (Buchformat,

21 Jean d’Arras: Histoire de la belle Mélusine. [Lyon: Martin Huss, um 1479] (ISTC ij00218385; GW 12650). 22 Chroniques de France. Paris: Pasquier Bonhomme, 1476 [=1477] (ISTC ic00483000; GW 6676). 23 Giovanni Boccaccio: Des cas et ruyne des nobles hommes et femmes. Paris: Jean Dupré, 1483/84. (ISTC ib00713000; GW 4434.); Barbier: La Capitale des livres. 24 Jacobus de Voragine: La légende dorée. Paris: Jean Dupré und André Bocard, 1493/94. (ISTC ij00155500; C 6492). 25 Braun: Illustration.

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Textumfang, Typographie, Abbildungen, Paratext usw.) sowie Buchpreise geben dem Forscher wesentliche Hinweise über das Funktionieren des Textes als Text. (3) Beziehungsänderungen sind nicht nur zeitlich bedingt, sondern auch räumlich. Ein ›klassischer‹ Text wird z. B. zum ›populären‹ Lesestoff, das Original wird mehr oder weniger adaptiert, die Übersetzung folgt nicht unbedingt der Erstausgabe in der Originalsprache, der Status des Autors kann sich ebenfalls ändern (auch anonym werden). Kurz gesagt: Die Vektorialität beschreibt die notwendige historische Kontextualisierung des schriftlichen bzw. des gedruckten Textes. Die Druckgeschichte der Mélusine illustriert dieses Phänomen in paradigmatischer Weise.26

4 Von ›Distinction‹27 zur Bibliophilie Die Typologie der in französischer Sprache erschienenen Druckproduktion entspricht der Vielfältigkeit der Käufer und der Leserschaft. Innerhalb eines breiten Literaturangebots nahmen die Prosaromane jedoch eine Sonderstellung ein. Ein Teil der Buchdrucker bzw. -händler zielte auf ein wohlhabendes städtisches Bürgertum, das auf Papier gedruckte Exemplare guter Qualität, jedoch ohne außerordentliche Ausstattung bevorzugte. Die Genfer Drucker entwickelten dieses Marktsegment zu einer echten Spezialität: Es erschien dort bedeutende französische Romanliteratur zwischen 1478 und 1500; Henri Delarue28 bemerkt in einem 1924 erschienenen Forschungsbeitrag: »Il est curieux de noter que tous [ces] romans [...] sont des éditions originales qui furent ensuite reproduites à Paris, à Lyon et ailleurs. Voilà [...] une production bien caractéristique et des débuts qui se distinguent nettement de ceux des deux grandes villes de France [Paris und Lyon]«.29 Die Mélusine von Jean d’Arras, die der in Schweinfurt geborene Adam Steinschaber30 in Genf 1478 veröffentlichte, ist das erste Beispiel eines in Französisch gedruckten und mit zahlreichen großen Holzschnitten geschmückten Prosaromans.31 Steinschaber verfügte sicherlich über eine handschriftliche französische Fassung des Textes. Seine Ausgabe muss, vor allem wegen ihrer Illustrationen, als eine Prachtausgabe bezeichnet werden, besonders wenn man die späteren Lyoner Ausgaben zum Vergleich heranzieht. Es ist eine allgemein bekannte Beobachtung, dass diese wie

26 Bouquin: Les Aventures d’un roman médiéval. 27 Bourdieu: Die feinen Unterschiede. 28 Delarue: La vie littéraire. 29 Zitiert nach Lökkós: La production des romans. 30 Haebler: Die deutschen Buchdrucker; Geldner: Die deutschen Inkunabeldrucker, Bd. 2. 31 Jean d’Arras: Histoire de la belle Mélusine. Genf: Adam Steinschaber, 1478 (ISTC ij00218380; GW 12649). Vgl. dazu auch den Beitrag von Nicolas Bock in diesem Band.

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auch spätere Mélusine-Ausgaben nur in wenigen Exemplaren überliefert sind. Die Mehrheit der Kundschaft bestand aus privaten Laienlesern, deren Bücher eher selten in Bibliotheken religiöser oder weltlicher Institutionen eingegliedert wurden. Einige bedeutende Pariser Werkstätten spezialisierten sich jedoch auf die Produktion von prachtvollen Handschriften und gedruckten Büchern, die die Nachfrage des königlichen Hofs und der mächtigsten Mitglieder des Hochadels befriedigten, wobei illustrierte französische Romane einen bedeutenden Teil ausmachen. Bei Antoine Vérard wurden die für den König hergestellten Luxusexemplare auf Pergament gedruckt und mit eingemalten Miniaturen geschmückt. Zwischen 1485 und 1512 veröffentlichte Vérard mehr als 300 Titel, die häufig prachtvoll illustriert sind. So gab er 1489 die erste Ausgabe des Tristan noch ohne Illustrationen heraus. Die Nachfrage nach diesem Werk war so groß, dass er drei weitere Ausgaben folgen lassen konnte. Die zweite Ausgabe in zwei Bänden war bereits mit Illustrationen ausgestattet. Die ehemaligen Besitzer bezeugen den Wert des Werks, denn es befinden sich darunter Personen des Hofstaats und höchste königliche Beamte. So wurde es u. a. spätestens 1496 vom Herzog Charles d’Orléans erworben. Das Werk ist heute sehr selten: Bibliotheken in Kopenhagen, Paris und Turin besitzen jeweils nur einen Band, während das einzige komplette Exemplar in der Stadtbibliothek von Châteauroux zu finden ist.32 Wir wissen leider nichts über den Erstbesitzer; 1581 kaufte es jedoch Nicolas Moreau, »seigneur d’Auteuil«. Für den königlichen Finanzier aus dem Beamtenadel war der Besitz einer prunkvollen Bibliothek ein unentbehrliches Zeichen seines politischen und sozialen Erfolgs. Der Tristan von Châteauroux wurde 1737 von einer Gräfin de Luynes erworben, danach wechselte er in den Besitz von Joseph Antoine Crozat (1751) und Louis-Jean Gaignat (1769), um am Ende wieder zu den La Vallière zurückzukehren.33 Eine neue Entwicklung setzte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ein, als Bibliophile und Büchersammler ›gotische‹ Einbände und Inkunabeln als Sammelobjekte entdeckten.34 Der Mediävist und Bibliophile Antoine Le Roux de Lincy (1806–1869) schreibt in seinem Vorwort zum Catalogue des livres [...] de feu M. Armand Cigongne, dass die großen französischen Bibliophilen des 16. Jahrhunderts und des beginnenden 17. Jahrhunderts noch kein Interesse an Romanliteratur und kleinen belletristischen Texten des späten Mittelalters und der beginnenden Neuzeit gehabt hätten.35 Nach Le Roux de Lincy lässt sich z. B. in den berühmten Bibliotheken des adeligen Kunstliebhabers Jean Grolier de Servières (1479–1565) und des Geschichtsschreibers und Staatsmanns Jacques-Auguste de Thou (1553–1617) kein einziger Titel dieser Textsorte nachweisen. Ebenso thematisierte Gabriel Naudé das Thema an kei-

32 Barbier: La Capitale des livres, S. 94 f., Nr. 41. 33 Barbier, S. 94 f., Nr. 41. 34 Vgl. z. B. Varry: Quand l’incunable paraît. 35 Leroux de Lincy: Catalogue des livres.

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ner Stelle in seinem programmatischen, zum ersten Mal 1627 erschienenen Advis pour dresser une bibliothèque.36 Die Interessen der Büchersammler verschoben sich allerdings in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, vielleicht unter dem Einfluss aus den Nachbarländern, der mit den ersten großen englischen und holländischen Bücherversteigerungen eingesetzt haben könnte. Der 1626 in Rouen geborene Émeric Bigot war ein Freund des Schriftstellers Gilles Ménage und unternahm mehrere Reisen nach England, Deutschland und Italien.37 Seine reiche Handschriften- und Büchersammlung zählte mehr als 16 500 Titel. Der 1706 erschienene Auktionskatalog enthält als einer der ersten in Frankreich mehrere Titel von Drucken in französischer Sprache, die für ein breites Lesepublikum gedruckt worden waren. Georg Wilhelm von Hohendorf, ehemaliger kaiserlicher Statthalter in Kortijk (Courtrai), sammelte eine schöne Bibliothek, in der Wiegendrucke und Bände des frühen 16. Jahrhunderts einen bedeutenden Platz einnahmen. So erwarb er systematisch die Drucke von Antoine Vérard.38 Diese neue Ausrichtung der Bibliophilie ist ablesbar an Pariser Bücherauktionen von bedeutenden Büchersammlungen mit populären französischen Drucken im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts. Beispielhaft zu nennen sind die Versteigerungen der folgenden Bibliotheken: Cisternay Du Fay (1725), der Grafen von Toulouse in Rambouillet (1726), Chatre de Cangé (1733), der Grafen von Hoym (1738), der Fürsten von Isenghien (1756), der Grafen von Lauraguais (1780) und schließlich der Herzöge von La Vallière (1783).39 Die Neuausrichtung lässt sich auch anhand der Bibliothek von Jean-Baptiste Colbert (1619–1683) nachweisen. Dieser war der Sohn eines reichen Großhändlers von Reims und lernte in einem Lyoner Bankhaus, ehe er 1645 seine Karriere in der französischen Verwaltung aufnahm. 1661 folgte er dem Kardinal Jules Mazarin als sogenannter »ministre d’État« in Diensten des jungen Königs Ludwig XIV. Der mächtige Minister pflegte mit besonderer Aufmerksamkeit die königliche Bibliothek, doch ließ

36 Gabriel Naudé: Advis pour dresser une bibliothèque présenté à Monseigneur le Président de Mesme […]. Paris: François Targa, 1627. 37 Bibliotheca Bigotiana, seu Catalogus librorum quos congessere Johannes, Nicolaus & Ludovicus Emericus Bigotii. Paris: Gabriel Martin u. a., 1706. 38 Bibliotheca Hohendorfiana, ou Catalogue de la bibliothèque de feu M. Georges Guillaume baron de Hohandorf, […]. La Haye: Abraham De Hondt, 1720. 39 Bibliotheca Fayana […]. Paris: Gabriel Martin, 1725, S. 281; Catalogus librorum bibliothecœ illustrissimi viri C. H. Comitis de Hoym, etc., digestus et descriptus à Gabriele Martin, etc. Paris: Gabriel Martin, [o. J.]; Catalogue de la bibliothèque du chasteau de Rambouillet, appartenant à Son Altesse Sérénissime Monseigneur le comte de Toulouse. Paris: Gabriel Martin, 1726; Catalogue des livres de Monsieur **** [le prince d’Isenghien]. Paris: Gabriel Martin, 1756, S. 82; Catalogue des livres du cabinet de Monsieur *** [Châtre de Cangé]. Paris 1733, S. 93; Catalogue d’une collection de livres choisis, provenant du cabinet de Monsieur * [le comte de Lauraguais]. Paris: Guillaume Debure, 1780; Catalogue des livres de la bibliothèque de feu M. le duc de La Vallière. Première partie […]. 3 Bde. Paris: Guillaume Debure, 1783.

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er durch Étienne Baluze eine eigene Bibliothek in seinem Pariser Hôtel an der »rue des Petits Champs« aufbauen. Die ›Colbertiana‹ wurde schließlich zwischen 1728 und 1732 versteigert: Colbert besaß u. a. das heute in der Pariser Bibliothèque Mazarine aufbewahrte Exemplar der Genfer Mélusine von 147840 – ferner besaß der Minister das schöne Dresdener Exemplar des französischen Narrenschiffes von 1497/98, das sich später in der Bibliothek der Grafen von Hoym findet.41 Als weiteres Beispiel eines Pariser Verlegers, der sich auf die Herstellung von prachtvollen Büchern an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert spezialisierte, sei Jean Petit genannt. Petit bestellte um 1498 bei dem Drucker Pierre Le Caron eine neue Ausgabe der Histoire de la belle Mélusine von Jean d’Arras. Von dieser Ausgabe existieren nur noch die Exemplare in der Pierpont Morgan Library in New York und im Dobrée Museum in Nantes. Das Exemplar in Nantes ist wegen seiner Provenienzgeschichte ebenso bemerkenswert wie der Châteaurouxer Tristan.42 Um 1800 gehörte der Band einem der berühmtesten englischen Sammler, nämlich John III., Duke of Roxburghe. Nach der Versteigerung der Bibliothek der Herzöge von Roxburghe im Jahr 1812 kam die Mélusine nacheinander in mehrere große englische Sammlungen, um schließlich in die Bibliothek von Victor Masséna, Herzog von Rivoli und Fürst von Essling (1838–1910), eingegliedert zu werden, der vor allem als Spezialist für venezianische, illustrierte Bücher der Renaissance bekannt ist.43

5 Zwischen Elite und Volk Neben Werken wie der Histoire de la belle Mélusine kann das Beispiel des berühmten Compost et calendrier des bergers uns darüber aufklären, wie ein Text verschiedene Lektüremodelle im Laufe der Zeit durchläuft. Der 1491 zum ersten Mal veröffentlichte und prächtig illustrierte Compost wurde von dem Pariser Buchhändler und -drucker Guy Marchant zusammengestellt.44 Es handelt sich dabei um eine Art Kompendium von Anleitungen für das alltägliche Leben. Der finanzielle Erfolg kann daran abgelesen werden, dass wir heute noch acht Pariser und zwei Genfer Inkunabelausgaben kennen. Der Verleger kombinierte französische Texte unterschiedlicher Herkunft mit sehr gepflegtem Bildschmuck nach demselben Muster, das für die Handschriften des

40 Hillard: Catalogues régionaux, Bd. 6, Nr. 1126. 41 Sebastian Brant: [Das Narrenschiff (franz.)] La nef des folz du monde. Paris: [Jean Lambert oder Félix Baligault für] Geoffroy de Marnef, Johann Philippi de Cruzenach und Magnus Steyner, [nicht vor Dez. 1497 / zwischen 8. März und 15. April 1498] (ISTC ib01094000; GW 5058). 42 Torchet: Catalogues régionaux, Bd. 5, Nr. 518. 43 Masséna, Les livres à figures vénitiens. 44 Compost et kalendrier des bergiers. Paris: Guy Marchant, 2. Mai 1491 (ISTC ic00053800; GW 5906).

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königlichen Hofes und des Hochadels seit Langem verwendet wurde. Dass der Compost als ›populär‹ betrachtetes Wissen veröffentlicht wurde, trotzdem aber auch für die Hof- bzw. Elitenkultur attraktiv war, beweisen erhaltene Exemplare, unter denen einige der königlichen Bibliothek angehörten.45 Henri-Jean Martin untersuchte als erster in Frankreich das Problem des theoretischen Zusammenhangs zwischen ›populären‹ und ›gebildeten‹ Lesestoffen, vor allem in einem 1975 im Journal des savants erschienenen kulturhistorisch-theoretischen Beitrag.46 Die Hypothese, die wir formuliert haben, verbindet die Publikations- und Rezeptionsgeschichte französischer Texte zur Zeit des Buchhandels des Ancien Régime mit der radikalen Aktualisierung der wissenschaftlichen Theorien und der belletristischen Modelle in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Zuerst entwickelte sich der Compost zu einem bemerkenswerten Erfolg der Pariser Verleger, der danach von einigen Buchhändlern bzw. -druckern in der Provinz übernommen wurde: so u. a. in Rouen, besonderes erfolgreich seit 1529 in Troyes und seit 1597 auch in Lyon. Diese ersten ›provinzialischen‹ Ausgaben wurden zunächst noch für eine wohlhabende Leserschaft publiziert, bis der Compost in diesen Kreisen als veraltet betrachtet wurde. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts überarbeiteten die Buchdrucker und -händler in Troyes die veralteten und seit Langem nicht mehr aktualisierten Erfolgswerke des Pariser Buchhandels. In der neuen Gestaltung als ›Volksbücher‹ brachten sie Prosaromane in der Reihe der berühmten Bibliothèque bleue auf den Markt. Diese Bibliothèque bleue bildet keine echte Buchreihe im engeren Sinn des Wortes, sondern die Bezeichnung leitet sich von der Umschlaggestaltung ab, die in der Regel blaue Farben bevorzugte. Die bekannteste Druckerdynastie in Troyes war die Familie Oudot, die seit dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts in diesem spezifischen Marktsegment die größte Aktivität entfaltete. Daneben sollte auch noch die Familie Garnier genannt werden. Dass die spätmittelalterlichen Romane einen bedeutenden Platz in der Bibliothèque bleue einnehmen, ist allgemein bekannt. Die Mélusine wurde in Frankreich mindestens sechzehnmal während des 16. Jahrhunderts verlegt, vor allem von Pariser Buchhändlern, aber auch in Lyon in den Druckereien von Olivier Arnoullet sowie von Benoît Rigaud. Darunter ist die wichtigste Ausgabe diejenige von Nicolas Bonfons, die nach 1573 in Paris gedruckt wurde,47 da sie als Muster für mehrere spätere Ausgaben der Bibliothèque bleue diente. Um 1624 erschien in Troyes bei Nicolas Oudot (1565–1636) eine illustrierte Mélusine. Insgesamt sind zehn Neuausgaben des Werkes in Troyes bis zum Ende des 17. Jahrhunderts (1699) bekannt. Zwei weitere Ausgaben

45 Z. B. Compost et kalendrier des bergiers. Paris: Guy Marchant, 18. Juli 1493 (ISTC ic00055000; GW 5909). 46 Martin: Culture écrite. 47 Öhlund-Rambaud: Bonfons.

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wurden am Anfang des 17. Jahrhunderts in Rouen gedruckt und eine weitere 1644 in Lyon bei Jean Huguetan.48 Die Gründe, die zu diesem ›Abstieg‹ der älteren Romanliteratur in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts führten, zu benennen, ist dennoch schwierig. Mehrere Aspekte dürften eine Rolle gespielt haben, die zuerst die Materialität des Buchs betreffen. Es handelt sich um Werke, die auf schlechtem Papier mit veralteten Schriften gedruckt und mit abgenutzten Holzschnitten anstatt mit neuen Illustrationen in der Kupferstichtechnik illustriert wurden. Ein weiterer Faktor dürfte eine Rolle gespielt haben: Mit der Gründung der »Académie française« im Jahr 1635 begann die französische Krone wissenschaftliche, literarische und künstlerische Projekte systematisch zu entwickeln und für ihre Herrschaft zu nutzen. Der Absolutismus erreichte seinen Höhepunkt unter König Ludwig XIV., der sich im französischen Buchdruck und -handel dadurch bemerkbar machte, dass das Gewerbe unter strenge Kontrolle gestellt wurde. Des Weiteren wurde die zeitgenössische französische Literatur als vorbildlich kanonisiert, was notwendigerweise zu einem geringeren Ansehen der älteren Literatur des Mittelalters und der Renaissance führte. Die Hausierer waren die üblichen Händler und Vertreiber der Bibliothèque bleue, sodass ›populäre‹ Bücher sich nicht nur durch ihren typischen Inhalt auszeichnen, sondern auch durch ihre Materialität und Absatzwege. In ähnlicher Weise funktionierte in Spanien die Verbreitung der »literatur de cordel« und ist beispielsweise heute noch in Brasilien zu beobachten.

6 Von der Bibliophilie zur Wissenschaft Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts spielte – neben veränderten Sammlungsinteressen – ein neu erwachtes Interesse für angeblich traditionelle Volksliteratur und -märchen in Frankreich eine wesentliche Rolle bei der Vektorialisierung der Mélusine als Text. In diesem Zusammenhang ist an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert auf eine geistesgeschichtlich wichtige Debatte zu den Vorbildern für zeitgenössische Literatur und Kunst zu verweisen, die unter dem Namen »Querelle des Anciens et des Modernes« bekannt ist. Der ursprünglich reformierte, doch später katholische Bischof Pierre Daniel Huet (1630–1721) beteiligte sich mit dem 1670 erschienenen Traité de l’origine des romans an dieser Kontroverse.49 Bemerkenswert ist, dass Huet selbst mehrere Ro-

48 Jean d’Arras: Mélusine, nouvellement imprimée. Troyes: Nicolas Oudot, 1677; Morin: Catalogue descriptif. 49 Pierre Daniel Huet: Traité de l’origine des romans. In: Jean Regnault de Segrais: Zayde. Histoire espagnole. Paris: Claude Barbin, 1670. – 2. Ausgabe: Lettre de Monsieur Huet à Monsieur de Segrais de l’origine des romans. Paris: Sébastien Mabre-Cramoisy, 1678. Vgl. auch Œuvres de Mesd. de La Fayette et de Tencin, précédées d’Observations sur la vie et les écrits de madame de La Fayette

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manausgaben besaß, unter denen auch ein Exemplar der in der Bibliothèque bleue erschienenen Mélusine nouvellement imprimée zu finden war, die 1677 von Nicolas Oudot in Troyes verlegt wurde.50 Das Interesse für die älteren ›Geschichten‹ (›histoires‹) und für die volkstümliche und zum großen Teil ländliche Tradition (›contes‹) wuchs in breiteren Schichten einer gebildeten Kundschaft, nämlich bei den neuen Eliten in Beamtenschaft und am französischen Hof. 1688 publizierte das Akademiemitglied Charles Perrault (1628–1703) seine berühmten Parallèles des anciens et des modernes, in denen er den Vorrang der ›Modernen‹ verteidigte. Ein Jahrzehnt später, 1697, veröffentlichte derselbe Perrault seine Histoires et Contes du temps passé, avec des moralitez, denen ein großer Erfolg in ganz Europa im 18. Jahrhundert beschieden war.51 Das ganze 18. Jahrhundert wurde folglich durch eine Vorliebe geprägt, die zu einer besseren Integration der alten ›Volksliteratur‹ in die Kultur der privilegierten Leser führen sollte, besonders unter Wissenschaftlern und Gelehrten. Es ist bekannt, wie Johann Wolfgang von Goethe die vergessene Tradition des Doktor Faustus nach der Anregung durch eine zufällig in Straßburg gesehene Straßentheatervorstellung reanimiert hat. In Frankreich wurde 1783 eine neue Reihe gegründet, nämlich die Pariser Nouvelle Bibliothèque bleue. Der Verleger Jean de Castilhon erklärte in seinem fast durch ethnologischen Geist geprägten Vorwort zum ersten Band der Reihe, worin der Roman Robert le Diable publiziert wurde: Il paraîtra sans doute bien singulier qu’on ait pris la peine de rajeunir des ouvrages qui depuis plus de deux siècles sont abandonnés au peuple; des romans que la plus mince bourgeoise n’oserait se vanter d’avoir lus, non pas à cause du style et du langage […] mais précisément parce qu’ils ont fait l’amusement de la plus vile populace […]. Madame de N… sonna sa femme de chambre et lui demanda l’Histoire de Pierre de Provence. La soubrette étonnée se fit répéter jusqu’à trois fois, et reçut avec dédain cet ordre bizarre: il fallut pourtant obéir: elle descendit à la cuisine, et rapporta la brochure en rougissant […].52

Der Erwartungshorizont dieser privilegierten ›vorromantischen‹ Leserschaft, die sich für einen Teil des populären Lesestoffes interessierte und die ›Philosophen‹ der Aufklärung kritisierte, verstärkte sich in den letzten Jahrzehnten des Ancien Régime. Nachdem die französische Revolution ausgebrochen war, erklärte der berühmte Abbé Grégoire (1750–1831), dass die älteren kleineren Drucke in französischer Sprache, die in kirchlichen und adeligen Bibliotheken beschlagnahmt wurden, schmucklos seien.

par Delandine, et d’un Traité sur l’origine des romans [par Huet]. 3 Bde. Paris: Gaspard-Joseph Cuchet, 1786. 50 Jean d’Arras: Mélusine, nouvellement imprimée, Troyes: Nicolas Oudot, 1677; Dougnac: Un évêque bibliophile. 51 Soriano: Les Contes de Perrault. 52 Jean de Castilhon (Hrsg): Histoire de Robert le Diable, duc de Normandie. Paris: Fournier 1783, S. 3 f.

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Doch könnten sie einen großen finanziellen und wissenschaftlichen Wert für die gesamte Nation besitzen: Comment se défendre d’une juste indignation, quand pour justifier le brûlement, on vient nous dire que ces livres sont mal reliés? […] Beaucoup de bibliothèques de moines mendians, auxquelles certaines gens attachent très peu d’importance, renferment des éditions du premier âge de l’imprimerie (telle est celle des ci-devant récolets de Saverne). Ces éditions sont d’une cherté excessive, et les exemplaires dont nous parlons n’ayant jamais été dans le commerce sont parfaitement conservés. Ce sont des livres de ce genre qui composoient la bibliothèque d’un Mr Paris, dont les Anglais ont fait imprimer le catalogue et qu’on eut la mal-adresse de laisser sortir de France. Tel livre, qui n’étoit encore évalué ici qu’à quelques écus, s’est vendu 125 guinées à Londres. Observons aux brûleurs de livres et aux nouveaux iconoclastes, plus fougueux que les anciens, que certains ouvrages ont une grande valeur par leurs accessoires. […] Des miniatures même peu soignées, des culs de lampes mal dessinés, des reliures chargées de figures informes ont servi souvent à éclairer des faits historiques, en fixant les dates, en retraçant des instrumens de musique, des machines de guerre, des costumes dont on ne trouvoit dans les écrits que des descriptions très imparfaites […].53

Zu den bedeutenden Pariser Sammlern des 19. Jahrhunderts gehörte Armand Cigongne (1790–1859), der sich auf Ausgaben der Bibliothèque bleue spezialisierte. Von ihm berichtet Le Roux de Lincy, dass er alle Titel von älteren Prosaromanen erworben hatte, mit Ausnahme eines Exemplars des Alexandre. Allerdings besaß Cigongne eine mit 83 Miniaturen geschmückte Handschrift des Werks. Er nannte eine außerordentlich hohe Zahl von Verlagswerken von Vérard und weiteren Pariser Druckerverlegern sein Eigen, unter denen sich auch ein Exemplar einer Mélusine befand, die von Nicolas Bonfons am Ende des 16. Jahrhunderts publiziert worden war.54 Die letzte Phase der Vektorialisierung setzte in Frankreich im 19. Jahrhundert ein, als der Literaturhistoriker und -kritiker Charles Nisard (1808–1890) seine Histoire des livres populaires ou de la littérature de colportage in zwei Bänden veröffentlichte.55 Für Nisard wie für seine Zeitgenossen bildete die Kolportageliteratur des 19. Jahrhunderts das Paradigma der ›gefährlichen Volksliteratur‹. Dieselbe Ansicht übertrug er auch auf die Vorläufer dieser literarischen Produktion, ohne zu sehen, dass es sich mindestens bis zum 17. Jahrhundert um einen Anachronismus handelt. In gleicher Weise dachten auch Henri Monceau56 und der Pariser Verleger und Buchhändler Anatole Claudin, die die Druckproduktion des 15. Jahrhunderts für Massenliteratur

53 Henri Grégoire: Rapport [au Comité d’Instruction publique de la Convention nationale] sur les destructions opérées par le vandalisme et sur les moyens de les réprimer […]. Séance du 14 fructidor l’an second […]. Paris: Imprimerie nationale, [an II]. 54 Leroux de Lincy: Catalogue des livres, Nr 1885: L’Histoire de Mélusine, fille du roy d’Albanie, et de madame Pressine, reveu et mis en meilleur ordre que par cy devant. Paris: Nicolas Bonfons, [ohne Jahr]. (mit einem Einband von Bauzonnet). 55 Nisard: Histoire des livres. 56 Monceaux: Les Le Rouge de Chablis.

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hielten. Monceau schrieb z. B., dass der Compost das Vorbild für Volksalmanache gewesen sei, der als illustriertes Buch von den Pariser Buchdruckern in den 1480er Jahren für ein vermutlich ländliches Publikum hergestellt worden sei.57 Claudin nannte auch den Pariser Totentanz von 1485 ein Massenprodukt: »En 1485, le 28 septembre, Guy Marchant met aujour son premier livre illustré, la Danse macabre [...]. Cette publication, qui s’adressait aux masses et parlait aux yeux par l’image, s’épuisa rapidement. Guy Marchant en prépara presque aussitôt une nouvelle édition [...]«.58 Um die Analyse weiter zu führen und zu präzisieren, sollten wir eine Typologie der Texte aufbauen, vor allem im Hinblick auf die verschiedenen Umstände ihrer potentiellen Rezeption. Einerseits eignen sich für eine sogenannte extensive Lektüre Werke, die normalerweise in ihrem vollen Umfang gelesen werden, wie beispielsweise Romane, und andererseits Wörterbücher und Enzyklopädien, aber auch Texte wie z. B. Brants Narrenschiff. Insgesamt verändern sich die Texte nach mehreren Gesichtspunkten, die immer miteinander kombiniert sind. Hier wollen wir zum Schluss nur die vier wichtigsten betonen. Erstens bewegt sich der Text als Text: Zwischen verschiedenen Handschriften oder gedruckten Ausgaben werden immer Textvarianten beobachtet, die manchmal auch bedeutungsvoll sein können. Doch handelt es sich in der Mehrheit der Fälle sozusagen um externe Varianten, das heißt um Varianten, die durch externe Gründe bestimmt werden. Manchmal will der Autor oder der Verleger, dass das Buch vor der Buchmesse erscheint, manchmal hat der Drucker nur ein bestimmtes Exemplar des Textes zur Verfügung usw. Kurzum: Der Text ist zwar ursprünglich das Produkt der Arbeit des Verfassers, aber er ist auch als ein Ergebnis der verschiedenen Logiken zu verstehen, die zu jeder Zeit in der Buchwirtschaft eine Rolle spielen. Zweitens ändert sich der Text im Sinne eines ›zu lesenden Textes‹ jeweils nach den verschiedenen materiellen Formen des Buchs bzw. des Mediums. Die von HenriJean Martin zum ersten Mal vorgeschlagene Theorie der sogenannten »mise en livre / mise en texte« beweist, dass vor allem die Typographie, die Seitengestaltung, die möglichen Abbildungen sowie alle Elemente der sogenannten Paratextualität den Inhalt und den Leseprozess immer stark beeinflussen. Drittens bewegt sich der Text auch durch die Zeit, wie das Beispiel von den mittelalterlichen französischen Romanen es uns beweist: Ein Text, der zuerst für den Adel und für die Hofgesellschaft geschrieben wurde und meistens die spektakuläre Form einer prunkvollen Handschrift annahm, wird zur Zeit des gedruckten Buchs nach und nach weiter verbreitet, doch immer bei einer wohlhabenden Kundschaft. In den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts verwandelt sich diese mittelalterliche Unterhaltungsliteratur zu den bekanntesten Texten der Volksliteratur der neuen sogenannten Bibliothèque bleue. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verbreitet

57 Nisard: Histoire des livres. 58 Claudin: Histoire de l’imprimerie, S. 336.

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sich schließlich die Vorstellung, es handele sich um veraltete Volksliteratur, weshalb dieselben alten Romane, die in Volksausgaben bis zum ersten Weltkrieg noch verbreitet werden, auch von den Philologen und Literaturwissenschaftlern erneut studiert und herausgegeben werden. Und viertens bewegt sich der Text auch durch den Raum: Ein Text, der in einer bestimmten Sprache zum ersten Mal verbreitet wurde, wie z. B. das deutsche Narrenschiff von Sebastian Brant, wird übersetzt (in diesem Fall zuerst auf Latein). Doch die Übersetzung stellt eine umfassende Bearbeitung des Originals dar, mit einem neuen Layout, gegebenenfalls mit neuen Abbildungen, für eine mehr oder weniger andere Kundschaft, usw. Da die Leserschaft nicht die gleiche ist, ändert sich auch der Text: Eine moralische Dichtung für die städtische deutsche Bürgerschaft wird zum Lesestoff einer wohlhabenden und gegebenenfalls adeligen Kundschaft, oder umgekehrt: Ein adeliger Lesestoff wird zum Kennzeichen der Volksliteratur. Kurz: Die Texte in sich bilden Forschungsobjekte nicht nur für die Philologie, sondern auch für die Geschichte im Allgemeinen, und der Begriff der Vektorialität erlaubt dem Forscher, die Mobilität und die Verwandlungen des Textes durch den Raum und durch die Zeit weiter zu erklären.

7 Literaturverzeichnis Avril, François / Lafaurie, Jean (Bearb.): La Librairie de Charles V. Paris 1968. Barbier, Frédéric: Représentation, contrôle, identité: les pouvoirs politiques et les bibliothèques centrales en Europe, XVe–XIXe siècles. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 26 (1999), H. 2, S. 1–22. Barbier, Frédéric: L’Europe de Gutenberg. Le livre et l’invention de la modernité occidentale (XIIIe–XVIe siècle). Paris 2006. Barbier, Frédéric: Aux XIIIe–XVe siècles: l’invention du marché du livre. In: Revista portuguesa de história do livro 20 (2007), S. 69–95. Barbier, Frédéric: La Nef des fous au XVe siècle: un projet de recherche. In: Histoire et civilisation du livre. Revue internationale 3 (2007), S. 341–349. Barbier, Frédéric (Hrsg.): La Capitale des livres. Le monde du livre et de la presse à Paris du Moyen Âge au XXIe siècle. Paris 2007. Barbier, Frédéric: Gutenberg et la naissance de l’auteur. In: Gutenberg-Jahrbuch 83 (2008), S. 109–127. Barbier, Frédéric: L’invention de l’imprimerie et l’économie des langues en Europe au XVe siècle. In: Barbier, Frédéric (Hrsg.): Les Langues imprimées (Histoire et civilisation du livre. Revue internationale 4). Genève 2008, S. 21–46. Barbier, Frédéric: Le texte et l’image: quelques observations sur le livre imprimé à l’aube de la période moderne. In: Costa, Sandra (Hrsg.): La Gravure et l’histoire. Les livres illustrés de la Renaissance et du baroque à la conquête du passé. Grenoble 2010, S. 9–33. Bouquin, Hélène: Les Aventures d’un roman médiéval: éditions et adaptations de l’Histoire de Mélusine de Jean d’Arras (XVe–XIXe siècle). Paris 2000. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. 21. Aufl. Frankfurt a. M. 2011.

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Buch und Text

Martin Behr

Ein Text wird in Ketten gelegt Der Wandel transsyntaktisch kohäsionsstiftender Verknüpfungsmittel in der Überlieferung der »Melusine« vom 15. bis zum 17. Jahrhundert Zusammenfassung: Der Beitrag fokussiert Konstanz und Varianz von kohäsions-

stiftenden, transsyntaktische Bezüge herstellenden sprachlichen Mitteln in der Überlieferung der Melusine als Textsortenvertreter des ›Frühneuhochdeutschen Prosaromans‹ im Zeitraum von 1473/74 bis 1692/93, in dem 33 Druckausgaben dieses populären Textes mit mindestens einem überlieferten Exemplar nachgewiesen werden konnten. Während einerseits viele Untersuchungsphänomene innerhalb des Untersuchungszeitraums stabil bleiben, können andererseits bestimmte Veränderungen auf mikrostruktureller Ebene belegt werden, die auf eine Verschiebung der Textproduktion vom Nähepol (konzeptionelle Mündlichkeit) hin zum Distanzpol (konzeptionelle Schriftlichkeit), von einer aggregativen zu einer integrativeren Textkonstruktion deuten. Der Nachweis wird insbesondere anhand der Untersuchung der Wiederaufnahme inhaltlicher Textelemente und der koordinierenden Verknüpfung parataktischer Teilsätze mit dem Konnektor ›und‹ vorgenommen. Aber auch makrostrukturelle Entwicklungen wie die Disambiguierung der Phorik der Überschriften werden zur Unterstützung der These herangezogen. Ein kurzer Blick über den Untersuchungszeitraum hinaus in die Melusine-Ausgaben des 18. Jahrhunderts und deren Textorganisation zeigt einen radikalen Bruch mit der vorherigen Texttradition, der sich in einer komplexeren, konzeptionell schriftsprachlichen Syntax und variableren, durch Fremdwortschatz und Wortbildung angereicherten Lexik widerspiegelt. Parallel zur Forschung zum Magelone-Prosaroman vollzieht sich im 18. Jahrhundert in der Melusine-Überlieferung ein Textsortenwandel.

1 Einleitung – Gegenstandsbereich und Zielsetzung Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Wandelerscheinungen kohäsionsstiftender Merkmale des Textes eines relativ stabilen Textsortenvertreters des ›Frühneuhochdeutschen Prosaromans‹ vom 15. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts.1 Dabei wird für

1 Die Untersuchung des Wandels der materiellen Gestaltung des Buchkörpers, des Layouts, der Inhalts- als auch Ausdrucksseite des Textbestandes, der Illustrationen und ihrer Interaktion mit dem Text innerhalb der »Melusine«-Überlieferung des Zeitraums 1473/74 bis 1878 führt beim

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diesen Zeitraum von der Zugehörigkeit des Textes der Druckausgaben der Melusine des Thüring von Ringoltingen zur Textsorte ›Frühneuhochdeutscher Prosaroman‹ ausgegangen. Auf mikrostruktureller Ebene wird der Versuch unternommen, strukturelle Kennzeichen des Textes zu beschreiben, um die Bündelung und Integration solcher Einzelmerkmale mit an anderer Stelle erarbeiteten Textsortenspezifika2 zu einer charakteristischen Merkmalskomplexion der Textsorte leisten zu können. Denn Textsorten werden je nach Forschungsausrichtung »als grammatisch geformte Einheiten, als semantisch-inhaltlich geprägte Phänomene, als situativ bestimmte Einheiten oder als kommunikative Einheiten«3 definiert. Nach Heinemann sollten jedoch die verschiedenen Ebenen der Textsortenbeschreibung stets im Rahmen eines Mehrebenen-Modells integriert werden.4 Der folgende Beitrag versucht für die Melusine als Vertreter der Textsorte ›Frühneuhochdeutscher Prosaroman‹ über den »sicherste[n] Zugang«, die »wohl grundlegendsten Textualitätskriterien, die Kohäsion und die Kohärenz«,5 empirisch überprüfbare Ergebnisse zu liefern. Nach der Definition Franz Simmlers zeichnet sich der ›Frühneuhochdeutsche Prosaroman‹ durch folgende Merkmale aus:6 Externe Merkmale: –– durch Bürger in adligem Auftrag für adliges Publikum verfasst –– mit oder ohne Vorlage –– handschriftlich fixiert, im Druck verbreitet Interne Merkmale: –– primäre Funktion: Unterhaltung –– Makrostruktur aus Incipit, Vorrede, Kapiteln mit Titulus und Illustration, Kolophon –– Temporalsätze und Temporaladverbien in Spitzenposition –– Teilsätze mit ›verbum dicendi‹ und direkter Rede in Endposition

Übergang vom 17. in das 18. Jahrhundert einen klaren, überlieferungshistorischen Traditionsbruch vor Augen. Am Ende des Beitrages werden kontrastiv zur Überlieferung des 15. bis 17. Jahrhunderts einige Grundzüge der Veränderungen in den Ausgaben des 18. Jahrhunderts genannt werden. Eine detaillierte Aufarbeitung dieses Textsortenwandels ist an anderer Stelle geplant. 2 Diese finden sich für den ›Frühneuhochdeutschen Prosaroman‹ etwa in Buschinger: Prosaroman; Kästner / Schütz / Schwitalla: Textsorten; Simmler: Syntaktische Strukturen; Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung; Roloff: Stilstudien; zur Interaktion Text-Bild vgl. Domanski: Melusine; Ott: Überlieferung, Ikonographie; Ott: Leitmedium Holzschnitt; Saurma-Jeltsch: Textaneignung in der Bildersprache. 3 Gansel / Jürgens: Textlinguistik und Textgrammatik, S. 57. Vgl. dazu auch Heinemann: Textsorten, S. 12–14. 4 Vgl. Heinemann: Textsorten, S. 15 f. 5 Gaberell: Probleme einer deutschen Textsortengeschichte, S. 159. 6 Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 467.

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–– lineare und parataktisch organisierte Abfolge von Teilsätzen –– lexikalisch: besondere Auswahl und Frequenz von Zeitadverbien und ›verba dicendi‹ Diese bereits erarbeiteten Merkmale der Textsorte des ›Frühneuhochdeutschen Prosaromans‹ decken sich mit dem Befund für die frühe Drucküberlieferung der Melusine. Von der ›editio princeps‹ (1473/74) bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts lassen sich die Drucke der Melusine dieser Textsorte zuordnen.7 In den folgenden Ausführungen sollen die Untersuchungsergebnisse zu den textsortenkonstituierenden Merkmalen der parataktischen Verknüpfung mit dem Konnektor ›und‹ sowie die sprachliche Gestaltung von referenzidentischen Textbausteinen dargestellt werden. Ebenso berücksichtigt der Beitrag die Stärkung der Textkohäsion durch Vereinheitlichung der phorischen Bezugsrichtung der Überschriften. Ein vergleichender Ausblick auf die Ausgaben des 18. Jahrhunderts rundet den Beitrag ab. Für die Untersuchung des Textwandels auf der Ebene der transsyntaktischen Verknüpfung wurde eine Beschränkung auf bestimmte Ausgaben der Überlieferung vorgenommen, die von ihrer/ihren Vorlage/n besonders stark abweichen. Nach der Verortung der einzelnen Ausgaben innerhalb der Stemmatologie der Melusine-Überlieferung konnten bestimmte Überlieferungsgruppen herausgearbeitet werden, innerhalb derer der Text ausgehend von einer Ausgabe ohne signifikante Abweichung überliefert wurde. In der Inkunabelzeit sollen die beiden Überlieferungsstränge anhand der Ausgaben Richel-1473/74 und Bämler-1474 kontrastiert werden. Die oberrheinische Inkunabelüberlieferung erfährt keine weitere Tradierung, da der Straßburger Drucker Matthias Hupfuff 1506 den Text der Augsburger Inkunabeln als Grundlage für seine Textbearbeitung wählt. Diese neue Textversion übernimmt Johann Knobloch d. Ä. 1516 für seinen Melusine-Text nur teilweise und ergänzt bzw. ersetzt den Hupfuff-Text unter Rückgriff auf ältere Augsburger Vorlagen. Heinrich Steiner greift in seinen Ausgaben primär auf Knobloch-1516, aber auch auf die älteren Ausgaben Johann Bämlers zurück.8 Ab Mitte des 16. Jahrhunderts verlagert sich die Tradierung der Melusine von Augsburg und Straßburg nach Frankfurt. Aus den neun Ausgaben dieser Überlieferungsgruppe wurden die Ausgaben Han-1562, die im Vergleich zu den Vorgängerausgaben Textkürzungen aufweist, und die letzte Ausgabe im 16. Jahrhundert, Feyerabend-1587, ausgewählt. Egenolff-1578 steht exemplarisch für die Sondergruppe Müller-Egenolff, die auf Steiner-1543 zurückgeht und sich insbesondere durch lexikalische Veränderungen und Textkürzungen auszeichnet. Die Ausgabe Pfeiffer-1649 stellt eine neue Textform dar, deren Herkunft und Entstehung aufgrund der Überlieferungslücke nicht vollständig bestimmt werden kann, aller-

7 Zwei Spätausläufer dieser Texttradition finden sich in einer unfirmierten »Melusine«-Ausgabe des Jahres 1739 (ohne Ort-1739) und einer undatierten Ausgabe, die mit Frankfurt / Leipzig firmiert ist (Frankfurt I). 8 Untersucht wurde der letzte der vier »Melusine«-Drucke Heinrich Steiners aus dem Jahr 1543.

