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German Pages 509 [514] Year 2008
Hansjörg Bruland Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit
Hansjörg Bruland
Wilde Kinder in der Frühen Neuzeit Geschichten von der Natur des Menschen
Franz Steiner Verlag 2008
Umschlagabbildung: The Wild Boy. Mezzotinto von Valentine Green nach Gemälde von Pierre Etienne Falconet. National Portrait Gallery, London.
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09154-1 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © 2008 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Printed in Germany
INHALT DANKSAGUNG ..................................................................................................... 9 PROLOG: NABIL ALLEIN IM WALD ............................................................... 11 1. ZWIELICHT: ZUR PHÄNOMENOLOGIE DER ISOLATION ..................... 12 1.1. Der Fundus des 18. Jahrhunderts ............................................................... 12 1.1.1. Die Hessischen Wolfskinder ............................................................ 13 1.1.2. Der Bamberger Ochsenjunge ........................................................... 15 1.1.3. Der Lütticher Hans / Jean de Liège ................................................. 15 1.1.4. Der irische Schafsjunge .................................................................... 17 1.1.5. Die litauischen Bärenkinder ............................................................. 18 1.1.6. Anna Maria Gennaert – Das Wilde Mädchen von Zwolle ............... 22 1.1.7. Marie-Angélique Le Blanc – Das Wilde Mädchen von Songi ......... 26 1.1.8. Die Wilden der Pyrenäen .................................................................. 30 1.1.9. Victor vom Aveyron ......................................................................... 32 1.1.10. Ein Phantom? Der Wilde Junge von Barra..................................... 39 1.2. Ein überstrapaziertes Marginalthema? ....................................................... 44 2. SCHATTENWÜRFE: DAS SUBSTRAT DER DISKUSSIONEN ................. 60 2.1. Kind und Kindheit ...................................................................................... 60 2.1.1. Zwischen Indifferenz und Liebe ....................................................... 62 2.1.2. Infantizid und Kindesaussetzung ..................................................... 65 2.1.3. Korporative und obrigkeitliche Fürsorge ......................................... 70 2.2. Der Wald: „Realität“ und Imagination ....................................................... 79 2.2.1. Eine umkämpfte Ressource: Waldformen und Waldnutzung .......... 80 2.2.2. „Immaterielle Nutzung“: Der Wald als Projektionsraum ................ 93 2.3. Zieheltern: Reißende Bestien, sorgende Mütter ....................................... 101 2.3.1. Der Wolf ........................................................................................ 101 2.3.2. Der Bär ........................................................................................... 112 2.4. Ein Prototyp? Der Wilde Mann................................................................ 135 2.4.1. Attribute der Wildheit..................................................................... 135 2.4.2. Halbmenschen?............................................................................... 139 2.4.3. Wilde Moralisten ............................................................................ 145 2.4.4. Vorhang auf! ................................................................................... 152 2.4.5. Zu neuen Ufern ............................................................................... 156
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Inhalt
3. SPRUNG INS LICHT: PETER VON HAMELN........................................... 158 3.1. Die deutsche Presse: Zwischen Sensation und Skepsis ........................... 159 3.1.1. Erste Meldungen: Ein Waldmensch… ........................................... 161 3.1.2. …oder doch nicht? ......................................................................... 164 3.2. Kronzeugen .............................................................................................. 170 3.2.1. Die Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht .................................... 171 3.2.2. Redeckers Collectanea ................................................................... 180 3.2.3. Palm an Burchardi .......................................................................... 183 3.3. Der Preis der Wildheit.............................................................................. 185 3.4. Englands Wilder Greis ............................................................................. 190 3.5. Der Kern der Satire: Die Pamphlete der Jahre 1726/27 ........................... 201 3.5.1. ’tis no fabulous Tale, but a real Thing that has happened ............. 208 3.5.2. The beast call’d man ...................................................................... 213 3.5.3. London, 1726: Die Grenzen des Interesses ................................... 217 3.6. Ein Schiff ohne Ruder .............................................................................. 225 3.6.1. Was war – was ist – was wahr ist ................................................... 227 3.6.2. Mensch, Tier, Zwischenwesen? ..................................................... 230 3.6.3. Zoon apolitikon ............................................................................... 234 3.6.4. These silent people ......................................................................... 237 3.6.5. Nature, unerring: Die graduelle Menschwerdung.......................... 242 3.6.6. Verschüttete Kapazitäten ................................................................ 245 3.6.7. Sprache, Seele, Gesellschaft: Befunde .......................................... 250 4. LEUCHTFEUER: DIE EVIDENZ DER WILDEN KINDER ...................... 253 4.1. Naturzustände........................................................................................... 263 4.1.1. Buffon: Eine wilde Romanze ......................................................... 268 4.1.2. Ein Glied in der Kette? ................................................................... 275 4.1.3. Homo sapiens ferus Linn.. .............................................................. 281 4.1.4. Condillac: Sinnlose Zeichen ........................................................... 292 4.1.5. Rousseau: Die Quelle eines großen Missverständnisses ............... 299 4.2. Vom rechten Verständnis der neuen Theorien ......................................... 315 4.2.1. Tücken des Zeitgeistes: Halle und Steeb ........................................ 315 4.2.2. Durchbruch der Skepsis: Schreber und Zimmermann ................... 325 4.3. Der quadrupede Mensch: Folgen einer Provokation................................ 337 4.3.1. Moscati und die Krankheit Bipedie ................................................ 338 4.3.2. Seiltanzende Elefanten und musikalische Faultiere ....................... 343 4.3.3. Fliehe, unseliges und abscheuliches Bild: Herders Ideen .............. 350 4.3.4. Die Kritik der praktischen Quadrupedie......................................... 357 4.3.5. Ausklang: Die Persistenz eines Topos ........................................... 366
Inhalt
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4.4. Exzentrik: Lord Monboddo ...................................................................... 367 4.5. Das Ende der Naturgeschichte der Wilden Kinder .................................. 377 4.5.1. Blumenbach: Die Rückweisung des Naturzustandes ..................... 377 4.5.2. Ce sont des vrais idiots: Die Vermessung der Defizienz ............... 399 5. HOHLSPIEGEL:TRADITIONSLINIEN DES 19. JAHRHUNDERTS ....... 412 5.1. Die Visionen des Bibliothekars ................................................................ 413 5.1.1. Der Ursprung der Vernunft ............................................................ 416 5.1.2. Die Kritik der Skepsis ................................................................... 420 5.2. Staatsfeind Nr. 1: Wilde Kinder im Biologismus .................................... 429 5.2.1. Experimentaldarstellungen der Natur ............................................ 430 5.2.2. Coelenteraten und Isolirte ............................................................. 436 5.3. Die unwahrscheinliche Allianz ................................................................ 443 6. DAS WACHS DER WISSENSCHAFTEN .................................................... 445 EPILOG: WE MAY NEVER SEE IT AGAIN ........................................................ 477 7. BIBLIOGRAPHIE ........................................................................................... 479 7.1. Primärquellen ........................................................................................... 479 7.1.1. Periodika ......................................................................................... 479 7.1.2. Archivalia ....................................................................................... 482 7.1.3. Sonstige Druckquellen.................................................................... 483 7.2. Sekundärquellen ....................................................................................... 491
DANKSAGUNG Mein Dank gilt an dieser Stelle der Vielzahl von Menschen, die mich in den letzten Jahren unterstützt haben. So wäre ohne die Förderung durch ein zweijähriges Postgraduiertenstipendium der U-GH Essen die Arbeit bereits an der Basis gescheitert. Hier war Frau Fahlbruch in ihrem geschäftigen Sekretariat stets die erste Anlaufstelle bei Fragen. Ebenso herzlicher Dank gilt dem Personal der UB Essen, insbesondere der Fernleihstelle, der SUB Göttingen, des Instituts für deutsche Presseforschung in Bremen, des Instituts für deutsche Zeitungsforschung in Dortmund, der Stadtarchive Hameln, Hannover und Celle sowie des Niedersächsischen Staatsarchivs. Gegen Ende der Arbeit halfen mir Frau Weber von der Stadtbücherei Werl und Scott Krafft von der Northwestern University Library in Evanston in kritischen Situationen enorm weiter. Für eine hilfreiche, freundliche und kompetente Begleitung habe ich mich schließlich beim Franz Steiner Verlag, insbesondere Herrn Dr. Schaber und Herrn Schmitt, zu bedanken. Hätte ich mit unfreundlichen und inkompetenten Dienstleistern vielleicht noch leben können, wäre die Arbeit ohne eine andere Gruppe von Menschen nie begonnen und erst recht nicht abgeschlossen worden – bei ihnen stehe ich tief in der Schuld. Herr Prof. Dr. Paul Münch, mein Lehrer, brachte mich nicht nur zum Thema. In seiner akademischen Arbeit stets Vorbild, betreute er die oft genug nur mühsam voran kommende Arbeit mit unfassbarem Wohlwollen und wohldosierter Kritik. Kaum wiedergutmachen kann ich außerdem die unzähligen Stunden, die Karsten Kosch, Daniel Spitz, Eddie Lewald, Claudia Spiegel, Kirsten Wünsche und Rüdiger Ciszewski damit verbrachten, Korrektur zu lesen. Schier unbezahlbar darüber hinaus, dass meine Freundinnen und Freunde mir und meiner Arbeit ein so großes Interesse entgegenbrachten und mich gleichzeitig davor bewahrten, Wölfe, Wilde Männer oder die Naturhistorie zum einzigen Angelpunkt meines Denkens zu machen. Schließlich und endlich aber gibt es diejenigen, die für mein persönliches Vorwärtskommen über Jahre hinweg die Zeche zahlten und deren Liebe und Zuneigung sich aller Aufrechnung entziehen: Meine Mutter Edith Hagedorn stand, seitdem ich denken kann, und in schweren Zeiten oft weit über die Grenzen ihrer Belastbarkeit hinaus, stets bedingungslos hinter mir. Meine Kinder, Béla und Dana, hatten von ihrem Vater, vor allem kurz vor der Fertigstellung des Manuskripts, so wenig, dass sie sich gefragt haben müssen, wer der Mann ist, der im Arbeitszimmer wohnt. Gut, dass meine Schwiegereltern, Mechthild und Bernhard Bruland, in dieser Zeit so viel für sie und mich da waren. Gewidmet ist die Arbeit aber dem Menschen, der in wundervoller Personalunion alles vereinte, was mir in diesen Jahren an Gutem passiert ist – und dafür von mir viel zu häufig nichts zurück bekam. Für Kati
PROLOG: NABIL ALLEIN IM WALD Im Juli 2005 geriet das nordhessische Homberg für zwei Tage in die Schlagzeilen, als der seit mehreren Tagen vermisst gemeldete zweijährige Nabil allein in einem Waldstück aufgefunden wurde. Die Umstände seines Verschwindens klärten sich bald, und der Fall wäre für den Themenkomplex dieser Arbeit nicht weiter von Interesse, wäre da nicht die bemerkenswerte Art und Weise, in der die Presse mit dem Vorfall umging.1 Am 29. Juli, die Umstände sind noch völlig unklar, erscheint eine erste dpaMeldung unter dem Titel „Allein im Wald“, in deren Verlauf mit großem Nachdruck darauf hingewiesen wird, das Kind habe „möglicherweise vier Tage lang allein im Wald überlebt“. Auch auf die Fundumstände wird in dem kurzen Beitrag erstaunlich dezidiert eingegangen: Auf „einem Waldweg in einer Pfütze sitzend“ hätten zwei Bundeswehrsoldaten den Jungen gefunden, der sich, wie Ärzte bald bestätigten, „in einem relativ guten gesundheitlichen Zustand befunden“ habe. Erst der am nächsten Tag folgende Artikel der AP bringt, nun unter der Überschrift „Entführt und ausgesetzt“, Licht in den tatsächlichen Ablauf der Ereignisse: Der Junge sei offenbar entführt und vier Tage später wieder frei gelassen worden, habe sich also nur kurz im Wald befunden. Bewusst oder unbewusst bediente damit insbesondere der erste Artikel dumpfe, aber tief verwurzelte Vorstellungen, in denen der Wald und die Isolierung von der Gesellschaft eine tragende Rolle spielen: Noch heute, in Nordhessen, einer Region, der man nicht eben den Stempel „Unberührte Wildnis“ aufdrücken möchte, schien es offenbar denkbar, dass ein Kind im Wald verschwinden würde – um dann durch glückliche Fügung doch wieder aufzutauchen. Gefunden wird der Junge just auf der dünnen Demarkationslinie der Zivilisation, nämlich einem Waldweg – nicht auszudenken, er wäre im finster’n Tann verblieben. Immerhin beugte die Pfütze, in der er saß, allzu überschwänglicher Legendenbildung vor. Zumindest Wasser gab es eben. Trotzdem: Vier Tage überlebt ein Kleinkind „möglicherweise“ allein im Wald, und ein wenig wunderbar, sagt uns der Artikel, ist diese Tatsache schon. Für wie glaubhaft hielten die Leser diesen ersten Bericht? Was, wenn nicht vier Tage, sondern eine Woche, ein Monat, vier Jahre zur Disposition gestanden hätten? Welche Erklärungsmuster wären dann bemüht worden, um Nabils Überleben zu erklären? Und – hätten wir diese Geschichte geglaubt? 1
Zugrunde liegen Meldungen von dpa und AP, die deutschlandweit in die Tagespresse übernommen worden sein dürften. Hier zit. n. Soester Anzeiger, Nr. 174/175 (29./30. Juli 2005). Der Prolog und Teile des Kapitels 3.5. orientieren sich an HANSJÖRG BRULAND, Wundersames Überleben. Zur Rezeption Wilder Kinder im frühen 18. Jahrhundert, in: RAINER WALZ, UTE KÜPPERS-BRAUN & JUTTA NOWOSADTKO (Hg.), Anfechtungen der Vernunft, Essen 2006, 147-173.
1. ZWIELICHT: ZUR PHÄNOMENOLOGIE DER ISOLATION Während sich für das Verschwinden und das schnelle Wiederauftauchen Nabils bald eine naheliegende Erklärung fand, existiert eine lange Reihe von Fällen, für die dies nicht der Fall war und welche die Zeitgenossen oft genug verblüfft zurückließen: Wilde Kinder, die längere Zeit isoliert, vorzugsweise in der Wildnis, aufgewachsen sein sollten.1 Teils reklamieren die Quellen, die sich für unseren Kulturraum seit spätestens dem 13. Jahrhundert nachweisen lassen2, dass Tiere – oft, aber keineswegs immer Wölfe, daher führt die ebenfalls verbreitete Bezeichnung Wolfskinder eher in die Irre – die Funktion von Zieheltern übernommen hätten. Einige dieser Fälle werden im ersten Teil der Einleitung vorgestellt. Der zweite Teil wird dann versuchen, Genese und aktuellen Stand der Forschung zu skizzieren. Auf dieser Basis werden sich schließlich konkrete Untersuchungsziele und Leitideen der vorliegenden Arbeit formulieren lassen. 1.1. DER FUNDUS DES 18. JAHRHUNDERTS In der Folge werden in, soweit feststellbar, chronologischer Reihe jene Fälle geschildert, die über das 18. Jahrhundert zu Bedeutung gelangten. Das Verzeichnis beansprucht also keinesfalls, erschöpfend zu sein – man kennt heute eine Legion weiterer Fälle.3 Zugrundegelegt wurden, wo immer möglich, die Originalquellen, deren Länge allerdings beträchtlich schwankt. Während hier und da stark gekürzt dargestellt werden musste, war dies an vielen anderen Stellen unnötig, ja fast unmöglich – viele der Überlieferungen fußen in der Tat auf einem bloßen Nadelkopf an Informationen. Es ist zu hoffen, dass der Kontrast zwischen dieser reduzierten Faktenbasis und den Deduktionsungetümen des 18. Jahrhunderts so im wörtlichen Sinne 1 2
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Synonym finden sich die Begriffe feral children, enfants sauvages, niños salvajes, homines feri. Den frühesten mir bekannten Verweis liefert CAEASARIUS VON HEISTERBACH (um 1180–nach 1240) in seinem 1219–1223 verfassten Dialogus miraculorum. Hier gibt in „Von dem Mädchen, das einem Wolf half“ ein Novize zu Protokoll: „Ich haben einmal einen jungen Mann gesehen, der in seiner Kindheit von Wölfen geraubt und bis zum Jünglingsalter ernährt worden war, so daß er nach Wolfsart auf Händen und Füßen laufen und heulen konnte.“ CAESARIUS VON HEISTERBACH, Die wundersamen Geschichten des Caesarius von Heisterbach, in Auswahl übers. und hg. v. ILSE und JOHANNES SCHNEIDER, Berlin 1972, 237. Für eine Gesamtübersicht sei auf die populär gehaltene, im Großen und Ganzen aber verlässliche Darstellung Blumenthals verwiesen: P. J. BLUMENTHAL, Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem wilden Menschen, Wien; Frankfurt 22003. Ein solchermaßen überbordender Katalog würde hier, abgesehen von der Tatsache, dass er ohnehin bereits existiert, den Blick auf das Wesentliche verstellen. Zu weiterer Literatur vgl. Kap. 1.2.
1.1. Der Fundus des 18. Jahrhunderts
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greifbar wird: Worauf sich Linné, Rousseau, La Mettrie, Buffon, Blumenbach, Herder und all die anderen bezogen, ist häufig nicht mehr als eine einige flüchtige Zeilen umfassende Randnotiz, ein verstohlenes Flüstern, mehr eine nebulösschemenhafte Anspielung denn eine detaillierte Fallgeschichte. Völlig vernachlässigt werden die bereits aus der Antike überlieferten Fälle. Sie bilden nicht den Kondensationspunkt der Gedankenwelt des 18. Jahrhunderts, wenn auch ihr bloßes Vorhandensein die neu hinzukommenden Berichte zu stützen schien; wo nötig, wird auf sie später am Rande verwiesen. Ausgeklammert wird darüber hinaus zunächst einer der bestdokumentierten Fälle, Peter von Hameln, an dessen Figur sich paradigmatisch rezeptionsgeschichtliche Vorgänge nachweisen lassen und dem daher ein ausführliches Kapitel gewidmet wird. 1.1.1. Die Hessischen Wolfskinder Dem Autor des oben vorgestellten Artikels über Nabil dürfte kaum bewusst gewesen sein, dass Hessen bereits im 14. Jahrhundert einen weitaus spektakuläreren Fall – möglicherweise sogar zwei Fälle – zu bieten hatte. Bezüglich des sogenannten Hessischen und des Wetterauer Wolfsjungen vermerkt der oft als Quelle herangezogene PHILIPP CAMERARIUS (1537–1624) in seinen Operae horarum subcisivarum4 bereits prototypisch viele jener Elemente, die den Diskurs über die Wilden Kinder noch Hunderte von Jahren später beeinflussen sollten. Im Jahr 13445 wird ein Junge in Hessen aufgefunden, der im Alter von drei Jahren von Wölfen geraubt worden und wundersam erzogen worden sei, wie er selbst erzählt. Diese hätten sich mehr als fürsorglich verhalten, dem Kind immer den besten Teil der Beute überlassen, es vor den Unbillen der Witterung mit ihren Körpern geschützt und ihm eine Art Nest aus Blättern gefertigt. Das Kind übernimmt in der Folge das Verhalten seiner Zieheltern: Es läuft mit beachtlicher Geschwindigkeit auf Händen und Füßen und vollführt weite Sprünge, saltus maximos, so dass bald nach dem Fund Zwangsmaßnahmen ergriffen werden müssen, um es zu einer menschlichen Fortbewegungsart zu bringen: Dem Kind werden Holzschienen angelegt, eine Methode, die schließlich erfolgreich ist. Ebenso findet es schnell zur Sprache zurück – äußert sich dann allerdings kaum in der erwarteten Weise: Vielmehr lässt der Junge wissen, dass er sich in seiner tierischen Gesellschaft äußerst wohl gefühlt habe und diese der menschlichen vorziehe. Dass ein solches Kind für einiges Aufsehen sorgte, kann kaum überraschen, und so wird denn auch notiert, der Junge sei pro spectaculo vorgeführt worden. Im gleichen Jahr sei überdies im wetterauischen Echzell, in einem Wald, den man auch die Hardt nenne, ein zwölf Jahre altes Kind bei der Jagd gefunden worden, das ebenfalls unter Wölfen gelebt habe. Bereits Camerarius fügt aber hinzu, er halte dies für eine unzulässige Erweiterung – er ging also von einem doppelt überlie4 5
PHILIPPUS CAMERARIUS, Operae horarum subcisivarum sive meditationes historicae, avctiores quam antea editae, Centuria prima [1602], Frankfurt 1644, 345 ff. Camerarius verzeichnet allerdings 1544. Die falsche Angabe wird inzwischen allgemein als Druckfehler anerkannt und findet sich noch bei Linné.
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1. Zwielicht: Zur Phänomenologie der Isolation
ferten Fall aus – und schließt mit einem kurzen Kommentar: Das Kind zeige, wie sehr die Gewohnheit den Menschen prägen könne, zumal diese Überlieferung in illustrer Gesellschaft mit aus der Antike Verbürgtem stehe. Camerarius’ Aufzeichnung, die im 18. Jahrhundert in der Regel herangezogen wurde, fußt jedoch ihrerseits auf älteren Quellen, wie SAATHOFF belegt.6 Sie macht als Ursprung die Chronica S. Petri Erfordensis Moderna aus, die wohl zwischen 1355 und 1410 verfasst wurde.7 Diese verzeichnet zwei Fälle (1304/1344), die sich jedoch möglicherweise auf das gleiche Ereignis beziehen und im weiteren Verlauf zu einem Fall verschmolzen. Aufgegriffen worden war dies schon 1583 bei JOHANNES PISTORIUS (1546–1608), der eine weniger als bei Camerarius ausgeschmückte Version liefert, Echtzell als Ort benennt und hinzufügt, dass das Kind ein beträchtliches Lebensalter, 80 Jahre, erreicht habe.8 Der hessische Chronist WILHELM DILICH (1571–1650) verzeichnet 1608 schließlich nur knapp: Jahrs 1241 ist ein wildes kindt von ohn gefehr 7 oder/ wie etliche schreiben/ 12 jahren undern wölfen gefunden von jägern gefangen unnd zum Landtgrafen gebracht worden: hat zu weilen auff allen vieren gelauffen/ auch übernathürliche sprüng thun können. Als man es auffm schloß zehmen wollen/ hat es die menschen geflohen/ sich under die bäncke geschlossen/ unnd ist in kurzem/ weiln es die speise nicht vertragen können/ gestorben.9
Als prototypisch sind damit nicht nur die dem oder den Jungen beigelegten Attribute – Vierfüßigkeit und Sprachverlust – zu betrachten, sondern auch die eigentümlichen Wendungen in der Tradierung des Falles: Was genau überliefert wurde, hing zu einem beträchtlichen Teil davon ab, was der jeweilige Autor für wahrscheinlich, oder jedenfalls opportun zu berichten hielt. Damit ergeben sich aber bereits auf dieser Ebene ganz erhebliche Interpretationsvarianzen: Dilichs Kind, das „zu weilen auff allen vieren gelaufen“, unterscheidet sich deutlich von dem Camerarius’, das erstens von Wölfen aufgezogen wurde und zweitens nur mit rabiaten Maßnahmen dazu bewegt werden konnte, überhaupt aufrecht zu gehen. Dilich erwähnt die Sprache überhaupt nicht, Camerarius vermeldet Verlust und Wiedererwerb derselben. Pistorius’ Kind wird 80 Jahre alt, während das von Dilich „in kurzem“ stirbt. Wenn im 18. Jahrhundert schließlich ein und derselbe Fall 6 7 8
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NICOLE SAATHOFF, Der Hessische Wolfsjunge und die mittelalterliche Wahrnehmung eines ‚Wilden Kindes‘, in: Jahrbuch für historische Bildungsforschung, 7 (2001), 89–108. Ebd., 91 f. JOHANNES PISTORIUS, Illustrium veterum scriptorum, qui rerum a Germanis per multas aetatis gestarum historia vel annales posteris reliquerunt, Tomus I, Frankfurt 1583, 264: „Hoc etiam contigit in Wederauia, in una villa quae dicitur Echtzel, quòd puer xii annos cum lupis erat in magna sylua quae dicitur vulgariter die Hart, qui puer postea in venatione captus fuerat a nobilibus ibidem morantibus, & vixit forte ad vxxx annos. Contigit hoc mcccxliiii, in hyeme, in niue, quando eripuerant eum.“ WILHELM DILICH, Hessische Chronica anfenglich beschrieben durch Wilhelm Dilich/ itzo aber aufs new übersehen/ corrigiret und verbessert/ auch mit noch mehr historien/ genealogien, sampt einer Beschreibung dero Wapen der hessischen Ritterschaft vermehret, Cassel 1608, 187. Aufgrund der Einordnung zwischen den Jahren 1338 und 1341 in der ansonsten chronologischen Ordnung ist von einem Druckfehler auszugehen: allerdings ein doppelter, denn auch die Randmarkierung liest „1241“.
1.1. Der Fundus des 18. Jahrhunderts
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herangezogen wurde, um diametral entgegengesetzte Positionen zu verteidigen, findet sich bereits hier ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis dieses Paradoxons: Die Dokumentation war ohnehin oft mehr als oberflächlich, und bereits das herangezogene „primäre“ Quellenmaterial widersprach sich. Damit ergab sich die verlockende Möglichkeit, die für den jeweiligen Kontext, also in der Regel den Beleg einer Theorie, passendere Variante zu nutzen und abweichende Schilderungen unbeachtet zu lassen. Gleichzeitig konnte man seinen Opponenten vorwerfen, eben den falschen Bericht zugrunde gelegt zu haben und so zwangsläufig zu inkorrekten Ergebnissen gelangt zu sein. Von Beginn an waren viele Fälle Wachs in den Händen derjenigen, die sie nutzen wollten. 1.1.2. Der Bamberger Ochsenjunge Auch der Bamberger Ochsenjunge, dessen Fall auf das späte 16. Jahrhundert datiert wird, findet bei dem bereits bekannten Camerarius Erwähnung.10 Am Hofe des Bamberger Fürsten habe man oft einen Jungen sehen können, der von Vieh (pecora) in den benachbarten Bergen großgezogen worden sei. Dieser habe dort eine bemerkenswerte Behendigkeit und Schnelligkeit erworben und sei vierfüßig gelaufen. Aus der Quelle lässt sich auch der Rückschluss ziehen, dass der Junge sprechen konnte (ut ajebat ipse). Ob die Sprache nach seinem Fund erworben wurde oder er diese nie verloren hatte, bleibt unklar – wie auch, welche Art von Vieh ihn erzogen hatte. Immerhin scheint der Junge bei Hofe für einige Unterhaltung gesorgt zu haben, überliefert Camerarius doch, dass ein dort ebenfalls beheimateter Zwerg auf diesem wie auf einem Pferd geritten sei und allerhand Kunststückchen vorgeführt habe. Ebenso habe er sich in vierfüßiger Stellung mit den wildesten Hunden, englischen Doggen, Kämpfe geliefert, aus denen er stets als Gewinner hervorgegangen sei. Nach und nach sei er jedoch zivilisiert worden und habe schließlich sogar geheiratet. 1.1.3. Der Lütticher Hans / Jean de Liège Der Lütticher Hans, dem KENELM DIGBY (1603–1665) in seinen Two treatises11 einigen Raum widmet, wurde dem 18. Jahrhundert vor allem durch Boerhaaves Lehrtätigkeit weitervermittelt.12 In seiner Schilderung hatte sich die Bevölkerung 10 CAMERARIUS, Operae horarum, Centuria Prima, 343. 11 KENELM DIGBY, Two Treatises. In the one of which, the nature of bodies; in the other, the natvre of mans sovle; is looked into: in way of discovery, of the immortality of reasonable sovles, Paris 1643, 247 ff. Digby galt allerdings schon seinen Zeitgenossen nicht unbedingt als verlässliche Quelle. 12 Darauf verweist etwa eine Bemerkung JEAN-JACQUES VIREYS: „Boerhaave avoit coutume de citer dans ses leçons de médecine, l’histoire d’un jeune homme que ses parens avoient laissé égarer, à l’age de cinq ans, dans les forêts […] et qui avoit vécu sauvage pendant seize ans.“ Virey bestätigt also die Rückschlüsse bezüglich des Alters, die unten aus Digbys Bericht gezogen werden. Er fügt der Überlieferung ansonsten nur hinzu: „[…] il vouloit retourner dans les champs et les bois.“ JEAN-JACQUES VIREY, Nouveau Dictionnaire d’histoire naturelle, appliquée aux arts, à l’agriculture, à l’économie rurale et domestique, à la médecine, etc.,
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1. Zwielicht: Zur Phänomenologie der Isolation
Lüttichs aufgrund von Kriegswirren zeitweise in den Wald zurückgezogen. Nach Abzug der Belagerer kehren alle, bis auf einen Jungen, in die Stadt zurück. Dieser – nach wie vor in Furcht vor den Soldaten – war immer weiter in den Wald hinein geflohen. Auch nach zwei Tagen können seine Eltern ihn nicht finden, „and he liued many yeares in the woods, feeding vpon rootes, and wild fruites, and maste.“13 Der Aufenthalt im Wald verändert den Jungen, der bald nach seinem Wiederauffinden Bericht erstattet: Schnell findet eine extreme Verfeinerung des Geruchssinnes statt, so dass das Auffinden von Nahrung ihn vor kein Problem stellt. Erst ein harter Winter treibt ihn wieder in die Nähe der Menschen, wo er heimlich von Viehfutter lebt. Die Bevölkerung, welcher der Gast nicht verborgen bleibt, hält ihn – mittlerweile nackt und ganz behaart – zunächst für einen Satyr oder ein sonstiges Wunderwesen. Schließlich macht man sich daran, dieses Wesen zu fangen: ein nicht ganz einfaches Unternehmen, denn das Kind wittert seine Jäger, und erst eine Falle erbringt schließlich den gewünschten Effekt. Obwohl Jean den Gebrauch der Sprache zu diesem Zeitpunkt völlig verlernt hat, stellt man schnell fest, dass es sich keineswegs um einen Satyr, sondern um einen Menschen handelt. Der Zivilisierungsprozess verläuft schnell, der feine Geruchssinn verliert sich bald. Die Schilderung Digbys, dem es im Rahmen seiner Abhandlung vor allem um den Geruchssinn geht, weist einige Lücken auf. Weder ist klar ersichtlich, wie alt der Junge war, als er in den Wald geriet, noch wie lange seine Verweildauer dort war. In Bezug auf letztere spricht Digby weitläufig von Jahren. Allerdings existieren einige Indizien: Zur Zeit seines Verschwindens musste der Junge bereits in der Lage gewesen sein, längere Strecken eigenständig zurückzulegen; er musste sprechen gekonnt und die Geschehnisse, also die sich aus den Gräueltaten der Soldaten ergebende Bedrohungssituation, verstanden haben. Gleichzeitig dürfte er mental noch nicht besonders weit fortgeschritten gewesen sein, ansonsten ließe sich sein panikartiges Verschwinden kaum erklären. Eine vernünftige Schätzung scheint ein Alter zwischen vier und zehn Jahren. Nach dem Wiederauffinden benutzt Digby die Bezeichnung man, was darauf deutet, dass die Pubertät zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen war.14 Der Text impliziert also einen vieljährigen Aufenthalt im Wald. In dieser Zeit hatte sich der Junge körperlich wie geistig verändert: Die Sprache war weitestgehend verschwunden, ein dichtes Haarfell war am ganzen Körper gewachsen15, zumindest der Geruchssinn hatte sich ausgeprägt.
Nouv. éd. presqu’ent. refondue et consid. augm.: avec des fig. tirées des 3 règnes de la nature, Bd. 15, Paris 1817, 264. 13 Digby, Two Treatises, 247. 14 Diese Rückschlüsse würden dann auch mit dem von Virey (vgl. Fußnote 13) Überlieferten korrespondieren. On dieser die Informationslücken mit einer ähnlichen Logik füllte oder Boerhaave tatsächlich exaktere Angaben zu machen pflegte, muss offen bleiben. 15 Digby liefert keine Informationen, ob dieses nach dem Fund erhalten blieb.
1.1. Der Fundus des 18. Jahrhunderts
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1.1.4. Der Irische Schafsjunge NIKOLAUS TULPIUS oder Tulp (1593–1674), Mediziner, Anatom und Bürgermeister Amsterdams, verdankt seinen heutigen Ruhm weniger seinen Schriften als der Tatsache, dass Rembrandt ihn in der Anatomie des Dr. Tulp verewigte. Schon dessen Habitus im Gemälde spiegelt die hohe wissenschaftliche Reputation Tulps, dessen Observationes medicæ16 weit verbreitet waren. Hier finden sich die ersten Aufzeichnungen über den Irischen Schafsjungen, dessen Erscheinen wohl auf die Jahre zwischen 1641 und 1672 datiert werden muss.17
NICOLAUS TULPIUS, Observationes Medicæ (1672), Frontispiz. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
Tulp, dem es in der betreffenden Passage um die menschlichen Sprachorgane geht, berichtet von einem Sechzehnjährigen, der nach Amsterdam gebracht worden war. Er sei in seiner irischen Heimat den wenig fürsorglichen Eltern entwi16 NICOLAUS TULPIUS, Observationes medicæ. Editio nova, libro quarto auctior, et sparsim multis in locis emendatior, Amsterdam 1672, 296 ff. Das Werk enthält auch die erste höheren Ansprüchen genügende Darstellung eines Orang Utang; ebd., 271. Verkleinerte Abbildung auch im Frontispiz. 17 JOHANN FRIEDRICH IMMANUEL TAFEL, Die Fundamentalphilosophie in genetischer Entwicklung, mit besonderer Rücksicht auf die Geschichte jedes einzelnen Problems, Erster Theil, Tübingen 1848, 52. Tafel erläutert diese Datierung nicht weiter, dürfte sie aber daraus geschlussfolgert haben, dass das Kind in der Erstauflage der Observationes, die just 1641 erschien, noch fehlte.
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chen und habe seit der frühesten Kindheit (ab incunabulis) unter Schafen gelebt.18 Dessen muskulöser Körperbau, die Bräunung der Haut, die Flinkheit und die Gelenkigkeit waren zwar noch zu erwarten, aber verblüfft stellte Tulp fest, dass sich die gesamte Physiognomie und auch das Verhalten verändert zu haben schienen: Die Stirn war niedrig, der Hinterkopf gewölbt und höckerig, der ganze junge Mann roh, exors omnis humanitatis, aber im Übrigen gesund. Leider hatte er jedoch auch die Sprache verloren und blökte nun wie ein Schaf, wozu auch seine bevorzugte Diät – gramen, ac foenum, also Gras und Heu – passte. Tulp zog einen geradlinigen Rückschluss auf seine Lebensweise: Da er in der Wildnis gelebt, sich an Höhlen und Einöden erfreut habe, Wind und Wetter ausgesetzt gewesen sei, sei er nun ipsus non minus ferox, selbst ebenso wild. So aber, mehr Tier als Mensch, sei er lange Zeit seinen Jägern entkommen, die ihn schließlich in Netzen gefangen hätten. Tulps anatomisches Interesse dürfte ihn zu seiner letzten Beobachtung geführt haben: Die Kehle des Knaben nämlich sei auffällig weit und breit (amplum, ac latum), die Zunge an den Gaumen angelegt gewesen – also vielleicht angewachsen. Zudem sei aufgrund des nach vorn geneigten Ganges die Herzgegend eingefallen. Auswirkungen auf innere Organe seien wahrscheinlich, könnten aber nur durch eine Sektion bewiesen werden. Nur mit einer solchen lasse sich auch die drängendste Frage lösen, nämlich ob das Blöken Resultat einer tatsächlichen körperlichen Annäherung zum Schaf oder sola consuetudinem, nur Gewohnheit, also angelernt sei. Die Betrachtungen Tulps dürfen in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden. Mit ihm hatte zum ersten Mal ein Autor unstrittiger wissenschaftlicher Reputation einen physiologisch spezifizierenden Bericht vorgelegt. Wenn dem 18. Jahrhundert Männer wie Camerarius oder Digby oft als wenig zuverlässige Quellen erschienen, konnte der Verweis auf den Mediziner doch einige Überzeugungskraft für sich verbuchen. 1.1.5. Die litauischen Bärenkinder Ähnlich wie im Falle des Hessischen Wolfskindes ist auch hier letztlich unklar, ob ein, zwei oder mehr Fälle vorlagen. Die für das 18. Jahrhundert maßgeblichen Quellen, der Jesuitenpater GABRIEL RZACZYNSKI19 und BERNHARD CONNOR20, 18 Tulp benutzt hier die Formulierung inter oves sylvestres. Es ist jedoch fraglich, ob er damit wirklich den Wald meinte, denn für sylvestris ist auch die Übersetzung ländlich, abgelegen möglich. Dagegen spricht auch, dass dem Amsterdamer Tulp die Grundlagen ovinen Verhaltens geläufig gewesen sein dürften. Die Frage wird später noch von Belang werden, denn gegen Ende des 18. Jahrhunderts griff Schreber den Fall an, was zu einer Retourkutsche Tafels im 19. Jahrhundert führte (s. u., Kap. 4.5. und 5.1.). 19 GABRIEL RZACZYNSKI, Historia naturalis curiosa regni Poloniae, magniducatus Lithvaniae, annexarumq; provinciarum, in tractatus XX divisa […], Sandomirae 1721, 354 f. 20 Connor nahm sich des Themas doppelt an: Eine kürzere, aber ausführlich kommentierte Version findet sich in BERNARDUS CONNOR, Evangelium Medici: seu Medicina Mystica […] [1697], Amstelaedami 1699, 132 ff.; betreffs des Sachverhaltes ausführlicher dann in DERS., The History of Poland in Several Letters to Persons of Quality. Giving an Account of the Antient and Present State of that Kingdom […], London 1698, 342 ff.
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liefern verschiedene Jahresangaben, aber sehr ähnliche Inhalte. Von diesen ausgehend nahm MORÉRI die Fälle in seinen Grand dictionnaire auf21, KIRCHER hatte sie schon zuvor in China monumentis erwähnt. 22 Hinzu kommt, eingebettet in Connors History of Poland, ein von KLEVERSKERK überlieferter Fall, dessen Zeitnähe ebenfalls ins Auge sticht. Im Anschluss an ein längeres Traktat über Monster erstattet Rzaczynski Bericht über einen Jungen, der in Litauen unter Bären gelebt habe, 1657 gefunden worden sei und völlig wilde Anlagen, Verhaltensformen und Begierden gezeigt habe.23 Dennoch, oder gerade deshalb, wird der Junge nach Warschau gebracht und auf den Namen Joseph getauft. Er hatte sich offenbar vierfüßig fortbewegt, denn nur mit Mühe sei es überhaupt möglich gewesen, ihn aufzurichten; er gehe aber nach wie vor in einer bärenähnlichen Art. Auch die Stimme, murmur ursorum, habe sich an die der Zieheltern angeglichen. Das hieß, wenn er denn überhaupt etwas äußere, denn die meiste Zeit verbringe er damit, sich nach Bärenart herum- oder in einer Ecke zusammenzurollen. Noch nicht einmal ein Kreuz könne der Junge schlagen. Immerhin aber wünsche er, dass der Pater ihm dieses Zeichen auf der Brust mache. Das Gesicht sei im Übrigen nicht hässlich, abgesehen von den vielen Narben, die sich auch am Körper fänden: Sicher seien ihm diese entweder von den Bären oder von Hunden auf einer der vielen Bärenjagden zugefügt worden. Der Appetit stehe dem Jungen, der etwa zwölf Jahre alt zu sein scheine, vor allem nach Gras und Kräutern, aber auch rohem Fleisch, und es ziehe ihn in die Wälder. Sein Kopfhaar, eine sonstige Behaarung des Körpers wird nicht erwähnt, sei weiß und sehr dicht, ganz ähnlich wie bei den Bären Russlands und einiger Teile Litauens. Die Finger der Hand hätten sich verlängert, die Stirn sei unauffällig, die Stimme aber eben nur bärenartig, und man müsse ihn zwingen, sich zu kleiden.24 Rzaczynski weist darüber hinaus noch auf einen weiteren Fall hin, simul cum altero, den CHWAŁKOWSKI25 überliefere und von dem auch Redwiz in einem Gedicht erzähle.26 Kircher, der sich genötigt sieht, zu betonen, dass es bei solch traurigen Gestalten dennoch um Menschen gehe27, überliefert die Geschichte mit dem Datum 1663; auch ist bei ihm der Junge nicht zwölf, sondern nur neun Jahre alt und erlernt das Sprechen.
21 LOUIS MORERI, Le Grand dictionnaire historique oui le mélange curieux de l’histoire sacrée et profane […], Bd. 6, Basel 1732, 994. Zit. n. TAFEL, Fundamentalphilosophie, 55. 22 ATHANASIUS KIRCHER, China monumentis qua sacris qua profanis nec non variis naturae & artis spectaculis, aliarumque rerum memorabilium argumentis illustrata, Antwerpiae 1667, 194. 23 Rzaczynski wiederum beruft sich auf WOJCIECH TYLKOWSKI, Physicae curiosae Pars octava quae meritò posset dici: In ea reliquos Aristotelis Physicorum libros exponuntur, Monasterium Oliviense 1682. Die Quelle wurde nicht weiter verfolgt. 24 Es folgt ein Verweis auf Kircher, der noch von einem ähnlichen Fall berichte. 25 Gemeint sein dürfte NIKOLAUS CHWAŁKOWSKI, Singularia quaedam Polonia, Leopoli 1686. Die Quelle wurde nicht weiter verfolgt. 26 Die Quelle konnte nicht ausgemacht werden. 27 „[…] sunt enim homines, at feri, qui nempe omni cultu destituti, non tam humanam quam belluinam vitam ducunt.“ KIRCHER, China, 194.
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In seiner History of Poland kommt Connor zunächst auf jenen Fall zu sprechen, den er bereits in seinem Evangelium Medici angeführt und dort auf 1694 datiert hatte.28 So sei in den weiten Wäldern Litauens ein Junge von etwa zehn Jahren gefunden worden, der von Bären aufgezogen worden sei. Kein Einzelfall, solches komme, betont Connor, häufig vor. So sei in Polen allgemein die Vorstellung akzeptiert, dass männliche Bären verirrte Kinder in Stücke rissen, Bärinnen mit Jungen sich hingegen anders verhielten: Sie nähmen die Kinder an und säugten sie.29 Der später in ein Konvent gebrachte Junge habe ein widerwärtiges Äußeres gehabt und weder über Vernunft, noch über Sprache verfügt. Sich vierfüßig fortbewegend habe er, abgesehen von seinem Körperbau, überhaupt nicht an einen Menschen erinnert, sei aber getauft worden. Doch auch nach der Taufe sei er rastlos geblieben und habe häufig versucht zu fliehen. Sowohl die Versuche, ihn in eine aufrechte Haltung zu zwingen, als auch ihn zum Sprechen zu bewegen seien von einigem Erfolg gekrönt gewesen; er habe aber keinerlei Auskunft über sein Leben in den Wäldern geben können. Connor meint darüber hinaus einen weiteren Fall von 166930 anführen zu können, den ihm der holländische Botschafter in Polen in einem Brief anvertraut
28 Connors Werk wurde sehr kontrovers diskutiert. So findet sich bei JUSTUS SINCERUS (Iusti Sinceri Vermischte Neben=Stunden […], Drittes Stück, XIX: „Urtheil Von Bernardi Connors, Evangelio Medici“, Wismar 1724, 167–170; hier 167 ff.): „In dieser gelehrten Schrifft, bemühet er sich, die Art, wie die Wunderwercke geschehen, fürzustellen. Verschiedene unter denen Gelehrten wollen im defalls Schuld geben, als ob seine Absicht gewesen, solchergestalt die Wunderwercke zu vernichten, und über einen Haufen zu werffen. Aber, seine Intention, scheinet nicht verwerfflich zu seyn, daferne man, des Autoris eigenem Geständnisse, trauen will. Massen selbige dahin gehet, denen Feinden der wunders=würdigen Wercke, nemlich Atheisten, Deisten, und Schrifft=Spöttern, zu zeigen, daß die Wunder, in Absicht auff die göttliche Allmacht, nicht unmöglich seyn. […] Allein es scheinet, man gehe sicherer, und philosophire demüthiger, daferne für gewiß gehalten wird, daß weil die Wunderwercke selbst, die Ordnung der Natur übersteigen, auch die eigentliche Art derselben, mit der Vernunfft, nicht könne begriffen werden.“ Connor wollte dagegen Gesetzmäßigkeiten, nach denen Wunder abliefen, erkannt haben. Schon Tafel – der, wie weiter unten gezeigt werden wird, ein nicht ganz uneigennütziges Interesse daran hatte, Connors Glaubwürdigkeit zu stärken – verweist daher darauf, dass auch Wolff auf Connor zurückgreife. Tatsächlich findet sich in dessen Psychologia rationalis methodo scientifica pertracta […]. Editio nova priori emendatior, Frankfurt; Leipzig 1740, 378 ein Verweis auf diesen und die von ihm dargestellten Fälle, bei Wolff eingebettet in die Frage, inwiefern die Vernunft von der Sprache abhängig sei. 29 Tafel (Fundamentalphilosophie, 62 f.) findet noch einen weiteren Fall aus Russland, der dies zu belegen scheint. So berichte JEAN STRUYS (Les voyages de Jean Struys, en Moscovie, en Tartarie, en Perse, Aux Indes, etc., Tome I, Lyon 1682, 306; zit. nach Tafel) aus dem Jahr 1668 von einem von einer Bärin geraubten und kurze Zeit gesäugten Kind. Der Fall zeigte keine Wirkung auf die Diskurse des 18. Jahrhunderts und wird hier daher nicht weiter ausgeführt. Ebenfalls in dieses Ensemble gehört das Ungarische Bärenmädchen von 1767, über das SIGAUD DE LA FOND in Wunder der Natur: eine Sammlung außerordentlicher und merkwürdiger Erscheinungen und Begebenheiten in der ganzen Körperwelt, zum Unterricht und Vergnügen nach alphabetischer Ordnung, Bd. 2, Leipzig 1783, 456 f. berichtet. 30 In der englischen Übersetzung des Briefes: 1661.
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habe.31 Cleverskerk, der sich anlässlich eines diplomatischen Besuches in Warschau befand, hatte sich bei Einheimischen nach Sehenswertem erkundigt und war an ein Nonnenkloster verwiesen worden, in dem ein von Bären aufgezogener Junge lebe. Dieser sei 12 oder 13 Jahre alt und dem Besucher sofort zugeneigt gewesen. Insbesondere die Silberknöpfe Cleverskerks hätten es ihm angetan; er habe an ihnen gerochen, sei dann in eine Ecke gesprungen und habe ein merkwürdiges Geräusch, eine Art Heulen, von sich gegeben. Ein Dienstmädchen32 habe ihm schließlich etwas Brot gegeben, dass dieser sofort gegriffen habe. Anschließen sei er auf eine Bank gesprungen und auf dieser auf allen Vieren herumgelaufen, um sich dann doch wieder mit einem ähnlichen Heulen auf den Boden zu begeben. Man habe ihm, Cleverskerk, erzählt, dass man guter Hoffnung sei, den Jungen bald zum Gebrauch der polnischen Sprache zu bewegen; sein Gehör sei gut. Das Gesicht habe einige Narben aufgewiesen, die ihm ohne Zweifel von anderen Bären beigebracht worden seien. Cleverskerk kann auch eine Erklärung für die immense Dichte an Bärenmenschen in Litauen angeben: Dies hänge mit den Raubzügen der Tartaren zusammen, die in rasendem Tempo das Land durcheilten und die Gewohnheit hätten, die Bewohner einzukreisen, um sie zu versklaven. Versuchten die Bedrohten zu fliehen, müssten sie oft ihre Kinder zurücklassen, die dann eben von Bärinnen gesäugt würden. Connor kann noch einen weiteren Zeugen solcher Ereignisse anführen, Christoph Hartknoch33. Dieser berichte von einem Fall, der sich in den Wäldern in der Nähe Grodnas ereignet habe. Hier hätten Soldaten zwei Jungen unter Bären gefunden. Während der eine entkam, sei der andere gefangen und nach Warschau gebracht worden, wo er auf den Namen Joseph getauft worden sei. Er sei zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen und habe ein durch und durch tierisches Verhalten gezeigt, rohes Fleisch und Kräuter bevorzugt und sei auf allen Vieren gegangen. Die Umerziehung zur Bipedität sei schwierig gewesen, in Bezug auf die Erlernung der Sprache habe man schließlich alle Hoffnung fahren lassen: Er habe nur bärenartige Töne von sich gegeben. Schließlich habe König Casimir ihn Adam Opalinski, Vize-Kanzler von Posen, geschenkt, der ihn für einfache Küchendienste eingesetzt habe. Die Wildheit und das Bedürfnis sich in den Wald zu begeben habe das Kind aber bis zu seinem Tod nicht abgelegt. Bemerkenswert noch, dass es sich stets ohne Gefahr Bären haben nähern können, die es offenbar als ihren Zögling erkannt hätten. Connor schließt das Kapitel mit der nochmaligen Beteuerung, es gebe eine große Zahl von Berichten dieser Art, die ihm unter anderem auch Gibson, ein Mitglied des Parlaments, mitgeteilt habe.
31 Der Brief findet sich in doppelter Form – im ursprünglichen Französisch und in Englisch – in der History of Poland. 32 Dieses Dienstmädchen befragt Cleverskerk auch nach den sonstigen Gewohnheiten des Jungen, kann sich aber merkwürdigerweise an ihre Aussagen nicht mehr erinnern. 33 Connor erwähnt Hartknoch als Autor zweier Bücher über Polen; gemeint sein dürfte CHRISTOPH HARTKNOCH, De Repvblica Polonia: Libri Dvo, Qvorvm Prior Historiae Polonicae Memorabiliora, Posterior Avtem Jvs Pvblicvm Reipvbl. Polonicae, Lithvanicae Provinciarvmque Annexarvm Comprehendit, Lipsiae 1698.
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Es lässt sich kaum noch erschließen, mit wie vielen distinkten Fällen man es hier zu tun haben könnte. Die Ähnlichkeiten in den Schilderungen scheinen es aber wahrscheinlich zu machen, dass zumindest Hartknoch den Bericht Tylkowski / Rzaczynskis übernahm und möglicherweise mit dem über Chwałkowski / Rzaczynski überlieferten zweiten Fall vermischte. Dieser zweite Fall könnte möglicherweise identisch mit dem von Cleverskerk überlieferten sein. Zu diesen würde dann Connors von 1694 hinzutreten.34 Fraglich bleibt jedoch, wie sich die ungeheure Falldichte zwischen den Jahren 1657 und 1694 erklären lässt; zwar behaupten viele der Autoren, diese stünden nicht vereinzelt – konkret geliefert werden aber keine weiteren Berichte. 1.1.6. Anna Maria Gennaert – Das Wilde Mädchen von Zwolle Der Fall der Anna Maria Gennaert – jenes Wilden Mädchens, das im August 1717 nahe der holländischen Stadt Zwolle gefunden wurde – ist ohne Frage der bis dahin bestbelegte. Vielleicht darum erscheint er aus heutiger Sicht auch als der plausibelste, selbst wenn nicht alle Fragen in den Quellen Beantwortung finden und die Geschichte fast romanartige Züge trägt. Der Fall wurde zunächst in den lokalen Zeitungen diskutiert, deren Meldungen schließlich 1718 und 1722 in zwei großen Berichten der Breslauer Sammlungen35 zusammengefasst und damit einem größeren Publikum bekannt.36 34 BLUMENTHAL, Kaspar Hausers Geschwister, 89 ff. meint ebenfalls drei Kinder unterscheiden zu können: Das von Tylkowski / Rzaczynski auf 1657 datierte, das von Cleverskerk für 1669 erwähnte und schließlich Connors Fall von 1694. 35 „Artic. III. Von einem vermeyntlich wilden Mägdlein in Holland“, in: Sammlung von Naturund Medicin- wie auch hierzu gehörigen Kunst- und Literatur-Geschichten so sich […] in Schlesien und anderen Orten begeben […] und als Versuch ans Licht gestellet [Breslauer Sammlungen], III. Versuch (Jan. 1718), 546–550; „Artic. 10. Special-Relation von dem vermeynten wilden Mägdlein in Holland“, in: Breslauer Sammlungen, XXII. Versuch (Oct. 1722), 437–444. Die Special-Relation vermerkt als Quelle „eine kleine Piece à 1 Bogen in 8.“, die auch nach langer Suche nicht aufgefunden werden konnte: MICHAEL CHRISTIAN MARSCHAL, Wunderliche Begebenheit von einer wilden Weibs=Person, welche in Antwerpen d. 5. May 1700 als sie ohngefehr 16. Monat alt gewesen, ihren Eltern von einer Frau entführet worden, und hat dieselbe beynah das 18. Jahr erreichet; wie man sie in den Gebürgen oder Walde der Herren von Kranenberg wieder habhafft worden, nicht weit von der Stadt Schwoll, in Ober=Yssel, Antwerpen 1722. Der Bericht aus den Breslauer Sammlungen wurde unter dem Eintrag „Wilde Mägdlein (Holländisches)“ auch in Zedlers Universal-Lexicon übernommen: JOHANN HEINRICH ZEDLER, Grosses Vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste, Welche Bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden […], 64 Bde. und 4 Supl.-Bde., Halle; Leipzig 1732–1754; hier Bd. 56, Sp. 793–799. 36 Die sog. Breslauer Sammlungen kompilierten Zeitungsmeldungen und erschienen viermal jährlich. Sie spielen eine erhebliche Rolle bei der Propagierung nicht nur dieses Falles, sondern auch bei Peter von Hameln. Weitere Quellen, etwa den Mercure historique et politique, aber auch kleinere Pamphlete nennt MARIJKE VAN DER WAL, Feral Children and the Origin of Language Debate: the Case of the Puella Trans-Isalana or the Kranenburg Girl, in: GERDA HAßLER & PETER SCHMITTER, Sprachdiskussion und Beschreibung von Sprachen im 17. und 18. Jahrhundert, Münster 1999, 151–161.
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Alarmiert von Meldungen über ein Monstrum, welches – hier widerstreiten sich die Aussagen – seit einigen Wochen, vielleicht aber auch schon drei oder vier Jahren unter den Bauern um Zwolle kursierten, und verstärkt durch dessen Auftauchen nahe des herrschaftlichen Sitzes Kranenburg37, versammelt sich im August 1717 ein Heer von etwa 1.000 Bauern. Bewaffnet mit Stricken und Netzen überwältigt man schließlich das Wesen. Es ist eine Frau, zwischen 18 und 19 Jahren alt, fast nackt, aber die Scham bedeckt mit einer selbst gefertigten Schürze aus Stroh. Ihre Haut ist „sehr rauhe, ziemlich schwartz und harte“38; sie fällt jedoch bald von ihr ab, und darunter zeigt sich eine normale menschliche Haut. Zwar gibt sie Laute von sich, reden scheint sie aber nicht zu können. Das Mädchen wird vom Magistrat in Zwolle versorgt, und man fragt sich, wie „ein wilder Mensch in diese nicht eben wilde Gegend kommen sey.“39 Bis im Januar 1718 eine überraschende Nachricht eintrifft: Eben jenes Kind, das man im August 1717 gefangen habe, sei wohl 1700 in Antwerpen entführt worden. Die genaueren Umstände machen eben das Romanartige des Falles aus: Ein Amsterdamer Kaufmann, so die zweite Meldung von 1722, habe sich „mit einem Frauenzimmer in fleischliche Wollust eingelassen […].“40 Um das aus diesem Fehltritt hervorgegangene Kind zu verheimlichen, habe er die Frau bis zur Geburt bei seiner Tante in Antwerpen einquartiert und sich zurück begeben; das Kind sei bald nach der Geburt verstorben. Ebenso fand sich aber auch der Kaufmann bald auf dem Totenbett wieder, nicht ohne – späte Reue – dem Kind als letzten Willen 3.000 Gulden zu offerieren. Damit stand die Mutter jedoch vor einem Problem, denn das Kind war ja bereits verstorben. Ein solches Vermögen kampflos preiszugeben konnte jedoch nicht zur Diskussion stehen, und so schleicht sich die Mutter unter Vorwänden in das Haus der Familie Gennaert, gesegnet mit einer Tochter in passendem Alter, ein. Sie entführt diese, streicht in Amsterdam das Geld ein und verschwindet – ihre Identität bleibt unklar. Die verzweifelte Mutter Annas lässt daraufhin eine Anzeige in den Antwerper Zeitungen41 publizieren, die von dem Vorfall berichtet und um sachdienliche Hinweise bittet. Bis dies geschieht, vergehen 17 Jahre, und es ist wohl nur dem Zufall verdanken, dass ein Kaufmann den schon lang vergangenen Vorfall erinnerte und in Beziehung zu den neuen Ereignissen setzte. Immerhin hatte Annas Mutter ihr Kind 16 Monate versorgt, und so berichtet schon die Anzeige von 1700, dass das Kind untrügliche Kennzeichen trage, die nicht weiter expliziert werden. Mutter Gennaert verlässt also Anfang 1718, vom Antwerpener Senat versehen mit einem Recommendationsschreiben und etwas Geld, ihre Heimatstadt in Richtung Zwolle. Das Treffen zwischen Mutter und Tochter bringt sofort Klarheit: Offensichtlich sind die besagten Kennzeichen vorhanden, ja die Tochter scheint ihre 37 Der Besuch hatte offenbar eine verschreckte Herrin hinterlassen. An einigen Stellen findet sich statt Kranenburg die Ortsbezeichnung Kranenberg. 38 „Von einem vermeyntlich […]“, 548. Mit rauh oder rauch kann neben der heute noch geläufigen Bedeutung auch „behaart“ gemeint sein. Der Kontext deutet hier eher auf ersteres. 39 Ebd. 40 „Special-Relation“, 439. 41 Abgedruckt in ebd., 438.
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Mutter sogar zu erkennen. Im März 1722 begibt sich Anna so mit ihrer Mutter nach Antwerpen zurück, wo sie am 6. April eintrifft. Sie akklimatisiert sich schnell: Ihre rauhe Haut war ja bereits schnell verschwunden, und wäre sie nicht sprachlos, so bemerkt die zweite Meldung, man könnte sie von anderen Frauen nicht mehr unterscheiden: Sie habe das Spinnen erlernt, sei freundlich und gesellig, grüße jeden. Hier endet die Geschichte Anna-Maria Gennaerts. Nun stellt sich die Frage, ob die Zeitgenossen hier wirklich ein Wildes Mädchen vor sich zu haben glaubten; womit korrespondiert, wie denn ein Wilder Mensch überhaupt zu definieren war. Die Frage lässt sich recht klar beantworten: Die Menschen in Zwolle trugen offenbar bereits kurz nach dem Aufgreifen des Mädchens erhebliche Zweifel, ob diese „wild“ sei, und spätestens mit dem Bekanntwerden der Hintergrundgeschichte wird die These ad acta gelegt. Offenbar gab es für die Öffentlichkeit nur zwei säuberlich zu trennende Alternativen: Monster oder Mensch. Betrachtet man jedoch den ersten Bericht von 1718 genauer, fällt ins Auge, dass sich der Autor nach der Überschrift über zwei Seiten gar nicht seinem Gegenstand zuwendet, sondern vielmehr zunächst auf den oben bereits erwähnten Tulp und dessen Satyr verweist, dem er Geschichten von See-Männern, See-Weibern und Wald-Menschen, von denen letztere jedoch nichts als Indianische Affen seien, folgen lässt. Der Übergang zum Thema gelingt dann mit dem Hinweis, dass diesen „Catalogum von wilden Menschen […] ietziger Zeit eine neue Begebenheit, so sich in Holland zugetragen“42 bereichere. Da dies, wie eine genauere Bestandsaufnahme ergibt – und man darf wohl inferieren: leider – nicht der Fall ist, wird der Konjunktiv zu Hilfe genommen: „Jedoch, wenn dieselbe in ihrer ersten Kindheit in die Wildnis verlegt worden wäre […].“43 Dies, so wissen die Zwoller, konnte jedoch nicht der Fall gewesen sein, zumindest nicht in der Umgebung. Hatten die Bauern also Angst vor einem Monster gehabt, erkannten sie bald, dass das gefangene Wesen schlicht eine junge Frau war. Wild konnte diese in den angrenzenden „kleinen Büschen oder Bergen“ von nicht mehr als „4. Stunden in der Runde“ jedoch keinesfalls gelebt haben.44 So muss man sich fragen, ob der generelle Gedanke, einen Wilden Menschen erwischt zu haben, nicht ausschließlich der Phantasie des belesenen Autors der Breslauer Sammlungen entsprang – es sei denn, man möchte annehmen, dass die bäuerliche Bevölkerung lateinische Abhandlungen medizinischer Art, nämlich die Tulps, las. Es zeigt sich also bereits hier im kleinen, dass die Rezeption der Fälle sich auf ganz verschiedenen Niveaus abspielte und von sehr verschiedenen Voreinstellungen unterfüttert war. Fast schon folgerichtig sah sich die Zeitschrift vier Jahre nach der ersten Erwähnung des Mädchens verpflichtet, ihren Lesern aufgebracht von einer „betrüglichen Handlung“ zu berichten: In Braunschweig war während der Messe im 42 „Von einem vermeyntlich […]“, 548. 43 Ebd., 549. Zu exakt demselben sprachlichen Mittel wird später Buffon greifen; s. u., Kap. 4.1. 44 „Special-Relation“, 442. An gleicher Stelle wird dann – allerdings recht halbherzig – von Jahre zurückliegenden Sichtungen an der „Ober=Seite von der Yssel“ berichtet, einer Gegend, die unwegsamer sei. Das Mädchen sei dann vielleicht weiter nach Süden gewandert.