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dings v. a. aus der Frankfurter Texttradition hervorgeht. Gleiches gilt für Endter-1672, der aus einer Frankfurter Ausgabe des 16. Jahrhunderts und Pfeiffer-1649 kompiliert sowie in die Textformulierung eingreift. Diese Ausgaben wurden auf oben genannte kohäsionsstiftende Elemente hin untersucht (vgl. Abb. 1).

Richel-1473/74

Bämler-1474

Oberrheinische Inkunabelüberlieferung: 6 Ausgaben bis 1491 (Knoblochtzer-1478)

Augsburger Inkunabelüberlieferung (Schönsperger-1488) um 1500

Hupfuff-1506 Knobloch-1516 Steiner-1543 Müller-Egenolff-1577–1580 (Egenolff-1578)

Gülfferich-1549 (Han-1562)

Frankfurter Überlieferung: 9 Ausgaben bis Feyerabend-1587 Überlieferungslücke 1587–1648 Pfeiffer-1649 Nicolai-1692/93 ohne Ort-1692 Frankfurt/Leipzig-? ohne Ort-1739

Endter-1672

um 1700 HWB

* Durchgezogene Pfeile stehen für primäre, nachweisbare Abhängigkeiten, gestrichelte Pfeile für sekundäre, teilweise nicht sicher nachweisbare Abhängigkeiten. Abb. 1: Wichtige Stationen der Überlieferungsgeschichte der »Melusine« im 15. bis 17. Jahrhundert (Darstellung des Autors)

Ein Text wird in Ketten gelegt  

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Als Materialgrundlage diente ein Textausschnitt im Umfang von etwa 7000 Wörtern aus jeder untersuchten Melusine-Ausgabe.9 Bei Referenzidentität innerhalb der untersuchten Textausschnitte wurde die Wiederaufnahme eines einmal eingeführten Inhaltswortes bzw. Textelements und dessen Wandel im Fortlauf der Drucküberlieferung der Melusine untersucht. Nach Adamzik lassen sich Kohäsionsmittel grob in zwei Gruppen einordnen, »nämlich einerseits der Rekurrenz, der Wiederkehr bestimmter Elemente, andererseits der Konnexion, expliziten Verknüpfungsmitteln wie insbesondere Konjunktionen.«10 Im Bereich der ersten Gruppe besteht die Ausgangshypothese darin, dass zunächst ein hoher Grad an Rekurrenz durch Wiederholung desselben Substantivs bzw. derselben Nominalphrase vorherrscht, der allmählich durch Ersetzung der wiederkehrenden Textelemente durch Pronomina oder andere Pro-Formen (Pronominalisierung) abgebaut wird. Alle im Text auftretenden Referenzen auf Personen oder Orte, beginnend bei ihrer Erstnennung im untersuchten Textausschnitt, wurden auf Basis des Standards der ›Text Encoding Initiative‹ (TEI) in XML annotiert und ausgewertet. Die Abfrage der Daten erfolgte über XSL-Transformationen. Erstnennungen eines Referenzpunktes wurden mit dem Element annotiert und mit dem Attribut ›xml:id‹ versehen. Jede weitere Referenz auf diesen zuvor (oder auch danach) eingeführten Referenten wird als Segment einer Referenzkette auf einen Aktanten der Handlung durch das Element ausgezeichnet, das über das Attribut ›corresp‹ mit der Erstnennung verlinkt ist. Zusätzlich dazu erhält jedes Segment ein eigenes ›xml:id‹-Attribut, in dem die Art der Wiederaufnahme spezifiziert wird, also Pronominalisierung (Pro), Rekurrenz (Rek), partielle Rekurrenz (parRek), Substitution (Sub) oder elliptische Wiederaufnahme (Ell).

9 Diese Angabe bezieht sich lediglich auf automatisch generierte Angaben zu Einheiten von Zeichen, die nicht durch Leerzeichen getrennt sind. Ein linguistisch definierter Wortbegriff ist hier nicht intendiert, die Angaben dienen lediglich der quantitativen Verortung des Umfangs der untersuchten Textausschnitte. Der Umfang des Textausschnittes variiert zwischen den verschiedenen Überlieferungsgruppen: Oberrheinische Inkunabelüberlieferung etwa 6250 bis 6500 Wörter, Augsburger Inkunabelüberlieferung etwa 7200, Sondergruppe Müller-Egenolff etwa 7000 und 6800 in den Ausgaben des 17. Jahrhunderts. Anfangskapitel: »Wie reymond vnd meluſinē botſchaft kam vō iren zweien ſu̓nen vriēs vnd gyot das ſy beyde zuͦ ku͛nig gekroͤnet worent. Endkapitel (inklusive): Wye die hochzyt volbrocht wart doch on tantzē vmb des ku͛niges todes willē doch wart geſtochē vn̄ hielt ſich reynhart gar ritterlichē.« Die Titulusformulierungen sind der ›editio princeps‹ Richel-1473/74 entnommen. Die Tituli finden sich dort auf Bl. c10b und e7a. Bei der Auswahl wurden die Kriterien Fujiis befolgt. So wurde nach Lagen differenziert und kein Ausschnitt der Anfangs- oder Endlage des Druckes gewählt. Vgl. Fujii: Günther Zainers druckersprachliche Leistungen. 10 Adamzik: Textlinguistik, S. 140; vgl. dort generell zu Kohäsionsmitteln S. 139–144. Der zweite Bereich der Kohäsionsmittel, die Konnexion, wird in Abschnitt 2.2 anhand der Konjunktion ›und‹ untersucht. In der Duden-Grammatik werden Rekurrenz und Substitution als Merkmale der Kohärenz eines Textes (vgl. Dudenredaktion: Duden – Die Grammatik, §§ 1900 f.) und Pronominalisierung als Kohäsionsmittel (vgl. Dudenredaktion: Duden – Die Grammatik, §§ 1818–1831) behandelt. Im Folgenden werden diese Phänomene nach Adamzik als Kohäsionsmittel gewertet.

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Annotationsbeispiel aus Richel-1473/74 (Bl. d1a): die zuͦgent mit ſtarckem volck gen brytanien vnd dannen gen lu̓czel= burg das ſelbe hatt d’ ku͛nig vō eylſas mit macht belegē vnd beſeſſē vnd hatt es ouch ſunder zwifels vber houpt gewonnen

Die Erstnennungen lu̓czelburg und d’ ku͛nig vō eylſas werden mit dem Element ausgezeichnet, jede folgende Referenz auf diese beiden Textbausteine mit dem Element (lu̓czelburg → das ſelbe, es; d’ ku͛nig vō eylſas → vnd hatt). Dabei wird über die Attribute ›corresp‹ und ›xml:id‹ der Bezugspunkt sowie die Art der Wiederaufnahme spezifiziert. Über XSLT können im Anschluss die Kohäsionsketten zu einzelnen Personen- oder Ortsnamen im Text, wie z. B. dem König von Elsass oder der Stadt Prag, abgefragt werden und intereditorial miteinander verglichen werden. Anhand eines Ausschnitts einer Gegenüberstellung von Kohäsionsketten der Ausgaben Schönsperger-1488 (links) und Hupfuff-1506 (rechts) wird das Vorgehen deutlicher:

d’ großmächtig keſer auß d’ Tűrckej

der groß mechtig key/ſer vß der Türckey

der tűrckiſch keſer (f5b/TA7)

der Tür kyſch keyſer (Gla/TA7)

der Tűrckiſch keſer (f5b/TA7)

v kam (Gla/TA7)

der genannt Tűrckiſch keſer (f5b/TA7)

der genāt Thürckiſch keiſer (G1b/TA7)

* Zur Blattangabe wurde stets hinzugefügt, ob sich ein Beleg innerhalb eines Textabschnittes (TA) oder eines Titulus (Tit) findet. Die obigen Belege finden sich alle in demselben Textabschnitt (TA 7), sind also nicht durch einen Titulus und Holzschnitt voneinander getrennt. Abb. 2: Ausschnitt aus einer Kohäsionskette zum Referenten ›Der türkische Kaiser‹ aus zwei verschiedenen »Melusine«-Ausgaben (Darstellung des Autors)

Die obige Prämisse, dass die Melusine-Ausgaben des 15. bis 17. Jahrhunderts einer Textsorte angehören, soll im Folgenden an einigen Textmerkmalen überprüft werden. Für welchen Zeitraum lässt sich die Melusine in die Gruppe der ›Frühneuhochdeutschen Prosaromane‹ einordnen? Ab welchem Zeitraum liegt ein Textsortenwandel vor bzw. liegt überhaupt ein Textsortenwandel innerhalb der Überlieferung der Melusine vor? Bleiben die Kohäsionsmerkmale der Wiederaufnahme und parataktischen Verknüpfung konstant? Wird zunehmend pronominalisiert und Rekurrenz vermieden? Wird durch Substitution das Stilideal der ›variatio‹ angestrebt? Tritt ein höherer Grad

Ein Text wird in Ketten gelegt  

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der Verschriftlichung des Textes, d. h. eine Verschiebung vom Nähe- zum Distanzpol, ein?11 Die mediale Überführung des oralen Erzählstoffes von der Melusine in die Schriftlichkeit wurde bereits lange vor der Übersetzung durch Thüring von Ringoltingen 1456 geleistet.12 Bei der Aufzeichnung verändert sich sodann neben der medialen Komponente auch das konzeptionelle Profil der Diskurstradition, die durch »schriftgestützte Elaborierung«13 an sprechsprachlicher Dynamik verliert. Die zentrale Hypothese dieses Beitrags nimmt den Wandel des konzeptionellen Profils der Drucküberlieferung der Melusine von 1473/74 bis 1692/93 auf textueller Ebene in den Fokus.14 Als konzeptionell schriftlich gilt einerseits das Betreiben »einer planungsintensiven Textphorik« sowie »erhebliche Variation bei der Substitution koreferenter Ausdrücke«.15

2 Transsyntaktisch kohäsionsstiftende Merkmale der »Melusine« 2.1 Sprachliche Gestaltung referenzidentischer Satzglieder Der Vergleich der Referenzketten der beiden ersten Ausgaben der Überlieferungsstränge der Inkunabelzeit unterstützt die These, dass diese aus verschiedenen Handschriftentraditionen hervorgehen, da in Richels Druck im untersuchten Textausschnitt lediglich 60, in Bämler-1474 dagegen 65 Handlungsträger eingeführt werden. Daher werden die beiden Inkunabelstränge gesondert voneinander behandelt. In der oberrheinischen Überlieferung stellt die Ausgabe Knoblochtzer-1478 die stärkste Textbearbeitung seit Richel-1473/74 dar, sodass diese beiden Ausgaben innerhalb dieses Strangs die Vergleichsgrößen bilden. Bei 60 in Richel-1473/74 untersuchten im Text

11 Koch / Oesterreicher: Schriftlichkeit und Sprache, S. 587 definieren Verschriftlichung als »rein konzeptionelle Verschiebungen in Richtung Schriftlichkeit«, die im Gegensatz zum Terminus Verschriftung steht, der sich auf die »rein mediale Umsetzung vom phonischen ins graphische Medium« bezieht. Zur Definition konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit bzw. des Nähe- und Distanzpols vgl. Koch / Oesterreicher: Schriftlichkeit und Sprache, S. 587 f. Zu Würdigung und Kritik des Nähe-Distanz-Modells von Koch und Oesterreicher vgl. Ágel / Hennig: Theorie des Nähe- und Distanzsprechens, S. 11–15. 12 Die durch Ágel / Hennig: Theorie des Nähe- und Distanzsprechens, S. 15 aufgestellten Bedingungen zur Charakterisierung mündlicher kommunikativer Praktiken treffen für den gedruckten deutschsprachigen »Melusine«-Roman nicht zu. 13 Koch / Oesterreicher: Schriftlichkeit und Sprache, S. 593. 14 Zur konzeptionellen Dynamik von Diskurstraditionen vgl. Koch / Oesterreicher: Schriftlichkeit und Sprache, S. 593 f. 15 Koch / Oesterreicher: Schriftlichkeit und Sprache, S. 590.

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eingeführten Inhalten, die insgesamt 925 Belege der Wiederaufnahme nach sich ziehen, tritt in Knoblochtzer-1478 im Vergleich zu Richels Druck lediglich in zwei Fällen Pronominalisierung auf: die fu̓rſtin (Bl. d10a) > ſy (Bl. e2a), dem ku͛nige (Bl. e5b) > jm (Bl. e6b). Ansonsten treten Unterschiede ausschließlich durch Kürzung auf, wie etwa in den Fällen reynhart von lußinien (Bl. d2b) > Reinhart (Bl. d5a), Anthoni der fu͛rſte vō lu̓tzelburg (Bl. e7b) > Antoni (Bl. e8a), tu̓rckē ſchleuē vnd heidē (Bl. d10b) > Heiden (Bl. e3a), den erſchlagenen ku̓nig von behem (Bl. e1a) > den Kunig (Bl. e3a). Diese Tendenz kennzeichnet die Ausgabe Knoblochtzer-1478, in der der Textumfang aus produktionsökonomischen Überlegungen heraus bewusst reduziert wurde. In der Augsburger Inkunabelüberlieferung der Melusine ist die Ausgabe Schönsperger-1488 von Bämlers Ausgaben abhängig, weicht aber auch ab. Schönsperger erhöht an vier Stellen die Dichte der Kohäsion, indem er Pronomina einfügt, wo sie formal und semantisch nicht notwendig wären. So wird der Inhalt (R)Ey̋mundē v͡n Meluſina ſeinē gemahel in Schönsperger-1488 umgehend wieder durch das Pronomen den aufgenommen, bei Bämler nicht: (R)Ey̋munden vn̄ ſeinem gemahel Me= luſina (den) kamen bottſchafft.16 Ebenso werden in Schönspergers Druck in Teilsätzen komplexer Sätze Subjektrealisationen eingefügt, die bereits realisiert sind und nicht mehr explizit genannt werden müssten. Dies spricht für einen zunehmenden Grad der Aggregation, was einer Bewegung vom Distanzpol zum Nähepol der Kommunikation entspricht.17 Derartige Konstruktionen weisen Ágel und Hennig in ihrer auf dem Nähe-Distanz-Modell von Koch und Oesterreicher basierenden Weiterentwicklung der Theorie des Nähe- und Distanzsprechens auf den Ebenen der universalen Diskursverfahren und -merkmale für den Zeitparameter als aggregative Strukturierung bzw. aggregative Satzstrukturen dem Nähesprechen zu.18 Andererseits nimmt Schönsperger an zwei Stellen auch gegenteilige Veränderungen vor, indem er Proformen entfernt, wo sie nicht zwingend notwendig sind. Abgesehen von diesen Veränderungen wird lediglich an einer Stelle statt Rekurrenz Pronominalisierung verwendet:

16 An dieser Stelle ist relativ zweifelsfrei auszuschließen, dass die Form für das Temporaladverb ›dann‹ steht, da im gesamten untersuchten Textausschnitt stets bzw. in vier Ausnahmefällen für nhd. ›dann‹ gesetzt werden. Die Graphien bzw. stehen in eindeutig zu interpretierenden Fällen ausnahmslos für den Artikel. 17 Der Terminus ›Aggregation‹ bezieht sich auf die Anordnung sprachlicher Elemente als eigenständige Entitäten innerhalb einer Struktur, während der Gegenpol der ›Integrativität‹ die kohäsivstrukturelle Organisation sprachlicher Elemente bezeichnet. Zum Terminus ›Aggregation‹ vgl. Ágel / Hennig: Theorie des Nähe- und Distanzsprechens, S. 26–30 sowie Ágel: Grammatische Aufklärung. In Ágel / Hennig: Theorie des Nähe- und Distanzsprechens, S. 28 wird die Gegensätzlichkeit von Integrativität/Systemraum und Aggregativität/Aggregatraum durch ein Beispiel, das den in Schönsperger-1488 beobachteten Syntagmen ähnlich ist, veranschaulicht. Als aggregatives Beispiel wird das Syntagma »mein vatter der hat früher« angeführt, wohingegen »mein Vater hat früher« das Gegenstück am Pol der Integrativität darstellt. 18 Vgl. Ágel / Hennig: Theorie des Nähe- und Distanzsprechens, S. 18–23.

Ein Text wird in Ketten gelegt  

Bämler-1474: Schönsperger-1488:

ein koſtlich male ein koſtlichs male

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> dz mal (Bl. e7a) > das (Bl. f4b)

Abgesehen von diesen wenigen Veränderungen in Schönsperger-1488 bleibt der Text der Augsburger Inkunabelüberlieferung in Bezug auf die Wiederaufnahme eingeführter Textelemente stabil. Bei der Textbearbeitung Matthias Hupfuffs wird neben der bei Schönsperger bereits angedeuteten Tendenz, Formen des bestimmten Artikels als Proformen einzuschieben, erstmals auch Pronominalisierung in größerem Maße erkennbar. Die folgenden Übersichten (Abb. 3, 4 und 5) zeigen die Veränderungen zwischen Schönsperger-1488 und Hupfuff-1506. Schönsperger-1488

Hupfuff-1506

1

Anthonius (Bl. e5b)

er (Bl. F1b)

2

den heiden tűrcken vnd ſchlauen (BI. f8a)

yn (Bl. G2b)

3

die zwen gebrder (BI. g3a)

die (Bl. G5b)

4

Der kűnig (BI. g4a)

Er (Bl. G6a)

5

dē kűnig (BI. g5a)

im (Bl. G6b)

6

»die junckfrawē Eß = glantine« (BI. g5a)

»ir« (Bl. G6b)

7

Reinhart d’ new kűnig (BI. g5a)

der (Bl. H1a)

Abb. 3: Pronominalisierung in Hupfuff-1506 (Darstellung des Autors)

Bei der Umarbeitung des Textes durch Hupfuff ist im Vergleich zu den Inkunabelausgaben eine Tendenz zu stärkerer Pronominalisierung zu erkennen. In fünf Fällen wird zur Verdichtung der Kohäsion eine zuvor fehlende Proform eingefügt. Auch wird der Textkitt gestärkt, indem die parataktischen Reihen gekürzt und neu angesetzt werden (Abb. 4, 1–3; 8). Die redundante Wiedernennung eines Referenten, die häufig der Mündlichkeit anhaftet, wird durch elliptische Wiederaufnahme ersetzt (Abb. 5). Substitution bzw. lexikalische Varianz erscheint lediglich an einer Stelle.19 Die bewusste Stärkung der Textkohärenz in der Offizin Matthias Hupfuffs soll zusätzlich exemplarisch an einer Stelle verdeutlicht werden. In Schönsperger-1488 heißt es auf Bl. e3b: Reymund vnd Meluſina […] Vnd bawet Meluſina ein ſchoͤne | kirchen genant zuͦ vnſer lieben frawen Porte= | naw vnd vil ander kirchen vnd capellen gott | vnd vnſer lieben frawen • zuͦ lob vnd zuͦ eren • | Vnd ſÿ verheÿratent iren ſune Gedeon •

19 Schönsperger-1488: die heiden vn̄ die tűrck=en (Bl. f6a) > Hupfuff-1506: die vnglaͤubigē (Bl. G1b).

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 Martin Behr

Schönsperger-1488

Hupfuff-1506

1

vnd griffen (Bl. e4b)

ſy (Bl. E6b)

2

v begӣden (Bl. e5a)

Die (Bl. F1b)

3

baten (Bl. e7a)

Die (Bl. F2b)

4



der (Bl. F5a)

5



ſy (Bl. G2b)

6



der (Bl. G3b)

7



»d’« (Bl. G6a)

8

vnd bereitet ſich (Bl. g5a)

der (Bl. G6b)

9



der (Bl. H1b)

Abb. 4: Einfügen einer Proform in Hupfuff-1506 (Darstellung des Autors)

Hier bezieht sich der zweite HS auf die weiter vorne genannte Phrase Reymund und Meluſina, nicht auf das unmittelbar zuvor genannte Subjekt Meluſina. Hupfuff-1506 gestaltet die Bezüge in dieser Passage enger (Bl. E6b): Reymund vnd Meluſina […] vnd bauet Meluſina ein ſchoͤne kirchē genante zu͛ vn | ſer lieben frawen zu͛ Portenaw. vn̄ vil ander kirchen vn̄ capellen got | vnd vnſer lieben frawen zu͛ lob vn̄ zū ere. Vnd ſy vermaͤhlet iren ſun | Gedeon

Die Texte der im 16. Jahrhundert auf Hupfuffs Ausgabe folgenden Ausgaben Knoblochs und Steiners gehen nicht ausschließlich auf Hupfuffs Bearbeitung zurück. Daher finden sich nicht alle Veränderungen wieder, die Hupfuff bei der Wiederaufnahme referenzidentischer Bezugsgrößen vorgenommen hatte. Abgesehen von einigen wenigen Abweichungen, die auf die Bämler-Schönsperger-Tradition rückverweisen, begegnet in Steiner-1543 jedoch größtenteils das Kohäsionsmuster des Hupfuff-Textes. Bewusste Setzung von Pronomina zur Vermeidung von Rekurrenz tritt lediglich an einer Stelle bei der Wiederaufnahme der Stammesbezeichnung Porteninger auf, die in Hupfuff-1506 dreimal hintereinander verwendet wird. In Steiner-1543 wird bei der zweiten Nennung statt die Porteniger (Bl. F1a) das Personalpronomen ſie (Bl. G4a) gesetzt. Ansonsten wird die bei Schönsperger und Hupfuff stark gebräuchliche grammatisch-funktional überflüssige, sprechsprachliche Setzung von fokussierendem pronominal gebrauchtem Artikel wie im Beispiel (R) Eymunden vnnd Meluſina ſeynem gemahel den kam botſchafft an einigen Stellen wieder zurückgenommen. Diese Tendenz lässt sich auch bei Egenolffs Ausgaben erkennen. Die Ausgaben der Sondergruppe Müller-Egenolff weichen von den Kohäsionsketten bei Steiner-1543 nur in seltenen Fällen (4), die durch Textkürzung bedingt sind, ab. An einigen Stellen der koordinierten parataktischen Reihung mit Subjektausspa-

Ein Text wird in Ketten gelegt  

Schönsperger-1488

Hupfuff-1506

1

er (Bl. e4a)

vnd het (Bl. E6b)

2

die (Bl. e7b)

ſagten (Bl. F3a)

3

er (Bl. f3a)

vnd erſeüfftzet. v ſaget (Bl. F6a)

4

die (Bl. f8a)

vnd ſprachen (Bl. G2b)

5

ſy (Bl. g3b)

v ſprachen (Bl. G5b)

6

er (Bl. g6a)

v ſchickt (Bl. H1b)

7

er (Bl. g6a)

v het (Bl. H1b)

8

er (Bl. g6b)

v wolt (Bl. H1b)

9

d’ ſelb rſe (Bl. g6b)

vnd verwſt vnd verhert (Bl. H1b)

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Abb. 5: Tilgung einer Proform in Hupfuff-1506 (Darstellung des Autors)

rung wird bewusst eine Proform zur Verdeutlichung der Bezüge eingesetzt.20 Pronominalisierung zur ökonomischeren Textgestaltung und Steigerung der ›variatio‹ tritt nicht auf. In der weiteren auf Steiners Text beruhenden Überlieferung wird in der formalen Wiederaufnahme eingeführter Inhalte innerhalb der etwa 7000 Wörter umfassenden Textausschnitte ebenso wenig geändert. Zum Vergleich wurden die Ausgaben Han-1562 und Feyerabend-1587 herangezogen, die hohe Kongruenz mit den Referenzformen in Steiner-1543 aufweisen. Der Text und dessen Kohäsion im Bereich referenzidentischer Bezugsgrößen erweist sich auch am Ende des 16. Jahrhunderts noch als sehr stabil und von weiteren Pronominalisierungen seit Hupfuff-1506 nicht betroffen. Danach folgt eine Überlieferungslücke von 60 Jahren (1588 bis 1648).21 In der ersten überlieferten Ausgabe des 17. Jahrhunderts, Pfeiffer-1649, tritt zunehmende Substitution oder Pronominalisierung weiterhin kaum auf. In drei Fällen wird der als Demonstrativpronomen gebrauchte bestimmte Artikel getilgt. Alle anderen Abweichungen vom Kohäsionsmuster in Feyerabends Ausgabe sind auf die Neugestaltung des Textes durch Hinzufügen neuer Tituli und die neue Textpassagenunterteilung zurückzuführen. In Endter-1672 allerdings wird im Gegensatz zu den anderen Ausgaben des 17. Jahrhunderts auf Mikroebene schließlich eine weitere bewusste Verdichtung der transsyntaktischen kohäsiven Beziehungen deutlich. Die pronominale

20 vnd fuͤrten (Bl. H1b) > ſie (Bl. G2a), vñ zuckt (Bl. K1b) > er (Bl. H4b), vnd namen (Bl. K2b) > Anthonius vn̄ Reynhart (Bl. I1b), vnd ſchwuͦr (Bl. L1b) > jm (Bl. I4b). 21 Nachweislich gedruckt wurden in diesem Zeitraum vier Ausgaben, von denen allerdings kein Exemplar mehr existiert.

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Aufnahme eingeführter Referenten statt elliptischer Satzreihung mit ›und‹ kann an sieben Stellen beobachtet werden. Ein Beispiel verdeutlicht die bewusste Textarbeit in der Offizin Michael Endters: Feyerabend-1587: (D)A die ſchoͤne Jungfraw ein ſo ehrliche ǁ Preſentz ſahe/ vnd ſie jr den Koͤnig vber= ǁ antworten/ alſo gefangen (Bl. Xxx3a, Sp. 2, Z. 3) Pfeiffer-1649: (D)A die ſchoͤne Jungfraw ſo eine ehrliche ǁ Preſentz ſahe/ vnd jhr der Koͤnig alſo ge= ǁ fangen uͤberantworteten (Bl. E3b, Z. 17) Endter-1672: (D)A die ſchoͤne Jungfrau ſo ein ehrliches ǁ Præſent ſahe/ und ihr der Koͤnig alſo ge= ǁ fangen uͤberantwortet wurde (Bl. E1a, Z. 6)

In Pfeiffer-1649 werden die ausgeklammerten Elemente in die Satzklammer verschoben, das ursprüngliche Subjekt ſie geht allerdings verloren, sodass die Kongruenz zwischen Subjekt und Verb im Satz nicht mehr gegeben ist. In Endter-1672 wird dieser Mangel durch die Setzung des Passivs anstelle der Aktivform beseitigt. Im Bereich der Wiederaufnahme wird der Text damit v.  a. durch die bewussten Eingriffe einiger weniger Drucker im Fortlauf der Überlieferung stilistisch verbessert, disambiguiert und verdichtet. Die Melusine-Ausgaben der Offizin Matthias Hupfuffs und die der Nürnberger Offizin Endter stellen dabei die bedeutendsten Einschnitte dar.

2.2 Parataktische Verknüpfung mit dem Konnektor ›und‹ Zusätzlich zum Befund in 2.1 konnte beim intereditorialen Vergleich der parataktischen Verknüpfung durch den Konnektor ›und‹ große Stabilität innerhalb dieses Textsortenvertreters festgestellt werden. Da bereits in früheren Untersuchungen zum Prosastil der Melusine auf die überwiegend parataktische Satzkonstruktion hingewiesen wurde, 22 wurde aus dem Bereich der Konnektoren der koordinative Konjunktor ›und‹ isoliert und auf Wandelvorgänge innerhalb der Verwendungsbereiche dieses Lexems hin untersucht. Als wesentliches Ergebnis der Vergleiche der Texte der Ausgaben kann an dieser Stelle bereits darauf verwiesen werden, dass die Verwendung der Koordination durch ›und‹ innerhalb unseres Untersuchungszeitraums nur wenigen Veränderungen unterliegt und somit als Textsortenspezifikum gewertet werden kann. Die Augsburger Inkunabelüberlieferung zeichnet sich im Vergleich mit Richels Text durch variantenreichere Konnexion der Parataxe aus. Im Vergleich wird in elf Fällen ›und‹ ausgelassen, in vier Fällen fehlt es durch Textdifferenzen zwischen den beiden Textausformungen und an 19 Stellen wird die Relation zwischen den Teilsätzen durch andere sprachliche Mittel zum Ausdruck gebracht:

22 Vgl. hierzu Roloff: Stilstudien.

Ein Text wird in Ketten gelegt  

 133

–– –– –– –– –– ––

Relativpronomen der/die (3) auch (3) wann (=nhd. ›denn‹) (3) oder (2) Konjunktionaladverb da (2) vnd nit > noch; vnd > Auch ſo; vnd > Darumb; Syt dem mol vnd > Wann; vnd > Aber; vnd > darzuͦ auch23 Wie bereits deutlich wurde, liegt eine weitere Schnittstelle innerhalb der Textüberlieferung bei der Übernahme des Augsburger Textes durch den Straßburger Drucker Hupfuff. Der Bruch in der Straßburger Texttradition spiegelt sich auch in der Verwendung der Konjunktion ›und‹ wider. Im Vergleich zum Text Schönspergers lässt Hupfuff diese in 22 Fällen aus und verkürzt in elf Fällen die Satzreihen, indem er die Hauptsätze voneinander abtrennt und nicht mit ›und‹ verknüpft. Variable Verknüpfungsmittel kommen nur spärlich zum Einsatz. Nach Hupfuff ist nur in wenigen, vernachlässigbaren Einzelfällen eine Differenz zu konstatieren. Im Text der Sondergruppe MüllerEgenolff wird eine klare Strategie verfolgt, da in 47 Satzreihen die Konjunktion ›und‹ ausgelassen wird, ohne dass etwas an der Satzkonstruktion verändert wird. Für die Ausgaben des 17. Jahrhunderts ist es konstitutiv, dass ein typisches Merkmal der konzeptionellen Mündlichkeit reduziert wird. In Satzreihen, die aus mehr als zwei Hauptsätzen bestehen, wird nur noch im letzten die Konjunktion realisiert. Auch wird das Spektrum der parataktischen Verknüpfung erweitert. So zeigt Pfeiffer-1649 im Vergleich mit Han-1562 statt vnd die Konjunktionaladverbien derhalben (2), demnach, das Präpositionaladverb darvmb (4) und die pronominale Genitivform deſſen. An den Nahtstellen in der Überlieferung, die für bewussten Umgang mit den Textvorlagen stehen, ist damit einerseits der Wille zur Reduktion des Gesamtaufkommens der Konjunktion ›und‹ zu konstatieren, andererseits spiegelt sich auch in geringem Maße die Entwicklung neuer Möglichkeiten zur differenzierteren Bezeichnung der Beziehung zwischen koordinierten Konnekten. Für die Form des Textes der Melusine, wie sie von 1473/74 bis 1692/93 überliefert ist, bleibt die Parataxe mit Koordination durch ›und‹ der Regelfall. Sie ist für diesen Vertreter des ›Frühneuhochdeutschen Prosaromans‹ konstitutiv.

23 Beispielbelege: Richel-1473/74: … ermanet hette vnd bat d’ ku̓nig … (Bl. d8a, Z. 7) vs. Bämler-1474: … ermante v͡n vmb hilff alſo angeruͤfft hette Darumb batt der kűnig … (Bl. e5b, Z. 12); Richel-1473/74: … brocht ein michel groß volck zuͦ ſamen vnd verſprach ym … (Bl. d8a, Z. 30) vs. Bämler-1474: … bracht ein michel groſſes volck zeſamen Auch ſo verſprach jm … (Bl. e6b, Z. 8); Richel-1473/74: … ſo do wu͛rde niemer me korn noch/ anders gewachſſen vnd er wuͦrde es gar verwuͤſten … (Bl. g2a, Z. 10) vs. Bämler-1474: … ſo do wuͤrde nȳmermer korn noch anders gewachſſen wann er wuͤrd es gancz vnd gar verwűſten … (Bl. h3b, Z. 22).

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 Martin Behr

2.3 Entwicklung der Tituli Bei den durchgehend mit Illustrationen ausgestatteten Melusine-Drucken fungieren die im Folgenden als Tituli24 bezeichneten, gesondert vom Fließtext oberhalb der Holzstöcke gesetzten Textteile als Scharnier zwischen Text und Bild. Einerseits haben sie daher eine Funktion im Bereich der makrostrukturellen Textorganisation, andererseits lassen sich aber auch phorische Bezüge zum Fließtext herstellen, sodass auch die Tituli als Kohäsionsmittel gewertet werden können. Gerade der Wandel dieser phorischen Beziehungen zum Haupttext fördert bewusste kohäsionsstiftende Textarbeit in bestimmten Offizinen zu Tage. So weist die textgliedernde Funktion der Tituli bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts keine klare, monodirektionale phorische Beziehung zum Text auf. In den Ausgaben der Offizin Christian Egenolffs Erben jedoch werden die phorischen Bezüge zwischen Titulus und Text in Egenolff-1578 so umgedeutet, dass die aus der Tradition der Bildbeischriften stammenden Textteile erstmals durchgehend kataphorische Verweisrichtung in Bezug auf den Text haben. Anhand eines Beispiels soll dies veranschaulicht werden. Im Gegensatz zur Ausgabe Steiner-1543, aus der die für die Ausgabe Egenolff-1578 verwendeten Holzstöcke stammen, ist in Egenolff-1578 beispielsweise der vierte Titulus umformuliert. Der Holzschnitt, der diesen Titulus begleitet, ist derselbe wie in Steiners Ausgaben. Dort lautet der Titulustext: Wie Graff Emerich vñ Reymund das ǁ gejaͤg verloren hetten bey dem Monſchein inn den ǁ wald jrr/ vnd wegloß ritten. Vnd das Graff ǁ Emerich ahn dem geſtirn wunder ſahe ǁ vnd wie er das dem Reymund ǁ zaygt vnd ſaget. (Bl. B1a). Die Illustration zeigt zwei von zwei Bäumen eingerahmte Reiter, von denen einer, Emerich, zu dem anderen, Reimund, mit auf den Mond und die Sterne deutendem Zeigefinger spricht. Der folgende Textabschnitt erzählt allerdings nicht nur die Deutung der Sterne, sondern auch den Angriff des Wildschweines auf die beiden und den im Kampf gegen das wilde Tier schicksalhaften Unfalltod des Grafen Emerich. Die

24 Der Begriff ›Titulus‹ wird vorwiegend in der Kunstgeschichte verwendet und ist in Heckscher /  Wirth: Emblem definiert (Sp. 96 f.): »Die älteste Form der Vereinigung von Wort und Bild ist die bildliche Gestaltung mit beigeschriebenem *Titulus. Im Gegensatz zur Icon des E. ist hierbei das Bild ein in sich abgeschlossenes Ganzes, und der zugefügte Titulus bezeichnet das Dargestellte gegenständlich (in z. T. kunstvoll-poetischer Gestaltung) oder interpretiert es in bestimmter Weise (etwa typologisch). Nur in diesem Falle weist der Titulus über den Bildgegenstand hinaus; sonst ist er ein Zusatz, der das Abgebildete mit Worten zu erklären sucht. Der Titulus ist stets einem Bilde (selbst wenn dieses fingiert ist) untergeordnet und dadurch von Lemma und Epigramm eines E. verschieden.« Der Begriff soll nicht dem Terminus ›Bildbeischrift‹ gleichgesetzt werden, noch besagen, dass es sich bei den damit bezeichneten Textteilen um Bildbeischriften mit Anweisungscharakter an den ausführenden Künstler handelt. Vielmehr soll durch die Bezeichnung ausgedrückt werden, dass es sich noch nicht um Kapitelüberschriften im heutigen Sinne handelt, da die aus der Handschriftenzeit stammende Tradition der Bildbeischrift in der Drucküberlieferung der »Melusine« durchaus noch ihre Spuren hinterlassen hat.

Ein Text wird in Ketten gelegt  

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Ausgabe Egenolff-1578 trägt dem Rechnung: Wie Graff Emerich vnd Reymund ǁ das geiaͤg verlorn hetten bei dem Monſchein/ in ǁ dem wald jrr ritten/ Graff Emerich an dē ge ǁ ſtirn wūder ſahe/ Vnd jn endtlich ſein ǁ vetter Reymund ann eim wilden ǁ ſchwein erſtach. (Bl. A4b).25 Die Tituli nehmen innerhalb der Drucküberlieferung der Melusine somit den Charakter von Kapitelüberschriften erst allmählich an. Zuvor stehen sie in einem Mischverhältnis zur Illustration und dem Text, wobei sie anaphorisch und kataphorisch auf den Fließtext verweisen können. Ihre Bindung an das Bild, die aus der Verwurzelung der Tituli in der Handschriftentradition rührt, in der sie als Bildbeischriften mit Anweisungscharakter für die Ausführung der Federzeichnung dienen konnten, lockert sich im Lauf der Überlieferung. In einem Schritt der Reanalyse und Umfunktionierung werden sie primär auf den Text bezogen. Im 17. Jahrhundert begegnet mit Pfeiffer-1649 eine neue Textgestalt, die sich durch Straffung der Textkohärenz auf makrostruktureller Ebene auszeichnet. Von den vier überlieferten Ausgaben des 17. Jahrhunderts hat lediglich Endter-1672 nur 64 Tituli, die anderen drei Ausgaben setzen 76 Tituli. Die neugestalteten Tituli sind dabei stets Summarien des Textes mit kataphorischer Verweisrichtung. Die alten Tituli werden, wenn nötig, im Text versetzt, sodass ihnen die Funktion von Kapitelüberschriften zukommt.

3 Zusammenfassung Abschließend lässt sich sagen, dass durch die Übernahme des Textes der Augsburger Inkunabeltradition durch Matthias Hupfuff der kohärentere der beiden im Druck vorliegenden Texte Grundlage für die weitere Überlieferung wurde. Diesen bearbeitet Hupfuff, indem er in größerem Maße die Pronominalisierung bereits eingeführter Textelemente anwendet. Erst im 17. Jahrhundert wird der Textkitt durch weitere Pronominalisierungen und eine neue Texteinteilung mit mehr Überschriften erneut entscheidend gestärkt. Die Verdichtung des Textes durch Pronominalisierung, die Tilgung redundanter Proformen sowie die Reduktion des Konnektors ›und‹ weisen darauf hin, dass konzeptionelle Mündlichkeit durch konzeptionelle Schriftlichkeit zurückgedrängt wird. Auf der Makroebene werden die Tituli als Glieder der Ketten zahlreicher und in ihrer Verweisrichtung disambiguiert. Auf der Mikroebene der transsyntaktischen Verknüpfung werden die Glieder kompakter. Der Text wird im Laufe seiner Überlieferung zunehmend in Ketten gelegt. In der Konzeption des Textes findet eine Verschiebung vom Pol der Mündlichkeit zum Pol der Schriftlichkeit

25 Dieses Beispiel sowie weitere finden sich in meiner Dissertation; vgl. Behr: Schreibsprachliche und textstrukturelle Varianz (in Druckvorbereitung).

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 Martin Behr

statt. Vermeidung syntaktischer Stereotypie sowie eine Zunahme des Stilprinzips der ›variatio‹ sind allerdings nicht festzustellen. Dies ist erst nach dem 17. Jahrhundert zunehmend erkennbar. Zuvor sind die Drucke der Melusine stabile und konstante Vertreter der Textsorte ›Frühneuhochdeutscher Prosaroman‹. Die Diskursart wird nicht durchbrochen, da die Drucker den »universalen Parametern und kulturellen und (idiomatisch geprägten) einzelsprachlichen Traditionen der Textgestaltung« verhaftet bleiben.26 Ein kurzer Ausblick soll die gravierenden Unterschiede zwischen der untersuchten Textsorte und den Vertretern der Melusine aus dem 18. Jahrhundert veranschaulichen, die meines Erachtens eine neue Textsorte konstituieren.

4 Ausblick Die Überlieferungsgruppen der ›Historischen Wunderbeschreibung‹ (HWB) und die ›Sächsische Überlieferung‹ zeichnen sich durch komplexeren Satzbau mit Hypotaxe aus, wobei die ›Sächsische Überlieferung‹ inhaltlich näher an der alten Texttradition bleibt, während die HWB stilistisch durch Fremdwortschatz, Ausrufungen, Dialogisierung und emotional-bildhafte Sprache hervorsticht. Ein charakteristisches Beispiel für die Psychologisierung des Erzählten liefert die Gegenüberstellung einer Textpassage zur Verheiratung der Fürstin von Luxemburg mit Antonius, einem Sohn der Melusine, in dem die HWB-Fassung im Gegensatz zur älteren Fassung auf das emotionale Innenleben der Charaktere eingeht und so den kausalen Zusammenhang herstellt. Die ältere Fassung bewahrt das historisch adäquatere Verfahren der standesgemäßen Heirat, bei der v. a. machtpolitisch-territoriale Aspekte im Vordergrund standen. ohne Ort-1692: Die Edle Fuͤrſtin ǁ hatte ſich nun bedacht/ und folgete dem Raht ih= ǁ rer Landes=Herren/ und guten Freunde/ und ǁ ließ ſich alſo dem Anthonio von Luſinien ver= ǁ maͤhlen. (Bl. F1a, Z. 10) HWB I.1: da fienge ſchon dieſes ǁ Fuͤncklein in dem Herzen dieſer fuͤrtrefflichen Dame ǁ zu verfangen, und gleich als in der Aſche dermaſſen zu ǁ glimmen an (Bl. E6a/S. 75, Z. 10)

Zuvor kaum eingesetzte Substitution tritt in der HWB-Fassung häufiger auf. Das Vokabular wird durch überwiegend aus dem Französischen stammenden Fremdwortschatz erweitert.