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August 1722 „auf der Gassen angeschlagen, daß das vor einigen Jahren in Holland gefangene Mägdlein […] allhier an einem gewissen Orte für Geld würde zu sehen seyn.“ Gegen die Prozedur an sich wendet der Artikel nichts weiter ein, doch musste man zum Erschrecken einen „gottlosen Betrug“ feststellen, hinter dem „ein liederliches Wesen“, nämlich „ein stummes Weibsbild“ steckte. Immerhin war die zweifellos versammelte Intelligenz jedoch so einfach nicht hinters Licht zu führen, so dass „sich dieses Gesindel schleunig aus dem Staube“ machte.45 Zeitpunkt und Ort des Betrugsversuchs dürften aber mit Bedacht gewählt worden sein: Man konnte wohl mit regem Interesse der gebildeten Anwesenden rechnen. Aber die Quellen weisen noch etwas anderes nach: Der Fund eines solchen Menschen stellte für die Beteiligten durchaus nicht den Grund zur Freude dar, den die Aufklärungswissenschaftler darin sahen. Die Ursache ist sehr profan: Das Mädchen wollte verpflegt werden, es erzeugte Kosten, die irgendjemand tragen musste und die, fand sich nicht eine andere Möglichkeit, an der Gemeinde oder Stadt hängen zu bleiben drohten. Wie später, im Fall Peters von Hameln, genauer gezeigt werden wird, spielten solche finanziellen Erwägungen eine beträchtliche Rolle. So kommt es nicht von ungefähr, dass Mutter Gennaert, kurz nach dem tränenreichen Wiedersehen mit ihrer Tochter, seitens des Zwoller Magistrats mit der sauertöpfischen Bemerkung konfrontiert wurde, es seien in der Zwischenzeit „mehr als 100. Gulden Unkosten für diese wilde Frauens=Person aufgangen.“46 Es ist tatsächlich schwer zu prognostizieren, wie diese Angelegenheit gelöst worden wäre, hätte sich nicht im Vorfeld schon die Stadt Antwerpen generös gezeigt und die Reisekosten spendiert. So jedenfalls konnte der Zwoller Magistrat wohl nicht anders, als der Mutter ihr Kind gratis zu überlassen – nicht jedoch ohne in seiner Missive an die Kollegen aus Antwerpen zu betonen, dass das Kind durch uns bis anhero mit nöthigem Unterhalt ist versorgt worden, ohne dessentwegen, in Consideration Ew. Wohl-Edl. Vorschrifft [nämlich dem Empfehlungsschreiben aus Antwerpen, das deren finanzielle Hilfe angeführt haben dürfte; H. B.], einige Restitution oder Vergütigung praetendirt zu haben: wodurch wir denn vermeynen, […] ein Genügen gethan zu haben.47
Blickt man auf den Fall Peters, muss man allerdings einräumen, dass die mittellose Mutter ihr Kind wohl so oder so bekommen hätte: Abgesehen von dem ethisch-rechtlichen Problem, dass man der Mutter das Kind nicht vorenthalten konnte, musste für die Stadt Zwolle durchaus unklar sein, ob das Mädchen je den eigenen Lebensunterhalt würde bestreiten können, so dass man den Fall, alle Risiken betrachtet, sicher ohnehin gerne nach Antwerpen zurück geschoben hätte. Für dessen Magistrat bestand indes kein Grund zur Sorge, da die Mutter unterhaltspflichtig war. Auch hier zeigt sich ein bislang nicht beachteter Bruch: Im 18. 45 „Von einem Weibs=Bilde, so man betrüglicher Weise für ein wildes [!] Mensch ausgegeben“, in: Breslauer Sammlungen, XXII. Versuch (August 1722), 209–210. Möglicherweise stand die Veröffentlichung der o. a. Schrift Marschals mit dem Betrug im Zusammenhang. 46 „Special-Relation“, 440. 47 Ebd., 441.
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Jahrhundert waren Wilde Kinder wohl für die überwiegende Mehrheit der Menschen keineswegs hochinteressante Phänomene, sondern schlicht praktische Probleme. 1.1.7. Marie-Angélique Le Blanc – Das Wilde Mädchen von Songi Es ist vor allem ein gewichtiges Faktum, das diesen Fall von den bisher diskutierten unterscheidet: Vom Wilden Mädchen von Songi findet sich nicht nur eine Momentaufnahme; ihr Leben und ihre Entwicklung wurden über mehrere Jahrzehnte beschrieben und beobachtet. Die umfangreichste Quelle stellt dabei die Histoire d’une jeune fille sauvage dar, die 1755 anonym erschien, aber bald CHARLES MARIE DE LA CONDAMINE zugeschrieben wurde.48 Von dieser wiederum wurde schon ein Jahr später eine deutsche Übersetzung vorgelegt.49 Bereits unmittelbar nach dem Fund Marie-Angéliques 1731 jedoch hatte der Mercure de France einen Lettre écrite de Châlons le 9 Déc. 173150 abgedruckt, der die Ereignisse erhellte. Hinzu tritt das von LOUIS RACINE (fils) verfasste Éclaircissement sur la fille sauvage.51 Der folgende Abriss der Ereignisse basiert, wo nicht anders vermerkt, auf der Schilderung der Histoire d’une fille sauvage.52 Im September 1731 wird bei Songi53, einem Ort in der Nähe von Châlons sur Marne, ein Wesen gesehen, bekleidet nur mit Lumpen und Fellen, Gesicht und Hände „noirs comme une Négresse.“54 Bewaffnet mit einer Art Keule wird es von den Einwohnern zunächst für den Teufel gehalten. Dieser Eindruck verstärkt sich 48 Histoire d’une jeune fille sauvage trouvée dans les bois à l’age de dix ans, publiée par Madame H...t, Paris 1755. Eine hervorragend kommentierte und erweiterte Neuauflage unternahm FRANCK TINLAND (Hrsg.), Histoire d’une jeune fille sauvage trouvée dans les bois à l’age de dix ans, publiée par Madame H...t [Hecquet], Bordeaux 1970; nach dieser wird i. d. F. zitiert. Zur Person und wissenschaftlichen Bedeutung Condamines vgl. MICHÈLE DUCHET, Anthropologie et Histoire au siècle des Lumières. Buffon, Voltaire, Rousseau, Helvétius, Diderot, Paris 1977, 98 ff. Condamine galt als bedeutende Autorität bezüglich Amerikas, es zeichnete ihn laut Duchet eine besonders methodische Beobachtungsgabe aus. 49 Merkwürdiges Leben und Begebenheiten eines in der Wildnis aufgewachsenen Mädgens von zehn Jahren welches vor kurzem im Wald gefunden und hernach eine Nonne geworden herausgegeben von der Frau H = = T [handschriftl. Zusatz: Hecquet], Frankfurt; Leipzig 1756. Mehrere englische Übersetzungen sind ab 1760 nachvollziehbar und werden von MICHAEL NEWTON, Savage Girls and Wild Boys. A History of Feral Children, London 2002, 269 f. aufgeführt. 50 „Lettre écrit de Châlons en Champagne le 9 Déc. 1731, par M. A. M. N. ... au sujet de la Fille Sauvage trouvée aux environs de cette ville“; hinzu kommt ein „Extrait d’une lettre sur le même sujet“. Die Briefe wurden abgedruckt im Mercure de France, Dez. 1731 und finden sich als Anhang in Tinlands Ausgabe der Histoire d’une jeune fille sauvage, Bordeaux 1970, 79–85. 51 LOUIS RACINE, Éclaircissement sur la fille sauvage dont il est parlé dans L’Épître II sur L’Homme, in: Oeuvres de Louis Racine, T. 1, Paris 1808, 575–582. 52 Die Dokumente sind über Tinlands Neuauflage von 1970 gut greifbar. Für die längeren Zitate wurde auf die generell getreue deutsche Übersetzung zurückgegriffen. 53 Es finden sich auch die Bezeichnungen Sogny oder Songy. 54 Histoire d’une jeune fille sauvage, 47.
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noch, als die Kreatur einen auf sie gehetzten Hund in abgebrühter Manier mit einem Prügel totschlägt, vergeblich in ein Haus einzudringen versucht und schließlich verschwindet, um sich auf einem Baum an der Marne schlafen zu legen. Der alarmierte Vicomte d’Epinoy55 organisiert nun die Verfolgung, und das Kind wird gefangen. Später glaubt sich Marie erinnern zu können, dass sie zwei oder drei Tage vorher über die Marne, d. h. ursprünglich aus Lorraine gekommen sei. Auf das Schloss des Vicomte gebracht, stellt sich zunächst eine zum äußeren Erscheinungsbild passende Vorliebe für rohes Fleisch heraus, während ein Bad den verblüffenden Befund erbringt „qu’elle étoit naturellement blanche […].“56 Auffällig erscheint nur die Größe ihrer Finger, ansonsten ist sie „assez bien faite […].“57 Das Mädchen wird bei einem Schäfer untergebracht, der ihr die wilden Eigenarten abzugewöhnen versucht – mit wenig Erfolg, denn das Kind versucht mehrmals zu fliehen. Auch der Gang Maries bleibt merkwürdig, ist „moins marcher que glisser“58, weniger ein Gehen als ein Gleiten. Die Sprache zeigt deutliche Defizite, die sich jedoch mit der Zeit zumindest minimieren, während die Umgewöhnung zu zivilisiertem Essen erhebliche Probleme bereitet: Zähne und Nägel fallen aus, schließlich wird ein Aufenthalt im Hospital von Châlons notwendig. Das sterbenskranke Mädchen wird schließlich im Juni 1732 auf den Namen Marie-Angélique getauft – scheinbar eine Nottaufe, denn Marie zeigt nun zusätzlich noch epileptische Anfälle und wirkt ausgemergelt. Dem Tod des Vicomte folgt die Verlegung in ein Waisenhaus in Châlons, 1747 wird sie schließlich, auf Zuspruch des Herzogs von Orléans, in das Kloster Ste. Menehould gebracht, wo sie einige Jahre später von Condamine besucht wird. Dieser sorgt auch dafür, dass Marie-Angélique, ihrem Wunsch entsprechend, in einem Pariser Kloster Aufnahme findet. Hier empfängt sie die Sakramente der Kommunion und Firmung und bereitet sich auf ein Leben als Nonne vor. Ein schwerer Unfall verhindert dies jedoch. Die letzten Lebenszeichen finden sich 1765, als sie von James Burnett, Lord Monboddo, besucht wird: Sie lebt in bescheidenen Verhältnissen in einer kleinen Wohnung in der Rue St. Antoine und finanziert sich offenbar durch den Verkauf ihrer Histoire.59 Im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl der hier erwähnten Fälle konnte sich Marie-Angélique an ihr wildes Leben erinnern und dieses Condamine auch mitteilen; der Gesprächsbericht mit ihr füllt den zweiten Teil der Histoire. Allerdings ist diese Erinnerung offensichtlich an ihre Rezivilisierung gebunden, und sie wird den in der Folge weit ins Kraut schießenden Mutmaßungen und Spekulationen Nahrung geben:
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Eigentlich Epinay. Ebd., 49. Ebd. Ebd., 51. Zum Verhältnis Monboddos zu Marie-Angélique vgl. MICHAEL NEWTON, Savage Girls and Wild Boys. A History of Feral Children, London 2002, 53–97. Der Besuch wurde von Condamine vermittelt; ebd., 63.
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1. Zwielicht: Zur Phänomenologie der Isolation Die weise Jungfer gesteht, daß sie nicht eher angefangen, Ueberlegungen anzustellen, als bis sie einige Erziehung zu geniessen gehabt; und daß sie die ganze Zeit über, die sie in dem Wald zugebracht, keinen anderen Gedanken gehabt, ausser der Empfindung ihrer Bedürfnisse und ausser dem Verlangen, demselben eine Genüge zu thun. Sie kann sich keines Vaters und Mutter erinnern, noch irgend einer Person ihres Vaterlands, auch nicht recht des Lands selbsten; es ist ihr davon nur noch im Gemüt geblieben, sie habe keine Häuser gesehen, sondern nur Gruben in der Erde und eine Gattung von Hütten […], worein sie auf allen Vieren gekrochen; wobey ihr zugleich auch die Vorstellung beyfällt, daß solche Hütten mit Schnee bedeckt gewesen. […] Die einzige Begebenheit in ihren Kinder=Jahren, wovon ihr ein geringes Andenken geblieben, ist diese: da sie […] noch sehr klein gewesen; habe sie in dem Meer oder in einem Fluß […] ein großes Thier gesehen, welches mit zwey Pfoten, wie ein Hund, geschwommen, es habe einen runden Kopf, wie eine Dogge, gehabt, nebst großen feurigen Augen […]; es deuchte sie, Haare gesehen zu haben, welche Aschenfarbig, schwarz und ganz kurz gewesen: sie haben beynahe, sezte sie noch hinzu, wie die abgeschorne Haare der Hunde ausgesehen.60
Condamine führt dies zu der Überzeugung, dass Marie einen loup marin, wie ihn La Hontan beschreibe, gesehen habe. Ihre Neigung ins Wasser zu springen, mit der Hand darinn zu fischen, und wie ein Fisch herum zu schwimmen, wenn die Kälte und das Eis noch so gros gewesen; nichts zu essen als rohe Dinge; ferner die Schwachheiten und Ohnmachten, welche sie in der ersten Zeit von der Sonnen=Hize oder anderer groser Wärme ausgestanden: scheinen mir zuverläsige Beweise zu sein, daß ihr Geburts=Ort gegen Mitternacht, um das Eis=Meer herum, zu suchen seye […]. Noch verschiedene andere Bemerkungen […] geben mir die Mutmasung, sie stamme von dem Volk Esquimaux ab, welches das Land Labrador auf der mitternächtlichen Seite von Canada bewohnt.61
Auch wenn Marie darauf hinwies, dass „sie das mehreste […] nicht zuverläsig behaupten könne; da ihre Erinnerungen nicht deutlich, auch nicht ohne Verwirrung seyen“62, glaubte Condamine schließlich ihre Geschichte enträtselt zu haben: Marie stamme aus dem Norden Kanadas, sei von da auf die Antillen und schließlich nach Frankreich gelangt – Sklavenhandel, schuldig wahrscheinlich irgendein englischer, dänischer oder holländischer Kapitän. Dieser habe Marie nebst einer Gefährtin geraubt und fraglos auf den Antillen verschachern wollen, aus irgendwelchen Gründen – vielleicht war der Preis zu niedrig – dann aber doch mit nach Europa genommen. Hier habe der Kapitän, der sich der Einzigartigkeit seines Fangs bewusst war, die Beute dann verkaufen wollen, jedoch nicht ohne zuvor die Kinder „zur Lust oder zum Betrug schwarz gefärbt“ zu haben.63 Diese Erörterungen werden im gleichen Stil weitergeführt: Auf dem Weg nach Geldern oder Kleve seien die Mädchen schließlich in die Ardennen geflohen, dann zu Fuß in einigen Monaten nach Châlons gelangt.64 60 Merkwürdiges Leben und Begebenheiten eines in der Wildnis aufgewachsenen Mädgens, 34 ff. 61 Ebd., 37 62 Ebd. 63 Vgl. ebd. 50 f. Condamine führt an, dass Sklaven aus Guinea frei verkäuflich gewesen seien. 64 Als Alternative wird ein französischer Käufer ins Spiel gebracht; in diesem Fall habe sich der Aufenthalt in der Wildnis auf wenige Tage verkürzt. Die Eskimo-These versucht Condamine nach Kräften durch beigefügte Dokumente zu bestärken (Fondemens des conjectures qui font
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Für RACINE war die Herkunft Maries nicht weiter von Interesse; wahrscheinlich, meinte er, könne man Condamines Spekulationen zustimmen. Ihr Fall war ihm vielmehr Beispiel für „la misère de l’homme abandonné à lui seul, et la toutepuissance de la grâce.“65 Damit brachte er eine religiöse Komponente ein, die das mittlerweile fromme Untersuchungsobjekt ja auch durchaus nahe legte. Insbesondere ging es Racine darum, vielleicht noch die Theorie der idées innées retten zu können. Zwar habe Marie, wie berichtet werde, kurz nach ihrem Auffinden nachweislich „aucune idée d’un Être suprême“ gehabt, aber leicht sei es gewesen, ihr die Bedeutung eines Schöpfers und dann eines Vermittlers nahe zu bringen.66 Für Racine mehr als genug Grund, die erhabene Position des Menschen in der Schöpfung für bewiesen zu halten: Voici une fille qui, élévée parmi eux, et long-temps privée comme eux de la parole, n’a eu d’autre objet que de chercher la nourriture de son corps: sitôt qu’elle entend des hommes se parler, elle a bientôt appris la manière d’exprimer comme eux ses pensées; sitôt qu’on lui parle des choses spirituelles, elle les conçoit. Ce parce que nous sommes capables de les entendre, divinorum capaces, dit Juvenal, que notre raison vient du ciel.67
Die menschliche Vernunft, so zeige der Fall, sei gottgegeben. Die Probleme, die bei der Vermittlung auftraten, seien eher Fehler der Lehrer: Hier hätten diese eben nicht ein seinen Katechismus herunterbetendes Kind vor sich, sondern einen denkenden Menschen, dem auch Widersprüchlichkeiten auffielen.68 Der Fall wurde auch in den Zeitungen des deutschen Sprachraums sehr früh rezipiert.69 Bereits Ende November 1731, also vor der einschlägigen Meldung des Mercure de France, wird gemeldet: Von Chalons, in Franckreich/ berichtet man vom 27sten October, daß in der Gegend Vitry, auf dem Kirchhof/ zu Sangy, auf dem obersten Theil eines hohen Baums ein wildes Mägdlein von ohngefehr 18. Jahren gefunden und gefangen worden seyn/ welches weder Brod noch gekochte Speisen esse/ wohl aber die Blätter von einer gewissen Art Bäumen/ rohes Fleisch und Frösche mit gröster Begierde verschlinge/ sie klettere auf die Bäume wie eine Katze/
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juger que Mlle Le Blanc étoit de la nation des Esquimaux […]; Extrait de la Lettre de Me. Duplessis […] ou il est parlé de la nation des Esquimaux; Extrait de la Relation du Baron la Hontan […] Des Esquimaux; Memoires de l’Amérique septentrionale […]; alle im Anhang der Histoire d’une jeune fille sauvage, 85–93). Marie-Angélique habe EsquimauxGegenstände wiedererkannt, die Esquimaux glichen dem Kind körperlich aufs Haar usw. RACINE, Éclaircissement, 575. Auch Racine hatte ein Gespräch mit le Blanc geführt; er erwähnt nicht, wann dies stattfand, es muss jedoch nach 1755 gewesen sein. „Ceux qui les premiers lui parlèrent de religion, prétendent qu’ils ne trouvèrent en elle aucune idée d’un Être suprême, mais qu’il leur fut facile de lui faire comprendre un Créateur, en ensuite un Médiateur.“ Ebd., 580. Ebd., 581. Der Tonfall zeigt deutlich Racines Frontstellung gegen Sensualisten und Materialisten. Zu erinnern ist jedoch daran, dass eigentlich alles in Condamines Bericht gegen eine lange Isolierung sprach; er ging von Monaten, vielleicht nur Tagen aus, was Racine geflissentlich ignoriert. Die folgende Zusammenstellung von Presseberichten ist ein bei der Recherche für Peter von Hameln (s. u.) angefallenes Nebenprodukt und insofern ohne allen Anspruch auf Vollständigkeit.
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1. Zwielicht: Zur Phänomenologie der Isolation lieffe in ebenem Felde so schnell als ein Wind=Hund/ und seye diese wundersame Begebenheit von dem Herrn Intendanten der Provintz an den König berichtet worden.70
Die so zweifellos geweckte Neugier der Leser, von denen viele einen ganz ähnlichen Fall noch gekannt haben dürften71, wurde drei Wochen später weiter befriedigt. Das Mädchen befinde sich nun im Hospital von Chalons, sei „von einer zarten und ziemlich langen Gestalt“, weiß und habe eigentlich „nichts ungestaltes an sich“. Mit körperlichen Absonderlichkeiten konnte man also nicht wirklich dienen, immerhin aber unappetitliche Details betonen: „Wann sie Frösche zu sich nähme/ schluckte sie diese gantz rohe herunter/ ohne solche fast unter den Zähnen zu zerbeissen.“72 Überliefert werden auch bereits Vermutungen über die Herkunft des Mädchens. Schon hier kann also festgehalten werden, dass sich die Fälle schnell zumindest im deutschen Sprachraum, wahrscheinlich aber auch darüber hinaus verbreiteten. Ablesen lässt sich darüber hinaus der Hunger der Presse nach Details: Nur diese, so scheint es, hielt man für geeignet, das geweckte Interesse der Leser aufrecht zu erhalten. Deutlich wird auch, dass die weiter vermittelten Nachrichten relativ gleichförmig waren: Man bediente sich derselben Quellen, eigene Nachforschung wurden meist nicht betrieben. Gut möglich, dass die Fälle für die Rezipienten daher oft besser belegt schienen, als sie waren. 1.1.8. Die Wilden der Pyrenäen Der Bericht über zwei Wilde, die 1719 in den Pyrenäen gefunden worden seien, lässt sich bis Rousseau zurückverfolgen. Dieser erwähnt in der dritten Anmerkung seines Discours sur l’inégalité, dessen Bedeutung für die Vermittlung der Fälle kaum überschätzt werden kann, nach einem Verweis auf Peter von Hameln: […] et l’on trouva en 1719. deux autres Sauvages dans les Pyrenées, qui couroient par les montagnes à la manière des quadrupédes.73
Rousseau schweigt sich über seine Quelle aus, so dass die spärlichen Angaben des Discours zur Sackgasse werden. Weit später, 1776, verfasste jedoch der französi70 „IV. Naturalia“, in: Kurtz gefaßte Historische Nachrichten, 47. Stück (1731), 750 f. Weitgehend wortgleiche Artikel: „Auß Paris/ vom 4. November“, in: Europäische Zeitung, 96 (1. Dez. 1731); „Auß Paris/ den 19. November“, in: Europäische Zeitung, 102 (22. Dez. 1731); „Paris, vom 12. Oct.“, in: Frankfurter Oberpostamts Zeitung (20. November 1731); „Paris, vom 3. Dec.“, in: Frankfurter Oberpostamts Zeitung (14. Dezember 1731); „Franckreich“, in: Wöchentliche Relation, XLIX (8. Dez. 1731). 71 Nämlich den Peters von Hameln, der 1724–26 in die Schlagzeilen geraten war; s. u. 72 Vgl. „IV. Naturalia“, in: Kurtz gefaßte Historische Nachrichten, 50. Stück (1731), 799. Bezüglich der Herkunft verlegt man sich zunächst auf Norwegen. Diese Theorie muss auch in Frankreich kursiert sein, wird aber im Lettre écrit de Châlons en Champagne le 9 Déc. 1731, par M. A. M. N. ... au sujet de la Fille Sauvage trouvée aux environs de cette ville zurückgewiesen; vgl. Condamine, Histoire d’une fille sauvage, 79. 73 JEAN JACQUES ROUSSEAU, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, Amsterdam 1755. In der Folge wird die deutsch-französische Edition HEINRICH MEIERS herangezogen: JEAN JACQUES ROUSSEAU, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité, hrsg., übers. und komm. v. HEINRICH MEIER, Paderborn u. a. 41997, hier 280.
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sche Ingenieur J.-J.-SÉBASTIEN LEROY in seiner Mémoire sur les travaux dans les Pyrenées74 eine Fußnote, die ebenfalls von wild aufgewachsenen Kindern in den Pyrenäen erzählt. So sei vor mehr als dreißig Jahren – also um 1735, Leroys Auftrag hatte bereits 1765 begonnen75 – im Wald von Issaux ein wildes Mädchen im Alter von 16 oder 17 Jahren aufgefunden worden. Sie sei von einer Gruppe anderer Mädchen getrennt worden, die, überrascht von plötzlichem Schneefall, die Nacht in den Bergen verbringen musste. Am nächsten Morgen sei das Mädchen verschwunden gewesen und habe sieben oder acht Jahre wild in den Bergen verbracht, bis sie von Schäfern gefunden wurde. Die Folgen: Sprachverlust, Umstellung der Ernährung auf Kräuter. Auch der Aufenthalt im Hospital von Moleon habe ihren Zustand nicht bessern können: Sie habe vor sich hinvegetiert und sich nach der Freiheit gesehnt. Sie sei ansonsten von normaler Größe gewesen, wenn auch ihre Physiognomie etwas Hartes an sich gehabt habe. Erst in letzter Zeit jedoch hätten Schäfer in der Nähe des Waldes von Yraty einen homme sauvage gesehen, der dort in felsigem Gebiet lebe. Dieser ist, zumindest körperlich, weit bemerkenswerter: Groß sei er gewesen, behaart wie ein Bär und wendig wie eine Gämse. Konnten diese körperlichen Attribute durchaus Furcht, zumindest aber Respekt einflößen, wurde das durch den Charakter des Wilden ausgeglichen: Dieser sei nämlich überaus frohsinnig und breche oft in heftiges Lachen aus; ja, ihm schien geradezu der Schalk im Nacken zu sitzen, scheuche er doch gerne die Schafe durch die Gegend, „mais sans jamais leur faire du mal.“76 Überhaupt tue er niemandem etwas zuleide und besuche oft die Hütten der Schäfer, ohne jedoch jemals etwas entwendet zu haben – Brot, Käse und Milch seien ihm offenbar unbekannt. Dabei achte er stets auf Abstand, es sei unmöglich, ihm nahe kommen. Man habe den Wilden auf etwa 30 Jahre geschätzt, und da der Wald von Yraty nicht nur ein großer sei, sondern darüber hinaus an noch größere Bestände in Spanien grenze, sei es gut möglich, dass er sich als Kind verirrt und seitdem in den Bergen von Kräutern gelebt habe. Ähnlich wie bei den litauischen Bärenkindern ist auch hier eine Beurteilung schwierig. Leroy, dessen Werk tatsächlich eine knochentrockene Darstellung der forstwirtschaftlichen Nutzbarkeit der Pyrenäen ist – die Wilden finden sich versteckt in einer Fußnote –, scheint eine durchaus verlässliche Quelle, war jedoch in keinem der Fälle Augenzeuge. Blumenthal meint, Rousseaus zwei Wilde seien eine „Verballhornung“77 der von Leroy berichteten. Diese Einschätzung führt jedoch zu Schwierigkeiten, erschien doch der Discours sur l’inégalité bereits 1755, Leroys Werk jedoch erst 1776. Blumenthal scheint vorauszusetzen, dass der erste von Leroy überlieferte Fall Rousseau anderweitig, vielleicht über die Presse, bekannt war. Dies erklärt jedoch weder, warum bei ihm auf einmal zwei Wilde auftauchen, noch warum Quadrupedität erwähnt wird. Ebenso sind auch die Da74 J.-J.-SEBASTIEN LEROY, Mémoire sur les travaux qui ont rapport a l’éxploitation de la mâture dans les Pyrenées, Londres 1776. 8 f. 75 Vgl. die Anmerkung FRANCK TINLANDS in den Zusatzmaterialien zu Condamines Histoire d’une jeune fille sauvage, Bordeaux 1970, 118. 76 LEROY, Mémoire, 9. 77 BLUMENTHAL, Kaspar Hausers Geschwister, 100.
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ten – 1719 bei Rousseau, um 1735 bei Leroy – weit voneinander entfernt. Andererseits mag auch Leroy, wenn er denn Rousseaus Text kannte, was immerhin nicht ganz unwahrscheinlich ist, die ihm gelieferten Geschichten durch Nachfragen bei den Einheimischen provoziert haben. 1.1.9. Victor vom Aveyron Es gibt keine Erhebung darüber, wie viele Gymnasiasten und Studenten im Rahmen ihrer pädagogischen Ausbildung mit dem Fall Victors konfrontiert wurden, aber ihre Zahl dürfte erheblich sein – er ist ohne Frage das Wilde Kind der Erziehungswissenschaftler und ebenso fraglos der prominenteste aller aufgeführten Fälle.78 Jedoch kann man erhebliche Zweifel tragen, ob er tatsächlich noch in die vorliegende Reihe gehört: Nicht, weil sein Leben besser als andere dokumentiert wäre, sondern weil das Datum seines Fundes, 1799, bereits ganz am Ende der in dieser Arbeit zu betrachtenden Entwicklungen steht. Die meisten der hier untersuchten Theoretiker lernten ihn zu ihren Lebzeiten nicht mehr kennen. So gehört Victor auch zu einer anderen Epoche, jedenfalls wenn man das 18. Jahrhundert als ein kurzes identifizieren will – er ist ein Kind der Nachrevolutionszeit. Dass Victor hier dennoch eine wenigstens kursorische Würdigung erfährt, ist der Tatsache geschuldet, dass in der Auseinandersetzung mit ihm auch die Fälle seiner Genossinnen und Genossen eine Neuinterpretation erfuhren, an deren Ende – zumindest für einige Zeit – eine Pathologisierung stand.79 Der Fehlschlag des Erziehungsversuchs Itards, der sein Experiment mit so viel Zuversicht begonnen hatte, koinzidiert mit dem Ende des Glaubens an die unbeschränkte Erziehbarkeit des Menschen, ja er wird nachgerade zum Exempel. Es sind Forscher wie Virey, Gall und Spurzheim oder Esquirol die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit den Fällen befassen werden – Physiologen, Anatomen, Craniologen, nicht mehr die philosophes, Naturhistoriker und Pädagogen des 18. Jahrhunderts. Da der gewichtige pädagogische Rezeptionsstrang in der vorliegenden Arbeit kaum verfolgt wird, weicht dieses Unterkapitel etwas vom Gewohnten ab: Nicht nur der Fall wird dargestellt, sondern auch einige der sich an ihm entfaltenden Diskussionen. Es sind vor allem drei Männer, denen die Kenntnisse über Victor zu verdanken sind: PIERRE-JOSEPH BONNATERRE, der als Lehrer für Naturgeschichte an der École centrale des Départements Aveyron beschäftigt war, und der Victor vor seiner Überführung nach Paris untersucht hatte, verfasste 1800 seine Notice historique sur le sauvage de l’Aveyron80. JEAN ITARD, ehrgeiziger Schüler des renommierten Psychologen Pinel führte dann in der Folge jene pädagogischen Experimente durch, die bis heute im Brennpunkt der Forschung stehen. Er doku78 Für einen im Großen und Ganzen erschöpfenden Abriss der pädagogischen Dimension vgl. BIRGITT WERNER, Die Erziehung des Wilden von Aveyron, Frankfurt a. M. 2004. 79 Vgl. dazu generell RAFAEL HUERTAS, Los „Niños Salvajes“ y la medicalización de la deficienca mental, in: Revista de Dialectologia y tradiciones Populares, 52, 1 (1997), 217–34. 80 PIERRE-JOSEPH BONNATERRE, Notice historique sur le sauvage de l’Aveyron et sur quelques autres individus qu’on a trouvés dans les forêts, à differentes époques, Paris 1800.
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mentierte seine Ergebnisse 1801 und 1806 in zwei Rapports81. Ebenfalls bereits 1801, und eingebettet in die mehrbändige Histoire naturelle du genre humain, verfasste schließlich JEAN-JACQUES VIREY seine Dissertation Sur un jeune Enfant trouvé dans les forêts du département d l’Aveyron.82 Victor ist bei seinem Eintreffen in Paris zweifellos bereits ein Medienstar, und der Ton, den der Ideologe Sicard in der Gazette de France anschlägt, zeugt von einer geradezu atemlosen Erwartungshaltung: Cet enfant connu sous le nom de Sauvage de l’Aveyron, dont les journaux firent tant de bruit, il y a six mois, qu’on attendait à Paris avec le juste empressement que devait exciter le souvenir de la fille Leblanc, aussi sauvage, et quelques événements de la même espèce, consignés dans les mémoires de diverses académies; ce sauvage enfin, qu’on ne voyait point arriver, et dont on ne parlait plus, est arrivé le 18 thermidor, à dix heures du soir, à Paris […].83
Denn vorausgegangen und von der breiten Öffentlichkeit beäugt worden war eine bemerkenswerte Geschichte, die Bonnaterre und Virey mit leichten Abweichungen überliefern.84 Bereits im Jahr 1797 war in der Gegend um Lacaune ein nackter Junge, der sich in den Wäldern versteckt hielt und von Eicheln und Wurzeln ernährte, von Bauern gesehen worden. 1798 tauchte er erneut auf und wurde, trotz heftiger Gegenwehr, von Waldarbeitern nach Lacaune gebracht und dort mehrfach auf dem Marktplatz vorgeführt. Das Interesse der lokalen Öffentlichkeit ließ jedoch schnell nach, die Überwachung des Jungen war nachlässig, und so floh dieser bald wieder zurück in den Wald. Über die nächsten 15 Monate wurde immer wieder von Sichtungen am Waldrand berichtet, wo der Junge Kartoffeln und Rüben ausgrub und aß; auch wurden verschiedene Schlafplätze gefunden. Am 25. Juli 1799 entdeckten schließlich Jäger den Jungen, holten ihn von einem Baum herunter, verschnürten ihn gut, und brachten ihn wieder nach Lacaune – nun in die Obhut einer alten Witwe. Fleisch, sowohl roh als auch gekocht, lehnte das Kind ab, tat sich jedoch an Eicheln, Kastanien, Walnüssen und Kartoffeln gütlich. Acht Tage und mehrere Fluchtversuche später befand sich Victor wieder in Freiheit.
81 JEAN MARC GASPARD ITARD, De l’éducation d’un homme sauvage ou des premiers développements physiques et moraux du jeune sauvage de l’Aveyron, Paris 1801; DERS., Rapport fait à son Excellence le Ministre de l’Intérieur sur les nouveaux développements et l’état actuel du sauvage de l’Aveyron, Paris 1806. Beide als unveränderter Nachdruck in JEAN ITARD, Victor de l’Aveyron, précédé de Le Docteur Itard entre l’énigme et l’échec par François Dragognet, Paris 1994, nach dem i. d. F. zitiert wird. 82 JEAN–JACQUES VIREY, Dissertation Sur un jeune Enfant trouvé dans les forêts du département de l’Aveyron, comparé aux sauvages trouvés en Europe à diverses époques, avec des remarques sur l’état primitif de l’homme, in: DERS., Histoire naturelle du genre humain, Ou recherches sur ses principaux Fondemens physiques et moraux, Bd. 2, Paris An IX [1801], 289–350. Das erste Erscheinen der Dissertation datiert THIERRY GINESTE, Victor de l’Aveyron. Dernier enfant sauvage, premier enfant fou, Paris 1993, 225 auf Herbst 1800. 83 Gazette de France, 9. August 1800; zit. n. GINESTE, Victor, 142. 84 Für die Darstellung der Ereignisse wird im Wesentlichen der Zusammenfassung LANES gefolgt: HARLAN LANE, The Wild Boy of Aveyron; in: Horizon, 18:1 (1976), 32–38. Eine ausführlichere Darstellung etwa in GINESTE, Victor, 21 ff.
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Diesmal kehrte er jedoch nicht in den Wald zurück, sondern erreichte das weite Hochplateau zwischen Lacaune und Rocquecézière; er befand sich nun im Département Aveyron. Durch den Herbst und den folgenden, ausnehmend kalten Winter wanderte er durch diese kaum besiedelte Gegend, immer wieder die vereinzelten Höfe ansteuernd. Hier wurde er verpflegt, bis er wieder verschwand, wie er gekommen war. In dieser Zeit geben Berichte an, ihn in großer Geschwindigkeit auf allen Vieren laufend gesehen zu haben. Entlang der Lavergne und dem Vernoubre erreichte Victor schließlich das Dorf Saint-Sernin und betrat, offenbar angetrieben durch seine frühere freundliche Aufnahme durch die Bauern, am 8. Januar 1800 die Werkstatt eines Färbers namens Vidal, der die örtlichen Behörden informierte. Der Junge wurde dem Waisenhaus von St. Affrique überstellt. Er schien bei seiner Aufnahme dort ein Alter von 12 oder 15 Jahren zu haben, sprach nicht und stieß unartikulierte Schreie aus. Bald erfuhr Bonnaterre im nahe gelegenen Rodez von dem Jungen. Er dürfte der erste gewesen sein, der erkannte, dass Victor für die Wissenschaft ein Geschenk des Himmels sein konnte. Bereits Anfang Februar war der Junge in seiner Obhut. Vor allem die Zeitungen, aber auch die Berichte der Administration hatten den Fall zu diesem Zeitpunkt jedoch längst auch in Paris bekannt gemacht.85 Hier war es insbesondere Roche-Ambroise Sicard, renommierter Leiter der Taubstummenanstalt und Naturforscher, der ebenfalls sein Interesse anmeldete. Sicard stand darüber hinaus den Observateurs de l’homme vor, einer auch politisch einflussreichen Gesellschaft, die sich anthropologischen Studien verschrieben hatte.86 Deren Sekretär Jauffret hatte sich bereits am 29. Januar an die Verwaltung des Waisenhauses in St. Affrique gewandt und den Jungen für Paris reklamiert: Wenn die Berichte stimmten, sei es von enormer Bedeutung, dass von einem „observateur plein de zèle et de bonne foi“ geprüft werde, wie sich der Aufenthalt außerhalb der Zivilisation ausgewirkt habe. Präziser ausgedrückt: […] constater la somme de ses idées acquises, étudier la manière dont il les exprime et voir si la condition de l’homme abandonné à lui-même est tout à fait contraire au développement de l’intelligence.87
Da das Kind jedoch stattdessen bei Bonnaterre in Rodez landete, den man in Paris als Provinzler angesehen haben dürfte, nahm sich schließlich Innenminister Lucien Bonaparte der Sache an und übermittelte in einem Brief von 1. Februar seinen Anspruch an die Départementverwaltung: Sollten die Eltern nicht ausfindig zu machen sein, sei der Junge ihm unverzüglich zu überstellen.88 85 Vgl. GINESTE, Victor, 113 ff., der die Originaldokumente in großer Vollständigkeit versammelt. 86 Zu den Observateurs vgl. etwa SERGIO MORAVIA, Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, München 1973, 64 ff. 87 L. F. Jauffret […] aux administrateurs de l’hospice civil de St. Affrique, 29. Jan. 1800, in: GINESTE, Victor, 129. 88 „[…] si vous n’avez point d’espoir de découvrir les parents de cet infortuné, je le réclame et vous prie de me l’adresser sans délai.“ Première lettre de Lucien Bonaparte […] réclamant
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Bonnaterre mag geahnt haben, was auf den Jungen zukam. Er hatte bei Victor keinerlei äußerliche Auffälligkeiten89 und gute Sinne90, aber Sprachverlust91 und Leitung durch den Instinkt, wie bei den Tieren92, konstatiert – für ihn eindeutig Folgen des von der Gesellschaft isolierten Lebens. Noch nicht einmal unintelligent fand er den Jungen93, wenn er auch zubilligen musste, dass Vernunft im eigentlichen Sinne zu fehlen schien. Victor kreise nur um seine natürlichen Bedürfnisse, seine Sinneswahrnehmungen führten nicht zur Ausbildung von Ideen; noch weniger besitze er „la faculté de les comparer entr’elles […].“94 Insofern meinte Bonnaterre schon von einem „état de imbécillité“95 sprechen zu können, der sich auch im Verhalten Victors, seiner Unfähigkeit sich zu konzentrieren, seiner Fortbewegungsart – „toujours au trot ou au galop“96 – manifestierte. All dies müsse jedoch nicht in Frage stellen, dass eine Erziehung des Jungen möglich sei, habe doch „cet instituteur philosophe […] opéré tant des prodiges dans ce genre d’éducation […]“97 – gemeint war Sicard. Zunächst jedoch wurden die der Pariser enttäuscht – was, betrachtet man die messianischen Erwartungen Sicards, mit denen dieses Kapitel eingeleitet wurde, nicht Wunder nimmt. Keineswegs war Victor ein Beispiel für jenen glorifizierten état de la nature, den Rousseau selbst zwar nie so formuliert hatte, der aber unter den Primitivisten längst ein eigenes Leben führte. Vielmehr erschien ein egomanischer und verdreckter Halbwüchsiger, dem zudem bald unterstellt wurde, entwe-
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l’enfant, 1. Feb. 1800, in: GINESTE, Victor, 130. Es bedurfte allerdings noch eines zweiten Briefes (14. Februar 1800) bis das Kind endlich nach Paris geschickt wurde; vgl. ebd., 131 f. Vgl. BONNATERRE, Notice, 30. Allerdings in einer auffälligen Ausprägung, da der Tastsinn, der bei einem intelligenten Menschen den ersten Rang belege, kaum ausgeprägt sei; BONNATERRE, Notice, 34 f. Zur Bedeutung des Tastsinns in der sensualistischen Theorie s. u., Kap. 4.1. BONNATERRE, Notice, 35: „[…] il est totalement dépourvu du don de la parole, et ne fait entendre que des cris et de sons inarticulés.“ Ebd., 36 f.: „Livré par la nature au seul instinct, cet enfant n’exerce que des fonctions purement animales. […] ses desires ne dépassent pas ses besoins physiques. […] S’il manifeste quelques idées, elles ont pour objet les moyens d’entretenir son existence; si on reconnaît, en lui, quelque principe de raison, il n’applique qu’au besoin de lui-même; s’il semble posséder quelque trace de mémoire, il ne l’exerce que sur ce qui est relatif à la conservation de son individu.“ Ebd., 42: „Tous ces petits détails […] prouvent que cet enfant n’est pas totalement dépourvu d’intelligence, de réflexion ni de raisonnement.“ Ebd., 42. Ebd., 43. Dagegen FRIEDRICH KOCH, Das Wilde Kind. Die Geschichte einer gescheiterten Dressur, Hamburg 1997, 18, der meint, Bonnaterre habe ein klares Zeichen von Idiotie nicht feststellen können. Bonnaterre differenziert aber in der entsprechenden Passage: Zwar besitze der Junge intelligence, réflexion, raisonnement, aber nur in Bezug auf ses bésoins naturels. Dem werden aber die eigentlich dem Menschen zugeordneten kognitiven Fähigkeiten – Entwicklung und Komparation abstrakter Ideen – gegenübergestellt, die Victor eben nicht besitze. Hier fällt dann zwar nicht der Begriff Idiotie, aber der Terminus imbécillité. BONNATERRE, Notice, 43. Ebd., 50
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der ein „petit comédien qui joue passablement son rôle“98 oder „uniment un imbécile, qui n’a aucune espèce d’intelligence, et qui n’est guidé que par l’instinct“99 zu sein. Mitten in diese weitgehend ohne Fundamentierung betriebenen Auseinandersetzungen platzte jedoch die Veröffentlichung der längeren Schriften Bonnaterres und Vireys, die in dem Jungen beide weder einen Betrüger noch einen Idioten seit Geburt sahen und zum ersten Mal wirkliche Fakten lieferten. Vor allem Virey schien nachgerade abgestoßen von der Erkenntnis, in was für eine Schlangengrube der unbedarfte Junge geraten war: „Va, jeune infortuné, sur cette terre malheureuse, va perdre dans les liens civils ta primitive et simple rudesse. […] Maintenant tu n’as plus rien par la bienfaisance de l’homme; tu es à sa merci, sans propriété, sans puissance, et tu passes de la liberté à la dépendance.“100 Die gerade etwas entspannte Lage sollte jedoch bald eine neue Wendung in der Gestalt Philippe Pinels erhalten. Dieser, Aushängeschild der Pariser Schule, „streng klinisch-symptomatologisch und pathologisch-anatomisch orientiert“101, galt als einer der bedeutendsten Psychiater. Er hatte die kriminalisierende Behandlung der „Irren“ reformiert, hier bedeutende Fortschritte erreicht und galt als Sensualist. So muss seine Diagnose für Sicard und die Observateurs, die das Gutachten über Victor in Auftrag gegeben hatten, welcher in die Anstalt von Bicêtre gebracht worden war, wie ein Schlag gekommen sein102: Bislang habe trotz intensiver Betreuung keinerlei Fortschritt in seinen Geistesfähigkeiten festgestellt werden können, und so müsse man sich wohl damit anfreunden, Victor aus der Liste von sauvages, die Bonnaterre seinem Bericht vorangestellt hatte, zu entfernen. Vergleiche man ihn mit jenen Fällen, die Pinel aus seiner täglichen Praxis kannte, finde sich kein Unterschied: „il doit être entièrement rangé parmi les enfants d’idiotisme et de démence […].“103 Und: Dies sei ohne Frage bereits der Fall gewesen, bevor er in die Wildnis geriet, denn der Knabe zeige dementsprechende körperliche Auffälligkeiten. Seine Eltern hätten ihn wohl im Alter von etwa neun oder zehn Jahren ausgesetzt, sein gut ausgeprägter Geruchssinn habe ihm in der Wildnis über die Runden geholfen. Am besten, man überstelle ihn einer Anstalt, in der ihm geholfen werden könne –Pinels Hôtel-Dieu.104 Sicard, der seine Felle allmählich schwimmen gesehen haben mag, aber noch nicht an Aufgabe dachte, disponierte jedoch anders. Statt Victor an Pinel zu überstellen, richtete er an seinem Institut eine Stelle für einen Anstaltsarzt ein, der sich 98 So G. FEYDEL im Journal de Paris vom 10. August 1800, in: GINESTE, Victor, 146–147. Feydel wettete darauf nicht weniger als 24 Franc. Es entwickelte sich ein lebhafter Austausch über die Gazetten. 99 M...n, octogénaire, au citoyen Feydel, 24. Okt. 1800 in: GINESTE, Victor, 177. 100 VIREY, Dissertation, 348 f. 101 WOLFGANG U. ECKART, Geschichte der Medizin, Berlin u. a. 21994, 214. Die Pariser Schule baute lt. Eckart auf drei Fundamenten auf: Exakte empirische Beobachtung des Patienten; physikalische Untersuchung und postmortale Sektion. 102 PHILIPPE PINEL, Rapport fait à la société des Observateurs de l’homme sur l’enfant connu sous le nom de sauvage de l’Aveyron, 29. Nov. 1800, in: GINESTE, Victor, 249–260 und 271– 279. Der Rapport zerfällt in zwei Teile. 103 Ebd., 278. 104 Ebd.
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dem Fall widmen sollte. Die Wahl fiel schließlich auf Jean Marc Gaspard Itard, einen erst 26-jährigen Schüler Pinels. Dieser wiederum glaubte fest an die Möglichkeit, den Jungen erziehen zu können: Ehrgeiz mag hier eine Rolle gespielt haben, sicher aber auch die Tatsache, dass Itard glaubte, das sensualistische Konzept Condillacs an dem Fall überprüfen zu können.105 Bereits im Spätsommer 1801 legte Itard den ersten Rapport vor, der seine fünfschrittige Methode explizierte: Erstens müsse Victor in das Gesellschaftsleben eingebunden werden, indem er es schätzen lerne; zweitens müsse seine sensibilité nerveuse erhöht werden; drittens sei seine sphère des idées auszuweiten, indem man ihm neue Bedürfnisse verschaffe und so den Kontakt mit der Außenwelt steigere; viertens müsse man ihn zur Sprache bringen, indem er die Notwendigkeit derselben akzeptiere; fünftens schließlich müsse man es schaffen, seine geistige Aufmerksamkeit auf einfache Tätigkeiten zu fokussieren.106 Es scheint, dass Itard tatsächlich den Prämissen Condillacs folgte107: Sein ganzes Programm war darauf angelegt, den ganz um sich und seine Minimalbedürfnisse kreisenden Victor diesem Zirkel zu entreißen, ihm neue Sinneseindrücke zu vermitteln. Diese konnten jedoch nur von der Gesellschaft kommen, so dass zunächst Victors Sozialphobie, koste es, was es wolle, überwunden werden musste. Itard sah sich jedoch bald vor Problemen: Victors Sinne zu reizen stellte sich als schwierig heraus, denn der Junge war vom Leben in der Natur so abgestumpft, dass er weder Kälte noch Hitze wahrzunehmen schien. Wo Rousseau im Emile empfohlen hatte, die Zöglinge nicht zu verzärteln, sondern abzuhärten, ging Itard einen umgekehrten Weg: Er packte Victor sozusagen in Watte, um ihn aus dieser nach einiger Zeit wieder herausreißen zu können. Auch Schritt drei seines Programms gestaltete sich schwierig, und Itard räumte ein, er sei „loin de captiver son attention“108; angebotenes Spielzeug zerstöre Victor lieber als es zu benutzen. Über den Spracherwerb machte sich Itard noch keine Sorgen; ging er nach Condillacs Hypothese vor, konnte man diesen ohnehin erst erwarten, wenn Victor einigermaßen am gesellschaftlichen Leben teilnahm. Dass am Ende des Berichts dennoch Hoffnung und Optimismus überwogen, mochte mit den Fortschritten bezüglich der Konzentrationsfähigkeit Victors zusammenhängen, der nach längeren Vorarbeiten immerhin das Wort LAIT richtig legen konnte. Victor besaß Erinnerungsvermögen, und er hatte sich bereits den Umständen angepasst. Es spricht Bände, dass derselbe Itard, der 1801 binnen kürzester Zeit Rapport erstattet, 1806 erst einer Aufforderung des Innenministers bedarf: Der Wissen105 Um die Mitte des 18. Jahrhunderts spielt Condillac eine kaum zu überschätzende Rolle in der Verbreitung der Fallgeschichten. Um Dopplungen zu vermeiden, wird hier auf eine Darstellung des Sensualismus verzichtet; sie findet sich weiter unten (Kap. 4.1.4.). 106 Vgl. ITARD, De l’éducation d’un homme sauvage, 14 f. 107 Allerdings bestreitet GINESTE, Victor, 99, dass Itard selbst Anhänger der sensualistischen Theorie war. Ihm sei es darum gegangen, die Grenzen eben dieser Theorie aufzuzeigen. Erst das 19. Jahrhundert, in dem die Zurückweisung der Erziehbarkeit eine ideologische Fundamentierung erhielt, habe ihn als überzeugten Jünger Condillacs deklariert, weil dies besser ins Bild gepasst habe. Vgl. ebd., 94 ff. 108 Ebd., 27.
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schaft, ja der ganzen Menschheit dürste nach einem Bericht, den Itard, der den Knaben seit fünf Jahren in seinem Gewahrsam habe, doch bitte endlich abfassen möge.109 Der Bericht war – um es kurz zu machen – eine einzige Enttäuschung, zumindest wenn man die Erwartungshaltung der Observateurs und der Öffentlichkeit als Maßstab nimmt. Zwar ließen sich weitere kleine Fortschritte verzeichnen, aber schon zu Beginn bemühte sich Itard so händeringend um eine Relativierung der Erwartungen, dass Schlimmes zu erwarten war. Man müsse, wolle man der Bedeutung der Entwicklungen gerecht werden, Victor zuallererst mit sich selbst vergleichen, als er in Paris eintraf. Zwischen diesen Zuständen befänden sich Welten. Dann jedoch fährt Itard fort: Rapproché d’un adolescent du même âge, il n’est plus qu’un être disgracié, rebut de la nature, comme il le fut de la société.110
In fünf Jahren war Victor nicht zur Sprache gelangt und weit davon entfernt, ein eigenständiges Leben führen zu können. Das Erziehungsprojekt wurde beendet, Victor verblieb bei Madame Guérin, der Haushälterin Itards, die sich ohnehin intensiv um den Jungen gekümmert hatte. 26 Jahre später verstarb er, ohne dass die Öffentlichkeit davon irgendwelche Notiz genommen hätte. Immer wieder ist heftig diskutiert worden, warum die Erziehung Victors fehlschlug. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte sich zunächst die Auffassung durch, die Pinel bereits 1800 vertreten hatte: Der Junge sei von Geburt an schwachsinnig gewesen, worauf auch verschiedene physiologische Besonderheiten der Schädelformation verwiesen. Auf diese Linie schwenkte vor allem die mittlerweile physiologisch orientierte Anthropologie ein, von der in Kapitel 4.5. noch zu reden sein wird. Die Debatte ist jedoch in den Erziehungswissenschaften bis heute lebendig geblieben. So vertrat KOCH die These, dass Victor ein Opfer der Erziehungsmethoden und der dahinterliegenden Ideologie geworden sei111; ein Befund, gegen den sich DAMMER, der hier die historische Perspektive vermisste, bald darauf in recht scharfer Form wandte.112 Die Debatte, ob Victor nun erziehbar war oder nicht – sie schwelt bis heute. Das Scheitern des Projektes zu Beginn des 19. Jahrhunderts lässt sich jedoch auch als Schwanengesang auf die Aufklärungspostulate deuten. Gelänge die Reintegration Victors, glaubte noch Itard,
109 „Je sais, Monsieur, que vous avez donné des soins aussi généreux qu’assidus à la éducation du jeune Victor, qui vous fut confié il y a cinq ans. Il importe à la humanité et à la science d’en connaître le résultat. Je vous invite donc á m’en transmettre un compte détaillé qui me mette à même de comparer l’état dans lequel il était à son arrivée, avec celui où il se trouve aujourd’hui. […] Vous ne devez voir dans ces mesures que le désir de rendre justice à votre zèle.“ Le Ministre de l’Intérieur à M. Itard […], 13. Juni 1806, in: GINESTE, Victor, 390. 110 ITARD, Rapport fait à son Excellence, 64. 111 KOCH, Das Wilde Kind, 45: „Meine These lautet, daß er ein Opfer jener Erziehung wurde, die dem Kind nach festgefügten Normen und Prinzipien ein rigoroses Lernprogramm überstülpt, bei dem jede Möglichkeit eine reigenständigen Entwicklung nahezu restlos verkommen muss.“ 112 KARL-HEINZ DAMMER, „Wolfskinder“ oder der Mythos der Zivilisation, in: Pädagogische Korrespondenz, 24 (1999), 60–83, insbes. 79 ff.
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so wäre die Veränderbarkeit selbst des rohesten Vertreters der Gattung zu einem Vernunftwesen und damit nicht nur die Überlegenheit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem statischen Feudalismus, sondern auch die Zivilisierbarkeit der ‚wilden‘ Völker und damit die Universalisierbarkeit des aufklärerischen Menschenbildes erwiesen.113
Dass Itard sein Ziel 1806 nicht erreichte, erscheint fast als Parabel, als Vorwegnahme der restaurativen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts. Und ebenso wie Victor nicht in die französische Gesellschaft integriert wurde, zerplatzte der Traum von der fraternité im Nationalismus. Die Historien der Wilden Kinder überlebten auch diese postrevolutionäre Verwerfung; allerdings zu einem Preis, der weiter unten noch zu bezeichnen sein wird. 1.1.10 Ein Phantom? Der Wilde Junge von Barra Der vielleicht merkwürdigste aller Fälle soll hier, außerhalb der chronologischen Reihe, wenigstens kurz angesprochen werden. 1759 erscheint in Frankfurt und Leipzig eine anonyme Schrift von 80 Seiten unter dem Titel Ausführliches Leben und besondere Schiksale eines wilden Knaben von zwölf Jahren der zu Barra einer Schottländischen Insel von zweyen berühmten Aerzten gefangen und auferzogen worden.114 Der Inhalt wurde zwar in der Folge kaum – und, so weit zu sehen ist, außerhalb des deutschen Sprachraums im 18. Jahrhundert gar nicht – rezipiert, soll hier aber aus anderen Gründen wenigstens skizziert werden. Sommer 1756 betreibt der, wie das Vorwort zu berichten weiß, „bekannte Physicus zu Edinburg, Milsintown“115, auf der schottischen Insel Barra naturkundliche Studien; sein Freund Wilsay tut gleiches auf der benachbarten Insel Harrey. Milsintown findet dabei jedoch nicht nur Schnecken und sonstiges Getier, 113 Ebd. RUTSCHKY verweist zudem darauf, dass Erziehung generell als bürgerliches Kampfmittel gegen den Adel eingesetzt worden sei: „Das Bürgertum erwies sich dem Adel insofern überlegen, als es die pädagogische Operationalisierbarkeit des zivilisatorischen Zwanges zum Prinzip der Entwicklung machte oder besser: machen wollte. Der Bürger musste sich mehr Gewalt antun, um wenigstens ‚moralisch‘, dem inneren Anspruch nach, der Person von Stand überlegen zu sein. Erziehung ist auch eine Institutionalisierung dieser Gewalt […]. Die im 18. Jh. originelle und radikale These […], daß Kinder Kinder sind, ehe sie als erzogene Erwachsene ernst genommen werden können, enthüllt ihre strategische Bedeutung erst in diesem gesellschaftlichen und lebensgeschichtlichen Kontext. Sie hat neben ihrem Erkenntnis- auch einen Kampfwert, der vom Erkenntniswert nicht zu trennen ist.“ KATHARINA RUTSCHKY (Hg.), Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung, Berlin 1997, XXXV f. 114 Ausführliches Leben und besondere Schiksale eines wilden Knaben von zwölf Jahren der zu Barra einer Schottländischen Insel von zweyen berühmten Aerzten gefangen und auferzogen worden, Frankfurt; Leipzig 1759. Handschriftlicher Vermerk auf der Titelseite des für diese Arbeit verwendeten Bandes (SUB Göttingen, 8° Hist. Un. III, 159): „von Milsintown“. DIETER RICHTER (Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a. M. 1987, 168) weist auf eine andere deutsche Auflage (Ulm 1760) hin, der noch mindestens eine weitere, Frankfurt und Leipzig 1762 (BSB München, Anthr. 84 t), folgte; „Schiksale“ ist hier zu „Schicksale“ geändert: Das Buch war also ein heimlicher Publikumserfolg. 115 Ebd., Vorwort, o. P. (4).
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sondern vor allem merkwürdige „Fußstapfen eines Menschen; doch waren sie nicht so, wie der Mensch ordentlich gehet, sondern, als wenn ein wenig seitwärts derselben mit eine Menschenhand […] der Boden überfahren worden wäre.“116 Die zugehörige „Kreatur“ ist nur aus der Ferne sichtbar, heult aber markerschütternd und flieht, nicht ohne Drohgesten, vor dem heranpreschenden Medicus. Nun wird klar, warum die Fußspuren so merkwürdig aussahen: Das Wesen bewegt sich im Stil eines jagenden Windhundes, die Arme nach vorne werfend, dann die Beine nachziehend.117 Kurz bevor es verschwindet, sieht der verblüffte Milsintown noch, wie es sich an einem Bach „seine Haare am Leib vom Sande zu reinigen“118 versucht. Nach mehrtägiger Suche, nur schwach sekundiert von abergläubischen Schotten, findet man das Wesen wieder. Es ist ein „Knabe von 14 bis 15 Jahren“119, jedoch „nakend, schwarz und zottigt am Leibe.“120 Von einem zerstörten Kahn, der unterhalb liegt, versucht er „allerhand Wurzeln“ zu seiner Behausung zu bringen. Da er sich vierfüßig bewegt, trägt er diese „im Munde, der entsetzlich anzusehen, und ehender einem Löwenrachen ähnlich war.“121 Insgesamt findet Milsintown zwar durchaus „etwas, das ihn zum Menschen machte, nur war er […] was gewisse Handlungen anbetrift, thierisch […].“122 Nach einiger Zeit der Beobachtung hält es der Arzt schließlich für seine Pflicht, den Knaben zu fangen: „Es war ein Mensch, dem wir sein höchstes Gut, die Menschlichkeit, geben sollten, und wir sahen uns überdis zu dem edlen Beruf bestimmt, einen Wilden zum Christenmenschen zu machen.“123 Man entwickelt einen erstaunlich ausgeklügelten Plan – und hat schließlich Erfolg. Aus der sich anschließenden Begutachtung des Fangs ergibt sich: Auf der linken Hinterbacke ist ein Buchstabe, „so ein römisches V vorstellte, eingebrannt […]; an den Ohren hatte er Löcher“124 – also ein Sklave. Die Stirn des sehr großen Kopfes ist mit Narben bedeckt, der Mund in den Winkeln bis „fast an die Ohren aufgeschlitzt“. Eine „breite hochrothe Zunge […] zwischen grossen breiten weissen, und oben sehr spitzigen Zähnen […] machte das Aussehen noch fürchterlicher.“125 Und das ist nur der Kopf, denn an „dem ganzen obern Leib waren viele Haare, und an manchen Orten wie ganz zottigt zu sehen, und die Farbe der Haut war fast dunkelgelb, so ins Schwärzliche fället.“126 Die Fingernägel sind „wie Adlersklauen“.127 Mit der Sprache gibt es ebenfalls 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127
Ebd., 8. Ebd., 10. Ebd., 11. Ebd., 17. Ebd., 16. Ebd. Ebd. Ebd., 24. Zu den sich in den Reflexionen Milsintowns äußernden Leitideen, auf die hier nicht näher eingegangen wird, vgl. RICHTER, Das fremde Kind, 150 ff. Ausführliches Leben und besondere Schiksale, 35. Ebd., 35 f. Ebd. 36. Ebd., 32.