26 Vgl. hierzu Ágel / Hennig: Theorie des Nähe- und Distanzsprechens, S. 6. Zum Terminus ›Diskursart‹ für die Ebene der Produktions- und Rezeptionstätigkeit im Gegensatz zum Terminus ›Textsorte‹ für Produktebene vgl. S. 5.

Ein Text wird in Ketten gelegt  

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Parallel zu den HWB-Ausgaben innerhalb der Melusine-Tradierung konstatiert Simmler auch in der Überlieferung der Magelone einen Textsortenwandel im 18. Jahrhundert, der »zu einer neuen Textsorte [führt], die synchron in Opposition zu anderen Textsorten und zum gleichzeitig noch tradierten Prosaroman tritt.«27 Für die neue Textsorte wählt Simmler den Terminus ›Erzählung‹.28 Simmler arbeitet für die Magelone als Merkmale die Veränderung des Gebrauchs der ›verba dicendi‹, der sprachlichen Ausformung der Überschriften, des Gebrauchs von Temporaladverbien, andere syntaktische Strukturen und makrostrukturelle Unterteilung des Textes heraus. Besonders hebt auch er hervor, dass die Gefühlswelt der Personen stark in den Vordergrund rückt und sprachlich ausgedrückt wird. Insgesamt stellt er auf makrostruktureller, syntaktischer und lexikalischer Ebene derart gravierende Veränderungen fest, dass er nicht mehr von einem Vertreter der Textsorte ›Prosaroman‹ spricht.29 Dieser Befund deckt sich mit der Drucküberlieferung der Melusine, innerhalb welcher die Überlieferung der Textsorte ›Frühneuhochdeutscher Prosaroman‹ von der ›editio princeps‹ bis zum Ende des 17. Jahrhunderts andauert und im 18. Jahrhundert eine neue Textsorte entsteht. Auch in der Melusine-Tradierung werden die Prosaromane während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts parallel zur neuen Textsorte weiterhin gedruckt.30 Die Grobstruktur der Textsorte, der die Melusine-Drucke des 15. bis 17. Jahrhunderts angehören, bleibt also relativ stabil, wobei eine punktuelle, in bestimmten Offizinen vorgenommene Zunahme typisch schriftsprachlicher Parameter und kohäsionsstärkender Verfahren festgestellt werden konnte. Im gesteigerten Grad der Hypotaxe, die die HWB im Vergleich mit dem ›Frühneuhochdeutschen Prosaroman‹ auszeichnet, setzt sich die Emanzipation der Schrift von der Nähekommunikation innerhalb dieser Diskurstradition fort. Abschließend stellen sich die Fragen, ob der Textsortenwandel im 18. Jahrhundert in anderen Textsortenvertretern neben der Magelone und Melusine ebenfalls zu konstatieren ist und wie die sprachlichen Veränderungen bzw. die Merkmalskomplexion der neuen Textsorte dort im Detail aussehen. Wie lässt sich dieser Textwandel in die Sozial-, Lese-, Buch- und Geistesgeschichte einordnen bzw. durch sie erklären?

27 Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 481. 28 Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 485: »In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entsteht neben dem Prosaroman die Textsorte ›Erzählung‹, die den gleichen Stoff mit anderen textuellen Merkmalen und anderer Handlungsstruktur und Erzählchronologie behandelt.« Die Angemessenheit dieser Bezeichnung für die neue Textsorte innerhalb der Drucküberlieferung der »Melusine« muss im Kontrast zur »Magelone«-Überlieferung noch bestimmt werden. 29 Vgl. Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 478–481. 30 Vgl. Fußnote 5.

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 Martin Behr

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Ein Text wird in Ketten gelegt  

 139

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Anja Voeste

Den Leser im Blick Die Professionalisierung des Setzerhandwerks im 16. Jahrhundert und ihre Auswirkungen auf die Orthographie der Druckausgaben der »Melusine« Zusammenfassung: Zwei auf den ersten Blick widersprüchliche Entwicklungen im Druckhandwerk prägten das 16. Jahrhundert: Während die Kosten der Melusine-Drucke durch kleinere Formate und eine geringere Papier- und Typenqualität gesenkt wurden, investierten die Setzer andererseits kostenintensive Arbeitszeit in die Umsetzung orthographischer Neuerungen. An vier ausgewählten Beispielen (Rückgang von Nasalstrichen, Nutzung ahistorischer Dehnungsgraphien, Substantivgroßschreibung, Interpunktionsmarkierung von Satzgrenzen) nimmt die Autorin diese Entwicklung in einer crosstextuellen Varianzanalyse in den Blick. Der detaillierte Vergleich von fünf Melusine-Ausgaben der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts macht verschiedene Stadien der Durchsetzung der orthographischen Neuerungen dingfest. Er belegt die entscheidende Rolle der auf Prosadrucke spezialisierten Frankfurter Verlagsgemeinschaft Rab/Han Erben-Feyerabend als Motor dieser Entwicklung, wobei die Ausgabe Han-1564 den entscheidenden Wendepunkt markierte: Der sogenannten »Kompanie« gelang es, den Weg zwischen Effizienzsteigerung durch Senkung von Produktionskosten einerseits und rezeptionsunterstützenden Maßnahmen zur Förderung der Lesefreundlichkeit andererseits gekonnt zu verwirklichen. Durch diese Neuerungen wurden neue Käuferschichten gewonnen: Leser und vor allem Leserinnen, die sich für die Romanstoffe der Prosadrucke interessierten, jedoch im Lesen weniger geübt waren und ihren Geldbeutel schonen mussten.

1 Das 16. Jahrhundert als orthographische Wendezeit Das 16. Jahrhundert hat entscheidende Veränderungen in der Orthographie1 mit sich gebracht, die man auf die Professionalisierung im Drucker- und insbesondere

1 Ich verwende den Begriff ›Orthographie‹ auch für die Zeit vor der normierten, kodifizierten Schreibung. Im 16. Jahrhundert existierte nicht nur bereits der Begriff, sondern – in gebildeten Kreisen – auch die damit verbundene soziale Bewertung: »So einer jnn ſeiner eigenen angebornen ſprache ſtrauchlet/ wes vnfoͤrmlichs im ſchreiben odder reden/ von ſich mercken odder verlauten lieſß/ Da mit er offtmals einen gutten wolgegruͤndten ſynn vnd meinung ſeiner rede odder auch einen gantzenn brieff verderbet/ odder zum wenigiſten beſudelt vnd ſeinen vnuerſtant an tag gibt/ Welchs doch leichtlich verwaret/ wo er der ſprache leufftig odder recht kuͤndig geweſt/ weer« (Frangk: Ein Cantzley vnd Titelbüchlin, S. 109).

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 Anja Voeste

im Setzerhandwerk zurückführen kann.2 Ökonomisierung und Rationalisierung der Arbeitsvorgänge, aber auch die Ausbildung eines festen Sets beruflicher Kompetenzen bildeten den Kern dieser Professionalisierung.3 Dabei waren zwei gegenläufige Trends im Spiel: Einerseits bewirkten technische Neuerungen eine Vereinfachung und Beschleunigung des Arbeitsablaufs (vgl. Kap. 1.1), wodurch die Druckproduktion gesteigert und die Herstellungskosten gesenkt werden konnten. An den MelusineDrucken der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wird diese Ökonomisierung darüber hinaus an buchtypologischen Änderungen deutlich: Das Format wird verkleinert, die Papierqualität reduziert und das Endprodukt somit für weitere Leserkreise erschwinglich. Quer zu dieser Kosten mindernden Entwicklung steht andererseits der Wunsch, die Nutzerfreundlichkeit des Produkts zu steigern (vgl. Kap. 1.2). So lassen sich im 16. Jahrhundert Eingriffe in Orthographie und Interpunktion nachweisen, die die Leserezeption erleichterten, vom Setzer jedoch einen größeren Zeitaufwand und mehr fachliche Kompetenz verlangten und daher kostenintensiv waren. Insbesondere die Setzer mussten sich für einen Weg zwischen Effizienzsteigerung und Nutzerfreundlichkeit entscheiden. Wie diese Entscheidung in unterschiedlichen Ausgaben der Melusine der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ausgefallen ist, möchte ich im Folgenden (vgl. Kap. 2) genauer in den Blick nehmen.

1.1 Ökonomisierung im Drucker- und Setzerhandwerk Um die Wende zum 16. Jahrhundert führten verschiedene Neuerungen dazu, dass der körperlich überaus anstrengende Druckprozess im Ablauf vereinfacht wurde:4 Der Karren, in dem man die Druckform in die Presse einschob und herauszog, musste nicht mehr mit der Hand, sondern konnte nun von der Seite aus mit einer Kurbel bewegt werden. Ein so genanntes Rähmchen zwischen Druckform und Deckel stellte sicher, dass das Papier glatt auflag, der Druck auf das Papier abgefedert wurde und nur die zu bedruckende Fläche freilag. Der Balken, an dem die Spindel befestigt war, wurde mit zwei Gewinden und Flügelschrauben am oberen Querbalken der Presse, dem sogenannten Kopf, fixiert. Die Schrauben hielten den Spindelbalken fest in Position und gewährleisteten so eine präzisere Kraftübertragung auf den Tiegel (die flache Platte, mit der Druck auf die Form ausgeübt wurde). Durch die Vereinfachungen und Präzisierungen im Ablauf des Druckprozesses, aber auch durch die bessere Papierqualität5 wurde die Anzahl der Fehldrucke verringert und die Tagesleistung der

2 Vgl. Voeste: Orthographie und Innovation, S. 7–9. 3 Zur Theorie vgl. Parsons: Sozialstruktur und Persönlichkeit. 4 Vgl. dazu Reith: Lohn und Leistung, S. 213; generell Werfel: Einrichtung und Betrieb einer Druckerei; Winkler: Handwerk und Markt, Kap. 3.2. 5 Vgl. Stromer: Große Innovationen der Papierfabrikation.

Den Leser im Blick  

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Drucker deutlich erhöht: Ein Frankfurter Drucker konnte im ausgehenden 16.  Jahrhundert durchschnittlich 3000 bis 3600 Bögen am Tag drucken.6 In der Folge wurde auch die Lohnform diesen Entwicklungen angepasst: Leistungslöhne lösten den bisher üblichen Zeitlohn ab.7 In Frankfurt erhielt ein Drucker in den 1570er Jahren für 3050 Bögen Normalformat einen Gulden Leistungslohn.8 Ein Setzer wurde für die entsprechende Tagesleistung von zwei bis drei Druckformen in mittlerer Schwabacher oder Antiqua (deutsch) mit bis zu 3 Gulden, 9 Batzen entlohnt.9 Setzte er in mittlerer Schriftgröße (Cicero) in Latein oder Griechisch, entsprach das sogar einem Lohn von bis zu 2  ½ Gulden pro Druckform.10 Der Ablauf der Arbeitsgänge in der Druckerei verlangte jedoch, dass die Drucker, um die geforderte Tagesleistung erbringen zu können, rechtzeitig die Druckform erhielten. Die Setzer, die besser verdienten, unterwarfen sich diesem neuen Zeitdruck offenbar nur zögerlich und meinten »zu der zeit nit schüldig«11 zu sein. In den Frankfurter Buchdruckerordnungen von 1573 und 159812 wird deutlich, dass nach Feierabend bei Kerzenschein gedruckt werden musste, um die Werke rechtzeitig zur Buchmesse fertigzustellen. Insbesondere wird auf den »schaden und versäumnis der zeit«13 hingewiesen, den die Setzer den Druckern damit zufügten. Als Reaktion auf »viel zanck und haders zwischen truckern und setzern«14 wurden die verschiedenen Arbeitsgänge in der Druckerordnung aufeinander abgestimmt. Die Satzzeiten entsprachen daraufhin im Umfang den Druck- und Korrekturzeiten. In Druckereien, in denen vier Druckformen pro Tag gedruckt wurden, musste der Setzer die Druckform für den Nachmittagsdruck dem Korrektor um halb elf Uhr übergeben, damit diesem ausreichend Zeit blieb, »zweifelhaffte Mängel« zu »consulieren und nach[zu]schlagen«.15 Die Folgen dieses Wandels sind in den Wortschreibungen greifbar: Abbreviaturen und Ligaturen, die in der Skriptographie arbeitserleichternd gewirkt hatten, werden als zeitraubende Sondertypen aus dem Setzkasten entfernt.16 Es werden nur solche

6 Vgl. Schmidt: Frankfurter Zunfturkunden, Bd. 1, S. 144 und 169. 7 Vgl. Reith: Lohn und Leistung, S. 217. 8 Vgl. Schmidt: Frankfurter Zunfturkunden, Bd. 1, S. 144. Das Netto-Jahreseinkommen eines Tagelöhners wird auf 27 ½ Gulden (fl) geschätzt, das eines Schreiners auf 55 fl, Spitzenverdiener (z. B. der Stadtschreiber) kamen auf 250 fl. Für diese Auskunft danke ich Dr. Frank Berger, Kurator des Historischen Museums Frankfurt. 9 Fünfzehn Batzen entsprachen einem Gulden. 10 Vgl. Schmidt: Frankfurter Zunfturkunden, Bd. 1, S. 169. 11 Schmidt, Bd. 1, S. 145. 12 Vgl. Schmidt, Bd. 1, S. 139–147 u. 150–171. 13 Schmidt, Bd. 1, S. 161. 14 Schmidt, Bd. 1, S. 145. 15 Vgl. Schmidt, Bd. 1, S. 163. 16 Vgl. dazu Giesecke: Orthotypographia; Ruge: Aufkommen und Durchsetzung morphembezogener Schreibungen; Voeste: Drucktechnik und Logographie.

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 Anja Voeste

Zeit

Satz

08.00–10.30

Druckform 1

10.30–14.00

2

Druckform 1

14.00–17.30

3

2

Druckform 1

17.30–21.00

4

3

2

4

3

08.00–10.30

Korrektur

10.30–14.00

Druck

4

Abb. 1: Übersicht über den zeitlichen Ablauf der Arbeitsgänge in Frankfurter Druckereien (Darstellung der Autorin)

Ligaturen beibehalten, die das Abbrechen schmaler Einzellettern verhindern und die hohen Ausgaben für den Letternguss senken. Auch einige wenige Lettern mit Nasalstrich werden weitergenutzt, weil sie helfen, einen einheitlichen Zeilenfall herzustellen. Doch generell gilt: Der Griff in den nun überschaubareren Setzkasten wird gezielter und effizienter. Nachdem zur Beschleunigung des Setzvorgangs viele Zeichen aus dem Setzkasten entfernt worden sind, gibt das begrenzte Repertoire die typographischen Möglichkeiten vor. Viele Varianten sind nun technisch nicht mehr möglich, sodass die Rationalisierung letztlich zu mehr Formkonstanz führt. Graphische Doppelformen und variante Schreibungen gehen im Laufe des 16. Jahrhunderts stetig zurück. Gesetzt wird nun einheitlicher – und somit schneller. Vor diesem Hintergrund produktionssteigernder Veränderungen und dem daraus folgenden Streben nach Rationalisierung ist es verwunderlich und erklärungsbedürftig, warum zeitgleich ein kostenintensiver Wandel zu mehr Leserfreundlichkeit angestoßen wird.17

1.2 Leserfreundlichkeit Es liegt nahe, dass Druckereibesitzer und Verleger den Ausschlag für die Neuerungen gaben und mit der Forcierung größerer Nutzerfreundlichkeit den Wünschen des Lesepublikums entsprachen. Denn das erhöhte Tagespensum der Drucker hatte nicht nur Auswirkungen auf die Herstellungskosten, sondern auch auf den Endpreis: Weitere und neue Leserkreise konnten zum Kauf der Texte angeregt werden. Die Setzer wären, wenn diese Überlegungen stimmen, jedoch lediglich ausführendes Organ im Kontext einer absatzfördernden Marktstrategie gewesen, indem sie von ihrem Arbeitgeber aufgefordert wurden, die spezifischen Bedürfnisse dieser neuen, vermutlich weniger geübten Leser zu berücksichtigen. Meines Erachtens sind die Motive des qualitativen Wandels jedoch auch bei den Setzern selbst zu suchen. Der durch die Steigerung der Tagesdruckleistung bewirkte Rationalisierungsdruck hat, so meine Hypothese, zu einer größeren Konzentration auf die Formseite der Texte und ihrer Wortschreibungen

17 Vgl. dazu auch die Überlegungen in Saito: Drucker- oder Leserinteressen?

Den Leser im Blick  

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geführt. Die Setzer wurden gezwungen, sich noch einmal grundlegend mit der bestehenden Praxis auseinanderzusetzen und zu entscheiden, welche Satztechniken aus ihrer Sicht zeitsparend und somit vorteilhaft und welche aus Sicht des Lesers unbedingt vonnöten oder wünschenswert waren. Darüber mag auch eine Entwicklung zu mehr Leserfreundlichkeit in Gang gesetzt worden sein, insbesondere wenn man das Selbstverständnis eines professionellen, hochbezahlten Handwerkers in Rechnung stellt. Damit wird ein bereits eingeschlagener Innovationspfad fortgeführt: Die Grammatiken belegen bereits früh im 16. Jahrhundert, dass eine selbstbewusste Ablösung von der Skriptographie und somit auch von der lateinischen Tradition erfolgte. So schreibt Kolroß in seinem Enchiridion zur Orthographie von 1539, dass man nichts »fremds vnuͤbigs vnd abgethanes« wie »Titel vnd abbreuiaturen / odder verkuͤrtzerungen« nutzen solle, da diese zwar im Lateinischen noch üblich und akzeptabel seien, »aber im recht Deutſchen nymmer«.18 Hier zeigt sich der Beginn des Innovationspfades: Setzer versuchten, neue Wege zu gehen und z. B. einen einheitlichen Zeilenfall auch ohne die umfangreiche Verwendung von Abbreviaturen zu erreichen, wie es die ältere Drucktradition, die sich an den Mustern der Skriptographie orientierte, noch tat (vgl. z. B. Abb.  2: ; im Unterschied dazu: Abb. 3). Sie interpretierten diese Abkehr von der Tradition jedoch nicht als unliebsamen Nebeneffekt der Rationalisierung des Setzkastens, sondern – wenn man Kolroß folgt – als gewollten Teil eines neuen Selbstverständnisses.19 Im Laufe des 16. Jahrhunderts wird der Setzerberuf immer mehr zu einem Handwerk mit Spitzenverdienst, das eine größere Spezialisierung, mehr professionelles Know-how, aber auch fachliches Selbstbewusstsein mit sich bringt. Gerade der Leistungsdruck, schneller und effizienter zu setzen, hat – so scheint es mir – in der zweiten Jahrhunderthälfte noch einmal zu einem handwerklichen ›Kassensturz‹ der Satzpraxis geführt. Der Detailblick der Setzer fällt dabei auf ihr tägliches Arbeitsmaterial: Auf den Text mit seiner Struktur und auf die Wörter mit ihren orthographischen Finessen. Sie machen sich daran, dieses Material weiter zu bearbeiten und die Grundlagen der »rules of good workmanship« zu legen, von denen Moxon ein Jahrhundert später sprechen wird.20 Die Zeit, in der es der Normalfall war, dass professionelle Schreiber ihre dialektal geprägte Sprache in eine schriftliche Form transponierten, sie enkodierten, scheint endgültig vorbei zu sein. Stattdessen haben wir es im 16. Jahrhundert mit gut bezahlten und zudem hoch geschätzten Handwerkern zu tun, die ihr Augenmerk auf die Rekodierung legen. Es ist für sie nicht mehr die Frage, wie man ein gesprochenes Wort am besten in der Schrift repräsentiert, sondern wie man die Sinnentnahme beim Lesen unterstützt. Solche Maßnahmen zur Rezeptions-

18 Kolroß: Enchiridion, S. 82. 19 Moxon: Mechanick Exercises, S. 237 bezeichnet die Verwendung von Nasalstrichen und Kürzeln zur Zeilenregulierung bereits als Pfusch (»Botches«). 20 Vgl. Moxon: Mechanick Exercises.

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Abb. 2: Die Nutzung skriptographischer Mittel. Ausschnitt aus: Melusine, Augsburg: Bämler, 1474, Bl. A3a (Bämler-1474; München BSB, 2° Inc.c.a. 295)

Abb. 3: Die Vermeidung skriptographischer Mittel. Ausschnitt aus: Melusine, Straßburg: Müller, 1577, Bl. A3b (Müller-1577; München BSB, Rar. 1192)

erleichterung werden in linguistischer Hinsicht gleich mehrfach deutlich, z. B. in der Verwendung suprasegmentaler Schreibungen (etwa bei Dehnungsgraphien), in der verstärkten Nutzung der Großschreibung oder in einer rezeptionsunterstützenden Zeichensetzung. Solche Eingriffe gehen Hand in Hand mit dem gezielten Einsatz von Strukturierungsmitteln in der Textgestaltung und Typographie, wie sie von der Buchwissenschaft untersucht werden. Auch sie haben den Zweck, das Lesen insbesondere längerer Texte durch zusätzliche Orientierungs- und Interpretationshilfen zu erleichtern.21 Dass die Setzer nicht nur ausführendes Organ, sondern selbst Mitträger dieser rezeptionsfördernden Neuerungen sind, zeigt sich meines Erachtens auch daran, dass die leserfreundlichen Dekodierungshilfen in der Folge nicht nur langfristig erhalten, sondern auch in immer stärkerem Umfang in den Satz integriert werden. Sie sind im Laufe des 16. Jahrhunderts zu einem festen Bestandteil des professionellen Selbstverständnisses geworden.

21 Vgl. dazu allgemein Rautenberg: Typographie sowie bes. für die im Weiteren behandelten Druckausgaben des 16. Jahrhunderts Rautenberg: Typographie und Leseweisen.

Den Leser im Blick  

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2 Orthographische Neuerungen in den Ausgaben der »Melusine« der zweiten Jahrhunderthälfte Am Beispiel der Frankfurter Überlieferung der Melusine möchte ich den leserfreundlichen Neuerungen in der Orthographie und Interpunktion nachgehen. Ich möchte herausfinden, wie sich die Setzer im Dilemma zwischen Effizienzsteigerung einerseits und Nutzerfreundlichkeit andererseits entscheiden. An fünf Ausgaben zwischen 1549 und 1587 soll überprüft werden, inwieweit die Setzer leserfreundliche Varianten wählen, die für die Satztechnik einen größeren Aufwand bedeuten. Dazu werden in den Blick genommen: –– Der mögliche Rückgang oder sogar Verzicht auf Nasalstriche. Kürzel verlangen vom Leser einen höheren Dekodierungsaufwand. Für die Setzer sind sie jedoch ein probates Mittel, um einen einheitlichen Zeilenfall herzustellen. Der Verzicht auf Nasalstriche verlangt vom Setzer einen größeren Planungsaufwand, da mehr Augenmerk auf alternative Mittel wie den Einsatz von Blindmaterial oder die Worttrennung am Zeilenende gerichtet werden muss. –– Die Nutzung von (ahistorischen) Dehnungsgraphien wie , Doppelvokal und Dehnungs-h. Sie zeigen dem Leser an, dass ein Vokalzeichen als Langvokal zu rekodieren ist, bedeuten für den Setzer jedoch mehr Vorüberlegung und auch ein Mehr an Setzmaterial. –– Die Anwendung der Substantivgroßschreibung. Wenn die Kerne von Nominalphrasen mit einer Majuskel markiert werden, beschleunigt das den syntaktischen Dekodierungsprozess.22 Um dem Leser diese Erleichterung der Sinnentnahme zu ermöglichen, muss der Setzer wiederum einen höheren Planungsaufwand betreiben und sich eventuell sogar Grammatikkenntnisse aneignen. –– Der verstärkte Einsatz von Interpunktionsmitteln zur Markierung von Satzgrenzen. Eine eindeutige Interpunktionsmarkierung (z. B. durch Fragezeichen, Punkt und Doppelpunkt) hilft dem Leser, die Funktion der Satzeinheit zu erfassen. Sie verlangt vom Setzer jedoch eine häufig über die einzelne Zeile hinausgehende Vorausplanung. Um den orthographischen Neuerungen nachzugehen, habe ich den ersten und den letzten Frankfurter Druck (Gülfferich-1549 in Oktav und Feyerabend-158723 in Folio) sowie einen weiteren von 1564 (Han-1564 in Oktav) herangezogen. Diese drei Ausgaben entstammen derselben ›Cumpanei‹ (Kompanie), der Verlagsgemeinschaft Gülfferich-Han bzw. später Rab und Han Erben-Feyerabend, die sich auf den Druck von Pro-

22 Vgl. Bock: Zur Funktion der deutschen Groß- und Kleinschreibung. 23 Zu Feyerabend-1587 vgl. Pallmann: Sigmund Feyerabend.

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saromanen spezialisierte24 und sich am Käufergeschmack der Zeit orientierte. Diese Drucke waren es auch, die im 17. Jahrhundert als Vorlagen für weitere Ausgaben dienten.25 Rautenberg zeigt in ihrer Analyse der Ausgaben Gülfferich-1549, Han-1564,26 dass in diesen Drucken (trotz ihrer geringen Qualität in Papiergüte, Bildmaterial und Drucktechnik) ein gezielter Einsatz von Strukturierungsmitteln in Textgestaltung und Typographie erfolgt, der zum ersten Mal in der Ausgabe Han-1564 zu fassen ist. Wenn die zu untersuchenden orthographischen Neuerungen zeitgleich mit (und nicht asynchron zu) diesen gestalterischen Mitteln der Makro- und Mikrotypographie erfolgen, würde das einen ›mehrdimensionalen‹ und damit grundlegenderen Wandelprozess in der Satzgestaltung der Drucke belegen, der mit einem hohen Planungsaufwand durchgeführt wurde. Daneben habe ich zum Vergleich zwei weitere Melusinen ausgewählt: Den Straßburger Druck Müller-1577 in Oktav und eine um 1580 ebenfalls in Frankfurt gedruckte Ausgabe von Egenolff Erben in Quart (Göttingen SUB, 8 Fab III 2023).27 Die Ausgaben werden im Folgenden in den Übersichten abgekürzt: Die Kompaniedrucke (Gülfferich-1549, Han-1564, Feyerabend-1587) in chronologischer Reihenfolge als A, B, C, Müller-1577 als Mü und Egenolff-1580 als EE.

2.1 Zur Untersuchungsmethode Grundsätzlich lassen sich drei Arten von Variationsanalysen durchführen (Abb. 4).28 Eine intratextuelle Variationsanalyse untersucht die Varianz innerhalb eines Textes. Mit ihrer Hilfe können das Varianzspektrum und die Häufigkeitsverteilung von Varianten gemessen werden. Vergleicht man die Ergebnisse verschiedener intratextueller Untersuchungen in einer intertextuellen Variationsanalyse, kann man entsprechende Unterschiede in der Variantenbreite und ihrer Verteilung zwischen einzelnen Texten feststellen und so z. B. diachronische Wandelprozesse oder regionale Spezifika verschiedener Texte ermitteln.

24 Genau genommen zählen nur die letzten beiden Drucke zu den Kompaniedrucken, da das Verlagskonsortium erst zu Beginn der 1560er Jahre von Han, Rab und Feyerabend gegründet wurde. Vgl. Schmidt: Die Bücher aus der Frankfurter Offizin Gülfferich, S. 40. 25 Zu den Details der »Melusine«-Ausgaben der Kompanie vgl. Künast: Die Drucküberlieferung des Melusine-Romans. 26 Vgl. Rautenberg: Typographie und Leseweisen. 27 Hier handelt es sich um eine im VD 16 nicht verzeichnete zweite Auflage der im VD 16 noch Steiner (um 1545) zugeschriebenen Ausgabe (M 4474). Zur Diskussion um die Zuordnung und Datierung vgl. Künast: Die Drucküberlieferung des Melusine-Romans. Zu Egenolff Erben vgl. Richter: Christian Egenolffs Erben. 28 Vgl. Auer / Voeste: Grammatical Variables.

Den Leser im Blick  

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Abb. 4: Oben: Intratextuelle Variationsanalyse: Melusine, Straßburg: Müller, 1577, Bl. A3b (Müller-1577; München BSB, Rar. 1192); Crosstextuelle Variationsanalyse: unten links: Melusine, Straßburg: Müller, 1577, Bl. A3b (Müller-1577; München BSB, Rar. 1192); unten rechts: Melusine, Frankfurt a. M.: Egenolff Erben, 1580/81, Bl. A2b (Egenolff-1580; Göttingen, Niedersächsische SUB, 8 FAB III 2023)

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Eine crosstextuelle Variationsanalyse vergleicht die Varianten verschiedener Ausgaben desselben Textes. Im Gegensatz zur intertextuellen Methode werden dabei die Varianten identischer Textstellen miteinander verglichen. Dieses parallele Analyseverfahren ist besonders geeignet, kontextsensitive Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Ausgaben sichtbar zu machen, die in einer intertextuellen Analyse unklar bleiben. Den folgenden Ausführungen liegt eine solche crosstextuelle Variationsanalyse zugrunde. Die Methode wurde gewählt, um das unterschiedliche Verhalten der Setzer in einem gleichbleibenden Textkontext ermitteln zu können. Grundlage meiner Analysen ist eine Stichprobe von 1983 Wörtern, nämlich die Seiten B1a, B5a, C1a, C5a, D1a und D5b der zweiten, dritten und vierten Lage Gülfferich-1549. Diese Stichprobe wurde crosstextuell mit den jeweiligen Entsprechungen in den anderen vier Drucken verglichen. Mit der Berücksichtigung verschiedener Lagen folge ich den Vorschlägen Fujiis, der die Problematik des Setzerwechsels einbezieht und daher produktionsorientierte, satztechnische Auswahlkriterien empfiehlt.29

2.2 Der Verzicht auf Nasalstriche Ein Verzicht auf Nasalstriche bedeutet für den Setzer eine Erhöhung des Planungsaufwands, da ihm ein wichtiges und flexibel einsetzbares Mittel zum Zeilenausgleich fehlt. Er muss daher mehr Augenmerk auf die Herstellung eines einheitlichen Zeilenfalls verwenden. Es ist daher nicht verwunderlich, dass alle fünf Ausgaben Nasalstriche aufweisen. In der untersuchten Stichprobe kommt der Nasalstrich am häufigsten bei der Kurzform für vnd vor: Die vn̄-Variante ist 73-mal vertreten. Daneben gibt es 44 andere Fälle von Konsonanten mit Nasalstrich, das heißt (20) und (24). Die Verwendung von Vokalen mit Nasalstrich ist auf (32) und seltenes (3) beschränkt. Im Vergleich der fünf Ausgaben (Abb. 5) zeigen alle Drucke nur eine geringe Verwendung der Kürzel. Auffällig ist hingegen, dass die späteren Frankfurter Drucke (Egenolff-1580 und Feyerabend-1587) die vn̄-Variante wieder häufiger nutzen. Die Druckerfamilie Egenolff Erben war auf Fachliteratur (Theologie, Recht, Medizin) spezialisiert, druckte häufiger auf Latein und unterschied sich vermutlich schon dadurch von den Frankfurter Kompaniedruckern. Bei der Aufnahme der Melusine in das Programm orientierte sich Egenolff-1580 auch wieder stärker an der älteren Tradition der Augsburger Steinerdrucke. Die nach Steiners Tod von Christian Egenolff d. Ä. erworbenen Holzstöcke wurden wiederverwendet und das Quartformat der Steinerdrucke beibehalten.30 Deshalb ist es legitim anzunehmen, dass die häufigere Verwendung

29 Vgl. Fujii: Zur Methode der Exzerption. 30 Vgl. dazu genauer: Künast: Die Drucküberlieferung des Melusine-Romans, dem ich für seine hilfreichen Hinweise danke.

Den Leser im Blick  

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des Nasalstrichs auf diese beiden Faktoren (stärkere Verhaftung in der lateinischen und in der älteren Drucktradition) zurückzuführen ist. Die im Buch der Liebe bei Feyerabend-1587 enthaltene Melusine zeigt dagegen vermutlich aus einem anderen Grund eine leicht erhöhte Nutzung der vn̄-Variante: Der zweispaltige Satz im Folioformat führte zu einer Spaltenbreite, die den Satzspiegel des Oktavformats noch leicht unterschritt (Abb. 6). Der enge Spielraum, den die Feyerabend-Ausgabe dem Setzer gab, begünstigte die Verwendung der Kürzel bei vnd. Nasalstriche werden in den fünf Ausgaben im Durchschnitt 30,4-mal verwendet. In der Summe zeigen die Drucke von Han-1564 (38) und Egenolff-1580 (47) eine überdurchschnittliche Verwendung der Kürzel. Die anderen drei Ausgaben berücksichtigen dagegen die Leserinteressen stärker und verzichten eher auf den Nasalstrich.

30 25 20 15 10 5 0 Ffm A

Ffm B



EE

vn(d)

Ffm C

Vokal

Kons

Abb. 5: Übersicht über die Verwendung des Nasalstrichs in den Textausschnitten (Darstellung der Autorin)

Abb. 6: Folio-Spaltenbreite und Oktav im isometrischen Vergleich nach: oben (Folio): Melusine, Frankfurt a. M.: Feyerabend, 1587, Bl. 264b (Feyerabend-1587; Wolfenbüttel HAB, 3.6 Eth. 2°); unten (Oktav): Melusine, Frankfurt a. M.: Gülfferich, 1549, Bl. B1a (Gülfferich-1549; München UB, 8° P.germ. 328)

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2.3 Dehnungsgraphien Dehnungsgraphien kommen dem Leser entgegen, weil sie anzeigen, wie ein Vokalzeichen zu rekodieren ist. Für den Setzer sind sie jedoch in ökonomischer Hinsicht von Nachteil, denn er muss mehr Vorüberlegung und auch mehr Typenmaterial einsetzen. Für die Analyse der Dehnungsgraphien habe ich ebenfalls ein crosstextuelles Verfahren gewählt und diejenigen Wortbelege ermittelt, die in allen fünf Ausgaben parallel, aber variant aufscheinen (vgl. zur Illustration die Varianten einer Blattseite in Abb.  7 u. 8). Das aus diesem Material zusammengestellte Teilkorpus enthält 199 Belege mit Dehnungsgraphie. Im Langzeittrend nimmt die Anzahl der Dehnungsgraphien in den untersuchten Textausschnitten von 25 auf 57 Belege zu. Lediglich Druck EE verhält sich anders und führt vermutlich auch hier die ältere Tradition fort. Unterscheidet man jedoch zwischen Personalpronomen und anderen Belegen, z. B. u. ä., zeigt sich ein viel differenzierteres Bild (Abb. 9). Es ist der Straßburger Druck Mü, der den höchsten Anteil der Dehnungsgraphien bei den Personalpronomen im Textausschnitt aufweist, die Vokallänge aber ansonsten selten markiert. Bei den übrigen Markierungen der Vokallänge übernehmen die Drucke A, B und C die Vorreiterrolle: Die stetige Ausweitung der Neuerung auf andere Fälle geschieht in den Drucken der Kompanie. Dabei gerät der Einsatz des Dehnungs-h in Personalpronomen eher aus dem Blick und bleibt bei Druck B (23) und C (21) konstant. Hier zeigt sich, dass die beiden Fälle von Dehnungsgraphien unterschiedlich zu interpretieren sind: Das Dehnungs-h bei den Personalpronomen markiert nicht oder nicht nur die vorangehende Vokallänge, sondern ist daneben vor allem eine semantische Disambiguierungsschreibung zu den Präpositionen in und im.31 Es wird auf andere Personalpronomen übertragen und vermutlich schon früh lexikalisiert. Es handelt sich aber dennoch in jedem Fall um eine rezeptionserleichternde Graphie, die den Interessen des Lesers zugute kommt.

2.4 Die klassifizierende Großschreibung Die Verwendung von Majuskeln zur Kennzeichnung der Kerne von Nominalphrasen erleichtert den Dekodierungsprozess, weil der Leser den syntaktischen Aufbau eines Satzes schneller erfassen kann. Der Setzer muss hingegen zumindest rudimentäre Grammatikkenntnisse besitzen und während des Setzvorgangs einen höheren Planungsaufwand betreiben.32 Das Teilkorpus der Majuskelschreibungen umfasst klas-

31 Vgl. dazu Voeste: Orthographie und Innovation, S. 180 f. 32 Vgl. dazu auch Saito: Drucker- oder Leserinteressen?

Den Leser im Blick  

Abb. 7: Transkription einer Textseite aus: Melusine, Frankfurt a. M.: Gülfferich, 1549, Bl. B1a (Gülfferich-1549; München UB, 8° P.germ. 328) (Darstellung der Autorin)

 153

154 

 Anja Voeste

Abb. 8: Variantenapparat (Dehnungsgraphien und Majuskeln) zu Abb. 7 (Darstellung der Autorin) 60 50 40 30 20 10 0 Ffm A

Ffm B



gesamt

EE

Ffm C

PPron

andere

Abb. 9: Übersicht über die Verteilung der Dehnungsgraphien (Darstellung der Autorin)

sifizierende Großschreibungen und berücksichtigt die segmentierende Großschreibung (anderer Wortarten) nach Virgel nicht.33 Die Zusammenstellung erfolgte nach denselben crosstextuellen Auswahlkriterien wie bei den Dehnungsgraphien. Das Teilkorpus umfasst 361 Belege.34

33 Zur Terminologie vgl. Gallmann: Konzepte der Substantivgroßschreibung, S. 123. Zur Durchsetzung der Substantivgroßschreibung generell vgl. Bergmann / Nerius: Die Entwicklung der Großschreibung und Bergmann: Zur Herausbildung der deutschen Substantivgroßschreibung. 34 Nicht berücksichtigt wurden 18 Belege für Adjektivgroßschreibung bei und eine Großschreibung von .

Den Leser im Blick  

 155

200

150

100

50

0 Ffm A

Ffm B



EE

Ffm C

Abb. 10: Übersicht über die klassifizierende Substantivgroßschreibung (Darstellung der Autorin)

Der Vergleich der drei Drucke der Kompanie (Abb. 10) belegt einen stetigen Anstieg der Substantivgroßschreibung um jeweils ca. 80 Prozent von Ausgabe zu Ausgabe. Diese zunehmende Nutzung der leserfreundlichen Dekodierungshilfe ist umso auffälliger, als die anderen beiden Drucke sie nur zu einem geringen Prozentsatz aufweisen. Druckjahr und Druckort sind für die klassifizierende Großschreibung demnach hier nicht von Belang. Der Gegensatz der beiden späten Frankfurter Drucke EE und C zeigt das nachdrücklich. Vielmehr besteht ein klarer Unterschied zwischen den beiden Gruppen A, B, C und Mü, EE: Es sind die Drucke der Frankfurter Kompanie, die die Neuerung vorantreiben.

2.5 Die Zeichensetzung Als letztes Beispiel möchte ich die Zeichensetzung heranziehen.35 In ökonomischer Hinsicht ist es für den Setzer angebracht, nur dort ein Satzzeichen zu setzen, wo es für das Verständnis des Textes notwendig ist. Eine Zunahme oder eine Änderung der Interpunktionsmittel kann daher ein wichtiger Hinweis auf Neuerungen zur Rezeptionsunterstützung sein. Aber Veränderungen in der Zeichensetzung sind noch aus einem anderen Grund von großer Bedeutung für die Sprachwissenschaft: Sie geben Einblick in einen möglichen Wandel des syntaktischen Verständnisses, genauer:

35 Zur Diskussion um den Übergang von einem rhetorisch-prosodischen zu einem syntaktischgrammatischen System vgl. Besch: Zur Entwicklung der deutschen Interpunktion; Günther: »…und hält den Verstand an«; Höchli: Zur Geschichte der Interpunktion im Deutschen; Primus: Comma Constraints.