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Probleme, ist diese doch durch „seinen Rachen und seine sehr schwere Zunge […] behindert […].“128 Der gefangene Wilde – der, wie man mutmaßt, von einem einige Zeit zuvor an den Gestaden einer benachbarten Insel gestrandeten spanischen Schiff stammt – zeigt einen erheblichen Freiheitsdrang, so dass man ihn fesselt.129 Schließlich gewöhnt er sich aber an die neuen Umstände, spielt mit den Kindern, ahmt deren Geräusche nach. Nur die Schürze aus Seehundfell, die der moralische Mediziner für ihn hatte anfertigen lassen, findet nicht den erhofften Zuspruch: „Ueber diese wollte er sich hermachen, und sie zerreissen.“130 Brot mag er nicht, Fleisch am liebsten roh, gekochtes „mit Widerwillen“ und keinesfalls wenn es nicht „Blut an sich zeigte, und etwas weich war […].“131 Seine Wärter, mit denen er sich behelfsmäßig verständigen kann, nennen ihn schließlich Eduard. Doch Eduard erkrankt, und man bringt ihn notgedrungen nach Dublin zu dem „berühmten Dr. Patrik, der eine besondere Erfahrenheit auf seinen Africanischen Reisen erlanget hatte.“132 Dieser, prädestiniert durch seine vieljährigen Bemühungen „die Natur der Mohren zu durchforschen“133, erweist sich als überaus kompetent und identifiziert Eduard als einen „von denen, die auf der Küste von Guinea von den Holländern, als Sclaven nach America […] verhandelt werden […].“134 Zudem ist Patrik findig: Er verkleidet und maskiert kurzerhand einen Diener als Mohren. Diesem werden Instruktionen „über gewisse Sprünge […] wie die Africaner einander bewillkommen“ gegeben und eine „Art von Trommeln“ in die Hände gedrückt.135 Was folgt, ist nichts als Wiedersehensfreude, und Eduard zeigt seinem neuen Gefährten in den nächsten Tagen, was er alles kann: fremdartig reden, tanzen, Kokosnüsse essen, Kaffee trinken, sich endlos im Wasser aufhalten, Kanu fahren.136 Patrik denkt auch an, dem Wilden mittels der Wunder der Chirurgie – das Löwenmaul! – den Erwerb einer „Europäischen Sprache, welche mit Consonanten versehen ist“137, zu ermöglichen. Die Operation gelingt jedoch nur halb, nämlich auf der linken Seite des Mundes, während sich Eduard – wen wundert’s? – gegen die nochmalige Durchführung einer Prozedur, bei der „die Nadeln nicht im Fleisch halten wollen“ und er bereits „allzuviel Blut verlohren“ hatte, erfolgreich wehrt.138 Resultat: „Unterdessen sah unser Wilder jezo noch scheußlicher aus, als vorhin […].“139 128 Ebd. 36. 129 Ebd., 38. Verwundert wird angemerkt: „Ueber dieses schien er sich wol gar zu Tode zu grämen […].“ 130 Ebd., 40. 131 Ebd., 41. 132 Ebd., 53. 133 Ebd., 55. 134 Ebd. 135 Ebd., 56. 136 Ebd., 56 ff. 137 Ebd., 63. 138 Ebd., 64. 139 Ebd., 65.
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Mittlerweile findet sich auch interessiertes Publikum ein, und als der geschwächte Eduard den spanischen Kaufmann Don Josepho Valverde, der in der Nähe Barras 1755 Schiffbruch erlitten hatte, trifft, ist sein Fall geklärt: jedenfalls für den Leser, der den Windungen des Handlungsverlaufes zu folgen vermag, denn Valverde hatte von Curacao eine Mohrin nebst zwey Kindern mitgenommen, die er an den Commandanten von Cadix mitzubringen versprochen hatte, welcher aus besondern Ursachen sich des Schiksals dieser Frauen, die unter den daselbstigen Mohren vieles bedeutete, auf dieses Val de Verde Schreiben an denselben, annehmen wollte. Diese Frau war mit ihme glüklich auf besagtes Eyland gekommen; ihre Kinder aber, die sich mit noch einem andern Sklaven oben auf dem Verdek befanden, wurden vermisset, und die Betrübnis dieser Weibsperson über deren Verlust […] warf sie nieder, daß sie etliche Tage darauf mit dem Tod bezahlen muste.140
Außerdem weiß der Spanier: Eduard ist von vornehmer Herkunft, nur elf oder zwölf Jahre alt, und sein Vater, Owan, ehemals „der oberste Sklave bey dem Holländischen Commandanten“ in Curacao, war beteiligt an einem abgefeimten und von den Spaniern unterstützten Sklavenaufstand. Dieser Plan fliegt auf, und Owan wird „an Armen und Beinen mit glüenden Zangen geknippt und gerädert, der Kopf ihme abgehauen, und an der Oberseite des Flusses auf eine Pfal gestekt, der Körper aber hingegen verbrannt.“141 Diese Neuaufnahme der Leidensgeschichte des Vaters und die Nachricht vom Tod seiner Mutter scheinen Eduard den Rest zu geben; er wird unheilbar krank und verstirbt schließlich am 18. April 1757. Milsintowns letzte Reverenz: „Sein Cadaver stehet nun auf dem grossen Saal der anatomischen Akademie zu Edenburg, und erhält noch sein Angedenken.“142 In seiner schier unglaublichen Anhäufung von Sensationellem übertrifft dieser Fall alles Vergleichbare. Kein Topos, der ausgelassen worden wäre: Behaarung, Vierfüßigkeit, Mangel der Sprache sind sowieso vorhanden, dazu kommen jene räuberpistolenartigen Elemente, die hier nicht wiederholt werden müssen. Kurz: Schon nach wenigen Seiten drängt sich der Eindruck auf, es gehe nicht mit rechten Dingen zu – was sich, je länger man mit dem Text arbeitet, potenziert. Bereits oben wurde bemerkt, dass das Ausführliche Leben bemerkenswert wenig rezipiert wurde. Tafel verzeichnet den Fall – man muss sagen, zähneknirschend –, bei Schreber fehlt er jedoch noch.143 Dies dürfte seine Gründe haben: Beginnt man nach der Ursprungsquelle zu forschen, läuft man in eine Sackgasse. Das Vorwort gibt Milsintown als Verfasser an, im Text selbst findet sich der Verweis des Ich-Erzählers, dass Arbeiten auch unter dem Namen Wilsytown in
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Ebd., 74. Ebd., 77. Ebd., 80. TAFEL, Fundamentalphilosophie, 116 ff. Tafel möchte das Kind nicht wirklich als Beispiel gelten lassen, denn zwar war der „nach der Insel Barra verschlagene Negerknabe […] übel gestaltet, allein nicht ohne Erinnerung seines vorigen Zustandes.“ Tafel gibt zwar den korrekten Titel der Quelle, übernimmt seine Bewertung allerdings – mit korrektem Verweis – aus CARL ASMUND RUDOLPHIS Grundriss der Physiologie, Erster Band, Berlin 1821, 25. Mit diesem Satz erschöpft sich allerdings auch schon alles, was Rudolphi dazu zu sagen hat.
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den Essais historiques de la Republique de Lettres erschienen seien.144 Nach beiden Namen bibliographiert man jedoch vergebens: Zwar gibt es tatsächlich mehrere auch literarisch tätige Viscount Milsintowns145; von diesen kommt aber keiner als Autor in Frage. Auch eine Suche nach naheliegenden englischen oder französischen Titeln erbrachte keinerlei Ergebnis, und Lord Monboddo, selbst Schotte und mit einem geradezu manischen Interesse an Wilden Kindern versehen, kannte die Schrift offenbar nicht. Die einschlägige Sekundärliteratur – auch die englische – verzeichnet stets die deutsche Ausgabe, häufig mit dem stereotypen Hinweis, es handele sich hier um die Übersetzung eines englischen Originals.146 Immerhin liefert der Text ja noch einen weiteren Hinweis, nämlich dass Milsintown mit der medizinischen Fakultät der Universität Edinburgh in engster Verbindung stand, wo ja auch Eduards Leichnam angeblich ruhte. Allein, auch hier scheint sich die Spur zu verlaufen. Handelt es sich also um ein fiktives Produkt, das an den Erfolg des Merkwürdigen Lebens Marie-Angéliques anknüpfen wollte? Hierauf deutet vieles: Die Arbeit an dem Bericht über Eduard scheint in unmittelbarer zeitlicher Folge begonnen worden zu sein, der Umfang beider Arbeiten ist gleich, beide erschienen, leider ohne Verlagsangabe, in Frankfurt und Leipzig. Auch sind viele Inhalte austauschbar und sollten wohl die Erwartungshaltung der Leserschaft bedienen: Die Verschiffung in abenteuerlichen Etappen aus einem fernen Land, die Sklavenfrage, die Holländer als Erzschurken, Eduards Hautfarbe, seine Bewaffnung mit einem „Prügel“147, seine Bevorzugung roher Kost, sein Erkranken. Hinzu kommen Elemente, die sich bereits in den Berichten über Peter von Hameln finden: Das Zerreißen der Kleidung, der schnelle Kontakt zu Kindern. Immerhin wurde jedoch ein erheblicher Aufwand investiert, etwa in einigen Verweisen auf medizinische und naturhistorische Literatur, deren Kenntnis dem „Autor“ Milsintown wohl zu Gesicht stehen mochte. Auch ist die Insel Barra 144 Ausführliches Leben und besondere Schiksale, 68 (Fußnote n). 145 Etwa Thomas Clarkson, Viscount Milsintown, der zwar mehrere Traktate zur Sklavenfrage veröffentlichte, leider aber von 1760–1814 lebte. Vgl. THOMAS CLARKSON, An essay on the slavery and commerce of the human species, particularly the African, translated from a Latin dissertation, which was honoured with the first prize in the University of Cambridge, for the year 1785 […], London 1786. 146 So liefert, um ein rezentes Beispiel anzuführen, MARTIN KITCHENER (Kaspar Hauser. Europe’s Child, Basingstoke 2001, 196) nach der Zitation der deutschen Version den Verweis: „This is a German translation of an English [!] original. The pamphlet was also translated into French.“ Diese Quellen scheinen aber nicht vorgelegen zu haben, sie werden jedenfalls weder hier zitiert noch in der Bibliographie erfasst. Selbst Tafel, der eine pedantische Quellenrecherche betrieb, kannte das angebliche Primärmaterial nicht. RICHTER, Das fremde Kind, 168 wundert sich insofern zu Recht darüber, dass der Fall „soweit ich sehe, unbekannt geblieben ist; weder die Zusammenstellung von Rauber, 1885, noch die von Malson/Mannoni, 1964, erwähnt ihn.“ BLUMENTHAL, Kaspar Hausers Geschwister, 118 zieht zwar in Erwägung, dass der Bericht die „Erfindung des anonymen Übersetzers“ sein könnte, scheut sich aber gleichwohl nicht, die „Arroganz“ des Erziehungsversuchs zu kritisieren, Eduard, den „wissenschaftliche Kaltschnäuzigkeit“ zum Opfer machte, zu bedauern und in Milsintowns Äußerungen die „eisige Wärme des Dompteurs“ zu verspüren. 147 Ausführliches Leben und besondere Schiksale, 16.
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durchaus existent, und EDWARD BURT verzeichnet 1755 eine in den Highlands kursierende Geschichte über „a Spanish ship being stranded upon the coast of Barra […]“, ohne aber nur im geringsten einen Sklaventransport oder gar schiffbrüchigen Mohren, der doch wohl schnell in die Folklore übergewandert wäre, zu erwähnen.148 Mögliche Einwände des Lesers werden in einigen Fußnoten antizipiert und beseitigt, etwa wenn Milsintowns Plan, den Jungen zu fangen, einige Fragezeichen hinterlassen konnte.149 Wer sich dennoch auf die Suche nach der Originalquelle begeben wollte, stand ohnehin vor einem Problem, behauptete der Verfasser der Vorrede doch, der deutschen Version liege bereits die französische Übersetzung eines „Medicus, der zu seinem künftigen Ruhm den Stoff auf Reisen zusammenträget“ zugrunde. Dieser habe das Werk aus der „Schottländischen Sprache, die noch weit schwerer, als die Englische“ zu verstehen sei, übertragen. Gerade dieses Bemühen um elegante Lösungen, die sich auch in der Handlung immer wieder finden, macht den Text zusätzlich suspekt; es steht in Gegensatz zu Milsintowns ach so erregter Gemütsverfassung und allem, was die übrigen Quellen berichten. Die Liste der Verdachtsmomente ließe sich fortsetzen, bis hin zu dem Punkt, dass der irische Kolonialarzt natürlich Patrik heißen muss. Eines weist der Bericht über den Knaben von Barra gerade aufgrund seines wohl fiktiven Charakters jedoch mit überdeutlicher Klarheit nach: wie sehr sich um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine spezifische Erwartungshaltung bezüglich des Aussehens und Verhaltens Wilder Kinder bereits verfestigt hatte und dass deren Schicksale begierig verfolgt wurden. 1.2. EIN ÜBERSTRAPAZIERTES MARGINALTHEMA? Beiträge zum Thema Wilde Kinder werden gerne mit einer fast apologetischen Wendung eingeleitet: Der Autor weist seinen Leser darauf hin, dass er sich einem marginalen Thema zu nähern gedenke, betont, dass eine Beschäftigung mit demselben dennoch vielversprechend sei und bittet sein imaginäres Gegenüber doch freundlich genug zu sein, die Bedenken gegenüber einem so exotischen Gegenstandsbereich fallen zu lassen. Mag dies innerhalb der Einzeldisziplinen auch berechtigt sein, so bestätigt die Gesamtschau auf die verfügbare Literatur keineswegs die geläufige Annahme, es hier mit einem Randthema zu tun zu haben. Im 148 EDWARD BURT, Letters from a gentleman in the north of Scotland to his friend in London. Containing the description of a capital town in that northern country […], 2 Bde., Dublin 1755; hier Bd. 2, Letter XXV, 320. Es existiert eine zweite Auflage London 1759 mit einer identischen Passage (Bd. 2, 281). 149 Der Zusammenhang ist komplex, hier mag genügen, dass das Gelingen des Plans einen sehr steilen Berg voraussetzte, den Milsintown aber in der Form nicht erwähnt. Der „Übersetzer“ kann das Problem aber durch „Solenandro in seinen Consult. medic. Sect. II.“ aus dem Weg schaffen; hier stehe deutlich, „daß es auf den Schottischen Inseln sehr steile und fast auf einmal von der Erde aufsteigende Berge gebe.“ Vielleicht habe er aber auch falsch übersetzt, und Milsintown meine eine Klippe. Letztere Frage wird sich mangels eines Originaltextes wohl nicht klären lassen.
1.2. Ein überstrapaziertes Marginalthema?
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Gegenteil stellt sich die Aufgabe, einen Eindruck vom Forschungsstand und von den Prozessen, die zu diesem führten, zu gewinnen, als schwierig heraus: Nicht, weil es keine Literatur geben würde, sondern weil man diese kaum mehr überblicken kann und folglich filtern muss.150 So wurde hier versucht, einen möglichst breit gefächerten Überblick bereit zu stellen, der jedoch an einigen Stellen das zur Verfügung stehende Material keinesfalls in ganzer Tiefe auslotet. Die Rezeptionsgeschichte des 18. Jahrhunderts dagegen bildet ohnehin den Schwerpunkt der Arbeit und wird daher zunächst nicht weiter beachtet. Im 19. Jahrhundert fielen – so die gängige Meinung – die Fälle der Wilden Kinder allmählich der Vergessenheit anheim und wurden kaum mehr ernsthaft zur Theoriebildung in Betracht gezogen wurden. Von einem vollständigen Bruch in der Rezeptionslinie kann jedoch keinesfalls die Rede sein: Während bis etwa in die 1830er Jahre hinein eine sehr direkte Auseinandersetzung mit Theorien und Hypothesen der Aufklärungszeit spürbar ist, welche die Wilden Kinder aufgrund ihres festen Platzes in diesen Schriften nicht übergehen konnte151, veröffentlichten TAFEL152 (1848) und RAUBER153 (1885) voluminöse Abhandlungen, deren Bedeutung für die Tradierung der Fälle ins 20. Jahrhundert kaum zu überschätzen ist. Auch finden sich vereinzelte Verweise in populär gehaltenen Kuriositätensammlungen, etwa in HENRY WILSONS 1821 erschienenem Wonderful Characters, das Peter von Hameln immerhin acht Seiten widmet.154 TYLOR, ein Vertreter der britischen Anthropologie – hier nun im Sinne der Erforschung der menschlichen Urgeschichte – nahm die Fälle auf, hielt deren Wahrheitsgehalt jedoch für zweifelhaft.155 Es sei unmöglich zu sagen, inwieweit ihr elender Zustand das Resultat fehlender Erziehung und inwieweit von angeborener Idiotie gewesen sei.156 Trotz dieser eher agnostischen Haltung meinte er jedoch festhalten zu können: 150 Mittlerweile existiert sogar eine hochprofessionell gestaltete und offensichtlich auch kommerziell ergiebige Website: Feral children.com. Isolierte, eingesperrte, Wolfskinder und wilde Kinder, URL: http://www.feralchildren.com/de/index.php 151 Diese Quellen werden weiter unten detailliert diskutiert; hier daher nur pars pro toto: FRANZ JOSEF GALL & G. SPURZHEIM, Anatomie et physiologie du système nerveux en générale et du cerveau en particulier, Paris 1810–19; JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, Beyträge zur Naturgeschichte. Zweyter Theil, Göttingen 1811; JEAN ETIENNE DOMINIQUE ESQUIROL, Des maladies mentales considérées sous les rapports médical, hygiénique et médico-légal, 2 Bde., Paris 1838; KARL ASMUND RUDOLPHI, Grundriss der Physiologie, Bd. 1, Berlin 1821; RUDOLF W. WAGNER, Naturgeschichte des Menschen. Handbuch der populären Anthropologie für Vorlesungen und zum Selbstunterricht, 2 Bde., Kempten 1831. 152 JOHANN FRIEDRICH IMMANUEL TAFEL, Die Fundamentalphilosophie in genetischer Entwicklung, mit besonderer Rücksicht auf die Geschichte jedes einzelnen Problems, Erster Theil, Tübingen 1848; zweiter Teil nicht erschienen. 153 AUGUST RAUBER, Homo sapiens ferus oder die Zustände der Verwilderten und ihre Bedeutung für Wissenschaft, Politik und Schule. Biologische Untersuchung […], Leipzig 1885. 154 HENRY WILSON, „Peter the Wild Boy“, in: DERS., Wonderful characters: comprising memoirs and anecdotes of the most remarkable persons of every age and nation / collected from the most authentic sources […], Vol. 2, London 1821, 152–160. 155 E. BURNET TYLOR, Wild Men and Beast-Children, in: Anthropological Review, Vol. I, London 1863, 21–32. 156 Ebd., 32.
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1. Zwielicht: Zur Phänomenologie der Isolation
„The original men as the poet describes them, roaming, ‚a dumb and miserable herd‘ about the woods, do not exist on the earth.”157 Blieben Tafel und Rauber, die beide davon ausgingen, die Fälle seien von konkretem wissenschaftlichem Nutzwert, im 19. Jahrhundert nur von marginaler Bedeutung, kam es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einer ersten und zunächst zögerlichen Renaissance des Themas. Bereits 1851 hatte WILLIAM SLEEMAN in seiner Journey through the Kingdom of Oude158 auf mehrere Fälle indischer Wolfskinder aufmerksam gemacht: Die kolonialen Erfahrungen schienen die schmale Datenbasis also möglicherweise erweitern zu können, und eine Vielzahl weiterer Berichte sollte die Realität des Phänomens verbürgen.159 In neuem Licht erschien nun vor allem die Frage, ob nicht wilde Tiere, insbesondere Wölfe, doch als Zieheltern angenommen werden konnten – eine Vorstellung, die Tylor 1863 noch für „very improbable and not to be believed but on the best of evidence“ gehalten hatte. Ein Fall mit einer eben solchen Beweiskraft schien dann jedoch zu Beginn der 1920er Jahre tatsächlich durch die Weltpresse zu gehen160: Im bengalischen Midnapur hatte der Reverend Singh, Leiter eines Waisenhauses, zwei Mädchen, Amala und Kamala genannt, direkt aus dem Wolfsbau geholt, wenn man seinen Behauptungen Glauben schenken wollte. Das Verhalten Singhs ließ zunächst durchaus Seriosität erkennen: Statt die Kinder zu vermarkten, bemühte er sich um Geheimhaltung, nur eine lokale Zeitung berichtete 1921 über den Fall. Fünf Jahre später stieß der amerikanische Psychologe PAUL C. SQUIRES auf den Bericht, forderte von Singh weitere Informationen an und veröffentlichte die Nachricht schließlich im American Journal of Psychology, womit eine Welle des öffentlichen Interesses losgetreten wurde.161 Singh hatte ein Tagebuch über den Fall geführt, und es existierte auch fotografisches Material. In der Folge sollten sich jedoch Zweifel an der Verlässlichkeit Singhs häufen, insbesondere, als er um 1926 zugab, nicht direkt an der Entdeckung und der Rettung der Kinder beteiligt gewesen zu sein. Singh konnte keinen Verlag für die Veröffentlichung seines Tagebuchs gewinnen, und wahrscheinlich wäre die ganze Geschichte heute kaum mehr bekannt, hätte nicht 1937 der amerikanische Anthropologe ROBERT M. ZINGG den Reverend dazu überreden könne, ihm seine Manuskripte zuzusenden. Zingg fand diese, wenn auch nicht westlichen Kriterien der Wissenschaftlichkeit entsprechend, doch glaubhaft und versicherte sich auch der Meinung weiterer Kollegen, etwa des renommierten Psychologen ARNOLD GESELL. Es kam 1938 zu einem Symposium in Chicago, das eine Liste weiterer Fragen an Singh formulierte. Dessen Antworten bildeten die Basis für Gesells 1941 157 Ebd. 158 WILLIAM H. SLEEMAN, A Journey through the Kingdom of Oude, in 1849–50, 2 Bde., London 1858. Die Fallgeschichten finden sich in Vol I, 206–222. 159 BLUMENTHAL, Kaspar Hausers Geschwister, 178 ff. listet allein neun Fälle, die zwischen 1858 und 1890 an die Times berichtet wurden. 160 Das Frage der Glaubwürdigkeit dieses Berichts nimmt CHARLES MACLEAN, The Wolf Children – Fact or Fantasy?, London 1977 in extenso auf. 161 PAUL. C. SQUIRES, ‚Wolf Children‘ in India, in: American Journal of Psychology, 38 (1927), 313–315.
1.2. Ein überstrapaziertes Marginalthema?
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erschienenes Wolf Child and Human Child162; ihm folgte ein Jahr später Zinggs Wolf-Children and Feral Man163. Während sich Gesell sich in seiner Arbeit weitgehend auf den Fall Amala-Kamala beschränkte, unterteilte Zingg sein Werk: Teil 1 enthielt den kommentierten Berichten Singhs, Teil 2 (Feral Man and Cases of Extreme Isolation of Individuals) jedoch einen detaillierten Katalog historischer Fälle, die Zingg vor dem Hintergrund der Ereignisse völlig neu bewerten, kategorisieren und nutzen zu können glaubte. Dabei schöpfte er bezüglich der Fälle des 18. Jahrhunderts vor allem von Tafel und Rauber.164 Kritik an Zinggs Konzept wurde bereits früh angemeldet165, was aber die Versuche, die Kinder weiter zur Theoriebildung zu instrumentalisieren, nicht beendete. So zieht sich etwa in der Autismusforschung eine Linie aus den 1950er Jahren bis ins 21. Jahrhundert. Ausgangspunkt ist dabei ein großer Name: BRUNO BET166 TELHEIM. Dieser widmete zunächst einen Aufsatz , später dann ein Kapitel in der Geburt des Selbst den Wolfskindern und gelangte zu einer völligen Neuinterpretation des von diesen gezeigten Verhaltens.167 Amala und Kamala seien fraglos autistisch gewesen, so exakt passten die von ihnen überlieferten Muster zu denen, 162 ARNOLD GESELL, Wolf Child and Human Child, London 1942. 163 JOSEPH AMRITO LAL SINGH & ROBERT M. ZINGG, Wolf-Children and Feral Man, New York 1942 [ND Hamden 1966]. 164 Zu Tafel findet sich in der Bibliographie, ebd. 377, der Hinweis „Best German source on feral man.“ Zu Rauber notiert Zingg, ebd.: „One of the best collections of data on European feral man.“ Von Rauber glaubte Tafel auch das psychiatrische Konzept der demetia ex separatione übernehmen zu können; ebd., 232. 165 Zinggs Postulate, vor allem aber auch seine Beweisführung, trafen auf heftige Widerstände; vor allem Wayne Dennis verneinte pointiert in Frage, ob ein Überleben von Kleinkindern in der beschriebenen Art überhaupt möglich sei. Vgl. WAYNE DENNIS, The Significance of Feral Man, in: American Journal of Psychology, 54 (1941), 425–432. Sein Befund: Die Kinder seien nicht zitierfähig für „any social or psychological theory.“ Ebd., 427. Dennis reagierte auf einen Beitrag Zinggs, der praktisch identisch mit dem Einleitungskapitel zu Feral Man and Cases of Extreme Isolation of Individuals ist: ROBERT M. ZINGG, Feral Man and Cases of Extreme Isolation, in: American Journal of Psychology, 53 (1940), 487–517. In einer Antwort blieb Zingg bei seinen ursprünglichen Argumenten. Vor allem sei der Bericht Singhs überzeugend, und Dennis’ Skepsis unangebracht. Zinggs wissenschaftlichen Reputation dürfte diese Antwort mehr geschadet haben als die eigentliche Publikation seines Buches, bestand er gegen Ende doch darauf, dass Mythen eine Faktenbasis zugrunde liege, auch wenn die Anthropologie dies seit langer Zeit ablehne. Anschließend hielt er es noch für opportun zu betonen, nur mit Hasenfüßigkeit und Skepsis sei wissenschaftlicher Blumentopf zu gewinnen: „Too great scientific caution obscures the truth as much as an attitude too lenient.“ Vgl. ROBERT M. ZINGG, A Reply to Professor Dennis, in: American Journal of Psychology, 54 (1941), 432–435. Das Schicksal Zinggs gibt zu denken: Er verlor in der Folge den Posten an der Universität Denver und beendete seine berufliche Laufbahn als Vertreter für Dosenfutter; vgl. BLUMENTHAL, Kaspar Hausers Geschwister, 225 f. 166 BRUNO BETTELHEIM, Feral Children and Autistic Children, in: American Journal of Sociology, LXIV: 5 (1959), 455–467. 167 BRUNO BETTELHEIM, Die Geburt des Selbst, München 1977, insbes. 448–503; O. u. d. T. The empty fortress, New York 1967. Die, zu diesem Zeitpunkt längst verstrichene, Debatte mit Dennis hatte Bettelheim augenscheinlich nicht rezipiert, fand er doch seinen Glauben an die Geschichten unterstützt durch „hervorragende Gelehrte“, unter ihnen Zingg und Gesell; ebd., 475.
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1. Zwielicht: Zur Phänomenologie der Isolation
„die Kanner als typisch […] bezeichnet hat.“168 Dies galt insbesondere für die Quadrupedität, ein Thema, auf das sich bereits 1931 der Kurator der Abteilung Physische Anthropologie am Smithsonian Institute, ALEŠ HRDLI KA, gestürzt hatte169 – allerdings ohne auch nur den geringsten Hinweis auf geistige Abweichungen zu finden.170 Im Gegenteil erschienen ihm Kinder, die diese Auffälligkeit eine zeitlang aufwiesen, „physically and mentally healthy, strong, and even exceptional […].“171 Bettelheim dagegen vermutete, dass Amala und Kamala sich mit den Wölfen identifizierten, also nicht von diesen konditioniert worden seien.172 Typisch für Autisten seien zudem die Kalt-Heiß- und Schmerzunempfindlichkeit, Vorliebe für rohe Nahrung und Nacktheit, das Meiden von Helligkeit, Lethargie und tierähnliche Fortbewegung.173 Insgesamt sei in den Berichten über Wolfskinder der „Katalog ‚tierischer‘ Verhaltensweisen […] tatsächlich wenig umfangreich“; die Kinder zeigten also schlicht genuin autistisches Verhalten. Noch 2004 kam PAUL COLLINS, selbst Vater eines autistischen Kindes, zu exakt derselben Schlussfolgerung.174 Die Anziehungskraft dieser Hypothese ist, auch über die offenkundigen Parallelen im Verhalten hinaus, nachvollziehbar: Die Hemmungen und die typischen Fähigkeiten eines Autisten könnten tatsächlich
168 Ebd., 479. 169 ALEŠ HRDLI KA, Children Who Run on All Fours And Other Animal-like Behaviors in the Human Child, New York 1931. Hrdli ka hatte insgesamt 387 Fälle untersucht. Er fand, dass mit der Quadrupedität häufig eine besondere Kletterfähigkeit und andere Besonderheiten wie das Tragen von Gegenständen mit dem Mund, Einsatz der Zehen und Finger als Handersatz und Imitation von Haustieren korrespondierten, hielt dieses Verhalten jedoch für einen vollkommen harmlosen und für die weitere Lebensgeschichte bedeutungslosen Atavismus, der auf die enge Verknüpfung von Phylo- und Ontogenese verwies: „It seems just to conclude that just as the human child before birth recapitulates […] various phases of ist physical ancestry, so the child after birth recapitulates and uses for a time various phases of ist prehuman ancestral behavior.“ Ebd., 93. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Hrdli ka offensichtlich eine Verknüpfung dieser körperlichen mit geistigen Auffälligkeiten zumindest für denkbar hielt; ein Aspekt, den Herder so betont hatte (s. u.): Er widmete der Mentality of the Children Who Run on All Fours ein eigenes Kapitel, fand hier jedoch kaum von der standardmäßigen Kindesentwicklung Abweichendes. 170 Es erscheint ohnehin, als habe Bettelheim die Studie allenfalls überflogen. So verzeichnet er (Geburt des Selbst, 482) beispielsweise, dass „[…] es sich meistens um weiße Kinder von zivilisierten Eltern handelte.“ Hrdli ka (Children who Run on All Fours, 13) bemerkt jedoch ganz zu Beginn der Studie: „[…] the disproportion between white and colored means only that the reports and not the cases are so much scarcer […].” Eher im Gegenteil hatten ihn Notizen seines in Afrika tätigen Kollegen Garner zur Untersuchung des Phänomens angestoßen, dessen Aufzeichnungen er mit Simian Acts of African Children überschrieb. 171 HRDLI KA, Children who Run on All Fours, 92. 172 BETTELHEIM, Geburt des Selbst, 484. 173 Ebd., 484 ff. 174 „I never knew why I had wanted to write about Peter the Wild Boy. I’d become interested a little before Morgan turned two. […] How could I not have seen it? Something drew me to Peter, something so obvious […]: An early case of autism.“ Collins liefert eine narrative, aber ausgesprochen gut recherchierte und lesenswerte Darstellung; PAUL COLLINS, Not Even Wrong. Adventures in Autism, London 2004; hier 58.
1.2. Ein überstrapaziertes Marginalthema?
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sowohl erklären, dass dieser ausgesetzt wurde175, wichtiger aber noch für dessen längerfristiges Überleben in der Wildnis aufkommen – eine recht elegante Lösung des immer wieder gegen die Befürworter einer kongenitalen Geistesstörung angebrachten Arguments, ein solches Kind habe auf sich allein gestellt nicht überleben können. Dennoch kann man, bedenkt man die Diversität der Fälle, wohl auch mit dieser monokausalen Erklärung nicht wirklich zufrieden sein. Nachhaltiges Interesse zeigte sich zudem von Seiten der Linguistik und Literaturwissenschaft. So analysiert ANDRESEN176 die von Itard angewandten Methoden zur Schrift- und Sprachvermittlung und stellt diesen ein positives Urteil aus: Victor habe durchaus bemerkenswerte Fortschritte gemacht, die nicht zuletzt „in der reflektierten, systematischen, also theoriegeleiteten Methode des Lehrers“177 begründet lägen – und bricht damit generell eine Lanze für Theorieleitung im pädagogischen Handeln. Man dürfe nicht blindlings auf die Eigentätigkeit der Schüler vertrauen, eine deutliche Kritik an der didaktischen Mode. Wiederum die Methodik Itards, vor allem aber auch die Frage, ob man hier von einem Scheitern oder, wenn auch relativen, Erfolg sprechen muss, steht im Mittelpunkt zweier Aufsätze LÉONETTIS.178 Dieser kommt zu dem Schluss, dass es möglich gewesen wäre, die Kapazitäten Victors besser zu nutzen, gesteht Itard jedoch gleichzeitig zu, dass ein solches „jugement a posteriori […] sans intérêt et injuste pour Itard“179 sei, dessen Beobachtungsgabe, Analysefähigkeiten und Einfallsreichtum herausgestellt werden.180 Aus literaturwissenschaftlicher Perspektive verfasste NOVAK einen überaus bemerkenswerter Aufsatz über die Rezeption Peters von Hameln in England181, in dem er insbesondere nachweisen konnte, dass diese von weit älteren Mustern überwölbt und nachhaltig geprägt wurde: denen des Wilden Mannes mittelalterlicher Prägung. Direkte Linien konnte er bis in die Ikonographie nachweisen.182 Novak stellte damit die bis heute gängige Sicht, die Wilden Kinder seien nur aus
175 Bettelheim betont zudem die ständige Fluchtgefahr eines autistischen Kindes und kommt für die gegebenen sozio-historischen Kontexte zu der Einschätzung: „[…] it is reasonable to assume that their [the parents’; H. B.] efforts to find the children have been more than lax.“ BETTELHEIM, Feral Children, 437. 176 HELGA ANDRESEN, Victor und Itard oder: Wie ein „wildes Kind“ nicht sprechen, aber lesen lernt, in: HANS BRÜGELMANN & HEIKO BALHORN (Hg.), Das Gehirn, sein Alfabet und andere Geschichten, Konstanz 1990, 199–209. 177 Ebd., 208. 178 JEAN LEONETTI, Victor de l’Aveyron: Échec d’une tentative d’apprentissage du langage parlé, in: Linguistique, 23:1 (1987), 137–146; DERS., Victor de l’Averyron: l’apprentissage inachevé du langage écrit, in: Linguistique, 26:1 (1990), 115–130. 179 LEONETTI, Victor de l’Averyron: l’apprentissage inachevé, 130. 180 LEONETTI, Victor de l’Aveyron: Échec d’une tentative, 146. 181 MAXIMILLIAN E. NOVAK, The Wild Man Comes to Tea, in: EDWARD DUDLEY & MAXIMILLIAN E. NOVAK, The Wild Man Within. An Image in Western Thought from the Renaissance to Romanticism, Pittsburgh 1972, 183–222. 182 „In searching for the Wild Man in Peter, they were actually searching for that mythical creature in their own psyche […].“ Ebd., 215 f.
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1. Zwielicht: Zur Phänomenologie der Isolation
den spezifischen Entwicklungen des 18. Jahrhunderts zu erklärende Phänomene, vor allem für das erste Drittel des Jahrhunderts in Frage. Neben den Sprach- und Literaturwissenschaften zeigten vor allem die Pädagogik, Soziologie und Psychologie ein persistentes Interesse an den Wilden Kindern. Am Schnittpunkt dieser Disziplinen, und ganz unter den Vorzeichen der nature-nurture-Debatte, veröffentlichte LUCIEN MALSON 1964 sein Les enfants sauvages183, das schon allein daher beachtliche Spätfolgen zeigte, als es TRUF184 FAUT zur Grundlage seines L’enfant sauvage , eines „dokumentarischen Spielfilms“ – wenn so etwas denn existiert – machte.185 Man kann Malson sicherlich insofern in direkter Reihe mit Zingg sehen, als beide durch umfassende Präsentation von Beweismaterial eine konkrete Theorie – oder mehrere Theorien – zu verifizieren versuchten. Für Malson bedeutete dies: Führung des Nachweises, dass Prämissen des Behaviorismus, Marxismus und der Psychoanalyse zutrafen. Insbesondere erachtete er es als ausgeschlossen, dass psychologische Charakteristika, die ihm das eigentliche Anthropinon darstellten, vererbbar seien. Ein solcher Prozess sei weder für das Individuum, noch für die gesamte Spezies denkbar. Ersteres hielt er durch die Ergebnisse des Behaviorismus bereits für belegt, letzteres noch nicht. Hier zeigten allerdings die Beispiele der Wilden Kinder das erwartete Resultat: Die Versuche der Forscher, an ihnen der menschlichen Natur habhaft zu werden, seien allesamt fehlgeschlagen weil „diese Natur erst nach der gesellschaftlichen Existenz erscheinen kann.“186 Heraus kommt bei Malson effektiv also ein Gebilde, das man als behavioristischen Anti-Determinismus bezeichnen mag187, anderslautende Resultate der Genetik, Zwillingsforschung etc. meint er widerlegen zu können. Noch nicht einmal will er dem Menschen einen vererblichen Artcharakter zuweisen, der diesen etwa von den Menschenaffen trennen würde.188 Eben diese Erfahrung, so Malson, vermittelten die Fälle der Wolfskinder, die insofern ein erhebliches Bedrohungspotenzial für jene rückständigen Gemüter darstellten, die an eine präformierte menschliche Natur glaubten.189 183 LUCIEN MALSON, Les enfants sauvages. Mythe et réalité […] suivi de Mémoire et rapport sur Victor de l’Aveyron par Jean Itard, Paris 1964; dt. u. d. T. Die wilden Kinder, Frankfurt a. M. 8 1987. 184 Dt. u. d. T. Der Wolfsjunge. 185 Vgl. KOCH. Das Wilde Kind, 134. 186 MALSON, Die wilden Kinder, 13. 187 „Somit muß also das biologische Erbgut durch die gesellschaftlichen Einflüsse einen Sinn erhalten, und diese wiederum müssen den Eingriff jenes unveräußerlichen Elements akzeptieren: des Bewußtseins. Vererbung und Umwelt sind keine voneinander unabhängigen Realitäten, deren Einflüsse sich addierten. […] Und die Idee einer individuellen psychischen ‚Natur‘ im Menschen bricht zusammen wie der symbolische Turm des Denkens in einem anderen Zeitalter.“ Ebd., 26. 188 „Somit würde das Kind von Anfang an die artspezifische Bestimmung erben, intelligent zu sein, und zugleich diejenige, seinen Nächsten zu ‚erkennen‘ [was] auf eine Beschreibung des Menschen in Gesellschaft hinausläuft […]: es gibt zwar eine gesellschaftliche Konstante des Menschen, aber keine menschliche Natur, die in gleichem Maße wie die tierische Natur präsozial wäre.“ Ebd., 38 f. 189 Man darf wohl hinzufügen: Darum an eine solche glauben, weil der eigene soziale Status über derartige Prämissen legitimiert wird.
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Malsons Beispielkatalog ist umfangreich: In einer Tabelle werden mehr als fünfzig Fälle zwischen 1344 und 1963 aufgelistet. Skeptikern wie Dennis, der in Zweifel gezogen hatte, dass Kinder so lange in der Wildnis überleben könnten, werden mit dem lapidaren Kommentar abgefertigt, man könne nicht „seine Ungläubigkeit auf natürliche Wunder wie das Überleben von ‚wilden‘ Kindern beschränken“, wenn man „jene weit ungewöhnlicheren Wunder hinnimmt, die das tägliche Leben im Überfluss bietet.“190 Stattdessen hätten wohl, wie überliefert, Tiere eine entscheidende Rolle gespielt oder die Kinder eine emotionale und mentale Regression durchlaufen. Ebenso zweifelhaft erscheint das Argument, mit dem Malson die Verlässlichkeit seiner Kronzeugen stützen will: Itard (Victor), Feuerbach (Kaspar Hauser) und Singh (Amala/Kamala), „also ein Forscher, ein Jurist und ein Geistlicher, die sich aus vielleicht unterschiedlichen, aber sehr ähnlich einzuschätzenden Motiven um Wahrheit bemühen […].“191 Ähnlich trickreich behauptet Malson, diese drei bestätigten die von Linné im Systema Naturae aufgestellten Charakteristika – vierfüßig, stumm, behaart – , um dann jedoch nur auf zwei von diesen (vierfüßig, stumm) zu sprechen zu kommen. Es bleibt also der Eindruck, dass Malson durchaus nicht zimperlich war, wenn es darum ging, die Fälle im Bedarfsfall seinen Erfordernissen anzupassen. Seine Arbeit ist, soweit ich sehe, die letzte, in der die Wilden Kinder in großem Umfang in ein präexistentes Theoriegebäude eingepasst werden sollten – was Malson nun wieder, wie gezeigt werden wird, in eine Reihe mit Forschern des 18. Jahrhunderts stellt.192 In kleinerem Umfang existierte diese Funktionalisierung jedoch ohne Frage weiter. SCHMID meinte 1980, dass sich die Fälle eigneten, „Klassifikations- und Diagnosemodelle in Psychiatrie und Psychologie sowie Persönlichkeits- und Erziehungskonzepte kritisch zu überprüfen; daß sie außerdem deren historische Entwicklung nicht nur beeinflussen können, sondern in der Vergangenheit schon beeinflusst haben.“193 Im Vergleich der Fälle Peters von Hameln, Victors und Kaspar Hausers betonte Schmid die Zeitgebundenheit der an sie gehefteten Erwartungen und der sich daraus ergebenden Behandlung und stellte darüber hinaus in Aussicht, dass eine genauere Untersuchung möglicherweise Aufschluss über die temporale Entwicklung geistiger Funktionen liefern könnte – Bezugsrahmen könne hier etwa Piagets Entwicklungsmodell sein.194 Demgegenüber wollte RATH eine solch übergreifende Funktionalisierung insbesondere für Psychologie und Pädagogik nicht mehr einräumen. Ausgehend vom Fall Victors kam er zu dem Befund, dass von einem „außerhalb von Sozietäten aufgewachsenen, kommunikations- und entwicklungsgestörten Kind […] kaum Aufschlüsse über die menschli190 Ebd., 56. 191 Ebd., 60. 192 Selbst der allgewaltige – aber zu anderen Ergebnissen kommende – Claude Lévi-Strauss ist nicht vor Malson sicher; die Kritik fällt allerdings moderat bis apologetisch aus. Lévi-Strauss behandle eben das Thema in seiner „schönen These nur am Rande“ und hatte „offensichtlich nicht die Zeit […] sich eingehend zu informieren […]“. Vgl. ebd. 60 f. 193 RUDOLF SCHMID, Wolfskinder. Menschen im Naturzustand?, in: Psychologie heute, 1 (1980), 36–42. 194 Ebd., 41.
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1. Zwielicht: Zur Phänomenologie der Isolation
che Natur“195 zu erwarten seien. Immerhin mochte er aber Itard durchaus eine Rolle in der Geschichte der Heil- und Sonderpädagogik zuweisen, müsse man diesen doch als „Begründer einer wissenschaftlich beobachtenden, im kontrollierten Experiment vorgehenden, empirisch aussagekräftigen Erziehungswissenschaft“196 sehen. Ganz auf die Interaktion zwischen Victor und Itard fokussierte, ebenfalls 1993, ANDRESEN ihre Untersuchung.197 Itard habe aus heutiger Perspektive wohl Fehler begangen, insbesondere „Victors Sprachanfänge als Fehlversuche“ interpretiert und diese daher „nicht zum Ausgangspunkt weiterer Interaktion“198 gemacht. Das gesamte Experiment sei darüber hinaus nicht aussagekräftig für die von Itard untersuchte sensualistische Generalthese.199 LADENTHIN beschränkte sich ebenfalls auf das Gespann Itard/Victor und stellte fest, dass Maria Montessoris Rezeption des Falles deutliche Schieflagen aufweist, was er ihrem „Konzept einer indirekten Erziehung“200 geschuldet sieht, die Itard für sich nicht beansprucht habe. Die bereits oben angerissene Debatte zwischen KOCH201 und DAMMER202 wirft einiges Licht auf das grundsätzliche Problem der von disziplinären Fragestellungen geleiteten Diskussion der Fälle. Koch meinte, Victor als „Opfer der Pädagogik“203 darstellen zu können. Er rekurrierte dabei auf das von RUTSCHKY vorgestellte Konzept der „Schwarzen Pädagogik“, in dem auf einer weiten Quellenbasis der insgesamt durchaus schlüssige Nachweis geführt wurde, dass die Pädagogik der Aufklärung sich durch ein Janusgesicht auszeichnete: Der in den Texten immer wieder behaupteten Fortschrittlichkeit und Philanthropie stünden in der Praxis disziplinarische Methoden gegenüber, die einen Unterdrückungsmechanismus in Gang gesetzt hätten. Dieser sei letztlich auf die Durchsetzung und Wahrung sozioökonomischer bürgerlicher Interessen nach oben und unten abgestellt gewesen: eine sich in der Pädagogik manifestierende Dialektik der Aufklä195 NORBERT RATH, Das ‚wilde‘ Kind von Aveyron. Zur Auswertung eines ‚Naturexperiments‘, in: Psychologie und Geschichte, 5 (1993), 82–93; hier 90. 196 Ebd., 90 f. Diese Problematik hatte allerdings prinzpiell schon 1984 WULF OESTERREICHER (Der sprachlose Wilde. Jean Itard und l’enfant sauvage de l’Aveyron, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte / Cahiers des Littératures Romanes, 8 (1984), 404–430) geklärt, der Itard verschiedenen, und eben teilweise nicht kongruenten Forderungen unterworfen sah: Zum einen sei er überzeugter Anhänger Condillacs gewesen, andererseits habe er sich eben im Zirkel der ideologues bewegt. Diese hätten an ihn eine Anzahl von „medizinischphysiologischen, psychologisch-psychiatrischen, sonderpädagogischen Ansätzen“ herangetragen; ebd., 425. 197 HELGA ANDRESEN, Das ‚wilde Kind‘ Victor und sein Lehrer Itard. Perspektiven auf eine Lehrer-Schüler-Interaktion im beginnenden 19. Jahrhundert, in: Diskussion Deutsch, 24:1 (1993), 4–16. 198 Ebd., 15. 199 Vgl. dazu aber GINESTE, Victor, 94 ff. der eben diese Determinierung Itards in Frage stellt. 200 VOLKER LADENTHIN, Zur Pädagogik Jean Itards und zu Aspekten ihrer Rezeption bei Maria Montessori, in: Pädagogische Rundschau, 51 (1997), 499–515; hier 514. 201 FRIEDRICH KOCH, Das Wilde Kind. Die Geschichte einer gescheiterten Dressur, Hamburg 1997. 202 DAMMER, „Wolfskinder“, 80. 203 KOCH, Das Wilde Kind, 43 ff.
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rung.204 Während jedoch der strukturalistische Ansatz Rutschkys konsequent den Fauxpas vermied, die Aufklärungsautoren von deren soziohistorischem Bezugsrahmen abzutrennen205, bemängelte Koch die Erziehungsmethoden Itards unter Bezug auf rezente pädagogische Theorien – worauf ihm Dammer, aus historischer Perspektive folgerichtig, vorwarf, bei aller Berechtigung der Kritik „die […] Motive, die das erzieherische Handeln antrieben“206 vollkommen zu übersehen. Itard habe vielmehr über gar kein Alternativkonzept zu einer „repressiven Pädagogik“ verfügen können, und darüber hinaus müsse Koch schon aus Gründen der Logik jeglichen Nachweis schuldig bleiben, dass andere, nicht-repressive Methoden zu einem besseren Erfolg geführt hätten. Wie sehr die Eigentümlichkeiten des bürgerlichen Zeitalters den Blick auf die Wilden Kinder determinierten, untersuchte auch RICHTER aus verschiedenen Perspektiven.207 Seine relativ enge, aber fundierte Betrachtung verweist darauf, dass sich die Rezeption der Kinder im 18. Jahrhundert erheblich veränderte. Während Pressemeldungen des 17. Jahrhunderts das Wilde Kind in der Regel als „portentum, als grauenhaftes Vorzeichen eines drohenden Unheils“208 auffassten, trete dieser Aspekt spätestens mit Peter von Hameln in den Hintergrund. Vielmehr werde an den Kindern seit Beginn des 18. Jahrhunderts „grundsätzlich, philosophisch und pädagogisch raisonniert“209, die Kinder würden sozusagen vom Monster zu Versuchsobjekten.210 Zimmers Ansatz ist ein insofern für die heutige historische Forschung typischer211, als sich zeigt, dass die Fälle der Wilden Kinder zunehmend ihre Bedeutung als Elemente einer wie auch immer gearteten Theoriebildung verloren. Als wichtiger für die rezente Forschung stellte sich vielmehr der Trend heraus, zu einer historisch fundamentierten Metakritik des Gesamtensembles von Fall und theoretischer Nutzung, seltener noch mit dem Zwischenschritt einer rezeptionshistorischen Aufarbeitung, zu gelangen. Dabei waren es allerdings kaum je Historiker, die sich des Themas annahmen, sondern vielmehr Fachwissenschaftler, die sich einer historischen Perspektive verpflichtet fühlten. Da sich die Interessenzentren weitgehend ähneln, erscheint eine streng nach Disziplinen getrennte Dar204 Ganz dieser Linie entsprechend wird der Band mit einem Horkheimer/Adorno-Zitat eingeleitet. 205 Tatsächlich betont die Autorin ganz zu Beginn ihrer „Leseanleitung“, dass die Darstellung in ihrer Kompilation und den damit verbundenen editorischen Folgen unvermeidbarer Weise „tendenziös“ und eben dem Nachweis einer Theorie geschuldet sei. 206 DAMMER, „Wolfskinder“, 10. 207 DIETER RICHTER, Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a. M. 1987; insbes.: Zweiter Teil: Die kleinen Wilden. Der ethnologische Blick auf die Kindheit, 139–174. 208 Ebd., 146. 209 Ebd., 147. Anbetrachts der weiter unten entwickelten Rezeptionsgeschichte des Falles Peter ein wohl zu stark generalisierender Befund. 210 Zimmer nahm damit einen Ansatz vorweg, den Douthwaite (s. u.) explizieren und ausweiten sollte. 211 Hierunter fasse ich nicht nur Beiträge von „Fachhistorikern“, sondern generell Arbeiten mit einem historischen Erkenntnisschwerpunkt.
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stellung nicht sinnvoll, so dass in der Folge eher eine auf die Autoren abstellende lockere Chronologie als Ordnungsmuster gewählt wurde. BREZINKAS 1958 erschienenen Aufsatz über Verwilderte Kinder kann man wohl mit einigem Recht als Startpunkt der modernen pädagogischen Rezeption im deutschen Sprachraum betrachten.212 Ihm erschienen die Fallberichte „die einzigartige Möglichkeit zu bieten, ähnlich wie beim Isolierversuch in der Tierpsychologie, an einer Art von natürlichem Experiment ablesen zu können, was dem Menschen angeboren ist und was er erwerben muß.“213 Tragischerweise musste er jedoch hinsichtlich der Überlieferungen mit KÖHLER214 konzedieren, dass „das Ganze ‚eine einzige Geschichte verpasster Möglichkeiten‘“215 sei. Die These von der angeborenen Idiotie der Kinder lehnte Brezinka, im Übrigen wie Zingg unter Verweis auf Raubers dementia ex separatione, ab.216 Die Beteiligung von Tieren an der Aufzucht der Kinder hielt er für unwahrscheinlich, keinesfalls aber könne man aus „der physischen Erscheinung und aus dem Verhalten der Kinder […] auf Wolfsammenschaft […]“217 schließen. Eine generell skeptische Position also, die sich allerdings, siehe oben, zumindest unter den deutschen Psychologen und Pädagogen nicht wirklich durchsetzte. Einen bis heute völlig zu Recht ungebrochenen Einfluss übt demgegenüber TINLANDS L’Homme Sauvage aus, dem man ohne Zweifel insbesondere in Bezug auf Methodik und Struktur paradigmatischen Status zuerkennen muss.218 Tinland löste sich radikal von den Sachzwängen der Einzeldisziplinen und verfasste eine hochkomplexe Übersichtsdarstellung der ideengeschichtlichen Bedeutsamkeit der Wilden Kinder und, diesen in enger Verbindung beigeordnet, der Menschenaffen, die in ihren Hauptbestandteilen bis heute überdauert. Er verabschiedete sich von der Gewohnheit, die Fälle katalogartig zu präsentieren und unternimmt im Verlauf der Arbeit auch keinerlei ernsthaften Versuch, die Plausibilität der Fälle zu untersuchen. Stattdessen rückt in den Mittelpunkt die Frage, inwiefern die Fälle die Wissenschaften, vor allem des 18. Jahrhunderts, beeinflussten und prägten – und wie, vice versa, die Wahrnehmung der Kinder und Menschenaffen von den gängigen wissenschaftlichen Postulaten geprägt wurde. Folgerichtig bilden die Pädagogik und mehr noch die Naturgeschichte seinen Fokus. Hier hätten die Kinder wie die Affen ihre Hauptwirkung entfaltet, sie seien die Lanze gewesen, die man seitens der Sensualisten und Materialisten gegen den cartesianischen Inneismus habe einsetzen können. Hätten die Menschenaffen die Kette der Wesen gefüllt und 212 WOLFGANG BREZINKA, Verwilderte Kinder – Legende und Wirklichkeit, in: Die Sammlung, 13 (1958), 522–531. 213 Ebd., 531. 214 Der Verhaltensforscher hatte bereits 1952 das ethologische Interesse an den Fällen formuliert; vgl. OTTO KOEHLER, Wolfskinder, Affen im Haus und Vergleichende Verhaltensforschung, in: Folia Phoniatrica, 4:1 (1952), 29–53, hier 40. 215 BREZINKA, Verwilderte Kinder, 531. 216 Ebd., 525. Zur Fragwürdigkeit dieses Konzepts vgl. Kap. 5.2. 217 BREZINKA, Verwilderte Kinder, 528. 218 FRANCK TINLAND, L’Homme Sauvage. Homo ferus et homo sylvestris. De l’animal à l’homme, Paris 1968. Die exzellente Monographie fand aus unerfindlichen Gründen weder eine Neuauflage, noch eine Übersetzung und ist dementsprechend recht schwer greifbar.
1.2. Ein überstrapaziertes Marginalthema?
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damit gestützt, seien die Wilden Kinder vor allem von soziologisch-pädagogischem Interesse gewesen.219 „A proprement parler, il n’y a pas d’homme sauvage.“220 So leitet Tinland seine Schlussbetrachtung ein – also doch eine große Nähe zu den Thesen Malsons? Die Ähnlichkeit ist nur eine scheinbare. Tinland erkennt im Gegenteil sehr klar, dass sich die Wilden Kinder als Untersuchungsgegenstand in fast jede beliebige Richtung drehen und wenden lassen. Die Existenzweise der homines feri bleibt ihm ein monströser Unfall ohne inhärenten Beweischarakter. Es sind die Forscher, oder generell die Betrachter, die eine spezifische Bedeutung generieren, die Fälle selbst nur Wachs in ihren Händen.221 Tinlands Werk ist als Übersichtsdarstellung angelegt; in dieser Hinsicht leistet es Erstaunliches, die verarbeitete Quellenbasis ist überaus breit, die Konzeption makellos. Offen gelegt werden auch bereits einige Aspekte des sich in der Neuzeit wandelnden Tier-Mensch-Verhältnisses, die in letzter Zeit zu erheblicher Forschungstätigkeit geführt haben. Einige der wichtigsten Ergebnisse aus diesem Bereich liegen in zwei Sammelbänden, herausgegeben von CORBEY & THEUNIS222 bzw. MÜNCH & WALZ223 vor. Tinlands konkreter Ansatz wurde, jedoch SEN unter Betonung neuerer Ergebnisse der Primaten- und Kommunikationsforschung, von CANDLAND224 fortgeführt und erweitert. Übersichtsdarstellungen, die, wie die Tinlands, einen historiographischen Anspruch stellen, müssen zwangsläufig generalisieren und straffen. Die so entstandenen Lücken sind in den letzten Jahren vor allem von anglo-amerikanischen und französischen Autorinnen und Autoren gefüllt worden. So arbeiteten LANE225, SHATTUCK226 und GINESTE227 die Quellenbasis für den Fall Victor dermaßen gründlich auf, dass neue Befunde hier kaum noch zu erwarten sind. Ginestes
219 „L’Homo Sylvestris reliait l’homme à la grande chaîne des êtres, et lui permettait par là de participier consciemmant à l' harmonie de la création. L’Homo ferus est là pour rendre manifeste à quel point l’homme abandonné à lui-même, condamné à la sauvagerie par la solitude, demeure loin de cette humanité à laquelle il était destiné par sa naissance.“ Ebd., 251. 220 Ebd., 272. 221 „Le dessin de l’homme sauvage varie alors selon la façon dont son observateur se pense luimême et pense son insertion parmi les êtres.“ Ebd., 273. 222 RAYMOND CORBEY & BERT THEUNISSEN (Hg.), Ape, Man, Apeman: Changing Views since 1600. Evaluative Proceedings of the Symposium Ape, Man, Apeman: Changing views since 1600, Leiden, The Netherlands, 28 June–1 July, 1993, Leiden 1995. 223 PAUL MÜNCH & RAINER WALZ (Hg.), Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn u. a. 1998. 224 DOUGLAS KEITH CANDLAND, Feral Children and Clever Animals. Reflections on Human Nature, Oxford u. a. 1993. 225 HARLAN LANE, The Wild Boy of Aveyron, Cambridge (Mass.) 1976; dt. u. d. T. Das wilde Kind von Averyron: der Fall des Wolfsjungen, Frankfurt a. M. 1985. Eine knappe Zusammenfassung in DERS., The Wild Boy of Averyron, Horizon, 18:1 (1976), 32–38. 226 ROGER SHATTUCK, The Forbidden Experiment. The Story of the Wild Boy of Aveyron, London u. a. 1981. 227 THIERRY GINESTE, Victor de l’Aveyron. Dernier enfant sauvage, premier enfant fou, Édition révue et augmentée, Paris 1993.
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1. Zwielicht: Zur Phänomenologie der Isolation
Werk umfasst eine mehrere hundert Seiten lange Chronologie documentaire, die von Archivalien bis zu den längeren Abhandlungen Vireys oder Itards reicht. Eine Schlüsselrolle in der rezenten Forschung spielt ohne Frage JULIA DOUTHWAITE. Sie fokussierte ihre Interessen eher auf den pädagogischen Bereich228 und betonte dabei als erste genderspezifische Momente des Diskurses. So untersuchte sie detailliert den Fall Marie-Angélique, vor allem aber dessen, im Vergleich zu Peter von Hameln und Victor, geringe Publizität, die sie dem Faktum zuschreibt, dass Maries geglückte Reintegration letztlich langweilig erschienen sein müsse: Sie habe lediglich eine Frauen ohnehin zugewiesene passive Rolle gefüllt, der Zähmungsprozess also nur die Erwartungen erfüllt.229 Anbinden mag man dies auch an die von SIGRID WEIGEL in den Raum gestellte Überlegung, dass sich im Diskurs der Aufklärung eine „auffällig ähnliche Darstellung“ von Wilden und Frauen zeige.230 Wenn man also ohnehin von einer „epidemischen Wildheit“231 der Frauen überzeugt war, fehlte den Berichten durch ihre Protagonistinnen ein gutes Stück jener inhärenten Sensationalität, die für die Weiterverbreitung notwendig gewesen sein mag. Allenfalls männliche Patronage mochte dann doch noch zu einer Publizierung des Stoffes führen, die oben erwähnte Histoire d’une jeune fille wird aus dieser Sicht zu einer Romanze.232 Douthwaites Ansatz ist ein ohne Frage origineller, der auf hohem Niveau belegt wird. Dennoch kann man sich stellenweise des Eindrucks nicht erwehren, dass das Thema überstrapaziert wird. So konstruiert sie in ihrem ebenfalls bemerkenswerten Aufsatz Homo ferus – Between Monster and Model wiederum eine geschlechtspezifische Differenz zwischen Peter und Marie, die weitere Erklärungsmuster – die Douthwaite sehr wohl sieht – zuzeiten zu überdecken droht.233 Ihre große dem Thema gewidmete Monographie löst sich jedoch wieder von diesem Muster234, akzentuiert etwa den Einfluss sensualistischer Theorien und die Entwicklung des Perfektibilitätsbegriffs und muss wohl als das momentan wichtigste verfügbare Werk gelten.235 228 JULIA DOUTHWAITE, Experimental Child-rearing After Rousseau, in: Irish Journal of Feminist Studies, 2 (1997), 35–56. 229 DIES., Rewriting the Savage: The Extraordinary Fictions of the „Wild Girl of Champagne“, in: Eighteenth-Century Studies, 28 (1994–95), 163–92; hier 168 230 SIGRID WEIGEL, Die nahe Fremde – das Territorium des ‚Weiblichen’. Zum Verhältnis von ‚Wilden‘ und ‚Frauen‘ im Diskurs der Aufklärung, in: THOMAS KOEBNER & GERHART PICKERODT (Hg.), Die andere Welt: Studien zum Exotismus, Frankfurt a. M. 1987, 171–199, hier 173. 231 So Denis Diderot in Über die Frauen, zit. n. WEIGEL, Die nahe Fremde, 171. 232 DOUTHWAITE, Rewriting the Savage, 175. 233 Nämlich dass der Erfolg des Experiments – ganz unabhängig vom Geschlecht – die sensationellen Aspekte relativierte. JULIA DOUTHWAITE, Homo ferus – Between Monster and Model, in: Eighteenth-Century Life, 21 (1997), 176–202; hier 194. 234 JULIA DOUTHWAITE, The Wild Man, Natural Girl, and the Monster, Chicago 2002. 235 Zwei kürzlich erschienene umfangreiche Monographien konnten in dieser Arbeit leider keine Berücksichtigung mehr finden: ADRIANA S. BENZAQUÉN, Encounters with Wild Children: Temptation and Disappointment in the Study of Human Nature, Montreal u. a. 2006; LUCIENNE STRIVAY, Enfants sauvages: Approches anthropologiques, Paris 2006.