156 

 Anja Voeste

Der sich ausbildenden grammatischen Regelbeschränkungen. In den ausgewählten Textausschnitten lassen sich zahlreiche Unterschiede in der Interpungierung nachweisen. Im Folgenden thematisiere ich nur die Abgrenzung von Satzeinheiten in Satzverbindungen und Satzgefügen (Haupt- und Hauptsätze; Haupt- und Nebensätze). Bei der Abgrenzung von Satzeinheiten habe ich im ersten Schritt diejenigen Fälle ausgewählt, in denen die Markierung der Grenzsignale zwischen zwei Ganzsätzen variiert. Das betrifft die Grenzmarkierung durch Punkt (statt Virgel), Doppelpunkt (statt Virgel oder Punkt), Fragezeichen (statt Punkt) und durch Virgel mit Anschlussmajuskel (statt Anschlussminuskel). Der Auswahl liegt die Hypothese zugrunde, dass durch die Wahl von Punkt, Doppelpunkt, Fragezeichen und Virgel mit Anschlussmajuskel eine stärkere Markierung der Abgrenzung erfolgt, die rezeptionserleichternd wirkt und die Dekodierung durch den Leser stützt. Daneben werden noch andere Mittel eingesetzt (z. B. verba dicendi als Grenzsignal bei Redewiedergabe),36 die jedoch in den untersuchten Ausgaben konstant bleiben und deshalb in diesem Zusammenhang nicht von Belang sind. Die Wahl der leserfreundlicheren Variante in der Interpunktion erfolgte in 35 Fällen. Im Folgenden gebe ich einige Beispiele, die, wenn nicht anders angegeben, der Seite B1a der Gülfferich-Ausgabe entstammen. Wortlaut und Orthographie folgen jeweils der erstgenannten Ausgabe: –– Punkt vs. Virgel

A, B, C: Er thet es auch nach jrem rath. Vnd kam … Mü, EE: wie er dann auch thet/ Vnd kam … Mü, EE: an dem morgen fruͤ. Da er nun hinein kam … A, B, C: an dem morgen fruͤ/ Da er nu hinein kam …

–– Doppelpunkt vs. Virgel oder Punkt

B, C, EE: da ſprachen ſie alle: … A, Mü: da ſprachen ſie all/ … B, C, EE: Reymund antwort jhn/ vnd ſprach: Sicher … A, Mü: Reymund antwort jn vnd ſprach. Sicher …

–– Fragezeichen vs. Punkt

C, Mü, EE: wer ſind die Edelen Herren/ die … mich armen Wayſen … erloͤſet haben? A, B: wer ſeind die edlen Herren/ die … mich armen Weyſen … erloͤſet haben. (Da)

–– Virgel mit Anschlussmajuskel vs. Anschlussminuskel A, Mü, EE: Reymund zohe mit dem Grauen in ſein herberg/ Jn dem ward die Capell … (B5a) B, C: Reymund zoge mit dem Graffen in ſein Herberg/ in dem war die Capell … Mü, EE: fellet mein Reich angendes auff mein Tochter Herminam/ Nun bitt ich euch vnd beger … A, B, C: fellet mein Reich angendes auff mein Tochter Herminam/ nun bitt ich euch vnd beger … (C5a)

36 Vgl. dazu den Aufsatz von Franz Simmler in diesem Band und die dort angegebene Literatur.

Den Leser im Blick  

 157

Im zweiten Schritt der Analyse wurde eine variante Handhabung der Abgrenzung von Nebensätzen ermittelt. Die untersuchten Blattseiten enthalten 17 subordinierte Sätze, die in den verschiedenen Ausgaben variant mit und ohne Virgel als initiales Abgrenzungssignal auftreten. Es handelt sich um zehn subjunktionale Nebensätze, sechs pronominale Nebensätze und eine satzwertige Infinitivphrase (vgl. zur Illustration die folgenden Beispiele). Auch hier ist davon auszugehen, dass die syntaktische Grenzmarkierung die Dekodierung stützt: A, Mü: niemand het ſich verſehen dʒ dem Reymund … B, C, EE: niemand hett ſich verſehen/ das dem Reymund … A, EE: kund aber nicht geſagen oder wiſſen an welchem end der Graue … blieben waͤr. B, C, Mü: kundt aber nicht geſagen oder wiſſen/ an welchem end der Graffe … blieben wer. EE: Darumb ich gedacht hab jhm mein tochter vnd einiges kind Herminam zu vermaͤheln A, B, C, Mü: darum̄ ich gedacht hab/ jm mein Tochter vnd einigs kind Herminam zu vermaͤheln

Vergleicht man die rezeptionserleichternde Abgrenzung in Haupt- und Nebensätzen insgesamt (Abb. 11), zeigt sich im Gesamttrend eine chronologisch zunehmende stärkere Markierung der syntaktischen ›Schwellen‹ zwischen Satzeinheiten. Ein Blick auf die Details offenbart jedoch große Unterschiede in der Wahl sowohl der Mittel als auch der abzugrenzenden Satzeinheiten. Ähnlichkeiten weisen einerseits der Gülfferich-Druck und der Straßburger Druck, andererseits die beiden späteren Kompaniedrucke auf: Die Gülfferich- und Müller-Ausgaben grenzen Hauptsätze eher nur mit Virgeln als mit anderen Satzzeichen ab und ziehen die Markierung durch Virgel mit Anschlussmajuskel anderen Interpunktionsmitteln vor. Beide markieren die syntaktischen Übergänge zwischen Haupt- und Nebensatz in Satzgefügen häufiger als jene in Satzverbindungen. Es zeigt sich hier also eine unterschiedliche Behandlung der Satzeinheiten Hauptsatz und Nebensatz. Anders die späteren Kompaniedrucke: Beide Ausgaben trennen sowohl Hauptals auch Nebensätze durch Interpunktionszeichen ab, verzichten aber in der Wahl der Mittel eher auf die Virgel mit Anschlussmajuskel. Das hat Vorteile für den Leser: Der Punkt ist ein eindeutigeres Markierungsmittel, insbesondere, wenn die Substantivgroßschreibung in den Texten generell zunimmt und daher auch andere Funktionen erfüllt. Der Egenolff-Druck, der sich keiner der beiden Gruppen zuordnen lässt, zeigt wiederum vor allem Unterschiede in der Wahl der abzugrenzenden Satzeinheiten. Diese Ausgabe nutzt beide Markierungsmöglichkeiten (Satzzeichen und Anschlussmajuskel) bei Satzverbindungen, ist aber – anders als alle anderen Drucke – bei der Markierung von Einheitengrenzen in Satzgefügen vergleichsweise zögerlich. Wenn man unterstellt, dass eine gleichmäßige Grenzmarkierung sowohl in Satzverbindungen als auch in Satzgefügen Kennzeichen einer intensiveren Bearbeitung und einer weiterreichenden syntaktischen Durchdringung des Textes ist, können die

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 Anja Voeste

40 35 30 25 20 15 10 5 0 Ffm A

Ffm B

gesamt



HS: Satzzeichen

EE

HS: Majuskeln

Ffm C

NS

Abb. 11: Übersicht über die Abgrenzung von Satzeinheiten (Darstellung der Autorin)

Drucke B, C und Mü in diesem Sinne als aufwendiger gelten. Es sind jedoch die Kompaniedrucke B und C, bei denen sich die Setzer für eine einheitliche Verwendung von Grenzsignalen entschieden haben. In beiden Ausgaben verzichten die Setzer fast vollständig auf die Grenzmarkierung durch Virgel mit Anschlussmajuskel und favorisieren stattdessen reine Interpunktions- und keine graphetischen Mittel. Für die Dekodierung der Satzstrukturen beim Lesen sind sowohl die einheitliche Verwendung der Grenzsignale als auch die umfassendere Abgrenzung von Satzeinheiten in Satzverbindungen und Satzgefügen von Vorteil. Beides wird von den Kompaniedrucken B und C geleistet.

3 Zusammenfassung Zwei gegenläufige Trends bilden im 16. Jahrhundert den Hintergrund der orthographischen Wende von einer enkodierenden zu einer an der Dekodierung ausgerichteten Verschriftungspraxis: Während technische Neuerungen zu einer Effizienzsteigerung und Kostenreduktion im Typographeum führen, werden quer dazu rezeptionserleichternde Mittel in den Satz aufgenommen. Die Setzer bilden die zentrale Schaltstelle dieser Entwicklung, denn sie müssen einerseits auf den Rationalisierungsdruck reagieren, andererseits aber ihren Lesern (und/oder ihren Arbeitgebern) entgegenkommen und sich zwischen Effizienzsteigerung und Nutzerfreundlichkeit entscheiden. Um zu ermitteln, wie diese Entscheidung in verschiedenen Melusine-Drucken der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts ausgefallen ist, wurden in einer crosstextuellen Varianzanalyse fünf Ausgaben der Melusine zwischen 1549 und 1587 miteinander

 159

Den Leser im Blick  

verglichen. Ziel der Analyse war es, den Einsatz leserfreundlicher Neuerungen in Orthographie und Interpunktion zu prüfen. Untersucht wurden rezeptionsunterstützende Maßnahmen, die vom Setzer einen größeren Arbeitsaufwand erforderten: der Verzicht auf Nasalstriche, der Einsatz von Dehnungsgraphien, die Auszeichnung von Substantiven (genauer: Kernen von Nominalphrasen) durch Majuskel sowie die Abgrenzung von Satzeinheiten (Hauptsätze, Haupt- und Nebensatz). Errechnet man die durchschnittliche Verwendung dieser Neuerungen in den Texten und ermittelt dann die Positiv- und Negativabweichung, ergibt sich folgendes Bild (Abb.  12): Es sind die Drucke der Frankfurter Kompanie B und C, die am häufigsten in überdurchschnittlicher Weise Gebrauch von leserfreundlichen Mitteln machen. Den Ausschlag geben hier die Nutzung von Dehnungsgraphien über den Einsatz bei Pronomina hinaus, die Substantivgroßschreibung sowie die Abgrenzung von Satzeinheiten in beiden untersuchten Fällen. Der Feyerabend-Druck weist sogar noch eine weitere überdurchschnittliche Verwendung rezeptionsunterstützender Mittel auf, nämlich den häufigen Verzicht auf den Nasalstrich – obwohl aufgrund des Spaltensatzes hier im Vergleich zu den früheren Kompaniedrucken sogar wieder eine höhere Anzahl an vn̄-Varianten auftritt. 120 100 80 60 40 20 0 -20

A

B



EE

C

-40 -60

ZS: HS

-80

Nasalstriche

Dehnung PP

Dehnung and.

Großschr.

ZS: HS

ZS: NS

Abb. 12: Übersicht über die Positiv- und Negativabweichung der durchschnittlichen Verwendung leserfreundlicher Mittel (Darstellung der Autorin)

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 Anja Voeste

Der Nachweis der unterschiedlichen Umsetzung der Neuerungen in den fünf Melusine-Ausgaben zeigt somit eindrücklich, dass die crosstextuelle Varianzanalyse die Möglichkeit eröffnet, verschiedene Stadien der Durchsetzung sprachlicher Innovationen dingfest zu machen, sie zu vergleichen und durch den Blick auf die Voraussetzungen und Rahmenbedingungen womöglich zu Erklärungen vorzustoßen. Mit den Ergebnissen der Varianzanalyse lassen sich die Befunde Rautenbergs37 zur Mikro- und Makrotypographie bestätigen: Auch in der hier untersuchten Stichprobe markiert die Ausgabe Han-1564 einen entscheidenden Wendepunkt. Die Durchschnittsdrucker und -setzer der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mögen wie Han1564 ihre Melusinen in Oktav auf minderwertigem Papier gedruckt und mangelhaft ausgestattet haben.38 Doch sie haben dabei die Leser im Blick: Käufer, die sich für »kurtzweilig zu lesende« Prosadrucke interessieren. Deren Geldbeuteln kommt die Rationalisierung zugute, die die Melusinen und Magelonen preiswerter und somit erschwinglich machen. Doch auch der Leseprozess selbst wird von den rezeptionsfreundlichen Entwicklungen positiv beeinflusst. Insbesondere die weniger geübten Leser sind Nutznießer der Neuerungen, die die Setzer in ihre Praxis aufnehmen. Ist dieser Innovationspfad einmal eingeschlagen, gibt es keinen Grund, die qualitativen Neuerungen, die Teil des handwerklichen Selbstbewusstseins werden, wieder rückgängig zu machen. Dass die Setzer dabei die stille Lektüre im Blick haben und keinen Prozess des Vorlesens und Zuhörens, zeigt sich an der Korrektur zweier Stellen in meiner Stichprobe: Anstatt »als jr hernach wol hören werdend«39 zu setzen, entscheiden sich der Setzer der Straßburger und der Frankfurter Egenolff-Ausgabe lieber für ein »als hernach volget«40.

4 Literaturverzeichnis Auer, Anita / Voeste, Anja: Grammatical Variables. In: Hernandez-Campoy, Juan Manuel / CondeSilvestre, Juan Camilo (Hrsg.): The Handbook of Historical Sociolinguistics. Oxford 2012, S. 261–279. Bergmann, Rolf: Zur Herausbildung der deutschen Substantivgroßschreibung. Ergebnisse des Bamberg-Rostocker Projekts. In: Hoffmann, Walter u. a. (Hrsg.): Das Frühneuhochdeutsche als sprachgeschichtliche Epoche. Frankfurt a. M. 1999, S. 59–79. Bergmann, Rolf / Nerius, Dieter: Die Entwicklung der Großschreibung im Deutschen von 1500 bis 1710 (Germanische Bibliothek: Reihe 3, Untersuchungen, Neue Folge 29). 2 Bde. Heidelberg 1998. Besch, Werner: Zur Entwicklung der deutschen Interpunktion seit dem späten Mittelalter. In: Smits, Kathryn u. a. (Hrsg.): Interpretation und Edition deutscher Texte des Mittelalters. Berlin 1981, S. 187–206.

37 Vgl. Rautenberg: Typographie und Leseweisen. 38 Vgl. Klöss: Der Frankfurter Druckerverleger Weigand Han, S. 346 f. 39 Gülfferich-1549, Bl. C1a. 40 Stellvertretend für die Gruppe Egenolff-Müller zitiert aus Müller-1577, Bl. C4a.

Den Leser im Blick  

 161

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 Anja Voeste

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Arend Mihm

Druckersprachen und gesprochene Varietäten Der Zeugniswert von Bämlers »Melusine«-Druck (1474) für eine bedeutende Frage der Sprachgeschichte Zusammenfassung: Der Melusine-Roman des Augsburger Druckers Johann Bämler von 1474 besitzt für Sprachwissenschaftler einen besonderen Erkenntniswert, weil an ihm zwei Setzer gearbeitet haben, die sich in ihrer Sprache auffällig unterscheiden. Dadurch wird dieser Text zu einem aufschlussreichen Zeugen für die kontrovers diskutierte Frage, welche Rolle dem Buchdruck für die Entstehung einer einheitlichen deutschen Sprache zukommt. Nach der älteren Auffassung ist die Vereinheitlichung der verschiedenen Regionalsprachen vom Buchdruck ausgegangen, nach der neueren haben sich die gesprochenen Prestigesprachen der Regionen im Rahmen der frühneuzeitlichen Modernisierung einander angenähert, wobei der Buchdruck für die Durchsetzung dieser sprachlichen Neuerungen gesorgt hat. Vor diesem Fragehorizont werden die Sprachunterschiede zwischen den beiden Setzern mit dem Verfahren der graphematischen Systemanalyse beschrieben, wobei sich zeigt, dass im vokalischen Bereich 14, im konsonantischen Bereich elf zum Teil auffällige Sprachkontraste bestehen. Daran wird deutlich, dass weder der Druckherr noch die Setzer die Intention verfolgt haben, eine einheitliche Sprachform zu verbreiten. Umgekehrt lässt sich nachweisen, dass die Setzer bei ihrer Bearbeitung der Vorlage lautsprachliche Muster unterschiedlicher Vorbildvarietäten in den Druck hereingetragen haben. Aus den Ergebnissen ergibt sich daher insgesamt, dass der Buchdruck zu dieser Zeit und wohl auch später nicht der Auslöser für die Sprachvereinheitlichung war, dass er aber durch die Verbreitung der zukunftsträchtigen Innovationen gesprochener Varietäten einen entscheidenden Anteil daran hat.

1 Historische Schreibsprachenforschung im Zeichen der Schriftlinguistik Die These vom maßgeblichen Einfluss des Buchdrucks auf die Vereinheitlichung der deutschen Sprache, die seit dem 19. Jahrhundert immer wieder diskutiert worden ist,1 hat in der germanistischen Forschung zunehmend Verbreitung gefunden, seit Virgil Moser in seiner Frühneuhochdeutschen Grammatik (1929) sein vielzitiertes For-

1 Schirokauer: Der Anteil des Buchdrucks, S. 323 f.

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 Arend Mihm

schungsergebnis veröffentlichte, nach dem die Führung in der sprachlichen Vereinigungsbewegung des Deutschen schon bald nach der Etablierung des Buchdrucks von den Kanzleisprachen an die Druckersprachen übergegangen sei.2 Fortan habe das Streben der Buchdrucker nach immer größeren Absatzmärkten den »organischen Werdegang« einer hochdeutschen Sprachvereinheitlichung vorangetrieben und an der Wende zum 20. Jahrhundert zur Schaffung der modernen Einheitssprache geführt.3 Mosers Grammatik ist aber eigenartigerweise auch die erste, die den gesprochenen Varietäten einen erheblichen Stellenwert im Gesamtsystem frühneuhochdeutscher Varietäten einräumt, indem sie innerhalb jeder Sprachregion von vier mündlichen Sprachschichten oberhalb der Basisdialekte ausgeht, nämlich (1) Hof- und Adelssprachen, (2) Kirchen- und Predigersprachen (3) Amts- und Ratssprachen und (4) Bürgersprachen. Dabei wird für jede dieser gesprochenen Varietäten auch eine schreibsprachliche Entsprechung angesetzt.4 Damit wird im Unterschied zur älteren Literatur die Existenz von gehobenen Sprachlagen, die man soziolinguistisch als ›Akrolekte‹ bezeichnet, ausdrücklich in die sprachgeschichtlichen Bedingungszusammenhänge integriert. Für die Begründung seiner These von der »führenden Rolle« der Druckersprachen zog Moser allerdings nur zwei schriftliche Varietäten heran, nämlich die Kanzlei- und die Druckersprachen, und setzte dabei schon den Vorgang eines schriftsprachlich gesteuerten Sprachwandels voraus, wie ihn bereits Konrad Burdach mit seiner These vom Sonderweg der neuhochdeutschen Entwicklung konzipiert hatte.5 Denn im Unterschied zu den europäischen Nachbarsprachen, in denen die frühneuzeitliche Sprachvereinheitlichung auf mündliche Konvergenzprozesse der Regionalsprachen in Richtung auf die jeweiligen Prestigevarietäten zurückgeführt wird, nahm Burdach für das Deutsche eine Entstehung im Bereich der Schriftlichkeit an, indem er die frühhumanistische Bildungsarbeit und die Ausformung der Prager Kanzleisprache um 1350 als Ausgangspunkt ansah. Eine derartige schriftsprachlich gesteuerte Sprachvereinheitlichung übertrug Moser dann auf die Buchdruckerthese, wobei er davon

2 Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. 1, Teil 1, S. 2. 3 Moser, Bd. 1, Teil 3, S. 298 f. u. S. 300–303. Gegenargumente und Hinweise auf die ungesicherte Beweislage bei Schirokauer: Der Anteil des Buchdrucks, S. 326–350; Hartweg: Die Rolle des Buchdrucks, S. 1692–1697; Hoffmann: Zur Frage der sprachlichen Progressivität, S. 131 f.; Vorschläge zur Verifizierung der These bei Stopp: Verbreitung und Zentren des Buchdrucks, S. 240–243; Kettmann: Städtische Schreibzentren, S. 69–76. Eine nachdrückliche Verteidigung erfährt Mosers These durch Fujii: Haben Erfindung und Ausbreitung des Buchdrucks zur Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache beigetragen?, S. 177–197. 4 Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. 1, Teil 3, S. 298 f. 5 Burdach: Vom Mittelalter zur Reformation, S. XI–XIII, 21–127; Hartweg / Wegera: Frühneuhochdeutsch, S. 38 f.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

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ausging, dass die Drucker, um ihren Absatzmarkt zu vergrößern, mit Hilfe großräumigerer Merkmale neuartige Schreibvarietäten erschufen, die dann von den Lesern vermündlicht wurden, sodass sie auch in die gesprochenen Varietäten gelangten. Bei diesen Überlegungen zog Moser aber nicht in Erwägung, dass auch in Deutschland, ähnlich wie in den europäischen Nachbarsprachen, von den gesprochenen Varietäten oberhalb der Basisdialekte, etwa von den Adels-, Kirchen- oder Patriziersprachen, wichtige Impulse zur Vereinheitlichung der regionalen Varietäten ausgegangen sein müssen. Denn auch hier standen die mobilen Oberschichten der verschiedenen Regionen in engem Kontakt mit den übergeordneten Kulturzentren und näherten sich dem jeweils vorbildlichen Sprachgebrauch an, sodass neue mündliche Ausgleichsvarietäten entstanden.6 Derartige Annäherungen der gehobenen Mündlichkeit, die in linguistischer Terminologie als ›akrolektale Konvergenz‹ bezeichnet werden, fanden verständlicherweise im Buchdruck eine frühere Aufnahme als in der handschriftlichen Texttradition, weil hier ein direktes wirtschaftliches Interesse an prestigesprachlichen Sprachformen und an einer Ausweitung des Absatzgebietes bestand. Die ›Fortschrittlichkeit‹ der Druckersprachen wäre in diesem Falle also nicht auf eine sprachschöpferische Leistung der Drucker zurückzuführen, sondern auf ihre unmittelbare Orientierung an den Veränderungen im Sprachwertsystem der gesprochenen Varietäten. Vor diesem Hintergrund stellt sich also die Frage, warum Moser und die älteren Sprachhistoriker sich nicht kritisch mit dieser alternativen Erklärungsmöglichkeit auseinandergesetzt haben, obwohl zahlreiche metasprachliche Nachrichten die Priorität der gesprochenen Innovationen bezeugen.7 Eine Erklärung dafür kann das begrenzte Erkenntnisinteresse der älteren Sprachwissenschaft bieten, die ihre Hauptaufgabe in der Beschreibung der phonologischen Gesetzmäßigkeiten und der Rekonstruktion der historischen Dialektzustände sah, während an den überlieferten Schreibsprachen und ihrer spezifischen Funktionsweise ein generelles Desinteresse bestand und man im Einzelfall davon ausging, dass die Prinzipien der modernen Orthographie auch in der Geschichte galten. Diese Vernachlässigung der Schriftlichkeit aber musste nicht nur bei der Analyse und Bewertung der Druckersprachen schwerwiegende Konsequenzen haben, sondern auch bei der Erforschung des akrolektalen Sprachgebrauchs und seiner Auswirkungen auf die Sprachgeschichte. Die Informationen darüber sind nämlich fast ausschließlich in den überlieferten Schreibsprachen enthalten und können nur in der Weise gewonnen werden, dass man zunächst ihre Regelsysteme sorgfältig rekonstruiert und vor diesen die beobachtbaren Neuerungen und Besonderheiten interpretiert. Dass Schriftlichkeit in diesem Sinne ein eigenes Forschungsgebiet darstellt, wurde erst seit 1960 entdeckt und führte schließlich zur Etablierung einer eigenständigen Disziplin der

6 Literatur dazu bei Mihm: Mehrsprachigkeit und Sprachdynamik, S. 30–37. 7 Eine erste Auflistung bei Mihm: Schreibsprachliche und akrolektale Ausgleichsprozesse, S. 87–91.

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Schriftlinguistik, die ihre Aufgabe in der konsistenten Beschreibung geschriebener Sprachformen und deren Einordnung in eine übergreifende Typologie der Schriftsysteme sieht.8 Vor dem Kenntnisstand dieser noch relativ jungen Disziplin verdienen insbesondere die älteren Auffassungen über die Funktionsweise der historischen Orthographie9 eine kritische Überprüfung. Denn hier stehen sich bereits seit dem 19. Jahrhundert zwei entgegengesetzte Auffassungen gegenüber, deren Unvereinbarkeit schon weitgehend in Vergessenheit geraten ist, sodass sie nicht selten in ein und demselben Handbuch oder bei einem Autor zu finden sind. Nach der hauptsächlich von der historischen Dialektologie vertretenen Auffassung, die als gegenwärtige Mehrheitsmeinung gelten kann, haben die Schreibsprachen bereits im Hochmittelalter einen Prozess der Fossilierung durchlaufen und konservieren dementsprechend ähnlich wie die englische Orthographie den Lautstand vergangener Epochen. Traditionelle Schreibkonventionen ohne direkten Lautbezug hätten sich damals bereits wie eine dichte Decke über die historische Mündlichkeit gelegt, sodass keine kontinuierliche Beziehung zur gesprochenen Sprache besteht und allenfalls aus Fehlschreibungen und Hyperkorrektionen Hinweise auf die historische Mündlichkeit gewonnen werden könnten.10 Die historischen Standardgrammatiken des Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen gehen dagegen bis heute davon aus, dass die mittelalterlichen Schreiber das Lateinische als Erstschreibsprache erworben hatten und mit Hilfe der lateinischen Graphie-Laut-Korrespondenzen die volkssprachliche Lautlichkeit paraphrasierten. Noch für das Frühneuhochdeutsche wird diese Auffassung mit Nachdruck von Herbert Penzl (1984) vertreten, wenn er schreibt: »Während der mhd. und frühnhd. Periode konnten fast alle, die auf deutsch schrieben, gleichzeitig auch lateinisch schreiben, also bleiben wie im Ahd. die Lautwerte der lateinischen Buchstaben der Ausgangspunkt für die Wiedergabe der deutschen.«11 Versucht man diese Auffassungen in die Typologie einzuordnen, die an den modernen Orthographien Europas entwickelt wurde und die eine Skalierung zwischen den Polen ›flach‹ (phonemisch) und ›tief‹ (morphophonemisch) vorsieht, so kann das nur teilweise Erfolg haben. Nach der ersten Auffassung würde die historische Orthographie in die Gruppe der tiefen Orthographien gehören, wie sie das Englische und

8 Glück: Metzlers Lexikon der Sprache, S. 593 f.; Dürscheid: Einführung in die Schriftlinguistik, S. 13–21. 9 Der Begriff ›Orthographie‹ wird hier wie von der antiken und mittelalterlichen Fachliteratur für die Regelsysteme historischer Schreibsprachen verwendet, und zwar parallel zum Terminus Schriftsystem. Die Regelsysteme einzelner Schreiber, die die Grundlage für die Rekonstruktion größerer orthographischer Zusammenhänge bilden, werden als Schreibsysteme bezeichnet. 10 Diese Auffassung wird in acht verschiedenen Artikeln der 2. Auflage von Besch u. a.: Sprachgeschichte vertreten (Nr. 17, 78, 87, 97, 107, 118, 137, 168). 11 Penzl: Frühneuhochdeutsch, S. 40.

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Französische vertritt. Diese Zugehörigkeit hätte allerdings weitreichende und bisher kaum berücksichtigte Konsequenzen für die Buchdruckerthese und insgesamt für die These von der schriftgesteuerten Sprachvereinheitlichung. Denn ein auf traditionellen Schreibkonventionen ohne direkten Lautbezug beruhender Orthographietyp kann ähnlich wie im Englischen weder die Lautsprache transportieren noch einen Lautwandel verursachen. Nach der zweiten Auffassung wäre die historische Orthographie gar nicht mit den modernen zu vergleichen, sondern gehörte zum besonderen Typ der Umschrift, der immer dann vorliegt, wenn eine Sprache nach den Regeln einer vorher beherrschten Erstschreibsprache verschriftlicht wird.12 Auch nach dieser Auffassung müsste die These von der schriftgesteuerten Sprachvereinheitlichung zumindest als fraglich gelten. Denn Umschriften weisen in der Regel eine beträchtliche Variabilität auf und streben nur selten das 1:1-Verhältnis zwischen graphetischen und phonemischen Einheiten an, das eine problemlose Steuerung der Aussprache durch die Schrift ermöglicht, wie das an den flachen Orthographien des Finnischen oder Italienischen ersichtlich ist. In Hinblick auf das Verhältnis von gesprochenen Varietäten zur Druckersprache könnte dieser Orthographietyp die Priorität der mündlichen Innovationen begünstigen, da Umschriften sich immer an der Lautlichkeit gesprochener Vorbildsprachen orientieren. Eine Entscheidung zwischen diesen entgegengesetzten Auffassungen, die nur auf empirischem Weg gewonnen werden konnte, wurde erst durch die Entstehung der historischen Graphematik möglich, die mit strukturalistischen Methoden die Regelsysteme der historischen Orthographien zu entschlüsseln versucht.13 Dabei wurde schon bald ein Verfahrenskanon entwickelt, mit dem sich die Korrespondenzen zwischen den graphischen Elementen und den Einheiten der phonologischen, morphologischen und syntaktischen Sprachebene beschreiben ließen. Schon früh wurde auch der schreiberseparierende Untersuchungsansatz als obligatorisch betrachtet, da noch bis ins 18. Jahrhundert die Regelsysteme parallel tätiger Schreiber so stark

12 Weitere Beispiele für Umschriften aus dem deutschen Sprachbereich bieten etwa die in hebräischen Schriftzeichen überlieferten jiddischen Texte und die auf der Basis der nhd. Orthographie verschrifteten Dialektdichtungen des 19. und 20. Jahrhunderts. 13 Als Pionierzeit der historischen Graphematik können die Jahrzehnte zwischen 1965 und 1985 gelten, wobei Fleischer: Strukturelle Untersuchungen, S. 5–18 das Verdienst zukommt, zuerst die funktionale Vollwertigkeit der historischen Orthographien erkannt zu haben. Zu den Leistungen der verschiedenen Autoren und Untersuchungen bei der Entwicklung der graphematischen Methodik Elmentaler: Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen, S. 42–49; Elmentaler: Prinzipien und Motive des Schreibens, S. 22–26. Am Ende dieser Phase war bereits ein Forschungsstand erreicht, der es Glaser: Graphische Studien zum Schreibsprachwandel ermöglichte, die Schreibsysteme von vier Augsburger Kanzleischreibern in Hinblick auf ihre Graphieninventare und Lautzuordnungsregeln qualitativ und quantitativ zu beschreiben und damit die Besonderheiten und Übereinstimmungen der einzelnen Schreibsysteme präzise zu bestimmen.

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voneinander abweichen konnten, dass eine zusammenfassende Beschreibung ihre orthographischen Prinzipien unsichtbar machte.14 Aufbauend auf diesem graphematischen Forschungsstand wurde 1994 an der Universität Duisburg ein DFG-gefördertes Graphematikprojekt begonnen, das sich das Ziel gesetzt hatte, die diachronische Entwicklung der orthographischen Systeme vom Hochmittelalter bis ins 17. Jahrhundert zu beschreiben und zugleich die Voraussetzungen zu schaffen, um die widersprüchlichen Auffassungen der älteren Forschung über die Funktionsweise der historischen Orthographie zu klären.15 Dabei ergab sich zunächst aus einer vergleichenden Analyse von zehn subsequenten Schreibsystemen, die zwischen 1330 und 1630 in der Stadt Duisburg verwendet wurden, dass die Schreiber in der Regel nicht die bei ihren Vorgängern üblichen Wortschreibungen übernahmen oder ihr Graphieninventar nachahmten, sodass sich auch keine Entstehung einer lokalen Schreibtradition feststellen ließ.16 Daraus zog Michael Elmentaler (2003) den Schluss, der inzwischen auch durch Untersuchungen aus anderen Regionen bestätigt wurde, dass die Annahme eines damals geltenden tiefen Orthographietyps, der auf der Basis konventioneller Schreibungen ohne direkten Lautbezug operierte, nicht aufrecht zu halten ist.17 Demgegenüber bestätigte sich die These, dass die damaligen Schriftsysteme auf dem Orthographietyp der Umschrift beruhten. Denn an allen vier Untersuchungsorten (Duisburg, Essen, Köln, Venlo) waren nebeneinander sehr verschiedenartige Graphemsysteme in Gebrauch, die etwa den vokalischen Lautbereich in sieben bis zwölf Klassen gliederten und dafür jeweils unterschiedliche Kriterien verwendeten, sodass die gegenseitige Lesbarkeit nur durch die gemeinsame Verfügung über die Graphie-Laut-Zuordnungsregeln der lateinischen Erstschreibsprache verständlich wird.18

14 Kettmann: Die kursächsische Kanzleisprache, S. 299. 15 Das Projektmaterial wurde im Nordwesten des Sprachgebiets erhoben, vor allem im Rheinmaasländischen und Ripuarischen. Bevorzugte Ortspunkte waren Duisburg (Elmentaler: Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen, S. 49–51), Essen, Venlo (Weber: Venlo – Duisburg – Essen, S. 17–28) und Köln (Mihm: Sprachwandel im Spiegel der Schriftlichkeit, S. 171–190, S. 193–216, S. 231–263). 16 Die durchaus bestehenden Gemeinsamkeiten zwischen den zehn Schreibsystemen gehen vor allem darauf zurück, dass sie sich auf die gesprochene Patriziervarietät ein und derselben Stadt beziehen, nicht aber auf orthographische Gemeinsamkeiten. Nur durch solche aber wäre die Annahme einer Kanzleitradition zu begründen. 17 Dem entsprechen auch neuere Untersuchungen, die keine Evidenz für die Gültigkeit eines morphematischen Schreibprinzips vor 1500 erbringen konnten. Mihm: Zur Geschichte der Auslautverhärtung, S. 133–206; Ruge: Aufkommen und Durchsetzung morphembezogener Schreibungen, S. 118–137, 233–261. 18 Die Differenzen zwischen den Graphemsystemen werden deutlich in den Darstellungen bei Elmentaler: Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen, S. 351–373 und Mihm: Sprachwandel im Spiegel der Schriftlichkeit, S. 243–248.

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Da alle Ergebnisse des Duisburger Projektes auf Sprachmaterialien des Nordwestens beruhten, wurde in den Jahren 2009/10 zur Überprüfung des Gültigkeitsbereichs das Vergleichsprojekt »Alemannische Schreibsysteme« durchgeführt, bei dem auf bereits vorhandene Materialien der Universität Freiburg zurückgegriffen werden konnte.19 Ausgewertet wurden dabei 50 Schreibsysteme von lateinkundigen Schreibern, die in 19 verschiedenen Klöstern des Oberrheingebiets zwischen 1300 und 1450 an der Niederschrift von Heberegistern beteiligt waren. Diese Untersuchungen bestätigten in den wesentlichen Punkten die Duisburger Projektergebnisse und brachten darüber hinaus eine erhebliche Wissenserweiterung hinsichtlich der Umschriften. Der große Variationsspielraum, der sich den Schreibern durch die gemeinsame Verfügung über die Zeichen der lateinischen Erstschreibsprache eröffnete, wird vor allem an den wechselnden Graphieninventaren sichtbar, bei denen keiner der 50 Schreiber mit einem anderen übereinstimmte. Das Prinzip der Umschrift erlaubte es, nebeneinander verschiedene Stilrichtungen zu verwenden, wobei etwa ein ›reicher Stil‹ zwischen 43 Vokalgraphien differenzieren konnte, während ein ›strenger Stil‹ mit 13 Vokalgraphien auskam. Das ließ zugleich erkennen, dass schriftliche Vorlagen und Muster noch eine geringere Rolle spielten, wohingegen die Lautlichkeit der Vorbildvarietäten einen großen Einfluss hatte. Besonders deutlich wurde das an der Übernahme von kontextspezifischen Lautnuancen oder sogar prosodisch bedingten Lautmustern, die sich aufgrund der Graphiendistribution in Texten des reichen Orthographiestils nachweisen ließen. Diese Befunde, die in der Forschung noch weitgehend unberücksichtigt sind, kennzeichnen die Lage der volkssprachlichen Schriftlichkeit unmittelbar vor der Epoche des Buchdrucks. Sie zeigen, dass zu jener Zeit die Schreibsprachen noch offen dafür waren, lautliche Neuerungen der gesprochenen Varietäten aufzunehmen, umgekehrt aber wegen ihrer Variabilität kaum einen schriftgesteuerten Sprachwandel bewirken konnten. Für die Buchdruckersprachen und die Frage nach ihrer Rolle beim Vereinheitlichungsprozess der deutschen Sprache wird damit eine wichtige Voraussetzung deutlich, die zugleich eine Hilfestellung für eine empirisch basierte Lösung dieses Problems bieten kann. Dementsprechend müssen hinsichtlich der Druckersprachen zunächst zwei grundlegende Fragen geklärt werden, nämlich: Wie lange haben die Druckersprachen den Einflüssen gesprochener Varietäten offen gestanden und von welchem Zeitpunkt an kann man die Orientierung an lautlichen Neuerungen der Prestigesprachen ausschließen?

19 Es handelt sich um die Urbargrammatiken, die um 1960 unter der Leitung von Friedrich Maurer zur Vorbereitung des Südwestdeutschen Sprachatlasses erarbeitet worden waren. Mein herzlicher Dank gilt Herrn Kollegen Konrad Kunze, der mir die Materialien zugänglich machte und mir ihre Entstehungshintergründe erläuterte. Eine Veröffentlichung der Projektergebnisse ist für 2012 vorgesehen.

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Inwieweit liegt den Druckersprachen noch der historische Orthographietyp der Umschrift zugrunde und wann vollzog sich der Übergang zur modernen Orthographie mit fester Wortschreibung, der einen schriftgesteuerten Wandel der Lautsprache ermöglichte? Diese Fragen können im Folgenden zwar nur am Beispiel eines einzigen Druckes behandelt werden, doch sollen dabei die prinzipiellen Aspekte im Mittelpunkt stehen.

2 Zur graphematischen Analyse von Bämlers »Melusine«-Druck (1474) Die Schreibnormen und Verfahrensweisen der Textvervielfältigung, die in der Phase des handschriftlichen Schreibens entstanden waren, haben sich seit Verbreitung des Buchdrucks tiefgreifend verändert, sodass unter den modernen Orthographien die gedruckten Texte eine Leit- und Steuerungsfunktion für die gesprochenen Varietäten übernehmen können und es umgekehrt nicht mehr möglich ist, dass Prestigelautungen gesprochener Varietäten Eingang in die Druckersprachen finden. Wann und in welcher Weise sich dieser Wandel vollzogen hat, ist jedoch noch ungeklärt, und es gilt als offene Frage, ob nicht schon der erste Übergang zum gedruckten Medium eine Änderung des Schreibsprachgebrauchs mit sich gebracht hat. Ein früher Einfluss der Druckersprachen auf die allgemeine Sprachentwicklung wird etwa durch die umfangreiche Untersuchung von Akihiko Fujii zur Augsburger Offizin Günther Zainers nahe gelegt,20 in der 18 Drucke aus der Zeit zwischen 1471 und 1478 einer intensiven sprachlichen Analyse unterzogen werden. Dabei wendete er erstmals das für die Handschriftenforschung obligatorische Verfahren der Schreiberseparierung in analoger Weise auf den Buchdruck an und entwickelte eine Methode zur Unterscheidung der an einem Werk beteiligten Setzer, die ihn zu der beträchtlichen Zahl von über 25 beteiligten Setzern führte. Angesichts dieser großen Textmenge musste er sich bei der Auswertung allerdings auf einen Katalog von zehn graphematischen und morphologischen Variablen beschränken, der nicht auf die Charakterisierung von Orthographietypen angelegt war. Im Folgenden wird demgegenüber von einem komplementären Ansatz ausgegangen, bei dem nur ein einziger Druck als Materialbasis dient, der dann im Sinne einer Mikroanalyse mit jenen graphematischen Untersuchungsverfahren ausgewertet wird, die auch bei dem Duisburger Graphematikprojekt und dem Projekt »Alemannische Schreibsysteme« verwendet wurden. Ausgewählt wurde dazu der von Johann Bämler

20 Das wird vor allem im Untersuchungsresumée deutlich, Fujii: Günther Zainers druckersprachliche Leistung, S. 222–224.

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Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

1474 in Augsburg veröffentlichte Melusine-Roman (Bämler-1474),21 der in einem genuinen Zusammenhang mit der frühen Augsburger Druckertradition steht, die damals eine zentrale Funktion für den deutschsprachigen Buchdruck innehatte und deren Sprachform noch 1508 als die verständlichste in ganz Deutschland angesehen wurde.22 Der in zwei Exemplaren überlieferte Text stellt für die orthographiebezogene Fragestellung ein besonders wertvolles Zeugnis dar,23 weil an ihm zwei Setzer gearbeitet haben, die sich in ihren Schreibsystemen deutlich unterscheiden. Von den

f.45

IV

IV

IV

IV

IV

f.93r

IV

IV

IV

IV

IV

f.96

f.98

IV

a b c d e f f g h i k m Lage 123 14243 1442443 Setzer A

Setzer B

ABA

Abb. 1: Der Setzerwechsel in: Melusine, Augsburg: Johann Bämler, 1474

zwölf Lagen des Buchblocks (mit 99 bedruckten Folioblättern) gehen die Lagen a bis e auf den Setzer A zurück, die Lagen f bis l auf den Setzer B. Die Arbeit an der letzten Lage m haben sich die Setzer in der Weise geteilt, dass A die 3 Außenbögen des Quaternios übernahm, B den Innenbogen.24 Für die Kontrastierung des Orthographiestils

21 Zur »Melusine«-Überlieferung insgesamt und zur Stellung von Bämlers Veröffentlichung unter den frühnhd. Drucken Rautenberg: Melusine, S. 61–100. 22 So empfiehlt der Buchhändler Johannes Rynmann von Öhringen für Druckwerke die »Augspurger Sprach, die da vnder andern teütschen zungen gemainiglich für die verstentlichste genommen und gehalten wirt.« Zitiert nach Künast: Entwicklungslinien des Augsburger Buchdrucks, S. 5. Dazu auch Künast: Auff gut verstentlich Augspurger Sprach, S. 9–15. Zur Geschichte der Augsburger Druckersprache Stopp: Das in Augsburg gedruckte Hochdeutsch, S. 151–172; Graser: Die Zusammenstellung und Auswertung eines Korpus zur Augsburger Druckersprache, S. 174–187. 23 Die Untersuchung beruht auf dem Exemplar der BSB, das auch als elektronisches Faksimile zugänglich ist. Auf ihm beruht auch die Neuausgabe von Müller: Romane des 15. und 16. Jahrhunderts, S. 9–176. Gearbeitet wurde mit einer digitalisierten Umschrift, die ich freundlicherweise zu einem großen Teil von Martin Behr aus den Materialien des Erlanger DFG-Projekts »Die Melusine des Thüring von Ringoltingen – Buch, Text und Bild« erhalten habe. Der andere Teil der Umschrift beruht auf dem Faksimile des Münchner Exemplars. Bei der sprachlichen Analyse konnte ich mich auf die Vorarbeiten von Habermann: Die Sprache der »Melusine«, S. 101–113 und Behr: Ausgleichsvorgänge in Druckersprachen, S. 49–77 stützen. 24 Die bogenweise Aufteilung der letzten Lage scheint nicht zu den bei Fujii: Günther Zainers druckersprachliche Leistung, S. 115 f. ausgeführten Grundsätzen zu passen. Sie zeigt, dass neben

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stellt der Melusine-Druck daher zwei ausreichend große Korpora zu Verfügung, von denen das A-Korpus ca. 19 000 Wörter, das B-Korpus ca. 21 500 Wörter umfasst, und die es im Prinzip möglich machen, die graphematischen Differenzen auf allen Ebenen zu charakterisieren. Bereits ein erster Überblick über die erheblichen schreibsprachlichen Differenzen zwischen beiden Korpora lässt erkennen, dass die Setzer sich nicht wie moderne Setzer der buchstabengenauen Wiedergabe ihrer Vorlage verpflichtet fühlten, sondern einen Gestaltungsspielraum in Anspruch nahmen, den es genauer zu bestimmen gilt. Ein Vorbild für diesen freieren Umgang mit dem Vorlagentext kann man bei jenen spätmittelalterlichen Berufsschreibern finden, die für die Verbreitung volkssprachlicher Texte zuständig waren. Ihr Ziel war es nicht, wie neuere Untersuchungen verdeutlicht haben, möglichst exakte Kopien herzustellen, vielmehr waren sie bestrebt, die überlieferte Vorlage an den aktuellen Gebrauchszusammenhang anzupassen, d. h. vor allem an die Erwartungen der potentiellen Abnehmer. Das bedeutete in sprachlicher Hinsicht eine Modernisierung und Anpassung an die für die Empfänger gültige Prestigevarietät, darüber hinaus aber auch eine Öffnung, Deutung oder Straffung des Textes, sodass man die Rolle des Schreibers mit der eines Dolmetschers verglichen hat.25 Während Schreibern wie Setzern die Sprache der Vorlage physisch in Form eines geschriebenen oder gedruckten Textes zugänglich war, konnten ihnen die sprachlichen Ansprüche ihrer Empfänger nur mental präsent sein, wobei es von großer Bedeutung ist, in welcher medialen Form sie den Setzern vorschwebte. Dabei wäre beim gegenwärtigen Forschungsstand noch mit den beiden verschiedenen Auffassungen über das System des damaligen Schreibens zu rechnen. Unter der noch verbreiteten Annahme einer tiefen Orthographie entnahm der Schreiber/Setzer den Wortbildern auf visuellem Wege ohne Lautierung der Graphien den Sinn und assoziierte ihn mit den visuellen Wortbildern der Empfängersprache,26 sodass man von einem schriftbildgesteuerten Dolmetschprozess sprechen könnte. Unter der Annahme einer lautlich basierten Orthographie orientierte sich der Schreiber/Setzer dagegen an einer auditorisch realisierten Vorbildsprache und setzte deren Laute in Lettern um, was als lautsprachlich gesteuerter Dolmetschprozess zu bezeichnen wäre. Da aber eine tiefe Orthographie durch den gegenwärtigen graphematischen Forschungsstand nicht zu

der Kontrolle des Lagenanfangs und -endes generell auf den Wechsel der Druckerorthographie zu achten ist. 25 Einen Überblick über die Textüberformungen durch mittelalterliche Schreiber bieten die beiden Sammelbände Schubert: Der Schreiber im Mittelalter und Besch / Klein: Der Schreiber als Dolmetsch. Dabei wurde für das Folgende vor allem der Beitrag von Schubert: Versuch einer Typologie von Schreibereingriffen, S. 125–144 zugrunde gelegt. Zu den Vorlagen der Setzer vgl. auch Janota: Von der Handschrift zum Druck, S. 126–133. 26 So spricht etwa Besch: Der Schreiber in vielfältiger Vermittlungsfunktion, S. 209, von einem »Transferieren in den landschafteigenen Schreibusus« und schließt damit die Orientierung an der Lautlichkeit einer Zielsprache von vornherein aus.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 173

stützen ist und außerdem für den damaligen Leseprozess eine Lautierung der Graphienfolge bezeugt wird,27 wird im Folgenden eine Modellierung für die Tätigkeit des Setzers entworfen, bei der die Textanpassung über eine lautlich-auditorische Vermittlung erfolgt.28

Vorstellung vom Sprachgebrauch der Abnehmer

Die Sprachform der Vorlage

Der

Der Setzer und seine Erfahrung lautes Lesen

auditorisches Gedächtnis

angepasste Text Typen-Auswahl

Abb. 2: Modell für den Arbeitsprozess eines Schriftsetzers bei der Textüberführung

Die Vorlage für den geplanten Druck wurde in der Regel vom Druckherrn beschafft, der auch vorgeben konnte, für welchen Abnehmerkreis der Text aufbereitet werden sollte. Die konkrete Anpassung der Vorlage war dagegen die Aufgabe der Setzer, die man damals noch zu den lateinkundigen Gebildeten rechnen muss.29 Bei ihnen sind umfangreiche sprachliche Erfahrungen vorauszusetzen und dementspre-

27 Die neueren Forschungen über den Leseprozess in Antike und Mittelalter behandelt Ludwig: Geschichte des Schreibens, S. 44–52, 95–96. Danach vollzog sich die Sinnentnahme des Geschriebenen damals durch Lautierung der Graphienfolge, wobei den realisierten Lautketten die hörsprachlich bekannten Wörter zugeordnet wurden. Eine visuelle Worterkennung, die gelegentlich für das Lateinische bezeugt wird, war selbst geübten Lesern nur bei hochfrequenten Wörtern mit fester Morphemschreibung möglich. 28 Das Prozessbild folgt in wesentlichen Punkten den Überlegungen von Schubert: Versuch einer Typologie von Schreibereingriffen, S. 130–132. 29 Bildungsgrad der Augsburger Drucker und Setzer bei Künast: Getruckt zu Augsburg, S. 72–77. Fujii: Günther Zainers druckersprachliche Leistung, S. 113, kommt zu dem Ergebnis, dass zur Beschleunigung des Herstellungsprozesses in der Regel zwei Setzer beteiligt waren.