1.2. Ein überstrapaziertes Marginalthema?
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Erwähnenswert, wenn auch nicht mit dem von Douthwaite verkörperten wissenschaftlichen Anspruch verbunden, erscheinen darüber hinaus zwei neuere Gesamtdarstellungen, die als Einstiege in das Thema ohne Weiteres empfohlen werden können. MICHAEL NEWTONS Savage Girls and Wild Boys liefert sehr gut lesbare und originell interpretierte Darstellungen ausgewählter Fälle, insbesondere Peters von Hameln.236 P. J. BLUMENTHALS Kaspar Hausers Geschwister237 enthält dagegen das kompletteste verfügbare Inventar der überlieferten Fälle. Es diskutiert diese zwar nur oberflächlich, ist aber ein handliches und verlässliches Kompendium. Darüber hinaus haben einzelne Fälle einen festen Platz in der populären Kuriositätenliteratur gefunden, und die Lokalpresse nimmt sich dieser bei gegebenem Anlass gerne an. Auch dies ist eine legitime Herangehensweise – mehr vielleicht als viele Versuche, die Wilden Kinder unter das theoretische Joch zu zwingen.238 Am Beginn einer Arbeit steht immer eine Idee, die Wahrnehmung eines Problems. Es war Paul Münch, der mich auf die Wilden Kinder hinwies, über die er immer wieder in Fußnoten gestolpert war. Er unterstellte ihnen eine Bedeutsamkeit für die Genese der frühneuzeitlichen Anthropologie. Eine ohne Frage richtige Einschätzung. Wo aber kann man, betrachtet man den dargelegten Forschungsstand, hier überhaupt noch sinnvoll tätig werden, ohne eine bloße Zusammenschrift der Sekundärliteratur zu liefern? Insbesondere die Arbeiten Tinlands und Douthwaites scheinen zunächst die historisch denkbaren Perspektiven auf die Fälle mehr als genügend abzuarbeiten und die mögliche Zielsetzung zu beschränken, wenn nicht eine weitere Darstellung überflüssig zu machen. Verzichtet werden konnte, prinzipiell seit Malson, spätestens seit Blumenthal, auch auf ein weitläufiges Referieren der Fallgeschichten, die in leicht greifbarer Form vorliegen. Wo liegen also mögliche Lücken, mögliche Wege? Die vorliegende Arbeit wird sich auf verschiedenen Ebenen um einen Wissenszuwachs bemühen, ohne, das mag vorweggenommen sein, die generellen Ergebnisse Tinlands in Frage zu stellen. Vielmehr wird dessen Kernthese – die Wilden Kinder prägten den wissenschaftlichen Diskurs des 18. Jahrhunderts, sie sind allerdings für eine disziplinäre Theoriebildung kaum geeignet – hier als Prämisse gesetzt. Ganz im Sinne Tinlands und Douthwaites wird hier also eine Metakritik angestrebt; die Plausibilität der Fälle spielt, strikt konzeptionell gedacht, keine Rolle.239
236 MICHAEL NEWTON, Wild Boys and Savage Girls. A History of Feral Children, London 2003. 237 P. J. BLUMENTHAL, Kaspar Hausers Geschwister. Auf der Suche nach dem Wilden Menschen, Wien: Frankfurt a. M. 22003. 238 Die Qualität dieser Darstellungen schwankt; hier nur zwei gelungene Beispiele: KLAUS VÖLKER (Hg.), Werwölfe und andere Tiermenschen, München 1972 (liefert eine beachtliche Auswahl von Originalquellen, allerdings in gekürzter und nur bedingt wissenschaftlichen Ansprüchen genügender Editionsform); PETER ARNOLD, Der Wolfsjunge, der keiner war, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, Wochenendausgabe 13. / 14. November 1976. 239 Insbesondere im Schlusskapitel scheinen jedoch einige kritische Bemerkungen zu diesem Thema angebracht.
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1. Zwielicht: Zur Phänomenologie der Isolation
Betrachtet man nun die vorliegenden Darstellungen, stellt man fest, dass ein Großteil der modernen, auch und gerade der deutschsprachigen Literatur, eine Vorliebe für Victor vom Aveyron zeigt, während andere Kinder vergleichsweise wenig Beachtung finden. Dieser Effekt scheint vor dem Hintergrund der Quellenlage, aber auch der einzeldisziplinären Interessen, vor allem der Pädagogik und Sprachforschung, erklärlich. Mit etwas Abstand betrachtet ist dieser Fall aber keinesfalls typisch für das 18. Jahrhundert; er steht vielmehr am Ende einer langen Entwicklung und bietet sich daher eher als Folie denn als Beispiel an. Kaum Beachtung gefunden hat bisher, welche Rolle die in vielen der Fundgeschichten stereotyp erscheinenden Elemente spielten, inwiefern also zeitgebundene mentale Faktoren die Wahrnehmung der Wilden Kinder beeinflussten. Was für eine Sicht hatte die Zeit auf den Fundort Wald, wie kam es dazu, dass Bären oder Wölfe als Zieheltern galten, existierten mythische oder folkloristische Prototypen, an denen man sich orientierte? Schließlich auch: Welche Eigenschaften wurden Kindern generell zugeschrieben, welche kindlichen und familiären Lebensformen hatten sich entwickelt? Zwischen den Ereignissen und der, wie gezeigt werden wird, erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts wirklich einsetzenden wissenschaftlichen Rezeption vergingen oft Jahre, in denen die Fälle weiter tradiert wurden. Es existierte, wenn man will, eine populäre Rezeption, die der wissenschaftlichen voranging. Diese, so meine These, war noch nicht, oder allenfalls in rohen Ansätzen, wissenschaftlichen Paradigmen unterworfen, half aber mit, diese zu prägen und wurde medial von den im 18. Jahrhundert weite Verbreitung findenden Zeitungen, Zeitschriften und populären kürzeren Druckschriften getragen. Dabei entsteht die Frage, welche Prädispositionen das Zielpublikum aufwies und inwiefern diese rückwirkend die Darstellung formten.240 Ohnehin wurde die Rezeption der Fälle im deutschen Sprachraum bislang äußerst stiefmütterlich untersucht. Man mag dies zum einen der regionalen Provenienz der maßgeblichen Autoren zuschreiben, die einen Fokus auf Frankreich und Großbritannien begünstigte. Hinzu kommt aber auch, dass Deutschland241 allgemein die Rolle des Nachzüglers in der wissenschaftlichen Entwicklung des Zeitalters der Aufklärung zugeschrieben wird, eine „moderne“ Theoriebildung von hier also bis ins letzte Drittel des 18. Jahrhunderts nicht zu erwarten war oder zumindest nicht erwartet wurde. Vielmehr wird angenommen, dass britische und vor allem französische Konzeptionen passiv aufgenommen und nur spärlich angerei240 Paul Münch verweist auf erhebliche Unterschiede in der Alphabetisierung der deutschen Bevölkerung. Die für Mitte des 18. Jahrhunderts angenommene Zahl von etwa 15% werde vor allem in einigen Gebieten Norddeutschlands deutlich überschritten, für die oldenburgische Küstenmarsch stellt er für 1750 bereits praktisch Vollalphabetisierung fest. Münch betont jedoch auch die erhebliche Rolle, die das Vorlesen und bildliche Darstellungen spielten. Da Bücher für breite Schichten jedoch meist unerschwinglich blieben, bildete die Zeitung eine Alternative. Vgl. PAUL MÜNCH, Lebensformen in der Frühen Neuzeit, Berlin 21998, 432 ff. 241 Der Begriff wird in der Folge aus Gründen der Lesbarkeit weiter genutzt; gemeint sind natürlich stets die Territorien des deutschen Sprachraums.
1.2. Ein überstrapaziertes Marginalthema?
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chert oder einer Kritik unterworfen wurden. Befunde bezüglich der Wilden Kinder fehlen hier fast vollständig: Wie also wurden die Fälle, vor allem aber die an ihnen exemplifizierten Theoriegebäude, in Deutschland tatsächlich rezipiert? Und: Ergaben sich Linien, die der deutschen Anthropologie zu einer spezifischen Ausprägung verhalfen? Unternommen wird also der Versuch, neue Perspektiven auf ein für viele schon überlebtes Thema zu öffnen. Einige Stellen, so bin ich sicher, werden dem Fachwissenschaftler, dem spezialisierten Historiker defizient vorkommen und hoffentlich zu Diskussionen einladen. Der Mut zur Lücke ist unausweichlich mit der Konzeption der Arbeit verknüpft; zentrale Figuren der Debatte, wie Rousseau, Kant oder Herder, hätten ausgeschlossen bleiben müssen, wollte man versuchen, die diese umgebende Forschungsaura auch nur in Ansätzen zufriedenstellend zu referieren. Aus dieser Perspektive sollten die Ausführungen denn auch als Steinbruch, als Sprungbrett zur Weiterführung und Korrektur, als Anregung verstanden werden. Von daher habe ich mich im Text im Zweifelsfall für und nicht gegen die längere Wiedergabe von Textpassagen entschieden und diese in der Regel im Original belassen. Sie bilden einen integralen Teil der Arbeit, werden aber in aller Regel so erläutert, dass ein Überspringen nicht zu Verständnisproblemen führen wird.
2. SCHATTENWÜRFE: DAS SUBSTRAT DER DISKUSSIONEN Wahrnehmung ist ein eigentümlicher Begriff. Zergliedert man ihn, mag man zu dem Schluss kommen: Es ist der Prozess der Bewusstwerdung der Realität, wie sie uns von den Sinnen zugeführt wird. Aber noch eine andere Konnotation schwingt mit: Wir nehmen etwas für wahr an – und dies kann individuell höchst unterschiedlich sein. Was der eine als Krach wahrnimmt, mag der andere als Musik empfinden, womit Empfindung und Wahrnehmung synonym werden. Mehr noch: Was mich als Krach belästigt, kann von mir – in einem anderen Kontext, mit einer anderen Bildung – bald als Musik genossen werden. Wahrnehmung ist subjektiv, gebunden an Persönlichkeit, diese wiederum an soziale, historische, räumliche Bedingungen. Das folgende Kapitel verdankt seine Existenz meiner eigenen ersten Wahrnehmung der Fälle, vor allem aber des frühneuzeitlichen Umganges mit ihnen. Denn auch wenn die Übernahme zeitgebundener Perspektiven grundlegendes Handwerkszeug des Historikers ist, musste ich mich fragen: Wie um alles in der Welt konnte man diese Geschichten so kritiklos für bare Münze genommen, ja ihnen wissenschaftliche Evidenz zugeschrieben haben? Abgesehen davon, dass dieser erste Befund bald zu revidieren, weil viel zu generalisierend war, zeigten sich in den Quellen Muster, die weit über das eigentliche Phänomen hinauswiesen. Die Zeitgenossen nahmen das, was angeblich geschehen war, ganz anders wahr, als ich das tat, sie trugen an die Protagonisten, aber auch die Statisten und Requisiten der Schauspiele differierende Deutungsmuster heran. Aspekte, die für mich im Schatten lagen, blendeten im 18. Jahrhundert geradezu in ihrer Offensichtlichkeit. In der Folge wird versucht werden, einigen dieser prägenden Faktoren gerecht zu werden: Ihre Wurzeln reichen teils weit aus der Neuzeit heraus, sie bilden das Substrat jener Debatten, die durch das 18. Jahrhundert und bis in unsere Zeit ranken. 2.1. KIND UND KINDHEIT Die Geschichte der Kindheit ist erst seit einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum in den Interessenkreis der Historie gerückt. Lange erschien gerade diese Periode des menschlichen Lebens einer seriösen wissenschaftlichen Analyse kaum zugänglich, sei es aus Mangel an geeigneten Quellen, sei es der generellen Überlegung folgend, dass die Kindheit als anthropologische Konstante wohl stets einen ähnlichen Charakter bewahrt habe – einen Charakter, der immer nur transitorisch gedacht werden konnte, und dessen Bedeutung gerade deswegen leicht zu unterschätzen war.
2.1. Kind und Kindheit
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Diese Einschätzung sollte sich in den 1960er, in Deutschland mehr noch in den 1970er Jahren radikal ändern.1 Auslöser war die Monographie des französischen Historikers PHILIPPE ARIES, L’enfant et la vie familiale sous l’ancien régime.2 Ariès, als Forscher geprägt von der nouvelle histoire der Annales-Schule3, stellte fest, dass etwa bis zum Ausgang des Mittelalters kaum von einer autonomen Kindheitsphase gesprochen werden könne. Das Kind habe vielmehr schon sehr früh an der Alltagswelt der Erwachsenen partizipiert. Erst das 15. und 16., mit voller Wucht dann das 17. und 18. Jahrhundert, hätten schließlich die Kindheit gleichsam „entdeckt“. Ariès’ auf thesenhafter Ebene verbleibendem Ansatz, an dem sich bald eine verbissen geführte Diskussion entzündete4, kommt in der vorliegenden Arbeit al1
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Eine gute Einführung in Grundthesen und Rezeption der Arbeiten ARIÈS’ und DEMAUSE’ bieten mehrere Artikel in FRIEDHELM NYSSEN & LUDWIG JANUS (Hg.), Psychogenetische Geschichte der Kindheit. Beiträge zur Psychohistorie der Eltern-Kind-Beziehung, Giessen 1997, vor allem: EDMUND HERMSEN, Ariès’ „Geschichte der Kindheit“ in ihrer mentalitätsgeschichtlichen und psychohistorischen Problematik (127–158); RALPH FRENKEN, Abriß der psychogenetische Theorie der Geschichte der Kindheit nach Lloyd deMause (443–455) und JUTTA PIVECKA, Evolution oder Moral? – Zur Kritik an Lloyd deMause’ „Evolution der Kindheit“ (159–176). Bereits J.-L. FLANDRIN, Enfance et Société, in: Annales. Economies – Sociétés – Civilisations, 19 (1964), 322–329, hier 322 weist auf den qualitativen Unterschied zwischen der Arbeit Ariès und der seiner Vorgänger hin: „Études innombrables […] d’un incontestable intérêt, mais auxquelles manquent généralement toute perspective historique: pédagogues, psychologues, sociologues même, par leurs méthodes se trouvent immergés dans une actualité sans épaisseur, et parviennent mal y marquer les grandes lignes du devenir d’une enfance dont personne encore n’avait écrit l’histoire.“ Noch SUSANNE SCHWANK, Kindheit und Erziehung im Zeitalter der Aufklärung, in: Beiträge zur historischen Sozialkunde, 3 (1973), 26–29 verzeichnet nur eine einzige Literaturangabe, nämlich Centuries of Childhood, die amerikanische Ausgabe von Ariès’ Geschichte der Kindheit. PHILIPPE ARIÈS, L’enfant et la famille sous l’ancien régime, Paris 1960; in der Folge wird zitiert nach der dt. Ausgabe: ders., Geschichte der Kindheit, München 121996. Ariès’ Befunde waren, allerdings ohne größere Absicherung durch Quellen, schon von dem niederländischen Psychologieprofessor JAN HENDRIK VAN DEN BERG (Metabletica, dt. Ausgabe Göttingen 1960) vorformuliert worden. Zu den Konzepten der nouvelle histoire vgl. etwa LE GOFF, Vorwort zu JACQUES LEGOFF, ROGER CHARTIER & JACQUES REVEL (Hg.), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der Neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M. 1990, 11–61. Mit der zweiten Ausgabe muss Ariès diese These aufgrund mittlerweile dagegen vorgebrachten Quellenmaterials allerdings modifizieren. Die „Entdeckung der Kindheit“ beginne möglicherweise bereits früher, mit dem 11. oder 12. Jahrhundert. Vgl. HERMSEN, Ariès’ „Geschichte der Kindheit“, 143. Von Anfang an waren die Thesen Ariès’ auch heftiger Kritik ausgesetzt. Vor allem der amerikanische Psychoanalytiker und „Psychohistoriker“ LLOYD DEMAUSE entwickelte in dem von ihm herausgegebenen Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit und der sich anschließenden Inaugurierung des History of Childhood Quarterly nachgerade eine „Antithese zu Ariès’‚Geschichte der Kindheit‘“ (HERMSEN, Ariès’ „Geschichte der Kindheit“, 145). Auch sein Ansatz fußt auf der Grundthese Ariès’ – Entdeckung der Kindheit, wahrscheinlich im späten Mittelalter. Aber er an Stelle der von Arès dort verorteten glücklichen, weil noch nicht von der Restwelt abgetrennten Kindheit kommt deMause zu dem Schluss, die „Geschichte der Kindheit“ sei „ein Alptraum, aus dem wir gerade erst erwachen.“ (DEMAUSE, Hört ihr die Kinder weinen?, 12) Die sich an
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
lenfalls eine untergeordnete Bedeutung zu. Jedoch erschien als Folge des erwachten Interesses an der Kindheitsgeschichte bald eine Reihe von Schriften, die über quantitatives Material einen Nachweis zu führen versuchten.5 Hier wurden schließlich auch Aspekte aufgegriffen, deren Relevanz offensichtlich ist – zumindest, wenn Wilde Kinder zunächst einmal lediglich als Sonderfälle ausgesetzter Kinder verstanden werden. Denn man darf wohl unterstellen: Je verbreiteter dieses Phänomen war, desto wahrscheinlicher wird erschienen sein, dass sich im Einzelfall ans Wunderbare grenzende Entwicklungen ergeben konnten. Wie gegenwärtig waren Kindesaussetzungen also in der Frühen Neuzeit, welche Motive trieben die Eltern an, wie reagierten Gesellschaft und Obrigkeit? Hinzu tritt ein weiterer Punkt: Zeigen sich in der Kleinkinderversorgung möglicherweise Praktiken, die eine Versorgung durch Tiere plausibler als heute erscheinen ließen? Denn von hier würde verständlich, warum die Berichte über tierische Zieheltern so häufig ohne offene Skepsis aufgenommen wurden. 2.1.1. Zwischen Indifferenz und Liebe Für das Kind der Frühen Neuzeit entschied bereits die Geburt zu einem guten Teil über dessen Aussichten und Lebensweg: Es konnte ehrlich sein, d. h. einer legitimen Ehe entspringen, oder unehrlich, was alle anderen denkbaren Fälle einschloss.6 Der Stand der Eltern war auch der des Kindes, konkrete Karrieremöglichkeiten waren mehr als nur vorgezeichnet. Gleichzeitig war nach der Geburt
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diese Positionen seit den 1970er Jahren ankettende Diskussion ist für die vorliegende Arbeit von wenig Belang und wird daher nicht weiter verfolgt. Mittlerweile etwas in die Jahre gekommen, aber immer noch für jeden Interessierten unverzichtbares Hilfsmittel bei der Suche nach Material ist ULRICH HERRMANN u. a., Bibliographie zur Geschichte der Kindheit, Jugend und Familie, München 1980. Herauszustellen sind etwa die in den Annales publizierten Arbeiten, beginnend mit FLANDRIN, Enfance et Société, später z. B. FRANÇOIS LEBRUN, Naissances illégitimes et abandons d’enfants en Anjou au XVIIIe siècle, in: Annales. E-S-C, 27 (1972), 1183–89 oder CLAUDE DELASSELLE, Les enfants abandonnés à Paris au XVIIIe siècle, in: Annales. E-S-C, 30 (1975), 187–219. Die Annales de démographie historique brachten 1973 einen Themenband Enfants et Sociétés; viele der hier enthaltenen Arbeiten sind der quantitativen Sozialgeschichte verpflichtet und lieferten zum ersten Mal „hartes“ Datenmaterial, beispielsweise Zahlen über die Fälle von Kindesaussetzung: JEAN-LOUIS FLANDRIN, L’attitude à l’égard du petit enfant et les conduits sexuelles dans la civilisation occidentale. Structures anciennes et évolution, in: Enfants et Sociétés 1973, 143–210; JEAN-NOËL BIRABEN, Aperçu sur la pédiatrie au XVIIIe siècle, in: Enfants et Sociétés 1973, 215–223; ETIENNE HELIN, Une sollicitude ambiguë: L’Évacuation des enfants abandonnés, in: Enfants et Sociétés 1973, 225–229; JEAN-MARIE GOUESSE, En BasseNormandie aux XVIIe et XVIIIe siècles: Le refus de l’enfant au tribunal de la pénitence, in: Enfants et Sociétés, 231–261; ANTOINETTE CHAMOUX, L’enfance abandonnée à Reims à la fin du XVIIIe siècle, in: Enfants et Sociétés, 263–285. Eine unehrliche Geburt verschloss dem Kind normalerweise den Weg in jeglichen zünftigen Beruf; MÜNCH, Lebensformen, 216. Das Bürgerrecht blieb ihm verwehrt, und es hatte zeitlebens unter einer mehr oder minder schweren Diskriminierung zu leiden; vgl. MARKUS MEUMANN, Findelkinder, Waisenhäuser, Kindsmord. Unversorgte Kinder in der frühneuzeitlichen Gesellschaft, München 1995, 92 f.
2.1. Kind und Kindheit
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der mit Abstand risikoreichste Moment, den das neue Gesellschaftsmitglied je erleben würde, überstanden.7 Das Leben des Kindes war jedoch weiterhin gefährdet durch Krankheiten, Seuchen und Hunger – mitunter aber auch durch das Verhalten seiner Eltern: Relativ unangefochten ist die These, dass Kindern schlichtweg nicht die Zuwendung und Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde, die wir heute als selbstverständlich empfinden. Eine große Anzahl von ihnen stirbt bei Unfällen, die uns äußerst suspekt anmuten: Sie werden von den im selben Bett schlafenden Eltern über Nacht erdrückt oder erstickt8, sie fallen in Kessel mit siedendem Wasser, verbrennen in ihren Wiegen9, werden von „Schweinen im Hof angegriffen und aufgefressen“10, fallen aus dem Fenster oder in den Brunnen. Die Kontroversen beginnen, wenn die Beweggründe für den elterlichen Mangel an Aufmerksamkeit in den Fokus der Forschung geraten. Waren sie nur von den Umständen und alltäglichen Gefahren der Risikogesellschaft, der sie angehörten, überfordert? Denn Bedrohungen waren allgegenwärtig, Gewissheiten und Sicherheiten nur im Jenseits zu erhoffen.11 Dagegen scheint zunächst die in vielen Quellen belegte – scheinbare oder tatsächliche – Unberührtheit der Eltern ob des Todes ihrer Kinder zu sprechen.12 Waren die „Unfälle“ dann vielleicht nur eine besondere Form der „Geburtenkontrolle“, die man aufgrund mangelnder anatomisch-physiologischer Kenntnisse und der Beschränkungen durch einen strengen
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VAN DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 80: „Das Leben eines Kleinkindes war so vielen Gefahren ausgesetzt, daß es oft reines Glück war, wenn ein Kind die Zeit nach der Geburt überstand und seine ersten Jahre überlebte.“ Die Sterbeziffern, die die historische Demographie herausgearbeitet hat, bewegen sich in völlig anderen Dimensionen als den heute üblichen: „Bis zu einem Drittel der Kinder starb bei der Geburt, kaum zwei Drittel erreichten das fünfte Lebensjahr, und nur etwa die Hälfte erreichte das Erwachsenenalter.“ MÜNCH, Lebensformen, 204. Eine nach verschiedenen Berufsgruppen differenzierende Tabelle, deren Ergebnisse ähnlich ausfallen, findet sich bei DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 88. ARTHUR E. IMHOF, Leib und Leben unserer Vorfahren: Eine rhythmisierte Welt, in: DERS. (Hrsg.), Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit. L’homme et son corps dans l’histoire moderne. Vorträge eines internationalen Colloquiums Berlin 1.–3.12.1981, Berlin 1983, 21–38, hier 21 prägte für diesen Sachverhalt den Begriff der Wand, abgeleitet von der graphischen dreidimensionalen Darstellung der Mortalitätsrate: „Die Wand hat sich Verlauf der letzten hundert Jahre von ganz hinten nach ganz vorn verschoben und würde uns heute die Sicht verstellen. Seinerzeit hatte man diese Wand hinter sich, gehörte zu den ‚happy few‘. Heute haben wir, die Menschen ‚im besten Alter‘, sie vor uns […].“ Eine regional differenzierende Darstellung mit umfassendem Datenmaterial bietet DERS., Lebenserwartungen in Deutschland vom 17. bis 19. Jahrhundert, Weinheim 1990. 8 FLANDRIN, L’attitude à l’égard du petit enfant, 164 ff. widmet dieser Todesursache ein ganzes Kapitel. 9 VAN DÜLMEN, Kultur und Alltag, Bd. 1, 90. 10 EDWARD SHORTER, Die Geburt der modernen Familie, Reinbek 1977, 199. 11 Verschiedene Ausdrücke sind für diesen tiefgreifenden Unterschied zur heutigen „Sicherheitsgesellschaft“ gefunden worden. MÜNCH, Lebensformen, 13 findet etwa zu der Formulierung Riskierte Zeiten. 12 So ist es gängig, den Namen eines verstorbenen Kindes beim nächsten Kind wieder zu verwenden. Diesen Vorgang weist KLAUS ARNOLD, Kindheit, 465 bis zum Ausgang des 15. Jahrhunderts vor allem bei Mädchennamen nach.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
Sexualkodex nicht anders leisten zu können glaubte13, die Eltern also zu einem guten Teil vorsätzliche Kindsmörder?14 Begrüßten sie tatsächlich den Tod zumindest eines Teils ihrer Nachkommenschaft? Auch hier ließe sich Einspruch erheben, betrachtet man etwa die Unzahl von Gebeten und magischen Ritualen, die Geburt und Kindheit in der Frühen Neuzeit umgaben.15 Schwierig wie die Frage zu lösen ist: Die Rahmenbedingungen, innerhalb derer sich die Eltern bewegten, sind jedenfalls zu berücksichtigen. Und von dieser Warte lag der mangelhaften Betreuung der Kinder wohl kaum eine misanthrope, aktiv-zurückweisende Grundeinstellung zugrunde, sondern eine in der Regel so angespannte sozioökonomische Lage, dass schlicht kein Raum für irgendwelche „Sentimentalitäten“ blieb. War das eigene und das Überleben der bereits existenten Familie in Frage gestellt, so rückte die Sorge, etwa um die richtige Ernährung oder Verwahrung des Kleinkindes, schnell ins Hintertreffen. Wären tatsächlich Desinteresse und Missgunst die einzigen Reaktionen der Eltern auf ihre Kinder gewesen, so müsste man sich wundern, dass überhaupt eines von ihnen überlebte.16 Letztlich blieb das 13 FLANDRIN, L’attitude à l’égard du petit enfant, 164 hält es für unwahrscheinlich, dass die Abtreibung ein weit verbreitetes Mittel zur Geburtenplanung innerhalb legitimer Ehen war. 14 Die Diskussion ist eng verflochten mit der Frage nach der Entstehung elterlicher Affekte; so versucht ELISABETH BADINTER (Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, München 21982, 63) zu belegen, dass die Mutterliebe keineswegs eine biologische Konstante, sondern eine kulturelle Erfindung neuerer Zeit darstellt. LORENCE (BOGNA W. LORENCE, Parents and Children in Eighteenth-Century Europe, in: History of Childhood Quarterly 2 (1974/5), 1–30; hier 1) kommt immerhin zu der Feststellung, dass es bis zum 18. Jahrhundert zwei unterschiedliche Formen elterlichen „Fehlverhaltens“ gegeben habe: Indifferenz und das Verlangen nach totaler Kontrolle über das Leben der Kinder (Intrusiveness). Erst dann hätten Eltern begonnen, sich ernsthafte Gedanken über das Wohlergehen und die Bedürfnisse ihrer Zöglinge zu machen. SHORTER (Wandel der Mutter-Kind-Beziehungen, 256 f.) kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen, verlegt zusätzlich den Zeitpunkt einer durchgreifenden Veränderung für Frankreich bis weit ins 19. Jahrhundert und resümiert einigermaßen überraschend – und sämtliche Mechanismen des Konzeptes der longue durée ignorierend – „daß Mutterliebe erst eine Rolle zu spielen begann, als sich […] Millionen Mütter bewußt entschlossen, ihre Prioritäten neu zu ordnen und das Leben und Glück ihrer Kinder an die oberste Stelle zu setzen.“ 15 Besonders aber auch die Interessenlage der Forschung: RUTSCHKY, Schwarze Pädagogik, XLV betont: „Während es eine erdrückende Menge historischer Materialien zum Thema Erziehungsstrafe gibt […], müßte einer, der über die Liebe in der Erziehung schreiben wollte, sich ganz neue Quellen erschließen und könnte sich auf keine Vorarbeiten stützen.“ Von einer solchen Liebe, wenigstens aber großer Besorgnis zeugen die von UTE KÜPPERS-BRAUN zusammengetragenen Berichte über Taufwunder. So existierte vielerorts nachgerade eine klerikale Wiedererweckungs-Industrie, die versuchte, totgeborene und nicht getaufte Kinder kurzzeitig wieder ins Leben zurück zu holen, um diese mit dem Sakrament der Taufe ausstatten zu können. Die Eltern waren bereit, dafür erhebliche Zeit und Mühen zu investieren. Vgl. UTE KÜPPERS-BRAUN, Taufwunder oder: Vom doppelten Tod der ungetauften (totgeborenen) Kinder, in: RAINER WALZ, UTE KÜPPERS-BRAUN & JUTTA NOWOSADTKO (Hg.), Anfechtungen der Vernunft, Essen 2006, 59–74; hier insbes. 56 f. 16 Bereits HUNT, Parents and Children in History, 49 merkt an, dass ein solches Elternverhalten, wie es Shorter und Badinter postulieren, nur wenig wahrscheinlich ist: „If parents were truly indifferent, their children would die. The argument in Centuries of Childhood is thus biologically almost inconceivable.“ Eine ganz ähnliche Überlegung bei IRENE HARDACH-PINKE,
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Leben in der Frühen Neuzeit eben ein „riskiertes“; wie sollte man sich emotionell an ein so unsicheres Gut binden können, zumal, wenn im Ernstfall kaum geeignete Mittel zu dessen Rettung zur Verfügung standen? 2.1.2 Infantizid und Kindesaussetzung17 Waren Nachkommen einerseits der Seinszweck der christlichen Ehe – Kinderlosigkeit war ein legitimer Trennungsgrund und wurde von der auf engen interpersonalen Bindungen beruhenden Dorfgemeinschaft nicht akzeptiert – blieb doch auch kein Zweifel, dass ein zu großer Kindersegen die Familien stark belasten konnte.18 Verschärft wurde die Lage durch die Position zumindest der katholi-
Zwischen Angst und Liebe. Die Mutter-Kind-Beziehung seit dem 18. Jahrhundert, in: MARSozialgeschichte der Kindheit, 525–590, hier 547: „Wenn ich mir überlege, mit welchem Aufwand an Geld, Wissen, Zeit und institutionellen Einrichtungen heute Säuglinge und kleine Kinder betreut und gepflegt werden, so erscheint mir die Frage nach den Ursachen der Säuglings- und Kindersterblichkeit unter dem Gesichtspunkt der Mutter-KindBeziehung weniger aufschlussreich als die Frage, wie 50 Prozent der Säuglinge unter den Bedingungen der Armut des 18. Jahrhunderts und des frühen 19. Jahrhunderts überhaupt das Erwachsenenalter erreichen konnten. Säuglinge und kleine Kinder brauchen Pflege, um zu überleben, gleich ob sie einem ‚robusten Jahrgang‘ angehörten oder nicht.“ Für ARTHUR E. IMHOF, Einleitung, in: DERS., Leib und Leben, 1–17 geht die Position Badinters, Shorters u. a. zudem an der eigentlichen Frage vorbei, denn die „Seele des Kindes war ja längst durchaus entdeckt, und zwar bei jedem einzelnen von ihnen, auch wenn man dem Überleben von dessen Körper noch eine untergeordnete Rolle beimaß.“ Ebd., 14. Eine solche „säkularisierte Verständnislosigkeit“ sage „mehr über unsere heutige Verständnislosigkeit und wohl auch unsere Arroganz jener ganz anderen Mentalität des einfachen Volkes gegenüber aus, als über eine angeblich noch nicht erfolgte Entdeckung der Kindheit durch diese Mehrheit unter unseren Vorfahren.“ (Ebd.) 17 KERSTIN MICHALIK, Kindsmord: Sozial- und Rechtsgeschichte der Kindstötung im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert am Beispiel Preußen, Pfaffenweiler 1997, 33 nutzt in diesem Zusammenhang den Begriff postnatale Geburtenkontrolle. Problematisch erscheint, dass die Zeitgenossen diese Vorfälle anders begriffen zu haben scheinen. „Es kam jedenfalls häufiger vor, daß Kinder im Säuglingsalter auch durch die Schuld ihrer Eltern starben. Doch gab es hierüber keine andere Ansicht als die, daß solche Unglücke allein durch Fahrlässigkeit verursacht waren. Selbst wenn es de facto gelegentlich geschehen sein mag, hat niemand den Verdacht geäußert, daß in der Absicht gehandelt wurde, den Kinderreichtum zu begrenzen. Zumindest läßt sich in den zeitgenössischen Quellen kein Hinweis finden, daß Kindeserdrückung als Ersatz für kontrazeptive Maßnahmen gedient hat.“ K. ARNOLD, Kind und Gesellschaft, 52. Der geltende gesetzliche Rahmen machte solche expliziten Äußerungen aber auch praktisch undenkbar, so dass Arnolds Bedenken hinsichtlich fehlender Quellen merkwürdig erscheinen. 18 So finden sich bei BOESCH, Kinderleben aus der deutschen Vergangenheit. Mit Abbildungen nach den Originalen aus dem 15.–18. Jahrhundert, Leipzig 1900 [ND Düsseldorf; Köln 1979], 21 die einem Trostspiegel des 17. Jahrhunderts entnommenen Sprichworte: „Kein Kindt/Kein Sorg/klag nit so sehr/Ob schon dein Weib nit kindbar wer“ und „Die Kinder machen Lieb und Leid, Zerstören offt der Elter Frewd.“ Allerdings bleibt unklar, ob es sich hier um ein tatsächlich empfundenes Gefühl der Erleichterung, oder schlicht den Versuch eine Kompensation des erlittenen Leids handelt. Eine Fülle von weiteren Quellen zeugt von der TIN & NITSCHKE,
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
schen Kirche: Wer dem Ideal eines mönchisch-enthaltsamen Lebens nicht entsprechen konnte oder wollte, sollte seine Zuflucht zur Ehe nehmen; in dieser aber war die Sexualität streng instrumentalisiert. Nicht der persönliche Lustgewinn, sondern die Zeugung von Kindern hatte die regelnde Maxime zu sein. All dies, und natürlich auch die weitgehende Unkenntnis der genauen biologisch-physiologischen Zusammenhänge der Fortpflanzung, führte dazu, dass kontrazeptive Maßnahmen während der Frühen Neuzeit bei weitem nicht die Durchschlagskraft zeigten, wie wir sie kennen.19 Auch die Rolle, welche die Abtreibung in der Frühen Neuzeit spielte, ist schwer einzuschätzen. Zwar kannte man eine Vielzahl von Mitteln und Kräutertränken, diese waren aber in der Regel unzuverlässig und zeigten beträchtliche Nebenwirkungen, die bis zum Tod führen konnten.20 An eine instrumentelle Abtreibung dachten auf der anderen Seite nur wenige. Zu unsicher waren die Kenntnisse der weiblichen Anatomie, und entsprechend groß wird auch die Zurückhaltung der Frauen gewesen sein, zu einem solchen Mittel zu greifen.21 War das unerwünschte Kind dennoch zur Welt gekommen, boten sich den Eltern in der Frühen Neuzeit zwei letzte Auswege: Die Aussetzung, auf die weiter unten eingegangen wird, und der Infantizid.22 Die Grenzen zwischen aktiver Tötung und eher passiver Vernachlässigung scheinen hier nicht leicht zu ziehen, kaum etwas Sicheres lässt sich über die Häufigkeit der Fälle sagen.23 In der Anti-
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Belastung, die Kinder in der Frühen Neuzeit für den Haushalt bedeuten konnten; vgl. MÜNCH, Lebensformen, 213 f. Zu geläufigen Verhütungspraktiken vgl. ROBERT JÜTTE, Die Persistenz des Verhütungswissens in der Volkskultur. Sozial- und medizinhistorische Anmerkungen zur These von der „Vernichtung der weisen Frauen“, in: Medizinhistorisches Journal. Internationale Vierteljahresschrift für Wissenschaftsgeschichte, 24 (1989), 214–231, hier 215. Weitergehende Erläuterungen zu den Methoden der Empfängnisverhütung vgl. generell: NORMAN E. HIMES, Medical history of contraception, London 1936. Als Beispiele führt EDWARD SHORTER, Der weibliche Körper als Schicksal. Zur Sozialgeschichte der Frau, München 1984, 204 ff. etwa Mutterkorn, Gartenraute, Rainfarnöl oder Sadebaum, also allesamt hochtoxische Substanzen, an. Vgl. ebd., 215 ff. Angaben über die Zahl dieser Abtreibungen sind kaum zu erheben: Sie blieben in den allermeisten Fällen das Geheimnis der Frau, vielleicht noch der Person, die das Abtreibungsmittel bereitgestellt hatte. Möglicherweise war jedoch die Zahl der so beendeten Schwangerschaften beträchtlich; Schätzungen gehen von einem Vielfachen der Kindstötungen aus. Vgl. JÜTTE, Persistenz des Verhütungswissens, 226. Dem Thema ist eine erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt worden, wie die großen Studien von MICHALIK, Kindsmord und OTTO ULBRICHT, Kindsmord und Aufklärung in Deutschland, München 1990 zeigen. Zur rechtlichen Bedeutung des Terminus vgl. generell WILHELM WÄCHTERSHÄUSER, Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der dogmatischen, prozessualen und rechtssoziologischen Aspekte, Berlin 1978. MICHALIK, Kindsmord, 36: „Der Tod im Säuglingsalter, der ab einer bestimmten Kinderzahl bevorzugt die Zuletztgeborenen dahinraffte, vollzog sich in aller Stille, in einem diffusen Spektrum, der von ‚sterblichkeitserhöhenden Praktiken‘ oder ‚weichen Formen‘ der Kindstötung wie der bewußten Vernachlässigung durch mangelhafte Ernährung und Pflege über den ‚fahrlässigen‘ Unfalltod bis hin zur Tötung durch direkte Einwirkungen reichte. Umfang und Ausmaß dieser verschiedenen Formen direkter oder indirekter ‚Kindstötungen‘ lassen sich
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ke und bis ins Mittelalter hinein hatte der pater familias – und nur er – das Recht gehabt, ein Kind anzunehmen oder zu töten bzw. auszusetzen.24 Vor allem Mädchen waren in vielen Gegenden von einem baldigen Tod bedroht.25 Dieses ius vitae et necis wurde jedoch in der antiken Gesellschaft bereits in vorchristlicher Zeit immer stärkeren Beschränkungen unterworfen; für das Christentum schließlich war eine solche Handlungsweise unvereinbar mit den religiösen Grundsätzen. Die Carolina formulierte 1532 eine reichseinheitliche Strafregelung, die jedoch schon lange Zeit vorher von den meisten Reichsstädten praktiziert worden war. Kindsmord galt nun als qualifizierter Mord, „zwar nicht identisch mit dem Verwandtenmord […], ihm aber nahegerückt.“26 Das Strafmaß war drakonisch: in der Regel Ertränken, in Gegenden, wo solche Taten häufiger vorkamen, Lebendigbegraben und Pfählen.27 Ebenfalls bereits im Mittelalter finden sich kirchliche Strafandrohungen gegen das „fahrlässige“ Ersticken von Säuglingen während des Schlafes im elterlichen Bett.28 Unter dem Einfluss aufklärerischer Ideen veränderte sich die Lage. Während, zuerst in Westeuropa, die Zahl der illegitimen Kinder stieg29, wurde das Strafmaß für die meist weiblichen Täter zurückgenommen. Das Ehrenrettungsmotiv galt als entlastend, die gesellschaftlichen Umstände, die zu den Tötungen führten, fanden nun Beachtung.30 Verkürzt gesagt: Der Infantizid wurde von einem besonders schweren Mord zu einem Tötungsdelikt, bei dem zahlreiche mildernde Umstände angesetzt werden konnten31, oder, wie es WÄCHTERSHÄUSER formuliert, ein
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nicht einschätzen. Ob ein Kind bereits tot zur Welt gekommen oder erst nach der Geburt, durch mangelnde Fürsorge oder direkte Nachhilfe ums Leben gekommen war, konnte von Außenstehenden kaum nachvollzogen werden.“ Vgl. K. ARNOLD, Kind und Gesellschaft, 44 f. Vgl. ebd., 44. WILHELM WÄCHTERSHÄUSER, „Kindestötung“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. II, Sp. 735–741; hier Sp. 738. Vgl. ebd.; schon allein dieses Strafmaß macht deutlich, dass jede quantitative Erfassung des Phänomens bald an ihre Grenzen stoßen muss, denn die Vorsicht, die die Täterinnen und Täter walten ließen, war sicher nicht zu überbieten. ARNOLD, Kind und Gesellschaft, 49 ff. ULBRICHT, Kindsmord, 208 ff. In diesen Rahmen gehört auch PESTALOZZIS bekannte Schrift Ueber Gesezgebung und Kindermord. Wahrheiten und Träume, Nachforschungen und Bilder, in: Sämtliche Werke. Bd. 9: Schriften aus der Zeit von 1782–1787, bearbeitet v. E. DEJUNG, W. GUYER und HERBERT SCHÖNEBAUM, Berlin; Leipzig 1930, 1–181; hier 12: „Des Mädchens Handlung ist gar nicht eine solche schwarze kaltblütige Bosheit wie diejenige, mit welcher der Jüngling seine Betrüge spielt.“ Die Kindsmörderin wird nun im Banne ihrer Affekte gesehen; allein gelassen vom Vater des Kindes und ohne staatliche Hilfe erscheint sie lediglich als das letzte Glied in einer langen Kette von Versäumnissen. Allerdings ließ das geltende Recht nach allgemeiner Meinung nur die Todesstrafe als Ahndung zu, was zu der einigermaßen paradoxen Situation führte, dass „in beweisrechtlicher Hinsicht die Anforderungen – man möchte fast sagen künstlich – so hoch geschraubt [wurden] (z. B. Bezüglich der Ermittlung des corpus delicti, der Glaubwürdigkeit des Geständnisses, der Lebensfähigkeit des Tatopfers oder dessen Lebendigsein überhaupt), daß die erdrückende Mehrheit der Kindsmordprozesse mit einer willkürlichen, d. h. milderen Versuchsoder Verdachtsstrafe endeten oder es überhaupt nur zur Bestrafung wegen damals überall
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„scharf konturierter Sonderfall“.32 Erst nun entwickelte sich ein eigener Straftatbestand der Kindestötung, wobei sich die rechtliche Bedeutung des Begriffes in der heute geläufigen Form differenzierte.33 Selbst ein entschiedener Verfechter der Todesstrafe wie Kant wollte die Kindestötung als milder zu sanktionierenden Ausnahmefall gelten lassen34, und erst recht galt dies für straftheoretisch weniger rigoros denkende Naturen wie Friedrich II.35 oder Voltaire36. Ob diese neuen Regelungen zu einem Anstieg der Taten führten oder nicht, ist eine in der Forschung diskutierte Frage37; jedenfalls scheint sich das alte Bild der „Seuche“, die der Kindsmord im 18. Jahrhundert gewesen sei, nicht ohne Weiteres halten zu lassen.38 Sicher ist jedoch, dass die gebildeten Schichten, vor allem des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts, die Verhinderung des Kindsmordes zu einem Modethema machten. Bekannt wurde die 1780 formulierte Mannheimer Preisfrage nach
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selbständig poenalisierter Verheimlichung von Schwangerschaft und Geburt kam. Todesurteile wegen K[indestötung] sind am Ende des 18. Jahrhunderts eine Seltenheit.“ WÄCHTERSHÄUSER, „Kindestötung“, Sp. 739. Vgl. WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen des Kindesmordes, 8. Als Kindestötung im engeren Sinne galt nun „die vorsätzliche Tötung eines außerehelich gezeugten Kindes während oder gleich nach der Geburt.“ WÄCHTERSHÄUSER, „Kindestötung“, Sp. 736. „Infanticidum, in sensu stricto et proprio, est homicidum, quod a matre in infantes a) recens natos b) committitur.“ GEORG JAKOB FRIEDRICH MEISTER, Principia Juris Criminalis Germanici Communis, Göttingen 51811, zit. nach WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen des Kindesmordes, 7. „Es giebt indessen zwei todeswürdige Verbrechen, in Ansehung deren, ob die Gesetzgebung auch die Befugniß habe, sie mit der Todesstrafe zu belegen, noch zweifelhaft bleibt. […] Das eine Verbrechen ist der mütterliche Kindesmord (infanticidum maternale); das andere der Kriegsgesellenmord (commilitonicidium); das Duell.“ IMMANUEL KANT, Metaphysik der Sitten [1797], in: DERS., Werke in sechs Bänden, Band 5, Köln 1995, 335 f. „Ist durch die Gesetze nicht eine Art von Schande mit der heimlichen Niederkunft verknüpft? Kommt ein Mädchen von zu zärtlichem Gemüt, das sich durch die Schwüre eines Wüstlings hat verführen lassen, infolge ihrer Leichtgläubigkeit nicht in die Notlage, zwischen dem Verlust ihrer Ehre und ihrer unglücklichen Leibesfrucht zu wählen? Ist es nicht Schuld der Gesetze, daß sie in eine so grausame Lage gerät?“ Zit. nach WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen des Kindesmordes, 29. „La veritable jurisprudence est d’empêcher les delits, et non, de donner la morte à un sex faible, quand il est évident que sa faute n’a pas accompagnée de malice, et qu’elle a coûté à son cœur.“ Zit. n. ebd., 28. Es folgt der Ratschlag, öffentliche Findelhäuser und Gebäranstalten einzurichten. Denn auch die harte Verhängung der Todesstrafe scheint – überraschenderweise – einige Opfer gefordert zu haben, da ein verhängnisvoller psychologischer Prozess eintrat: „In Dänemark sollen uneheliche Mütter mehrmals durch das düster-feierliche Gepränge bei der Hinrichtung von Kindsmörderinnen in einem solchen Maße beeindruckt worden sein, daß sie ihre Kinder umbrachten, in der Absicht, selbst einen so erhabenen Tod zu erleiden.“ Ebd., 125 f. Die These, dass es im 18. Jahrhundert zu stark ansteigenden Zahlen bei Kindsmord gekommen sei, ist vor allem durch ULBRICHT, Kindsmord und Aufklärung, 176 ff. kritisiert worden. Im Hintergrund dieser Debatte verbirgt sich letztlich die kaum zu entscheidende Frage, wie hoch die Dunkelziffer veranschlagt werden muss. Im Gegensatz zu den meisten anderen Autoren argumentiert Ulbricht (ebd., 177), dass man hier von einer niedrigen Zahl ausgehen müsse. Dagegen betont WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen des Kindesmordes, 110 die Wahrscheinlichkeit einer hohen Dunkelziffer.
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der besten Möglichkeit zur Verhinderung dieses Verbrechens, auf die nicht weniger als 385, wahrscheinlich sogar gut über 400 Zuschriften eingingen. Zum Vergleich: ein Rückfluss von mehr als zwanzig Antworten galt in dieser Zeit bereits als ausgesprochen hoch.39 Die historischen Belege über Kindesaussetzungen reichen ebenfalls weit zurück. Sie finden sich in griechischen Komödien des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts, den Schriften Polybios’, den Gesetzbüchern Spartas oder im römischen Zwölftafelgesetz. Erst in der späteren Kaiserzeit geriet der Brauch in die Kritik.40 Aber auch in anderen Regionen Europas war die Kindesaussetzung ein weitverbreiteter Brauch, etwa in Island, wo sich vielfältige Verweise in der Njals-, Finnboga- und Gunnlaussaga finden.41 Die Christianisierung führte nicht zu einem abrupten Ende dieser tief verwurzelten Sitten; für Nordeuropa muss erst das 12. Jahrhundert als Datum gelten, an dem die Kindesaussetzung unter schwere Strafe gestellt wurde. Während die Opfer der Kindstötungen völlig aus unserem Gesichtskreis verschwinden, trifft dies auf die ausgesetzten Kinder nur zum Teil zu. Hinzu kommt, dass die Zahl der Aussetzungen die der Kindsmorde wohl deutlich überstieg42, ein Vorgang, der sich noch heute an dem häufigen Auftauchen solcher Themen in den bekannten Volksmärchen nachempfinden lässt.43 Sicher starb eine große Anzahl von ihnen bereits nach kurzer Zeit, vor allem, wenn man bedenkt, dass die Geburtszahlen in der kalten Jahreszeit stets höher waren als im Sommer – ein Ausdruck der „Rythmisierung des Lebens“ wie sie IMHOF festgestellt hat.44 Aber andererseits hatten einige auch das Glück zu überleben, und der Anteil dieser Findelkinder stieg seit dem Mittelalter stetig an. Was die Zahl der ausgesetzten Kinder betrifft, so finden sich in der neueren Geschichte zwei entscheidende Zäsuren; zwischen diesen liegt das, was man als
39 OTTO ULBRICHT, Reformvorschläge und Reformmaßnahmen auf dem Gebiet der Illegitimität und des Kindsmordes in Nordwestdeutschland, in: RICHARD VAN DÜLMEN (Hrsg.), Das Volk als Objekt obrigkeitlichen Handelns [Kultur und Gesellschaft in Nordwestdeutschland, 1], Tübingen 1992, 121–169; hier 122. 40 Vgl. SIGURD GRAF VON PFEIL, Das Kind als Objekt der Planung. Eine kulturhistorische Untersuchung über Abtreibung, Kindestötung und Aussetzung, Göttingen 1979, 278 f. 41 Ebd., 280 ff. 42 MEUMANN, Findelkinder, 145, kommt etwa für Hannover zu dem Ergebnis, dass „Kindesaussetzungen etwa fünf- bis sechsmal häufiger als Kindsmordfälle“ gewesen seien. 43 Von der naiven Annahme, dass sich die Realität ungebrochen in den Märchen spiegelt, ist allerdings Abstand zu nehmen, denn auch wenn das Motiv der Kindesaussetzung in den Märchen häufig erscheint, und „wenn es sogar Volkserzählungen gibt, in denen die Aussetzung als ‚alter Brauch‘ geschildert wird, so ist damit z. B. für das Märchen von Hänsel und Gretel […] noch wenig gewonnen, wo dieses grausame Motiv allein vom Aufbau der Handlung her erfunden zu sein scheint. Das Motiv fehlt auch in einem großen Teil der Varianten. Ein Verhältnis zu einer historischen Wirklichkeit ist hier also nicht zu sehen.“ LUTZ RÖHRICH, Märchen und Wirklichkeit, Wiesbaden 21964, 104. 44 IMHOF, Leib und Leben, 30 ff. belegt eindrucksvoll, wie sich die von der Natur diktierten Arbeitszeiten einer agrarisch geprägten Gesellschaft auf die Geburtenrate übertrugen.
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das „Jahrhundert der Findelkinder“45 bezeichnet hat. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts stellt man einen starken Anstieg in ganz Europa fest, der sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts halten sollte46; dann begannen staatliche Maßnahmen zu greifen, welche die Zahlen schließlich auf das uns geläufige niedrige Niveau drückten. Die Jahre zwischen 1750 und 1850 bilden damit den Rahmen, innerhalb dessen in Europa eine bis dahin nie gekannte Zahl an Kleinkindern ausgesetzt wurde.47 Im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts erreichte die Zahl ihren Höhepunkt; mehr als 100.000 Kinder teilten Jahr um Jahr dieses Schicksal.48 2.1.3. Korporative und obrigkeitliche Fürsorge Mit welchen Faktoren hing dieser Effekt zusammen, der schließlich dazu führte, dass die Findelkinder eines der beherrschenden Themen des 18. Jahrhunderts wurden und ihren Weg in die Literatur fanden?49 Die kurze Antwort lautet: Weil man sie nun aussetzen konnte, ohne gleichzeitig in den Ruch des Mordversuchs zu geraten. Mit dem Einsetzen der Aufklärung hatte sich der absolutistische Staat zunehmend auch um die sozialen Belange seiner Untertanen gekümmert; eine Folge dieser neuen Sorge war die Einrichtung eben jener Findel- und Waisenhäuser50, die uns in Mittel- und Westeuropa vermehrt seit dem 17. Jahrhundert be45 HUNECKE, Findelkinder von Mailand, 14. MEUMANN, Findelkinder, 142 übernimmt den Begriff ebenfalls. 46 Gegen Ende des 18. Jahrhunderts weisen die großen Städte Europas jährlich mehr meist als tausend, oft mehrere tausend ausgesetzte Kinder auf; HUNECKE, Findelkinder von Mailand, 13. 47 Relativ betrachtet stellt man fest, dass die Zahl der ausgesetzten Kinder die der getöteten bei weitem überstieg: „Fassen wir das Ergebnis zusammen, so können wir feststellen: Gegenüber den echten Kindsmordfällen überwiegt die expositio infantis bei weitem; innerhalb des Kindesaussetzung wurde zwischen der einfachen und der gefährlichen Form unterschieden. Die erstere bezeichnet offenbar diejenigen Fälle, bei denen das Kind so ausgesetzt wurde, daß den Umständen nach mit seiner Auffindung vor dem Eintritt gefährlicher Folgen für Leben und Gesundheit gerechnet werden konnte, während bei der expositio periculosa derartige Folgen zu erwarten waren. Die ungefährliche Kindesaussetzung stellt die weit größere Zahl von Quellen. Beim Kindermord finden wir beträchtlich mehr Verdachtsstrafen als Aburteilungen wegen des voll erwiesenen Delikts.“ WÄCHTERSHÄUSER, Verbrechen des Kindesmordes, 117; diese Aussage gilt für Würzburg, vermittle aber „ein anschauliches Bild der Kriminalität des späten 18. Jahrhunderts“; ebd. 113. 48 Vgl. VOLKER HUNECKE, Intensità e fluttuazioni degli abbandoni dal XV al XIX secolo, in: Enfance abandonné et société en Europe, 27–72, hier 38. Vgl. auch ebd., Tab. 1, 37. 49 Etwa Fieldings Tom Jones oder später die Werke Dickens’ und Emile Zolas Bauch von Paris. 50 Zwischen diesen beiden Institutionen muss deutlich unterschieden werden. Seit dem letzten Drittel des 17. Jahrhunderts wurden verstärkt Waisenhäuser eingerichtet, die als die Patentlösung aller Probleme erschienen. Der Boom hielt bis in die 1750er Jahre an, in denen schließlich eine große Debatte um Für und Wider der Anstalten entbrannte; viele wurden schließlich geschlossen. Zur aufklärerischen Diskussion um die Findel- und Waisenhäuser vgl. ULBRICHT, Kindsmord, 300 ff. Es gilt zu beachten, dass die meisten der Waisenhäuser strikte Aufnahmebedingungen einhielten: Säuglinge blieben generell ausgeschlossen, da der Aufwand als zu groß erschien. Einzelversorgung bei Ammen oder Pflegefamilien schien hier die bessere Lösung zu sein. Ebenso wenig kamen uneheliche und behinderte oder kranke Kinder
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gegnen. 51 Damit trat auch eine semantische Verschiebung des Begriffes Findelkind ein52: Bezeichnet wurde nun nicht mehr ein Kind, das tatsächlich völlig allein gelassen worden war, ohne sich ernsthaft um das Überleben zu sorgen; vielmehr meinte man nun die Kinder, die direkt an den dafür vorgesehenen Plätzen abgeliefert wurden. Auch wenn die Lebensverhältnisse in vielen dieser Heime schlecht gewesen sein mögen53, ist es sicherlich nicht statthaft, den aussetzenden Eltern eine Tötungsabsicht unterstellen zu wollen. Im Gegenteil, je besser die Ausstattung der Häuser war, desto mehr Kinder wurden dorthin gebracht – der Schritt erschien zunehmend akzeptabel. Nur so ist die Freimütigkeit zu erklären, mit welcher der berühmteste Kindesaussetzer seiner Zeit, Rousseau, darüber berichtet, ja seine Nachkommen darum angeblich gar beneidet.54 Ein Kind auszusetzen scheint tatsächlich für eine ganze Anzahl von Eltern nicht eine schändliche Tat, sondern ein ultimativer Akt der Liebe gewesen zu sein. Zu diesem Ergebnis kommen jedenfalls ROBIN & WALCH in ihrer Studie über die an den ausgesetzten Säuglingen angebrachten Mitteilungen.55 Allerdings: Deren emotionale Komponente, im 17. Jahrhundert in fast aufdringlicher Form vorhanden, verliert sich – synchron mit der flächendeckenden Einrichtung von Findelhäusern – im 18. Jahr-
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in den Genuss der Aufnahme. Die Waisenhäuser sind somit keine Findelkindanstalten. Ferner spielte auch die Konfession und die regionale Abstammung eine Rolle bei der Zulassung. „Findelkinder gab es, überspitzt gesprochen, nur dort, wo spezielle Anstalten für ihre Versorgung bereitstanden und Aussetzungen im eigentlichen Sinn daher überflüssig waren und tatsächlich auch kaum vorkamen.“ HUNECKE, Findelkinder von Mailand, 15. Gleiches gilt für die Pendants trovatello, esposito, enfant trouvé, foundling. Was Malthus zu seinem bissigen Kommentar veranlasste, die beste Methode zur Beschränkung der Bevölkerungszahlen sei die Ausweitung des Waisenhauswesens: „[…] if a person wished to check population, and were not solicitous about the means, he could not propose a more effectual measure than the establishment of a sufficient number of foundling hospitals.“ THOMAS ROBERT MALTHUS, An Essay on the Principle of Population, London 71872 [ND New York 1971], 151; zit. n. HUNECKE, Findelkinder von Mailand, 29. Die extreme Unterschiedlichkeit der Zahlen, die bezüglich der Sterblichkeit angegeben werden, spiegelt die Vehemenz, mit der gegen Ende des 18. Jahrhunderts über die Anstalten diskutiert wird. Der Königsberger Professor Kreuzfeld, der 1780 eine Schrift zur Preisfrage „Welche sind die besten ausführbaren Mittel, dem Kindermord Einhalt zu thun?“ einreichte, argumentiert gegen die Findelhäuser: „Endlich sind die meisten Findelhäuser Gräber für die Kinder. Es bleiben darin im Durchschnitt von zehn Jahren von 100 kaum 3 bis 5 leben.“ Zit. nach PFEIL, Das Kind als Objekt der Planung, 316 f. Für Italien sind Zahlen überliefert, die eine Sterbeziffer von 50– 70% nahelegen; CARLO A CORSINI, Era piovuto dal cielo e la terra l’aveva raccolto“: il destino del trovatello, in: Enfance abandonné et société en Europe, 81–119; hier 90 ff. Die Zustände in den Heimen hingen natürlich in letzter Instanz von den Mitteln ab, die ihnen zugeteilt wurden. „Mon troisième enfant fut donc mis aux Enfants-Trouvés, ainsi que les premiers, et il en fut de même des deux suivants; car j’en ai eu cinq en tout. Cet arrangement me parut si bon, si sensé, si légitime, que si je ne m’en vantai pas ouvertement, ce fut uniquement par égard pour la mère […] Tout pésé, je choisis pour mes enfants le mieux, oui ce que je crus l’être. J’aurais voulu, je voudrais encore avoir été élevé et nourri comme ils l’ont été.“ JEAN-JACQUES ROUSSEAU, Les Confessions, hg. v. J. VOISINE, Paris 1980, 404 ff. ISABELLE ROBIN & AGNES WALCH, Les billets trouvés sur les enfants abandonnées à Paris aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Enfance abandonné et société, 981–987; insbes. 986.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
hundert spürbar. Ein Zeichen für die Allgegenwärtigkeit, ja vielleicht sogar empfundene Banalität des Phänomens.56 Es ist naheliegend, die materielle Notlage der Eltern für deren Entscheidung, das Kind auszusetzen, verantwortlich zu machen.57 Tatsächlich zeigt sich, dass ein Anstieg des Getreidepreises eng mit der Aussetzungszahl korreliert. Allerdings erklärt dies nicht den kontinuierlichen Anstieg der Zahlen über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren, sondern nur die gelegentlichen Spitzen, welche die häufigen – aber eben auch kurzen – Krisen vom type ancien hervorriefen. Zudem darf man davon ausgehen, dass sich die konjunkturelle, ökonomische und politische Lage im 18. Jahrhundert eher besser darstellte als noch 100 Jahre zuvor.58 Armut war somit für viele ein auslösender Faktor – allein reicht er aber nicht aus, um die Entwicklung zu erklären. Auch der Anstieg bei den Zahlen für illegitime Kinder, der sich in der gleichen Zeit beobachten lässt, kann nicht ohne Weiteres als Begründung verwendet werden. Zwar ist es richtig, dass die Findelhäuser prinzipiell für uneheliche Kinder gedacht waren. Allein: Die Zahlen schwankten, beispielsweise in Frankreich, beträchtlich. Während an einigen Orten weniger als 10% der Findelkinder aus ehelichen Verhältnissen stammten, muss man etwa für Reims zwischen 25 und 50%, für Limoges und Angers sogar über 50% ansetzen.59 So kommt man zu dem – zugegebenermaßen strukturell betrachtet enttäuschenden – Schluss, dass es eine jeweils individuelle Problemlage war, die Eltern dazu brachte, ihre Kinder auszusetzen. Als Faktoren lassen sich vor allem wirtschaftliche Zwänge, aber auch die Furcht vor jener gesellschaftlichen Diskriminierung ausmachen, die der illegitimen Geburt folgte.60 Die Furcht vor Bestrafung konnte diese Antriebe kaum eindämmen. Die staatlichen Interessen, welche die Einrichtung von Anstalten begleiteten, waren vielschichtig. Auf der einen Seite war die Fürsorge für die Schwachen christliches Gebot61, dem der absolute Fürst, wollte er nicht das ihn legitimierende Gottesgnadentum fahrlässig in Frage stellen, ganz besonders unterworfen war. Von dieser Seite kündet der Patentbrief, durch den Ludwig XIV. 1670 das Pariser Hospiz in eine öffentliche Einrichtung umwandelte: Nichts sei christlicher als die Sorge um die „armen ausgesetzten Kinder“, deren „Schwäche und Unglück“ allen
56 „[…] l’abandon y est devenu un recours plus facile, un geste plus banal“. Ebd., 987. 57 Generell findet sich in den Erklärungsversuchen der einschlägigen Literatur die Trias Unehelichkeit, Armut, Absolutismus (mit dem Begleitphänomen des Merkantilismus) mit unterschiedlicher Gewichtung. 58 ROBIN &WALCH, Billets Trouvés, 987. 59 HUNECKE, Findelkinder von Mailand, 26. 60 Vgl. auch die oben geschilderten Beweggründe Rousseaus. 61 Exodus 22, 21: „Eine Witwe oder eine Waise sollt ihr in keiner Weise unterdrücken.“ Deuteronomium 24, 17: „Verflucht ist, wer das Recht des Fremdlings, der Waise und der Witwe beugt!“; Jakobus 1, 27: „Lautere und unbefleckte Frömmigkeit vor Gott und dem Vater ist diese: Waisen und Witwen in ihrer Drangsal aufsuchen und sich selbst unbefleckt bewahren von dieser Welt.“ Zu weiteren Details der frühchristlichen, monastischen und mittelalterlichen Waisenfürsorge: FRIEDRICH FRANZ ROEPER Das verwaiste Kind in Anstalt und Heim. Ein Beitrag zur historischen Entwicklung der Fremderziehung, Göttingen 1976, 11 ff.