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chend auch Vorstellungen von den Bedürfnissen der potentiellen Käufer.30 Insgesamt erfolgte der eigentliche Schriftsatz schrittweise, indem der Setzer ein Wort oder eine Phrase der Vorlage lautierte und den entsprechenden Sinn ermittelte, um ihn dann in die vorgestellte Ausspracheweise der Abnehmer zu übertragen. Dabei musste er die vorbildliche Form eines phonologischen Wortes solange im auditorischen Gedächtnis behalten, bis er die entsprechenden Typen aus dem Setzkasten genommen und in den Winkelhaken gelegt hatte.

2.1 Die orthographischen Stile der Setzer Wie groß das Interesse des Druckherrn an einer einheitlichen Sprachform des Textes war und welche Freiräume die Setzer bei ihrer Anpassung der Vorlage an den aktuellen Verwendungszweck besaßen, ist bisher wenig untersucht worden. Für die Offizin Zainers hat Fujii eine zunehmende Regulierung der Setzersprachen festgestellt und diese auf den Druckherrn zurückgeführt, ja darin seine druckersprachliche Leistung gesehen.31 Dabei konnte er allerdings wegen des großen Korpusumfangs nur wenige Variablen erheben, sodass die Vereinheitlichungsabsicht des Druckherrn, die nur an ihnen sichtbar gemacht werden konnte, auch auf der Repräsentativität dieser Variablen beruht. Für eine umfassende Beurteilung von Setzerdifferenzen ist es daher wünschenswert, die jeweiligen Schreibsysteme in ihrer Gesamtheit zu charakterisieren und vergleichbar zu machen, wofür das Verfahren der graphematischen Systemanalyse, wie es im Duisburger Projekt entwickelt wurde, ein geeignetes Instrument bereitstellt. Dementsprechend wurden die Korpora der beiden Setzer des Melusine-Drucks hinsichtlich ihrer sprachlichen Kontraste möglichst vollständig analysiert, wobei die Frage nach ihrem Aussagewert für die Vorbildsprache des Setzers im Vordergrund stand; weniger interessierten dagegen die lokalen Merkmale der Herkunft, des Ausbildungsortes oder der letzten Wirkungsstätte, die immer auch eine Rolle gespielt haben können.32 Für die Gliederung der Kontraste galten drei Kategorien: (1) Differenzen auf der Ebene der Graphe (2) Differenzen in der Verwendung von Graphien (3) Differenzen zwischen den Graphie-Laut-Zuordnungsregeln (GLZ)

30 Allerdings wird man auch damit rechnen müssen, dass die Vorstellungen von der Empfängersprache und der vorbildlichen Varietät des Setzers gelegentlich zusammenflossen. 31 Dabei geht er allerdings von einer Chronologie aus, die teilweise nicht durch die Druckdatierung bezeugt wird, sondern von der neueren Forschung sekundär erschlossen wurde. Vgl. Künast: Wie Sprachwissenschaft und Inkunabelforschung voneinander profitieren können, S. 232–235. 32 Bei professionellen Setzern hat man davon auszugehen, dass die Zielvarietät eine bedeutendere Rolle spielt als die Spuren ihrer landschaftlichen Herkunft. Zudem hat sich erwiesen, dass die vermeintlichen Herkunftsindikatoren meist mehrdeutig sind (vgl. Meissburger: Urkunde und Mundart, S. 54–56).

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

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2.1.1 Differenzen der graphischen Ebene Unter Graphen werden jene Zeichen verstanden, die keine lautunterscheidende Funktion besitzen. Die Kontraste der Setzer auf dieser Ebene können daher nicht auf eine lautliche Überformung abzielen, sondern gehen in der Regel auf handwerkliche Routinen zurück, die sich im Laufe der Berufstätigkeit ausgebildet hatten.33 Sie lassen die Möglichkeiten erkennen, die ein damaliger Setzer besaß, um die Vorlagensprache auf einer untersten Ebene zu überformen, was im Folgenden nur exemplarisch angedeutet werden soll. Besonders groß sind etwa die Kontraste bei der Verwendung von Rund-r und Normal-r, wobei teilweise auch die graphotaktischen Regeln differieren. Das Rund-r, das A in 19 % der möglichen Fälle verwendet, steht bei ihm fast nur nach und nach Normal-r, B dagegen setzt es in 32 % der möglichen Fälle, und zwar vor allem in den typischen Positionen, nämlich nach Buchstabenformen mit Rechtsrundung wie ,

, usw. Auch im Gebrauch der konventionellen Kürzel werden erhebliche Differenzen sichtbar, wobei A generell höhere Frequenzen zeigt als B. So erscheint für ›und‹ bei A zu 73 %, bei B zu 53 %. Bei für ›das‹ ist die Differenz fast ebenso groß (A 49 %, B 30 %). Beim er-Kürzel ist die Gesamtdifferenz zwar wesentlich geringer (A 13 %, B 9 %), doch zeigt sich bei den einzelnen Morphemen ein deutlicher Abstand, so bei ›oder‹ (A 44 %, B 29 %) oder beim Präfix ›ver-‹ (A 38 %, B 17 %). Beim Nasalstrich bestehen die Unterschiede weniger in der Frequenz als in der Positionierung, wobei A etwa bei Doppelnasal den Strich über den Konsonanten setzt, B über den vorangehenden Vokal. Schon diese wenigen Beispiele lassen erkennen, dass auf der graphischen und graphotaktischen Ebene kein Vereinheitlichungsbedarf bestand, sondern die Setzer die Freiheit besaßen, die Druckvorlage nach ihren eigenen Konventionen zu überformen.

2.1.2 Differenzen in der Graphienverwendung Da Graphien die elementaren Zeicheneinheiten darstellen, die zur Unterscheidung von Lautdifferenzen dienen, ist die vollständige Erfassung für die Charakterisierung des orthographischen Regelsystems unabdingbar. Dazu dient das Graphieninventar, das für jeden Setzer zu erstellen ist und dessen Daten zur besseren Vergleichbarkeit in ein einheitliches Darstellungsschema zu bringen sind.34 Als Muster für die Vokal-

33 Neuerdings hat Voeste: Orthographie und Innovation, S. 80–99, auf die wachsende orthographische Bedeutung dieser Routinen aufmerksam gemacht. Dabei gewinnen mit der zunehmenden Professionalisierung des Setzerhandwerks vor allem die Ligaturen, die Kürzelverwendung und die Berücksichtigung des Zeilenausgleichs Einfluss auf den Schriftsatz. 34 Zur theoretischen Begründung und praktischen Durchführung des Verfahrens vgl. Elmentaler: Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen, S. 89–96.

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46 151

0,1 4 0,9

11

0,3 90

0,1 0,1

24

53

13 0,3 31

2,7 31 2,8

7

13

399 46 1,5 0,2 111 0,1 4 7

4

0,2

0,1 0,5

220 13 24 5 Abb. 3: Das vokalische Graphieninventar des Setzers A in: Melusine, Augsburg: Johann Bämler, 1474

graphien wird auf das Vokaldreieck zurückgegriffen, nach dessen Prinzip die Elementargraphien jeweils auf der linken Seite angeordnet sind. Die Kombinationsgraphien werden je nach ihrem ersten bzw. zentralen Vokalzeichen rechts neben die Elementargraphien gestellt. Die Bedeutung, die einer Graphie im Rahmen des Schreibsystems zukommt, ist durch eine Indexzahl gekennzeichnet, die die Frequenz pro 1000 Wörter angibt. Da das Inventar für den Setzer B nach dem gleichen Schema wie in Abbildung 3 ermittelt wurde, sind die Übereinstimmungen und Gegensätze der Setzer im Bereich der Zeichenebene unmittelbar erfassbar. So unterscheiden sich die Setzer, obwohl bei ihnen der gleiche Typensatz im Setzkasten gelegen haben wird, insgesamt durch zehn Graphien, wobei A, dessen Inventar insgesamt 36 Einheiten enthält, die Graphien , , , , und bietet, die B nicht benutzt. Das Inventar B mit insgesamt 34 Einheiten enthält zusätzlich die Graphien , , und . Auch wenn diese Graphien nur selten vorkommen, zeigen sie doch einen zusätzlichen Bezeichnungsbedarf der Setzer an. Wesentlich aussagekräftiger sind die Kontraste zwischen den Setzern bei der Auslastung der Graphien, weil sie ihre Präferenzen bei der Zeichenauswahl erkennen lassen (Abb. 4). Sie geben damit möglicherweise Hinweise auf deren Motive, denn es wird Gründe geben, warum A die Graphie 23-mal (69:3 Belege) und die Graphie 13-mal (261:20 Belege) so häufig verwendet wie B und warum die Graphien und beim Setzer B dreimal (17:51 Belege) bzw. zweimal (30:63 Belege) häufiger vorkommen als bei A. Insgesamt ist den vokalischen Graphieninventaren gemeinsam,

 177

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

























Setzer A





Setzer B

Abb. 4: Vokalgraphien mit hohen Frequenzdifferenzen bei A und B35

dass sie im Vergleich zum System der historischen Lautpositionen,36 für das man 24 Einheiten ansetzt, eine Überdetermination aufweisen, die weit über der der alemannischen Schreibsysteme liegt.37 Grundsätzlich ist daher mit der Möglichkeit zu rechnen, dass die Setzer diese zur lautlichen Differenzierung etwa im subphonematischen Bereich funktionalisiert haben.

35 Die Säulen kennzeichnen die prozentualen Anteile der Setzer an der Gesamtverwendung der Graphie. Sie berücksichtigen nicht die absoluten Frequenzen, von denen jedoch aus den Frequenzangaben in Abb. 3 ein Eindruck zu gewinnen ist. 36 Anstelle des Begriffs ›Phonem‹, der sich für die Moderne durch die Minimalpaaranalyse definieren lässt, werden die lautlichen Einheiten der historischen Sprachstufen, die aufgrund von Lautetymologie, Lautkontext und graphematischer Repräsentation gewonnen wurden, mit dem Begriff ›Lautposition‹ bezeichnet. Dazu Elmentaler: Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen, S. 97–106. Lautpositionen werden durch geschweifte Klammern bezeichnet; als Bezugsgrößen sind hier die Einheiten des Standardmhd. verwendet, die durch entsprechende Kontext-angaben differenziert werden. 37 Nur fünf der 50 alemannischen Schreiber weisen ein vokalisches Graphieninventar auf, das mehr als 30 Einheiten umfasst.

178 

 Arend Mihm

Für den konsonantischen Graphiengebrauch der beiden Setzer wurden Inventare nach dem gleichen Verfahren wie bei den Vokalzeichen (vgl. Abb. 3) erstellt, an denen deutlich wurde, dass der Inventarumfang im Bereich des Konsonantismus weniger stark differierte als im Bereich des Vokalismus. A verwendete, wenn man die konsonantischen Kürzel außer Acht lässt, 43 verschiedene Graphien, von denen nur bei B keine Entsprechung hat. Demgegenüber umfasst das Inventar von B 44 Einhei80

70

60

50

40

30

20

10

0





















Setzer A



Setzer B

Abb. 5: Konsonantengraphien mit hohen Frequenzdifferenzen zwischen A und B

ten, da es zusätzlich zu A noch die Graphien und enthält. Die bedeutendsten Kontraste zwischen den Inventaren gehen auch hier auf die unterschiedliche Frequenz zurück, mit der die Setzer die Graphien verwenden. So erscheint die Graphie bei A fast doppelt so häufig wie bei B (616:334 Belege), während die Graphien

(289:785 Belege), (20:64 Belege) und (20:82 Belege) bei B deutlich dominieren, wobei sie das Doppelte bis Vierfache ausmachen. Ersichtlich ist auch, dass die Frequenzunterschiede bei den Konsonantengraphien nicht so groß sind wie im Vokalbereich. Doch auch diese geringeren Differenzen können nicht zufällig sein und verdienen daher eine eingehende Analyse.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 179

Insgesamt können auch die konsonantischen Inventare mit 43 bzw. 44 Graphien als überdeterminiert gelten, da das System der Lautpositionen maximal 30 Einheiten umfasst. Die Inventare der 50 alemannischen Schreibsysteme weisen einen Durchschnittsumfang von 37 Konsonantengraphien aus, nur drei von ihnen zeigen Werte über 45. Das deutet darauf hin, dass in der Frühzeit des Buchdrucks noch keine Entwicklungstendenz zu einer 1:1-Beziehung zwischen Graphien und Lautpositionen bestanden hat, sondern eher eine Tendenz zur Überdetermination. Durch sie aber ist keine Festigung der graphematischen Sprachformen zu erwarten, die die Schrift zu einem Mittel zur Tradierung fester Wortformen machen könnte.

2.1.3 Zur Darstellung der Graphie-Laut-Zuordnung (GLZ) Das Zentrum des Regelsystems der modernen Orthographie bilden die Graphie-LautZuordnungsregeln, die dort klar definierbare Größen darstellen. Dagegen lassen sich in den frühen Druckersprachen noch keine festen Regeln, sondern nur Bündel komplexer Beziehungen erkennen, wobei ein und dieselbe Graphie auf sieben verschiedene Lautpositionen verweisen kann und umgekehrt eine einzige Lautposition durch sieben verschiedene Graphien repräsentiert wird.38 Für das Verständnis einer Setzerorthographie ist es jedoch unverzichtbar, zumindest ein generalisiertes Bild vom Verhältnis des Graphiengebrauchs zur Lautebene zu gewinnen. Daher wird im Folgenden ein Verfahren gewählt, das nur die Leitgraphien berücksichtigt, d. h. jene Graphien, die mit einer Regelmäßigkeit von über 50 % zur Kennzeichnung einer Lautposition verwendet werden, während zunächst jene Graphienbeziehungen, die nur gelegentlich auftreten, außer Acht bleiben. Zur Darstellung der Lautebene wird dabei ein einheitliches Schema benutzt, das für den Palatalbereich veranschaulicht wird.39 Die Differenzen, die in diesem Teil der Lautebene sichtbar werden, geben Aufschlüsse über das Verhältnis zwischen Druckersprache und gesprochenen Varietäten und sollen daher ausführlicher behandelt werden. Die schwarzen Umrandungen in Abbildung 6 bezeichnen die Klassen, zu denen die neun palatalen Lautpositionen durch die Leitgraphien zusammengefasst werden, die durch die ovalen Legenden am Rande bezeichnet sind. Dabei gliedert der Setzer B

38 So kann etwa im untersuchten »Melusine«-Druck bei Setzer B die Graphie auf die sieben Lautpositionen {ö}, {ȫ}, {o}, {ä1}, {e}, {ü}, {ô} verweisen, die Lautposition {ei} kann durch die sieben Graphien , , , , , , wiedergegeben werden. 39 Die für jene Epoche angesetzten 24 Lautpositionen werden dabei nach dem Prinzip des Vokaldreiecks angeordnet, sodass die Waagerechte nach dem palatalen, zentralen und velaren Artikulationsbereich gegliedert ist, die Senkrechte nach dem Öffnungsgrad. Langvokale und Diphthonge sind dabei in der Kategorie ›zweimorig‹ zusammengefasst und unmittelbar neben der Kategorie ›einmorig‹ angeordnet. Falls für eine Lautposition keiner Graphie die Rolle einer Leitgraphie zukommt, werden die beiden häufigsten Graphien angegeben.

180 

 Arend Mihm

Setzer A einmorig

{i} mit

zweimorig

einmorig

{ī} zīt

{i} mit

Setzer B

zweimorig

{ī} zīt



{ie} lieb

{ie} lieb

{ei} bein

{ei} bein

{ẹ} ende

{ë} nest

{ä} wälsch

{ē} sēle

{ẹ} ende

{ē} sēle

{ë} nest {ǟ} rǟte

{ä} wälsch

{ǟ} rǟte

Abb. 6: Die Rasterung des Palatalbereichs der Lautebene durch die Setzer A und B

den Gesamtbereich in nur vier Klassen, indem er die fünf offenen Palatalpositionen {ẹ}, {ē}, {ë}, {ä}, {ǟ} einheitlich mit der Graphie kennzeichnet. Gleichzeitig gibt er den alten Diphthong {ei} wie auch den neuen aus {ī} entstandenen durch die gleiche Graphie wieder. Setzer A dagegen teilt den Bereich in sechs Klassen auf, indem er die beiden Palatale mit dem größten Öffnungsgrad durch die Leitgraphie von den drei geschlosseneren e-Positionen trennt. Zusätzlich unterscheidet er den alten Diphthong {ei} durch die Verwendung des Graphienpaares vom neuen aus {ī} entstandenen Diphthong, der mit bezeichnet ist. Dieser Kontrast in der Rasterung lässt den Schluss zu, dass in der für A vorbildlichen gesprochenen Varietät bei den e-Lauten zwei Lautklassen hörbar waren, die in der Vorbildvarietät von B zusammenfielen oder als vernachlässigbar galten. Ebenso wird B die Lautwerte des alten Diphthongs {ei} und des neuen aus {ī} entstandenen Diphthongs zumindest als so ähnlich wahrgenommen haben, dass sich eine Unterscheidung nicht lohnte, während A Lautdifferenzen gehört haben muss, die er im Druck für markierenswert hielt. Insgesamt ist bei der Projektion aller Leitgraphien auf die gesamte Vokalebene von 24 Lautpositionen festzustellen, dass der Setzer A den Vokalbereich in 18 Klassen gliedert, der Setzer B in 16. Nach diesem Kriterium wären beide Schreibsysteme als unterdifferenziert zu bezeichnen, da bei Setzer A von den 24 Lautpositionen sechs nicht kenntlich gemacht sind, bei Setzer B sogar acht. Doch sind diese beiden Rasterungen noch als relativ differenziert anzusehen, wenn man sie mit jenen der 50 alemannischen Schreibsysteme vergleicht, da bei ihnen die Vokalebene in acht bis

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 181

18 Klassen gegliedert ist, wobei der Durchschnittswert nur 13 beträgt. Gemeinsam ist den Setzern des Melusine-Drucks, dass sie die Quantitätsdifferenzen der monophthongischen Lautpositionen nicht berücksichtigen40 sowie die Unterschiede im Öffnungsgrad zwischen {ẹ} und {ë}. Ihre Rasterungsunterschiede belegen dennoch deutlich, dass ihnen verschiedene gesprochene Varietäten als Vorbild gedient haben müssen, deren Merkmale damals nebeneinander Eingang in ein und denselben Drucktext finden konnten. Im Absatzbereich der Augsburger Drucker müssen daher mehrere gesprochene Varietäten bekannt gewesen sein, sodass durch ihre parallele Verwendung keine Verständnisschwierigkeiten zu erwarten waren.

2.1.4 Die Zeichenfunktion der komplexen Graphien Am Beispiel dieser Rasterung lässt sich auch eine methodische Kontroverse diskutieren, die hinsichtlich der Zeichenfunktion der Leitgraphien besteht. Hier gilt einerseits die Auffassung, dass Graphien noch bis in die Zeit der Druckersprachen in einer analogischen Beziehung zu den bezeichneten Lautwerten standen und insofern ikonische Funktion hatten.41 So ist etwa die Graphie , mit der der Setzer A in der obigen Rasterungsgraphik die Palatale mit dem größten Öffnungsgrad bezeichnet, insofern analogisch, als sie im Unterschied zu eine größere Nähe zu den a-Lauten sichtbar macht. Die entgegengesetzte Auffassung, die hauptsächlich von der historischen Dialektologie vertreten wird, geht davon aus, dass die Graphien damals schon fossilierte Schriftzeichen waren, die den ursprünglichen Lautwert der lateinischen Buchstaben verloren hatten und in symbolischer Funktion beliebige Lautwerte kennzeichnen konnten. So wäre für die in der obigen Rasterungsgraphik behandelten Setzergraphien , und ein Lautwert [oa] oder [oi] anzunehmen, da nach Auskunft der Dialektologen im damals gesprochenen Bairischen und Schwäbischen die Lautposition in dieser Weise realisiert wurde, was sich nicht nur Mosers Frühneuhochdeutsche Grammatik, sondern auch die neueste Auflage der Mittelhochdeutschen Grammatik zu Eigen machen.42 Diese zweite Auffassung führt bei der graphematischen Untersuchung historischer Texte zu unlösbaren Schwierigkeiten. So müsste, wie an den Rasterungen in Abbildung 6 zu erkennen ist, auch für den aus {ī} entstandenen Diphthong der Lautwert [oa] bzw. [oi] angesetzt werden, da die Setzer ihn mit denselben Graphien ,

40 Die Leitgraphien der Setzer differenzieren nicht zwischen den Lautpositionen {ë} und {ē}, {ä} und {ǟ}, {ö} und {ȫ}, {o} und {ō}, {a} und {ā}. 41 Ausführlich zu diesem Problem: Elmentaler: Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen, S. 19–21, 46–49, 85 f., 318. 42 Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. 1, Teil 1, S. 171–172; Klein u. a.: Hermann Paul, Mittelhochdeutsche Grammatik, S. 103. Der Lautwert [oa] soll für das Bairische und Westschwäbische gegolten haben, für das übrige Schwäbische der Lautwert [oi].

182 

 Arend Mihm

kennzeichnen. Dies aber widerspräche allen bisherigen Kenntnissen. Umgekehrt aber müssten die Leitgraphien , , als gleichbedeutend gelten, sodass ihre lautdifferenzierende Funktion, die an der unterschiedlichen Kontextdistribution unmittelbar sichtbar wird, nicht berücksichtigt werden dürfte. Geht man daher der Begründbarkeit dieser Auffassung im Einzelnen nach, so wird man feststellen, dass sie vor allem auf der Vermutung angesehener Dialektologen beruht, nach der diese in den heutigen Dialekten belegten Lautwerte schon im Mittelalter Gültigkeit hatten. Dafür bietet jedoch die überlieferte Schriftlichkeit Schwabens keine gesicherten Belege, etwa in Form von - oder -Schreibungen.43 Derartige Belege wären aber zu erwarten, da die damaligen Schreiber in ihrer lateinischen Erstschreibsprache o-Laute regelmäßig mit wiedergaben, sodass Interferenzen kaum vermeidbar gewesen wären. Wenn über mehrere Jahrhunderte keine derartige Schreibung überliefert ist, so spricht das gegen die Existenz von [oa] oder [oi] in der gehobenen Bezugsvarietät, an der sich die Schreiber orientierten. Das belegen auch die zeitgenössischen Orthographielehren. So stellt etwa Johann Kolroß (1530) fest, dass die beiden Vokalzeichen für den Diphthong {ei} so zu schreiben sind, wie man sie ausspricht (»darnach ſy dann jr vßſprechen vß dem mund haben«), das heißt in Basel als und in Schwaben als . Daraus zieht er den allgemeinen Schluss, dass derartige Laute jeweils so zu schreiben seien, wie es der ortsüblichen Aussprache entspricht.44 Die Möglichkeit, dass die Lautungen heutiger Dialekte bereits in den mittelalterlichen Basisdialekten vorhanden waren, ist damit nicht ausgeschlossen, doch ist das für die Interpretation der überlieferten Texte kaum relevant, da Schreiben und Schriftlichkeit sich in allen Kulturen nicht an den unteren Schichten der Mündlichkeit orientieren, sondern an gehobenen, manchmal sogar idealisierten Sprachlagen. Dies alles spricht dafür, dass die Graphienzusammensetzungen damals noch in einem analogischen Verhältnis zum Lautwert standen und damit auch als Indikator für Lautunterscheidungen dienen können.

43 Die Annahme einer derartigen Lautung für das Schwäbische stützt sich nur auf inverse Schreibungen, die einen zu großen Interpretationsspielraum eröffnen. Für das Bairische beruft sie sich für einen Zeitraum von mehr als 300 Jahren auf zwei Namenschreibungen mit und wiederum auf »inverse Schreibungen«. Im »Melusine«-Text geht die a-haltige Aussprache von auch daraus hervor, dass der Setzer A neben ›fraissam‹ noch die Schreibungen ›fraͤßlich‹ und ›frassam‹ verwendet. 44 Der Textzusammenhang bei Kolroß lautet: »Es gibt ſich aber alles ſelbs zuͦuerſton, wann zween ſtimmbuͦchſtaben naͤbeneinander gehoͤren, darnach ſy dann jr vßſprechen vß dem mund haben, darnach ſol mans ſetzen. Darumb ichs eim yeden heym ſtell, ſyner ſpraach nach die ſelbigen zuͦſetzen vnd ſchryben.« Müller: Quellenschriften, S. 69. Ähnlich auch Sebastian Helber (1593), Painter: Die Aussprache des Frühneuhochdeutschen, S. 185.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 183

2.2 Setzerkontraste als Zeichen lautlicher Orientierung Für die Frage, ob sich die beiden Setzer an gesprochenen Vorbildvarietäten ausgerichtet haben oder ob visuelle Schriftbilder dominant waren, sind vor allem jene Textmerkmale aufschlussreich, an denen Unterschiede in den verwendeten GraphieLaut-Zuordnungsregeln sichtbar werden. Diese Kontraste müssen, da die beiden Setzerkorpora auf der gleichen Vorlage beruhen, bei der Anpassung an die jeweilige Vorbildsprache entstanden sein, die die Setzer bei ihrem Schriftsatz intendierten (vgl. Abb. 2). Daher können diese Sprachmerkmale auch am ehesten Auskunft über die kognitive Vermittlung dieser Zielsprachen geben, d. h. darüber, ob sich die Setzer nach einem Verfahren, das man als auditorisches Monitoring bezeichnen könnte, an einer vorgestellten Ausspracheweise orientierten oder ob sie bereits auf visuelle Wortbilder zurückgriffen, wie das bei modernen Orthographien wahrscheinlich wäre. Aus diesem Grund wurden die beiden Korpora gezielt in Hinblick auf solche GLZ-Differenzen verglichen, wobei sich herausstellte, dass im Bereich des Vokalismus 14 derartige Setzerkontraste Beachtung verdienen, im Bereich des Konsonantismus mindestens 11. Dabei galt als Kriterium, dass ein erheblicher Frequenzunterschied zwischen den setzerspezifischen GLZ-Regeln besteht.

2.2.1 Konsonantische Kontraste und Vorbildvarietäten Von den Kontrasten im Bereich des Konsonantismus wird hier nur ein einziger exemplarisch vorgestellt, während die übrigen nur zu einem kurzen Vergleich herangezogen werden sollen. Als Beispiel dienen dabei die Differenzen bei der Wiedergabe der Lautposition {b} im Morphemanlaut, wo der Setzer A regelmäßig verwendet (bain, bluͦt, brennen, buͦſſe usw.), wohingegen für den Setzer B die Schreibung mit

typisch ist (pein, plut, prennen, puͤſſe usw.). Da diese Fortisgraphien häufig vorschnell als Übernahme aus der bairischen Schreibsprache gedeutet werden, ist zunächst zu ihrer sprachhistorischen Genese zu sagen, dass die Fortisierung des anlautenden Labialplosivs ein primär lautliches Phänomen darstellt, das schon früh im Bairischen zu beobachten ist, sich aber bereits im 13. und 14. Jahrhundert mit dem zunehmenden Ansehen dieser Sprache bis in die Mündlichkeit Nürnbergs und Augsburgs ausgebreitet hat. Aus der Tatsache, dass es dort auch früh in die Schriftlichkeit übernommen wurde,45 lässt sich die Zugehörigkeit zu einer gehobenen Sprachlage folgern. Zu der Zeit, als der Setzer B die Fortisletter

verwendete, muss die Fortisaussprache bereits 170 Jahre in einem Teil der Augsburger Stadtvarietäten heimisch gewesen sein. Dass eine derartige mündliche Tradition als Orientierungspunkt auch für den Setzer B anzunehmen ist, wird bereits daran deutlich, dass er das anlautende {b} nicht

45 So die Beobachtungen von Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. 1, Teil 3, S. 104–108.

184 

 Arend Mihm

bei allen Morphemen als

realisiert, sondern dabei ein lexikalisch bedingtes Verteilungsprinzip erkennen lässt. Von den 74 betroffenen Lexemen in seinem Korpus (957 Belege) werden 61 variantenfrei mit

geschrieben, während er für 13 fast ausschließlich verwendet. In dieser Verteilung kommt zum Ausdruck, dass schon seit Beginn der phonematischen {b-}-Fortisierung im Bairischen einige Morpheme davon ausgenommen waren, wobei insbesondere die Vorsilbe ›be-‹ ihre weiche Aussprache behalten hatte, aber auch die Lexeme ›brief‹, ›bischof‹, ›bî‹ und alle Formen von ›bringen‹. Da der Setzer B genau diese Morpheme regelmäßig mit wiedergibt, kann man annehmen, dass auch in der entsprechenden Augsburger Varietät bei ihnen Lenisplosive gesprochen wurden und der Setzer sich an einem hörsprachlich präsenten Vorbild orientieren konnte. Die theoretisch mögliche Alternative, dass sich der Setzer für jedes der 74 vorkommenden Lexeme jeweils das spezielle Schriftbild eingeprägt hätte, würde sicherlich einen großen Lernaufwand voraussetzen. Sie wäre angesichts der allgemeinen Variantentoleranz aber auch unverhältnismäßig, insbesondere weil die Wiedergabe dieser spezifischen

--Verteilung ohne das Vorhandensein eines lautsprachlichen Äquivalents sinnlos erscheint.

Setzer B mhd. {b}

Hauptton paß

Nebenton fürbaß

par

offenbar

perg

bermt

erpermlich

vnberoten

gepurt

gocʒburg

pcher

bbreÿ

Abb. 7: Wortakzentbedingte Distribution von Fortis- und Lenisgraphie

Die Annahme eines auditorischen Monitorings wird zusätzlich durch eine Verteilung bestätigt, bei der die Verwendung von Fortis- und Lenisgraphien nur durch den Wortakzent bedingt gewesen ist und die sich darin äußert, dass vor tontragenden Morphemen die Letter

, vor nicht betonten dagegen die Letter erscheint. Diese Regel kann einem damaligen Setzer kaum explizit bewusst gewesen sein, sodass für einen ausschließlich visuell orientierten Setzer eine derartige Verteilung, auch wenn er die Schriftbilder aller Morpheme gekannt hätte, nicht herstellbar gewesen wäre. Wenn der Setzer B dennoch die Fortisletter für den Hauptton und die Lenisletter für den Nebenton wählte, so kann das kaum anders erklärt werden, als dass er sich hörsprachlich an einer Varietät orientierte, die diese Alternation enthielt.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 185

Bei einer Gegenüberstellung dieser bei Setzer B beobachteten Verteilungen mit der entsprechenden Graphienverwendung des Setzers A wird sofort sichtbar, dass dieser für {b} im Morphemanlaut nirgends ein Anzeichen für Fortisierung erkennen lässt, sondern wie im Normalmittelhochdeutschen durchgehend die Graphie verwendet. Dies geht jedoch offensichtlich nicht auf eine schriftkonservierende Orthographietradition zurück, sondern darauf, dass für ihn die Lenisaussprache als vorbildlich galt. Das wird aus seiner Verteilung der Graphien und

im Ganzen sichtbar. Denn er verwendet die Lenisgraphie nicht nur für das morphemanlautende {b}, sondern er weitet ihren Gebrauch auch auf Wörter aus, die im Mittelhochdeutschen mit Fortisplosiv beginnen wie ›platz‹, ›prîs‹, ›prüeven‹ und für die auch der Setzer B die Fortisgraphie

verwendet. Die anlautende Graphie

wird nur noch

Setzer A

{p-}

{b-} bald bleich

externes {p-}

entlehntes {p-}

parceual

blacz

preſencʒ

breÿß

pontus

brefen

brechen Abb. 8: Lautsprachlich bedingte Differenzierung der Labialplosive bei Setzer A

bei Fremdwörtern und auswärtigen Namen verwendet und lässt vermuten, dass der Setzer A sich hörsprachlich an einer Vorbildvarietät ausrichtete, in der die Konsonantenschwächung bereits eine bedeutende Rolle spielte. Vor dem Hintergrund dieser Befunde soll hier ein vergleichender Blick auf die übrigen konsonantischen Setzerkontraste geworfen werden, die nicht im Einzelnen behandelt werden konnten. Sie zeigen, dass beide Setzer etwa zu gleichen Teilen Neuerungen gegenüber den normalmittelhochdeutschen GLZ-Regeln favorisierten, Setzer A in fünf Fällen (2, 5, 6, 9, 11), Setzer B in sechs Fällen (1, 3, 4, 7, 8, 10). Fast alle diese graphematischen Neuerungen lassen sich mit Lautwandlungsprozessen in Verbindung bringen wie Fortisierung (perg, velßen, thür, gelopt, graffen, fallen), Konsonantendehnung (zeitten, ennde) oder Lenisierung (land), sodass davon auszugehen ist, dass sie zuerst in den gesprochenen Varietäten aufgetreten sind. Daher erscheint es auch sinnvoll, die graphematischen Kontraste zunächst daraufhin zu prüfen, ob die Setzer dabei auf lautliche Unterschiede zwischen ihren Vorbildvarietäten Bezug nehmen konnten, und die Ergebnisse mit den Erklärungsmöglichkeiten einer schriftsprachlichen Vermittlung kritisch zu vergleichen.

186 

 Arend Mihm

Setzer A

Setzer B

Lautp.

Graphie Beispiel

Graphie Beipiel

1.

{b-}

berg

perg

2.

{-t(-)}

zeitten

zeiten

3.

{-s-}

velſen

velßen

4.

{-z-}

bezalt

becʒalt

5.

{-t}

land

lant

6.

{-n-}

ennde

ende

7.

{t-}

tür

thür

8.

{-bt}

gelobt

gelopt

9.

{-f-}

graffen

grafen

10. {emp-}

empfieng

entpfieng

11. {v-}

fallen

vallen

Abb. 9: Konsonantische Setzerkontraste zwischen A und B

2.2.2 Lautliche Muster der vokalischen Kontraste Auch von den 14 vokalischen Kontrasten der GLZ-Regeln, die beim Vergleich der beiden Setzerkorpora als bemerkenswert erschienen, sollen nur wenige beispielhaft behandelt werden. Dabei interessieren vor allem jene Kontraste, die etwas über die akustische oder visuelle Existenzform der Vorbildvarietäten verraten, nach der die Setzer ihre Vorlage bearbeiteten, oder die, die durch ihre graphematischen Verteilungsmuster etwas über die damaligen Prestigesprachen aussagen können. Einen besonders aufschlussreichen Beleg für die erste Fragestellung bieten die Setzer bei der Wiedergabe des mittelhochdeutschen {ü}. Während A durchgehend die Graphie verwendet, zeigt B einen regelmäßigen Wechsel zwischen den Graphien und . Dies ist eindeutig durch den dem Vokal folgenden Konsonanten bedingt, denn vor erscheint bei ihm 97-mal die Graphie , die damals einen diphthongischen Lautwert hatte und üblicherweise zur Kennzeichnung von {üe} diente, vor allen anderen Konsonanten steht die Graphie . Diese Alternanz ist kaum anders zu erklären, als dass in der gesprochenen Vorbildvarietät des Setzers B das auf {ü} folgende {r} eine Vokalisierung im Sinne von [ty:ƏrkƏn] ausgelöst hatte, wie sie durch historische und rezente Dialekte mehrfach bezeugt wird.46 Eine rein schreibsprachliche Einführung dieses an die Folgekonsonanz gebundenen Wechsels wäre kaum möglich gewesen und hätte auch keinerlei Funktion haben können.

46 Bereits Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. 1, Teil 1, S. 136 f. beobachtet diesen Wandel im Niederalemannischen und deutet ihn dort als Diphthongierungsprozess.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 187

Setzer B {ü}

vor r:

nicht vor r:

trcken

nüczlich

grtel

günſtig

geprtig

über

frſt

gelück

tre

künig

wrme

ſüllen

Abb. 10: r-Vokalisierung nach mhd. {ü}

Besonders aufschlussreich für den lautlich gesteuerten Überarbeitungsprozess der damaligen Setzer ist in diesem Fall ein 1480 in Bämlers Offizin erschienener Nachdruck der Melusine (Bämler-1480), für den die Ausgabe von 1474 als Vorlage gedient hat.47 Dabei hat der Setzer von 1480 in allen 97 über den gesamten Text verstreuten Fällen, in denen 1474 der Setzer B das zur Kennzeichnung der r-Vokalisierung eingeführt hatte, das ursprüngliche wiederhergestellt. Dies kann aber wiederum als klarer Beweis für auditorisches Monitoring gelten, da es keine andere Möglichkeit gab, um das in der Vorlage gedruckte, aber nicht etymologische in fuͤrſt und gepuͤrtig zu erkennen und durch zu ersetzen, dagegen das in fuͤrt und ruͤrte, das lautetymologisch berechtigt war, beizubehalten. Einer der kompliziertesten Setzerkontraste zeigt sich bei der Wiedergabe von {ei}, für das der Setzer A zehn Graphien verwendet, Setzer B dagegen sieben, wobei auch die Leitgraphien deutlich differieren.48 Gerade diese Variation ist sprachhistorisch von besonderem Interesse, weil sie in direktem Zusammenhang mit den neuen Diphthonggraphien für die Lautposition {ī} steht und der graphematische Zusammenfall dieser beiden Lautpositionen teilweise als Programm buchdruckerischer Spracharbeit interpretiert wird.49 Die folgende Untersuchung konzentriert sich dabei auf die Graphiendistribution bei Setzer A und behandelt zunächst nur die drei Haupt-

47 Eine Kopie des St. Galler Exemplars von Bämler-1480 wurde mir freundlicherweise von Herrn Dr. Hans-Jörg Künast aus den Materialien des Erlanger DFG-Projekts »Die Melusine des Thüring von Ringoltingen – Buch, Text und Bild« zugänglich gemacht, für eine maschinenlesbare Teiltranskription habe ich Herrn Martin Behr zu danken. 48 Nach der Häufigkeit angeordnet, verwendet Setzer A für {ei} die Graphien , , , , , , , , , . Die ungewöhnlich große Graphienspreizung deutet darauf hin, dass die entsprechenden Laute nicht leicht zu kategorisieren waren. Auch Setzer B zeigt eine überdurchschnittliche Variantenverwendung , , , , , , . 49 Fujii: Günther Zainers druckersprachliche Leistung, S. 174.

188 

 Arend Mihm

graphien , und , wobei die Verteilung der sieben Minderheitsgraphien vorerst außer Acht gelassen wird. Dabei soll im Einzelnen geprüft werden, inwieweit die Graphienverteilung auf eine subphonematische Variation in der gesprochenen Vorbildvarietät des Setzers zurückgehen kann. Dazu waren zunächst alle Kontextpositionen zu erheben, in denen {ei} durch diese drei Graphien repräsentiert wird. Die Distributionsmuster, die sich dabei ergaben, waren auffällig und teilweise auch statistisch signifikant, wobei sich meistens der Folgekontext als entscheidend erwies, gelegentlich aber auch der Wortakzent und in einem Fall auch die morphematische Klasse.50 Setzer A {ei}





im Hiat, vor {l, m}, vor Lenes {g, d, s}

vor Fortes {t, ʒ, ss} im st. Prät. Kl. I,

vor {n}, im Nebenton

zweÿer, teÿl, reÿmund, eÿgen, eÿde, reÿſen

beraitten gehaiss fraiſſam

ein, klein -heit -keit

Abb. 11: Positionsbedingte Distribution von , , beim Setzer A

Für die Verteilung der Graphie ist charakteristisch, dass sie mit großer Regelmäßigkeit im Hiat und Auslaut steht, aber auch dort, wo die Sonoranten oder die Lenes folgen. Da damals im Gegensatz zu für einen Langvokal stehen konnte,51 wäre als Entsprechung für ein Diphthong mit langer, betonter Steigungsphase denkbar. Das weniger häufige hat seinen Schwerpunkt eindeutig in Präteritalformen der starken Verben der 1. Klasse (er baiß, graiff, rait, traib usw.) und vor den Fortiskonsonanten . Es entspricht nach weit verbreiteter Meinung einem Diphthong, der mit größerem Öffnungsgrad beginnt.52 Die Graphie erscheint dagegen hauptsächlich vor nachfolgendem und in den unbetonten Suffixen ›-heit‹ und ›-keit‹. Sie könnte für einen Diphthong mit geringer, kurzer Steigung

50 Das Korpus A enthält für {ei} insgesamt 64 Morphemtypen (types) mit 770 Belegen (tokens), davon entfallen auf 30 Morphemtypen (48 %) mit 311 Belegen, auf 17 Morphemtypen (26 %) mit 69 Belegen, auf 15 Morphemtypen (23 %) mit 387 Belegen, auf 2 Morphemtypen (3 %) mit sieben Belegen. 51 Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. 1, Teil 1, S. 30. 52 Von den sieben Belegen für die hier nicht berücksichtigte Graphie stehen fünf im Hiat oder Auslaut; insgesamt stimmt die Verteilung mit der von überein.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 189

stehen. Da diese Verteilungen nicht durch die Buchstabenform bedingt sein können53 und es sich auch nicht um memorierte Wortschreibungen handeln kann, ist eine hörsprachliche Orientierung an einer Vorbildvarietät als wahrscheinlichste Möglichkeit anzusehen. Eine lautsprachliche Parallele zur Verteilung - bzw. - kann man darin sehen, dass sich in zahlreichen Dialekten Vokale im Hiat und im Auslaut artikulatorisch von den Vokalen des präkonsonantischen Inlauts unterscheiden und auch eine vokalische Alternanz durch folgende Lenis oder Fortis mehrfach belegt ist. Beim Setzer B spielen die Graphien und nur eine marginale Rolle,54 doch stimmt die Verteilung der anderen Varianten insofern überein, als im Hiat und vor steht, dagegen vor und im Nebenton. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage Bedeutung, ob auch bei den neuen aus {ī} entstandenen Diphthongen eine derartige Differenzierung durch mehrere Diphthonggraphien festzustellen ist. Dazu wurden für die neuen aus {ī} entstandenen Diphthonge alle graphischen Realisierungen und deren Kontexte erhoben und verglichen. Dabei zeigte sich, dass dieselben Folgekontexte auch hier die Graphienverteilungen steuerten und dass erwartungsgemäß niemals verwendet wurde. Daraus Setzer A

Zusammenfall {ī}/{ei} (Normalfall)

Trennung {ī}/{ei} (vor {t, ʒ, ss}

vor Hiat, {l, m, g, d, s}

vor {n}





{ī}

{ei}

{ī}

{ei}

{ī}

{ei}

ſchreÿen

zweÿer

dein

ein

ſtreÿten

beraitten

eÿlen

teÿl

wein

klein

vleÿß

gehaiss

reÿmen

reÿmund

ſchein

ſtein

weÿßlich

fraiſſam

ſteÿgen

eÿgen

ſchneÿden

eÿde

ſpeÿſe

reÿſen

Abb. 12: Die Diphthonge aus {ī} und {ei} unter Einfluss der Folgekonsonanz

53 Fujii: Günther Zainers druckersprachliche Leistung, S. 205 sieht in lediglich eine Markierung, die zur visuellen Hervorhebung eines Wortes dient. Da jedoch bei Setzer A die Mehrheitsgraphie sowohl für {ei} wie für {ī} darstellt, erscheint diese Hervorhebungsfunktion weniger wahrscheinlich, außerdem bliebe dabei die Verteilung nach dem Folgekontext unberücksichtigt. 54 Setzer B verwendet nur im Präteritopräsens (3), erscheint ausschließlich in der Namensform (17).

190 

 Arend Mihm

lässt sich schließen, dass der Setzer A keinerlei Interesse hatte, die Lautwerte nach ihrer etymologischen Herkunft zu unterscheiden, was durchaus möglich gewesen sein muss, da noch in den rezenten Dialekten die entsprechenden Differenzen zu hören sind. Er hatte aber auch nicht die Absicht, alte und neue Diphthonge graphematisch zusammenfallen zu lassen, sondern führte eine neue, offenbar auf den lautlichen Differenzierungen seiner Vorbildvarietät beruhende Unterscheidung ein. Danach fallen {ī} und {ei} im Hiat und Auslaut sowie vor spezifischen Folgekonsonanten zu zusammen, in den zahlreichen Belegen mit folgendem dagegen zu .55 In jenen Fällen, wo für {ei} die Graphie verwendet wird, bleibt jedoch die Trennung zwischen altem und neuem Diphthong bestehen. Der Setzer beabsichtigte also weder, die etymologische Herkunft bzw. die basisdialektale Unterscheidung sichtbar zu machen, noch zeigt er ein buchdruckerisches Interesse an einer Sprachvereinheitlichung, sondern verfolgte offensichtlich das Ziel, die lautlichen Differenzierungen seiner Vorbildvarietät im Druck kenntlich zu machen. Wie weit dieses Interesse an subphonematischen, damals aber offenbar salienten Aussprachemerkmalen ging, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass der Setzer A selbst für das hochfrequente Kurzwort {ein} keine feste Wortschreibung hat, sondern in der Weise variiert, dass er den proklitischen Artikel regelmäßig mit schreibt, während er nur dann verwendet, wenn das Wort akzentuiert ist, weil es eine andere Wortart vertritt. Für diese Verteilung kann der Setzer keine grammatische Analyse durchgeführt haben, sondern musste sich auf die Akzentverteilung verlassen, die ihm nur durch ein akustisches Monitoring der gesamten Phrase zugänglich gewesen sein kann.56 Setzer A

proklitischer Artikel

betont. Zahlw., Pron., Adj.

ein künig

der ain teÿl

ein groſſer iamer

ainig

ein zeÿt

ains werden

ein gt end

ainhellig

Abb. 13: Prosodiebedingte Distribution von und

55 Dieser Zusammenfall steht offensichtlich in einem Zusammenhang damit, dass auch in den rezenten schwäbischen Dialekten vor Nasal die oberen und mittleren Vokalreihen neutralisiert werden (brieflicher Hinweis von Werner König). 56 Die betonungsspezifische Variation von und , wurde bereits früh in den Handschriften und in den Drucken bis ins 17. Jh. beobachtet (vgl. Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. 1, Teil 1, S. 171), ohne dass die Folgerung daraus gezogen wurde, dass diese Unterscheidung nur durch auditorisches Monitoring möglich war.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 191

An diesen ausgewählten Beispielen vokalischer Setzerkontraste, die auf die unterschiedliche Bearbeitung der Druckvorlage zurückgehen, ließ sich deutlich machen, dass damals die lautsprachliche Orientierung an vorbildlichen Sprachvarietäten beim Schriftsatz eine bedeutende Rolle spielte. Von daher stellt sich die Frage, inwieweit sich diese Ergebnisse auch auf die Kontraste bei den anderen GLZ-Regeln übertragen lassen, die beim Vergleich der beiden Setzerkorpora sichtbar wurden. Wenn auch eine entsprechende Prüfung im Rahmen dieser Studie nicht möglich ist, soll doch die Gesamtheit der beobachteten Kontraste zumindest listenförmig dargestellt und erläutert werden. Bei einem Vergleich mit den normalmittelhochdeutschen Lautzuordnungsregeln zeigt sich, dass in vier Fällen (1, 2, 9, 12) beide Setzer abweichende Graphien verwenden, sich dabei aber unterscheiden. Im Übrigen gehen die Kontraste bei A (6, 11, 13, 14) seltener auf Neuerungen zurück als bei B (3, 4, 5, 7, 8, 10). Fast alle Kontraste sind durch Lautwandel zu erklären, wobei der konsonantische Folgekontext (1, 2, 4) eine bedeutende Rolle gespielt hat. Mehrfach kann auch die ungleichmäßige Durchführung bekannter Erscheinungen wie neuhochdeutsche Diphthongierung (2, 9, 12), Umlaut (6), Hebung (5, 8), Senkung (10, 11) oder die Nebensilbenabschwächung (13, 14) als Ursache angesehen werden. Was die Regionalität der Lautmerkmale betrifft, ergeben sich bei beiden Setzern widersprüchliche Indizien, die zeigen, dass solche landschaftlichen Bezüge in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden müssen. Insgesamt gibt die Auflistung zu erkennen, dass alle beobachteten GLZ-Kontraste auf

Setzer A

Setzer B

Lautp.

Graphie

Beispiel

Graphie

Beipiel

1.

{ei}

heÿde/laid

heide/leÿd

2.

{ī}

weÿb

weib

3.

{ǟ}

ſchwr

ſchwer

4.

{ür}

türcken

trcken

5.

{ā}

gabe

gobe

6.

{ö}

koſtlich

kſtlich

7.

{i}

gewin

gewÿn

8.

{o}

vernomen

vernumen

9.

{ūw}

bawen

pauen

10. {ü}

günnen

gnnen

11.

{u}

from

frum

12. {iu}

ungehre

ungeheẅre

13. {-ete}

klagte

klagete

14. {-e}

ſach

ſache

Abb. 14: Vokalische Kontraste zwischen den Setzern A und B

192 

 Arend Mihm

lautliche Unterschiede zwischen den Vorbildsprachen der beiden Setzer zurückgehen können. Damit sind sie aber auch für die Frage nach den Einflüssen gesprochener Varietäten auf den frühen Buchdruck von Interesse. Aus einem zusammenfassenden Vergleich aller Setzerdifferenzen (Kap. 2.1 bis 2.2) lässt sich die Folgerung ziehen, dass der Druckherr Johann Bämler kein nachdrückliches Interesse an einer vereinheitlichten Sprachform gehabt hat. Vielmehr hat er seinen Setzern bei der Überformung des Vorlagentextes freie Hand gelassen, sodass sie sich an einer Vorbildvarietät eigener Wahl orientieren konnten, und offensichtlich hat nachher kein Korrektor einen Versuch zu einer Vereinheitlichung unternommen. Auch die Setzer haben sich untereinander nicht auf eine einheitliche Sprachform geeinigt, vielmehr hat jeder seine Aufgabe, die Vorlage den aktuellen Erfordernissen anzupassen, in der Weise gelöst, dass er die Merkmale einer für ihn vorbildlichen Prestigevarietät in den Druck aufnahm. Demgegenüber ist Fujii in seiner Untersuchung über den etwa gleichzeitig in Augsburg tätigen Druckherrn Günther Zainer, bei dessen Setzern ebenfalls erhebliche Differenzen zu beobachten sind, zu dem Ergebnis gekommen, dass diesem sehr wohl an einer sprachlichen Vereinheitlichung seiner Druckwerke gelegen war.57 Dies kann einerseits auf Persönlichkeitsunterschiede zwischen Bämler und Zainer zurückgehen, ähnlich wie bereits in den Zeiten der Handschriftenproduktion einige Vorsteher von Schreibwerkstätten auf einen einheitlichen Orthographiestil ihrer Schreiber achteten, während sich andere kaum darum kümmerten. Möglicherweise haben aber auch die andersartigen Voraussetzungen und Fragestellungen Fujiis zu den unterschiedlichen Ergebnissen beigetragen.

3 Druckersprachen und städtisches Varietätengefüge Da die frühen Druckersprachen maßgeblich durch die beteiligten Setzer geprägt wurden und diese sich an unterschiedlichen Vorbildvarietäten ausrichten konnten, stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis die charakteristischen Sprachmerkmale der Setzer zu den damals in Augsburg gesprochenen Sprachvarietäten gestanden haben. Dabei ist davon auszugehen, dass es in den Städten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit keine homogene Lautsprache gab, sondern ein Nebeneinander diastratischer, diaphasischer und diasituativer Sprachlagen, von denen die überlieferte Schriftlichkeit vorerst nur Umrisse erkennen lässt. Rekonstruktionen dieser mündlichen Sprachverhältnisse können daher nur den Status von erkenntnisleitenden Hypothesen haben, sie sind aber unverzichtbar für die Diskussion über die sprachlichen Innovationsprozesse und die Anteile, die Schriftlichkeit und Mündlichkeit daran hatten.

57 Fujii: Günther Zainers druckersprachliche Leistung, S. 218.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 193

Wichtige Aufschlüsse über die Schichtung der in Augsburg während der Frühen Neuzeit verwendeten Sprachlagen bietet die neuere Dissertation von Kristen Reifsnyder (2003), die ihrer Untersuchung zehn alltagssprachliche Textsorten aus der innerstädtischen Überlieferung zugrunde gelegt hat, die im Sinne der Theorie von Peter Koch und Wulf Oesterreicher zwischen den beiden Polen ›Nähesprache‹ und ›Distanzsprache‹ angeordnet wurden.58 Am nähesprachlichen Pol stehen dabei Zunftbücher und eigenhändige Handwerkerpetitionen, am distanzsprachlichen Pol gedruckte Ratserlasse und amtliche Briefe der Stadtführung. Reifsnyders Auswertung von neun auf Lautmerkmale bezogene graphematische Variablen ermöglicht eine hierarchische Abstufung der verschiedenen Textsorten, wobei die Dimension Nähe-Distanz weitgehende Übereinstimmungen mit dem Sozialstatus der Kommunikationspartner zeigt.59 Die in Abbildung 15 als tiefste Textsorte berücksichtigten Zunftbücher liegen in ihrem Sprachduktus noch deutlich über jenen Augsburger Quellen vom unteren Rand der Schriftlichkeit, die Helmut Graser neuerdings aufgetan und in ihren Merkmalen charakterisiert hat.60 Eine Sprachlage, die auf der Achse Nähe-Distanz noch über der der Ratserlasse rangierte, wird durch die literarischen Handschriften aus Augsburger Skriptorien repräsentiert, die während des 15. Jahrhunderts in beträchtlicher Zahl entstanden sind61 und über deren Sprachformen graphematisch vorbildliche Einzeluntersuchungen vorliegen.62 Einen sehr verdienstvollen Vergleich für neun Handschriften prominenter Augsburger Schreiber hat Fujii erarbeitet, bei dem er sie in Hinblick auf jene zehn Variablen analysierte, die er auch bei den Zainer-Drucken berücksichtigte.63 Aus dieser für stadtsprachliche Untersuchungen ungewöhnlichen Datenfülle werden im Folgenden sechs Variablen ausgewählt, die das innerstädtische Varietätenspektrum charakterisieren und zugleich die Unterschiede zu den beiden Setzersprachen deutlich machen. Dabei zeigt sich zunächst, dass in der nähesprachlichen Varietät in hohem Maße Entrundung herrschte, also ›fir‹, ›iber‹, ›kinig‹, ›bese‹, ›schen‹, ›derfer‹, die den gehobenen Sprachlagen offenbar fremd war und im Buchdruck nur dadurch sichtbar wird, dass die Drucker für ihre Namen die nähesprachliche Form ver-

58 Reifsnyder: Vernacular versus emerging standard, S. 97–129. 59 Zur Auswertung der Texte nach den neun graphematischen Variablen vgl. Reifsnyder: Vernacular versus emerging standard, S. 130–173. 60 Graser: Quellen vom unteren Rand der Schriftlichkeit, S. 15–48; dazu auch Graser: Augsburg und die deutsche Sprachgeschichte, S. 99–120. 61 Einen Einblick in die Augsburger Handschriftenproduktion bietet Schneider: Berufs- und Amateurschreiber, S. 13–26. 62 Sie betreffen vor allem die verschiedenen Fassungen des Stadtbuchs (Glaser: Graphische Studien zum Schreibsprachwandel), die Handschriften der Clara Hätzlerin (zuletzt Glaser: Das Graphemsystem der Clara Hätzlerin), aber auch private Schriftlichkeit (Freund: Das vokalische Schreibsystem). 63 Fujii: Günther Zainers druckersprachliche Leistung, S. 121–144.

194 

 Arend Mihm

Lautposition

{ü}

{ö, œ}

{ei}

{î}

{bv-}

{bk-}

Graphie



,

,



Beispiele

iber, kinig

bese, derfer

klaid, zwaÿer

streit, beÿ

pald, pch

pleich, pruſt

Zunftbücher

84 %

62 %

98 %

90 %

15 %*

15 %*

Buchschreiber

0 %

0 %

100 %

94 %

38 %

75 %

Setzer A

0 %

0 %

17 %

100 %

3 %

3 %

Setzer B

0 %

0 %

4 %

100 %

81 %

83 %

Abb. 15: Die Setzer A und B im Vergleich zu handschriftlichen Augsburger Texten um 150064

wenden, also nicht ›Günther Zeuner‹ oder ›Johann Bäumler‹, sondern ›Ginther Zeiner‹ und ›Johann Bämler‹.65 Ein bedeutender Unterschied zwischen innerstädtischen Varietäten und den beiden Setzersprachen besteht auch in Bezug auf den Öffnungsgrad des Diphthongs {ei}, wo bei den Buchschreibern und in den Zunftbüchern in den Graphien , der offene Vokalansatz zum Ausdruck kommt, wie er seit dem 14. Jahrhundert in Augsburg üblich geworden ist. Demgegenüber muss für die beiden Setzer eine geschlossene Aussprache als vorbildlicher gegolten haben, was an der weitgehenden Vermeidung durch Setzer B und an der auf bestimmte Kontexte beschränkten Verwendung bei Setzer A sichtbar wird (vgl. Abb. 11, 13). Bemerkenswert sind auch die Unterschiede hinsichtlich der neuhochdeutschen Diphthongierung von {î}, wo bei den Handschriftenschreibern noch monophthongische Residuen bestehen, während die Setzer eine vollständige Durchsetzung zeigen. Auch bei der Wiedergabe des anlautenden {b} können sich beide Setzer nicht an den innerstädtischen Varietäten orientiert haben. Denn in den Augsburger Handschriften lässt sich schon seit dem 14. Jahrhundert eine komplementäre Verteilung erkennen, wobei die Lenisgraphie in prävokalischer Position erscheint, also bald, buͦch, die Fortisgraphie

dagegen in präkonsonantischer, also pleich, pruſt.66 Die Setzer gehen demgegenüber gänzlich andere Wege. A setzt ausschließlich – also auch bei bleich und bruſt – Lenisgraphien und weitet ihren Gebrauch sogar auf die Position {p-} aus (vgl. Abb. 8). B dagegen zeigt vor Vokal wie vor Konsonant

, schreibt also auch pald und puͦch, nimmt davon aber die traditionell nicht fortisierten Morpheme aus und zeigt darüber hinaus eine akzentbedingte Alternation zwischen und

(vgl. Abb. 7).

64 Reifsnyders Daten über die Zukunftbücher lassen keine Unterscheidung zwischen {b-} in prävokalischer und präkonsonantischer Stellung zu und sind daher mit Asterisk bezeichnet. 65 Zur Verbreitung der Entrundung Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. 1, Teil 1, S. 103. 66 Die Alternation zwischen präkonsonantischem

und prävokalischem tritt in den neun Augsburger Handschriften in unterschiedlicher Stärke zu Tage. Fujii: Günther Zainers druckersprachliche Leistung, S. 139. Dazu auch Moser: Frühneuhochdeutsche Grammatik, Bd. 1, Teil 3, S. 104–106.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 195

Daran wird deutlich, dass die Druckersprachen in einem Bezugssystem stehen, das zwar das städtische Varietätensystem, wie es durch die gleichzeitige handschriftliche Überlieferung und die anzunehmenden Basisdialekte repräsentiert wird, voraussetzt, aber in entscheidenden Punkten darüber hinausgeht. Dieses komplexe System wird in Abbildung 16 zu modellieren versucht, und zwar nach einem Verfahren, bei dem die regionale Reichweite einer Varietät als Bezugspunkt dient.67 Die gesprochenen Varietäten werden dabei nach ihrer kommunikativen Reichweite kreisförmig dargestellt. Den geringsten Radius erhält dementsprechend der städtische Basisdialekt, der in der Regel nicht verschriftet wurde und sich nur indirekt erschließen lässt. Größere Reichweite hatte die Varietät der bürgerlichen Mittelschicht, die möglicherweise auch als Nähesprache der Oberschichten anzusehen ist. Ihr Charakter dürfte am ehesten in den Sprachmerkmalen der Zunftbücher zum Ausdruck kommen. In formellen Situationen verwendete die Oberschicht verschiedene Prestigevarietäten, die hier unter dem soziolinguistischen Terminus ›städtischer Akrolekt‹ zusammengefasst sind. Dieser akrolektale Sprachgebrauch, der als Bezugsvarietät für die Augsburger Verwaltungsschriftlichkeit und wohl auch für die Handschriftenproduktion anzusehen ist, war durchaus nicht einheitlich, da er immer auch unter dem Einfluss überregionaler Prestigevarietäten stand. So galt seit dem 13. Jahrhundert jene bairisch geprägte Varietät als Vorbildsprache, die als ›Gemeines Deutsch‹

Externe Prestigeaussprache 1

Externe Prestigeaussprache 2

Städt. Akrolekt (Distanzsprache) Mesolekt (Nähesprache) Ostschwäbische Sprachlandschaft

Augsburger Basisdialekt

Abb. 16: Modell für das mündliche Varietätensystem Augsburgs (Darstellung des Autors)

67 Das auf Bausinger zurückgehende Verfahren wurde durch W. Königs Weiterentwicklung in der Karte »Kommunikative Reichweite von Hochsprache und Dialekt am Beispiel Österreichs« bekannt. König: dtv-Atlas Deutsche Sprache, S. 132.

196 

 Arend Mihm

bezeichnet wird. Daneben gewann eine rheinfränkisch getönte Varietät Einfluss, die im Umkreis des Mainzer Erzbischofs und Reichskanzlers und demzufolge auch noch am Hofe Kaiser Friedrichs III. (1440–1493) in Ansehen stand. Auch eine westliche, vom Straßburger Kulturkreis ausgehende Prestigevarietät scheint zeitweise Vorbildcharakter gewonnen zu haben. An diesen überregionalen Varietäten, die im innerstädtischen Sprachgebrauch nur teilweise reflektiert wurden, mussten Buchdrucker und Schriftsetzer ein genuines Interesse haben. Denn sie agierten in einem Großraum zwischen Mainz, Nürnberg und Basel und waren auf eine Vergrößerung ihres Absatzgebietes bedacht. Aber auch für den innerstädtischen Buchmarkt Augsburgs konnte es erfolgsversprechender sein, die angesehenen Merkmale externer Prestigevarietäten zu verwenden, als genau den bodenständigen Sprachgebrauch zu treffen. Dadurch wird auch erklärbar, dass besonders in Übergangsphasen Charakteristika aus verschiedenen Vorbildsprachen in ein und denselben Schriftsatz gelangten.68 Der im Melusine-Druck beobachtete Rückgang von , sowie die Trennung von und nach der Folgekonsonanz könnte in diesem Sinne auf eine Konvergenz des Augsburger Akrolekts mit jener westlichen Prestigevarietät zurückgehen, die unter Friedrich III. eine besondere Attraktivität gewann.69 Ihre Ausstrahlungskraft kann jedoch nur wenige Jahrzehnte angehalten haben, denn schon um 1510 scheint eine neue Prestigevarietät zum Vorbild für die Augsburger Stadtsprache geworden zu sein. Sie war eindeutig ostoberdeutsch geprägt und hatte ihr Ansehen möglicherweise unter der Herrschaft Kaiser Maximilians I. (1493–1519) gewonnen. Denn im Augsburger Druck wurde von da an für 100 Jahre die alte Unterscheidung zwischen , für {ei} und , für {ī} wieder gültig. Danach, also in der Zeit um 1610, hat man einen erneuten Wechsel anzunehmen, bei dem langfristig eine mitteldeutsche Prestigevarietät zum Vorbild wurde, wodurch das , allmählich aus der Augsburger Druckersprache verschwand und die Graphien , in gleicher Weise {ei}

68 Eine gleichzeitige Übernahme von Merkmalen verschiedener Prestigesprachen lässt sich mehrfach nachweisen. So wurden in der rhein-maasländischen Sprache der Frühen Neuzeit gleichzeitig neuhochdeutsche und neuniederländische Merkmale verwendet. Dazu Mihm: Frühneuzeitliche Sprachmodernisierung, S. 257–259; Stichlmair: Stadtbürgertum und frühneuzeitliche Sprachstandardisierung, S. 145–148. 69 Dass der Übergang von zu um 1470 lautsprachlich gesteuert war, bestätigt auch das metasprachliche Zeugnis des Niklas von Wyle (1478), der den Übergang vom Diphthong /ai/ zu / ei/ im Reden und Schreiben beklagt und ihn als »endrung […] vnsers gezüngs [Sperrung AM]« bezeichnet. Konkret erwähnt er, dass man jetzt »burgermeister« spräche statt wie früher »burgermaister«. Der leicht gekürzte Textzusammenhang lautet: »so haben sich vnser vaͤtter vnd dero altfordern in schwaͮben … gebrucht in Jrem reden vnd schreiben des diptongens ai für ei. Aber yetz garnâch … ei für ai: burgermeister sprechende vnd nit burgermaister wysheit vnd nit wyshait: daz ain grosse vnnütze endrung ist vnsers gezüngs«. Der vollständige Text bei Müller: Quellenschriften, S. 15 f. Über die -Schreibungen zur Zeit Friedrichs III. Noordijk: Untersuchungen auf dem Gebiet der kaiserlichen Kanzleisprache, S. 68 f, 88 f.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

 197

wie {ī} repräsentierten.70 Diese unterschiedlichen Orientierungen, die in der älteren Literatur als Auf- und Abstieg der Augsburger Druckersprache verstanden wurden, können durch den nachgewiesenen Einfluss von gesprochenen Prestigevarietäten auf die Druckersprachen also eine neue Deutung erhalten.

4 Buchdruck und Sprachvereinheitlichung Die graphematischen Untersuchungen zum Melusine-Druck und die vergleichenden Untersuchungen zum System der in Augsburg gesprochenen Varietäten stützen insgesamt die These von der Priorität jener gesprochenen Innovationen, die aus den Konvergenzprozessen zwischen den jeweiligen Prestigevarietäten hervorgegangen sind. Daher kann die weit verbreitete Auffassung einer vom Buchdruck gesteuerten Sprachvereinheitlichung zumindest für die frühe Zeit nicht aufrecht erhalten werden, und auch für die folgenden Epochen ist jeweils zu prüfen, ob die in den Drucken sichtbar werdenden Neuerungen nicht auf einen Wandel in der gehobenen Mündlichkeit zurückgehen. Als Kriterium spielt dabei die Frage nach dem vorherrschenden Orthographietyp eine wesentliche Rolle. Denn das noch bis ins 17. Jahrhundert belegte Prinzip der Umschrift ermöglichte bei jeder neuen Drucklegung eines Textes eine Anpassung an einen erstrebenswerten Sprachgebrauch. Erst die Durchsetzung des neuen Orthographietyps, der durch die feste Wortschreibung gekennzeichnet war, konnte verhindern, dass die Merkmale einer vorbildlichen Aussprache Eingang in die Drucke fanden, und nur dadurch wurde auch jene Stabilisierung und Dauerhaftigkeit der Sprachform möglich, die als Voraussetzung für eine schriftgesteuerte Sprachentwicklung anzusehen ist. Vor diesem Hintergrund verdient der Übergang zum Prinzip der festen Wortschreibung, der sich sehr allmählich vollzogen hat, wesentlich mehr Aufmerksamkeit, als ihm bisher zuteil geworden ist.71 Dazu sind vor allem diachronische Untersuchungen notwendig, die etwa die zunehmende Konstanz von Wortschreibungen innerhalb schreiber- oder setzerspezifischer Sprachkorpora, aber auch die Reduktion von Graphienspreizungen messbar und vergleichbar machen.72 Hierbei können auch offizinbezogene Untersuchungen einen wichtigen Beitrag leisten, wie sie Fujii für

70 Eine zusammenfassende Darstellung dieses Wechsels gibt Glaser: Augsburger Schreibsprache, S. 359–363; empirische Einzeluntersuchungen dazu bei Stopp: Das in Augsburg gedruckte Hochdeutsch, S. 168–172. 71 Das zumindest partielle Festhalten am Umschriftprinzip erklärt sich auch daraus, dass die Lateinschule der Ausbildungsort der Gebildeten blieb und daher bei den professionell mit Schriftlichkeit befassten Berufsgruppen das Lateinische als Erstschreibsprache zur Verfügung stand. 72 Empirische Verfahren dazu bei Elmentaler: Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen, S. 161–168; Ravida: Zur morphembezogenen Variation, S. 331–351.

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 Arend Mihm

die Offizin Günther Zainers an 18 Drucken zwischen 1471 und 1478 durchgeführt hat. Aus dieser bisher umfangreichsten Korpusanalyse zur Augsburger Druckersprache zog er den Schluss, dass Zainer in diesen Jahren erfolgreich eine Vereinheitlichung der Setzerorthographien durchgesetzt habe. Doch ist an dieser Folgerung zu bedenken, dass nicht alle Veränderungen, die damals bei Zainers Setzern sichtbar werden, notwendigerweise auf den Willensakt ihres Vorgesetzten zurückgehen müssen. Sie können auch das Ergebnis großräumiger sprachhistorischer Entwicklungen sein, die ein offizin- und stadtübergreifendes Interesse besitzen, aber nicht an einer Person festzumachen sind.73 Grundsätzlich aber verdienen die Sprachregulierungen innerhalb der frühen Offizinen als Vorboten späterer Entwicklungen alle Aufmerksamkeit, auch wenn sie, solange das Prinzip der Umschrift galt, nur von begrenzter Dauer sein konnten. Eine vollständige Lösung vom Umschriftprinzip und eine frühe Durchsetzung der festen Wortschreibung hätten jedoch die Vereinheitlichung des Deutschen in wesentlichen Punkten nicht voranbringen können. Das wird an den Vorschlägen der Schreibmeister des 16. Jahrhunderts deutlich, die zwar für eine feste Wortschreibung plädieren, aber dabei meist von der Lautlichkeit ihrer eigenen Regionalvarietät ausgehen, deren Fixierung und Konservierung die Bildung größerer Spracheinheiten sogar behindert hätte.74 Demgegenüber ist die Orientierung an externen Prestigevarietäten, wie sie bei der Analyse von Bämlers Melusine-Druck am Verhalten der beiden Setzer im Ansatz sichtbar wurde, als wesentlicher Impuls für die Sprachvereinheitlichung anzusehen. Ihre Sprachüberformung legt den Schluss nahe, dass Setzer wie Drucker, was die sprachliche Gestalt eines Textes betraf, ein deutliches Interesse daran hatten, dass er jene Sprachmerkmale aufwies, die damals als elegant, weltläufig und zeitgemäß galten. Das Ziel, diese jeweils aktuellen Sprachmerkmale im Druck sichtbar zu machen, konnte letztlich nur durch das Prinzip der Umschrift verwirklicht werden, sodass es trotz der Tendenzen zur festen Wortschreibung vorerst in Gebrauch blieb. Das Aufkommen der Korrektoren seit dem 16. Jahrhundert bedeutet eine Wende in der Entwicklung der Druckersprachen und für den Prozess der Sprachvereinheitlichung. Für anspruchsvolle Drucke kontrollierten sie die Setzerarbeit und regulierten die sprachliche Form, sodass Kontraste, wie sie in Bämler-1474 zu beobachten sind, verschwanden. Dieser neue Berufsstand, der für zahlreiche Offizinen bezeugt wird und

73 Auf einen großräumigen Varietätenwandel gehen offenbar der geschlossene Diphthongansatz für {ei}, die partielle Annäherung der Aussprache von {ei} und {ī} sowie die Lenisaussprache von anlautendem {b} zurück (vgl. Anm. 69). Auch in anderen Punkten bestehen Zweifel an der persönlichen Urheberschaft Zainers für die in seiner Offizin beobachtbaren Sprachveränderungen. Vgl. Graser: Grundlegendes zur Frühgeschichte des deutschsprachigen Buchdrucks, Abs. 28–31. 74 Zu den unterschiedlichen Vorschriften Götz: Die Anfänge der Grammatikschreibung, S. 325–332 u. Painter: Die Aussprache des Frühneuhochdeutschen, S. 175–180.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

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in letzter Zeit verstärkt Beachtung gefunden hat,75 zeigt ein neues spezifisches Profil. Korrektoren mussten über einen hohen Bildungsgrad verfügen, der umfangreiche sprachliche Fähigkeiten sowie grammatische Kenntnisse einschloss, sodass man ihnen zu Recht die zunehmende Systematisierung des orthographischen Erscheinungsbildes zuschreibt.76 Sie verfügten zudem über einen größeren Erfahrungshorizont als die Setzer und eine Vorstellung von den verschiedenen Varietäten des Sprachgebiets. Dazu gehörte auch eine Meinung darüber, welche der regionalen Prestigesprachen das höchste Ansehen verdiente und was ihre typischen Aussprachemerkmale waren. Auch mit den theoretischen Schriften ihrer Zeit werden die Korrektoren zumindest teilweise in Berührung gekommen sein. So war ihnen vielleicht die Auffassung bekannt, dass sich die Orthographie nach der vornehmsten Ausspracheweise zu richten habe, die von den damaligen Gelehrten vertreten wurde,77 möglicherweise sogar die Meinung, dass es eine für das gesamte Sprachgebiet richtige Aussprache gäbe, die schon im 16. Jahrhundert erkennbar wird,78 sodass die Druckersprachen dem Leitsatz zu folgen hätten ›Schreibe wie es hochdeutsch lautet‹. Aber selbst wenn kein direkter Kontakt zu solchen Überlegungen bestand, lag es nahe, dass Drucker und Korrektoren die zunehmenden Konvergenzprozesse, die sich im Zuge der frühneuzeitlichen Sprachmodernisierung zwischen den führenden Akrolekten vollzogen, aufmerksam verfolgten und bei der Wahl ihrer Vorbildvarietäten berücksichtigten. Nur so erklärt es sich, dass die anspruchsvollen Drucke seit 1650 nur mehr auf zwei überregionale Prestigevarietäten ausgerichtet sind, nämlich entweder auf die meißnisch-protestantische oder auf die ostoberdeutsch-katholische.79 Auch noch beim Prozess der Vereinheitlichung dieser beiden Varietäten, der sich trotz des Einwirkens von Sprachpolitik und präskriptiver Grammatik in den Druckersprachen bis ins späte 18. Jahrhundert beobachten lässt, war die Orientierung an der tatsächlich gesprochenen Sprache ein wichtiger Maßstab. Insgesamt beruht also das große Verdienst, das der Buchdruck, d. h. die Druckherren, die Korrektoren und die Setzer,

75 Auf neuere Befunde verweisen Ludwig: Geschichte des Schreibens, S. 234–241 u. Flügge: Auswirkungen des Buchdrucks, S. 109–118. Über den Forschungsstand insgesamt informiert Hartweg: Die Rolle des Buchdrucks, S. 1687 f. 76 Moulin: Der Entwicklungsprozess der deutschen Orthographie, S. 309 f. 77 So etwa von Hieronymus Wolf, der 1578 die Maxime vertrat: »Scriptura pronuntiationem elegantem debet imitari« (zitiert nach Jellinek: Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik, S. 58). 78 Von einer solchen über den Regionalvarietäten stehenden Aussprachenorm geht bereits Fabian Frangk in seiner Orthographia von 1531 aus, wenn er schreibt, dass es ein »Recht vnd rein Deutsch« gibt, das zwar nicht »einem jdlichen in seinen ohrn« klingt, aber den Kennern zugänglich ist. Dazu Götz: Die Anfänge der Grammatikschreibung, S. 101, 105–108. 79 Die Eigenständigkeit des ostoberdeutsch-katholischen Bereichs der Druckersprachen verdeutlichen die neueren empirischen Untersuchungen von Meurders: Zum System der Vokalgraphe, Meurders: Zum System der Konsonantengraphe und von Rössler: Schreibvariation, Sprachregion, Konfession.

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 Arend Mihm

an der Entstehung einer einheitlichen deutschen Sprache haben, weniger auf ihrer sprachschöpferischen Leistung, sondern auf der vielfach hervorgehobenen Entwicklung der modernen Orthographie und mehr noch darauf, dass sie die zunehmenden Konvergenzprozesse der gesprochenen Varietäten wahrgenommen und in den Druckersprachen berücksichtigt haben.

5 Literaturverzeichnis Behr, Martin: Ausgleichsvorgänge in den Druckersprachen Augsburgs und Straßburgs anhand der Inkunabelüberlieferung der Melusine. In: Elspaß, Stephan / Negele, Michaela (Hrsg.): Sprachvariation und Sprachwandel in der Stadt der Frühen Neuzeit (Sprache – Literatur und Geschichte 38). Heidelberg 2011, S. 49–77. Besch, Werner: Der Schreiber in vielfältiger Vermittlungsfunktion. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie 127 (2008), Sonderheft, S. 209–224. Besch, Werner / Klein, Thomas (Hrsg.): Der Schreiber als Dolmetsch (Zeitschrift für Deutsche Philologie 127, Sonderheft). Berlin 2008. Besch, Werner u. a. (Hrsg.): Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.1–4). 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. Teilbd. 1–4. Berlin 1998–2004. Burdach, Konrad: Vom Mittelalter zur Reformation. Forschungen zur Geschichte der deutschen Bildung. H. 1. Halle 1893. Dürscheid, Christa: Einführung in die Schriftlinguistik (Studienbücher zur Linguistik 8). 3. überarb. und erg. Aufl. Göttingen 2006. Elmentaler, Michael: Struktur und Wandel vormoderner Schreibsprachen (Studia linguistica Germanica 71). Berlin 2003. Elmentaler, Michael: Prinzipien und Motive des Schreibens in vormoderner Zeit. In: Glaser, Elvira u. a. (Hrsg.): LautSchriftSprache. Beiträge zur vergleichenden historischen Graphematik (Medienwandel – Medienwechsel – Medienwissen 15). Zürich 2011, S. 22–26. Fleischer, Wolfgang: Strukturelle Untersuchungen zur Geschichte des Neuhochdeutschen (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig / Philologisch-Historische Klasse 112, H. 6). Berlin 1966. Flügge, Lars: Die Auswirkungen des Buchdrucks auf die Praxis des Schreibens. Marburg 2005. Freund, Sabine: Das vokalische Schreibsystem im Augsburger Kochbuch der Sabina Welserin aus dem Jahre 1553. Ein Beitrag zur Graphematik handschriftlicher Überlieferung des 16. Jahrhunderts (Sprache – Literatur und Geschichte 6). Heidelberg 1991. Fujii, Akihiko: Haben Erfindung und Ausbreitung des Buchdrucks zur Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache beigetragen? In: Mattheier, Klaus J. u. a. (Hrsg.): Methoden zur Erforschung des Frühneuhochdeutschen. Studien des Deutsch-Japanischen Arbeitskreises für Frühneuhochdeutschforschung. München 1993, S. 177–197. Fujii, Akihiko: Günther Zainers druckersprachliche Leistung. Untersuchungen zur Augsburger Druckersprache im 15. Jahrhundert (Studia Augustana 15). Tübingen 2007. Glaser, Elvira: Augsburger Schreibsprache. In: Gottlieb, Gunther u. a. (Hrsg.): Geschichte der Stadt Augsburg von der Römerzeit bis zur Gegenwart. Stuttgart 1984, S. 357–362. Glaser, Elvira: Graphische Studien zum Schreibsprachwandel vom 13. bis 16. Jahrhundert. Vergleich verschiedener Handschriften des Augsburger Stadtbuches (Germanische Bibliothek 3). Heidelberg 1985.

Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

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Druckersprachen und gesprochene Varietäten 

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Franz Simmler

Zum Zusammenhang mikro- und makrostruktureller textueller Merkmale in der Tradition des Frühneuhochdeutschen Prosaromans Zusammenfassung: Anhand der Tristrant und Isalde-Ausgaben von 1484, 1556 und 1587 und im Kontrast zur Melusine-Überlieferung wird geprüft, welche Makro- und Mikrostrukturen des Frühneuhochdeutschen Prosaromans, dessen Struktur sich im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts fest herausgebildet hat, bereits 1484 vorhanden sind und wie sie sich weiterentwickelten. Bereits die Inkunabel von 1484 besitzt alle makrostrukturellen und syntaktischen textuellen Merkmale des Frühneuhochdeutschen Prosaromans. Diese Merkmale werden in den Drucken von 1556 und 1587 verstärkt. Die Repräsentationstypen ›Punkt (unten) + Majuskel‹ und ›Virgel + Majuskel‹ begrenzen konsequent isoliert gebrauchte einfache Sätze und Gesamtsätze und nicht mehr Hauptsätze nach präpositiven Nebensätzen oder hervorzuhebende Nebensätze, Satzglieder oder Satzgliedteile. Der Repräsentationstyp ›Überschrift  +  Holzschnitt (+ Initiale mit Majuskel/Segmentierungszeichen)‹ kennzeichnet die Makrostruktur der Kapitel. Die Überschriften sind nicht aus ehemaligen Bildunterschriften entstanden, sondern dürften von Anfang an als Hinweise auf den folgenden Kapitelinhalt konzipiert worden sein. Die Holzschnitte erschließen nicht eigenständig den Textsinn, sondern haben primär die Funktion, den Kapitelbeginn gemeinsam mit der Überschrift zu markieren. Der Zusammenhang von Makro- und Mikrostrukturen zeigt narrative Grundprinzipien des Erzählens (und Berichtens) in literarischen (und auch zeitgleichen religiösen) Textsorten.