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Mitleids würdig sei.62 Andererseits waren dem Absolutismus aber auch wirtschaftliche und machtpolitische Fragen nicht fremd, und so begründet Ludwig seine Maßnahme zusätzlich sehr pragmatisch: Die Findelkinder mochten zu dem Staat nützlichen und, so wohl das Kalkül, besonders verpflichteten und ergebenen Soldaten oder Kolonisten heranwachsen.63 Wie groß die Rolle war, die diese Motive tatsächlich spielten, ist unklar, insbesondere, wenn man die wirtschaftlichen Desiderata des Merkantilismus ansetzt. Immerhin kosteten die Staatsdiener in spe zunächst eine nicht unbeträchtliche Summe.64 Weitaus genauer lassen sich utilitäre Motivationen für das 18. Jahrhundert nachweisen. Die Bedeutung der Nützlichkeit war für das Zeitalter der Aufklärung immens; sie erschien nachgerade als eine Emanation der Vernunft selbst. So überrascht es nicht, dass auch die Findelkinder unter einem Nutzaspekt betrachtet wurden. Ludwigs vage Gedankenspiele aus dem 17. Jahrhundert aufnehmend lohnte es sich bei jährlich 9.000 „enfants qui ne connaissent de mère que la patrie“ tatsächlich, sie als Kolonisten einzusetzen – Louisiana wäre nach 30 Jahren mit 200.000 Einwohnern eine prosperierende Kolonie gewesen.65 Aber auch abseits solcher Traumtänzereien galt die Ansicht, der Staat begebe sich eines enormen Kapitals, wenn er das brachliegende Menschenmaterial nicht sozusagen vernützliche.66 Lässt man diese Überlegungen einmal beiseite, entsprachen die humanitären Aspekte aber auch voll und ganz dem bon ton der Zeit; die Findelhäuser waren ohne Frage Ausdruck einer aufklärerischen Programmatik, welche sich die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Armen auf ihre Fahnen geschrieben hatte. In diesem Rahmen wurden sie als unverzichtbare Mittel angesehen, das Leben und Überleben sowohl der ledigen Mütter und verarmten Familien als auch der ausgesetzten Kinder sicherzustellen, auch wenn die Durchführung des Programms in vielen Fällen halbherzig blieb. Gleichzeitig trieb der absolutistische Staat seinen Anspruch auf Kontrolle der Untertanen und Zentralisierung der Einrichtungen voran. Letztes Ziel der Obrigkeit, durch die Übernahme und Vereinheitlichung der Armenfürsorge bald zunehmend in der finanziellen Pflicht, war eine möglichst tiefgreifende Verhinderung der Ursachen der Armut. Als ärgster Feind jeden 62 „Comme il n’y a pas de devoir plus naturel ni plus conforme à la charité chrétienne que d’avoir soin des pauvres enfants exposés, que leur faiblesse et leur infortune rendent également dignes de compassion […].“ Zit. n. JEHANNE CHARPENTIER, Le droit de l’enfance abandonnée. Son évolution sous l’influence de la Psychologie (1552–1791), Paris 1967, 230 ff. 63 Vgl. ebd., 231. 64 Die Quelle nennt „sommes de quatre mille livres, & huit mille livres“, die insgesamt bereitgestellt wurden. Ebd. 65 HUBERT PIARRON DE CHAMOUSSET, Mémoire politique sur les enfants (1757), zit. n. MARIEFRANCE MOREL, À quoi servent les enfants trouvés? Les médecins et le problème de l’abandon dan la France du XVIIIe siècle, in: Enfance abandonné et société, 837–858; hier 837. 66 Vgl. den Auszug eines von Tchoudy vor der Société Royale des sciences et des arts verlesenen Mémoire; zit. n. ebd., 838.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
staatlichen Wohlstandes war bereits seit geraumer Zeit der Müßiggang ausgemacht worden, welcher deshalb mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden sollte. Ein fauler Mensch ist nicht werth/ daß er betrette die Erd; ein solcher Limmel/ kombt nicht in Himmel […]. Ein fauler Mensch ist von Gott verlassen/ der Welt verhassen/ vom Teuffel gefassen […]. Einem Faulentzer seynd alle Element zuwider und beschwerlich; die Erden/ in welcher er arbeiten soll/ ist ihm zu hart; der Wind zu starck/ das Wasser zu kalt/ Das Feuer zu heiß etc. Im Frühling sticht ihn der Lentz/ Im Sommer die Mucken/ im Herbst will er sich nicht bucken/ im Winter geht er an der Krucken/ last sich von den Läusen jucken/ vom Bettl sack drucken/ und muß in die leere Schissel gucken/ als ein fauler Narr wenig schlucken […]67
stolperte Abraham a Santa Clara durch die Reime und sprach dabei der Obrigkeit aus der Seele. Müßiggängertum galt es zu vermeiden, denn „einer der nichts thut/ wird mit der Zeit anfangen übels zu thun“.68 Jedenfalls fiel seine Arbeitskraft weg, ein Mangel, den sich die cameralistische Wirtschaft nicht leisten konnte und wollte. Wer irgendwie arbeitsfähig war, galt nicht als berechtigt, Almosen zu empfangen, und diejenigen, die in den Genuss der obrigkeitlichen Hilfe kamen, sollten zumindest „ihre veranstaltete Unterhaltung einigermaßen verdienen“.69 Die beste Versicherung gegen solch nutzlose und liederliche Untertanen schien allemal eine christliche Erziehung zu sein; eine Erziehung, die möglichst auch die Maximen und Interessen des Fürsten berücksichtigte. Von daher versteht sich der im 18. Jahrhundert häufig vorgenommene Versuch der Durchsetzung einer allgemeinen Schulpflicht, zumindest für die Wintermonate. Künftig wurde der Erhalt von Armengeld in einigen Regionen an den Schulbesuch der Kinder gebunden; sogar Schulgeld und Bücher wurden gestellt.70 Arbeitsamkeit erschien auch für Kinder als probates Mittel, den „Faulteufel“71 zu exorzieren; gebietsweise finden sich sogar Kombinationen von Zucht-, Arbeitsund Waisenhaus.72 Ebenso wie andere Randgruppen der Gesellschaft, Bettler oder Dirnen, galt es auch bei den Kindern, sie so zu erziehen, dass sie vom Betteln abgebracht und zur Arbeit hingeführt wurden. Auf einen geregelten Tagesablauf und Disziplinierung wurde großer Wert gelegt.73 Gleichzeitig wurden die vorhandenen ökonomischen Kräfte im bestmöglichen obrigkeitlichen Sinn genutzt. Diese wirtschaftliche Stringenz sollte sich allerdings für die ursprünglich pädagogische Zielsetzung der Anstalten als fatal erweisen, denn es folgte eine „weitgehende Ausbeutung der Arbeitskraft dieser Mädchen und Jungen, die auf Kosten von Unter67 ABRAHAM A SANTA CLARA, Centi-Folium Stultorum In Quarto. Oder Hundert Ausbündige Narren […], 1709; zit. n. PAUL MÜNCH (Hrsg.), Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der „bürgerlichen Tugenden“, München 1984, 149. 68 Ebd., 151. 69 Zit. n. MEUMANN, Findelkinder, 225. 70 Vgl. ebd., 227. 71 So der Titel einer 1563 erschienenen Schrift des lutherischen Predigers Westphal; vgl. MÜNCH, Lebensformen, 137. 72 Vgl. MEUMANN, Findelkinder, 260. 73 Vgl. TAPPE, Der Armuth zum besten, 137 f., der einen Tagesablauf im Armen- und Waisenhaus anführt. Zur Disziplinierung vgl. ebd. 140 ff.
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richt, Spiel- und Freizeit, von Erholung und Gesundheit ging.“74 Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts wandelte sich die Situation in signifikantem Maß. Die Bedeutung der Erziehung wurde nun, auch unter dem Einfluss der Philanthropie, höher bewertet, das ehemalige Wachpersonal der Anstalten, die Arbeitsaufseher, wurde allmählich durch pädagogisch kompetente Erzieher zu ersetzen versucht. „Strafe und Strafmaß verringerten sich, die Belohnung […] gewann an Bedeutung. Zugleich wurde dem Gesundheitszustand der Kinder mehr Beachtung geschenkt durch bessere Hygiene und Kost, wie durch Leibesübungen, Freizeit und Erholung. Auch dem Schulunterricht wurde zunehmend mehr Beachtung geschenkt […].“75 Während Frankreich – die Bemühungen Ludwigs XIV. wurden oben beschrieben – bereits früh über ein obrigkeitlich reguliertes Waisen- und Findelhauswesen verfügte, das zudem an mittelalterliche Traditionen anknüpfen konnte, hinkte die Entwicklung in den deutschen Territorien hinterher. Erst weit nach Ende des Dreißigjährigen Krieges rückte die Frage einer öffentlich-obrigkeitlichen Armenversorgung überhaupt in den Blickpunkt der Fürsten. Danach blieb sie, was die Institutionalisierung anging, zu einem guten Teil konfessionell bestimmt. Diese Feststellung ist vor allem in Bezug auf den in Kap. 3 vorgestellten Peter von Hameln von einigem Gewicht: Kur-Hannover war protestantisch, amtlichem Forschungsdrang wurde hier freier Lauf gelassen. In katholischen Territorien dagegen war die Suche nach dem Vater den Behörden untersagt. Nur die Mutter konnte eine Vaterschaftsklage einreichen. Natürlich blieb es auch auf protestantischem Terrain in der Regel schwierig, den oft verschwundenen mutmaßlichen Vater ausfindig zu machen, aber in solch einem Fall konnten dessen Verwandte in Regress genommen werden.76 Die Zahl der Waisenhäuser korreliert mit diesen Systemen. Wo der Vater vor Nachforschungen geschützt war und sogar die Geheimhaltung der Mutterschaft garantiert wurde77, richtete die Obrigkeit oft ein gut ausgestattetes Findelhauswesen ein.78 Wo solche Anstalten aber nur in dem relativ 74 FRIEDRICH FRANZ ROEPER, Das verwaiste Kind in Anstalt und Heim. Ein Beitrag zur historischen Entwicklung der Fremderziehung, Göttingen 1976, 140. 75 Ebd., 140. Die durchaus feststellbare Verbesserung der Lage der Kinder wurde jedoch bald von einer neuen Bedrohung überschattet – dem pädagogischen Eifer der Erzieher. 76 Dies führte allerdings dazu, dass nun die Aussetzenden bevorzugt die Grenzgebiete der Länder für ihre Tat benutzten, um möglichst schnell in ein anderes Hoheitsgebiet wechseln zu können; vgl. MEUMANN, Findelkinder, 147. Die Aussage, dass in den protestantischen Gebieten eine ähnliche Akzeptanz gegenüber dem Phänomen der Aussetzung bestand wie in den katholischen, wie Meumann vor allem anhand der relativ geringen verhängten Strafen nachweisen zu können glaubt, muss man jedoch vor dem Hintergrund der deutlich niedrigeren Zahlen sehen, die er anführt. Ebd., 165. Dagegen sprechen zudem die amtlichen Gegenmaßnahmen, mit denen zumindest versucht wurde, die Täter aufzuspüren,. 77 HUNECKE, Findelkinder von Mailand, 27. Dies war in den habsburgischen Ländern und in Italien der Fall. 78 Damit korrelieren die Beobachtungen MEUMANNS, Findelkinder, 142. In seinem Untersuchungsgebiet, dem protestantisch geprägten norddeutschen Raum, sind bereits 29 zwischen 1680 und 1789 ausgesetzte oder verlassene Kinder der Burgvogtei Celle eine „größere Zahl“. Die zentral zuständige Stelle, die kurfürstliche Kammer in Hannover, versorgte während des 18. Jahrhunderts lediglich 133 dieser Kinder. Ebd., 142 f.
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unwahrscheinlichen Fall benötigt wurden, dass sich weder der Vater, noch dessen Verwandtschaft ausmachen ließ, fehlten sie vielerorts fast völlig oder wurden erst spät eingerichtet und kaum mit Mitteln versehen. Generell versuchte man, die Zeitspanne, während der das Kind auf öffentliche Mittel angewiesen war, möglichst kurz zu halten. Das Kind sollte sich selbst verpflegen und, sobald es alt genug war, eine Lehrstelle oder ein Dienstverhältnis antreten.79 Dies fügt sich nahtlos in das Panorama der Armenversorgung: So werden Armenordnungen in Norddeutschland in größerem Umfang erst an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert erlassen80, und selbst hier versuchte die Obrigkeit zu sparen, wo es möglich war: „Leitgedanke dieser Armenordnungen war der sich immer stärker verfestigende Grundsatz, dass jede Gemeinde für die Versorgung der dort ansässigen Armen selbst aufzukommen habe – das sogenannte Heimatprinzip […].“81 Die Mittel für die Versorgung sollten „durch wöchentliche Sammlungen, das Umreichen des Klingelbeutels in den Kirchen und das Aufstellen von Opferstöcken in Kirchen, Armenhäusern und Gaststätten aufgebracht werden.“82 Die Überwachung der so entstandenen Kasse sollte auf dem Land ein gewissenhafter Mann, am besten der Pfarrer, übernehmen; eine staatliche Überprüfung der Vorgänge sollte dann im Rahmen der jährlichen Kirchenvisitationen stattfinden. Waisen- und Findelhäuser waren ohne massive obrigkeitliche Unterstützung aber ein nicht finanzierbarer Luxus und blieben damit in Norddeutschland lange die Ausnahme. Erst gegen Ende des 17. Jahrhunderts kam es zu vermehrten Gründungen solcher Institutionen, bis um die Mitte des 18. Jahrhunderts die Aufnahme der Kinder in solchen Anstalten zum Regelfall geworden war. Einigen Gründungen von Findelhäusern, wie 1709 in Hamburg, standen ganze Territorien gegenüber, in denen solche Aufnahmeorte überhaupt nicht existierten.83 Stattdessen waren die Kinder in den Städten beispielsweise in den Spitälern untergebracht worden, von denen traditionell eine ganze Anzahl verschiedener Funktionen ausgeübt wurde.84 Findelkinder stellten das norddeutsche Armenwesen ohnehin vor ein Zuständigkeitsproblem, denn sie fielen nicht wie die Waisen unter das Heimatprinzip.85 79 Durch die als unehrlich angenommene Geburt von Findelkindern ergab sich bei diesen jedoch häufig das Problem, dass sie vom zünftigen Handwerk abgelehnt wurden. 80 MEUMANN, Findelkinder, 176. Diese Studie umfasst vorwiegend das Kurfürstentum Hannover und das Hochstift Hildesheim; ein Glücksfall für die vorliegende Arbeit, stammt doch ihr wesentlichster Protagonist, der Wilde Peter, aus Hameln. 81 Ebd., 177. Hervorhebung H. B. 82 Ebd., 178. 83 Ebd., 183. Letzteres trifft etwa auf Kur-Hannover, in dem sich Peter von Hameln zunächst bewegte, zu. 84 So vereinigte etwa das Frankfurter Heilig-Geist-Spital Krankenhaus, Entbindungsanstalt, Fürsorgeanstalt für Kinder, Versorgungshaus für wohlhabende Pfründner, Speiseanstalt, Gefängnis, Irrenanstalt, Nachtasyl und noch anderes in sich. F. BOTHE, Das Hospital zum heiligen Geist in Frankfurt a. M., 1973, zitiert in: ROBERT JÜTTE, Obrigkeitliche Armenfürsorge in deutschen Reichsstädten der frühen Neuzeit, Köln 1984, 22. 85 Waisen und Findelkinder wurden in Deutschland durchaus unterschiedlich behandelt, vor allem, weil Findelkinder als illegitime Kinder galten. Erst 1811 wurde die Behandlung von
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Da sich die Gemeinden nicht zur Kostenübernahme verpflichtet sahen, wurden die Kosten dafür im Allgemeinen von den obrigkeitlichen Kassen getragen. Für das Kurfürstentum Hannover teilten sich beispielsweise die Klosterkasse und die Rentkammer diese Ausgaben, wenn sie nicht ex onera iuris criminalia bestritten wurden.86 Aber auch die Obrigkeit versuchte sich natürlich schadlos zu halten, und schon Kinder, die bei der Aussetzung das Säuglingsalter überschritten hatten, stellten einen Grenzfall dar: Manchmal galten sie als Findelkinder und wurden damit obrigkeitlich unterstützt, manchmal wurden die Gemeinden zum Unterhalt verpflichtet. So verwundert nicht, dass auch der Wilde Peter von Hameln zwischen 1724 und 1726 eine wahre Odyssee zwischen privater Unterbringung, Spitälern, Toll- und Zuchthäusern hinter sich brachte. Die für die Behörden zweifellos bequemste Möglichkeit stellte der Verbleib des Fündlings bei den Findern dar – vor allem, wenn man diesen noch eine Unterhaltspflicht anzudichten vermochte, eine Möglichkeit, die den Ruin mit sich bringen konnte.87 Hatte man das Kind erst einmal – und sei es nur, um dessen Tod zu verhindern – unter sein Dach gebracht, entstanden erhebliche Schwierigkeiten, es wieder los zu werden. Häufig wurde es zwischen Personen oder Familien, die sich gegenseitig für unterhaltspflichtig hielten, hin- und hergeschoben.88 Im schlimmsten Fall endete eine derartige „Zwangsverpflichtung“ damit, dass das Findelkind schließlich aufgrund mangelnder Versorgung starb.89 An der Tagesordnung war daher das Nichterbringen von Hilfeleistungen: Die ausgesetzten Kinder wurden zwar gesehen, aber man hütete sich, ihnen zu nahe zu kommen.90 Vor diesem Hintergrund dürften sich die Fundgeschichten der Wilden Kinder zumindest ein Stück weit erklären: Kaum einmal ist davon die Rede, dass eine einzelne Person – wie es doch anzunehmen wäre – diese gefunden hätte; stattdessen bilden sich häufig Hundertschaften von Suchwilligen. Diese suchten in der Masse wohl nicht nur
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Waisen, Findelkindern und verlassenen Kindern mit der Übernahme des französischen Rechts angeglichen. In einem Schreiben des Unterpräfekten heißt es 1812: „1) Findelkinder /enfans trouvés/ sind solche, die ausgesetzt sind, und als von unbekannten Eltern gebohren durch die Gesetze so lange als uneheliche Kinder betrachtet werden bis das Gegentheil bewiesen ist. 2) Verlassene Kinder /enfans abandonnés/ sind solche die zwar ehrliche Kinder sind, die aber wegen Gefangennehmung, Verurtheilung oder Hinrichtung ihrer Eltern, durch die Gesetze den Findelkindern gleichgesetzt werden. 3) Unter armen Waisenkindern /orphelins pauvres/ sind alle diejenigen Kinder zu verstehen welche in einer rechtmäßigen Ehe geboren und welche entweder wegen Absterben ihrer Eltern, oder wegen Armuth eines derselben, ebenfalls den verlassenen Kindern gleichgesetzt sind.“ Zit. nach MEUMANN, Findelkinder, 185. Der Staat übernahm nun in jedem Fall die Unterhaltskosten, „beanspruchte aber im Gegenzug das alleinige Verfügungsrecht über ihre Zukunft“; ebd. Ebd., 184. Ebd., 188 ff. führt mehrere Beispiele an. Unter anderem galten sogar Hauswirte, bei denen ein Kind geboren wurde, als unterhaltspflichtig. Ebd., 191 f. Ebd., 192. Ebd., 190 zitiert Meumann einen Fall aus Hildesheim, wo ein Kind „fast Tag & Nacht“ auf dem großen Domhof, einem belebten Platz, gut sichtbar gelegen habe, ohne dass jemand zur Tat geschritten wäre.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
den Schutz vor einem möglicherweise aus dem Wald preschenden Monster, sondern auch vor höchst profanen Finanzdesastern. Aber auch wenn unterhaltspflichtige Personen nicht greifbar waren, musste, da kaum Waisen- und Findelhäuser zur Verfügung standen, die Unterbringung in der Regel bei Privatpersonen erfolgen. Die von den Obrigkeiten oder Gemeinden dafür gezahlten Aufwandsentschädigungen dürften in den meisten Fällen gerade ausgereicht haben, das Kind zu ernähren; der in Hameln 1725 gezahlte Satz von 1 Rtlr. 18 Mgr., zuzüglich 2 Mgr. für Kleidung91, liegt bereits über der üblicherweise gezahlten Summe.92 Alleinstehende Frauen bildeten, so weit die Quellen eine Interpretation überhaupt gestatten, die vorwiegende Klientel.93 Selbst wenn das Kind das Glück hatte, in relativ geordneten Verhältnissen – also einer fürsorglichen Familie oder einem angemessen ausgestatteten Heim – zu landen, war die Gefahr keineswegs gebannt. Vor allem die Ernährung des Kleinkindes stellte die Frühe Neuzeit vor ein schwerwiegendes Problem, das erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelöst werden sollte.94 Da das Stillen durch die leibliche Mutter im Falle der Findel- und Waisenkinder entfiel95, musste man entweder eine Amme96 heranziehen oder es mit Ersatznahrung, meist Milch oder Milchmi-
91 StAHameln, Kämmereirechnungen Trinitatis 1725 bis Trinitatis 1726, „Ausgaben Inßgemein“. 92 MEUMANN, Findelkinder, 193 gibt für die Städte 1 Rtlr. 12 Mgr–1 Rtlr. 14 Mgr. an; auf dem Land seien die Beträge noch geringer gewesen. Allerdings stammen seine Zahlen aus dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, in dem sich „die Bedingungen für Pflegeeltern […] weiter verschlechterten.“ Bei einem fortschreitenden Kaufkraftverlust blieben die Summen auf dem Land in etwa gleich, während sie in Hannover um fast ein Drittel sanken. 93 Ebd., 195. 94 Justus von Liebig analysierte 1865 die Muttermilch und entwickelte eine „Kindersuppe“. Auf diesen Erfahrungen aufbauend folgte schließlich Henri Nestlés „Kindermehl“. „Diese Erfindung ermöglichte eine nach dem Stand des damaligen Wissens adäquate Ernährung der Säuglinge.“ ELISABETH LORNA GROB-WEINBERGER, Ammenmärchen? Ärztliche Stellungnahmen zum Ammenwesen im Zeitalter der Aufklärung [= Zürcher Medizingeschichtliche Abhandlungen, 279], Diss. Med. Zürich 1998, 4. 95 Das neben der wahrscheinlich bestmöglichen Ernährung für den Säugling einen weiteren höchst erwünschten Nebeneffekt hatte: Die sogenannte Laktationsamenorrhöe, also das Ausbleiben einer neuerlichen Schwangerschaft, die auch die für heutige Verhältnisse sehr langen Stillzeiten von durchschnittlich wenigstens zwei Jahren mit erklärt; vgl. K. ARNOLD, Kind und Gesellschaft, 57. 96 Auf die Frage der Verbreitung des Ammenwesens in der Frühen Neuzeit braucht hier nur kurz eingegangen zu werden; es mag genügen, dass es im Frankreich des Ancien Régime offenbar weitaus häufiger war als in den deutschen Ländern. In einigen Quellen wird insinuiert, dass das Weggeben des Kindes an eine Amme in Frankreich geradezu der Regelfall war, also auch angewendet wurde, wenn die leibliche Mutter die Aufgabe eigentlich hätte übernehmen können. Vgl. GROB-WEINBERGER, Ammenmärchen, 7, deren Quellendecke allerdings äußerst dünn ist. Die Beziehungen dieses Themas mit der oben bereits angesprochenen Diskussion über die „Mutterliebe“ sind naheliegend. Zum Ammenwesen von der Antike bis zur Neuzeit vgl. VALERIE FILDES, Wet Nursing. A History from Antiquity to the Present, Oxford; New York 1988, besonders 111–127; für den Kontext der Aufklärung v. a. GROB-WEINBERGER, Ammenmärchen.
2.2. Der Wald: „Realität“ und Imagination
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schungen, versuchen.97 Es konnte aber noch schlimmer kommen: In Paris war seit Ende des 17. Jahrhunderts die Unsitte verbreitet, die Kinder mit Brei zu füttern, eine auf Dauer äußerst ungesunde Art der Ernährung. In Rouen verordneten Mediziner zwischen 1763 und 1765 eine Mischung aus mit abgekochtem Wasser sowie „Reiswasser“ (eau de riz) oder Rhabarbersud verschnittener Kuhmilch. Vertrugen die Kinder die Kuhmilch nicht, wich man auf Fettbrühe, Brotsuppe oder einmal mehr auf Mehl- und Milchbrei aus. Das Experiment war nicht gerade von Erfolg gekrönt: Von 132 Kindern überlebten fünf die beiden Jahre.98 Während Berichte über Tiere als Zieheltern heute allgemein skeptisch aufgenommen werden, muss man für die im Untersuchungszeitraum lebenden Menschen wohl eine andere Auffassung annehmen: Dass das Stillen von einer Amme übernommen wurde, war eine geläufige und m. E. auch erfolgreiche Praxis, Tiermilch galt seit jeher als notfalls geeigneter Muttermilch-Ersatz, die Versorgung durch Tiere konnte kaum schlimmer sein als gut gemeinte Experimente der AufklärungsPädiater – und selbst diese schafften es nicht, alle Probanden zu eliminieren. Nahm man göttliche Vorsehung mit hinzu, warum sollten nicht einige der vielen tausend ausgesetzten Kinder auf diese Art überlebt haben? 2.2. DER WALD: „REALITÄT“ UND IMAGINATION „Wald – das war einmal etwas ganz anderes als es heute ist. Den Wandel hat das 18. und beginnende 19. Jahrhundert gebracht. Man weiß das wohl, aber bedenkt es nicht immer.“99 So beginnt Jost Trier eine seiner klassischen Studien, und die hier formulierte Einsicht ist von grundlegender Bedeutung: Während die Frage, wie – und ob überhaupt – Kinder über Jahre ohne menschliche Fürsorge überleben konnten, schon früh Kopfzerbrechen bereitete und bis heute zu einer ebenso breiten wie in sich widersprüchlichen Palette von Lösungsvorschlägen eingeladen hat, 97 ARNOLD, Kind und Gesellschaft, 48, beschreibt zwar für die italienischen Findelhäuser, dass, „da man keine tierische Milch verwandte, eine Säugamme gefunden werden“ musste. Dieser Befund lässt sich aber offenbar nicht auf die mitteleuropäischen Verhältnisse übertragen: Hier gehörte der Ersatz der Muttermilch durch Kuh-, besser noch Ziegen- oder Eselsmilch zum Alltag; vgl. OEHME, Pädiatrie im 18. Jahrhundert, 39 ff. Als am segensreichsten wurde der Einsatz von Ziegenmilch angesehen; eine sehr alte Auffassung, die wohl schon in der römischen Mythologie gründet: „Jupiter fut sauvé ainsi selon la légende.“ ANTOINETTE CHAMOUX, L’allaitement artificiel, in: Enfants et Sociétés, 410–418, hier 415. Chamoux zitiert aber auch die aufklärerische Kritik Tenons an einer solchen Ernährung der Kleinkinder: insbesondere der Einsatz von Kuhmilch verdamme die Kinder „inévitablement au tombeau.“ Ebd., 414. 98 MOREL, À quoi servent les enfants trouvés?, 842 f. Auch ein unter immensem Aufwand 1786 vorbereitetes Projekt bei Monceau verlief desaströs, obwohl versucht wurde, allen Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Für die betreuenden Personen existierten strikte Vorschriften für den Umgang mit den Kindern: Wickeln wurde verboten, die Kinder waren gründlich sauber zu halten, man achtete auf Lüftung und Beheizung etc. Dennoch: „Au bout de trois ans, au printemps de 1789, in n’y a plus d’enfants dans l’hospice et les quelques rares survivants on été remis à des nourrices.“ Ebd., 849. 99 JOST TRIER, Venus. Etymologien um das Futterlaub, Köln; Graz 1963, 10.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
bestand bezüglich des denkbaren Wo stets weitgehender Konsens: Hatte es solche Fälle überhaupt gegeben, so konnten sie sich kaum anderswo als im Wald ereignet haben – es sei denn, die Topographie des angeblichen Fundortes machte eine Verpflanzung in unzugängliche Gebirge oder karge Ödnisse unausweichlich.100 Diese Vorstellung erscheint uns auf den ersten Blick gleichermaßen naheliegend wie weithergeholt: Natürlich bot der Wald zunächst das, was für ein unbemerktes Leben unerlässlich war, nämlich Deckung101, andererseits fragt sich, wie Kinder gerade dort aus eigener Kraft längere Zeit überleben können sollten. Zu klären ist daher, wie die Zeitgenossen den Wald subjektiv wahrnahmen – eine aufgrund der Quellenlage nicht ganz leichte Aufgabe, wie sich zeigen wird. Wie stand es also um die Bewaldung Mitteleuropas in der Frühen Neuzeit? Existierten noch jene ausgedehnten und abgeschlossenen Wälder, deren Existenz in der Überlieferung häufig vorausgesetzt wird? Wie wurden sie, wenn überhaupt, genutzt? Und schließlich: Wie beeinflusste diese Realität, die ganz anders gewesen sein mag als die heutige, die Mentalität des frühneuzeitlichen Menschen und damit die Wahrnehmung der Wilden Kinder? 2.2.1. Eine umkämpfte Ressource: Waldformen und Waldnutzung Quellen, die über Ausmaß und Form der frühneuzeitlichen Bewaldung Aufschluss geben können, sind in der Mehrzahl kritisch und daher mit Vorsicht zu benutzen. Immerhin haben aber Historische Ökologie und Waldgeschichte bemerkenswerte Fortschritte gemacht, so dass zumindest einige grundsätzliche Aussagen möglich werden.102 Zu beachten bleibt, dass es schwierig ist, solche Ergebnisse zu globali-
100 So etwa im Falle des Irischen Schafsjungen oder des Jungen von Barra; vgl. dazu generell Kap. 1.1. Ein ähnliches Muster lässt sich auch für die Handlungsorte von Märchen und Sagen feststellen; s. u., Kap. 2.2.2. 101 Dieses Schutzpotenzial des Waldes nutzten die Menschen immer wieder, denn Kriege und marodierende Truppen boten dazu reichlich Anlass; vgl. KARL HASEL, Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis, Hamburg; Berlin 1985, 53. Aber auch für Kriminelle und soziale Randgruppen stellte der Wald einen Raum dar, der vor allzu leichtem Zugriff schützte; vgl. WILHELM BUSSE, „Im Wald, da sind die Räuber...“, in: JOSEF SEMMLER (Hrsg.), Der Wald in Mittelalter und Renaissance (Studia humanora, Bd. 17), Düsseldorf 1991, 113–129. Schon ZEDLER („Wald“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 52, Sp. 1145–1197; hier Sp. 1160) hebt diese wichtige Funktion für die wehrlosen Bauern hervor: „Wie nun die Wälder zu Friedenszeiten herrlichen Nutzen und Vergnügung schaffen; also können auch die Einwohner in Kriegeszeiten mit den ihrigen dahin flüchten […].“ 102 Vgl. etwa KEITH J. KIRBY & CHARLES WATKINS (Hg.), The Ecological History of the European Forests, Wallingford 1998; OLIVER RACKHAM, Trees and Woodland ín the British Landscape, London 1981; DERS., Ancient Woodland, its history, vegetation and uses in England, London 1980; DERS., The History of the Countryside, London 1986; HEINZ ELLENBERG, Vegetation Mitteleuropas mit den Alpen in ökologischer, dynamischer und historischer Sicht, Stuttgart 31996; J. V. THIRGOOD, Man and the Mediterranean Forest. A history of resource depletion, London u. a. 1981; KURT MANTEL, Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehrund Handbuch, Alfeld; Hannover 1990; KARL HASEL, Forstgeschichte. Ein Grundriß für Studium und Praxis, Hamburg; Berlin 1985; MICHEL DEVÈZE, Histoire des forêts, Paris 1973.
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sieren: Der Wald Südfrankreichs ist grundsätzlich von dem Englands unterschieden, und auch innerhalb der Grenzen Mitteleuropas müssen erhebliche Variationen beachtet werden.103 Hätte der Mensch nie in die Entwicklung der Natur eingegriffen, so wären Mitteleuropa und Großbritannien heute weitgehend gleichförmige Waldlandschaften.104 Eine scharfe klimatische Trennlinie zeigt sich im kontinentalen Nordosten und skandinavischen Norden. Bedingt durch extrem kalte Winter und kurze Vegetationsperioden löst immergrüner Nadelwald hier bald den mitteleuropäischen Laubwald ab. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich beim Aufstieg in die Gebirge. Die Alpen bilden nach Süden hin eine natürliche Barriere, hinter der bald das submediterrane und mediterrane Klima, das heißt milde und feuchte Winter bei trockenen Sommern mit häufigen Dürreperioden, beginnt. Das mitteleuropäische Klima, pendelnd zwischen einem gemäßigten, aber frostfreien Sommer und einem relativ kalten Winter, der für die Vegetation zu einer Winterruhe führt, begünstigt den Baumwuchs in hohem Maße; Laubbäume sind in den meisten Lagen den Nadelbäumen überlegen. Nur an Stellen, wo der Laubwald durch zu große Höhe oder Trockenheit seine Existenzgrenze erreicht, übernimmt die Kiefer deren Platz.105 Der heutige große Anteil an Nadelhölzern ist Folge forstwirtschaftlicher Bestrebungen, die erst vor etwa 150 Jahren einsetzten und deren Hintergrund die Erhöhung der Nutzholzproduktion bildete – auf diese Veränderungen wird weiter unten noch eingegangen. Aussagen über den Mittelmeerraum sind schwieriger zu treffen. Dennoch scheint es sicher, dass auch im mediterranen Raum ursprünglich ausgedehnte Hochwälder bestanden. Schon seit der Antike tritt dem Betrachter jedoch kaum mehr ein „Wald“ im mitteleuropäischen Verständnis entgegen. Der maquis besteht vor allem aus Sträuchern, Büschen und flachwachsenden Bäumen: Olive, Lorbeer, einige immergrüne Eichenarten. Noch niedrigwüchsiger zeigt sich die garrigue, zu der Pflanzen wie Lavendel, Rosmarin, Thymian und Majoran gehören. Wo die Lebensbedingungen auch dieser Pflanzen nicht mehr gedeckt werden können, entsteht batha; hier finden sich im Prinzip nur noch Gräser, wie sie auch in Steppenlandschaften vorkommen. Häufig geschieht der Übergang zur Wüste ganz unmerklich. Echter Hochwald findet sich nur noch in den Bergregionen.106 Wenig überraschend ist es daher, dass antike Schriftsteller – zunächst PLINIUS, dann TACITUS oder POMPONIUS MELA – Germanien als ein über und über
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Einen Überblick über die zu Gebot stehenden Quellen nebst der sich aus ihnen ergebenden Schwierigkeiten bietet RACKHAM, Ancient Woodland, 11 ff. Immerhin existiert eine die beiden wichtigsten Territorien, nämlich Frankreich und Deutschland, betreffende komparative Studie: MICHEL DEVÈZE, Forêts françaises et forêts allemandes. Étude historique comparée, 2 parties, in: Révue historique, 235 (1966), 347–380 und 236 (1966), 47–68. Die hier zunächst gestellte Frage ist also die nach dem potenziellen natürlichen Zustand des Waldes. Ich folge hier im Wesentlichen den Ausführungen in ELLENBERG, Vegetation Mitteleuropas, 23 ff. ELLENBERG, Vegetation Mitteleuropas, 121. Vgl. THIRGOOD, Man and the Mediterranean Forest, 14.
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bewaldetes Gebiet beschrieben.107 Im Vergleich zu Italien oder den anderen Mittelmeerprovinzen traf dies durchaus zu. Zudem in einer Art, die den Römern fremd war: Nicht lichte, hin und wieder mit Bäumen bestandene Flächen wie im maquis prägten hier das Bild, sondern tatsächlich ein dichter, das ohnehin schon düstere Licht zurückhaltender Hochwald. Der Wald musste so als dunkler, geheimnisvoller, unübersichtlicher und unkultivierter Ort erscheinen, zu dem das von Tacitus zur Beschreibung gewählte horridus passte. Tatsächlich setzt man heute die bewaldete Fläche zu Beginn des Mittelalters mit etwa 75% an108, fast das Dreifache der 29%, welche die (alte) BRD 1980 aufwies.109 Das antike Schrifttum bietet ebenso erste Einblicke in die vielfältige Nutzung des Waldes durch den Menschen. Für den engen Rahmen dieser Arbeit interessant sind jedoch erst die Vorgänge des Hochmittelalters, das, was Form und Bewirtschaftung des Waldes angeht, bereits enge Verbindungslinien zur Frühen Neuzeit aufweist. Unter dem Druck einer steigenden Bevölkerung, die – grob verkürzt – wiederum mit einem Klimaoptimum110 und einer relativ konfliktfreien politischen Lage in Verbindung zu setzen ist, kam es zu weitreichenden Rodungen der bis dahin nicht in nennenswertem Maße erschlossenen siedlungsferneren Waldgebiete. In zwei Abschnitten – der erste im 8. und 9., der zweite im 12. und 13. Jahrhundert – veränderte sich das Gesicht Mitteleuropas. Die großen, zusammenhängenden Wälder verschwanden, der Anteil der bewaldeten Fläche schrumpfte bis zum Ende des 14. Jahrhunderts auf 26%, also weniger als heute. Obwohl diese Entwicklung Deutschland und Frankreich in sehr ähnlicher Weise betraf, hielt sich beim westlichen Nachbarn das Klischee des über und über
107 GAIUS PLINIUS SECUNDUS, Naturgeschichte, übers. v. CHRISTIAN FRIEDRICH LEBRECHT STRACK, Bd. 1, Darmstadt 21968 [Reprogr. ND der Ausgabe Bremen 1853], 28. „Terra etsi aliquando specie differt, in universum tamen aut silvis horrida aut paludibus foeda […]“; TACITUS, Germania. Lateinisch und Deutsch, übers., erl. und mit einem Nachwort hrsg. von MANFRED FUHRMANN, Stuttgart 1972, 8. „Terra ipsa multis inpedita fluminibus, multis montibus aspera et magna ex parte siluis ac paludibus inuia. Paludium Suesia, Metia et Melsyagum maximae, siluarum Hercynia et aliquot sunt, quae nomen habent, sed illa dierum sexaginta iter occupans, ut maior aliis ita notior.“ POMPONIUS MELA, Chorographie. De Chorographia, Texte établi, traduit et annoté par A. SILBERMAN, Paris 1988, 76. 108 MANTEL, Wald und Forst, 55. RUDOLF HIESTAND (Waldluft macht frei, in: SEMMLER, Wald in Mittelalter und Renaissance, 46) nimmt sogar an, dass „Deutschland im Frühmittelalter zu 96% mit Wald bedeckt war“. 109 Ebd., 72. Eine auch heute noch unverzichtbare, detaillierte Aufnahme der Bewaldung Deutschlands leistet HERBERT HESMER, Die heutige Bewaldung Deutschlands. Dargestellt an Hand von 17 Karten der einzelnen Holz= und Betriebsarten, Berlin 21938. Hesmer stellt eine Bewaldung fest, die „1935 im Reichsdurchschnitt 27,54%“ (ebd., 8) betrage. Allerdings gelte es zu beachten, dass Deutschland keineswegs gleichmäßig bewaldet sei. Als Gebiete mit hoher Walddichte (über 50%) werden u. a. aufgeführt: Sauer- und Siegerland, Bergisches Land, Westerwald, Pfälzerwald, Harz, Thüringer Wald. Mit einem Anteil von unter 10% besonders gering bewaldet sind dagegen das nordwestdeutsche Flachland und das Gebiet von der Magdeburger Börde bis in die Leipziger Bucht. 110 Vgl. H. H. LAMB, Klima und Kulturgeschichte. Der Einfluß des Wetters auf den Gang der Geschichte, Hamburg 1989, 198.
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bewaldeten Germaniens.111 Wie sehr diese Annahme dann die Wahrnehmung – oder jedenfalls den Bericht – prägen konnte, zeigt MADAME DE STAËLS Bericht: La multitude et l’étendue des forêts indiquent une civilisation encore nouvelle: le vieux sol du midi ne conserve presque plus d’arbres, et le soleil tombe à plomb sur la terre dépouillée par les hommes. L’Allemagne offre encore quelques traces d’une nature non habitée. Depuis les Alpes jusqu’à la mer, entre le Rhin et le Danube, vous voyez un pays couvert de chênes et de sapins.112
Klar ersichtlich spielen hier die größeren regionalen Unterschiede Frankreichs eine Rolle; der Mittelmeerraum war in der Tat weit weniger bewaldet als der Großteil Deutschlands. Allerdings endete dieser Gegensatz eben spätestens am Zentralmassiv, und so bleibt nur festzustellen, dass das „bewaldete Deutschland“ einen weiteren Zweck erfüllte: Es wertete den kulturellen Status des Nachbarlandes ab, indem es die französische Waldarmut mit dem Alter der Kultur in Verbindung setzte. Für das 18. Jahrhundert weist JANSEN dann zwei verschiedene „Vorstellungsmuster“ nach, „nämlich die gallischen und die germanischen Wälder“.113 Obwohl sich Frankreich stets lieber mit dem römischen Erbe des Midi identifiziert habe, sei schließlich doch eine Aufwertung des – fälschlicherweise als ganz bewaldet angenommenen – mittelalterlichen Frankreichs unternommen worden. Dieses zeigt sich wenigstens „aber auch voller gotischer Kathedralen und Schlösser.“ Die „germanischen“ Wälder hingegen sind „dunkel und gefährlich und von wilden Völkern bewohnt, die von Zeit zu Zeit daraus hervorbrechen und das zivilisierte Frankreich in Gestalt von Preußen- oder Hunnenhorden bedrohen.“114 Eine Sonderrolle spielt Großbritannien, das noch bis ins 16. Jahrhundert stark bewaldet war – eine Folge der bereits bald nach der Eroberung als Regal eingerichteten königlichen Jagdgebiete, der forests. Im 16. Jahrhundert kehrte sich die Lage dann allerdings um: Durch die enclosures kam es zu katastrophalen Verlusten an Waldland.115 Unkultiviert waren 1690 nur noch 8% der Fläche Englands – und der Anteil halbierte sich bis 1800 nochmals. Zurück blieb die weitgehend waldlose Landschaft, die heute noch vorzufinden ist.116 Der englische Sonderweg sollte erhebliche mentale Auswirkungen haben. Durch die von den Königen be111 Gleiches trifft auch auf England zu; vgl. dazu die ausführlichere Darstellung in Kap. 3.5. 112 ANNE LOUISE GERMAINE DE STAËL-HOLSTEIN, De l’Allemagne, nouvelle éd. par JEAN DE PANGE, 5 Bde., Paris 1958–1960; hier Bd. 1, 29. 113 MICHAEL JANSEN, Un retour secret vers la forêt. Wald, Park und Natur in der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts, Bonn 1992, 190. 114 Ebd., 192. 115 RACKHAM, History of the Countryside, 139. 116 „In the 1690s […] there were only three million acres of uncultivated land left (about 8 per cent of England and Wales). […] By 1800 there were no more than two million acres of woodland in England and Wales, and by the beginning of the twentieth century the percentage of the Untited Kingdom occupied by woodland (4 per cent) would be the lowest in Europe.“ KEITH THOMAS, Man and the Natural World. Changing Attitudes in England 1500– 1800, London 1984, 194. Zu diesem „englischen Sonderweg“, was die Bewaldung angeht, vgl. auch MICHEL DEVÈZE, Histoire des forêts, 39; OLIVER RACKHAM, The History of the Countryside, London; Melbourne 1986, 139. Zu den Zahlen vgl. MANTEL, Wald und Forst, 72.
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gonnene Einrichtung von Forsten, die als Bannwälder bäuerlichen Nutzungen nicht mehr offenstanden, hatte die countryside bald eine negative Haltung zum Waldland gezeigt. Es erschien unnütz und als Symbol der verhassten Fremdherrschaft.117 Nur so lässt sich eigentlich auch der oben beschriebene atemberaubende weitere Niedergang des englischen Waldes erklären: Es bestanden auf emotionaler Ebene keine oder negative Beziehungen der Bevölkerung zum Wald. Die Lage in Deutschland – ihr wird weiter unten mehr Platz eingeräumt – unterschied sich deutlich. Hier wurde der Wald lange nicht als Symbol herrschaftlicher Willkür, sondern als Nährwald, der einen entscheidenden Beitrag zur Alimentation leistete, betrachtet. Schon am Ausgang des Mittelalters stellt man also eine klar sichtbare mentale Unterschiedlichkeit von Franzosen, Engländern und Deutschen fest: Der Wald, das war für den Franzosen zuallererst der Gegenpol zur Kultur, für den Engländer Symbol der obrigkeitlichen Macht und Willkür, für den Deutschen aber schließlich ein durchaus positiv konnotierter Raum, der viel eher integraler Bestandteil der Landwirtschaft als deren Antipode war. Damit wird ein kleiner Einschub nötig: Er betrifft den lange Zeit einmütig behaupteten bejammernswerten Zustand des deutschen Waldes in der Frühen Neuzeit.118 Unter der Überschrift „Jetziger Verfall der Wälder in Deutschland“ resümierte schon Zedlers Universal-Lexicon, dass „das Holtzhauen dermassen überhand genommen, daß fast allenthalben die entblößten Gebürge und kahle Wälder, jederman ihre Armuth am Holtze zeigen.“ 119 Vielfältig erschienen weitere greifbare Nachweise: Forstordnungen, wieder und wieder erlassene Gesetze zur Schonung der noch vorhandenen Wälder, Reskripte, schließlich im 18. Jahrhundert eine ganze „Holzsparliteratur“; die Holzarmut ist eines der großen Themen der Zeit. In der Zwischenzeit erscheint die Frage nach dem Zustand der Wälder im 17. und 18. Jahrhundert – und den daran Schuldigen – jedoch keineswegs mehr als so klar beantwortbar. Für England hat RACKHAM120 Zweifel angemeldet, während für 117 „Le peuple anglais n’avait pas de vénération pour la forêt, qui symbolisait pour lui la cruelle tyrannie du moyen age.“ DEVEZE, Histoire des forêts, 62. 118 Noch ELLENBERG, Vegetation Mitteleuropas, 43 schreibt: „Ihr größtes Ausmaß erreichte die Waldverwüstung in der Neuzeit, als Industrien das Kohlenbrennen förderten und dafür Buchenholz bevorzugten, und als Bergwerke, Salinen und Glashütten heute kaum mehr vorstellbare Massen von Holz verfeuerten.“ 119 „Wald“, in: ZEDLER, Univerallexikon, Bd. 52, Sp. 1161. „Diese verbal-vordergründige Ebene betraf das gesamte Wald- und Jagdwesen. Sie ist vor allem dadurch gekennzeichnet, daß auf ihr über Jahrhunderte hinweg die gleichen Klagen und Anschuldigungen erhoben worden sind. Allem voran wäre hier die Furcht vor bzw. Behauptung von unmittelbar bevorstehenden Holznotständen zu erwähnen. Der ohne Unterlaß bedauerte ‚Holzfrevel‘ gehört ebenso hierher.“ JOACHIM ALLMANN, Wald in der frühen Neuzeit: eine mentalitäts- und sozialgeschichtliche Untersuchung am Beispiel des Pfälzer Raumes 1500–1800, Berlin 1989, 67. 120 In Frage gestellt wird vor allem der angebliche unheilvolle Einfluss von Industrie und Schiffbau auf die englischen Wälder. So betont RACKHAM, History of the Countryside, 90 ff., die gesamte Theorie der Verdrängung des Waldes durch die Industrie ruhe auf der Annahme, dass diese ihn schlicht bis aufs Letzte „verfeuert“ habe. „This is not true. Ironworks were not fly-by-night enterprises; they used mainly underwood, often from their own woods, and protected their supplies. The ‚timber famine‘ and high prices are largely the illusion of those economic historians who forget about inflation.“ Ebd., 90. Ähnliches lasse sich für den
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Deutschland vor allem RADKAU121 viele der alten Gewissheiten zerstörte, indem er das Dilemma der Quellen thematisierte. Tatsächlich liegen nämlich kaum Zeugnisse vor, die von den Bewohnern der angeblich verwüsteten Landstriche verfasst worden wären, dafür aber eine Unmenge obrigkeitlicher Verordnungen und gelehrt-theoretischer Abhandlungen. Was sich schließlich feststellen lässt, ist eine enormes Auseinanderdriften zweier Sichten: zum einen eine obrigkeitliche, zum anderen eine ländlich-bäurische. Wo die Herrschaften – und mit ihnen ihre Schriftsteller und Beamten – einen dahinsiechenden Wald erblickten, sah die ländliche Bevölkerung eine zwar nicht unbegrenzt verfügbare und damit wertvolle, aber keinesfalls gefährdete Ressource. Erklärbar wird diese Diskrepanz aus den unterschiedlichen Ansprüchen, welche der Wald befriedigen sollte. Anders gesagt: Die Art und Weise, wie man den Wald zu nutzen beabsichtigte, prägte die Wahrnehmung dessen Zustandes.122 Bereits SOMBART nennt zwei Aufgaben, die der Wald für die frühneuzeitliche – und auch bereits, so kann man anfügen, die mittelalterliche – Gesellschaft erfüllte.123 Erstens war der Wald natürlich ein gigantisches Holzlager und Holz die Zentralressource124 der Zeit. Holz benötigten alle fast überall. Es war der in vielen Gegenden einzige Brennstoff; praktisch alle Werkzeuge bestanden ganz oder teilweise aus ihm. Viele Häuser waren noch ganz aus Holz, und auch bei Steinhäusern war es unentbehrlich, etwa zur Konstruktion des Dachstuhls oder des Fachwerks, ebenso aber, um zunächst einmal die Ziegel zu brennen.125 Hinzuzufügen ist noch, dass das Holz auch einen chemischen Stoff lieferte, der für die Glashütten unentbehrlich war: die Pottasche.126 Alles in allem war der Holzbedarf der vormodernen Gesellschaft immens; ob dieser allerdings tatsächlich zu einer
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Schiffsbau feststellen (ebd., 91). Schließlich und endlich seien die hochindustrialisierten Gebiete der Frühen Neuzeit heute nicht weniger, sondern mehr bewaldet als die überwiegend agrarischen Regionen. JOACHIM RADKAU, Holzverknappung und Krisenbewußtsein im 18. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft, 9 (1983), 513–43; DERS., Zur angeblichen Energiekrise des 18. Jahrhunderts: Revisionistische Betrachtungen über die „Holznot“, in: Vierteljahresschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 73 (1986), 1–37. Besonders klar wird diese Trennung bei WINFRIED SCHENK, Waldnutzung, Waldzustand und regionale Entwicklung in vorindustrieller Zeit im mittleren Deutschland, Stuttgart 1996, 152 ff., der explizit die „Waldzustände aus der Sicht der ‚Untertanen’“ darstellt. WERNER SOMBART, Der moderne Kapitalismus. Bd. 2: Das europäische Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frühkapitalismus, München; Leipzig 1928, 1137 f. Der Begriff findet sich häufig, etwa bei STEFAN VON BELOW & STEFAN BREIT, Wald – von der Gottesgabe zum Privateigentum. Gerichtliche Konflikte zwischen Landesherren und Untertanen um den Wald in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1998, 54. SIEFERLE, Der unterirdische Wald, 85 f.; vgl. auch ANTJE SANDER-BERKE, Spätmittelalterliche Holznutzung für den Baustoffbedarf dargestellt am Beispiel norddeutscher Städte, in: JOCKENHÖVEL, Bergbau, Verhüttung und Waldnutzung, 189–203. Vgl. SIEFERLE, Der unterirdische Wald, 77 f. Die zur Gewinnung von Pottasche (K2CO3) benötigten Holzmengen waren enorm: 1m3 Holz ergab lediglich 1 kg dieses Stoffes, „so daß man zur Gewinnung von 1 t Pottasche stationär 200 ha Wald brauchte.“
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„Holzkrise“ in dem Sinne, dass die Ressource tatsächlich knapp geworden wäre, führte, ist nach wie vor umstritten.127 Zweitens und aus heutiger Perspektive weniger selbstverständlich aber ist, dass der Wald der natürliche Futterlieferant einer ganzen Reihe von Haustieren war.128 Dabei handelte es sich nicht etwa um eine Notlösung für Krisenzeiten, sondern um die allgemein gebräuchlichste Art der Tierfütterung.129 Weideflächen im heutigen Sinne waren überaus rar130, und so trug der Wald auf zwei Arten zum Unterhalt des Viehs bei: Die Tiere wurden direkt in ihn eingetrieben oder das Laub wurde gesammelt um es zu verfüttern.131 Die grundsätzlichen Bestandteile des im Wald produzierten Futters waren neben dem Laub die genießbaren Baumfrüchte oder -samen. Der Eintrieb einer ganzen Herde blieb zwar jahreszeitlich beschränkt; im Herbst aber bot der Wald einen derart nahrhaften Fonds, dass die Tiere hier für den Winter regelrecht gemästet werden konnten.132
127 Für Sieferle, der allerdings keine Diskussion des Krisenbegriffes leistet, war dagegen diese Krise eine ganz reale, die im Wesentlichen von Glashütten, Salinen, dem Baugewerbe, der Eisenverhüttung und dem wenig sparsamen Umgang mit Holz in den privaten Haushalten verursacht wurde. Ebd., 83 ff. 128 Diese Art der Waldbewirtschaftung ist aus Europa fast vollständig verschwunden. Einen Eindruck kann immerhin beispielsweise die Schafhaltung in der Lüneburger Heide vermitteln; vgl. ELLENBERG, Vegetation Mitteleuropas, 43 ff. 129 „In Breitenwirkung und Andauer ist keine Maßnahme des Menschen mit der extensiven und den Wald einbeziehenden Weidewirtschaft zu vergleichen, und zwar weltweit. Obwohl sie bis vor etwa 200 Jahren nahezu allgemein auch in Mitteleuropa herrschte und einst die Hauptnutzung des Waldes war, kann man sie heute nur noch an wenigen Stellen studieren […].“ ELLENBERG, Vegetation Mitteleuropas, 43. Vgl. auch WILHELM ABEL, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 21967, 232 f. 130 Vgl. JOST TRIER, Venus. Etymologien um das Futterlaub, Köln; Graz 1963, 3. 131 Die Etymologie der Begriffe Wald und des ihm nahestehenden wild steht mit diesen Bewirtschaftungsmethoden in engem Zusammenhang. „Weder ist wild von Wald […] noch Wald als ‚wilde Gegend‘ aus ‚wild‘ herzuleiten […], sondern Wald und wild gehen, jedes für sich, auf die Grundlage des Raufens und des Rupfens zurück.“ (TRIER, Venus, 49.) Vgl. auch die anderen klassischen Studien TRIERS: Holz. Etymologien aus dem Niederwald, Münster; Köln 1952; Wald, in: Fragen und Forschungen im Bereich und Umkreis der germanischen Philologie. Festgabe für Theodor Frings zum 70. Geburtstag 23. Juli 1956, Berlin 1956, 25–39. Die Auffassung Triers, dass Wald bereits früh einen bewirtschafteten Raum designierte, modifiziert KARL-HEINZ BORCK, Zur Bedeutung der Wörter holz, wald, forst, und witu im Althochdeutschen, in: Festschrift für Jost Trier zum 60. Geburtstag, Meisenheim 1954, 456– 476; hier 476: Er hält dafür, „daß wald seinem eigentlichen Sinne nach ein Randgebiet der bäuerlichen Nutzlandschaft meinte, das zwar – namentlich später – in diese einbezogen werden konnte (waltmasta), aber doch nicht einer so intensiven Nutzung unterworfen war, wie die holz bzw. witu genannten Waldungen, in deren Benennungen Holzgewinnung und Baumbestand eine untrennbare Einheit bilden.“ 132 Am bekanntesten ist wohl die Eichelmast der Schweine, die in vielen regionalgeschichtlichen Studien belegt ist; stellvertretend für eine ganze Reihe weiterer Arbeiten deshalb hier nur RUDOLF BRAUN, Das ausgehende Ancien Régime in der Schweiz. Aufriß einer Sozial- und Wirtschaftgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen; Zürich 1984, 97. Aber auch andere Tiere fanden in den Wäldern ihre Nahrung: BELOW & BREIT, Wald, 32 nennen „Rinder, Pferde, Schafe und Ziegen“.
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Die Beweidung veränderte nachhaltig das Gesicht des Waldes. Anstatt eines dichten Baumbewuchses entstand nach und nach durch den fortwährenden Befraß der Jungtriebe und des Unterholzes ein lichter Wald. Junge Bäume konnten nicht mehr hochkommen, so dass etwa durch Windbruch oder auch Abholzung verursachte Schäden in der Baumschicht nicht mehr geschlossen wurden. Das nun zusätzlich bis zum Waldboden gelangende Licht veränderte die Bodenvegetation nachhaltig: begünstigt wurden „lichtbedürftige Kräuter und Gräser […], von denen viele Arten einen größeren Nährwert besitzen als die eigentlichen Waldbegleiter.“133 Eine weitere Akzeleration bewirkte auch das Aushauen von Bau- und Brennholz. So prägte die Waldwirtschaft schließlich die Landschaft: In unmittelbarer Nähe der recht kleinen Felder stehen größere Bäume, zwischen denen das Vieh weidet. Dieses Gebiet hat ein parkähnliches Aussehen: große, ausladende Buchen und Eichen, zwischen denen Gras und Gesträuch wächst. Diese Bäume wurden nicht zu Brennholzzwecken genutzt, sondern als Fruchtträger behandelt. Von den Eicheln und Bucheckern, die sie erst ab einem relativ hohen Alter abwerfen, ernährten sich die Schweine der Bauern. Dieser lichte Wald ging allmählich in den urwaldähnlichen Wald über, der der Brennstoffversorgung diente, aber auch extensiv beweidet wurde.134
Was dem Vieh recht war, konnte dem Menschen nur billig sein. Der Wald der Frühen Neuzeit, vor allem der siedlungsnah gelegene, war Nährwald135 und erfüllte für die ländliche Gesellschaft eine wichtige Funktion als Nahrungsmittellieferant. Den an die großen Monokulturen der Fichtenwälder, wie sie in den deutschen Mittelgebirgen der Normalfall sind, gewöhnten Betrachter verblüfft die Vielfalt der Produkte, die der Wald noch vor 200 Jahren selbstverständlich lieferte.136 Was sich aus ihm gewinnen ließ, war zwar vorwiegend supplementär zur Basisernährung, die auf dem Getreide- und Hackfrüchtefeldbau ruhte, deshalb aber nicht weniger essenziell. Denn ebenso wie das Vieh fanden auch die Menschen eine ganze Anzahl lebenswichtiger Vitamine und Spurenelemente in dem, was der Wald unentgeltlich lieferte.
133 ELLENBERG, Vegetation Mitteleuropas, 47. 134 SIEFERLE, Der unterirdische Wald, 68. 135 Der Begriff erscheint bereits in den zeitgenössischen Quellen und dient in der Sekundärliteratur vorwiegend zur Abgrenzung des traditionell-bäuerlich bewirtschafteten Waldes von der (modernen) Variante des auf möglichst große Holzproduktion abgestimmten HochwaldForstes (in diesem Sinne etwa im Titel von BERNWARD SELTER, Waldnutzung und ländliche Gesellschaft. Landwirtschaftlicher ‚Nährwald‘ und neue Holzökonomie im Sauerland des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 1995). „La forêt est souvent appelée dans les textes Nährwald: forêt nourricière, et la valeur d’une forêt est souvent calculée suivant le nombre des porcs qu’elle peut nourrir.“ DEVEZE, Histoire des forêts, 42. In der französischen Literatur findet sich synonym forêt nourricière; vgl. DERS., Forêts françaises et forêts allemandes, partie I: Révue historique, 235 (1966), 372. Aber der Begriff speist sich nicht nur aus der Viehverpflegung; auch die Verpflegung des Menschen war mitgemeint. 136 Die folgenden Ausführungen orientieren sich vorwiegend an ROLAND BECHMANN, Des arbres, 30 ff. „Den Armen ist der Wald eine ergiebige Schatzkammer […]“, verzeichnet ANNELIESE DYMKE, Die wirkliche Welt im deutschen Zaubermärchen. Studien zum Märchengepräge, Diss. Würzburg 1951, 63.