1 Prosaromandefinition, Erkenntnisziel und Materialgrundlage Anhand der drei Drucke des Fortunatus von 1509, des Wigoleis vom Rade von 1519 und der Magelone von 1535, die verschiedene Traditionen repräsentieren, konnte für das erste Drittel des 16. Jahrhunderts die Konstitution der Textsorte ›Frühneuhochdeutscher Prosaroman‹ begründet und unter textlinguistischem Aspekt folgendermaßen definiert werden: Der frühneuhochdeutsche Prosaroman wird extern durch Bürger in adligem Auftrag in erster Linie für ein adliges Publikum mit oder ohne primär- bzw. sekundärsprachliches Vorbild im Medium der Handschrift fixiert und im Medium des Drucks verbreitet. Er besteht intern aus einem spezifischen Merkmalbündel, mit dem

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 Franz Simmler

primären Textsinn zu unterhalten. Das interne Merkmalbündel setzt sich aus den Makrostrukturen der Initiatoren (mit teilweise variablen Angaben zur Textklasse, zu Hauptpersonen, ihren Eigenschaften und Eltern, zum Ort der Handlung, zur Übersetzung und Vorlage), des Terminators (mit Angaben zu Drucker, Druckort und Jahr), des Kapitels (zur Kennzeichnung der Kontinuität der Handlungsabfolge), aus syntaktischen Merkmalen der Temporalsätze und Temporaladverbialen in Spitzenposition, der Teilsätze mit ›verbum dicendi‹ und direkter Rede in Endposition und der linear und überwiegend parataktisch angeordneten Abfolge von Teilsätzen in Gesamtsätzen (zum Aufbau einer chronologisch geprägten Erzählfolge) und aus den lexikalischen Merkmalen einer besonderen Auswahl und Frequenz von Zeitadverbien und ›verba dicendi‹ (zur allgemeinen Einordnung in ein Zeitgerüst und allgemeinen Hervorhebung des Gesprochenen) zusammen.1 In dieser Definition werden externe und interne Merkmale ebenso aufeinander bezogen wie innerhalb der internen Merkmale ein expliziter Bezug zwischen mikround makrostrukturellen textuellen Merkmalen hergestellt wird, der in besonderer Weise in der Lage ist, Textsorten zu differenzieren,2 und der bei textlinguistischen Untersuchungen meist vernachlässigt wird. Im Folgenden ist es das Erkenntnisziel, anhand der Tristrant und Isalde-Überlieferung, die bereits in der Inkunabelzeit 1484 einsetzt, zu ermitteln, welche der textuellen Merkmale bereits 1484 existierten und wie sie im Lauf der Tradition bis 1587 weiterentwickelt wurden. Dabei wird ein expliziter Vergleich zur Melusine-Tradition hergestellt, deren Drucküberlieferung ebenfalls in der Inkunabelzeit einsetzt und bei der die Fragen nach »strukturell bedingte[n] Beziehungen« zwischen »Text und Illustration«3 und nach der Herkunft und Funktion der Überschriften noch nicht abschließend geklärt werden konnten.4 Als Materialgrundlage dienen folgende Ausgaben: –– Tristrant und Isalde (= A) Berlin SB-PK, Inc. 138; Augsburg: Anton Sorg, 1484; Faksimile-Ausgaben 1989, 1993 –– Tristrant und Isalde (= FH) Berlin, SB-PK, Yu 1171R; Frankfurt a. M.: Weigand Han, 15565

1 Vgl. Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 467. 2 Vgl. Simmler: Die biblischen Textsorten, S. 220–369; Simmler: Makro- und Mikrostrukturen, S. 193–195. 3 Roloff: Stilstudien, S. 23 Anm. 81. 4 Vgl. Simmler: Zur Verbindung sprachwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Methoden, S. 103. 5 Druckerwähnung: VD 16 ZV 16100. Der Bibliothek danke ich herzlich für die Möglichkeit zur Autopsie des Drucks. [Titelblatt:] »Herr Tristrant. Ein wunderbarliche vnd fast lustige History von Herr Tristrant vnd der schoͤnen Isalden/ eins Koͤnigs ausz Irlands Tochter/ was sie vor grosse freud

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

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–– Tristrant und Isalde, in: Buch der Liebe, S. 78–107 (= FF) Wolfenbüttel HAB, 3.6 Eth. 20; Frankfurt a.M.: Johann Feyerabend für Sigmund Feyerabend, 15876

mit einander gehabt haben/ vnd wie dieselbige freud gantz trawriglich zu eim end volbracht ward/ sehr lieblich zu lesen. [Holzschnitt] M. D. LVI. [Kolophon:] Gedruckt zu Franckfort am Mayn:/ durch Wygand Han,/ inn der Schnurgassen zum krug.« 6 Druckerwähnung: VD 16 B 8959. Der HAB Wolfenbüttel danke ich herzlich für die Überlassung eines Mikrofilms. [Titelblatt:] »Das Buch der Liebe/ Inhaltendt Herrliche Schöne Historien Allerley Selten vnd newen Exempel/ darausz menniglich zu vernemmen/ beyde was recht ehrliche/ dargegen auch was vnordentliche Bulerische Lieb sey/ Wie so gar wunderbarlicher weisz/ die so wol hohes als nidern stands Personen offtermals eyngenommen/ Auch mit was seltzamen Abenthewren/ vnd grosser Leibs vnd Lebens gefahr/ sie solch ihr fuͤrnemmen ins Werck gericht/ bisz jhnen endtlich durch Gluͤcks schickung/ zum theil ein froͤlich gewuͤndscht endt/ zum theil aber ein erbaͤrmlicher ausszgang erfolget. Wie dann solchs aus den Exempeln der vnschuldigen Princessin/ Keysers Octauiani Gemahel/ sampt der keuschen Herzogin in Britannien/ welche beyde bey hoͤchster vnschuldt zu dem grimmigen Todt desz Feuwers vervrtheilt/ Aber doch endtlich durch Gottes desz gerechten Richters versehung jhre vnschuldt hell an Tag kommen/ So auch vnzehlich viel anderer hohen stands Personen/ als Koͤnigin/ Fuͤrstin/ Graͤuin/ vnd vom Adel/ deren diese Historien meldung thun/ augenscheinlich zu ersehen. Demnach/ welcher gestallt die vom Adel/ vnd andere so zu Hof seyn/ Ritterschafft vben/ oder sonst nach hohen Ehren streben/ sich zu verhalten/ damit sie bey grossen Potentaten gnad vnd gunst erwerben/ so auch bey menniglich Lob vnd Preisz erlangen moͤgen. Ferner/ wie in allen Weltlichen Haͤndeln/ bevorab in Liebssachen vnd Ritterspielen/ das Gluͤck so gar wanckelmuͤtig vnd vnbestendig/ vnd jetzt durch offentliche gewalt/ dann mit heimlichen Tuͤcken der Tugendt vnd Froͤmbkeit zu zusetzen pflegt/ vnd dadurch von jhrem guten fuͤrsatz abwendig zu machen vermeynet. Letzlich/ wie in solchen Faͤllen/ Tugendt vnd Froͤmbkeit/ jre Nachfolger vnd Liebhaber/ vngehindert allerhand anstoͤsz vnd widerwertigkeit/ allwegen herausz zureissen/ vnd endlich mit grossen Freuden in Ehrenstandt zu bringen vnd setzen pflegen. Allen hohen Standts personen/ Ehrliebenden vom Adel/ zuͤchtigen Frauwen vnd Iungfrauwen/ Auch jederman in gemein so wol zu lesen lieblich vnd kurtzweilig/ als liebs vnd leyds nahe verwandtschafft/ Gluͤcks vnd Vngluͤcks wunderbarliche Wechssel/ vnd dann die kraͤfftige Huͤlff Gottes in noͤten hierausz zu erkennen/ vnd in dergleichen faͤllen sich desto bescheidener zu verhalten/ fast nuͤtzlich vnd vortraͤglich. [Holzschnitt] In gegenwertiger Form vnd zierlicher Teutscher Sprach/ mit kurtzen verstaͤndltlichen Summarien vber alle Capitel/ auch schoͤnen Figuren/ auffs new zugericht/ vnd in Truck geben/ dergleichen vor nie gesehen. Franckfurt am Mayn:/ in verlegung Sigmund Carln Feyerabendts. M.D.LXXXVII. – [Überschrift des Prosaromans:] Ein wunderbarliche vnnd fast lustige Histori/ von Herr Tristrant vnd der schoͤnen Isalden/ eines Koͤnigs ausz Irland Tochter/ was sie vor grosse freud mit einander gehabt haben/ vnd wie dieselbige freud gantz trawriglich zu eim end vollbracht ward/ sehr lieblich zu lesen.« (FF, Bl. 78b, Z. 20–24).

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 Franz Simmler

2 Textuelle Merkmale in A 2.1 Makrostrukturen Die Makrostrukturen der Inkunabel von 14847 werden von einem Initiator, einem Terminator, einer Kapitelgliederung, einer noch wenig ausgebauten Absatzgliederung, einigen umfangreicheren Dialogen und einem Brief gebildet. Der Initiator besteht bereits aus einem Titelblatt: (1) ¢ Hienach volget die histori von herren Tristrant und der schoͤnen Isalden von irlannde · weliche histori einer vorrede wol würdige waͤre · vnd doch vnnutz · dann die lesenden vnnd zuͦhoͤrenden · in langen vorreden verdriessen nemend Darumb sag ich die histori auff das kürtzt · die also lawt (A, Bl. 1b, Z. 1–9; B, Z. 1–6)8

Das Titelblatt nennt die adligen Hauptpersonen durch die Attribute herrn und von irlannde, gibt eine zeitgenössische Textklassifikation als histori, die auff das kürtzt berichtet werden soll, um die Leser und Zuhörer nicht zu verdriessen und die Spannung zu erhalten; deshalb wird auch auf eine vorrede verzichtet. Der Terminator: (2) ¢ Hie endet sich herr Tristrant Getrucket zuͦ Augspu[r]g von Anthonio Sorg im ·M·CCCC· vnd LXXXIIII· Iare · (A, Bl. 186a, Z. 15–18; B, Z. 5192 f.)

markiert das Ende des Prosaromans und gibt den Drucker, den Druckort und das Erscheinungsjahr an. Zwischen Initiator (1) und Terminator (2) wird die Textgliederung von der Kapitelstruktur bestimmt. Die Kapitel sind nicht durchnummeriert. In seiner Edition gibt Alois Brandstetter mit Recht 63 Kapitel an,9 ohne dies aber im Detail zu begründen und die Kapitelgliederung von den übrigen Textgliederungen abzuheben. Er orientiert sich bei seiner Kapitelgliederung an der Existenz von Überschriften, die in Repräsen-

7 Zu einzelnen makrostrukturellen Unterschieden zur Inkunabel von 1498 vgl. Buschinger: Prosaroman, S. 93–96. 8 Es existiert weder eine Blatt- noch eine Lagenzählung. Daher wurde eine eigene Blattzählung eingeführt; zitiert wird nach a = recto, b = verso. Zusätzlich ist auf die Edition von Brandstetter: Tristrant und Isalde (= B) und die in dieser praktizierte Zeilenzählung verwiesen. Da es sich um eine textlinguistische und syntaktische Analyse handelt, sind verschiedene s- und r-Graphe normalisiert, diakritische Zeichen über weggelassen und Abkürzungen aufgelöst. Die Interpunktion ist beibehalten, auch die Unterscheidung von Punkt (unten) und Punkt (mittig), auf die Brandstetter verzichtet. 9 Vgl. Brandstetter: Tristrant und Isalde, S. XXVII–XXX.

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

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tationstypen aus hervorhebenden, interpungierenden und orthographischen Merkmalen einbezogen sind: (3) ¢ Wie künig Marchs sein schwester Blanceflor vermaͤhelet dem künig Ribalin von iohnoys [Holzschnitt] ES [ = In (4z); = Maj] was ein künig mit namen künig Marchs von ku[r]newal · (A, Kap. 1; Bl. 2a, Z. 1–5; B, Z. 6–9)10 (4) ¢ Abenteür · Wie Tristrant erczogen ward · [Holzschnitt] ¢ Was grosser klag vnd traurikeyt do ward von dem künig · (A, Kap. 2; Bl. 3a, Z. 15–Bl. 3b, Z. 2; B, Z. 39–41) (5) ¢ Abenteür Wie fraw ysalde brangeln bat · dem künig der erste nacht bey ligen ¢ Hie hoͤrt wie fraw ysald · jr rede mit brangeln anfieng · (A, Kap. 21; Bl. 50b, Z. 5–8; B, Z. 1328–1330) (6) ¢ Abenteür Wie her tristrant die künigin daruon pracht · wahin sy kamen · vnd ettliche zeit bey einander waren · vnd wie es jnen ergienge · [eine Leerzeile] ALs [ = In (4z); = Maj] sy nun verr vnnd nahen allenthalben in dem landt gesuͦcht hetten · (A, Kap. 34; Bl. 88a, Z. 1–7; B, Z. 2375–2379)

Die Repräsentationstypen11 bestehen aus Ü + HS + In (4z) − Maj (3)12, Ü + HS + SZ (4)13 oder aus Ü + SZ (5)14 bzw. Ü + In (4z) − Maj (6).15 Als entscheidend erweist sich die Existenz einer Überschrift. Der Holzschnitt ist kein obligatorisches Element der Repräsentationstypen, weil elfmal auf die Überschrift kein Holzschnitt folgt. Die Überschriften bestehen überwiegend aus einem (vgl. 3)16 bis drei17 parataktisch verbundenen selbstständig gebrauchten Modalsätzen, denen der Nominalsatz Abenteür vorangestellt sein kann (4–6). Zusätzlich sind die Überschriften mit einem Segmentierungszeichen verbunden und hervorgehoben (3–6). Von den ›verba finita‹

10 In = Initiale, z = zeilig, Maj = Majuskel. Die Kapitelnummerierung wird zusätzlich angegeben, um einen Vergleich mit der Edition von A. Brandstetter zu erleichtern. 11 Auf die Kennzeichnung von In (4z) − Maj verzichtet Brandstetter in seiner Edition; das Segmentierungszeichen ¢ ist angegeben. 12 Ü = Überschrift, HS = Holzschnitt, In (4z) − Maj = bei der ersten Wortform nach dem Holzschnitt; ebenso Kap. 6, 31, 52, 55, 59. 13 SZ = Segmentierungszeichen ¢. Der Terminus wird statt ›Kapitulum-Zeichen‹ verwendet, da ¢ nicht nur auf Kapitelstrukturen hinweist; ebenso Kap. 2–5, 7–20, 22–30, 32, 35 f., 38–41, 43–45, 47, 49–51, 56, 60–63. 14 Ebenso Kap. 33, 58. 15 Ebenso Kap. 37, 42, 46, 48, 53 f., 57. 16 Ebenso Beispiel 4 und Kap. 3–5, 8, 25, 29–31, 45, 52. 17 Zwei Modalsätze Kap. 6, 10–13, 15, 18–20, 23 f., 26 f., 32, 36–38, 46–49, 51 f., 58, 60, 62 f.; drei Modalsätze Kap. 9, 33, 35, 39, 57, 59.

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 Franz Simmler

der Modalsätze können weitere Nebensätze abhängen (5).18 Auch selbstständig gebrauchte Lokalsätze (6) können mit den Modalsätzen parataktisch verbunden sein. Verbale Aussagesätze (7) und Nominalsätze (8) sind als Überschriften selten: (7) ¢ Hie vacht herr Tristrant sein erstes vechten · (A, Kap. 7; Bl. 13b, Z. 6 f.; B, Z. 319) (8) ¢ Abenteẅer von dem grossen streytt herr Tristrants vnd Ryols · (A, Kap. 40; Bl. 116b, Z. 21 f.; B, Z. 3249 f.)

Durch die mit Wie eingeleiteten Überschriften und Formulierungen wie vnd wie es jnen ergienge (6) wird eine Spannung erzeugt, die durch die Ausführungen im jeweils folgenden Kapitel gelöst wird. Die Überschriften fungieren daher nicht als Summarien,19 als Inhaltsangaben, wie Brandstetter20 meint.21 Lediglich eine Überschrift besitzt einen Aufbau, der dem von Summarien vergleichbar ist: (9) ¢ Her tristrant sol siczen in einem wannenbad · vnd die schoͤn ysalde vor im steen mit dem blossen schwert · aufgeczogen als ob sy in toͤten woͤll · vnd die junckfraw brangel von verren zuͦ geen mit der geperde als ob sy jm helffen woͤll (A, Kap. 16; Bl. 33b, Z. 1–6; B, Z. 848–852)

Die Holzschnitte sind in besonderer Weise mit den Überschriften verbunden. Zum Teil illustrieren die Holzschnitte Informationen, die in der Überschrift gegeben werden. So bildet der Holzschnitt in (3) die Vermählungsszene ab. In anderen Holzschnitten ist kein inhaltsseitiger Zusammenhang mit der Überschrift vorhanden. So zeigt der Holzschnitt in (4) die Geburt Tristrants auf dem Schiff; ein direkter Zusammenhang zu seiner in der Überschrift angekündigten und im folgenden Kapitel geschilderten Erziehung existiert nicht. Allerdings besteht insofern ein Bezug zur Überschrift, als im Kapitel vor seiner Erziehung die Rolle seiner Amme unmittelbar nach der Geburt, bei der seine Mutter starb, erwähnt wird. Alle Holzschnitte verweisen auf eine im folgenden Kapitel erwähnte oder geschilderte Szene und nicht – wie in der MelusineTradition – zum Teil auf im vorausgehenden Kapitel Berichtetes. Anders als in Richel-1473/74 sind die Holzschnitte nicht ganzseitig, sondern in den Seitenspiegel des Drucks integriert. Sie nehmen etwas mehr als ein Drittel der Seite ein. Ihre Ausgestaltung ist nicht so differenziert, dass ihre alleinige Betrachtung ohne Lektüre von Überschrift und Kapitelinhalt einen Überblick über das Romangeschehen vermittelt.

18 Ebenso Kap. 14, 21, 28, 42, 44, 50, 54 f. 19 Dies gilt auch für die verschiedenen im »Buch der Liebe« tradierten Prosaromane, vgl. Simmler: Makro- und Mikrostrukturen, S. 199, 203. Die Exempelsammlung des »Ritter[s] vom Thurn« zeigt andere Strukturen, vgl. Simmler, S. 205 f. 20 Vgl. Brandstetter: Tristrant und Isalde, S. XXVII. 21 Zur Struktur und Rolle von Summarien neben Überschriften vgl. Vorbeck-Heyn: Die deutschsprachige Evangelientradition, S. 521–590.

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

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Auch innerhalb der Kapitel kommt siebenmal ein weiterer Holzschnitt vor.22 Als Repräsentationstyp wird HS + SZ verwendet: (10) [Holzschnitt] ¢ Nun hoͤrent wie es in fürbas ergieng (A, Kap. 12; Bl. 25a, Z. 11; B, Z. 629) (11) [Holzschnitt] ¢ Durch soͤlich jr klag vnnd vnschuld · wurden die zwen mann erwegt in erbarmung · (A, Kap. 23; Bl. 56b, Z. 1–3; B, Z. 1495 f.)

Bezogen auf die Repräsentationstypen, die die Kapitelstruktur signalisieren, fehlt bei diesen Typen nur die Überschrift. Es ist daher zu klären, ob eine und, wenn ja, welche Textgliederung durch diesen Typ vorgenommen wird. Eine Entscheidung ergibt sich durch den Vergleich mit dem vorausgehenden Typ mit der Überschrift und der Platzierung vor dem nächsten Typ mit einer Überschrift: (12) ¢ Abenteẅr · Wie her Tristrant nach der frawen fuͦr · vnd wie jm auff der raiß gelange · [Holzschnitt] ¢ Do sprach her Tristrant · (A, Kap. 12; Bl. 23b, Z. 9–Bl. 24a, Z. 1; B, Z. 590–592) (13) ¢ Wie die künigin jr getrewe Brangel schuͦff czuͦ toͤdten · vnnd doch nicht geschahe · [Holzschnitt] ¢ Darnach über vnlang · bedacht die frau jr wesen · her tristrants halben · (A, Kap. 23; Bl. 54b, Z. 7–11; B, Z. 1446–1449)

Im Holzschnitt (12) wird Tristrants Abschied von Marche abgebildet, im Holzschnitt (10) die Geschenkübergabe an den Marschall Marches durch Tristrant, um nicht getötet zu werden. Abschied und Geschenkübergabe sind der Überschrift in (12) zugeordnet und werden im Kapitel nacheinander geschildert. Der zweite Holzschnitt erweist sich somit als Illustration einer weiteren Szene innerhalb des Kapitels und nicht als Hinweis auf einen Kapitelbeginn. In (13) und (11) liegt die einzige Wiederholung eines Holzschnitts vor. Im Holzschnitt werden die beiden Männer, die Brangel umbringen sollen, gemeinsam mit Brangel vor Isalde stehend abgebildet. Ein inhaltsseitiger Bezug zur Überschrift existiert nicht. Das Verständnis des Holzschnitts erschließt sich erst nach der Lektüre des ganzen Kapitels. Aus der Zuordnung zu Szenen und der Platzierung der Holzschnitte innerhalb des Kapitels ergibt sich, dass durch den Typ HS + SZ die Makrostruktur des Absatzes und nicht die eines Kapitels markiert wird. Aus solchen Zuordnungen von Holzschnitt und Überschrift ist für die Tristrant-Inkunabel weiter zu folgern, dass die Überschriften als Hinweise auf den folgenden Kapitelinhalt konzipiert worden und nicht aus Bildunterschriften zu den Holzschnitten hervorgegangen sind.

22 In Kap. 12, 18, 23, 29, 32 f., 58.

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 Franz Simmler

Die gemeinsame Funktion der Überschriften besteht darin, in ihrer Abfolge erste Informationen über das in den einzelnen Kapiteln Berichtete und damit einen Überblick über den Gesamtinhalt des Prosaromans zu geben. In ihrer Struktur und Funktion stimmen sie damit mit denen in anderen Prosaromanen überein.23 Die Kapitel signalisieren die Chronologie der geschilderten Ereignisse und Abenteür. Neben den sieben durch den Typ HS + SZ markierten Absätzen kommen noch in zwanzig weiteren Kapiteln Absatzgliederungen vor.24 In 36 Kapiteln existieren keine Absatzgliederungen. Am stärksten untergliedert sind die Kapitel 18, 21, 35 und 37: (14) [Holzschnitt] ¢ Do der künig nun sein tochter herr Tristranten vermaͤhelt vnd beuolhen het (A, Kap. 18; Bl. 42a, Z. 11 f.; B, Z. 1100 f.) (15) ALso [ = In (4z); = Maj] da jr keins weder aß noch tranck noch mit niemant ret · (A, Kap. 18; Bl. 43b, Z. 16 f.; B, Z. 1143 f.) (16) [Spa am Ende der vorausgehenden Zeile] ¢ Aber sprach sy Herre got wie ist mir geschehen · (A, Kap. 18; Bl. 44b, Z. 15 f.; B, Z. 1172)25 (17) [Spa am Ende der vorausgehenden Zeile] ¢ O wee wie thuͦn jch dann so groß vnrecht (A, Kap. 18; Bl. 46a, Z. 13 f.; B, Z. 1217) (18) [Spa von drei Buchstaben] Der fuͦr nun hin on alle hilff. vnd west selb nicht wahin · (A, Kap. 9; Bl. 19a, Z. 9–11; B, Z. 465)

Als Repräsentationstypen werden zusätzlich In (4z) - Maj (15), Spa + SZ (16 f.) und Spa (2–4B)26 verwendet. Beim Typ Spa + SZ befindet sich das Spatium am Ende der vorausgehenden Zeile und mit dem Segmentierungszeichen fängt eine neue Zeile an. Der Typ Spa (2–4B) tritt immer innerhalb einer Zeile auf. Alle Absätze markieren einen neuen Erzählteil. In (14) beginnt die Fahrt von Tristrant und Isalde zu Marche und in (18) Tristrants Fahrt aufs Geradewohl. In (15) wird die Verfassung von Tristrant und Isalde nach dem Trinken des Zaubertranks geschildert. In (16) und (17) wird der Monolog Isaldes nach der Wirkung des Zaubertranks gegliedert: In (16) wundert sich Isalde über ihre gegenüber Tristrant geänderten Gefühle und in (17) äußert sie den Wunsch, trotz ihrer starken Gefühle für Tristrant, ihre Selbstachtung und Ehre zu behalten.

23 Vgl. Simmler: Syntaktische Strukturen, S. 154 f.; Simmler: Makro- und Mikrostrukturen, S. 199–203; Simmler: Zur Verbindung sprachwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Methoden, S. 102. 24 Kap. 6, 9, 11 f., 16–18, 21, 23 f., 27–29, 32–39, 41 f., 45, 48, 56, 58. 25 Spa = Spatium. 26 B = Buchstabe.

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

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Während die Makrostrukturen des Initiators, des Terminators, der Kapitel und Absätze durch die medialen Mittel des Drucks gekennzeichnet sind, lässt sich in A auch die drucktechnisch unmarkierte, aber syntaktisch hervorgehobene Makrostruktur des Dialogs belegen:27 (19) ¢ Hie hoͤrt wie fraw ysald · jr rede mit brangeln anfieng · O brangel mein freündin · du mein allerliebste getrewe · Gibe mir deinen getrewen rat. wye jch meyn sach anfahen sol · so jch bey dem künig sol ligen · (A, Kap. 21; Bl. 50b, Z. 7–12, B, Z. 1330–1333) (20) Brangel sprach des waiß jch nitt · (A, Kap. 21; Bl. 50b, Z. 12; B, Z. 1333 f.) (21) [Ysalde] Ach nain · du mein helfferin in meynen noͤtten. nicht sprich also. gib mir bessern trost · (A, Kap. 21; Bl. 50b, Z. 13–15; B, Z. 1334 f.) (22) [Brangel] O was sol jch reden oder raten · jch waiß noch enkan laider · (A, Kap. 21; Bl. 50b, Z. 15 f.; B, Z. 1335 f.) (23) [Brangel] · ja fraw jch wolt dz geren thuͦn · weßt ich welicher weiß. […]28 (A, Kap. 21; Bl. 51a, Z. 6 f.; B, Z. 1344 f.) (24) [Ysalde] Da begere jch ein ding von dir czethuͦn · vmb meinen willen · vnd will dir des ymmer danckber sein […] (A, Kap. 21; Bl. 51a, Z. 7–10; B, Z. 1345–1347) (25) . Da brangel das hort. warde sy jnnigklichen wainen · vnd sprach Ia laider · es ist war · die schuld kommbt von mir her · durch mein groß übersehen · vnd ist billich · das jch darumb leid was mir zuͦ leiden geschicht · vnd ergib mich euch zuͦ helffen · doch wolt jch mich lieber tot wissen · Als sy das gelobt · gienge ysald zuͦ her Tristrant vnd saget jm die geschicht · der ward er ser erfreüwet · (A, Kap. 21; Bl. 52b, Z. 4–13; B, Z. 1389–1395)

Der Dialog besteht aus jeweils 14 Redebeiträgen Isaldes und Brangels, von denen nur zwei Isaldes und drei Brangels mit einem ›verbum dicendi‹ eingeleitet werden. Dabei zeigt sich eine besondere Distribution. Die Redebeiträge mit ›verbum dicendi‹ befinden sich jeweils am Anfang (19 f.) und Ende (25) des Dialogs. Sie kennzeichnen den Übergang von der Autorenrede zur Figurenrede und umgekehrt und begrenzen durch den Wechsel von der dritten zur ersten Person und die Verwendung von ›verba dicendi‹ den Dialog. Dass elfmal die Redebeiträge Isaldes und Brangels ohne ›verbum dicendi‹ unmittelbar aufeinander folgen, zeigt die Dynamik des Dialogs und nimmt in den Traditionen des ›Frühneuhochdeutschen Prosaromans‹ eine Sonderstellung ein. Bei fehlenden ›verba dicendi‹ werden die sprechenden Personen dadurch gekenn-

27 Der im Folgenden in Auszügen wiedergegebene Dialog von Ysalde und Brangel reicht in Kap. 21 von Bl. 50b, Z. 7 bis Bl. 52b, Z. 13; B, Z. 1330–1395. Zu so markierten Makrostrukturen vgl. Schlüter: Drucktechnisch-typographisch unmarkierte Makrostrukturen, S. 159–170. 28 Einzelne Dialogteile sind hier ausgelassen. Ebenso nach Beispiel 24.

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zeichnet, dass sie wenigstens einmal in Rede und Gegenrede einen Nominalsatz in Anredefunktion verwenden und so den Gesprächspartner erkennen lassen (21–24).29 Auch in kleineren Dialogen, die nur aus wenigen Sprecherwechseln bestehen, kommen Rede und Gegenrede ohne ›verba dicendi‹ vor: (26) . Der künig nam aber soͤlich bet in übel auf · verachtet die miteynander · vnd sprach · eüch ist mein ere also lieb · nicht als jch gemeint habe · seydt jr mich so hart noͤtet vnd bittent vmb tristranten [Thinas] Ach lieber herr gedenckt der grossen treü vnd dienst so er eüch getan hat vnd laßt in geniessen. Der herr redt auß grossem brinnenden zorn · (A, Kap. 30; Bl. 79a, Z. 13–21; B, Z. 2133–2139)

Eine Unmittelbarkeit von Rede und Gegenrede wird auch dadurch erreicht, dass die ›verba dicendi‹ in den jeweiligen Sprecherbeitrag eingeschaltet sind, sodass zunächst die Sprecherbeiträge unmittelbar aufeinander folgen und erst dann die Sprecher gekennzeichnet werden: (27) · Do sprach der küng lyeber oͤhem jch bit dich du gebest deinen jungen leib nit in den tode vngenoͤter sach · wann du bist soͤlichen vechten zuͦ kranck erschlecht er dich das kan jch nimmer mer verklagen. was dann sprach herr Tristrant Ich muͦß doch sterben. so will jch also lieber sterben dann dz morholten so liebe geschehen solt · dz er vngefochten hin weg solt ziehen · Ey sprach der küng · Laß dz selb auff mich geen · vnd erwinde des vechtens · Auf mein warheit sprach herr Tristrant · dz mag ye nit sein · (A, Kap. 6; Bl. 13a, Z. 5–17; B, Z. 302–311)30

Als letzte Makrostruktur wird die eines Briefes durch den Repräsentationstyp Spa (3B) markiert: (28) . Der briester ward der antwurt zemal fro · vnd schrib zestund dem künig soͤlich lautend brief · [Spa 3B] Herr dich bitet dein maister vgrym durch die lieb gotes […] (A, Kap. 35; Bl. 95b, Z. 11–13; B, Z. 2604–2606)31 (29) . Vnd als der brief geschriben ward · beualch er den tristranden dem künig zuͦ bringen · (A, Kap. 35; Bl. 96a, Z. 7–9; B, Z. 2616–2618)

Sowohl am Beginn als auch am Ende wird die Makrostruktur lexikalisch explizit als brief bezeichnet.

29 Vergleichbare Strukturen finden sich in den Dialogen von Isalde und Marche (Kap. 28; A, Bl. 70b, Z. 5–Bl. 72a, Z. 15; B, Z. 1895–1941), Tristrant und Pylois (Kap. 48; A, Bl. 141a, Z. 17– Bl. 144a, Z. 4; B, Z. 3939–4019), Tristrant und Curneual (Kap. 54; A, Bl. 157b, Z. 8 – Kap. 55; A, Bl. 159a, Z. 2; B, Z. 4392–4429), Auctrat und zwei Gesellen (Kap. 56; A, Bl. 164b, Z. 1–Bl. 165a, Z. 16; B, Z. 4581–4607) und von Tristrant und Marche (Kap. 58; A, Bl. 169b, Z. 19–Bl. 170b, Z. 21; B, Z. 4744–4776). 30 Die Einschübe sind fett markiert. 31 Absatz in der Edition von Brandstetter: Tristrant und Isalde nicht markiert.

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

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2.2 Syntaktische Mikrostrukturen Alle syntaktischen Mikrostrukturen konstituieren ein Textexemplar. Zu textuellen Merkmalen, die ein Textexemplar in spezifischer Weise charakterisieren und den Textsinn besonders bestimmen und eine Textsortenklassifikation ermöglichen, werden einzelne syntaktische Strukturen erst durch das Zusammenwirken der drei Merkmale der Frequenz, der Distribution und der Relation zu anderen, vor allem makrostrukturellen Merkmalen. Bei historischen Textüberlieferungen vor der Fixierung einer Einheitsorthographie einschließlich der Interpunktion setzt die Ermittlung dieser syntaktischen textuellen Merkmale Überlieferungen voraus, in denen – wie bei den Makrostrukturen – Repräsentationstypen existieren, die es erlauben, textintern Begrenzungen von Sätzen (von isoliert gebrauchten einfachen Sätzen = i. g. e. S. und Gesamtsätzen = GS) und innerhalb der GS von Teilsätzen (= TS) vorzunehmen. Solche Typen sind in A vorhanden, wenn auch nicht in derselben Konsequenz wie im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts.32 Als syntaktische textuelle Merkmale erweisen sich GS mit besonderen Distributionen der in ihnen vorkommenden Temporaladverbialen und Temporalsätze bzw. der TS mit einem ›verbum dicendi‹ und direkter Rede:33 (30) ¢ Als nun Tristrant darczuͦ warde das er in hertt vnd nott sich auch geleyden mocht · Riet jm sein meyster kurnewal · (A, Kap. 3; Bl. 5a, Z. 1–3; B, Z. 79 f.) (31) ¢ Do der küng erhort dz fürnemen seines suns geuiel jm dz wol (A, Kap. 4; Bl. 6a, Z. 1 f.; B, Z. 98 f.) (32) ¢ Nun wz ein helt in jrlannt mit namen Morholt (A, Kap. 5; Bl. 7b, Z. 1 f.; B, Z. 144) (33) IN [ = In (4z); = Maj] dem kamen sein boten zuͦ künig Marchs · vnd sagten jm die botschafft. (A, Kap. 6; Bl. 9a, Z. 1–3; B, Z. 177 f.) (34) ALs [ = In (4z); = Maj] nun die herrn vnd ritterschafft all zuͦ hoff kamen sagt in der künig die botschafft (A, Kap. 6; Bl. 10b, Z. 1–3; B, Z. 222 f.) (35) ¢ Hier auff antwurt herr Tristrant. sy solten jrem herrn sagen er waͤr von art als frey als er. (A, Kap. 6; Bl. 12a, Z. 6–8; B, Z. 272 f.) (36) . [Spa 3B) Als sy jm das gelobet het · gieng sy zuͦ jrem vatter. (A, Kap. 16; Bl. 34b, Z. 14 f.; B, Z. 881 f.)

Die überwiegend durch die Subjunktion als, aber auch durch do eingeleiteten Temporalsätze bilden innerhalb der GS den jeweils ersten TS. Unter textuellem Aspekt befinden sie sich 23-mal am Kapitelbeginn (30 f.)34 und elfmal an dem von Absätzen

32 Vgl. Simmler: Syntaktische Strukturen, S. 162–168. 33 Die relevanten Merkmale sind durch Fettdruck hervorgehoben. 34 Ferner Kap. 9, 11, 16, 19 f., 25, 30–32, 34 f., 37–39, 41, 43, 45, 51, 54, 57, 61.

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(34, 36).35 Sie verbinden die Makrostrukturen der Kapitel und Absätze, indem sie ein chronologisches Nacheinander der Handlungen und Ereignisse kennzeichnen, ohne jedoch einen konkreten zeitlichen Hintergrund eines besonderen Jahrhunderts erkennen zu lassen. Dieselbe Funktion übernehmen auch die Wendung Es begabe sich (Kap. 10) bzw. die Einleitung ES [ = In (4z); = Maj] was ein künig (Kap. 1). Die Linearität des Erzählens wird weiter durch den an vorher Berichtetes anschließenden Konnektor Vnd unterstützt, der am Kapitelbeginn dreimal vor einen Temporalsatz gesetzt ist.36 Ein allgemeines zeitliches Nacheinander signalisieren ebenfalls Temporaladverbialen wie Nun (32) und Hier auff (35). Sie befinden sich auch in Erstposition eines Teilsatzes, der am Beginn der Makrostrukturen Kapitel37 und Absatz38 steht. Gelegentlich nehmen sie in einem Teilsatz eine Drittposition ein.39 Auch innerhalb von Kapiteln treten Temporalsätze als erste TS von GS auf: (37) · Als das nun gar lanng geweret het. kam künig Ribalin von johnoys mit grosser machte czehilff künig marchen · (A, Kap. 1; Bl. 2a, Z. 8–11; B, Z. 11–13) (38) [ZR] Als er nun zuͦgericht vnd gancz gefertigt ward · name er vrlaube von dem künig vnd seinem vatter · (A, Kap. 4; Bl. 6a, Z. 15–17; B, Z. 108 f.) (39) . Do der küng dz erhort ward er erfreüet · vnd auch betruͤbt. (A, Kap. 6; Bl. 12a, Z. 11 f.; B, Z. 275 f.)

In gleicher Weise nehmen Temporaladverbiale die erste Position in einem ersten TS eines GS ein: (40) · Do ward von dem todten leibe ein kind geschnitten · (A, Kap. 1; Bl. 3a, Z. 9 f.; B, Z. 34 f.) (41) . Hierauf ward beruͤfft ein herzog mit namen Thinas (A, Kap. 4; Bl. 6b, Z. 18 f.; B, Z. 126 f.)

Die GS werden sehr konsequent durch die vier Repräsentationstypen P (m) + Maj (37, 40), P (u) + Maj (39, 41) und – charakteristisch für Inkunabeln – ZR + Maj (38) bzw. selten nur Maj (innerhalb einer Zeile)40 begrenzt.41

35 Ferner Absätze in Kap. 17, 18 (2x), 28 f., 35 f., 37 (2x). 36 Kap. 19, 25, 38. 37 Ferner Kap. 6, 12, 14 f., 17, 23 f., 48 f., 52, 56, 62 f. 38 Ferner Absätze in Kap. 12, 16, 24, 27, 32 f., 35, 41. 39 Kap. 53; Absätze in Kap. 9, 37. 40 Vgl. »Sie ist mir auch lieb« (Kap. 58; A, Bl. 170b, Z. 13 f; B, Z. 4770); der Punkt in Brandstetters Edition steht nicht im Druck. Ferner »Die fraw oder künigin sprach« (Kap. 58; A, Bl. 173r, Z. 18 f.; B, Z. 4840). 41 P = Punkt, m = mittig, u = unten, ZR = Zeilenrand. In der Edition von Brandstetter wird der ZR nicht vermerkt, sodass die Typen ZR + Maj und Maj (innerhalb einer Zeile) zusammenfallen.

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

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Mit denselben Typen werden i.g.e.S. markiert. Dabei können kurze Abfolgen von i. g. e. S. und GS entstehen:42 (42) [ZR] Soͤllichs aber der künig jm gern abgeschlagen vnd das er noch das jar verzugehet · wann er noch zuͦ jung waͤr · aber tristrant bat so mit grossem ernst das in der künig nit lenger verziehen mocht · Sunder er macht in ritter vnd .lx. ander junckherrn mit jm · Dz alles geschahe in siben tagen · In der zeit warn nun etlich fürsten vnd herrn zuͦ hoff kommen · Rait herr Tristrant mit seinen schilt geferten auch dar [ZR] Vnd als der da gesehen ward · ward er für all ander ser gelobet vnd gebreißt in allen seinen hendeln · vnd als er vernam dz er fürgenommen vnd gebreißt warde für ander · gab jm mer vnd mer vrsache czuͦ kuͤnheit · vnd ward dardurch ser gesterckt vnd gereyczt zuͦ manheyt · (A, Kap. 6; Bl. 10a, Z. 6–22; B, Z. 210–221)

Die konsequente Begrenzung der Sätze (i.g.e.S. und GS) führt dazu, dass GS mit einer größeren Anzahl von TS als Ausdruck des Willens des Autors oder Druckers zu interpretieren sind und nicht einfach nach gegenwärtigen und teilweise subjektiven Vorstellungen von Sätzen, ihrem Satzinhalt und ihrer Abfolge in kleinere Satzeinheiten zu zerlegen sind:43 (43) [ZR] Als sy nun schier zuͤ land kamen bat Tristrant seyn diener · das sy nit sagten wer er waͤr oder von wann · noch sein geschlecht mit ainicherley offenbaren · vnd tet dz auß listikeyt · mit den worten giengen sy von dem schif vnd sassen auf jre pferd. reytent in künig marchsen hof · do ward tristrant gar erlich empfangen · der gnadet dem künig vnd begeret betlich · ob er sein geruͦcht vnd czuͦ diener haben woͤlt · vmb des willen er dann dar kommen waͤr. auch sunst kein herren weste dem er für in dienen woͤlt · wenn er souil zucht vnd er von jm vnd seinem hof gehoͤrt het · darumb er in für all ander herren hett für genommen jm zuͦ dienen · soͤlchs erpieten der künig in grossem geuallen aufnam vnd saget jm zuͦ · daz er in zuͦ hofgesind geren haben woͤlt. Hierauf (A, Kap. 4; Bl. 6b, Z. 1–18; B, Z. 113–126) (44) ¢ Nun hoͤrent wie die fraw sprach · als Brangel zuͦ der thür ein gieng. bis willkommen vil liebes weib · mein frau · meyn künigin · vnnd du mein gebieterin · Ich vall dir zuͦ fuͦß. jch suͦch dein fuͤß. vnd begere genad von dir vmb mein groß schuld will dir auch ewiklich darumb zuͦ buͦß steen nach dein selbs geuallen · gott sey gelobet ewigklich · das du den leybe behalten hast · er ist auch wol mit seinen genaden herniden gewesen · vnd dir geholffen auß der not · das aber er mir den selben tod thaͤt · den jch dir erdacht hett · oder mich sein kraft vnd macht in abgrunde versencket · So richtet er recht. vnd nach meinem verdienen. mir vor nun all mein sünd vergaͤb · Sy bot jr so vil freüntlicher wort vnd grosser geheyß · […] (A, Kap. 24; Bl. 58b, Z. 1–18; B, Z. 1544–1556)44

In (43) werden Landgang, Aufforderung Tristrants an seine Diener, Ritt zum Königshof Marchs, Empfang, Angebot Tristrants und dessen Annahme durch den König in einem GS zusammengefasst, um den Zusammenhang der verschiedenen Handlungen

42 Die Satzgrenzen sind durch Fettdruck der ersten Wortform gekennzeichnet. 43 Die Markierungen (Fettdruck) weisen auf mögliche Satzbegrenzungen hin. 44 Ebenso die Rede Tristrants in Kap. 32; A, Bl. 83a, Z. 18–Bl. 83b, Z. 14; B, Z. 2246–2258.