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Auf dem Waldboden, oft versteckt unter den Blättern und der Humusschicht fanden sich Pilze, von denen eine Vielzahl bereits roh, andere zumindest gekocht genießbar waren. Das Wachstum der verschiedenen Pilzarten folgte dabei dem Rhythmus der Jahreszeiten, so dass sich, außer im tiefen Winter und in den besonders heißen und trockenen Sommermonaten, stets etwas fand. Während das Sammeln von Pilzen, zumindest auf dem Land, die Zeiten überlebt hat, trifft dies auf ein weiteres, und noch tiefer verstecktes, Produkt des Waldes nicht zu. Verschiedene Wurzeln, Zwiebeln, Rhizome oder Knollen waren nicht nur genießbar, sondern durchaus schmackhaft, vor allem aber durch den hohen Stärkegehalt relativ kalorienreich. Trüffel sind noch heute eine kulinarische Kostbarkeit, und auch wie wilder Knoblauch schmeckte, lässt sich vorstellen. Weitgehend unbekannt ist aber bereits, dass Klettenwurzeln und –blätter, das Salomonssiegel und eine große Menge weiterer Pflanzen ebenfalls genutzt wurden.137 Die Rhizome des Farns sind stärke- und kohlenhydratreich, und aus den Blättern und den zerkleinerten Wurzeln wurde sogar eine Art Brot hergestellt. Fast unübersehbar wird das Angebot an potenziellen Nahrungsmitteln, wenn man diese unterste Schicht des Waldes verlässt und in die Region der Sträucher und erdnahen Gewächse emporsteigt. Zwar waren diese in der Regel bei weitem nicht so nahrhaft wie die verschiedenen Wurzeln, dafür brachten sie aber wertvolle Vitamine auf den Tisch und dienten als Geschmackverbesserer. Allerdings war bei der Auswahl Vorsicht geboten, denn eine ganze Anzahl heimischer Pflanzen – beispielsweise die Waldrebe – zeigt sich in rohem Zustand toxisch. Rapunzeln und die jungen Triebe von Brennnesseln werden immer noch verwendet; gleiches galt für die heute auf ihren dekorativen Zweck beschränkte Vogelmiere, die Schlüsselblume und das Veilchen, ebenso für Kresse, Sauerampfer, Engelwurz, Lorbeer, Ehrenpreis, Lungenkraut und Mauerlattich. Hopfen war seit dem 9. Jahrhundert zur geschmacklichen Verbesserung des Bieres beliebt, Ginsterknospen, Stechginster, Bodenefeu, wilde Minze, Dost und viele andere Pflanzen dienten als Gewürze. Während die Verwendung von Blättern und Wurzeln aus heutiger Perspektive exotisch anmutet, sind die Beeren und Früchte des Waldes nach wie vor ein beliebtes Sammelgut. Walderdbeeren, Brombeeren, Blaubeeren, Himbeeren sind bekannt. Aber der Weiß- oder Hagedorn erbrachte ebenfalls Früchte, die sich vielfältig zubereiten ließen, und daher von hohem Wert waren. Man konnte sie trocknen, aus ihnen ein Mehl herstellen oder kochen; die jungen Blätter wurden ebenfalls verwendet. Auch die Bäume selbst lieferten eine ganze Reihe von Nahrungsmitteln: Blätter, Jungtriebe, Früchte, Borke, sogar der Saft wurden in der einen oder anderen Form konsumiert. Aus der Esche, ohnedies ein wichtiger Futterbaum, ließ sich ein vergorenes Getränk herstellen, indem man die von Blattläusen befallenen Blätter verwendete. Die Früchte des Hartriegels (Kornelkirsche) lassen sich in reifem Zustand roh, vorher bereits in Salzlake eingelegt oder kandiert genießen.
137 Vgl. die lange Liste in BECHMANN, Des arbres, 31 f.
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Der Wald brachte aber auch die Wildformen der Obstbäume hervor. Dass diese fast ganz aus den Wäldern verschwunden sind, ist eine Folge der Einführung des Kahlschlagbetriebes und der daraus resultierenden Bevorzugung von Nadelbäumen.138 Bis vor 150 Jahren waren sie jedoch weit verbreitet, und so fand man hier die Urformen des Apfelbaums, der Birne, der Wald- und Süßkirsche, des Mehlbeerbaums, des Vogelbeerbaums, der Kastanie, verschiedener Nussarten, der Mispel, der Eberesche, des Speierlings (Spierapfel), der Schlehe, des Wacholders und der Pflaume – eine Aufzählung ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Gemein war all diesen Bäumen, dass die hervorgebrachten Früchte noch nicht annähernd das uns heute vertraute Maß erreichten; wilde Äpfel beispielsweise sind kaum größer als Kastanien. Auch waren die meisten von ihnen nur in überreifem Zustand roh genießbar. Einige Nadelhölzer bringen ebenfalls genießbare Produkte hervor; zu nennen sind etwa Pinienkerne, aber auch die Jungtriebe und Sprossen. Eicheln139, Kastanien140 und Bucheckern141 wurden nicht nur von Tieren gefressen, sondern hatten in vielen Regionen einen festen Platz in der Ernährung des Menschen. Ebenso wie die Nüsse ermöglichten sie aufgrund ihrer Haltbarkeit eine einfache Bevorratung für den Winter. Im Falle von Krankheit bot der Wald einen großen Fundus von Heilmitteln an. Er spielte „als Drogenlieferant und durch seine Wildtiere ebenfalls als indirekter Produzent von tierischen Medikamenten eine vom Beginn des Mittelalters an bedeutsame Rolle […].“142 Nicht allein Heilkräuter, sondern auch Eichenrinde und Nutzbäume fanden in der Heilkunde Verwendung. Wo Nadelhölzer den Wald beherrschten – also im wesentlichen in den Hochlagen der Gebirge und auf den sandigen Böden des Ostens – wurde das Harz von Fichte und Kiefer genutzt. Es war begehrte Basis für Teer, Pech und Wagenschmiere143, aber auch Terpentinöl und Kolophonium144; die Einkünfte aus der Harznutzung, besonders in abgelegenen und schwer zugänglichen Wäldern, übertrafen „noch lange jene aus dem Holzverkauf […].“145 Das Harzen richtete allerdings an den Bäumen schwere Schäden an, so dass man sich bald bemühte, auf
138 Vgl. KARL BERTSCH, Geschichte des deutschen Waldes, Jena 41953, 123. 139 Verschiedene Arten von Eicheln sind zu unterscheiden; aus einigen lässt sich ohne weitere Vorbereitungen ein Mehl herstellen, während andere aufgrund ihres hohen Tanningehaltes vor der weiteren Nutzung erst abgekocht werden müssen. 140 Noch heute ist die Kastanie in vielen Regionen Frankreichs – etwa den Cevennen – ein gängiges Nahrungsmittel, aus dem mittlerweile sogar Brotaufstrich hergestellt wird. 141 Bucheckern dienten bis zum 18. Jahrhundert, als sich schließlich der Rapsanbau durchsetzte, als Basis zur Herstellung von Speiseöl; vgl. ERNST SCHUBERT, Der Wald im Mittelalter, in: Journal für Geschichte, 6 (1982), 50. 142 HANS SCHADEWALD, Der Wald als Lieferant von Arzneimitteln, in: JOSEF SEMMLER, Wald in Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 1991, 148–160; hier 148. 143 FRANK BÖCKELMANN, Das Andere des Waldes im Mittelalter, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft, 8 (1996), 30. 144 MANTEL, Wald und Forst, 229. 145 HASEL, Forstgeschichte, 162.
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dem Weg der Forstordnungen das Harzen auf Gebiete zu beschränken, die eine andere Nutzung nicht zuließen.146 Je weiter man sich vom Mittelalter entfernt, desto mehr verliert für die Landbevölkerung das Wild seine Bedeutung als Alimentationsquelle – eine Folge der Durchsetzung obrigkeitlicher Jagdprivilegien. Ähnliches gilt für die Nutzung der Produkte von Wildtieren.147 Vor allem die Bienen lieferten zwei heißbegehrte Erzeugnisse, Honig und Wachs, und schon früh hatte sich, vom Süden Deutschlands ausgehend, der Berufsstand der Zeidler etabliert – sie suchten die Wälder planmäßig nach den begehrten Ressourcen ab.148 Honig stellte bis weit in die Neuzeit hinein149 das einzige erschwingliche Süßungsmittel dar; vergoren wurde er zu Met, einem schon den Germanen bekannten Getränk, das zwar nach dem Aufkommen des Biers an Bedeutung verloren hatte, aber durchaus noch verbreitet war.150 Aus dem Wachs wurden nicht nur Kerzen hergestellt, sondern auch Schreibtäfelchen oder Siegelwachs. Die Hausbienenzucht, und damit die Verpflanzung ganzer Bienenvölker in die unmittelbare Reichweite des Menschen, wurde erst im 19. Jahrhundert bedeutsam.151 Betrachtet man die oben skizzierte Art der Wirtschaftsweise, in der ganze Tierherden für längere Zeit in den Wald eingetrieben wurden, ist klar, dass die Grenzlinie zwischen Haus- und Wildtieren keineswegs eine klare sein konnte. Hausschweine paarten sich häufig mit Wildschweinen, offenbar ohne dass sich die Bauern Gedanken um den Verlust von Züchtungserfolgen machten; Pferde, die längere Zeit im Wald gelebt hatten, mussten erst wieder gefangen werden, bevor sie zur Verfügung standen.152 Wirklich gefährlich war die Fauna des Waldes für den Mitteleuropäer der Frühen Neuzeit indes wohl nicht mehr. Zwar hatte der Dreißigjährige Krieg als Nebeneffekt die Zahl der Wölfe vermehrt, aber dieses Problem wurde durch konsequente Abschüsse zu lösen gesucht. Immerhin bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts lassen sich für Nordwestdeutschland – dem Bezugsrahmen für den unten diskutierten Fall Peter von Hameln – noch größere Strecken nachweisen, „dann kommen nur noch Meldungen von Einzelerlegungen ‚letzter‘
146 Ebd. 147 MANTEL, Wald und Forst, 86 führt aus, dass die Waldimkerei oder Zeidlerei ursprünglich frei gewesen sei; später sei sie Bestandteil der Allmendnutzungsrechte geworden. Seit etwa dem 13. Jahrhundert wurde sie als landesherrliches Regal beansprucht und damit, ebenso wie die Jagd, dem direkten Zugriff der Bevölkerung – jedenfalls theoretisch – entzogen. Die Zeidler wurden den Landesherren gegenüber abgabepflichtig. 148 DEVÈZE, Histoire des forêts, 42 betont den Zusammenhang zwischen Zeidlerei und – ansonsten wenig ergiebigen – Nadelholzwäldern. Möglicherweise seien die ersten Aufforstungen mit Koniferen, die um Nürnberg im 14. Jahrhundert vorgenommen wurden, Bestrebungen gewesen, die Honig- und Wachsproduktion zu erhöhen. 149 Rohrzuckerimporte aus der Karibik blieben lange teures Luxusgut. Vgl. WILHELM ABEL, Stufen der Ernährung. Eine historische Skizze, Göttingen 1981, 60. 150 Vgl. SCHUBERT, Wald im Mittelalter, 50. 151 MANTEL, Wald und Forst, 89. 152 Vgl. BECHMANN, Des arbres, 39.
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Wölfe.“153 Hin und wieder – besonders in harten Wintern – kam es auch vor, dass Wölfe aus den großen Wäldern Polens oder Russland nach Westen zogen, aber ansonsten drohte kaum physische Gefahr in den Wäldern. Luchse und andere kleinere Raubtiere wurden dem Menschen nicht gefährlich, Bären waren zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus der Region verschwunden. Ebenso wie Auerochse, Wisent und Elch waren sie Opfer der Bejagung, vor allem aber der intensivierten Nutzung und des drastischen Flächenverlustes an Wald in Mitteleuropa.154 Ein weiterer Effekt dieser Gemengelage: Die Bestände an Rot- und Schwarzwild nahmen zu, und die Tiere konzentrierten sich in den noch verbliebenen Waldinseln. Aus bäuerlicher Perspektive wäre eine Reduktion des Wildes aus mehreren Gründen wünschenswert gewesen: Schmackhaftes Wildbret hätte die Speisekarte auf höchst angenehme Weise bereichert, vor allem aber galt es, den Verbiss in den Griff zu bekommen. Beides war jedoch legal in der Frühen Neuzeit kaum mehr möglich, denn die Obrigkeit hatte es in einem mehrere hundert Jahre überspannenden Prozess seit dem Mittelalter verstanden, die gemeinwirtschaftlichen Markgenossenschaften zu entrechten.155 Wald, Weide und Wasser waren ursprünglich gemeinsames Eigentum der Markgenossen, die über ihre Nutzung frei bestimmten; die konkreten Formen wurden auf Versammlungen festgelegt. Sie umfassten den Eintrieb des Viehs in die Wälder, regelten aber auch Rodungen und Entnahme von Früchten oder Tieren aus dem Areal. Außerhalb der Mark ging der Wald in den Urwald über, der keiner geregelten Bewirtschaftung unterlag. Diese Gebiete hatte schon früh der König beansprucht; als „Forst“156 waren in ihnen Jagd, Rodung und Ansiedlung verboten. „Mit dem Ausbau der landesherrlichen Hoheit nahmen die Landesherren dieses Recht der Einforstung auch für die Markwälder […] in Anspruch.“157 Nun hatten die Landesherren an den Wäldern ganz spezifische, ihre Vorgehensweise bestimmende Interessen. Für die stets von Finanzsorgen geplagten Fürsten sollten die Wälder vor allem finanziell ergiebig sein, gleichzeitig ein gutes Jagdrevier darstellen. Damit lagen die fürstlichen und bäuerlichen Interessen über 153 WALTER KREMSER, Niedersächsische Forstgeschichte. Eine integrierte Kulturgeschichte des nordwestdeutschen Forstwesens, Rotenburg (Wümme) 1990, 226. Die größten Strecken von Wölfen werden im Raum Hannover-Celle 1648 (186 Wölfe) und 1649 (168 Wölfe) erzielt; ebd. 154 Vgl. MANTEL, Wald und Forst, 83. 155 Zu den Begriffen „Mark“ und „Markgenossenschaft“ vgl. HASEL, Forstgeschichte, 89 ff. Die rechtlichen Implikationen müssen hier nicht weiter verfolgt werden; im Gegensatz zum Ackerland, an dem sich schon früh Privateigentum ausbildete, wurden Wald und Weide noch lange Zeit gemeinschaftlich genutzt. 156 Wohl von foris, außerhalb; SIEFERLE, Der unterirdische Wald, 94. 157 SIEFERLE, Der unterirdische Wald, 94. Die Berechtigung zur Jagd wurde so seit dem 17. und 18. Jahrhundert nur noch einem kleinen Personenkreis zugesprochen: „Allgemein herrschte […] die Lehre, daß außer dem Landesherrn nur die Adligen Jagdrechte erwerben oder ausüben konnten. Ihnen wurden die hohe Geistlichkeit, die städtischen Patrizier, die ‚alten Geschlechter’, die graduierten Personen, vielfach auch hohe Offiziere […], sowie in einzelnen Ländern die Räte gleichgestellt. Abgesehen von wenigen Ausnahmen, verloren es die Bauern in dieser Zeit ganz.“ KREMSER, Niedersächsische Forstgeschichte, 233.
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Kreuz, denn das Optimum für die Fürsten, so kristallisierte sich immer mehr heraus, war der Hochwaldbetrieb, möglichst mit einem Schwerpunkt auf Nadelhölzern. Ein derartiger Wald lieferte besonders viel gerade gewachsenes Bauholz, so dass die „schon im 17. Jahrhundert enormen Profitspannen im internationalen Bauholzhandel“158 abgeschöpft werden konnten. Abnehmer von Bauholz waren vor allem die Städte; aber auch die Werften hatten stets Bedarf an solchen hochwertigen Hölzern. Diese neuartige Waldnutzung erwies sich bald für die ländliche Bevölkerung als enormes Problem: Während an den Gewinn tierischer Nahrung aufgrund des Jagdregals nicht zu denken war159, wurde das Wild vielerorts zu einer wahren Plage, gegen die man sich nur schwer zur Wehr setzen konnte.160 Im Gegenteil wurden Jagdfrondienste eingeklagt, welche die Bevölkerung weiter belasteten.161 Für die Fürsten dagegen war die Jagd ein wichtiges Prestigeobjekt, als Ausdruck ihrer Macht bedeutsam wie die Schlösser und Feste, und deshalb unverzichtbar.162 Den Untertanen wurden im Wald daher strenge Beschränkungen auferlegt – ja man hat den Eindruck, die Obrigkeit hätte das Betreten der Wälder am liebsten generell verboten. So sollten die Wege nicht verlassen werden, um das Wild – 158 RADKAU, Energiekrise, 117. 159 „Dies ist des Jagens gröster Nutz, daß man den Tisch desto besser damit versiehet und bestellet“, war eine Aussage, die GEORG ENGELHARD LÖHNEYSS (Aulico-Politica, Remlingen 1622; zit. nach KREMSER, Niedersächsische Forstgeschichte, 220) für seine Zeit, das 16. Jahrhundert, noch treffen konnte. Im 18. Jahrhundert hatten sich die Zustände allerdings so drastisch verändert, dass tatsächlich von einer hohen Belastung der ländlichen Bevölkerung durch das Wild auszugehen ist. Wilderer wurden, wie z. B. ALLMANN, Wald in der frühen Neuzeit, 130 ff. zeigt, von drakonischen Strafen bedroht. 160 Zur Wilddichte vgl. HANS WILHELM ECKHARDT, Herrschaftliche Jagd, bäuerliche Not und bürgerliche Kritik. Zur Geschichte der fürstlichen und adligen Jagdprivilegien vornehmlich im süddeutschen Raum, Göttingen 1976, 76 ff. Während man heute davon ausgeht, dass ein Bestand von etwa 2–3 Stück Rotwild auf 100 ha das Maximum des ökologisch Vertretbaren darstellt, ergibt eine Auswertung württembergischer Quellen für das 18. Jahrhundert (ebd., 77) eine Dichte von einem Tier auf 2–2½ ha, also umgerechnet 40–50 Tiere auf 100 ha. Dabei sind diese Zahlen mit großer Wahrscheinlichkeit zu niedrig angesiedelt. Die Ressourcen der Wälder reichten nicht aus, das Wild bediente sich auf den angrenzenden Feldern, oft unter den Augen der ohnmächtigen Bauern. So beschränkte die Obrigkeit die Höhe der Zäune, die zudem nicht „spitzig“ sein durften „damit dem Wildprät kein Schaden entstehen könnte“; ebd., 87. Selbstverständlich durfte man zur Verteidigung seines Grundes das Wild nicht verletzen oder gar töten; erlaubt waren lediglich die nächtliche Bewachung der Felder und das Vertreiben der Tiere durch Schreien oder Trommeln. 161 Vgl. MANTEL, Wald und Forst, 83. Vgl. auch KREMSER, Niedersächsische Forstgeschichte, 233 f. 162 Zur Bedeutung der Statussymbole und Prestigeobjekte für den Adel vgl. die immer noch glänzende Studie NORBERT ELIAS’, Die höfische Gesellschaft: Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Frankfurt a. M. 1997, insbes. 110 ff. Der Wildreichtum erfüllte seine Aufgabe – nämlich zu beeindrucken – sicher zur Zufriedenheit, wenn man bedenkt, dass in einem vergleichsweise kleinen Gebiet „von einer Stunde Ausdehnung“ (ECKHARDT, Herrschaftliche Jagd, 77) im Laufe von 14 Tagen 1.083 Wildschweine erlegt oder gefangen wurden; noch enormer sind die Zahlen beim „Niederwild“; ebd., 79 nennt Quellen, die Strecken von 3.000–4.000 oder gar 6.000–7.000 Hasen überliefern.
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durch das man sich wahrscheinlich in einigen Gebieten geradezu einen Weg bahnen musste – nicht zu erschrecken. In der Brunftzeit herrschte absolutes Waldverbot, und die bäuerlichen „Nebennutzungen“ wurden, wo immer möglich, eingeschränkt.163 Letzteren stand der Hochwaldbetrieb ohnedies entgegen, basierten sie doch auf jenen ganz anderen Formen der Waldnutzung – dem Nieder- und Mittelwald – wie sie bereits skizziert wurden. Der Nadelhochwaldwirtschaft, die „den Wald von einem mit mannigfaltigen Nutzungen besetzten Lebensraum in ein rational anzulegendes Kapital zu verwandeln suchte und in der forsthistorischen Literatur als Sieg der Vernunft gefeiert wird“164, bot dem Bauern nichts; sie war sinnfälliger Ausdruck fürstlicher Allmacht und Verschwendungssucht. Sie reduzierte den multidimensional genutzten Wald der Frühen Neuzeit zu jenen Forstmonokulturen, die seit dem 19. Jahrhundert das Erscheinungsbild bestimmen. 2.2.2. „Immaterielle Nutzung“165: Der Wald als Projektionsraum Auf der Basis dieser Betrachtungen zur Waldnutzung erscheint es also widersinnig, einen Kontrast zwischen Kulturland und Wald entwickeln zu wollen.166 Die ländliche Gesellschaft hatte den Wald vielmehr in ihre Wirtschaftsweise integriert; er diente als Ort der Viehweide, als Nahrungsmittellieferant, als Erzeuger von Heilmitteln. Er lieferte Brennholz ebenso wie Harz oder Baumaterial, bis zur Durchsetzung des obrigkeitlichen Jagdregals – je nach Machtpotenzial des Fürsten wohl auch noch später – außerdem hin und wieder ein Stück Wild. Der Wald konnte so kein Gegensatz zum kultivierten Land sein; er war vielmehr in dieses eingebunden. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass die Siedlungen die Nähe des Waldes suchten.167 Dabei war es der Laubwald, der bald in die Kulturform des Mittel- oder Niederwaldes überging, welcher der Bevölkerung am meisten zu bieten hatte. Unmerklich ging in ihm das „Kulturland“ in „wildes Land“ über, ohne dass sich die Grenzen dieses Überganges genau hätten festlegen lassen.168 Der düstere und alimentär weitgehend unergiebige Nadelwald hingegen war und blieb unbeliebt. Aber überhaupt scheint sich der Wald immer erfolgreich gegen eine vollständige Vereinnahmung gewehrt zu haben. Obwohl seine Nutzungen so vielfältig waren, obwohl der Wald häufig geradezu überlaufen gewesen zu sein scheint, haftete ihm im Bewusstsein der Menschen etwas Unberechenbar163 Ebd., 81 f. 164 RADKAU, Energiekrise, 117. 165 Die Bezeichnung entstammt ALLMANN, Wald in der frühen Neuzeit, 297, dem das vorliegende Kapitel zu einem guten Teil seine Existenz verdankt. MANTEL, Wald und Forst, 113 ff. widmet „Baum und Wald in Mythologie, Brauchtum und Volksglauben“ ebenfalls einen längeren Abschnitt. Eine ähnliche Zielrichtung, jedoch weniger explizit auf den Wald zugeschnitten und regional enger begrenzt, verfolgt RAINER BECK, Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München 2003. 166 Zu einem solchen Befund gelangt BECHMANN, Des arbres, 27 schon für das Mittelalter. 167 „Wesentlich ist, daß das Vorhandensein von Wald fast ebenso wichtig wie das von Wasser war.“ MANTEL, Wald und Forst, 152. 168 ALLMANN, Wald in der frühen Neuzeit, 164 ff. legt dar, dass eine abstrakte Raumerfassung noch gar nicht stattgefunden habe.
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Geheimnisvolles an. Der Wald war ein Ort, dessen Vertrautheit sich schnell ins Gegenteil verkehren konnte. Hatte man den Teil, der aus dem Alltag bekannt war, verlassen, drohte man leicht die Orientierung zu verlieren. Er war unübersichtlich, und man konnte nicht wissen, wer oder was sich in ihm verbarg. Kurzum: Im Denken der Zeit behielt der Wald eine zutiefst irrationale, vielleicht kulturfeindliche, auf jeden Fall aber beängstigende Komponente, die sich mit dem Bild des „realen Waldes“ überlagerte. Wenn man feststellt, dass die materielle Bedeutung des Waldes für die Menschen der Frühen Neuzeit lange Zeit übersehen wurde, so gilt das in noch viel größerem Maß für diese „immaterielle Nutzung der Wälder“169. Denn auch wenn Waldweide und –mast sich auf einen bestimmten Radius um die Siedlung beschränkten, war der sich anschließende „tiefe Wald“ keineswegs funktionslos. Vielmehr waren für „den traditionellen Nutzer […] die dunklen Wälder samt den urwaldartigen Regionen, […] was den mentalen Bereich angeht, von Bedeutung. Sie bildeten den dringend erforderlichen Projektionsraum, insbesondere von dort kamen die übernatürlichen Wesen, besonders dorthin konnten Geister und Krankheiten gebannt werden.“ 170 Die traditionelle Waldnutzung – die man von der seit dem 17. Jahrhundert zunehmend Raum beanspruchenden wissenschaftlich-aufklärerischen trennen kann – vollzog sich so auf zwei Ebenen: einer konkret-materiellen, die im vorhergehenden Kapitel zu skizzieren versucht wurde, und einer mental-übergeordneten, in der die unbewirtschafteten Bereiche des Waldes eine Schlüsselrolle spielten. Um als Projektionsraum für eine Vielzahl übernatürlicher Wesen und Mächte genutzt werden zu können, war es notwendig, dass Teile des Waldes eben nicht zur Alltagswelt gehörten, nicht dem ständigen Zugriff ausgesetzt waren. Im Bewusstsein der ländlichen Bevölkerung konnte es auch keinen Besitzer dieser Wildnis, die sich an die genutzten Flächen des Weidewaldes anschloss, geben: „die alten Götter, die hier ihren Sitz hatten, waren zwar entthront, aber Jahrhunderte lang sollte weiterhin von ihnen im Waldaberglauben geraunt werden.“171 Bedeutungslos war, ob der tiefe und dunkle Wald jenseits der verschwommenen Grenzen des Weidewaldes tatsächlich so einsam und verlassen war, wie man imaginierte. Tatsächlich hatte ja seit dem Mittelalter eine ganze Anzahl von Berufsgruppen hier ihren festen Sitz. Aber diese zerstörten die fremde Welt nicht; eher blieb die Fremdartigkeit, das Furchteinflößende des Waldes an ihnen haften. Der zweifelhafte Ruf, den die Köhler, Goldwäscher, Bergleute, Pechsieder, Aschenbrenner, Zunder- und Schwammsiedler, Holzhauer, Zeidler und schließlich auch Jäger und Wilderer genossen, ist hinlänglich bekannt. Man darf wohl auch mutmaßen, dass zumindest einige der Menschen, die den Wald als ihren Aufenthaltsort gewählt hatten, daran interessiert waren, diesen so menschenfrei wie möglich halten; sei es, um die wirtschaftliche Ausbeute des eigenen Gewerbes zu 169 ALLMANN, Wald in der frühen Neuzeit, 297. 170 Ebd., 210. Eine solche Art der Nutzung konnte von der „Forstwissenschaft“, der es nur noch um Holzproduktion ging, natürlich nicht gebilligt werden. 171 ERNST SCHUBERT, Der Wald im Mittelalter, in: Journal für Geschichte, 6 (1982), 48–55; hier 51.
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optimieren, sei es, um nicht entdeckt zu werden. Wer weiß, ob nicht tatsächlich einige dieser Gruppen gezielt den magischen Vorstellungen des Volksglaubens Nahrung lieferten, um sich danach umso unbelästigter in den Wald zurückziehen zu können?172 Diese sozusagen zweite Realität des Waldes, die ALLMANN173 als ein Filter versteht, durch das die historisch-konkrete Realität erst Gestalt annahm, bestimmte die traditionellen Wirtschaftsformen. Wald und Waldnutzer befanden sich hier in einem Zustand der flexiblen Stabilität174; viele Nutzungsweisen wurden seit Jahrhunderten mehr oder weniger unverändert betrieben. Dazu gehörte auch die Besiedlung des Waldes mit übernatürlichen Wesen, die Nutzung als Projektionsraum – im Rahmen einer vorwissenschaftlichen oder vorindustriellen Rationalität175 unerlässlich, um viele verwirrende Phänomene zu verstehen. So erklärt sich ein guter Teil des Widerstandes, den die ländliche Bevölkerung den „vernünftigen“ forstwissenschaftlichen Plänen entgegen brachte, als Folge der drohenden „Entzauberung“ des Waldes.176 Wie sich dieser imaginäre und doch die Realität und deren Wahrnehmung in hohem Maße prägende Raum nun genauer darstellte, lässt sich nur schwer bestimmen. Kaum jemand, und schon gar nicht die Landbevölkerung, zeichnete auf, wie der Wald wahrgenommen wurde und welchen Eindruck er in der Psyche hinterließ. Um diesen Fragen auf die Spur zu kommen, lassen sich Interpretationen und auch Spekulationen kaum vermeiden, denn es müssen Quellengattungen genutzt werden, um welche die traditionelle Geschichtswissenschaft lieber einen Bogen macht: Märchen und Sagen177, welche die gewünschten Informationen bei aller Problematik noch am ehesten liefern können.178 172 Auf eine solche Möglichkeit weist BECHMANN, Des arbres, 339 hin: „Les voleurs, hôtes fréquents et bien réels des forêts, avaient interêt à entretenir autour de leurs repaires une peur superstitieuse qui en écartait les importuns.“ 173 „Die Realitätsebene 2 [eben die mentale; H. B.] stellt die nur schwer faßbare Scheibe dar, durch die die Handlungsweisen etc. der traditionellen Bevölkerungen betrachtet werden müssen, will man sie verstehen.“ ALLMANN, Wald in der frühen Neuzeit, 383. 174 Ebd., 288. 175 Ebd., 289. 176 Ebd. Dagegen sieht BECHMANN, Des arbres, 340 die Idee des geheimnisvollen und furchteinflößenden Waldes mit ganzer Wucht erst in der Neuzeit ausgeformt. Vor allem die Städter, der Natur mittlerweile mehr oder minder entfremdet, hätten sie geprägt. Zur mittelalterlichen Bedeutung des Waldes als literarischer Topos vgl. MARIANNE STAUFFER, Der Wald. Zur Darstellung und Deutung der Natur im Mittelalter, Diss. Bern 1959 und ERNST ROBERT CURTIUS, Rhetorische Naturschilderung im Mittelalter, in: Romanische Forschungen, 56 (1942), 219–256. 177 Als Definition für Märchen zitiert LUTZ RÖHRICH, Märchen und Wirklichkeit, Wiesbaden 2 1964, 1: „‚Unter einem Märchen verstehen wir eine mit dichterischer Phantasie entworfene Erzählung besonders aus der Zauberwelt, eine nicht an die Bedingungen des wirklichen Lebens geknüpfte wunderbare Geschichte.’“ Die hier benutzten Märchen entstammen durchweg der Gattung der Volksmärchen, die sich, was den Umgang mit der Wirklichkeit betrifft, deutlich von Kunstmärchen und Schwänken abgrenzen lassen. „Es ist gerade das Eigentümliche am Märchen, daß es nicht so stark von der Realität abweicht, daß man es nicht noch gerne glauben möchte. […] Im ‚eigentlichen Märchen‘ […] entartet das Wunder nicht in Phantastik.
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Der Wald ist als Märchen- und Sagenmotiv praktisch allen Kulturen und allen Zeiten bekannt, nicht weniger als 48 Märchen der Brüder Grimm lassen sich als Waldmärchen ansehen: „Märchen, in denen der Wald als Welt erscheint“179 und „als Ganzes in bestimmender Weise in die Handlung eingreift.“180 ALLMANNS Untersuchung, die sich lediglich auf den Pfälzer Raum beschränkt, dienen sogar „einhundertneunundfünfzig Waldsagen als Grundlage“.181 So sind „die weitaus meisten deutschen Märchen ausgesprochene Waldmärchen“.182 Der Wald dient
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Es ist nicht unbegrenzt, sondern verläuft nach einer bestimmten Typik und Logik. […] Jedes Volksmärchen ist noch irgendwie mit der Wirklichkeit verbunden.“ Ebd., 3. Der genaue Unterschied zwischen Märchen und Sage wurde immer wieder zu definieren gesucht. Meinten die Grimms noch, das Märchen sei „poetischer“, die Sage „historischer“, setzte sich in der Folge die Geglaubtheit als allgemeines Unterscheidungsmerkmal durch. Vgl. etwa RÖHRICH, Märchen und Wirklichkeit, 9. Dies betrifft erstens die Symbolgeladenheit: „Wir können mit Gewißheit sagen, daß die Märchen-Bilder nicht Zufallsbilder sind, sondern Symbole. Sie sind sicher nicht aus einem beliebig ordnungslosen Assoziieren entstanden, nicht aus dem, was manchmal die Grimms tastend verschwommen ‚Volksphantasie‘ nannten, sondern sie sind ausgewogen.“ ORTRUD STUMPFE, Die Symbolsprache der Märchen, Münster 31975, 20. Stumpfe rekurriert vor allem auf die Theorien C. G. Jungs, und geht daher von einem „Grundbestand von Symbolen […], die in den personalen Reifungskrisen jedes Menschen in Träumen und Sym- oder Antipathien genau so zum Klärungspunkt werden, wie seit Urzeiten im Mythen und Märchen“ (ebd., 14) aus. Zweitens ist die Problematik der Überlieferungssituation heute fest im wissenschaftlichen Bewusstsein verankert; vgl. etwa RUDOLF SCHENDA, Mären von deutschen Sagen. Bemerkungen zur Produktion von „Volkserzählungen“ zwischen 1850 und 1870, in: GuG, 9 (1983), 26–48. Schenda findet eine kleine, „geschlossene Gesellschaft bürgerlicher Akademiker“ (ebd., 32) als Autoren vor, die ihre Pfründe aggressiv verteidigen. Von Ausnahmen abgesehen sei keine Feldforschung betrieben, sondern die von „Gewährsmännern“ übermittelten Sagen seien am Schreibtisch kompiliert worden; insbesondere treffe dies auf die Überväter dieser Literatur, die Brüder Grimm zu. Eine getreue Abbildung der Realität sei aber auch gar nicht intendiert gewesen, sondern das Untermauern eines bereits vorgefertigten Sachverhaltes: „Da galt es einmal, das Postulat von der Einheit zumindest der Zollvereins-Nation abzustützen durch pseudohistorische Hinweise von der Einheitlichkeit und vom Uraltertum des deutschen Volkes […]. Da ging es ferner darum, die nationale Kulturwährung aufzuwerten gegenüber Völkern, die bereits ein entwickeltes antikes Mythen-System besaßen, und ein eigenes germanisch-heidnisches Mythensystem aus allen erreichbaren Quellen zu rekonstruieren. Da galt es aber auch, dem Christentum […] ein Moralsystem entgegenzuhalten, das […] aus […] dem Germanischen, das in völlig ahistorischer Weise als Raum-Zeit-Einheit […] konzipiert wurde, stammte.“ Ebd., 34 f. Unter solche Bedingungen muss man dem Echtheitsgrad der gängigen Kompilationen natürlich äußerst kritisch gegenüberstehen. Die Skepsis betrifft allerdings, soweit ich das sehen kann, insbesondere die Anbindung märchen- und sagenhafter Überlieferungen an eine „germanische“ Mythologie – eine an diesem Platz völlig beiläufige Frage. Die bloße weit zurückreichende Existenz der Märchen und Sagen ist damit kaum fraglich, sehr dagegen die ihnen im 19. Jahrhundert übergestülpte, national aufgeladene Deutung. BAUMGART, Wald in der deutschen Dichtung, 35. Ebd. ALLMANN, Wald in der frühen Neuzeit, 297. REBHOLZ, Wald im deutschen Märchen, 9. Lediglich in Gebieten mit drastisch differierender Vegetation, wie den unmittelbaren Küstenregionen, wird dieser Raumfaktor ersetzt, etwa durch das Meer. BAUMGART, Wald in der deutschen Dichtung, 34.
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hier nicht als austauschbares Dekor der Handlung, vielmehr lassen sich die Geschehnisse ohne ihn nicht vorstellen. Er ermöglicht erst das Eindringen des Wunderbaren in das bis dahin in geordneten Bahnen verlaufende Leben der Protagonisten. Der Wald manifestiert sich als eigene Welt, in der die Regeln des Alltags aufgehoben sein können; er ist ein Platz, den man vielleicht neutral als einen Raum erweiterter Möglichkeiten bezeichnen könnte. Was in den offenen Flächen der Felder oder den belebten Innenräumen der Dörfer unmöglich erscheint, wird in ihm, wenn auch nicht ohne weiteres geglaubt, so doch für möglich gehalten. In der Schilderung des Waldes gibt sich das Märchen sehr einheitlich, fast formelhaft: „Der Märchenwald ist dunkel und schrecklich. […] Drohend steht er als Geheimnisbergendes, Gefahrvolles vor dem Menschen, der es wagt, sich ihm zu nahen; undurchdringlich umschließt er den, der es wagt, leichtfertig oder auch voll Mut in ihn einzudringen.“183 Allerdings wurden die Wälder nicht immer so negativ beschrieben, denn sie „boten verfolgten Menschen mitunter Schutz, ohne daß es eine ‚Garantie‘ für Unversehrtheit gegeben hätte.“184 Diese Schutzfunktion erstreckte sich in zwei Richtungen. Zum einen boten die Wälder Rückzugsmöglichkeiten vor einer konkreten Gefahr – wobei dann allerdings mit einer Belästigung durch übernatürliche Mächte gerechnet werden musste –, zum anderen konnte man möglicherweise „Geister, die häusliche Anwesen und Menschen belästigten, in die Wälder bannen“185 – womit sich das Zauberpotenzial des Waldes freilich weiter erhöhte. Aber auch dieser Schutz, den der Wald spenden konnte, ist letztlich nichts anderes als eine Funktion seiner Unheimlichkeit, denn diese garantierte erst die Abgeschiedenheit des Rückzugsortes. Wald bleibt im Märchen eine bemerkenswert undifferenzierte Einheit186 und als Kulisse ebenso flach wie die Charaktere der Märchen. Er ist „sehr groß“, „dunkel“, „finster“, „dicht“ oder „wild“187 – eine Masse von Bäumen, Sträuchern und sonstigen Pflanzen, die nicht näher benannt wird.188 Lediglich wo es die Handlung erfordert, treten Einzelheiten des Waldes in den Vordergrund; aber auch dies geschieht auf eine mehr oder minder schematische Weise. „Unter einem Baum oder in einem hohlen Baum schlafen die verirrten Kinder. […] Wurzeln, Beeren und Nüsse […] dienen den Verirrten als Nahrung, und um Erdbeeren aus dem Walde zu holen, wird das Mädchen von der Stiefmutter im tiefen Winter in den Wald geschickt […]. Im Wald holt man Holz […] und Reisig […].“189 Besonders der hohle Baum ist ein häufig wiederkehrender Topos des Märchens. „Er ist Rückzugs- und Schutzort […] und öffnet sich für Flüchtlinge […]; vertriebene, 183 184 185 186 187 188
REBHOLZ, Wald im deutschen Märchen, 9. ALLMANN, Wald in der frühen Neuzeit, 302. Ebd. Vgl. BAUMGART, Wald in der deutschen Dichtung, 37. REBHOLZ, Wald im deutschen Märchen, 9 ff. Möglicherweise hat aber auch die lange Überlieferung zu der Detailarmut beigetragen. THOMAS, Man and the Natural World, 83 beschreibt: „Many vernacular names [i. e. Bezeichnungen für Pflanzen und Tiere; H. B.] were hopelessly volatile, leaping from plant to plant according to local whim.“ 189 BAUMGART, Wald in der deutschen Dichtung, 37.
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verlassene oder verfolgte Mädchen suchen in ihm Schutz […] und gebären dort nicht selten ihr Kind […], die zukünftige Heldin wird ebenda gefunden […] etc.“190 Trotz der Unschärfen in der Darstellung kommt es aber zu einer Art Personifizierung des Waldes; er wird beseelt. Er war keineswegs irgendein lebloser Produktionsfaktor, vielmehr bestand „ein enges und magisches Band zwischen dem Baume (resp. der Pflanze) und dem Menschen“.191 Noch lange durften bestimmte Holzarten nicht ohne Weiteres geschlagen werden, weil man von einer Baumseele ausging, die sich unter Umständen rächen konnte; dies gilt beispielsweise für den Holunder. In der großen, uniformen Masse des Waldes lösen sich diese „Baumseelen“ schließlich von den Einzelbäumen ab und bevölkern als eigenständige Wesen den Wald. Sie sind zu Waldgeistern geworden, deren Präsenz sinnfällig wird, sobald man den Wald nur betritt.192 Man darf annehmen, dass diese Vorstellungen im Volksglauben auch nach der Christianisierung noch lange einen festen Platz behielten. So erklärt sich auch das Interesse der Kirche an der Rückdrängung des Waldes193, der von einem so reichhaltigen und suspekten Fundus mythischer und halbmythischer Waldwesen bewohnt war, dass eine auch nur annähernd komplette Aufzählung den Rahmen sprengen würde.194 Immerhin lassen sich verschiedene Gruppen ausmachen. Tiere, Tiermenschen, „Waldleute“ und schließlich ganz und gar übernatürliche Wesen, nicht zuletzt der Teufel.195 Die Beharrlichkeit dieser Vorstellungen war immens, und noch im 17. und 18. Jahrhundert war der Wald, obwohl nur noch in Fragmenten vorhanden und schon lange keine terra incognita mehr, von solchen Wesen bevölkert. Es überlebten antike Satyrn, Faune, Elfen und Feen, oft nur ganz oberflächlich transformiert, vielfach in eine 190 DONALD WARD, „Baum“, in: Enzyklopädie des Märchens 1977 ff., Bd. 1, Sp. 1372 f. 191 WILHELM MANNHARDT, Wald- und Feldkulte. Erster Band: Der Baumkultus der Germanen und ihrer Nachbarstämme. Mythologische Untersuchungen, Berlin 21905 [ND Darmstadt 1963], 70. Die Ergebnisse Mannhardts, mehr aber noch deren sich anschließende Verabsolutierung durch dessen Schüler, wurden bereits durch C. W. VON SYDOW, The Mannhardtian Theories about the Last Sheaf and the Fertility Demons, in : Folklore, 45 (1934), 291–309 einer tiefgreifenden Kritik unterzogen. Denn die animistische Beseelung der Natur, die Mannhardt nachgewiesen zu haben meinte, entspreche nicht dem tatsächlichen Glauben der Landbevölkerung. Nur ein „Stadtgelehrter“, dessen Feldarbeit sich auf das Versenden von Fragekatalogen beschränkte, habe so naiv sein können, die Angaben für tatsächliche Glaubensartikel zu halten: „All these bogy figures that the folk scare children with: the old man of the well who catches them if they go too near the well; and the wolf, witch, etc., are purely fictitious beings that the adults only pretend exist, but do not believe in themselves. They are pedagogical fictions […]“. Ebd., 304. Die einzelnen Elemente des Volksglaubens zielten daher keineswegs darauf ab, eine in sich schlüssige „primitive philosophy“ (ebd., 297) herzustellen, wie Mannhardt von vornherein unterstellt habe. 192 Vgl. MANNHARDT, Wald- und Feldkulte, Bd. 1, 73. 193 Vgl. BECHMANN, Des arbres, 332. 194 Die Kirche bemühte sich um klare Grenzziehungen, denn die Ambivalenz der Antike konnte nicht toleriert werden: „Le catholicisme a cherché à catégoriser fermement les différents mythes hérités des époques précédentes et restés souvent très vivants, dans les campagnes surtout, en classant d’un côté les forces mauvaises et de l’autre, les bonnes.“ Ebd., 339. 195 Vgl. MANTEL, Wald und Forst, 126. Hier finden sich auch weitere Beispiele.
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christliche Schale geschlüpft.196 Auch muss man keineswegs nur auf Märchen und Sagen zurückgreifen, denn der Diskurs greift viel weiter, bis in die wissenschaftlichen Veröffentlichungen hinein.
Rauhes Waldmännlein und Forstteuffel. Deutlich wird in der unmittelbaren Gegenüberstellung, wie stark verschiedene Vermittlungsstränge zusammenflossen: Neueste, oft durch die Reiseliteratur überlieferte Exotika traten in eine schließlich kaum mehr zu entwirrende Wechselwirkung mit folkloristischer Tradition. CONRAD GESNER, Thierbuch, 19. Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek – Niedersächsische Landesbibliothek Hannover, CIM 98 / 103.
Der Forstteuffel, wie er in GESNERS Thierbuch197 dokumentiert war, machte schnell seinen Weg durch die Literatur: In BOAISTUAUS198 Histoires prodigieuses
196 „Die altgriechischen Sagengestalten der Kentauren und Kyklopen, die altrömischen der Silvane sind möglichst genaue Gegenbilder nordeuropäischer Waldgeister.“ MANNHARDT, Wald- und Feldkulte, Bd. 2, 39. Man kann diese Aussage heute natürlich nicht ohne weiteres akzeptieren, vor allem die direkten Linien, die Mannhardt konstruiert, wirken viel zu schematisch. Nichtsdestotrotz kann als sicher gelten, dass der antike „Waldpantheon“ ebensowenig wie die antike Kultur spurlos von der Bildfläche verschwand. 197 CONRAD GESNER, Gesnerus redivivus auctus & emendatus oder Allgemeines Thier-Buch: Das ist: eigentliche und lebendige Abbildung Aller vierfüssigen/ So wohl zahmer als wilder Thieren […], Frankfurt a. M. 1669 [ND Hannover 21980]. Das Thierbuch, erstmals 1563 erschienen, „stellt eine deutsche Zusammenfassung des ersten und zweiten Bandes der ‚Historia animalium‘ dar, d.h. es beschreibt alle vierfüßigen Tiere.“ (ÄNNE BÄUMER, Geschichte der Biologie. Bd. 2: Zoologie der Renaissance – Renaissance der Zoologie, Frankfurt a. M. u. a. 1991, 65.) Während die lateinisch gehaltene Historia animalium auf den Gelehrten zugeschnitten war und eine Kompilation des gesamten Wissens im Stil der Naturalis historia Plinius d. Ä. anpeilte, war das auf deutsch verfasste Thierbuch für den interessierten Laien gedacht.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
heißt es, es handele sich um ein „monstre ayant figure humaine, qui fut prins l’an mil cinq cens trente & un, en la forest de Havelsberg.“199 Es – oder er? – wird gefangen und lernt schließlich sogar zu sprechen. Den Wald dachten sich also gerade die gebildeten Zeitgenossen als bevölkert mit Wesen, die andernorts schon längst nicht mehr anzutreffen waren. So bekräftigt ZEDLER, zunächst immerhin historische Distanz wahrend, „daß vor alten Zeiten in solchen Wildnissen wohl vormals solche satyrische Geister und teufelische Gespenster gewohnt haben müssen.“200 Schon bald aber relativiert sich auch dieser Abstand, denn mit Verweis auf Prätorius und Zeiler werden für 1240 im Harz „zween Satyre oder wilde Menschen mit langen Schwänzen“ 201 ausgemacht, und wer denkt, dass hiermit die Toleranzschwelle des aufgeklärten Denkers erreicht ist, sieht sich getäuscht: Eben dieser Schriftsteller meldet, daß daselbst 1597 auf dem Hartze, unter dem Klettenberge, ein starcker Lindwurm von gelb und grüner Farbe, unten am Bauche Füsse habend, eines Mannes dick, über die achtzehn Schuhe lang, gewesen, und habe einen Kopf wie eine Katze gehabt. Desgleichen soll auch in der Grafschafft Hohenstein von zweyen Holtzhauern ein Lindwurm, Mannsdicke, von zwölf Schuhen lang, und einen Wolfskopf habend, todt geschlagen worden seyn. In der Schweitz zu Solothurn um Jacobi 1654 gieng ein Amtmann, nebst einem Jäger dem Wilde nachzuspühren, und trafen in einer Berghöhle einen Drachen an, der einen Schlangen=Kopf, Hals und Schwantz, auch vier Füsse eines Schuhe hoch gehabt, und war allenthalben mit grau, gelb und weißlicht gefleckten Schuppen gesprengelt gewesen […].202
Aus all diesen Begebenheiten zieht Zedler nicht etwa den Schluss, an der Beobachtungsgabe seiner Zeugen könne etwas nicht stimmen. Vielmehr summiert er, es sei „unstreitig abzunehmen, daß […] es würckliche Satyren oder wilde Männer, desgleichen Drachen, Lindwürmer, grosse Schlangen, und anderes Ungeziefer mag gegeben haben […].“203 Wenn man sich also fragte, wie Kinder alleine im Wald überlebt haben sollten, scheinen zwei Antworten nahe gelegen zu haben, die sich trotz ihrer augenscheinlichen Differenz in der Praxis ergänzt haben werden. Einerseits konnte ein solches Überleben glaubhaft erscheinen, weil der Wald weit stärker als heute als Nahrungsmittellieferant, als Nährwald rezipiert wurde. Nahm man an, dass das Kind über gewisse Grundinstinkte verfügte, musste es sich hier ebenso gut ernähren können wie die Haustiere. Zum anderen bot der Wald einen weiten Projektionsraum für so erstaunliche Vorstellungen, dass Wilde Kinder und deren Aufzucht durch wilde Tiere als allenfalls mäßig exotisches Phänomen durchgehen. 198 PIERRE BOAISTUAU, Histoires prodigieuses les plus mémorables qui ayent este observées, depuis la Nativité de Jesus Christ, jusques à nostre siecle: Extraictes de plusieurs fameux autheurs, Grecs, & Latins, sacres & prophanes, Paris 1560 [ND Paris; Genève 1996]. 199 BOAISTUAU, Histoires prodigieuses, 251. 200 „Wald“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 52, Sp. 1159. 201 Ebd. 202 Ebd. Die Existenz von Drachen wurde noch bis weit in die Neuzeit auch von den gebildeten Schichten als gegeben angenommen; vgl. ULRICH MAGIN, Trolle, Yetis, Tatzelwürmer. Rätselhafte Erscheinungen in Mitteleuropa, München 1993. 203 „Wald“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 52, Sp. 1160.
2.3. Zieheltern: Reißende Bestien, sorgende Mütter
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Vielen galten die Kinder wohl nur als eine Art Sonderform des Wilden Mannes. Bevor über diesen zu reden sein wird, sollen jedoch zwei Grenzgänger zwischen Realität und Imagination ins Auge gefasst werden: Bär und Wolf. Von Zedler in der Liste der Wesen geführt, die dem Menschen „gräuliches Schrecken“ verursachten, wurde (und wird) doch immer wieder behauptet, sie hätten die Rolle von Zieheltern übernommen – auch dies ein Mittel, um zu einer Rationalisierung ansonsten schwer erklärbarer Ereignisse zu gelangen. 2.3. ZIEHELTERN: REISSENDE BESTIEN, SORGENDE MÜTTER 2.3. ZIEHELTERN: REIßENDE BESTIEN, SORGENDE MÜTTER
Mochte der Wald auch als Nährraum gesehen werden und Erwachsene oder Jugendliche unterhalten können: Sollte ein Kleinkind, vielleicht sogar ein Säugling hier längere Zeit alleine überlebt haben, kam nur göttliche Intervention als Erklärung in Frage. Vielleicht aber waren die Kinder ja gar nicht auf sich gestellt gewesen, vielleicht waren an die Stelle der überforderten oder verrohten Menschen, von denen die Kinder ausgesetzt worden waren, liebende Eltern in Tiergestalt getreten. Die zunächst am naheliegendsten erscheinende Möglichkeit, nämlich dass in den Wald getriebenes Nutzvieh die Aufgabe übernommen hatte – Ziegenmilch stellte ja beispielsweise einen gängigen Muttermilchersatz dar – findet sich in den Quellen jedoch kaum.204 Nahm man tatsächlich einen langjährigen Aufenthalt im Wald an, musste diese Variante allerdings zwangsläufig ausscheiden: Die Kinder wären binnen weniger Wochen, höchstens Monate, in Kontakt mit Bauern geraten. Stattdessen sind es meist Wolf und Bär, die uns in den Quellen gegenübertreten. Heimisch oder gar verbreitet waren sie in weiten Teilen Europas im 18. Jahrhundert bereits lange nicht mehr – aber gerade deswegen boten auch sie jenen notwendigen Projektionsraum, der für die Begleiter der Wilden Kinder notwendig zu sein scheint. 2.3.1. Der Wolf Einen ganz besonderen Status unter den Tieren des Waldes nahm der Wolf ein – vielleicht deshalb, weil er vielerorts das letzte noch verbliebene Raubtier war, das dem Menschen und dessen Vieh gefährlich werden konnte. Die Bekämpfung des Wolfes durch den Menschen wurde daher schon in vorgeschichtlicher Zeit begonnen, ohne dass jedoch der Mensch einen entscheidenden Schlag gegen das intelligente und scheue Tier hätte führen können. Erst mit dem Heraufdämmern der Neuzeit, vor allem mit der Entwicklung immer zielgenauerer Schusswaffen, entstanden effiziente Möglichkeiten zur Wolfsbekämpfung. In England wurden um 1500 ganze Wälder in Brand gesteckt, um den Nahrungskonkurrenten zu vertreiben. Die Bemühungen waren auf den Britischen Inseln schließlich von Erfolg gekrönt: In Schottland wurde 1680, in Irland 1770 der letzte Wolf erlegt. In weiten 204 Tulps Irischer Schafsjunge bildet eine Ausnahme; aber auch hier sind es „wilde Schafe“, die ihn ernähren.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
Teilen Mitteleuropas blieb der Wolf noch bis 1800 heimisch; dann jedoch setzten auch hier entschlossene Bemühungen ein, sich gegen ihn nicht nur zu wehren, sondern ihn in einen regelrechten „Vernichtungskrieg“205 zu verwickeln. Bald zeigten sich „Erfolge“, auch wenn noch für das ganze 19., und sogar den Beginn des 20. Jahrhunderts aus einigen Gegenden Frankreichs Meldungen über Wolfssichtungen vorliegen.206 Der Wolf ist vielleicht ist das langlebigste Symbol einer Zeit, in der das Kräftemessen zwischen Mensch und ungezähmter Natur noch nicht entschieden war. Nicht nur im Märchen, sondern in fast allen Quellen präsentiert sich der Wolf als ein Grenzwesen, das kaum je realistisch eingeschätzt wurde.207 Scheinbar mühelos pendelte er, halb Tier, halb Gespenst, zwischen der zauberischen Umgebung des tiefen Waldes und dem Kulturland des Menschen hin und her. Wie eine Emanation des die Wälder umgebenden und auf den Feldern liegenden grauen Nebels mag er auf die Menschen gewirkt haben – zumindest auf die, die je einen zu Gesicht bekamen, denn der Wolf ist ein äußerst scheues Tier, das den Menschen, wo es nur geht, meidet.208 So wird ihn auch der Bauer der Frühen Neuzeit nur selten 205 DANIEL BERNARD, Wolf und Mensch, Saarbrücken 1983, 24. Eine historische Karte über die Verbreitung von Wölfen in Europa liefert HENRYK OKARMA, Der Wolf. Ökologie – Verhalten – Schutz, Berlin 1997, 3. Deutlich wird hier vor allem, dass England und das nördliche Mitteleuropa bereits vor 1800 frei von Wölfen waren, während sich in den südlicheren Teilen Wölfe z. T. bis in die heutige Zeit halten konnten. 206 In Frankreich werden noch weit bis ins 19. Jahrhundert hinein in größerem Umfang Wölfe zur Strecke gebracht; im strengen Winter von 1879–80 wagten sie sich an einigen Orten sogar bis in Kernbereiche menschlicher Siedlungen vor. Vgl. ebd., 44 ff. 207 Interessanterweise ist sein Charakter im Märchen ein deutlich anderer als in den übrigen Quellen, seien es Enzyklopädien oder Sagen: Während der Wolf im Märchen als eher dumm gilt – eine Eigenschaft, die er durch rohe Kraft und Gewalt wieder wettmachen muss – zeigt er sich in Sage und Sachliteratur anders. Hier ist er durchaus listig und verschlagen, zeigt „une grande vigueur jointe à une grande sagacité“ („loup“, in: DIDEROT & D’ALEMBERT, Encyclopédie, Bd. 9, 700-702; hier 701) oder ist „wegen seines scharfen Gesichts Sinnbild der Klugheit“. „Wolf“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 58, Sp. 496–515; hier 510. In Erzählungen der Lappen werden diese Charaktereigenschaften besonders offenbar: Hier wird ihm „one man’s strength and nine men’s cunning“ zugeschrieben: „[…] to hunt him successfully it was necessary to know all his names in Lapp dialects, and to think of nine different ways of trapping him, using the last in the list.“ H. R. ELLIS DAVIDSON, Shape-changing in Old Norse Sagas, in: CHARLOTTE F. OTTEN (Hrsg.), A Lycanthropy Reader: Werewolves in Western Culture. Medical Cases, Diagnoses, Descriptions, Trial Records, Historical Accounts, Sightings; Philosophical and Theological Approaches to Metamorphosis; Critical Essays on Lycanthropy; Myths and Legends; Allegory, Syracuse 1986, 142–160; hier 153. Tatsächlich war der Wolf offenbar gefürchtet, aufgrund seiner Stärke auch respektiert. Seine Rolle im Märchen erklärt sich wohl am ehesten dadurch, dass es hier weniger um eine realistische Darstellung, sondern um die Herstellung eines archetypischen Charakters ging; so blieb dem Wolf nur die Rolle des dummen Grobians, während die Klugheit und Verschlagenheit, die ihm in anderen Quellen durchaus zugeschrieben wird, auf den Fuchs übertragen wurde. Letzterer galt übrigens lange Zeit als das weibliche Tier der Wolfsgattung. W.-E. PEUCKERT, „Wolf“, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. v. H. BÄCHTOLD-STÄUBLI, Bd. IX, Berlin 1941, Sp. 716–94; hier 726. 208 Selbst ein langjähriger und renommierter Wolfsforscher wie Robert Hainard gibt an, er habe in freier Wildbahn in seinem ganzen Leben nur acht Wölfe gesehen. „Meine letzte Begeg-
2.3. Zieheltern: Reißende Bestien, sorgende Mütter
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zu Gesicht bekommen, oft aber das Heulen der Rudel gehört haben. Die Folgen waren wohl dieselben, die wir auch für den Wald feststellen konnten: Der Wolf wurde zu einem Phantasiegebilde, meist furchteinflößend, immer aber von einer magischen Aura umgeben. Ein von einer realistischen Analyse der Gegebenheiten ausgehendes Verständnis bildete sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der Sicherheit der Großstadt und im Rahmen intellektuell-landferner Kreise.209 In den vielfältigen, oft wechselhaften und merkwürdigen Formen, die Angst und Massenpanik in der Frühen Neuzeit annehmen konnten, zeigte sich der Wolf als ein erstaunlich beständiger Faktor. „Wenn man den vielen Fabeln glauben schenken darf, dann erscholl der Ruf ‚Wölfe! Wölfe!‘ nur allzuoft. Er signalisierte, ob nun zu recht oder zu unrecht, eine große Gefahr oder gab, was weit häufiger der Fall war, das Zeichen zur Panik. Für das kollektive Unterbewußtsein war der Wolf vielleicht der ‚finstere Bote der Unterwelt‘ […]. Dem Bewußtsein stellte er sich als blutrünstiges Tier dar, als Feind der Menschen und Viehherden […].“210 Der Wolf galt als verschlagen, aber nicht so schlau wie der Fuchs. Missliebig machte ihn ohne Zweifel auch seine Jagdmethode: Die vereinten Kräfte der Meute schienen dem Beutetier keine Chance zu lassen.211 Andererseits beeindruckten seine Zähigkeit und Kraft, sein Beharrungsvermögen, das ihm nach oft stundenlanger Hetze die Beute einbrachte. Ob, von Ausnahmefällen abgesehen, jemals Menschen von Wölfen getötet wurden, ist unklar. Jedenfalls stand dessen Gemeingefährlichkeit noch im 19. Jahrhundert völlig außer Frage.212 Man glaubte, dass besonders alte Wölfe, die aufgrund ihrer Gebrechlichkeit nicht mehr imstande waren, Wild zu jagen, zu Menschenfressern würden, „und so er einmal davon genossen, wird er so begierig, daß er kein anders achtet, doch greiffet er lieber etwas verzagtes an, so er sich zu bezwingen trauet, als einen beherzten Mann.“213 Und auch GESNER, der in seinem Tierbuch doch für fast alle Tierarten eine bestimmte Art des Nutzens ausmacht, muss feststellen: Wiewohl der Wolff nit umsonst/ und nit ohne gar keine Nutzbarkeit gefangen und getödtet wird/ so ist doch der Schad/ den er bey seinem Leben Menschen und Vieh anthut/ viel
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nung in Nordwestspanien, eine halbe Minute im Mondschein, kostete mich sechs Wochen Wartezeit.“ Zit. bei BERNARD, Wolf und Mensch, 15. Geradezu an moderne ökologische Prinzipien gemahnt die Encyclopédie („loup“, in: DIDEROT & D’ALEMBERT, Enyclopédie, Bd. 9, 701): „Nous l’appelons cruel, parce que ses besoins sont souvent en concurrence avec les nôtres. Il attaque les troupeaux que l’homme reserve pour sa nourriture, & les bêtes fauves qu’il destine à ses plaisirs.“ JEAN DELUMEAU, Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 1985, 92. Or. u. d. T. La peur en Occident (XIVe– XVIIIesiècles). Une cité assiegée, Paris 1978. Ohne Frage hielt der Wolf dem Menschen, was die Jagdmethode angeht, hier einen Spiegel vor. OKARMA, Der Wolf, 130 zitiert – nach seiner Ansicht zweifelhafte – Berichte vom Ende des 19. Jahrhunderts, nach denen „Wölfe in den Jahren 1870–1887 in 49 Gouvernements des europäischen Teils von Russland angeblich 1445 Menschen zu Tode gebissen“ hätten. „Wolf“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 58, Sp. 498.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen grösser/ weßwegenn jm/ so bald man ihn spühret/ ohne Verzug/ von männiglichen nachgestellt wird/ biß er entweder mit gewissen Instrumenten/ oder Gruben/ Gifft und Aas/ oder mit Wolfsfallen/ Angeln/ Stricken/ Garnen und Hunden/ Geschoß und dergleichen gefangen und getödtet werde.214
Erst in unserer Zeit sind Zweifel aufgekommen, ob gesunde – das heißt vor allem nicht-tollwütige – Tiere den Menschen angehen oder nicht. Dieser Zweifel hält sich hartnäckig, womit die Frage aufkommt, was von den vielfältigen Überlieferungen solcher Angriffe von der Antike bis zum 19. Jahrhundert zu halten sein soll. 215 Überhaupt ist der von den Wölfen angeblich angerichtete Schaden im Einzelfall kritisch zu überprüfen. Für das Amt Hütten existiert für die Zeit um 1680 eine Aufstellung darüber, wieviel Vieh durch reißende Wölfe angeblich verloren ging. Hier sollen in wenigen Jahren nicht weniger als 1275 Pferde und 255 Rinder ge-
214 CONRAD GESNER, Thier-Buch, 351. 215 Es gibt eine ganze Reihe von Befürwortern der Ansicht, dass der Wolf Menschen angreift: M. P. PAVLOV (Wilk, Moskva 1990; zit. n. OKARMA, Der Wolf, 130) berichtet von Angriffen gesunder Tiere um Kirow in den 1940er und 1950er Jahren. WILLIAM MOY STRATTON RUSSELL & CLAIRE RUSSELL, The Social Biology of Werewolves, in: JOSHUA ROY PORTER & W. M. S. RUSSELL (Hg.), Animals in Folklore, Ipswich u. a. 1978, 143–182 stellen gar fest: „In Europe and northern Asia, by far the most dangerous animal to man and his livestock has been the wolf.“ Ebd.. 157. Der Werwolfsglaube hänge direkt mit der Häufigkeit der tatsächlich lokal vorhandenen Wölfe und dem durch sie verursachten Schaden zusammen; ebd., 160 f. Die Wahrnehmung des Wolfes als Tollwutüberträger habe ein Übriges getan, denn die Übertragbarkeit der Krankheit auf den Menschen „produced a sinister linkage between the two species.“ Ebd., 164. OKARMA, Der Wolf, 130 f. und BERNARD, Wolf und Mensch, 32 ff. vertreten einmütig die gegenteilige Meinung: Zwar möge es während der Frühen Neuzeit weitaus häufiger zu Begegnungen zwischen Mensch und Wolf gekommen sein, möglicherweise sei der einsame Wanderer auch verfolgt worden, „aber angefallen oder gebissen wurde er nur selten.“ BERNARD, Wolf und Mensch, 33. Kam es wirklich zu solchen Angriffen, war die Ursache mit großer Wahrscheinlichkeit die Tollwut. Ebd., 33 f. Die eingenommene Position scheint mir dabei vor allem davon abzuhängen, wie die ökologische Rolle des Wolfes und damit sein, sozusagen intrinsischer, Wert eingeschätzt werden. Es ist kaum ein Zufall, dass RUSSELL & RUSSELL, Social Biology, 178, Schutzprogramme für den Wolf für einen Fehler halten: „To propose conserving them in the wild is therefore analogous to suggesting the conservation of desert locusts or malarial mosquitoes […].“ Der Wolf sei immer noch ein Totemtier und genieße nur deshalb einen besonderen – und eigentlich ungerechtfertigten – Status. „The conservation of a pest species is […] intelligible in totemic terms, though obviously not in terms of rational ecology.“ Ebd., 179. Es ist fraglich, ob sich dieses Problem je lösen lassen wird. Für den Nicht-Fachmann mag es daher klug sein, zu Arbeitszwecken eine vermittelnde Position anzunehmen, wie sie ERIK ZIMEN, Der Wolf. Verhalten, Ökologie und Mythos, München 1997, ausgewiesener Experte für die Ethologie des Wolfes – natürlich auch wieder des heutigen –, skizziert. Unter bestimmten Voraussetzungen scheint es ihm möglich, „daß Wölfe in seltenen Fällen tatsächlich lebende Menschen angegriffen haben.“ Begünstigend gewirkt hätten seiner Ansicht nach nicht sofort oder sicher genug vergrabene Leichen (besonders in Kriegszeiten), langes Ausbleiben der Wolfsjagd (aus ähnlichen Gründen), schutzloses Zurücklassen der Frauen, Alten und Kinder sowie der Entzug anderer Nahrungsquellen des Wolfes. Ebd., 411 f.
2.3. Zieheltern: Reißende Bestien, sorgende Mütter
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rissen worden sein.216 Aus benachbarten Regionen existieren auch Nachrichten über Angriffe auf Menschen, besonders Kinder und Frauen. Da bereits wenige Jahre später die Wölfe ausgerottet waren, stellt sich die Frage, ob es um die Gefährdung tatsächlich so schlimm bestellt war. Hier fällt nun auf, dass die Berichte über die angebliche Anzahl der gerissenen Tiere auffällig häufig in Zusammenhang mit Bitten um Steuerbefreiung eingereicht wurden. Die Bauern sahen hier also offenbar eine gute Möglichkeit, die Abgabenlast zu verringern; es liegt nahe, anzunehmen, dass zur Untermalung einer lebensbedrohlich schlechten wirtschaftlichen Lage die Zahlen des verlorenen Viehs nicht gerade untertrieben wurden. Glaubhaft konnten solche Angaben aber nur sein, wenn dem Nachbarn dasselbe widerfuhr, womit ein Multiplikatoreffekt einsetzte. Andererseits kamen die Nachrichten von marodierenden Wolfsrudeln auch der Obrigkeit gelegen: Schien es nicht einleuchtend, dass man gegen diese Bedrohung etwas unternehmen musste? Waren nicht Treibjagden in großem Umfang ein probates Mittel? Und kosteten solche Jagden nicht viel Geld? Die Landesherren sahen hier einen weiteren Vorwand, ihrerseits Macht- und Steueransprüche gegenüber den Untertanen zu begründen und auszuweiten.217 Die Furcht vor dem Wolf kann aber durch diese wenig spektakuläre Realität durchaus weitgehend unangetastet geblieben sein, denn kein anderes Tier zeigte sich so symbolbehaftet wie Isegrimm. „Wenn man einem Wolf begegnet, so ist dies immer ein Vorzeichen. Ob er etwas Gutes oder Schlechtes zu bedeuten hat, ist je nach Gegend verschieden.“218 Wollte man sich gegen Wölfe schützen, konnte man auf verschiedenste magische Mittel zurückgreifen. Manchmal wurden ein Zahn, eine Wolfspfote oder ein Rosenkranz über der Stalltür angebracht, manchmal der erlegte Wolf rituell gehängt, manchmal wurde ihm aber auch auf eine geradezu götzendienerische Art geopfert.219 In Sprichwörtern und abergläubischen Vorstellungen spielte der Wolf eine so prominente Rolle, dass selbst gemäßigte Aufklärer, die von seiner Gefährlichkeit im Prinzip überzeugt waren, ihren Spott nicht verhehlen konnten: Die alten Weiber haben von dem Wolfe folgenden Aberglauben, welcher auch noch in unsern Tagen unter uns bleibet. Laufft ein Wolf, sagen sie, mit vollem Rachen zur rechten Hand vorbey, so soll es Glück bedeuten, welches wir auch so weit wollen billigen, weil es besser, daß er vorbey läufft, als daß er den Menschen anfalle und fresse.220
216 MARTIN RHEINHEIMER, Die Angst vor dem Wolf. Werwolfglaube, Wolfssagen und Ausrottung der Wölfe in Schleswig-Holstein, in: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung, 36 (1995), 25–78; hier 46. 217 VGL. RHEINHEIMER, Angst vor dem Wolf, 49. 218 BERNARD, Wolf und Mensch, 94. 219 Ebd., 95 f. So musste am mardi gras „der jüngste Sohn nach dem Essen auf das Dach des Hauses steigen, ein Stück der wertvollen Schweineschulter weit wegwerfen und dabei folgenden Spruch sagen: ‚He, Wolf, da, nimm, Wolf! Hier ist deine Schweineschulter, bis Ostern bekommst du keine mehr. Weizen, Gerste und Hafer sollen soviel Frucht ansetzen, wie mein Bauch voll ist. Da, Wolf, hier hast du dein Schulterstück!‘ Woanders warf man ein Stück Fleisch in die Richtung, wo der Wald lag.“ 220 „Wolf“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 58, Sp. 510.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
Die Volksmythologie konnte den Charakter des Wolfes durchaus ambivalent sehen; hiervon zeugt die Vielzahl von Familienwappen, die einen Wolf zeigt. Eine ganze Reihe von Adelsgeschlechtern führte ihre Abstammung auf einen Wolf zurück, und in der Medizin blieb er begehrtes Ausgangsprodukt für eine ganze Reihe von Mitteln, die gegen Schlaflosigkeit, Augenkrankheiten, Fallsucht, Schwindsucht, Koliken oder Seitenstechen helfen sollten.221 Im Großen und Ganzen blieb der Wolf aber ein eher negativ konnotiertes Wesen, um das man im Zweifelsfall lieber einen Bogen machte. Inwiefern hier noch der Nachhall einer germanischnordischen Mythologie zu vernehmen ist, wie WILHELM GRIMM222 feststellen zu können meinte, ist fraglich. Jedenfalls zeigten für Grimm die von ihm herangezogenen Quellen die „wilde Natur des Wolfs, die ihm angeborene Bosheit und Blutgier […]. Der Wolf muss als der Feind der Menschen und Thiere betrachtet werden.“223 Als „Totendämon“224 symbolisierte er Urängste der Menschen, und die Penetranz und Unermüdlichkeit, mit welcher der Mensch ihm bis zur Ausrottung nachstellte, wurzelte vielleicht tatsächlich weniger in der realen Gefahr, die er bedeutete, als im Windmühlenkampf des Menschen mit dem Tod. Der Wolf bot eine Möglichkeit der Verarbeitung dieses Menschheitstraumas, indem man wenigstens kurze Siege über ihn feiern konnte; dabei wurde er gleichzeitig zum Prügelknaben. Von unmittelbarerer Bedeutung als die altnordischen Sagas, deren Einfluss sich nur schwer positiv nachweisen lässt, war sicherlich die Darstellung des Wolfes in der Bibel, vor allem im Neuen Testament. Denn hier wurde in einer Symbolik, die Kunst und Kunsthandwerk des Mittelalters tausendfach kopierten, dem Wolf ein ganz klarer Platz zugewiesen. Das Bild vom Schäfer, seiner Herde und dem alles bedrohenden Wolf erlaubte keinen Zweifel: Er war ein Sinnbild des Teufels, das die Christen sogar bis ins Jenseits verfolgte225; als eine der besonderen Spezialitäten der Hölle vermutete man das Zerfetzen durch wilde Wölfe.226 So trat Isegrimm als Symbol des Leibhaftigen neben Ziegenbock, Schlange, Affe und Katze. Auch eine tragende Rolle bei den Hexensabbaten wurde ihm zugeschrieben, und das Bild der auf einem Wolf reitenden Hexe fand weite Verbreitung. Aus 221 Die aus dem Wolf hergestellten Mittel sind für ebd., Sp. 508 f., der einzige „Nutzen des Wolfes“, der ansonsten unter „den bekanntesten Raub=Thieren […] sonder Zweiffel das schädlichste und arglistigste zu nennen“ ist. Ebd., Sp. 497. 222 WILHELM GRIMM, Die mythische Bedeutung des Wolfes, in: Kleinere Schriften, hg. v. Gustav Hinrichs, Bd. 4, Gütersloh 1887 [ND Aalen 1992], 403–427. Insbesondere ist völlig unklar, ob der germanische Fenrir oder Fenris, der am Ende der Tage die Welt verschlingen und die Götterdämmerung einleiten wird, noch im Bewusstsein der Bevölkerung verankert war. 223 GRIMM, Bedeutung des Wolfes, 403. 224 RHEINHEIMER, Angst vor dem Wolf, 28 mutmaßt: „Die Verbindung der Wölfe mit dem Tod kommt nicht zuletzt daher, daß sie auf den Schlachtfeldern die Gefallenen fraßen.“ Der Wolf zeigte also eine regelrecht ghoulische Seite. 225 Vgl. GAËL MILIN, Les chiens de dieu. La représentation du loup-garou en Occident (XIe–XXe siècles), Brest 1993, 39. Das Zitat diabolus, vorax lupus wird auf den Hl. Eusebius zurückgeführt. 226 G. DE DIGULLEVILLE, Le pèlegrinage de l’âme, éd. J.J. Sturzinger, Londres 1895; zit. nach MILIN, Chiens de dieu, 42.
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klerikalen Kreisen sickerte so eine ablehnende Haltung, die sich nicht so sehr aus der praktischen Schädlichkeit, sondern aus der Rückübertragung eines allegorischen Konstrukts speiste, ins Alltagsleben ein. Im säkularen Umfeld konnte sich die negative Bewertung des Wolfes in den unterschiedlichsten Kontexten zeigen. Beispielsweise wurden den Lebensaltern des Menschen Symboltiere zugeordnet. Dem Knaben das springende Böckchen, das Kalb dem unreifen Jüngling, Stier oder Ochse dem kraftvollen Dreißigjährigen, der Löwe, König der Tiere, dem Vierzigjährigen. Nun nahm die Kraft ab, man bediente sich seiner überlegenen Erfahrung und wurde so zum Fuchs. „Ab sechzig ließ man das Alter beginnen. Physisch, psychisch und geistig ging es jetzt bergab. Der stets brummige Wolf Isegrimm mit seiner Gier und Gefräßigkeit charakterisierte den Sechzigjährigen.“227 Der Wolf war ein Ausgestoßener und symbolisierte als solcher die Angst des Menschen, selber aus der überlebenswichtigen Gesellschaft herauszufallen. Und tatsächlich war das Element der Asozialität eines der Merkmale, die auf den Menschen übertragen wurden. Das Altnordische und Isländische varg bedeutete so nicht nur Wolf, sondern bezeichnete auch den „verruchten, gottlosen Menschen“228; in diesem Sinn fand das Wort schließlich auch seinen Weg in die deutsche Sprache.229 Überstiegen die Untaten eines Mitgliedes der Gesellschaft das gewöhnliche Maß, meinte man in seinem Wesen etwas „Wölfisches“ festmachen zu können. Jemanden als „Wolf“ oder als „Werwolf“ zu bezeichnen hieß zugleich, ihn aus der Gesellschaft zu verstoßen; kein Wunder, dass die Betroffenen alle nur erdenklichen Schritte unternahmen, diesen Makel wieder loszuwerden. Es kommt nicht von ungefähr, dass einer der größten Gesellschaftstheoretiker der Zeit, THOMAS HOBBES, ebenfalls zum Bild des Wolfes Zuflucht nahm, um eine Facette des Menschen zu beschreiben: To speak impartially, both sayings are very true: that man to man is a kind of God; and that man to man is an arrant wolf [homo homini lupus]. The first is true if we compare citizens [concives] among themselves; and the second, if we compare cities [civitates]. In the one, there is some analogy of similitude with the Deity […]. But in the other, good men must defend themselves by taking to them for a sanctuary the two daughters of war, deceit and violence: that is, in plain terms, a mere brutal rapacity [ferinam rapacitatem].230
227 MÜNCH, Lebensformen, 143. 228 GRIMM, Bedeutung des Wolfes, 402. 229 Ebd., 402 führt weiterhin „Räuber, Mörder, Würger, geächteter Verbrecher, Verbannter, Unhold, böser Geist“ an. 230 THOMAS HOBBES, Man and Citizen. Thomas Hobbes’s De homine, translated by CHARLES T. WOOD et al., and De Cive [1642], translated by Thomas Hobbes, Garden City (N. Y.) 1972, 89 f. Die bezeichnete Stelle findet sich im Geleitbrief; die im Zitat zur Klarheit ergänzten lateinischen Passagen bei THOMAS HOBBES, Elementorum philosophiae. Sectio tertia: De cive [1642], in: THOMAS HOBBES MALMESBURIENSIS, Opera philosophica, Vol. II, London 1839 [ND Aalen 21966], 135 f. Hobbes ist allerdings nicht Urheber dieser Wendung, sondern greift wohl zurück auf PLAUTUS Asinaria, 495 (in: Plautus. With an English translation by Paul Nixon, Bd. 1: The Comedy of Asses. Asinaria, London; Cambridge 1966): „Lupus est homo homini, non homo, quom qualis sit non novit.“
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
Wie sehr beim Wolf noch Mitte der 1760er Jahre Realität und Mythos verschmelzen konnten, zeigt paradigmatisch die zum Monster stilisierte Bestie von Gévaudan231, der angeblich mehr als 100 Menschen zum Opfer fielen.232 Ob nun tatsächlich Wölfe die Schuldigen waren oder nicht, wird wohl nicht mehr zu klären sein. Bemerkenswert ist aber, wie schnell und gründlich die Vorkommnisse ausgeschlachtet wurden. Flugblätter schilderten die Gräueltaten in den schillerndsten Farben, und je abscheulicher die Details waren, desto sicherer fanden sie Aufnahme in den die Schnitte begleitenden Text. Die Bestie wurde – und das ist selten genug – zum Gesprächsthema aller Schichten, zu einem Fleisch gewordenen Alptraum. Und bei allen phantasievollen Ausschmückungen, welche die Beschreibungen des Tieres durchziehen: Die Folie für ein solches Ungeheuer konnte nur der Wolf – nachgerade ein Untier – bilden. Hier reichten weder Heere von Dragonern noch einfache Kugeln, um es zu töten. Erst die Zauberkraft des geweihten Gewehres und aus Marienmedaillen gegossene Kugeln brachten dies zuwege. Ganz unmerklich gleitet hier eine reale Bedrohung hinüber in das Reich des Unwirklich-Mythischen.233 Im Endeffekt rekurriert die Panik, die solche Ereignisse auslösten234, also auf ein noch älteres und schrecklicheres Schema, das die Schwelle zum Aberglauben endgültig überschritt: das des Werwolfes oder loup-garou.235 Zwar wird die En231 Vgl. EMMANUEL LE ROY LADURIE, L’âge classique des paysans, Paris 1975, 544; entspr. GEORGES DUBY (Hrsg.), Histoire de la France rurale, Bd. 2, Paris 1975 f. 232 Vgl. RAYMOND FRANCIS DUBOIS, Vie et mort de la bête de Gévaudan, Modave 31990; Commentaires 1988–89, Modave 21989, eine Arbeit von imposanten Umfang, die wohl nahezu alle zum Thema verfügbaren Quellen erfasst. Opferlisten mit genauen statistischen Auswertungen in DUBOIS, Vie et mort, 367 ff. Als Maximalzahl nennt Dubois 164 Opfer; allerdings seien hier aller Wahrscheinlichkeit nach auch andere Verbrechen erfasst, die der Bestie in die Schuhe geschoben wurden; ebd., o. P. (letzte Seite). 233 Ganz ähnlich LE ROY LADURIE, L’âge classique, 545: „Martyre des mass media du XVIIIe siècle, célébrée par l’estampe et par le livret, par les racontars de la Cour et par les veillées de la chaumière, la Beste fait passer le fait divers apocalyptique et la peur du loup-garou, qui forment depuis toujours le fond d’une culture paysanne, primitive et localisée, jusqu’au niveau tout à fait inédit d’un frisson national et même royale.“ 234 Die „Bestie von Gévaudan“ war keineswegs ein Einzelfall, noch über das ganze 19. Jahrhundert ziehen sich ähnliche Vorfälle aus allen möglichen Provinzen Frankreichs; vgl. BERNARD, Wolf und Mensch, 40 ff. 235 Zu beachten sind leichte Bedeutungsunterschiede zwischen der französischen und der deutschen Form: Während im Deutschen der Werwolf stets eine Figur der Dämonologie bleibt, kann der Begriff loup-garou im Französischen auch einen durchaus realen, aber menschenfressenden Wolf meinen: „Les loups qui se sont accoûtumés à manger de la chair en suivant des armées, attaquent les hommes par préference: on les appelle loups-garoux, c’est à dire loup dont il se faut garder.“ „Loup“, in: DIDEROT & D’ALEMBERT, Encyclopédie, Bd. 9, 700. Es ist schwierig, diesem Thema auch nur ansatzweise gerecht zu werden, jede globalisierende Darstellung bewegt sich auf einem schmalen Grad zwischen Ahistorizität und nichtssagender Detailhäufung. Wie RUDOLF SCHENDA, Ein Benandante, Wolf oder Wer?, in: Zeitschrift für Volkskunde, 82 (1986), 200–202, hier 200 bemerkt: „Aus gutem Grund fehlt im Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens der Artikel WW [Werwolf; H. B.]: Ein solcher Wust differenzierter Vorstellungen ist nicht leicht zu ordnen und zu beurteilen.“ Von diesem methodischen Problem abgesehen ist das Thema jedoch mittlerweile gut erschlossen. Mit einigen
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cyclopédie schließlich zu einem Lobpreis der angebrochenen siècles éclairés ansetzen, in denen der Glauben an solcherlei Aberglauben endlich abgelegt sei und Menschen wie Gilles Garnier nicht mehr auf dem Scheiterhaufen schmoren müssten.236 Aber diese Äußerung verstellt den Blick darauf, dass sich noch Zedlers Universallexikon der Sache keineswegs so sicher war und stattdessen Erklärungen produzierte, die zwar eine Realtransformation ausschlossen, aber aus heutiger Sicht kaum weniger irrational erscheinen.237 Erst später, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, wird das Problem sauber gelöst, indem man die Phänomene medikalisiert – ein Muster, das sich bei den Wilden Kinder wiederholen wird. Aus Werwölfen wurden nun Lycanthropen, die beiden an sich synonymen Begriffe begannen, spezifische Bedeutungsebenen auszuformen: Ersterer blieb der nun als abergläubisch denunzierten traditionellen Vorstellung verhaftet, während letzterer ein Krankheitsbild, in dem zunächst Tollwut und humoralpathologische Fehlstellungen verschwammen, beschrieb.238 Vorbehalten immer noch lesenswert und vor allem als Quellensammlung von Bedeutung: WILHELM HERTZ, Der Werwolf. Ein Beitrag zur Sagengeschichte, Stuttgart 1862; gleiches gilt für SABINE BARING-GOULD, The Book of the Were-Wolf. Being an Account of a Terrible Superstition, New York 1865 [ND 1978]. Ein riesiges Kompendium trug MONTAGUE SUMMERS in The Werewolf [1933], New York 1966 zusammen – nur muss sich der Leser im Klaren sein, dass es Summers’ erklärtes Ziel war, die Existenz dieser Wesen zu beweisen. Von einem kritischen Standpunkt aus gesehen weitaus wertvoller sind daher die teils akribische genauen und theoretisch reflektierten Studien von ADAM DOUGLAS (The Beast Within, London 1992) und MILLIN, Les chiens de dieu. Einen weiten Fundus antiker, mittelalterlicher und neuzeitlicher Quellen, vor allem aber auch Fallbeispiele aus der modernen Psychologie bietet OTTEN, A Lycanthropy Reader. 236 „Il faut quelquefois rappeller ces sortes de traites [Bezug genommen wird hier auf die Hinrichtung des angeblichen Werwolfes Gilles Garnier 1574 in Dôle; H. B.] aux hommes pour leur faire sentir les avantages des siècles éclairés. Nous devrions à jamais les bénir ces siècles éclairés, quand ils ne nous procureroient d’autres biens que de nous guérir de l’existence des loups-garou, des esprits, des lamies […], & autres phantômes nocturnes si propres à troubler notre ame, à l’inquiéter, à l’accabler de craintes & de frayeurs.“ „Loup-garou“, in: DIDEROT & D’ALEMBERT, Enyclopédie, Bd. 9, 703. 237 Nämlich durch teuflische Verblendung von Menschen oder sogar direkten Einfluss des Satans auf Wölfe; vgl. „Wolf (Weer-)“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 58, Sp. 785–90. 238 Besonders deutlich wird dies bei ZEDLER („Lycanthropia“, „Lycanthropus“, in: UniversalLexicon, Bd. 18, Sp. 1417 sowie „Wolf (Weer=)“, Bd. 58, , Sp. 785–790) und in der Encyclopédie („Lyconthrope, ou oup-garou“, in: DIDEROT & D’ALEMBERT, Encyclopédie, Bd. 9, 771 f. und „Lycanthropie“, 772 sowie „loup-garou“, 703). Zedler („Lycanthropia“, Bd. 18, Sp. 1417) vermerkt: „Lycanthropia soll der Zufall seyn, durch welchen einige Menschen in Werwölfe verwandelt worden zu seyn, vorgeben.“ Angeführt werden dann einige Fälle von Werwölfen. Direkt unterhalb findet sich ein weiterer Eintrag: „Lycanthropia, Cynanthropia heisset die Unsinnigkeit vom tollen Wolffs=Biß, und ist eine Art der Raserey, welche mit der Hydrophobia einerley Ursachen und Cur hat […].“ Lycanthropia und Cynanthropia, noch im Altertum klar getrennt, fließen hier zusammen, wobei der ursprüngliche Sinngehalt von Cynanthropia überdauert; vgl. WILHELM KROLL, Etwas vom Werwolf, in : Wiener Studien 55 (1937), 168–172; hier 169: „Mit dem Werwolfglauben hat das [die Cynanthropia; H. B.] kaum etwas zu tun; es handelte sich um Menschen, die sich wie Hunde gebärdeten, und man könnte sich denken, dass Tollwuterscheinungen mit im Spiel gewesen sind.“ Auch die Encyclopédie (Bd. 9, „Lycanthrope, ou loup-garou“, 771) unterscheidet zwischen zwei Einträgen:
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War der Wolf also eines der meistgehassten Tiere, galt er als unersättlicher Räuber, der mehr Vieh tötete, als er zu fressen imstande war, als verschlagen und feige239, partizipierte er doch auch an jenem theriophilen Diskurs, der als Unterströmung der abendländischen Geistesgeschichte durch die Jahrhunderte wahrnehmbar ist.240 Während bei anderen Tieren – durchaus auch Raubtieren wie dem Bären – allerdings in der Regel ein ganzer Komplex positiver Merkmale aufgeführt wird, oder aber das artspezifische Verhalten eine Umdeutung und Rechtfertigung erfährt, tritt beim Wolf ein wohl einmaliger Effekt ein, der, soweit ich sehe, bislang weder beachtet noch gedeutet wurde. Die „Gutmütigkeit“ oder „Freundlichkeit“ des Wolfes beschränkt sich scheinbar auf Kinder – je hilfloser, desto mehr. Diese Kinder können zum einen einer sexuellen Verbindung von Mensch und Wolf entsprungen sein. Dies ist aber eher selten, und spätestens seit Beginn der Christianisierung ist das Thema zudem tabuisiert. Weitaus häufiger findet man hingegen Berichte vom Typ Romulus und Remus: Kinder werden ausgesetzt und von Wölfen ernährt, bis sie durch eine Reihe von Zufällen wieder in menschliche Gesellschaft gelangen. Echte Wolfskinder sind dies also, Opfer unmenschlicher Taten, um die sich die Wölfin mit aufopfernder Liebe kümmert, die sie säugt, schützt und wärmt. Warum traute man gerade den Wölfen eine solch noble Tat zu? Man kann hier letztlich nur Mutmaßungen abgeben: Zum einen galt die Wölfin als gute Mutter, welche die bei der Geburt völlig hilflosen Wölflinge bis zum Letzten schützte.241 Unter „Lycanthrope (Divin.)“ wird kurz – und eher widerwillig, wie mir scheint – ein Abriss der aktuellen „dämonologischen“ Position gegeben, der schnell in die Erklärung Malebranches überführt wird, die davon ausgeht, es handele sich um „un effort déreglé de son imagination“, der vielleicht, vielleicht aber auch nicht, eine Strafe Gottes sei. Ebd. Als Modell dient hier expressis verbis Nebukadnezzar (Dan. 4, 30–31); vgl. die Abbildungen zum Wilden Mann, Kap. 2.4. Ebd., „Lycanthrope (Medicine.)“ setzt zunächst ganz ähnlich an. Lediglich die Begründung der Wahnvorstellungen wird nun ganz säkularisiert und in der Humoralpathologie verankert. Der Begriff ist „employée en Médecine, pour designer cette espece de mélancholie dans laquelle les hommes se croyent transformées en loups“. Ebd, Sp. 772. 239 Der „böse Wolf“ des Märchens lässt sich als Reflex dieser Haltung begreifen. Allerdings ist natürlich auch er der grundlegenden Symbolhaftigkeit des Märchens unterworfen, „Sinnbild einer bösen verführenden Macht“; KARL JUSTUS OBENAUER, Das Märchen. Dichtung und Deutung, Frankfurt a. M. 1959, 202. Zur Figur des Wolfes im Märchen vgl. auch ebd., 197 ff., ORTRUD STUMPFE, Die Symbolsprache der Märchen, Münster 31975, 92 f. 240 In letzter Zeit wurde diesem Phänomen, ausgehend von der neu aufgebrochenen Diskussion über Tierrechte, auch von geschichtswissenschaftlicher Seite Aufmerksamkeit zuteil; vgl. etwa die Beiträge in PAUL MÜNCH & RAINER WALZ (Hg.), Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn 1998. ALBRECHT CLASSEN, Die guten Monster im Orient und in Europa. Konfrontation mit dem ‚Fremden‘ als anthropologische Erfahrung im Mittelalter, in: Mediaevistik, 9 (1996), 11–37, weist darauf hin, dass der Werwolf im Mittelalter noch nicht eine derartige Furcht auslöst, wie sie für Teile der Neuzeit charakteristisch wird; ja er stellt „geradezu eine gewisse Sympathie für die Werwolf-Figur“ fest. Ebd., 13. 241 „loup“, in: DIDEROT & D’ALEMBERT, Encyclopédie, Bd. 9, 702: „Elles les défendent avec fureur lorsqu’ils sont attaqués, & s’exposent aux plus grands périls pour les nourrir.“ GESNER,
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Sie bereitete ihnen ein Nest, das Wärme und Geborgenheit ausstrahlte, der Vorstellung nach am liebsten in einem hohlen Baum.242 Dieses Motiv ist von umso höherer Bedeutung, als man die Behausung des Wilden Mannes ebenfalls just dort wähnte, und es wird denn auch ungebrochen von vielen die Funde der Wilden Kinder umrankenden Berichten übernommen. Nun konnten andere, weniger wilde Tiere Ähnliches leisten. Wahrscheinlicher ist daher, dass die Vorstellung der Wolfsmutterschaft eine rückgewandte Projektion ist, die besondere Fähigkeiten und Charakterzüge – zunächst mythischer – Personen erklären sollte. Denn ebenso wie die Amme konnten auch Tiere ihnen inhärente Eigenschaften über die Milch an die Säuglinge weitergeben. In antiker Zeit war der Wolf nun noch nicht durch das manichäische Gut-Böse-Raster des Christentums gesiebt worden; er galt als zwar furchterregende, aber auch machtvolle und mit allen kriegerischen Tugenden versehene Figur. Das römische Selbstverständnis fand ohne Frage an einer solchen Abstammung Gefallen, nicht umsonst erschien er als Symboltier des Mars auf den Fahnen des Heeres. Damit war aber eine literarische Grundlage gelegt, die in Mittelalter und Früher Neuzeit nicht angetastet wurde; ebenso wie die geographischen und biologischen Vorstellungen eines Plinius übernommen wurden, nahm man auch diese mythischen für gegeben an. Nachgewiesen ist eine solche Abhängigkeit für das mittelalterliche Wolfdietrich-Epos. Überliefert in zwei recht unterschiedlichen Fassungen sind die Parallelen so frappant, dass einen eher der Austausch des Wolfes durch ein anderes Tier überraschen würde.243 Vor allem der Wolfdietrich B erscheint in Teilen geradezu als Nacherzählung der Legende von Romulus und Remus. Von dieser Tradition ausgehend überrascht es nicht, dass der Wolf zum Patron einiger der verlorenen Kinder wurde. Seit der Antike war er für diese Aufgabe prädestiniert, ohne dass den Menschen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit der Gedanke gekommen wäre, die berichteten Vorfälle könnten möglicherweise auch anders erklärt werden. Denn dass die Kinder tatsächlich mit Wölfen oder sogar im Nest gesehen oder gefunden wurden, ist die absolute Ausnahme.244 Schließlich konnte – und das ist die letzte Wendung, welche die Tradition nimmt – ein solches Verhalten des erwiesenermaßen unglaublich grausamen Untiers, „welches der weise Schöpffer dem menschlichen Geschlechte, auch so wohl zahmen, als wilden Thieren zu sonderbarer Strafe erschaffen“245 hatte, als sicheres Zeichen einer wunderbaren göttlichen Intervention gelten: „So reissende Thiere als die Wölfe sind, so haben sie doch bisweilen, aus besonderer Vorsorge Gottes, ihren Rachen müssen verschlossen behalten, und die Menschen nicht beschädigen
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Thierbuch, 350: „Wiewol der wolff ein räuberisches und gefrässiges Thier ist; So hat er doch seine Jungen lieb/ daß er sie speiset/ beydes die Alten und die Jungen.“ PEUCKERT, „Wolf“, Sp. 727. Vgl. GRIMM, Bedeutung des Wolfes, 405 ff., insbes. 407. So erklärt sich das immense Interesse, dass schließlich der Bericht Singhs über die Wolfskinder Amala und Kamala hervorrief; zumindest für einige Zeit schien zum ersten Mal der Nachweis geführt worden zu sein, dass Wölfe tatsächlich Kinder „adoptieren“ können. „Wolf“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon., Bd. 58, Sp. 497.
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dürfen.“246 Der Wolf konnte so bleiben, was er immer gewesen war: ein ambivalent besetztes Tier, bei dem Grausamkeit und Blutdurst dominierten, ganz plötzlich aber auch in der Hintergrund treten konnten. Damit erwies er sich bis zu einem gewissen Grade resistent gegen eine Neudeutung innerhalb des christlichallegorischen Weltbildes. 2.3.2. Der Bär Neben dem Wolf tritt jedoch noch ein weiteres Tier häufig die Rolle des Elternersatzes an: der Bär. Dem heutigen Betrachter erscheint dies auf den ersten Blick einleuchtender, denn im Gegensatz zum Wolf, der ein von einer zwielichtigen Aura umgebenes Tier geblieben ist, scheint dem Laien das größte Raubtier Europas geradezu ein Muster munterer Durchschaubarkeit zu sein. Von der Nadel bis zur Süßware, kaum ein Wirtschaftszweig, der heute auf die erhoffte werbetechnische Breitenwirksamkeit des Sympathietieres verzichten mag. Dieses Ungleichgewicht, was die Beliebtheit angeht, lässt sich wohl vor allem auf die äußere Gestalt des Bären zurückführen, der von allen Tieren Mitteleuropas dem Menschen am ähnlichsten sieht.247 Der Bär ist heute zu einem anthropomorphen Kuscheltier geworden, und immer wieder berichtet die Presse von tragischen Fehleinschätzungen, was seine Gefährlichkeit angeht. Bekannt ist dagegen, dass Bärinnen, die Junge haben, äußerst aggressiv auf Eindringlinge reagieren – wiederum ein Verhalten, das den meisten Menschen intuitiv einleuchtend und, in einem wenn auch vielleicht unangemessen moralisierenden Sinne, als rechtfertigbar erscheint. So unterscheidet sich die heutige Situation der Bären sehr von der der Wölfe oder anderer Raubtiere Europas, nicht ohne deswegen aber weniger paradox zu sein. Denn auch der Bär wurde aus dem Großteil seines einstigen Verbreitungsgebietes von den Menschen vertrieben. Heute findet er sich in Europa eigentlich nur noch an den unzugänglichsten Orten: den Hochlagen der Alpen und der Pyrenäen, wo Bestrebungen für eine Wiederansiedlung getroffen wurden, sowie auf dem Balkan, den Karpaten und eng umrissenen Gebieten in Skandinavien, dem Baltikum und der iberischen Halbinsel.248 Als Betreiber eines Wiederansiedlungsprojektes darf man durchaus auf eine Unterstützung der Bevölkerung hoffen, die anderen Tierarten nicht entgegengebracht wird; wie gesagt, der Bär ist Sympathieträger, und wo die Klagen einheimischer Hirten, dass wiederangesiedelte Wölfe die Herden dezimierten, schnell als ernstes Problem registriert werden, erscheinen von Bären verursachte Verluste weniger glaubhaft.249
246 Ebd., Sp. 500. 247 Vgl. HANS-ALBERT TREFF (Hrsg.), Bärenstark: Natur- und Kulturgeschichte der Bären, München 1995, 7. 248 Vgl. die Übersichtskarten bei SAVAGE, Bären, 10 ff. 249 In den Alpen lebten 1995 etwa 20 Braunbären: „Meist werden die Heimkehrer mit großer Zuneigung empfangen“, notiert TREFF, Bärenstark, 52. Dieses Urteil ist nach der Affäre um den „Problembären“, der 2006 Bayern unsicher machte, allerdings möglicherweise zu revidieren.
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Psychologisch betrachtet vermag der Bär dem mitteleuropäischen Menschen unserer Zeit offenbar zweierlei zu bieten: Er ist gleichsam emotionale Wärme spendender Freund wie auch mächtiger Verteidiger. In kaum einem Kinderzimmer unseres Kulturraumes dürfte der Teddybär heute fehlen, und wie bei so vielen Dingen, in denen es um die Bären geht: Die Zustimmung ist allgemein. Wo grellbunte Plastikfiguren die Kauflust der Großeltern vergraulen, bleibt der Griff zu einem Stück vorbildhaft domestizierter Natur. Und auch das Kind wird sich in der Regel durchaus über ein Geschenk freuen, das bereits in der Wiege seiner Eltern gelegen haben dürfte. Allerdings: Ein solches Verhältnis konnte erst eine Kultur ausbilden, die des direkten Kontaktes mit Meister Petz längst verlustig gegangen war. Und jeder, dem es schon einmal vergönnt war, ein solches Tier in der freien Natur zu treffen250, wird bestätigen können, dass die anfängliche Begeisterung beim Näherkommen eines aufgerichtet an die zwei Meter großen Bären bald durch sehr gemischte Gefühle ersetzt werden kann. Während uns die Übernahme der Elternschaft durch Wölfe vielleicht merkwürdiger vorkommt als den Menschen des 18. Jahrhunderts, muss man für Bären das Gegenteil annehmen. Wie also stand es um die Verbreitung der Bären in Mittelalter und früher Neuzeit, wie war ihr „Image“ in der Bevölkerung, welche Legenden rankten sich um sie, und kann man aus diesen Erzählungen wiederum Relevantes für die ihnen schließlich zugeschriebene Rolle als Elternsubstitut herausfiltern?251 Um überhaupt einen Rahmen zu haben, in den sich die Ansichten einordnen lassen, ist zunächst zu klären, welche Arten von Bären in Europa heimisch waren und wie groß ihre Zahl gewesen sein mag. Wie sich zeigen wird, ist der letzte Teil der Frage weitaus schwerer und kaum eindeutig zu beantworten. Immerhin aber lässt sich feststellen, dass seit dem Aussterben des Höhlenbären (Ursus spealaeus)252 nur eine einzige Art des Bären in Europa heimisch werden konnte253: der Braunbär (Ursus arctos), eine Art, die, geographisch weit verbreitet, auch in Zen-
250 Wobei wiederum der Begriff „freie Natur“ äußerst dehnbar ist; in einigen amerikanischen Nationalparks zählen zwar Begegnungen mit Schwarzbären zum Alltag, aber diese Tiere sind längst zu Kulturfolgern geworden, deren Verhalten kaum mehr das ursprüngliche spiegelt. 251 Diese Fragen zu klären erweist sich als nicht ganz einfach, denn während dem Wolf, vor allem auch seiner in diesem Rahmen besonders interessierenden mythischen Seite, bereits seit langer Zeit eine ganze Reihe von Untersuchungen gewidmet wurde, gestaltet sich die Materialsuche im Falle des Bären schwierig – ein Grund, warum hier verstärkt auf primäre Quellen zurückgegriffen werden musste. 252 Diese Art des Bären war bis zur letzten Eiszeit in einem breiten Gürtel von Südengland bis zum Kaukasus verbreitet, vielerorts zugleich mit dem Braunbären, den er allerdings in seiner Größe um etwa 1/3 übertraf. Höhlenzeichnungen legen nahe, dass dieser Bär wahrscheinlich schon von den Neanderthalern, spätestens aber von kultisch verehrt wurde. Das Aussterben dieser Spezies vor rund 10.000 Jahren wird durch eine ganze Reihe widersprüchlicher Theorien zu erklären versucht. Vgl. TREFF, Bärenstark, 8 ff. und SAVAGE, Bären, 3. 253 Wenn daher in der Folge undifferenziert vom „Bären“ die Rede ist, ist stets der Braunbär gemeint.
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tralasien und Nordwestamerika anzutreffen ist, wobei je nach Gebiet Fellfarbe und Größe erheblich differieren können.254 Die Bärin gebiert255 im Winterlager ein bis vier Junge, meist Zwillinge, die bei der Geburt völlig hilflos sind und mindestens anderthalb, oft sogar drei Jahre bei ihrer Mutter bleiben. Neugeborene Bären „wiegen lediglich 300–500 Gramm, doch wenn sie aufgewachsen sind, haben sie mindestens das Fünfhundertfache ihres Geburtsgewichts, während Menschen als Erwachsene nur rund zwanzigmal soviel wiegen wie bei der Geburt.“256 Folglich ist die Pflege der Mutter von immenser Bedeutung; sie verteidigt ihre Jungen im Ernstfall nicht nur mit außerordentlicher Aggressivität, sondern befasst sich auch sonst ausgiebig mit deren Fellpflege etc. Die Beobachtung dieser Verhaltensweise ist wohl der Schlüssel zur Behauptung Plinius’, die Jungen würden „als weiße, formlose Fleischbrocken geboren, nicht viel größer als eine Maus […]. Erst nachdem ihre Mutter sie richtig beleckt hat, erhalten die Jungen schrittweise ihre spätere Gestalt.“257 Die Milch der Bärenmutter ist äußerst nahrhaft und ähnelt in ihrer Zusammensetzung Kondensmilch. Die lange Kindheitsphase entspricht der erheblichen Intelligenz der Tiere, die es wohl erlaubt, sie als „die intelligentesten unter den Landraubtieren anzusehen.“258 Zugleich bot die Bärenidylle der sorgenden Mutter mit ihren spielenden Kindern zumindest seit der Ausprägung der bürgerlichen Kernfamilie einen Anblick, den die Naturforschung für geradezu musterhaft halten musste. Die Schläue der Bären musste über kurz oder lang zu Irritationen mit einem weiteren Lebewesen führen, das sein Überleben einem überlegenen Denkapparat verdankte: dem Menschen. Denn der Bär entdeckte schnell, dass er als Kulturfolger seine Nahrungsbedürfnisse sicher und komfortabel stillen konnte. Die Ähnlichkeit ist nämlich auch bei der Ernährung auffallend: Selbst wenn der Braunbär vorwiegend vegetarisch lebt, verschmäht er doch keineswegs Fleisch, und sowohl die Pflanzungen als auch die Haustiere des Menschen waren ihm daher höchst willkommen. 254 So variiert in Nordamerika, wo sich der Braunbär das Gebiet mit dem Schwarzbären (Ursus americanus) teilen muss, die Farbe oft ins Gräuliche, wodurch der geläufige Name Grizzly entstand. Die systematische Unterteilung der echten Bären ist in Details bis heute strittig. Allgemein anerkannt werden aber zumindest die Arten Amerikanischer Schwarzbär (Ursus americanus), Asiatischer Schwarz- oder Mondbär (Ursus thibetanus), Braunbär mit Alaska- und Grizzlybär (Ursus arctos), Eisbär (Ursus maritimus), Brillen- oder Andenbär (Tremarctos ornatus) und Sonnen- oder Malaienbär (Helarctos malayanus); ROBERT ELMAN, Bären, Stuttgart 1993, 26. Zumindest Braun- und Eisbär stehen sich aber so nahe, dass sie fertile Nachkommen hervorbringen; WOLF-DIETER STORL, Berserker und Kuschelbär: Der Bär als Seelengefährte des Menschen, Braunschweig 1992, 21. 255 Eigentlich bereits eine sprachliche Tautologie, denn viele „Ausdrücke, die mit Mutterschaft zu tun haben, haben ihre sprachlichen Wurzeln […] bei den Bären, so beispielsweise das indogermanische bher und das germanische bheran für ‚ein Kind gebären‘, oder das altnorwegische Wort burdh für ‚Geburt‘.“ SAVAGE, Bären, 5. Auf die Zusammenhänge zwischen Bär und Fruchtbarkeit wird oben noch eingegangen. 256 ELMAN, Bären, 3. 257 PLINIUS, Naturalis historia, zit. bei SAVAGE, Bären, 71. Versteht man diese Aussage als Allegorie auf die lange Erziehungszeit der Bären, ist sie durchaus nicht unsinnig. 258 TREFF, Bärenstark, 33.
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Hinzu kommt, dass der Braunbär von allen Bärenarten die bei weitem aggressivste ist.259 Denn waren die Vorfahren des Braunbären, ebenso wie heute noch der Großteil der Bärenarten, Baumbewohner, deren Habitat bereits den erforderlichen Schutz bot, passte sich jener an die neuen Umstände der Eiszeit an: weite, offene und baumlose Landschaften. Der Braunbär wurde zu dem „Bewohner der Übergangszone zwischen Wald und Steppe“260, der er heute noch ist. Wurzeln, Knollen und Kleinsäuger, die allesamt aus dem hartgefrorenen Boden ausgegraben werden mussten, wurden nun zu seiner Hauptnahrung. Anatomische Veränderungen waren die Folge: Die Nacken- und Schultermuskulatur wurde wuchtiger, die Krallen von Kletter- zu Grabwerkzeugen. Die gelungene Anpassung an die neue Umwelt forderte so einen Preis, die Kletterfähigkeit. Damit aber war die entscheidende Rückzugsmöglichkeit blockiert, und je weniger die Kletterfähigkeiten von Bären entwickelt sind, desto aggressiver scheinen sie sich im Konfrontationsfall zu verhalten. Braunbären können also durchaus auch dem Menschen gefährlich werden, insbesondere wenn dieser die Bedrohlichkeit der Situation nicht erkennt und sich etwa den Jungtieren weiter nähert.261 Die Folge all dieser Faktoren war die gleiche wie bei den Wölfen: Der Bär, sicherlich häufig in seiner tödlichen Gefährlichkeit völlig überbewertet, wurde vom Menschen nach Kräften bejagt und war vielerorts bald ausgerottet.262 Die Geschwindigkeit, mit der dies geschah, legt nahe, dass der Bestand schon im Mittelalter nicht übermäßig groß gewesen sein kann: zu niedrig ist die Reproduktionsrate, zu groß sind die an das Revier gestellten Forderungen dieses großen Raubtieres.263 Im Bayerischen Wald verschwand der Bär 1826; als nicht authentifiziert gelten zuweilen gemeldete Abschüsse im 20. Jahrhundert. In Westfalen wurde der letzte Bär bereits 1446 bei Münster erlegt, während England – historisch betrachtet immer in einer Führungsrolle, was die Ausrottung von Raubtieren betrifft – sich schon um die Wende zum zweiten Jahrtausend als bärenfrei deklarieren konnte.264 Heute existieren weltweit noch etwa 180.000 Braunbären; besonders kritisch ist die Lage in Westeuropa.265 Kaum zu überschätzen ist die mythologische Bedeutung des Bären, insbesondere für die indigenen Bewohner der zirkumpolaren Regionen. In Nordamerika und Skandinavien, Japan und dem eurasischen Festland waren Bärenriten und Bä259 Auch der Asiatische Schwarzbär wird aber Menschen regelmäßig gefährlich: ELMAN, Bären, 33. 260 SAVAGE, Bären, 58. 261 Hier stehen sie durchaus im Gegensatz etwa zum Schwarzbären, der den Menschen praktisch immer flieht. 262 Insofern wird es die Bären auch kaum trösten, wenn H. R. ELLIS DAVIDSON, Shape-changing in the Old Norse Sagas, 147 feststellt: „Although highly dangerous and a formidable adversary, the bear was not thought to be an evil beast, like the wolf.“ 263 Je nach Nahrungsangebot kann ein einziger männlicher Braunbär durchaus ein Gebiet von 300 bis 1.000 Quadratkilometern Fläche beanspruchen, in Extremfällen auch ein Vielfaches. SAVAGE, Bären, 59 berichtet von einem Fall, in dem das Revier 5 700 km2, also etwa das Doppelte des Saarlandes, umfasste. 264 TREFF, Bärenstark, 58 f. 265 Konkrete Zahlen liefert SAVAGE, Bären, 9.
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renkulte verbreitet, die in all ihrer Vielfalt doch stets in entscheidenden Kriterien übereinstimmten.266 Auf welche gemeinsame Wurzel diese Übereinstimmungen zurückgehen, ist noch strittig. Als Stifter zur Debatte stehen entweder die nach Amerika eingewanderten asiatischen Jägervölker oder aber, noch weiter zurückgehend, die eiszeitlichen und voreiszeitlichen Träger der Höhlenbärkulte. Womöglich wurden nach dem Aussterben des Höhlenbären Ritual und Kultus auf den Braunbären transferiert, der die freiwerdende Nische besetzte. Die indogermanischen Völker zeichneten sich durch eine durchaus besondere Scheu gegenüber dem Bären aus.267 Diese Scheu wird von der Etymologie reflektiert: Offenbar bestand ein Verbot oder Tabu, den Namen des Bären direkt auszusprechen, was zu einer ganzen Reihe von Aliasbenennungen führte268; ähnliches ist auch für die finnisch-tartarischen Völker festzustellen, wo der Bär noch im 18. Jahrhundert streckenweise einen geradezu heiligen Status genoss.269 Ob allerdings, wie KELLER meint, diese Verehrung mit der verhältnismäßig geringen Gefährlichkeit des Bären zusammenhing, darf wohl bezweifelt werden – zumindest Braunbären, und um diese Spezies geht es hier, gelten ja, wie wir gesehen haben, durchaus als potenziell für den Menschen gefährlich. Die mythische Rolle des Bären ähnelt sich auch in den am weitesten voneinander entfernten Regionen. Stets ist er ein Symbol der Fruchtbarkeit und mütterlicher Sorge, ein Wesen, das dem Menschen ganz nahe, wenn nicht sogar in gewissem Sinne ein Mensch ist. Und die Ähnlichkeiten sind wirklich beeindruckend: Der Bär scheint, vom Standpunkt der „Naturvölker“ aus gesehen, mit dem Menschen die grundsätzliche Organisation der Existenz zu teilen. Er ist, wie sie, Jäger und Sammler. Hinzu kommen Übereinstimmungen der Anatomie: Ebenso wie der Mensch ist der Bär nicht Zehenspitzen-, sondern Sohlengänger. Er kann sich, um bessere Übersicht zu gewinnen, auf seine Hinterbeine stellen und ähnelt dann in seiner körperlichen Formation tatsächlich mehr als jedes andere Tier – den Affen, der im Großteil der fraglichen Region jedoch nie heimisch war, einmal ausgeschlossen – dem Menschen. Seine Augen sind nach vorne gerichtet. Vollends frappant wird diese Ähnlichkeit, sagen etwa sibirische Jäger, wenn man ihm sein Fell abzieht: „Zieht man einer erlegten Bärin ihren Pelzmantel aus […], gleicht sie einem Mädchen, besonders was Brust, Hüften und Schenkel betrifft. Jakuten, 266 „Eine solch jägerisch akzentuierte, mit dem Ahnenkult verschwisterte Dramatik hat sich um den Bären als Zentralfigur in dem gesamten Nordbereich unserer Erde entwickelt, von den Lappen bis zu den indianischen Stämmen in Mexiko […].“ HANS FINDEISEN, Das Tier als Gott, Dämon und Ahne. Eine Untersuchung über das Erleben des Tieres in der Altmenschheit, Stuttgart 1956, 21. Vgl. auch HANS-J. PAPROTH, „Bär, Bären“, in: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 1, Berlin; New York 1977, Sp. 1194–1203. 267 Auch JACOB GRIMM, Deutsche Mythologie, Bd. 2, Darmstadt 1965, 556, weist auf diese Scheu hin, die der Bär mit nur zwei anderen Tieren teilt: „Unter den wilden waldthieren gab es einige, die der mensch mit scheu betrachtete, denen er ehrerbietung bezeigte: vor allen bär, wolf und fuchs.“ 268 WILL-ERICH PEUCKERT, „Bär (Tier)“, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, Bd. I, Sp. 882–905; hier 881. 269 Vgl. OTTO KELLER, Die antike Thierwelt, Erster Bd.: Säugethiere, Leipzig 1909 [ND Hildesheim 1963], 177.
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Ewenken und andere sibirische Jäger vollziehen sogar den Geschlechtsakt mit der frisch erlegten Bärin – oder tun zumindest so.“270 Ebenso wie der Mensch ist der Bär ein Allesfresser, und sein regulärer Ernährungsplan würde durchaus auch einen Menschen zureichend ernähren; insbesondere teilt er die menschliche Vorliebe für Süßes und Saures. Eine feste Brunftzeit fehlt dem Braunbären, der Menstruationszyklus der Bärin dauert 28 Tage und ihre durchschnittliche Stillzeit entspricht in etwa der des Menschen. 30 Jahre kann ein Braunbär alt werden, und dies ist ein Lebensalter, das von dem des steinzeitlichen Menschen nicht weit entfernt gewesen sein wird. Wen wundert es da noch, dass auch die Krankheiten, die Mensch und Bär befallen, zu einem guten Teil gleich oder ähnlich sind: Erkältungen, Lungenentzündungen, sogar Rheuma und Arthritis. Der Tod schließlich hebt alle Differenzen auf, die noch bestanden: Bei den Lappen bezeichnete saivo sowohl den Geist des erlegten Bären als auch den des toten Menschen.271 Schon allein aufgrund dieser Merkmale leuchtet die einmalige Position des Bären im Mythos ein, und so ist „für die meisten Naturvölker der Bär ein TabuTier, ein heiliges Tier.“272 Die nordamerikanischen Indianer verfügen über einen reichen Fundus an Sagenmaterial, in dem der Glaube an die nahe Verwandtschaft zwischen Bär und Mensch Ausdruck findet; die „Große Bärenmutter“ überspannt hier die Kluft „zwischen Mensch und Tier, zwischen Geist und Materie, zwischen Göttlichem und Irdisch-Menschlichem.“273 Aber auch in Europa fiel die besondere Ähnlichkeit auf, und den Märchen nach lag dieser Ähnlichkeit eine gemeinsame Abstammung zugrunde: Der Bär, so erklärten sie, stamme von den ungleichen Kindern Evas, vom Bauerngeschlecht oder einer alten Frau ab. Vielleicht seien es auch die verwunschenen, weil Christus lästernden Hochzeitsgäste, die nun in Bärengestalt leben müssten.274 Kleine Terracottafiguren aus der Jungsteinzeit, die im heutigen Jugoslawien gefunden wurden, zeigen eine Göttin mit Bärenkopf, die ein Junges säugt. In den slawischen Sprachen wird die junge Mutter häufig als „Bärin“ bezeichnet: letztere erscheint hier also geradezu als Allegorie der Mutterliebe. Neben der Pflegsamkeit des Muttertieres mag hier noch eine andere Beobachtung eine Rolle gespielt haben: Die scheinbare jährliche Wiedergeburt des Bären aus dem Winterschlaf.275 Ebenso wie sich wundersam der Zyklus der Natur erneuerte, so erwachte auch der Bär aus einem todesähnlichen Zustand, um, als wäre nichts gewesen, seine Tätigkeiten wieder aufzunehmen. Er wurde so zu einem Symbol der Erneuerung, damit 270 271 272 273 274
Ebd., 39. Vgl. auch PAPROTH, „Bär, Bären“, Sp. 1197. DAVIDSON, Shape-changing in the Old Norse Sagas, 146. STORL, Berserker und Kuschelbär, 47 f. SAVAGE, Bären, 4 f. WILL-ERICH PEUCKERT, „Bär“, in: Handwörterbuch des deutschen Märchens, hg. v. LUTZ MACKENSEN, Bd. 1, Berlin; Leipzig 1930/33, 158. 275 Der Winterschlaf der Bären ist in der Tat erstaunlich. Während einer Zeit von, je nach Breitengrad, vier bis sieben Monaten nehmen die Tiere keinerlei Nahrung oder Wasser zu sich; Kot und Urin werden nicht ausgeschieden. Die „Wiederauferstehung“ im Frühjahr, bei Bärinnen zu allem Überfluss auch noch häufig von Nachwuchs begleitet, vollzieht sich erstaunlich schnell; vgl. SAVAGE, Bären, 2 f.
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aber letztlich auch der gesamten Natur und ihrer nie versiegenden Schöpfungskraft. In dieser Hinsicht sind die Bärinnen sicher von größerer Bedeutung als die Bären.276 Der Bär war also sicherlich auch ein Fruchtbarkeitssymbol; die Rollen, die er in den Mythen übernimmt, weisen deutlich darauf hin. Fraglich scheint aber, ob diese Rolle, wie STORL zu glauben scheint, vor allem aus der Behausung des Bären abgeleitet wurde.277 Näherliegender ist die Annahme, dass die Kraft und Unbändigkeit des Bären bereits ausreichten, um ihn für eine solche Erotisierung zu prädestinieren. Denn der Bär folgt, anders als der Mensch, dem er so ähnlich sieht, nicht den Regeln der Gesellschaft, sondern seinen Trieben und Instinkten. Nimmt man hinzu, dass das Liebesspiel der Bären eine durchaus ausgedehnte und offenbar lustvolle Prozedur ist, die in Zeiten, in denen der Bär nicht vom Aussterben bedroht war, umso häufiger zu beobachten gewesen sein muss, braucht man kaum darüber spekulieren, ob der Bär in der Imagination der Menschen in seiner Höhle „wie ein Penis in einer Scheide“278 verschwindet. Dennoch meint noch STORL, der sich völlig unkritisch auf die Thesen MANNHARDTS beruft279, diese Rolle des Bären als Liebhaber der Mutter Erde liege seiner volkstümlichen Auslegung als Vegetationsdämon zugrunde. Auch die Fastnachtsbräuche, von besonderer Bedeutung vor allem im allemannischen Gebiet, ließen sich nur von hier ausgehend begreifen. Richtig ist dabei zweifellos, dass der Bär aus der süddeutschen und schweizerischen Fastnacht bis heute nicht wegzudenken ist. Er erfüllt hier Funktionen, die so stark an die des Wilden Mannes gemahnen, dass eine genaue Trennung der beiden Figuren – hier theriomorpher Mensch, dort anthropomorphes Tier – oft schwerfällt. Dominierend sind besonders deren sexuelle Charaktereigenschaften, die seit dem Mittelalter, dann jedoch auch besonders in der Aufklärung, obrigkeitliches Einschreiten erforderlich zu machen schienen.280 Ein besonders aufschlussreiches Ritual hat sich bei den Ainu, den Ureinwohnern Nordjapans, regional bis ins 20. Jahrhundert gehalten. Zugrunde liegt der Glaube, der Urahne der Menschen habe mit einer Bärin einen Sohn gezeugt; diese brachte ihn nach der Geburt in die Nähe seines Wohnsitzes, damit der Vater die Sorge übernähme. Um diese mythische Handlung nachzustellen, jagten oder kauften die Ainu einen ganz jungen Bären, der von ihnen dann über einen Zeitraum 276 „Dem Bärenkult liegt eine mit dem Weiblichen verknüpfte Vorstellung von Geburt, Wachstum, Vergänglichkeit und Wiedergeburt zugrunde, denn die Bärin ist das Symbol der Erneuerung schlechthin.“ SAVAGE, Bären, 31. 277„Da Mutter Erde eine Frau war, die schwanger werden und vielfältig gebären sollte, brauchte sie dafür einen ihr ebenbürtigen Liebhaber. Und wer wäre dafür wohl besser geeignet als der wilde Bär, der ungestraft in ihrem unterirdischen Reich ein- und ausgeht.“ STORL, Berserker und Kuschelbär, 71. 278 Ebd., 23. 279 Ebd., 70 ff.; so führt Storl (ebd., 74 f.) die bereits von Mannhardt postulierten folkloristischen Typen des Kornbären oder Erbsenbären an. 280 Diese sexuell-aggressive Konnotation des Bären ist jedoch keineswegs ein universelles Merkmal. „It was […] believed by the Lapps that a bear would not willingly attack a woman, and one meeting a bear had only to hold up her skirt to show that she was one for him to leave her alone.“ DAVIDSON, Shape-changing in the Old Norse Sagas, 147.
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von bis zu 2½ Jahren liebevoll versorgt und großgezogen wurde. Zunächst erhielt er sogar eine menschliche Amme, die während der Stillzeit keinerlei weitere Arbeiten verrichten durfte und praktisch exklusiv für den kleinen „Gast“ zuständig war. Sie war auch bei dem den Besuch abschließenden Ritual nicht anwesend, denn schließlich wurde der Bär getötet. Im Hintergrund stand hier aber die Idee, die Seele des Bären freizusetzen und den „Heimweg“ zu ermöglichen.281 Mensch und Bär verfügten also bei den Ainu – und diese stehen, wie gezeigt wurde, nur stellvertretend für eine ganze Reihe weiterer Kulturen – über dieselbe Seele, die nur verschieden eingekleidet wurde. Der Tod setzte die Seele frei und beendete die irdischen Unterschiede, die zu keiner Zeit wesenhaft, sondern nur kontingent waren. Psychologisch betrachtet erfüllen solche Rituale einen wichtigen Zweck: In einer Welt, in der die Kluft zwischen Mensch und Tier kaum existiert, sind Entsühnungen notwendig; die Schrecken über das Grauen, etwas so nah Verwandtes wie das Tier getötet zu haben und immer wieder zu töten, wurde durch den Glauben an die Freisetzung der Seele erträglich gemacht. Wie zentral die Figur des Bären in der Mythologie war, wird noch heute durch einen Blick, wenn nicht direkt in den Nachthimmel, so doch in die Sternkarten deutlich. Denn hier tummelt sich die auf der Erde vielerorts vom Aussterben bedrohte Spezies noch, und zwar an Positionen, die an Bedeutung nicht zu Überbieten sind. Der Große Bär ist auf der nördlichen Hemisphäre ganz ohne Frage das bekannteste, für den Laien häufig das einzige erkennbare Sternbild. Von ihm ausgehend lässt sich der vielleicht wichtigste Wegweiser aller Zeiten, der Polarstern finden, seinerseits wiederum Bestandteil des Kleinen Bären. Und diese Sternbilder wurden – wenn auch hier und da mit Variationen – nicht nur von den Griechen, sondern auch den neuweltlichen Micmacs und Irokesen gesehen. Die hinduistische Sternenkunde kennt sogar nicht weniger als sieben verschiedene Bärenbilder.282 Die griechische Mythologie wusste um ein Arkadien, das „Bärenland“. Der überragende Heros dieses Landes, Arkas, wird als leidenschaftlicher Bärenjäger beschrieben, seine Mutter Kallisto wurde nach der Sage in eine Bärin verwandelt. Eine andere Heldin, Atalanta, wurde von einer arkadischen Bärin gesäugt, und das gleiche geschah weit entfernt, im Wald von Ida, auch Paris. Die prominenteste Rolle im antiken Griechenland – das im übrigen in weiten Teilen schon früh bärenleer gewesen zu sein scheint – spielte der Bär aber als Symboltier der Jagdgöttin Artemis, an deren Tempeln die Köpfe erbeuteter Tiere aufgehängt wurden; die Priesterinnen der brauronischen Artemis trugen sogar Bärenkleider.283 Und auch der König der Götter stand in einer Beziehung zum König der Tiere: Zeus selbst soll von Bärenammen gesäugt worden sein.284 Zur gleichen Zeit war der Bär auch bei den Skythen (Zamolxis)285 und den Syrern286 von religiöser Bedeutung. In der nordischen Mythologie ist der Bär Thor zugeordnet.287 281 282 283 284 285
Vgl. FINDEISEN, Das Tier als Gott, 21. Vgl. SAVAGE, Bären, 7. Vgl. PEUCKERT, „Bär (Tier)“, Sp. 882. Vgl. KELLER, Die antike Thierwelt, Bd. 1, 176; STORL, Berserker und Kuschelbär, 65. Vgl. ebd.