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zu verdeutlichen. In (44) wird durch die Konstitution eines GS die Einheit der Rede Isaldes syntaktisch unterstrichen. Mit den auf GS hinweisenden Repräsentationstypen sind in A jedoch auch Verwendungsweisen verbunden, die in Verbindung mit und unabhängig von Temporalsätzen das Erkennen von Satzgrenzen erschweren:45 (45) · Auch [lernet er] alles anders was czuͦ der ritterschafft gehoͤret · (A, Kap. 2; Bl. 4a, Z. 16 f.; B, Z. 58 f.) (46) · Sy sprach du solt wissen · das jch dir darzuͦ nit frumm noch hilf [ZR] Vnd [ich] sihe auch recht geren · das dir deyn herr veindt ist · (A, Kap. 27; Bl. 68b, Z. 4–7; B, Z. 1832–1834) (47) · Antwurt er · Es seind doch vil stolczer ritter hie auß den allen sich es pillich einer an naͤm · ob aber keiner vnder in ist · So will jch mich willigklich von vnser aller wegen dareyn geben (A, Kap. 6; Bl. 10b, Z. 17–22; B, Z. 233–236) (48) · do das alles bereyt was. Nam herr Tristrant vrlaub vnd sprach zuͦ dem küng (A, Kap.  12; Bl. 24a, Z. 21 f.; B, Z. 605–607)46 (49) · Ribalin ward mit seinem schwager künig marchsen überain Sein frawen mit jm heim zefuͤren in sein künigreich johnoys · das ward jm also verginstet · (A, Kap. 1; Bl. 3a, Z. 1–5; B, Z. 29–31) (50) · Aber dye traurig schare von jrland holtend jren kaͤmpffer auch doch nicht als künig marchs sein oͤhem mit freüden · Sunder mit gar grossem vnd traurigem wainen vnd klagen · (A, Kap. 8; Bl. 16a, Z. 7–11; B, Z. 386–389) (51) · Nun muͤssen wir ye durch alle land faren Wo man mit kyelen vnnd pferden hin mage · suͦchen ein frauwen (A, Kap. 12; Bl. 24b, Z. 14–16; B, Z. 616 f.)47

In (45 f.) liegen Ellipsen aufgrund von Vorerwähntheit über die Satzgrenze (i. g. e. S., GS) hinaus vor; sie treten in Autorenrede (45) und Figurenrede (46) auf; ausgelassen ist überwiegend das Subjekt. In (47 f.) wird bei präpositiven Nebensätzen der Hauptsatz durch Majuskelgebrauch hervorgehoben. Auch dies kommt in Autorenrede (48) und Figurenrede (47) vor. In einigen Beispielen der Autorenrede (49) und Figurenrede (51) werden Teilsätze durch Majuskelgebrauch markiert, ohne dass dafür besondere Gründe ermittelt werden können. Dies gilt ebenso für die wenigen Kennzeichnungen von Satzgliedteilen (50), bei denen eventuell als Grund eine Hervorhebung des Gegensatzes vorliegen könnte. Mit den Temporaladverbialen am Beginn von Kapiteln und Absätzen sind Erzählereinschaltungen verbunden:

45 In den Beispielen 45 f. sind die Ellipsen aufgrund von Vorerwähntheit in eckigen Klammern eingefügt. 46 Vgl. mit vorangehendem Temporalsatz Beispiel 30. 47 Vgl. ferner Beispiel 61 »Wer«, 62 »Oder«.

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

 219

(52) ¢ Nun moͤcht man wunder haben · wie sy soͤlichs strengs leben vnd groß armuͦt heten erleiden mügen · (A, Kap. 35; Bl. 92a, Z. 1–3; B, Z. 2490 f.) (53) ¢ Nun lassen wir herr Tristrantten ein weil ruͦwen vnd sagen von den flichtigen zagen die herr Tristrant vor gesehen het · (A, Kap. 14; Bl. 28a, Z. 7–9; B, Z. 705 f.)48 (54) ¢ Nun vernement mit wellichen lüsten fraw Ysalde erfuͦr vnd auch befand den helden der sy eruochten het. (A, Kap. 15; Bl. 30b, Z. 1–3; B, Z. 765 f.)49

Der Erzähler redet seine Leser oder – in einer Vorlesesituation – seine Zuhörer an (54), reflektiert über das Erzählte, wobei er die Leser/Hörer einbezieht (52), und über die Abfolge der Erzählteile (53). Er erweist sich – wie im Melusine-Roman – als »archimedische[r] Punkt dieser Erzählliteratur«.50 Dies wird besonders an den Stellen deutlich, in denen der Erzähler sogar die Deutung des Erzählten übernimmt und sie nicht den Lesern/Hörern überlässt: (55) · dz geschahe durch wirckung vnd krafft des vnseligen trancks der mit soͤllicher maisterschaft getemperiert was · das die krafft der grossen starcken lieb also anhefft ward. das sich Ir keins daruon geziehen noch gemeistern mocht vor vier jaren · So aber vier jare verendert wurden · So moͤcht eins dz ander wol lassen des getrancks halb. Was würcket aber das natürlich feüer der liebe in so langer zeit jch laß mich beduncken wo die menschen also freüntlich in allen lieplichen gebaͤrden · so lang bei Vnd miteinander wonen. das dann das feüer der lieb so groß vnd starck werd damit es füran gar hart zuͦ leschen vnd zuͦ tilgen sey · also mag jch reden von disen zweien lyeben menschen · Do nun die lieb von der krafft des getranckes nach den vergangen vier jaren auff hoͤret · was der natürlich flammen der liebe so hoch vnd weit inprünstigklichen in in beyden entzündt mit soͤllicher grosser krafft das in vnmügenlichen was das zuͦ erleschen · vnd muͦßten also jr lebtag prinnen in den flammen der starcken vnd vnsaͤglichen grossen liebe · (A, Kap. 18; Bl. 41b, Z. 7–Bl. 42a, Z. 10; B, Z. 1081–1099) (56) · Darumb jr junger man vnd frawen habt auffmercken auff eẅch selber. das eüch weltlich lieb nit so gar überhand naͤm dz jr damit der lieb gottes vergessent · vnd eüch zuͦ soͤllichen vnbereyten tod ziehe · Nembt war wie dise lieb disen czweien so gar ein schnaͤlles vnbereytes sterben gefuͤget hat. auch das nach kleyner kurczer freüde. geet langes trauren · vnd scharpffe pein · dann sy seind nun tod got der herr walt jr beyder sele · vnd helff vns · das wir beydenthalben gerechtiklichen lieb haben vnd wol farn · (A, Kap. 63; Bl. 185b, Z. 13–Bl. 186a, Z. 3; B, Z. 5174–5183)

Der Erzähler stellt in (55) die durch den vnseligen tranck[s] hervorgerufene grosse[n] starcke[n] lieb dem natürlich[en] feüer der liebe gegenüber, ohne dass dieser Gegensatz wegen der Dominanz der Trankwirkung für den ganzen Roman strukturbestimmend wird. Auch die Schlussmahnung an junge[r] man vnd frawen mit dem Gegensatz von weltlich lieb und lieb gottes wird im Roman kaum vorbereitet, da Isalde und

48 Ebenso Kap. 56. 49 Ebenso Kap. 49, 62. Ferner Absätze in Kap. 12; A, Bl. 25a, Z. 11; B, Z. 629; Kap. 32; A, Bl. 84a, Z. 2; B, Z. 2266; Kap. 35; A, Bl. 94b, Z. 19; B, Z. 2579. 50 Roloff: Stilstudien, S. 157.

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 Franz Simmler

Tristrant in allen ihren Handlungen immer Gott um Beistand bitten und ein Gegensatz ihrer Liebe zur Gottesliebe nicht thematisiert wird.51 Neben den bereits behandelten Dialogstrukturen können auch bei Sätzen mit direkter Rede besondere Distributionen der TS mit direkter Rede nachgewiesen werden: (56) · Auff das gieng Tristrant zuͦ dem künig vnd sprach. Herr vnd vater bitt mit vndertenigkeit · […] (A, Kap. 3; Bl. 5a, Z. 11–13; B, Z. 85–87) (57) . Do erschrack sy von ganczem herczen · vnnd allem jrem gemuͤt · Schluͦge die hend ob dem haubt zesamen vnd sprach · O wee lieber Tristrant vnd lyebe fraw · (A, Kap. 18; Bl. 47b, Z. 4–8; B, Z. 1256–1258)

Wegen des spezifischen Dialogaufbaus und weil häufig i.g.e.S. mit ›verbum dicendi‹ und direkter Rede wie in (58) [ZR] Der künig sprach dz bedarffestu so hoch nit besorgen · (A, Kap.  6; Bl.  12b, Z.  8 f.; B, Z. 288 f.)52

bzw. GS mit indirekter Rede gebildet werden wie in (59) · Auf das fraget der künig Warumb er jm es so strenge vnd so gar hoͤrt fürgenommen het · (A, Kap. 6; Bl. 12a, Z. 20–22; B, Z. 281 f.)

spielen GS wie in (56 f.) nicht dieselbe Rolle wie in anderen Prosaromanen.53 Dennoch zeigen die Distributionen der TS mit direkter Rede als letzten Teilsatz, die Auswahl von ›verba dicendi‹, die nur den Sprechvorgang signalisieren, und der Verzicht auf freie Angaben, die die Art des Sprechens charakterisieren könnten, dass in A das Was des Gesagten im Vordergrund steht und nicht das Wie. Bei den Sätzen mit ›verba dicendi‹ fallen einzelne, fast schon modern54 wirkende Übergänge von indirekter Rede in direkte Rede auf:55 (60) . Er sagt jm auch dabej wie er sich wol verstuͤnde · das man keynen fund der sich der sach vndersteen wurd solt Morholt dann vngestriten hinweg ziehen waͤr dem küngklichen hoff vnd vns allen schand vnd vnere · jch gedag des schaden den wir vnd das gancz land enpfahen wurden · Darumb verman jch dich […] (A, Kap. 6; Bl. 9b, Z. 2–9; B, Z. 192–197)

51 Vgl. dazu Buschinger: Zum Frühneuhochdeutschen Prosaroman, S. 72 f. 52 Ebenso Beispiel 47. 53 Vgl. Simmler: Syntaktische Strukturen, S. 178 f. 54 Kehlmann: Die Vermessung der Welt, S. 246: »Dieser Weber gefalle ihm, sagte Gauß. Aber lichtschluckende Äther. So ein Unsinn.« Weitere Beispiele S. 247 f., 250, 252. 55 Die relevanten Prädikate und Subjekte sind durch fett ausgezeichnet.

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

 221

(61) . Do gebot herr Tristrant dem schiffmann das er jrlant vermeiden soͤlt · wenn sy all wol weßten · Wer von kurnewalischen landen dar kaͤm das der sterben muͤßte · Nun muͤssen wir ye durch alle land faren Wo man mit kyelen vnnd pferden hin mage · suͦchen ein frauwen […] (A, Kap. 12; Bl. 24b, Z. 10–16; B, Z. 613–617) (62) · vnd als der tag erschein · herr tristrant sahe · das sy ze jrland warn · erschrack er gar ser · vnd saget seinen mitkommenden · das er vormalen den enden geheilet waͤr worden. vnd ist kein zweifel wir muͤssen all hie sterben Oder mit grosser lüstigkeit hin ein kommen · Darumb so schweigent all still vnd lassent mich allein reden · ob jch vnns gefristen müg/ (A, Kap. 12; Bl. 25a, Z. 1–10; B, Z. 622–628)

Werden die syntaktischen Mikrostrukturen mit denen des Prosaromans im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts verglichen, dann kommen in A bereits dieselben Strukturen vor. Die Frequenz, Distribution und die Verbindung zu den Makrostrukturen der Kapitel und Absätze entsprechen sich bei den Temporalsätzen und den Temporaladverbialen. Dies gilt nicht im selben Maße für den Gebrauch von Teilsätzen mit ›verbum dicendi‹ und direkter Rede innerhalb von GS, weil in A die Strukturen von Dialogen und Einzelreden vielfältiger gestaltet werden als im Prosaroman aus dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts. Auch die Anzahl der überwiegend parataktisch verbundenen Teilsätze in GS ist in A wesentlich höher.

3 Makrostrukturelle Weiterentwicklungen in FH und FF Unter makrostrukturellem Aspekt zeigen sich in FH und FF Weiterentwicklungen bei den Makrostrukturen der Kapitel, der Absätze und der Dialoge. Die Veränderungen in der Kapitelgliederung sind in Abbildung 1 zusammengestellt. In der ersten Spalte ist die Kapiteleinteilung der Inkunabel von 1484 (= A) aufgeführt; in den beiden folgenden Spalten sind die Kapitel in den Drucken von 1556 (= FH) und 1587 (= FF) genannt, die dem Textumfang der Inkunabel entsprechen. In FH liegt eine neue Textgliederung vor.56 Den 63 Kapiteln in A stehen 61 in FH gegenüber. Elfmal existieren dieselben Kapitelbegrenzungen, viermal wird ein Kapitel in A in zwei Kapitel in FH zerlegt. 48-mal sind die Beziehungen komplexer. In welcher Tradition die Textgliederung von FH steht, lässt sich nicht feststellen, da die von Brandstetter57 genannten Drucke von Bern 1509 und Straßburg 1510 verschollen sind. Dass FH das Textexemplar A benutzt haben könnte, ist wegen der makrostrukturellen Unterschiede auszuschließen.

56 Vgl. dazu auch die folgenden Beispiele 63 mit 65 bzw. 66 mit 68. 57 Vgl. Brandstetter: Tristrant und Isalde, S. XVI.

222 

 Franz Simmler

1484/A 1556/FH

1587/FF

1484/A 1556/FH

1587/FF

1484/A 1556/FH

1587/FF

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

1, 2 2 3 4 5 5, 6 6, 7 7, 8 8 8, 9 9 9, 10 11 12 13, 14 14, 15 15 16, 17 18 18 18

22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42

19 20 21, 22 22 23 23, 24 24 25 26 27 27, 28 28, 29 29 29, 30, 31 31, 32 33, 34, 35 35, 36, 37 37, 38 38 39, 40 40

43 44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

40 40, 41 41, 42 42 43 44, 45 46, 47 47 47 48 48 49 49, 50 50 51, 52 52, 53, 54 55, 56 56 57, 58 59 60, 61

1, 2 2 3 4 5 5, 6 6, 7 7, 8 8 8, 9 9 9, 10 11 12 13, 14 14, 15 15 16, 17 18 18 18

19 20 21, 22 22 23 23, 24 24 25 26 27 27, 28 28, 29 29 29, 30, 31 31, 32 33, 34, 35 35, 36, 37 37, 38 38 39, 40 40

40 40, 41 41, 42 42 43 44, 45 46, 47 47 47 48 48 49 49, 50 50 51, 52 52, 53, 54 55, 56 56 57, 58 59 60, 61

Abb. 1: Tabelle der Kapiteleinteilungen in »Tristrant und Isalde«-Drucken von 1484, 1556 und 1587 (Darstellung des Autors)

Ein völlig anderer Befund liegt zwischen FH und FF vor: (63) · Inn dem kamen seine Botten zu Koͤnig Marchsen/ (FH, Kap. 5; Bl. Avj/b, Z. 14 f.)58 (64) · In dem kamen seine Botten zu Koͤnig Marchsen/ (FF, Kap. 5; Bl. 79b, Sp. 1, Z. 54 f.)59 (65) ¢ Abenteür · Wie Tristrant ritter gemacht ward. vnnd sich verwilliget mit Morcholten zuͦ vechten · [Holzschnitt] IN [ = In (4z); = Maj] dem kamen sein boten zuͦ künig Marchs · (A, Kap. 6; Bl. 8b, Z. 10–9a, Z. 2; B, Z. 175–177) (66) Wie Herr Tristrant wardt zu Rit=ter geschlagen/ vnnd sich verwilliget mit dem Morholden zu kempffen. DIeweil [ = In (3z); = Maj] solches schreiben auszgesandt ward/ (FH, Kap.  6; Bl.  Avj/b, Z. 23–28)60

58 Zitiert wird nach der originalen Lagenzählung. 59 Zitiert wird nach der originalen Blattzählung in arabischen Ziffern. 60 Fettdruck = erste Zeile der Überschrift in größerer und fetterer Drucktype.

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

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(67) Das VI. Cap. Wie Herr Tristrant ward zu Ritter geschlagen/ vnnd sich verwilliget mit dem Morholdten zu kaͤmpffen. [Holzschnitt] DIeweil [ = In (4z); = Maj] nu solchs schreiben auszgesandt ward/ (FF, Kap. 6; Bl. 79b, Sp. 2, Z. 4–9) (68) Dieweil soͤliches schreyben gethan vnd außgesant wurden · (A, Kap. 6; Bl. 9a, Z. 11 f.; B, Z. 183 f.)

Die Kapitelgliederung von FF entspricht vollständig der von FH (66 f.), d. h., FF hat FH als Vorlage benutzt. Damit bestätigt sich der Befund aus der Analyse der MageloneRoman-Tradition, dass bei Neudrucken jeweils auf zeitlich unmittelbar vorausgehende Drucke zurückgegriffen wird und nicht etwa zeitlich weiter zurückliegende Drucke oder sogar Handschriften berücksichtigt werden.61 Dies gilt für Drucke innerhalb einer Offizin ebenso wie für solche, die – wie hier – in zwei verschiedenen Offizinen, wenn auch am gleichen Druckort, erschienen sind. Vergleichbare Berücksichtigungen vorausgegangener Drucke innerhalb einer Offizin existieren auch in der deutschsprachigen Bibeltradition in der ersten und zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.62 Allerdings ist daneben ein zentraler Unterschied vorhanden, denn es gibt in der Bibeltradition auch Rückgriffe auf zeitlich weiter zurückliegende Drucke und solche, die in anderen Druckorten gedruckt sind und in anderen konfessionellen Traditionen stehen.63 Dies hängt mit zwei Faktoren zusammen, die beim Frühneuhochdeutschen Prosaroman keine Rolle spielen: einmal mit dem Bemühen um eine möglichst genaue Übersetzung der lateinischen bzw. griechischen und hebräischen Vorlagen und zum anderen mit der Notwendigkeit, in der kontroverstheologischen Auseinandersetzung auch die Übersetzungen aus anderen konfessionellen Ausrichtungen zu berücksichtigen. Die Kapitel werden in FH – mit Ausnahme von Kapitel 1 – durch den Repräsentationstyp Ü + HS + In (4z) − Maj (66) gekennzeichnet.64 Dabei wird die erste Druckzeile der Überschrift durch größere und fettere Drucktypen hervorgehoben. Das Kapitel 1 zeigt denselben Repräsentationstyp; zusätzlich sind die beiden ersten Zeilen des Kapitels nach dem Holzschnitt durch größere und fettere Drucktypen markiert, sodass neben dem Initiator des Titelblattes eine weitere Kennzeichnung des Textexemplarbeginns vorhanden ist.

61 Vgl. Simmler: Makrostrukturelle Veränderungen, S. 193–195; Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 463, 472. 62 Vgl. dazu Simmler: Luthers Evangelienübersetzung, S. 166–169; Simmler: Synchrone lexikalische, syntaktische und makrostrukturelle Variabilität, S. 190; Simmler: Die biblischen Textsorten, S. 315–321 mit Tab. 9. 63 Dazu Tummuseit: Gesamtsatzstrukturen, S. 193–201, 417–426. 64 Ü = Überschrift, HS = Holzschnitt, In = Initiale, z = zeilig, Maj = Majuskel.

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 Franz Simmler

An allen Repräsentationstypen der 61 Kapitel ist ein Holzschnitt beteiligt. Er befindet sich unmittelbar unter der Überschrift; nur wenn der Platz nach der Überschrift für ihn nicht ausreicht, folgt er auf der nächsten Seite. Wie in (66) visualisiert er 40-mal den Inhalt der Überschrift; elfmal ist ein allgemeiner Bezug durch das Dargestellte zur Überschrift zu erkennen;65 einmal besteht kein Bezug zur Überschrift, aber ein solcher zu einer im Kapitel geschilderten Szene;66 neunmal ist kein Bezug zur Überschrift und zum Kapitelinhalt vorhanden.67 Der allgemeine Verweis entsteht, wenn ein Kampfgeschehen68 oder ein Ritter auf einem Pferd69 dargestellt werden. Der fehlende Bezug wird vor allem dann deutlich, wenn derselbe Holzschnitt mehrmals verwendet wird: (69) Wie Herr Tristrant nach der Frawen fuhre/ vnd wie es jm auff der rayse ginge. (FH, Kap. 10; Bl. Bviij/b, Z. 9–11) (70) Wie die Isalde Herr Tristranten ein Wannenbad berheiten liesz/ als sie jhn aber erkandte/ wollte sie jhn jren Vatter verraten haben/ das wehret jhr die Brangel. (FH, Kap. 14; Bl. Cvj/a, Z. 7–12)

Der zu den Überschriften (69 f.) hinzugefügte Holzschnitt zeigt ein Schiff mit einer bewaffneten Besatzung, eine Burg und eine Frau. Dies ergibt für (69) einen Bezug zur Überschrift; zur Überschrift von (70) und zum Inhalt des Kapitels 14 bietet der Holzschnitt jedoch keine visuelle Erläuterung. Derselbe Holzschnitt wird noch zweimal in die Repräsentationstypen der Kapitel 40 und 57 integriert. Auch bei den Kapiteln 2, 17 und 58 wird ein Holzschnitt wiederholt, auf dem ein Schiff, eine Stadtansicht und vier Personen, also eine Hafenszene, abgebildet sind. Insgesamt stellen die Holzschnitte – anders als in einzelnen Melusine-Traditionen70 – kein für sich betrachtbares und den Gesamtinhalt des Textexemplars visualisierendes Bildprogramm dar. Ihre primäre Funktion ist es – wie bei anderen Prosaromanen aus dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts71 – innerhalb eines Repräsentationstyps die Makrostruktur des Kapitels zu kennzeichnen und sekundär eine im Kapitelinhalt vorkommende und in der Überschrift bereits erwähnte Szene zu visualisieren. Eine Entstehung der Überschrift auf dem Weg über ihre Verwendung als Bildunterschrift lässt sich anhand der Überlieferung in FH nicht begründen.

65 Kap. 2, 17, 29, 33, 36, 50 f., 55, 57–59. 66 Kap. 46. 67 Kap. 9, 14, 23, 35, 40, 43, 47, 52, 54. 68 So Kap. 29, 55. 69 So Kap. 36, 50. 70 Vgl. Simmler: Zur Verbindung sprachwissenschaftlicher und literaturwissenschaftlicher Methoden, S. 115. 71 Vgl. Simmler: Syntaktische Strukturen, S. 155. Zur schmückenden Rolle von Holzschnitten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bei gleich bleibender Stofftradition Simmler: Vom Prosaroman zur Erzählung, S. 476.

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

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Dies gilt in noch viel größerem Maße für die Funktion der Holzschnitte in FF. Wie in FH folgen die Holzschnitte 26-mal unmittelbar und spaltenintegriert auf die Überschriften. Sie nehmen etwa ein Fünftel des Spaltenumfangs ein. Nur einmal ist aus Platzgründen der Holzschnitt in die folgende Spalte platziert.72 Mit 34 Kapitelanfängen sind keine Holzschnitte verbunden. 24-mal illustrieren die Holzschnitte den Inhalt der Überschrift, zweimal ist ein eher allgemeiner Bezug auf die Überschrift vorhanden,73 einmal existiert kein Bezug zur Überschrift und zum folgenden Kapitelinhalt: (71) Das XV. Cap. Wie Isalde jrem Vatter anzeiget/ wer den Serpenten erschlagen hett/ vnnd wie er jhr das lang nicht glauben wolte/ vnd allezeit meynet/ der Truchsesz hette jhn erschlagen. [Holzschnitt] (FF, Kap. 15; Bl. 83b, Sp. 2, Z. 6–10)

Auf dem Holzschnitt ist ein Zweikampf vor dem an einem Tisch sitzenden König abgebildet, der aber gar nicht stattfindet. Je zweimal wird derselbe Holzschnitt verwendet:74 (72) Das X. Cap. Wie Herr Tristrant nach der Frauwen fuhr/ vnd wie es jm auff der Reyse gieng. [Holzschnitt] (FF, Kap. 10; Bl. 82a, Sp. 1, Z. 13–15) (73) Das XL. Cap. Wie Herr Tristrant vnd Caynis sein Schwager vber Meer zu Hertzog Thinas Burgk kamen/ vnd wie es fuͤrter gieng. ALs [ = In (4z); = Maj] das also versprochen ward/ ritten sie hinweg/ […] [Holzschnitt auf der nächsten Spalte aus Platzgründen] (FF, Kap. 40; Bl. 97b, Sp. 1, Z. 46–51)

Auf dem Holzschnitt sind zwei Schiffe vor dem Hintergrund einer Burg und einer Stadtsilhouette abgebildet, eine Darstellung, die zu jeder Abreise mit einem Schiff passt, ohne spezifische Formen der Abreise visualisieren zu müssen. Die syntaktischen Strukturen der Überschriften entsprechen sich in A und FH bzw. FF weitgehend. FF besitzt gegenüber FH noch einen spezifischen Überschriftteil, der in Form eines eingliedrigen Nominalsatzes eine explizite Kapitelnummerierung vornimmt (71–73), die in A und FH fehlt. Die Überschrift, die in A in ihrem Aufbau einem Summarium vergleichbar ist (9), wird in FH verändert und in ihrer syntaktischen Struktur den übrigen Überschriften angepasst (70).

72 Kap. 40, vgl. Beispiel 73. 73 Kap. 24, 50. 74 Neben den Beispielen 72 f. noch am Beginn der Kap. 17 und 57 mit der Darstellung eines größeren und dreier kleinerer Schiffe vor einer Burgsilhouette.

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 Franz Simmler

Bei der Konstitution von Absätzen treten deutliche Unterschiede zwischen A und FH auf. Während in A in 36 von 63 Kapiteln keine Absatzgliederung vorkommt, ist dies nur in zwölf Kapiteln in FH der Fall. In FH fehlt eine Absatzgliederung nur in den wenig umfangreichen Kapiteln 1–3, 5, 57–59, 61 und in den Kapiteln 46, 49 f. und 53. In 49 Kapiteln werden insgesamt 254 Absatzgliederungen durch den Einzug von zwei Buchstaben vorgenommen. Alle Absätze in FH lassen sich auch in FF belegen: (74) [Einzug von 2 B] Solches erbieten nam der Koͤnig inn grossem gefallen auff/ (FH, Kap.  4; Bl. Av/a, Z. 27 f.)75 (75) [Einzug von 3 B] Solches erbieten nam der Koͤnig in grossem gefallen auff/ (FF, Kap. 4; Bl. 79a, Sp. 2, Z. 49 f.)

Über FH hinaus nimmt FF durch den Einzug von drei Buchstaben 36 Absatzbildungen vor: (76) [Einzug von 3 B] Durch solche Liebe ward diese Reysz etwas desto laͤnger verzogen/ (FF, Kap. 18; Bl. 86a, Sp. 1, Z. 16 f.)76

Da in FH keine Absatzkonstitution existiert, die nicht von FF übernommen wird, erweist sich FF auch unter dem Aspekt der Absatzbildung als von FH abhängig. Eine besondere Umgestaltung erfährt in FH die Makrostruktur des Dialogs, in der FF wiederum FH folgt: (77) [Abs.] Denn als dieser rhat beschlossen war/ gieng Isald zur Brangel/ vnd redet mit jhr also/ O Brangel mein allerliebste vnd getrewe Freundin/ gib mir deinen getrewen rath/ wie ich mein sach anfahen sol/ so ich bey dem Koͤnig sol ligen. (FH, Kap. 18; Bl. Eij/b, Z. 3–7; vgl. Beispiel 19) (78) Brangel sprach/ das weisz ich nicht. [Abs.] (FH, Kap. 18; Bl. Eij/b, Z. 7 f.; vgl. Beispiel 20) (79) [Abs.] Die Fraw sprach/ Ach nein du mein helfferin in meinen noͤten/ nicht sprich also/ geb mir bessern trost. (FH, Kap. 18; Bl. Eij/b, Z. 9–11; vgl. Beispiel 21)77 (80) Brangel antwort/ O was sol ich reden oder rathen/ ich weisz leider nichts. (FH, Kap.  18; Bl. Eij/b, Z. 11 f.; vgl. Beispiel 22)78 (81) Brangel sprach/ Ia Fraw/ ich wolt das gern thun/ wiszt ich welcher weise. (FH, Kap.  18;  Bl. Eij/b, Z. 22–24; vgl. Beispiel 23) (82) Da sprach Isald/ Ich beger ein ding von dir zu thun/ vmb meinet willen/ des will ich dir jmmer danckbar sein. (FH, Kap. 18; Bl. Eij/b, Z. 24–26; vgl. Beispiel 24)

75 B = Buchstabe. – In A existiert an dieser Stelle kein Absatz. 76 Kein Absatz in FH, vgl. Bl. Eij/a, Z. 16 f. 77 Fettdruck = Zusatz gegenüber A. 78 Hiernach sind einzelne Dialogteile ausgelassen.

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

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(83) [Abs.] Denn als dieser Raht beschlossen war/ gieng Isalde zur Brangel/ vnd redet mit jr also: O Brangel mein allerliebste vnd getrewe Freundin/ gib mir deinen getrewen Raht/ wie ich mein sach anfahen sol/ so ich bey dem Koͤnig sol ligen. (FF, Kap. 18; Bl. 86a, Sp. 1, Z. 34–38; vgl. Beispiel 77) (84) Brangel saget/ das weisz ich nicht. (FF, Kap. 18; Bl. 86a, Sp. 1, Z. 38 f.; vgl. Beispiel 78) (85) [Abs.] Die Fraw sprach/ Ach nein/ du mein Helfferin in meinen noͤten/ nit sprich also/ gib mir bessern trost. (FF, Kap. 18; Bl. 86a, Sp. 1, Z. 40 f.; vgl. Beispiel 79) (86) Brangel antwort/ O was sol ich reden oder rahten/ ich weisz leider nichts. (FF, Kap.  18; Bl. 86a, Sp. 1, Z. 42 f.; vgl. Beispiel 80)79 (87) Brangel sprach/ Ia Fraw/ ich wolt das gern thun/ wiszt ich welcher weisz. (FF, Kap. 18; Bl. 86a, Sp. 1, Z. 52 f.; vgl. Beispiel 81) (88) Da sprach Isald/ Ich beger ein ding von dir zu thun/ vmb meinetwillen/ des wil ich dir jmmer danckbar seyn. (FF, Kap. 18; Bl. 86a, Sp. 1, Z. 53–56; vgl. Beispiel 82)

Auch der Einschub der ›verba dicendi‹ in die direkte Rede wird in FH und FF beseitigt: (89) Herr Tristrant sprache/ Was denn/ ich must doch sterben/ so will ich lieber sterben/ denn das Morholten so lieb geschehen soll/ das er vngefochten hinweg solt ziehen. [Abs.] Der Koͤnig sprach/ Ey lasz dasselb alles auff mich gehen/ vnnd erwinde des Kampffs. Herr Tristrant sprach/ Auff mein warheit/ das mag nicht gesein. (FH, Kap. 6; Bl. Bj/b, Z. 2–8; vgl. Beispiel 27) (90) Herr Tristrant sprach: Was denn/ ich musz doch sterben/ so wil ich lieber sterben/ denn dasz Morholdten so lieb geschehen solt/ dasz er vngefochten hinweg solt ziehen. [Abs.] Der Koͤnig sprach: Ey lasz dasselb alles auff mich gehen/ vnnd erwinde dich nicht desz Kampffs. Herr Tristrant sprach: Auff mein warheit/ das mag nit geseyn. (FF, Kap. 6; Bl. 80a, Sp. 2, Z. 46–52)

Auf diese Weise werden in FH und FF die Sprecherrollen innerhalb der Dialoge besonders gekennzeichnet, die Unmittelbarkeit von Rede und Gegenrede in A geht damit aber verloren. Es werden Dialogstrukturen geschaffen, die so in den Prosaromanen aus dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts auftreten; die Sonderstellung von A in der Dialoggestaltung besitzt keine Tradition. Anders als in A wird in FH und FF die Makrostruktur des Briefs nicht durch einen Repräsentationstyp hervorgehoben, sondern ausschließlich lexikalisch markiert: (91) Der Priester ward fro/ vnd schrieb von stund an dem Koͤnig ein solchen Brieff. Herr dich bittet dein Meister Vgrim durch die liebe Gotttes (FH, Kap. 31; Bl. Hviij/a, Z. 18–20; vgl. Beispiel 28) (92) Der Priester ward fro/ vnnd schreib von stund an dem Koͤnig ein solchen Brieff/ Herr/ dich bittet dein Meister Vgrim durch die Liebe Gottes/ (FF, Kap. 31; Bl. 93a, Sp. 1, Z. 44–46)80

79 Hiernach sind einzelne Dialogteile ausgelassen. 80 Statt der Blattangabe 93 steht in FF versehentlich 84.

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4 Syntaktische Weiterentwicklungen in FH und FF Unter syntaktischem Aspekt sind in FH und FF Weiterentwicklungen vorhanden, die die Verwendung von Repräsentationstypen zur Begrenzung von i. g. e. S. und GS und die Anzahl der GS konstituierenden Teilsätze und ihre Distribution betreffen. Zur Begrenzung von i. g. e. S. und GS werden in FH und FF weniger Repräsentationstypen als in A eingesetzt: (93) / Als man jhn da sahe/ ward er fuͤr alle andere sehr gelobet vnnd gepreiszt in allen seinen hendeln. (FH, Kap. 6; Bl. Avij/b, Z. 21–23) (94) · Als man jn da sahe/ ward er fuͤr alle andere sehr gelobet vnnd gepreiset/ in allen seinen haͤndeln. (FF, Kap. 6; Bl. 80a, Sp. 1, Z. 1–3) (95) / Dann kurtz/ er hielt sich so wol/ dasz er die Iungfraw erwarb/ vnd jhm der Koͤnig sie mit gutem willen Ehelich vermaͤhlet. (FF, Kap. 1; Bl. 78b, Sp. 2, Z. 34–36) (96) · Als der gesatzte Tag kam/ hiesz der Koͤnig Marchs fuͤr sich bringen den aller besten Harnisch/ so er hete/ Wapnet seinen Ohem selbst dareyn mit grossem fleisz/ […] (FF, Kap. 6; Bl. 80b, Sp. 1, Z. 8–11)

Am häufigsten kommt in beiden Textexemplaren der Typ P (u) + Maj vor; wesentlich seltener der Typ V + Maj (93, 95). Eine Ellipse des Subjekts aufgrund von Vorerwähntheit über eine GS-Grenze hinaus wird bei den Beispielen 45 f. aufgegeben und auch an anderen Textstellen nur noch selten gebraucht (96). Mit der Reduktion der Anzahl der Repräsentationstypen ist zugleich ihre konsequentere Verwendung bei der Begrenzung von i.g.e.S. und GS verbunden; auch die Teilsätze der GS werden konsequenter durch den Typ V + Min gekennzeichnet: (97) · Da sprach er/ Es seind doch viel stoltzer Ritter hie/ ausz den sich billich einer des annem/ so aber keiner vnder jnen ist/ so will ich mich williglich vonn vnser aller wegen darein geben/ (FH, Kap. 6; Bl. Aviij/a, Z. 10–14; vgl. Beispiel 47) (98) / Da sprach er/ Es sind doch viel stoltzer Ritter hie/ ausz denen sich billich einer desz annemme/ so aber keiner vnter jhnen ist/ so wil ich mich williglich von vnser aller wegen darein geben/ (FF, Kap. 6; Bl. 80a, Sp. 1, Z. 21–24) (99) [Abs.] Da das alles bereit war/ nam Herr Tristrant vrlaub/ vnd sprach zum Koͤnig/ (FH, Kap. 10; Bl. Cj/a, Z. 4 f.; vgl. Beispiel 48) (100) [Abs.] Da das alles bereyt war/ nam Herr Tristrant vrlaub/ vnnd sprach zum Koͤnige: (FF, Kap. 10; Bl. 82a, Sp. 1, Z. 22 f.) (101) / da ward Ribalin mit seinem schwager Koͤnig Marxen eins/ sein Frawen mit jm heim zu fuͤren/ inn sein Koͤnigreich Iohnoys/ das wardt jm also verguͤnt. (FH, Kap. 2; Bl. Aiij/a, Z. 2–6; vgl. Beispiel 49)

Zum Zusammenhang mikro- und makro-struktureller textueller Merkmale  

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(102)/ da ward Ribalin mit seinem Schwager Koͤnig Marchsen eins/ sein Frauwen mit jm heim zu fuͤhren in sein Koͤnigreich Iohnoys/ das ward jm also verguͤnnet. (FF, Kap. 2, Bl. 78b, Sp. 2, Z. 42–45) (103) · Aber die trawrig schar von Irland holten jrn Kempffer auch/ doch nicht als Koͤnig Marchs sein oͤhem/ sonder mit gar grossem vnd traurigem weinen vnd klagen/ (FH, Kap. 7; Bl. Biij/b, Z. 3–7; vgl. Beispiel 50) (104) · Aber die trawrige schar von Irland holeten jhren Kaͤmpffer auch/ doch nicht als Koͤnig Marchs sein Ohem/ sondern mit gar grossem vnd trawrigem weynen vnd klagen/ (FF, Kap. 7; Bl. 80b, Sp. 2, Z. 43–46) (105) · Nun muͤssen wir je durch all landt fahren/ wo man mit Schiffen vnnd Pferdten hin kommen mag/ die Frawen zu suchen/ (FH, Kap. 10; Bl. Cj/a, Z. 17–19; vgl. Beispiel 51) (106) · Nun muͤssen wir je durch alle Lande fahren/ wo man mit Schiffen vnnd Pferden hin kommen mag/ die Frauwe zu suchen/ (FF, Kap. 10; Bl. 82a, Sp. 1, Z. 35–37)

Die Hervorhebung von Hauptsätzen durch Majuskelgebrauch nach präpositiven Nebensätzen wird ebenso aufgegeben (97–100) wie dieselbe Form zur Kennzeichnung von Teilsätzen ohne besondere Gründe (101 f., 105 f.). Auf die Hervorhebung von Satzgliedteilen (103 f.) durch Majuskelgebrauch wird ebenfalls verzichtet. Die Profilierung der Begrenzungen von i. g. e. S. und GS führt ferner dazu, dass in A vorhandene und eine spezifische Textfunktion signalisierende umfangreichere GSStrukturen stärker syntaktisch untergliedert werden, indem die Anzahl der Teilsätze pro GS reduziert wird: (107) · Als sie nu schier zu land kamen/ bat Tristrant seine diener/ das sie niemandt sagten/ wer oder von wannen er wer/ noch sein geschlecht offenbarten/ vnd thet das ausz listigkeit. Mit diesen worten giengen sie vonn dem Schiff/ sassen auff jhre Pferdt/ vnd ritten in Koͤnig Marxen Hof. Da ward Herr Tristrant ehrlich entpfangen/ er gnadet dem Koͤnig/ vnd begert/ ob er sein bedoͤrfft/ vnd jm zum diener haben wolt/ darumb er kommen wer/ auch keinen andern Herrn wiszt/ dem er fuͤr jm dienen wolt/ denn er heit so viel zucht vnnd ehr von jhm vnd seinem Hof gehoͤrt/ darumb er jn fuͤr all andere Herren het fuͤr genommen jm zu dienen. [Abs.] Solches erbieten nam der Koͤnig inn grossem gefallen auff/ vnnd sagt jm zu/ das er jn gern zun Hofgesind haben wolte. Hierauff […] (FH, Kap. 4; Bl. Av/a, Z. 13–29; vgl. Beispiel 43) (108) · Als sie nun schier zu Land kamen/ bat Tristrant seine Diener/ dz sie niemandt sagten/ wer oder von wannen er wer/ noch sein Geschlecht offenbarten/ vnd thet das ausz listigkeit. Mit diesen Worten giengen sie von dem Schiff/ sassen auff jhre Pferdt/ vnnd ritten in Koͤnig Marchsen Hof. Da ward Herr Tristrant ehrlich empfangen/ Er gnadet dem Koͤnig/ vnnd begert/ ob er sein bedoͤrfft/ vnd jhn zum Diener haben wolt/ darumb er kommen wer/ auch keinen andern Herrn wiszt/ dem er fuͤr jm dienen wolt/ denn er hett so viel zucht vnd ehr von jm vnd seinem Hof gehoͤrt/ darumb er jm fuͤr all andere Herrn hett fuͤrgenommen jm zu dienen. [Abs.] Solches erbieten nam der Koͤnig in grossem gefallen auff/ vnnd sagt jhm zu/ dasz er jhn gern zum Hofgesind haben wolte. Hierauff […] (FF, Kap. 4; Bl. 79a, Sp. 2, Z. 36–51)

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(109) ALs [ = In (4z); = Maj] aber Brangel zu der Thuͤr eingienge/ sprach die Koͤnigin also zu jhr/ Bisz mir willkommen mein liebes Weib/ mein Fraw/ mein Koͤnigin/ vnd du mein Gebieterin/ Ich falle dir zu fusz/ Ich such deine fuͤsz/ vnd begere gnad von dir vmb meine grosse schuld/ ich wil auch dir Ewiglich darumb zu Busz stehn nach deinem wolgefallen/ Gott sey ewiglich gelobt/ das du das leben behalten hast/ ja er ist gewiszlich mit seinen gnaden herniden gewesen/ vnd hat dir ausz der not geholffen. Das er aber mir denselben todt thete/ den ich dir erdacht het/ oder mich sein krafft vnd macht inn abgrundt versencket/ so richtet er recht/ wenn er mir nur zuuor all mein suͤnde vergeben/ vnd nach meinem verdienen. Sie gabe jhr so viel freundlicher wort/ vnd thet grosse verheissung/ […] (FH, Kap. 21; Bl. Evij/b, Z. 3–Bl. Eviij/a, Z. 5; vgl. Beispiel 44) (110) ALs [