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Wie sehr die antike Vorstellung Arkadiens noch in den Köpfen der Menschen der Frühen Neuzeit verankert war, offenbart die Entdeckungsfahrt Francis Drakes. In Nordkalifornien entdeckte er eine, wie ihm schien, paradiesische Parklandschaft, in der „schlichte, freundliche Menschen lebten“288; der Vergleich zum antiken Arkadien lag so nahe. Neben den glücklichen Menschen, die hier lebten, gab es auch eine Vielzahl von Bären – was die Benennung rechtfertigt. Die Vorstellung ländlicher Idylle, die in der Idee von Arkadien enthalten ist, das einfache aber erfüllende Leben in einer Umwelt, die alles Notwendige, aber keinesfalls verderblichen Überfluss liefert, scheint mit der Figur des Bären so bis weit über die Antike hinaus verknüpft gewesen zu sein; wenn nicht ursächlich, so zumindest akzidentiell. Die Römer fanden im größten Raubtier des Nordens vor allem ein sie begeisterndes Jagdobjekt. Die Jagd konnte dabei auf zweierlei Art erfolgen: regulär oder mit Hilfe von Fallgruben. Letztere boten einen entscheidenden Vorteil, denn das Tier blieb lebendig und konnte nun weiter verwendet werden. Und Bedarf bestand im Rom der hohen und späten Kaiserzeit. Einen einsamen Rekord stellte schließlich Gordian I. auf, der für eine einzige Tierhetze mehr als 1.000 Bären zusammenfangen ließ.289 Verbreitung fand auch die Sitte, sich „zahme“ Bären, sozusagen als Leibwache, zu halten. Valentinian I. soll je einen Bären rechts und links von seinem Schlafgemach als Schildwache postiert haben; um sie scharf zu halten, seien sie mit Menschenfleisch gefüttert worden. Noch Prokop berichtet von einem Amt des Bärenwärters am kaiserlichen Hof.290 Wie mit allen Tieren und Pflanzen, die in der heidnischen Welt eine gewisse Verehrung erfahren hatten, hatte das Christentum auch mit dem Bären seine Probleme. Allen Neubekehrten wurde der Umgang mit diesem Tier kategorisch verboten, ohne Frage aus Angst, alte Verehrungsriten könnten schnell wieder einreißen. Nach der Trullanischen Synode wurden für das Vergehen sogar Freiheitsstrafen verfügt.291 So verschwinden die Berichte vom Bären für einige Jahrhunderte aus unserer Reichweite. Sicher wird es weiterhin Kontakte von Bär und Mensch gegeben haben, vielleicht verstärkten sie sich nach dem Zusammenbruch des weströmischen Reiches sogar. Greifbar werden sie dann wieder im neunten Jahrhundert; nun existieren Berichte über Bären, die von Gauklern und Spielleuten ausgestellt wurden292 – noch lange sollten die Tanzbären zu den Jahrmarktsattraktionen gehören.293 286 287 288 289 290 291 292 293
Vgl. PEUCKERT, „Bär (Tier)“, Sp. 882. Vgl. STORL, Berserker und Kuschelbär, 28. Vgl. ebd., 31. Vgl. KELLER, Die antike Thierwelt, 179. Vgl. ebd. Vgl. STORL, Berserker und Kuschelbär, 143. Vgl. PEUCKERT, „Bär (Tier)“, Sp. 897. GESNER, Thierbuch, 28 notiert: „Gaucklen/ Tantzen/ und seltzame Sprüne/ lernet er: Daher bißweilen etliche Landfahrer solche Bären umbherführen/ und wie wir sagen/ ein Himmelreich und Schauspiel mit jhnen halten: Und zwar sind deren in England ziemlich viel/ die sich mit solchen Bären ernähren.“ In England existierten bereits seit langer Zeit keine wilden Bären mehr; insofern erklärt sich die dortige Neugier auf Tanzbären ebenso wie die heutige Vor-
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Überraschender ist der zweite Ort, an dem sich die Tiere im Hochmittelalter wieder nachweisen lassen: in Klöstern. So erbaute der Legende nach die hl. Richardis bei Andlau ein Kloster direkt über einer Höhle, die der Einsiedlerin ein Bär gezeigt hatte. Der Aufenthalt in der Höhle sollte heilsam sein, vor allem bei Beinschäden. Im Kloster hielt man zum Andenken an das freundliche Tier Bären und beschenkte jeden vorbeiziehenden Bärenführer mit Brot und etwas Geld. Ebenso baute der hl. Gislen sein Kloster an dem Ort, den ihm ein Bär und ein Adler gewiesen hatten, auch hier wurden Bären gehalten.294 Der Bär, ein verfemtes Symbol des Heidentums, wurde also auch im Christentum nach und nach wieder zu einem, wenn auch nicht gern gesehenen, so doch wohl oder übel geduldeten Gast. Verschiedene Heiligenviten weisen ihm eine prominente Rolle zu. So wird in der dem Umfeld des Columban-Zyklus entstammenden Gallus-Legende der Bär zum unersetzlichen Helfer. Er besorgt den in die Wildnis verschlagenen Missionaren Brennholz und Baumstämme für den Bau einer Zelle, vertreibt wilde Tiere und kehrt auf Geheiß Gallus’ schließlich wieder in die Wildnis zurück. Die armselige Zelle, bei deren Bau das Tier half, sollte später zu St. Gallen, dem Zentrum der Alemannen-Bekehrung werden. Bekannt ist auch die Legende vom hl. Korbinian, dem ersten Bischof von Freising: Als ihm der Teufel in Bärengestalt das Packpferd zerrissen hatte, befahl ihm der Gottesmann kurzerhand, das zu befördernde Gepäck nun selbst zu schultern. Der hl. Maximin trieb in vergleichbarer Situation sein neues Beförderungsmittel sogar bis nach Rom. Ganz ähnliche Geschichten, bei denen der Bär beispielsweise von einem Heiligen gezwungen wird, zu pflügen, existieren in reicher Zahl. Die hl. Kolumba, die zur Zeit der Christenverfolgungen auf ihr Ende in der Arena wartete, wäre fast noch von ihren Schergen vergewaltigt worden, hätte nicht eine Bärin sie verteidigt. Zwar musste die Heilige trotzdem den Märtyrertod sterben, konnte aber wenigstens unbefleckt ins Himmelreich eingehen.295 Man erkennt hier ein Muster, das in nicht geringem Maße vom Geschlecht des Heiligen abzuhängen scheint. Während männliche Heilige dem wilden und reißenden Tier kraft ihres Glaubens zu gebieten vermögen und so einen Wandel in den Absichten und, wie man annehmen darf, auch der innersten Natur des Bären bewirken296, wird Frauen vom Bären geholfen, ohne dass eine solche Domestikaliebe für exotische Tiere. Der Tanzbär war aber natürlich auch stets Ausweis der Überlegenheit über das physisch noch so starke Tier. Bei aller Possierlichkeit blieb er jedoch in seinem Innersten unberechenbar und wild: „Doch werden sie nimmer so gar zahm gemacht/ daß sie jhres Grimmes und wilden Art gäntzlich vergessen: Sondern wann man am wenigsten Acht darauff hat/ dörffen sie einem wol am ehesten eine Tück erweisen.“ (Ebd.) 294 Vgl. PEUCKERT, „Bär (Tier)“, Sp. 898. Interessanterweise heißt es an gleicher Stelle unter Beziehung auf „die alten Rechtsquellen“: „Klöstern war die Unterhaltung der Tiere untersagt.“ 295 Vgl. die von STORL, Berserker und Kuschelbär, 134 ff. aufgeführten Fälle. 296 „Bären, die zum Guten bekehrt waren, [waren] für die Kirche eine hervorragende Reklame, zeugte es doch von Kraft und Stärke der christlichen Religion, wenn selbst der Bär, dieses schädliche Heidenmonster, diszipliniert und gewandelt wird. Alles in allem waren die Bären in christlichen Legenden Instrumente einer recht raffinierten Missionierungs-Kampagne der Kirche.“ TREFF, Bärenstark, 105.
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tion erforderlich gewesen wäre. So wird Richardis zur heilkräftigen Höhle geleitet und Kolumba gerettet, ohne dass eine göttliche Intervention ein eigentlich bösartiges Tier hätte bessern müssen. Bei genauerer Betrachtung prallen in den christlichen Legenden Gegensätze aufeinander, die auch beim Wilden Mann zu beobachten sind: Noch existiert eine Richtung im Christentum, die der Natur eine tief im Innern eingepflanzte Gutartigkeit bescheinigt; dass sich diese eher mit den weiblichen Heiligenviten verbindet, vermag kaum zu verwundern. Durchgesetzt wird aber schließlich das „männliche“ Prinzip der Brechung der bösen Natur durch gottverliehene Kräfte. Der Bär an sich bleibt so im Christentum zunächst ambivalent. Zum einen ist er grundsätzlich ein gefährlicher Gegner, der in der allegorischen Auslegung der Hagiographien wohl oft die zu missionierenden Volksstämme – im Falle des hl. Gallus die wegen ihres Bärenkultes berüchtigten Allemannen – symbolisierte. Einzig die Macht der Kirche vermochte hier eine Verbesserung durchzusetzen. Später, im 17. Jahrhundert, galt der Bär bei den Mystikern als Symbol des Teufels, ja sogar als der Teufel selbst.297 Überliefert sind auch Gebete und Bannsprüche, die Bären fernhalten sollten.298 Man war nachtragend: Zwar hatte der Bär einigen Heiligen gedient – nachdem er ihnen, nebenbei bemerkt, viele Scherereien gemacht hatte –, aber ebenso bereitwillig auch den dunklen Mächten, den Zauberern und Schamanen älterer Zeiten. Wer konnte im Licht des Christentums zweifeln, dass diese dem Teufel selbst hörig gewesen waren? Diese dunkel-dämonische Seite des Bären scheint in der nordischen Mythologie bereits vorgezeichnet, denn hier ist der Bär häufig Monster. Er besetzte die Rolle, die in Zentraleuropa der Werwolf einnimmt.299 Gleichzeitig galt der Bär immer noch als Symbol ausufernder und ungezügelter Sexualität. Was ihm einst Verehrung und Anerkennung, zumindest aber Respekt eingebracht hatte, erschien nun einfach sündig und gegen den Willen Gottes. Dem Bären erging es so wie dem Wolf: Unter dem Strich war die Summe seiner schlechten Eigenschaften größer als die seiner guten. Im Schwarz-Weiß des Mittelalters genügte diese Bilanz: Der Bär musste als böse gelten. Nur so kann man heute verstehen, auf welche nachgerade sadistisch anmutende Art der einstige engste Verwandte des Menschen nun verfolgt wurde.300 Aber ein weiteres Leitmotiv taucht in der mit dem Bären befassten Literatur, in Sagen, Legenden und Märchen, mit beachtenswerter Beharrlichkeit immer 297 298 299 300
Vgl. PEUCKERT, „Bär (Tier)“, Sp. 890. Vgl. STORL, Berserker und Kuschelbär, 143. Vgl. PAPROTH, „Bär, Bären“, Sp. 1200. „Nicht selten band man den lebendig gefangenen Bären auf dem Rathausplatz an einen Pfosten, blendete seine Augen und schlug ihn wund. Verzweifelt versuchte der erblindete Bär, sich gegen die Peitschen und Hunde zu wehren, die ihn piesackten. Das Spektakel diente weniger der Volksbelustigung als der moralischen Erbauung. Der Bär verkörperte Sünde und Teufel. Anschaulich wurde dargestellt, wie ihn sein gerechtes Schicksal ereilte.“ STORL, Berserker und Kuschelbär, 144. TREFF, Bärenstark, 104 f. nimmt an, dass der Landbevölkerung die Verfemung des Bären von Seiten der Kirche durchaus entgegenkam, da sie „im Bären einen Schädling sah, der ihre Herden, Bienenkörbe und Obsternten bedrohte“. Die neue Ideologie legitimierte einen Ausrottungsfeldzug gegen den Bären.
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wieder auf, das des Bärensohns. Der Eintritt in eine solche Eltern-KindBeziehung konnte auf zweierlei Art geschehen: Zum einen durch einen tatsächlichen Geschlechtsakt, aus dem ein Zwischenwesen entsprang, zum anderen durch das Säugen des menschlichen Kindes durch die tierische Amme. Es war wohl die große Menschenähnlichkeit des Bären, die immer wieder die Idee aufbrachte, dass sich dieser und der Mensch in eine Ehe begeben könnten. Und nicht nur dies, aus dieser Ehe sollten sogar Nachkommen erwachsen. Dieser Märchentypus ist weit verbreitet, und so findet man nicht nur einen Ivan Medvieko (Hans Honigesser) in Russland, sondern auch einen Hans Bär oder einen Jean d l’Ours.301 In einem anderen Sinne gab es jedoch weitere Menschen, die sich dem Geschlecht der Bären zurechneten: Die Berserker302, wie sie vor allem in den nordischen, zuweilen auch den germanischen Sagen und Mythen erwähnt werden. Sie waren eine Kriegerbruderschaft303, die sich vom Leben in der Gesellschaft radikal abgewandt hatte, um nur mit Ihresgleichen zu leben; als Kleidung trugen sie nur ein Bärenfell. Dennoch blieben sie ihrem Stamm verbunden, und im Kriegsfall kämpften sie für ihn. Sie lebten „außerhalb des Gesetze der gesitteten Gesellschaft. Sie waren rituell für tot erklärt worden und daher gesetzlos. Und da sie Tote waren, brauchten sie den Tod auch nicht zu fürchten wie gewöhnliche Sterbliche.“304 In der Schlacht kämpften sie ohne weiteren Schutz; nackt, mit wild verfilztem Haar, das Gesicht in der Farbe des Todes – schwarz – angemalt, brüllend und wütend waren sie ohne Zweifel das wenn nicht Effektivste, so doch zumin301 Die Grundbestandteile dieser märchenhaften Geschichten sind immer gleich: „Eine Frau wird im Walde von einem Bären ergriffen und zur Höhle geschleppt, wo er sie ganz wie seine Gattin behandelt, mit Nahrung versorgt und einen Sohn mit ihr zeugt. Nach einigen Berichten ist der Bär ein verzauberter Mensch. […] Der Sohn trägt Spuren seiner Abkunft, ist halb Bär, halb Mensch oder hat Bärenohren. Er heißt Bärensohn, Bärenjunge (Bjarndrengr), Hans Bär, Bärenhansel, Jean de l’Ours, Jean l’Ourson, Gian dell’Orso […]. Mutter und Sohn fliehen nach mehreren Jahren aus der Bärenhöhle, die mit einem schweren Stein verschlossen ist, woran der Junge seine erste Kraftprobe ablegt. Zuweilen wird der Bärenvater vom Bärensohn unwissentlich getötet.“ WOLFGANG GOLTHER, „Bärensohn“, in: Handwörterbuch des deutschen Märchens, hg. v. LUTZ MACKENSEN, Bd. 1, Berlin 1930, 172–174; hier 174. Das hier beschriebene Muster lässt sich bis mindestens ins 11./12. Jahrhundert zurückverfolgen (Björn-Bjarki-Sage). 302 Zusammengesetzt aus ber und serkr (Hemd); ein berserkr ist somit das gleiche wie ein bjarnhedin, ein ‚Bärenhemd‘ (nach demselben Muster existieren in den nordischen Sagas auch die ulfhedin, die ‚Wolfshemden’), oder, wie der heute im Deutschen geläufigere Ausdruck lautet, ein Bärenhäuter, und zwar im selben Sinn, wie die Bezeichnung versipellis bei den Römern gebraucht wurde; vgl. WOLFGANG GOLTHER, „Bärenhäuter“, in: Handwörterbuch des deutschen Märchens, Bd. 1, 169–172, hier 169. Möglicherweise geht die erste Silbe des Wortes jedoch auf eine andere Wurzel zurück, nämlich berr ‚nackt‘ (im Englischen noch als ‚bare‘ erhalten); die Berserker traten ihren Feinden ohne Kettenhemd gegenüber. Gegen diese Theorie spricht aber das häufig als Synonym benutzte ulfhednar; vgl. DAVIDSON, Shape-changing in the Old Norse Sagas, 149. 303 Möglicherweise ist der Begriff aber auch weiter gefasst worden, wie WOLFGANG GOLTHER, Handbuch der germanischen Mythologie, Leipzig 1895, 102 ausführt: „Berserker sind Menschen, die plötzliche Wutanfälle haben. In diesem Zustande gebärden sie sich wie wilde Tiere […].“ 304 STORL, Berserker und Kuschelbär, 125 f.
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dest Furchteinflößendste was die Normannen zu bieten hatten. Man kann sich wohl vorstellen, was in den Bewohnern eines beschaulichen Dorfes – aber auch einem der antiken ars martialis verpflichteten byzantinischen Heer – vorgegangen sein mag, wenn sie plötzlich mit einer solch wilden Horde konfrontiert waren. Der nordische Berserker weist damit in der Wahrnehmung, die seine Gegner von ihm hatten, enge Verbindungslinien zum zentral- und südeuropäischen Werwolf auf.305 Für die Kämpfer selbst aber waren Bär und Wolf zum role model geworden.306 Während die Berserker und ulfhedin ihren Stammesgenossen einen unschätzbaren Dienst erwiesen, wandelte sich das Bild in Friedenszeiten. Denn nun wurde ihnen die Bärenhaut sozusagen vom Kleid zur Unterlage, auf der sie sich ausruhen konnten.307 Sie erfüllten keinerlei gesellschaftliche Aufgaben, bestellten kein Land und lebten damit auf Kosten anderer, was sie kaum beliebter gemacht haben wird. Zugleich war ihre Zügellosigkeit berüchtigt, so dass sie für eine Gesellschaft in Friedenszeiten durchaus zu einem Problem werden konnten; die dörfliche Gesellschaft versuchte daher stets, sie aus dem eigentlichen Kernbereich des sozialen Lebens fern und im Wald zu halten. Man kann annehmen, dass es vor allem unbotmäßige Jugendliche, welche die Gemeinschaft vor Schwierigkeiten stellten, waren, die den Berserkergang beschritten, von älteren Berserkern initiiert wurden und sieben bis neun Jahre von der Gesellschaft getrennt lebten. Danach konnten sie in diese zurückkehren und galten als deren geachtete Mitglieder, die man gern als Vorfahren zitierte. Andere aber schafften diese Reintegration nicht mehr: „Von allen geächtet, entwickelten sie sich zu gemeingefährlichen Werwölfen und -bären, von denen man glaubte, daß sie nach ihrem Tod selbst zu Bären und Wölfen würden […].“308 Dass sich diese Sinnbilder kriegerischer, unzivilisierter Raserei gerade das Bärenfell als Kleidung gewählt hatten, entspringt einem altgermanischen Glauben. Denn die Kraft steckt in den Haaren, und wer „sein Haar nicht schneidet und das Fell eines Bären trägt, der besitzt die Kraft des Raubtieres.“309 Ein Glaube, der keineswegs nur unter den Völkern Nordeuropas verbreitet war, wie die biblische Geschichte von Samson zeigt, jenem unbezwingbaren Nasiräer, den erst die Hinterlist Delilahs seines Haares und damit seiner Kraft beraubte.310 Haare waren es ja auch, die den Bären, bei aller sonstigen Ähnlichkeit, vom Menschen unterschieden; erst wenn man dieses Haarkleid entfernt hatte, lagen die Ähnlichkeiten offen. Daher schien es folgerichtig, anzunehmen, dass hier der Sitz der tierischen Kraft und Wildheit befindlich war.
305 „[D]ie Berserker gleichen den Werwölfen, Menschen, die sich im Wölfe verwandeln und Schaden anrichten. Berserker sind ursprünglich Männer, die als Bären ausfahren“; GOLTHER, „Bärenhäuter“, 169. 306 Vgl. DAVIDSON, Shape-changing in the Old Norse Sagas, 150. 307 In diesem Sinne lässt sich die deutsche Redensart „auf der faulen Bärenhaut liegen“ seit mindestens 1579 nachweisen; GOLTHER, „Bärenhäuter“, 169. 308 STORL, Berserker und Kuschelbär, 128. 309 Ebd., 126 f. 310 Richter, 13–16.
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Konnte unter diesem gewaltigen Berg mythologischen Materials die wahre Natur des Bären überhaupt noch wahrgenommen werden? Oder war der Bär in Mittelalter und früher Neuzeit ein von realistischen Bezügen weitgehend gelöstes Wesen, das im Prinzip einen ähnlichen Status wie Einhorn, Drache und Wilder Mann beanspruchte?311 KONRAD GESNERS Thierbuch, eines der großen Standardwerke der frühneuzeitlichen Zoologie, vermittelt durchaus nicht diesen Eindruck. Sicher, es findet sich noch das obligate Kapitel über „Etliche lustige Historien und Sprüchwörter/ so von dem Bären gekommen sind“312. Aber selbst hier geht es in weiten Teilen weniger um Mythifizierung, als um mehr oder minder Reales: Den Sternenhimmel und die diesen beherrschenden Bärensternbilder, die Stadt Bern mit ihrem Bärengraben. Dennoch finden sich auch das Bärensohnmotiv – hier in Gestalt einer „gemeinen Sage“313 aus Savoyen – und verschiedene antike Legenden zitiert. Die antike Überlieferung durchzieht die Darstellung Gesners ohnedies wie ein roter Faden. Zu einem abschließenden Urteil über die aristotelische Behauptung, die Bärenjungen seien bei der Geburt völlig ungestalt und müssten erst von der Bärin in Form geleckt werden, mag er nicht kommen: Es gebiert auch seiner Grösse nach/ das kleineste Thier/ so ein wenig grösser dann eine Ratten/ und kleiner ist als eine Katz/ […] gemeiniglich viere miteinander/ […] an Füssen und anderen Gliedern den Alten gantz unähnlich/ und anzusehen/ als ob sie jhre Glieder nicht alle hätten/ oder eine Mißgeburt wären: Weßwegen sie jhre Jungen lecken/ und dadurch erst recht formiren […].314
Zwar folgt unmittelbar der Einwand „Dalecampius und Vossius aber legen es besser auß/ und sagen/ daß die jungen Bären wie ein Stück Fleisch außsehen/ weil sie in einer starken Nachgeburt liegen“, dann aber bereits wenige Seiten später der Rückschlag in die antike Tradierung: „am 30. Tag nach jhrer Vermischung/ wirfft sie die Jungen ohn alle Form/ weiß und gestaltet/ wie ein Stück Fleisch/ […] gleich wie ein zusammen gewachsener Eyterstock/ […] und leckt es so klang/ biß ein Bärlein daraus wird.“315 Umso wahrscheinlicher wird diese Vermutung, da der Bär ein „fast flüssiges“316, schleimiges und kaltes Tier sei, was bereits bei der Zeugung zu erheblichen Formationsproblemen führe.
311 „Ours (Hist. nat. des quadrupedes)“, in: DIDEROT & D’ALEMBERT, Encyclopédie, Bd. 11, 715–716, hier 716 bringt das Problem schließlich auf den Punkt: „ Quand on lit des faits si curieux, on est fâché de voir que les auteurs qui nous les racontent, ne se soient jamais souciés de nous apprendre par quels moyens ils sont venus à bout de s’assurer de la vérité de ces faits.“ 312 GESNER, Thierbuch, 36. 313 Ebd., 37. 314 Ebd., 26. 315 Ebd., 30. 316 Ebd., 26.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
Solche Mären sind den Forschern der folgenden Jahrhunderte zunehmend ein Dorn im Auge. So stellt die Encyclopédie, einmal mehr dem Dekret Buffons folgend317, fest: Les ours ne sont pas plus informes dans leur premier âge, que les autres animaux, relativement à la figure qu’ils doivent avoir chacun dans leur espece, lorsqu’ils sont plus avancés en âge.318
Im Kleinen spiegeln sich die vielfältigen Bestrebungen der Aufklärung, zu einem kohärenten Weltbild zu gelangen; wie hätte sich hier ein Tier einpassen sollen, das in der Lage war, seine Jungen in Form zu lecken? Dass sich diese Ansicht offenbar dennoch zumindest bis ins 17. Jahrhundert hinein halten konnte, wenn man nicht sogar die eindringlichen Widerlegungen des 18. Jahrhunderts als Hinweis auf eine noch längere Persistenz werten will, hängt wohl zu einem großen Teil damit zusammen, dass der Bär dem Menschen, und besonders dem gebildeten Mitteleuropäer, kaum mehr begegnete. Denn das Verbreitungsgebiet des Bären war schon im 18. Jahrhundert stark eingeschränkt: Il y a donc des ours dans tous les pays déserts, escarpés, ou couverts; mais on n’en trouve point dans les royaumes bien peuplés, ni dans les terres découvertes & cultivées; il n’y en a point en France, non plus qu’en Angleterre, si ce n’est peut-être quelques-uns dans les montagnes moins fréquentées.319
Als Buffon seinen Beitrag verfasste, befanden sich in Paris, „dans l’établissement où l’on fait au Public des combats d’animaux“320, drei Bären, die er genauer beobachten konnte: zwei aus Savoyen, einer aus der Schweiz. Der Alpenraum, und speziell Savoyen, galt auch tatsächlich als das Hauptverbreitungsgebiet des Braunbären.321 Hier fand die Spezies den Platz, den sie für sich beanspruchte, denn der Bär galt als nicht nur als wild, er war sogar ein absoluter Einzelgänger,
317 […] leurs petits […] ne sont point informes en naissant, comme l’ont dit les Anciens, & qui, lorsqu’ils sont nés, croissent à peu près aussi vite que les autres animaux; ils sont parfaitement formés dans le sein de leur mère, & si les fœtus ou les jeunes oursons ont paru informes au premier coup-d’œil, c’est que l’ours adulte l’est aussi-même pour la masse, la grosseur & la disproportion du corps & des membres; & l’on fait que dans toutes les espèces, le fœtus ou le petit nouveau-né est plus disproportionné que l’animal adulte.“ BUFFON, Histoire naturelle, Bd. VIII, 255 f. 318 „Ours (Hist. nat. Zoolog.)“, in: DIDEROT & D’ALEMBERT, Encyclopédie, Bd. 11, 715. Auch ZEDLER findet die Bemerkung, dass die Jungen „in ordentlicher Bären=Gestalt, und nicht wie ein unförmliches Stück Fleisch auf die Welt kommen, folglich auch nicht erst, wie etliche aus Irrthum meynen, durch das Lecken der Bärin formiret werden“ keineswegs überflüssig. „Bär“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 3, Sp. 114–116; hier 114. 319 BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. VIII, 254. 320 Ebd., 263. 321 Ebd., 253; „Bär“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 3, Sp. 114: „[…] sein Aufenthalt ist auf Gebürgen in denen grösten Dickigten und Wildnisen; GESNER, Thierbuch, 26: „Vornehmlich aber findet man in Teutschland im Alpgebürg/ oder in dem Schweitzerland/ Bären […].“„Ours“, in: DIDEROT & D’ALEMBERT, Encyclopédie, Bd. 11, 715: „[…] ils se trouvent assez communement dans les Alpes […].“
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und damit ein Wesen, dass dem sozialen Leben des Menschen antagonistisch gegenüberstand.322 L’ours est non seulement sauvage, mais solitaire; il fuit par instinct tout société, il s’éloigne des lieux où les hommes ont accès, il ne se trouve à son aise que dans les endroits qui appartiennent encore à la vieille Nature; une caverne antique dans des rochers inaccessibles, une grotte formée par le temps dans le tronc d’un vieux arbre, au milieu d’une épaisse forêt, lui servent de domicile; il s’y retire seul […].
Er entsprach damit verblüffend genau dem Schema, das auch auf den Wilden Mann und den Eremiten angelegt wurde, und die Art und Weise, wie Buffon hier die Natur malt, scheint die romantischen Gemälde eines Caspar David Friedrich bereits verbal vorauszuahnen. Diese Lebensweise des Bären, mochte sie nun positiv oder negativ bewertet werden, schuf für die frühneuzeitliche Zoologie ein gewaltiges Problem: Hier existierte, in erreichbarer Nähe, ein großes und sagenumwobenes Tier, das zudem – wie wir noch sehen werden – für den Menschen von großem Nutzen war; allein, die Beobachtung desselben schien unlösbare methodische Anforderungen zu stellen, und selbst Buffon musste zähneknirschend eingestehen, dass man die 30 Tage, welche die Bärin nach Aristoteles nur trächtig sei, bislang weder verifizieren noch falsifizieren haben können.323 Noch konfuser wird die Sachlage, wenn man die verschiedenen Ansichten über unterschiedliche Bärenarten berücksichtigt. Moderne zoologische Werke bestätigen für Europa nur die Existenz einer einzigen Bärenart, nämlich ursus arctos, des Braunbären. Lediglich an den äußersten Rändern, vor allem in Grönland, kommt auch der Eisbär, ursus maritimus, vor. Der Schwarzbär, ursus americanus, ist nur in Nordamerika heimisch, während der Sonnen- oder Malaienbär, Helarctos malayanus, in den tropischen Regionen Süd- und Südostasiens zu finden ist. Man kann guten Gewissens davon ausgehen, dass sich diese Situation im historisch überschaubaren Zeitraum nicht geändert hat. In Zentraleuropa konnte bereits der neolithische Mensch nur noch den Braunbären antreffen. Umso mehr erstaunt die Liste, die Gesner unter der Überschrift „Wo und wie vielerley Bären zu finden“ dem Leser präsentiert: Ob gleich der Bär ein gemeines Thier ist/ sind doch desselbigen vielerley Arten/ und werden auch an unterschiedlichen Orten gefunden/ als Seinbär/ Schlagbär/ Hauptbär/ Fischbär/ Ymbär/ Omsbär/ Obstbär/ und ist doch alles fast ein Thier/ ausserhalb der Farb und Nahrung so es braucht.324
Hier wird offenbar, wie verwaschen der Artbegriff noch im 17. Jahrhundert gefasst ist. Denn die aufgeführten Bärenarten sind dies im heutigen Verständnis keineswegs. Die Bezeichnung kann dem Habitat des Tieres entlehnt sein, wie die des „Seinbären“, der wohl eigentlich ein „Steinbär“ ist, wie der weitere Verlauf des Textes klarmacht, und so auf seinen Lebensraum, das „Alpgebürg“ oder 322 BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. VIII, 254. 323 Ebd., 256: „L’on a vû des ours captifs s’accoupler, & produire; seulement on n’a pas observé combien dure le temps de gestation.“ 324 GESNER, Thierbuch, 26.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
„Schweitzerland“ verweist. Zum anderen findet hier die Nahrung der Tiere Berücksichtigung: „Fischbär“, „Omsbär“ (Ameisenbär) und „Obstbär“ gehören in diese Kategorie, mit Einschränkungen auch der „Schlagbär“, der so heißt, weil er andere Tiere schlägt. Aber auch Besonderheiten der Anatomie finden Berücksichtigung, wie der „Hauptbär“ zeigt, der seinen Namen wohl der übermäßigen Größe seines Kopfes verdankt. Gesner weiß aber auch von Bären zu berichten, die in fernen oder auch mythischen Ländern verbreitet seien. So gehört der bereits in der Liste enthaltene „Omsbär“ nach Indien, während in Island weiße Bären vorkämen, die mit ihren Pranken das Eis aufbrächen und Fische fräßen; diese Art finde man auch in „Wossen/ oder Bosnia/ Syrfien/ Rätzen/ Sogocien und Bulgarien. Item in Indien bei den Baccalaoten.“ Und auch in „Morenland/ da Priester Johann regieret/ ist auß desselben Schreiben zu ersehen/ daß weisse Bären darinnen sind.“ Die „grimmigsten Bären/ so zu finden/ […] seyen in Persien.“325 Ganz am Ende des Abschnitts taucht dann noch eine Art auf, die, sieht man sie im weiteren zeitlichen Zusammenhang, von besonderer Bedeutung ist: Eine andere Art ist/ so allein dem Obst gefährlich/ sonst aber nit schädlich ist/ und von einem Ort zum andern wandelt/ die heissen Wandel= oder Obstbären/ sind nit so groß wie die andern/ etwas forchtsamb/ ohn allen Grimm/ man beleidige sie dann.326
Denn hier scheint nun doch eine im heutigen Sinne andere Art, mit deutlichen morphologischen und ethologischen Eigentümlichkeiten, skizziert zu werden. Man könnte diese Merkwürdigkeit schulterzuckend links liegen lassen, fände man nicht beim bekanntesten Naturhistoriker des 18. Jahrhunderts ein merkwürdiges Echo. Denn auch Buffon machte sich Gedanken darüber, wie er die vielen Berichte, die ihm über Aussehen und Verhalten vorlagen, in eine Form bringen konnte. Seine Antwort auf die mannigfaltigen Beobachtungen, die sich teils so sehr zu widersprechen schienen: Es gibt nicht den Bären, sondern tatsächlich eine Fülle verschiedener Bären – was Buffons nominalistische Grundannahme bestens exemplifiziert.327 Zum einen gelte es zu unterscheiden zwischen dem Eisbären (ours blanc, ours de la mer glaciale) und den erdbewohnenden Bären (ours terrestres): „[…] ce sont deux animaux très-différens, tant pour la forme du corps, que pour les habitudes naturelles […]“328, also tatsächlich verschiedene Spezies in unserem Verständnis. Darüber hinaus aber, und nun wird die Sache in Hinblick auf Gesner interessant, müsse man auch die ours terrestres weiter unterscheiden, um für die Beobachtungen verlässlicher Zeugen aufkommen zu können329: […] ensuite il faut distinguer deux espèces dans les ours terrestres, les bruns & les noirs, lesquels n’ayant pas les mêmes inclinations, les mêmes appétits naturels, ne peuvent pas être 325 326 327 328 329
Ebd., 27 Ebd. Zu Buffon vgl. generell Kap. 4.1.1. BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. VIII, 248. Einigen anderen Beobachtern trat Buffon ohnehin bereits sehr zweifelnd gegenüber. Wormius’ Bericht aus Norwegen etwa, der von drei unterschiedlichen Bärenarten berichtet, die sich jedoch untereinander vermischten, trifft schon im Vorfeld der Bannstrahl des Gelehrten: „[…] la plupart de ces faits rapportés par Wormius me paroissent fort équivoques […].“ BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. VIII, 252.
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regardés comme des variétés d’une seule & même espèce; mais doivent être considérés comme deux espèces distinctes & séparées. […] On trouve dans les Alpes l’ours brun assez communément, & rarement l’ours noir, qui se trouve au contraire en grande nombre dans les forêts des pays septentrionaux de l’Europe & de l’Amérique. Le brun est féroce & carnassier, le noir n’est que farouche, & refuse constamment de manger de la chair.330
In Europa existieren also zwei ganz verschiedene Unterarten. Die eine entspricht in der Beschreibung unserem Braunbären, auch wenn dessen Gier nach Fleisch übertrieben wird. Bleibt die zweite, die schwarze Art, über deren Verbreitung sich Buffon nicht ganz schlüssig zu sein scheint. Außer Frage steht nach Quellenlage für ihn, dass sie in Nordamerika heimisch ist. Aber darüber hinaus? Zögerlich ist ja zunächst davon die Rede, man fände auch in den Alpen „rarement l’ours noir“. Beweggrund für diese Hintertür, die sich Buffon offen hält, ist wohl eine Bemerkung du Pratz’, der aus einer sicheren Quelle erfahren hatte, dass es auch in Savoyen zwei verschiedene Arten von Bären gebe, „les uns noirs, comme ceux de la Louisiane, qui ne sont point carnassiers; les autres rouges, qui sont aussi carnassiers que les loups.“331 Bereits einige Zeit zuvor hatte sich Zedler desselben Problems angenommen. Auch er gliederte bereits den Eisbären, den er wie Buffon wohl nur aus Erzählungen kannte, aus, konnte aber ebenso wenig auf eine weitere Untergliederung verzichten: Man findet unterschiedliche Gattungen von diesen Thieren, welche nach Verschiedenheit derer Länder an Grösse und Farbe sehr unterschieden sind; Es sind aber die bekanntesten sonderlich zweyerley: die eine Art ist groß, welche an etlichen Orten, als: in Preußen und Litthauen, groß und lang sind, andere hergegen sind braun und ziemlich grosser Art, wie in Pohlen; diese sind schlechter als die ersten, und zerreissen alles, was fleischigt ist, nicht nur in der Satz=Zeit die Wild=Kälber, sondern auch das gefallene Wild und zahm Vieh, gestorben Aas und Luder, haben dunckelbraune Haare, sind auch sehr grimmig auf die Menschen. Die andere Art ist viel kleiner, kurtz und dicke, werden Zeidel=Bäre genennet, weil sie das Honig zeideln. Sie klettern auf die Bäume, und sind lichtbraun an der Farbe, denen Menschen fügen sie leichtlich keinen Schaden zu, wenn sie nicht böse gemachet werden.332
Bei Zedler wird auf keinerlei eingeschränkte regionale Verbreitung der einen oder der anderen Art hingewiesen; beide scheinen an denselben Orten vorzukommen. Ebenso wie Buffon zieht auch Zedler den entscheidenden Trennstrich auf der ethologisch-nutritiven Ebene: auf der einen Seite der grimmige, fleischfressende, viehreißende und den Menschen bedrohende Bär, auf der anderen Seite der beschaulich-putzige „Zeidelbär“, der vegetarisch lebt, eine große Vorliebe für Honig 330 Ebd., 248 f. Hinzu komme noch eine weiße Spezies von Landbären, die man etwa in der Tartarei und Litauen fände; allerdings scheine es Mischformen zwischen diesen weißen und braunen Bären zu geben, womit man ihnen den Status einer eigenen Art wohl absprechen müsse. Diese Sonderform spielt in den weiteren Betrachtungen Buffons dann auch keine weitere Rolle mehr. 331 Ebd., 251. Rouges meint in diesem Zusammenhang dasselbe wie bruns; auch Buffon selbst changiert zuweilen in seiner Farbzuweisung, meint jedoch immer dieselbe, nicht-schwarze Art. 332 „Bär“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 3, Sp. 114.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
entwickelt und für den Menschen keinerlei Gefahr darstellt. Soweit, so übereinstimmend. Dies gilt jedoch nicht für die Farbzuweisung: Während der friedliche Bär Buffons eine schwarze Färbung aufweist, ist der Zedlers eher heller als sein reißender Vetter. Wie lassen sich diese Widersprüchlichkeiten erklären? Im Falle Buffons scheint die Antwort leicht zu sein: Unzureichendes Quellenmaterial und nur im Rahmen der nominalistischen Prämisse verständliche Analogisierung. Denn während du Pratz eine durchaus treffende Beschreibung des amerikanischen Schwarzbären liefert, folgert der französische Naturgeschichtler, dass die Bären Nordeuropas, denen ein ähnliches Verhalten zugeschrieben wurde, wohl zur selben „Art“ gehören müssten. Wie die Anmerkungen zeigen, war Buffon auch mit dem älteren zoologischen Material, einschließlich dem Gesners vertraut, das wiederum zum größten Teil ein Konglomerat antiker Quellen und an den Kompilator herangetragener oder von diesem in Literaturrecherche erarbeiteter Fallberichte darstellte. Buffon war, all seinen methodischen Forderungen zum Trotz, auf diese Art Material angewiesen; wie hätte er auch aus dem Nichts heraus eine Feldforschung zum Thema „Bären in Europa“ organisieren sollen.333 Zwei verschiedene – aber doch auch ähnliche – Arten von Bären anzunehmen erschien als logischer Weg, denn nun konnte man für die Vielzahl der unterschiedlichen Beobachtungen unproblematisch aufkommen.334 Das eigentliche Problem lag im äußerst ambivalenten Verhalten des Bären selbst begründet. Dieser, realiter Allesfresser wie der Mensch und schon von daher mit einem höchst komplexen Verhaltensmuster gesegnet, schien schlicht die neuen Normen und Kategorien der sich gerade entwickelnden Naturwissenschaften zu sprengen. Wie konnte man tatsächlich annehmen, dass ein- und dasselbe Tier friedlich Beeren kauen und Honig schlecken, anderntags aber Vieh reißen würde? Woher sollte man wissen, dass Jungtiere des Braunbären noch ausgezeichnete Kletterer sind, diese Fähigkeit aber im Laufe der Zeit verlieren? Blieb schließlich die nochmals ganz andere Seite des Bären, die dieser als Tanzbär zeigte: zu Intelligenzleistungen fähig und kaum bedrohlich, aber dennoch für den Bändiger eine ständige Gefahr. In einer Zeit, in der die Debatte über das richtige System zur Einteilung der Natur ihrem Höhepunkt zusteuerte, war der Bär ein höchst undankbares Untersuchungsobjekt. Die Beschreibungen, die vor allem von Buffon unternommen wurden, zeugen davon. Denn er, der Naturhistoriker, der ja im Gegensatz zu Linné eben kein künstliches System entwickeln wollte, mochte die Überlieferungen über die Bären durchaus für einen Beleg seiner Kernthese 333 Im Übrigen ist überhaupt nicht sicher, ob eine solche Forschung bessere Resultate erbracht hätte. Noch heute fehlen der Zoologie überraschend viele Basisdaten. 334 Die Systematik der Bärenartigen, Ursidae, ist bis heute nicht gänzlich geklärt; vgl. ELMAN, Bären, 26. Braunbär und Schwarzbär, die beide in Nordamerika vorkommen, sind tatsächlich unter Umständen nur schwer zu unterscheiden; dies vor allem aufgrund der großen Variationsbreite der Fellfarben. So können Schwarzbären durchaus eine hellere Farbe aufweisen als Braunbären; ebd., 74. Ethologische Merkmale gehören auch heute noch zu den sichersten: so klettern Schwarzbären sehr viel besser als – ausgewachsene! – Braunbären; vgl. SAVAGE, Bären, 58 f.
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halten: Gerade die erstaunliche Differenzierung zeigte, dass der Naturforscher sich eigentlich stets der Tatsache bewusst sein musste, eine enorme Anzahl individueller Wesen vor sich zu haben, die sich keineswegs anhand weniger Scheidekriterien taxonomisch erfassen ließen.335 Nun erschöpften sich die Beiträge der Zoologen nicht in Diskussionen über die richtige Systematik. Viel wichtiger als diese ist die große Menge an Beobachtungen, die zusammengenommen ein zwar diffuses, aber letztlich vielleicht nicht weniger lebendiges Bild des Bären ergaben. Hervorstechend erschien etwa die Sorge der Bärenmutter um ihre Kinder: Während dem männlichen Bären Kannibalismus unterstellt wurde, war sie der entscheidende Schutz ihrer Kinder: […] le mâle dévore en effet les oursons nouveaux nés, lorsqu’il les trouve dans leur nid; mais les femelles semblent au contraire les aimer jusqu’à la fureur: elles les défendent, & sont alors plus féroces que les mâles.336
Noch bedrohlicher als der männliche Bär erschien aber der Mensch, und auch gegenüber diesem bewährte sich die Furchtlosigkeit, ja die geradezu biblische Wut der Mutter: Grosse Liebe trägt sie zu jhren Jungen: Dann wann sie dieselben anführt zu weyden/ und sie von dem Jäger überrumpelt wird/ treibt sie die Jungen vor jhr her/ und mahnet sie zum Fliehen/ können sie/ so tragen sie selbige gar von dannen/ eines auf dem Rücken/ das andere im Rachen/ und fliehen auf die hohe Bäume mit jhnen. Ja alles was jhnen möglich/ thun sie zum Schutz und Auffenthalt jhrer Jungen. Ja sie wird gantz rasend/ so jhnen etwas begegnet/ oder so sie jhr gefangen werden. Weßwegen unser HErr Gott/ der die Sünden des Volcks Israel durch Oseam den Propheten zu strafen geträuet/ sagt: Ich will sie anfallen/ wie eine Bärin/ deren jhre Jungen geraubet worden.337
Aber nicht nur die physische Verteidigung gegenüber Todfeinden zeichnete die Bärin aus. Darüber weit hinausgehend war sie imstande, die lange Zeit unselbständigen Jungen liebevoll zu umhegen.338 Und nicht nur dies, auch die Art und Weise, wie die Bärin mit ihre Jungen säugte – nämlich „vorwärts nach dem Brust=Kern zu mit zweyen Gesäugen, gleich einem Weibs=Bilde“339 – war im Tierreich einzigartig. Hier wird das bis dahin Unterschwellige doch noch greifbar – derartige Schilderungen mussten an den Menschen erinnern, ja ihm ein Ideal vor Augen halten, das sich angeblich erst während des 19. Jahrhunderts entwickelte: die sorgende und alle Gefahren verachtende Mutterliebe. Aber nicht nur als Moralallegorie war der Bär den Menschen der Frühen Neuzeit von Nutzen. Sein Körper wurde bemerkenswert umfassend verwertet, wie
335 Zu den grundsätzlichen Positionen der Befürworter eines natürlichen und eines künstlichen Systems vgl. ILSE JAHN, Grundzüge der Biologiegeschichte, Jena 1990, 238 f. und pass. 336 „Ours“, in: DIDEROT & D’ALEMBERT, Encyclopédie, Bd. 11, 715. Die Passage ist praktisch wörtlich BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. VIII, 255 entnommen. 337 GESNER, Thierbuch, 30 f. 338 „[…] il paroît que la mère a le plus grand soin de ses petits; elle leur prépare un lit de mousse & d’herbes dans le fond de sa caverne, & les allaite jusqu’à ce qu’ils puissent sortir avec elle.“ BUFFON, Histoire Naturelle., Bd. VIII, 257. 339 „Bär“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 3, Sp. 115.
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Gesner in beeindruckender Länge auflistet.340 Das Fleisch war aufgrund seiner Öligkeit zwar wenig beliebt, aber notfalls doch essbar; eine echte Delikatesse waren jedoch die Bärentatzen. Viel wichtiger und geradezu ein Universalheilmittel war das Bärenschmalz. Es schien medizinisch indiziert nicht nur bei Haarausfall – ein Leiden, zu dem ausführlich mehrere Kurmöglichkeiten angeführt werden –, sondern auch bei dem „Geschwär hinder den Ohren“, Genickschmerzen, „wider die rumpelnde Winde oder Dünste im Bauche“, Lendenweh, lahmen Gliedern, dem podagrischen Leiden und sogar „Augliedern/ welchen die Brauen außgefallen“. Die Bärengalle „hat fast eine gleiche Kraft mit der Geissen= und Stier=Gallen“, was bedeutete, dass sie ebenfalls gegen Haarausfall und Gicht, aber auch gegen Erkältungen, Zahnweh, Gelbsucht, Fallsucht, Erfrierungen und sogar Aussatz, Krebs und Lähme Anwendung fand. Das Hirn galt als giftig und wurde deshalb nur in Zaubermitteln benutzt; hier war es dann allerdings unverzichtbar. Das rechte Auge des Bären – „gedörrt/ und den Kindern angehenckt“ – vertrieb bei diesen die Angst vor der Dunkelheit, aber auch Fieber, die Hoden halfen wiederum bei Fallsucht, die Bärenmilch gegen Ohrenschmerzen, die Bärenhaut gegen die Tollwut. Letztere diente den Lappen auch als Kleidungsstück: „daher jhrer viel vermeynt/ sie wären so wilde und gantz haarige Leute.“341 Für einen letzten Verwendungszweck des Bärenfettes sogar besteht bis heute kein befriedigender Ersatz, bestimmt aber ein riesiger Markt: „Wann sich jemand mit Bärenschmalz/ das zerlassen ist/ im Angesicht schmieret/ so sagt Rasis, daß er alles/ was er liest oder höret/ wol verstehen und erörtern könne.“342 Diese keineswegs vollständige Aufzählung spricht Bände, was die Bedeutung in Medizin und Volksaberglauben angeht. Kaum ein anderes Tier wurde in einer solchen Vollständigkeit für so viele unterschiedliche Zwecke genutzt. Wo die Wurzeln all dieser Vorstellungen liegen, wäre wohl eine eigene Studie wert: Einige, wie die Wirksamkeit gegen Haarausfall, leuchten aufgrund der Gestalt des Bären sofort ein, andere, wie die Wirksamkeit des rechten Auges gegen die Furcht vor der Dunkelheit, bleiben dunkel. Der enorme Heilwert des Bären erklärte sich womöglich auch dadurch, dass dieser die Wirkungen von Heilkräutern speichern konnte, denn er wusste, ebenso wie der Wilde Mann, um die spezifischen Heilkräfte der Pflanzen und Tiere.343 Eine ganze Reihe von Kräutern – Bärwurz, Bärlapp, etc. – trägt seinen Namen, und man darf annehmen, dass man sich von diesen ähnliche Heilwirkungen erwartete. Nur am Rande sei erwähnt, dass Gesner berichtet, abgerichtete Bären würden auch zu Arbeiten eingesetzt, die ansonsten die klassischen Nutztiere verrichteten.344 Die Kenntnis des medizinischen Wertes erhielt sich bis ins 18. Jahrhundert. Zedler erwähnt verschiedene Einsatzmöglich340 GESNER, Thierbuch, 33, „Was vom Bären gutes zu nutzen“. Die folgenden Aufzählungen finden sich auf den Seiten 33–35. 341 Ebd., 35 342 Ebd. 343 Ebd., 28: „So er verwundet wird/ alsdann sucht er Kräuter/ die truckner Krafftt sind/ und heilet sich darmit.“ 344 Ebd.: „Bißweilen lernen sie Brunnen ausschöpfen durch einen Kran/ oder Ziehrad/ wie auch Steine an hohe Gemäur aufziehen […].“
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keiten von Bärenfett, -galle und –augen345 und auch Buffon bestätigt, dass man sich des Fettes, dessen Herstellung er im übrigen detailliert beschreibt, zu verschiedenen Heilzwecken, „comme de topique pour les hernies, les rhumatismes, &c.“346, bediene.
„M. Perrault fit enlever la peau d’un ours, et le fit graver dans cet état pour faire voir la vraie forme du corps de cet animal.“ BUFFON, Histoire naturelle, Bd. VIII, 266. Abbildung ebd., Pl. XXXIII, 280. Universitätsbibliothek Braunschweig.
Eines jedoch geht den Quellen der Neuzeit zunehmend verloren: die offene Herstellung eines Bezuges zwischen Bär und Mensch. Zwar trieft die Ähnlichkeit geradezu aus allen Poren der Beschreibungen, aber die Autoren hüten sich in der Regel347, solche Beobachtungen explizit anzuführen. Im Gegenteil, man bemüht sich nun nach Kräften, das Offenkundige zu relativieren.348 Oberflächlich betrach345 346 347 348
„Bär“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 3, Sp. 115. BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. VIII, 261. Eine seltene Ausnahme stellt das Zedler-Zitat zur Art des Säugens dar. „[…] ces ressemblances grossières avec l’homme, ne le rendent que plus difforme, & ne lui donnent aucune supériorité sur les autres animaux.“ BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. VIII, 262.
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tet verschwindet der Mensch als Vergleichsobjekt im 18. Jahrhundert zunehmend; noch bei Gesner ist er jedoch vorhanden. Bärentatzen sind „wie menschliche Händ und Füß gespalten“349, der Bär ist kein besonders schneller Läufer, weil er „wie der Mensch seine Gelenck und Gleychwürbel hinder sich lencket“.350 Und welches andere Tier „gehet […] auf seinen hindern Füßen aufrecht“?351 Offenbar greift hier ein Verdrängungsmechanismus: Eine zu große Nähe zum Tier konnte und wollte die große Mehrheit im 18. Jahrhundert nicht akzeptieren. Daher der Skandal, den Linné mit seiner Einordnung des Menschen unter die Tiere auslöste, daher die beharrliche Weigerung Buffons, den Menschen in sein zoologisches System zu integrieren. Man darf sich aber wohl sicher sein, dass das Interesse unausgesprochen weiter bestehen blieb, und es wäre interessant zu wissen, ob Buffon und seine Mitarbeiter jene russischen und sibirischen Erzählungen kannten, die behaupteten, der Bär gleiche unter seinem Fell einem Mädchen. Denn scheinbar wurde – siehe das Kupfer aus Buffons Histoire Naturelle – der Versuch unternommen, dies nun „wissenschaftlich“ zu verifizieren; jedenfalls interessierte noch immer, was sich unter der Bärenhaut verbergen mochte. Der Bär präsentierte sich so schon im 18. Jahrhundert von einer ebenso widersprüchlichen Seite wie heute. Denn auch wenn Gesner mehrere Seiten füllt, wenn es darum geht, den Nutzen des Bären zu beschreiben, bleibt dieser ein in moralischer Hinsicht zweifelhaftes Tier: Der Bär ist ein falsches und unverschämtes Thier/ das so ungeschickt und tölpisch ist/ daß jhm niemand/ wegen seiner Unverschämigkeit trauen darff/ sintemal er in närrischer Weiß und im Vexiren tückischer ist/ als man sich zu jhm versiehet. […] Dem Bären traue nit.352
Die behäbige Gestalt des Bären konnte leicht über dessen Gefährlichkeit hinwegtäuschen; ein Wahrnehmungsfehler des Menschen, der dem Tier als Falschheit angelastet wurde. Für die auf der Sommerweide befindlichen Herden des Alpenraumes war er eine stete Bedrohung353, und auch auf anderem Gebiet erschien der Bär – oder besser: die Bärin – letztlich doch nicht so vorbildlich. Der Bär ist auch ein unkeusches und ein geyles Thier/ bevorab das Weiblein/ dasselbe reitzet stäts/ bey Tage und bey Nacht das Männlein zu der Liebe an. Und dieweil kein wildes Thier sein Weiblein mehr besteigt/ wann es trägt so befleist sich die Bärin/ wann sie vermerckt/ daß sie geladen hat/ die Frucht im Leib umzubringen/ und von jhr zu werffen/ damit sie wieder mit jhrem Männlein jhres Willen pflegen möge. […] Sie reiten auch nicht/ wie sonst vierfüssige Thiere/ sondern sie umbsahen einander wie die Menschen/ das Weiblein das oben aufliegende Männlein am Rücken.354 349 350 351 352 353
GESNER, Thierbuch, 26. Ebd. Ebd. Ebd., 28. Ebd., 31. Insofern erklärt sich auch der breite Raum, welcher der Beschreibung des Bärenjagd in den Quellen zugewiesen wird.Überdies galt es als besonderer Ausweis männlicher Stärke, allein einen Bären erlegt zu haben; ebd. 354 Ebd., 30. Die Vorstellung des wie beim Menschen vollzogenen Liebesaktes lässt sich bis Plinius zurückverfolgen, und auch ZEDLER („Bär“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon., Bd. 3, Sp. 115) berichtet nach von ihr. Buffon wandte sich schließlich gegen diese Behauptung, und die
2.4. Ein Prototyp? Der Wilde Mann
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Wiederum zeigt sich hier der Umschlag, was die Anthropomorphisierung des Bären angeht. Noch Zedler – und erst recht Gesner – scheute sich nicht, dem Bären einen „menschlichen“ Liebesakt zuzugestehen. Wenn aber diese intimste Umgangsform des Menschen vom Bären geteilt wurde, wenn schließlich auch das Säugen der Jungen so große Parallelen aufwies, wie nahe stand dann dieses Tier dem Menschen? Von hier betrachtet erscheint Buffons Ringen um sicherere und genauere Fakten, seine Ablehnung anthropomorphisierender Behauptungen eher als ein Kampf um die Aufrechterhaltung eines angemessenen Abstandes als zur Herstellung eines möglichst wirklichkeitsgetreuen Bildes. Konnten sich Mensch und Bär vermischen? Diese Frage wurde, obgleich mit dem Aufschwung der epigenetischen Zeugungstheorie zu neuer Aktualität gelangend, von der Mehrheit der Gelehrten des 18. Jahrhunderts bereits belächelt. Bestand eine metaphysische Seelenverwandtschaft? Eine solche interessierte eine zunehmend empirisch verfahrende Naturkunde kaum mehr. Konnte ein Bär ein kleines Kind ernähren? Dies war noch lange eine sehr viel delikatere Frage, die zumindest bis Buffon nur schwerlich mit Bestimmtheit verneint werden konnte; denn dazu schienen das beobachtete Verhalten der Bärin und der menschlichen Mutter zu ähnlich. 2.4. EIN PROTOTYP? DER WILDE MANN Wolf und Bär determinierten so bis zu einem gewissen Grade die Wahrnehmung der Wilden Kinder, die Eigenschaften und Fähigkeiten, aber auch Mängel dieser Tiere übernehmen konnten. Doch letztlich blieb die Grenze zwischen Mensch und Tier, so unscharf sie auch im Einzelfall gewesen sein mag, ein schwer zu überwindendes Hindernis. Die Kinder, die man nach, wie man annahm, langer Zeit im Wald fand, zeigten zwar einige Verhaltensauffälligkeiten, die an die tierischen Stiefeltern erinnern mochten; äußerlich aber ließ sich nicht abstreiten, dass man es hier eben nicht mit einem Wolf oder einem Bären, sondern einem allenfalls leicht von der Norm abweichenden Menschen zu tun hatte. 2.4.1. Attribute der Wildheit Andererseits: Einen gewöhnlichen Menschen, das sah man deutlich, hatte man hier nun auch nicht vor sich. So war es kein Wunder, dass, bewusst oder unbewusst, immer wieder auf Wesen rekurriert wurde, die in der Mythologie, vor allem aber der darstellenden Kunst des Mittelalters ihren festen Platz hatten, den Wilden Mann und die Wilde Frau.355 Portale und Säulenkapitelle gotischer KaEncyclopédie (Bd. 11, „Ours“, 715) echote: „[…] on prétend que la femelle est plus ardente que le mâle, & qu’elle couche sur le dos pour le recevoir, &c. Mais il est plus certain que ces animaux s’accouplent à la maniere des autres quadrupedes.“ 355 In der Folge wird in der Regel, den Konventionen der Sekundärliteratur entsprechend, vom Wilden Mann gesprochen werden; seine Begleiterin ist dabei häufig mitgemeint. Andererseits belegt die Wilde Frau einen durchaus eigentümlichen Platz in der Volksmythologie; hier ist
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
thedralen, Handschriften, schließlich frühe Schnitte und Drucke – die Figur war bis ins 16. Jahrhundert hinein ubiquitär.
Wilder Mann, in: Ballade d’un home sauvage (Frankreich, ca. 1500) BnF, Paris, Ms. fr. 2366, fol. 3v.
BARTRA356 versucht sich in der sicherlich bedeutendsten Gesamtdarstellung seit BERNHEIMERS Wild Men in the Middle Ages357 an einer Ethnographie des Wilden Mannes358, die einen hervorragenden Überblick über dessen gedachtes äußeres Erscheinungsbild und seine charakterlichen Eigenarten verschafft. Körperlich betrachtet musste man den Wilden Mann zweifelsohne zu den Menschen zählen. Bis auf eines: das Haar, das ihn wie das Fell eines Bären oder Wolfes bedeckte. Es verhüllte den gesamten Körper mit Ausnahme des Gesichtes, der Hände, der Füße, der Ellenbogen und der Knie. Alternativ existierte die Vorstellung, der Wilde Mann sei von fahl-weißer Hautfarbe und habe nur ausnehmend langes Kopfhaar und einen fast das ganze Gesicht bedeckenden Bart – in dieser Version verfügte er über alle typischen äußerlichen Merkmale des Europäers, insbesondere auch eine schmale Nase und dünne Lippen.359 Seine Größe konnte je nach Kontext beträch-
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sie ein klar unterschiedenes Wesen mit einer oft großen erotische Konnotation, wie etwa die Rauhe Else des Wolfdietrich. ROGER BARTRA, Wild Men in the Looking Glass: The Mythic Origins of European Otherness, Ann Arbor 1994. RICHARD BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages. A study in art, sentiment, and demonology, Cambridge (Mass.) 1952. BARTRA, Wild Men in the Looking Glass, 85 ff. Vgl. ebd., 88.
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tlich variieren. Meist zeigen die Darstellungen einen stattlichen, keineswegs aber gigantischen oder monströsen Körper; nur selten wurden die Wilden Männer auch als Zwerge oder Riesen gedacht. Außerdem unterschied sich die Fortbewegungsart unter Umständen von der menschlichen: Sie wurde in vielen Fällen als quadruped gedacht, ein sicheres Anzeichen für die Nähe zur Tierwelt. In der Hand hält er oft einen großen Stock, manchmal auch einen ganzen Baumstamm. Alles an ihm signalisiert urwüchsige Stärke und Kraft. Als Lebensraum dieses bemerkenswerten Wesens galt in Europa der Wald. Eine Vielzahl realer und mythischer Tiere, Bär, Wolf und Einhorn, begleiten es auf den bildlichen Darstellungen. Der Wilde Mann war ein Bestandteil dieser Natur, die der mittelalterlichen Kultur streng opponierend gegenüberstand; er konnte schon allein deshalb nicht als ein normaler Mensch aufgefasst werden. Die widrigen Bedingungen seiner Lebenswelt machten ihm nichts aus. Im Gegenteil, die dichte Behaarung schützte ihn ebenso gut wie die Tiere vor den Unbillen des Wetters. Überhaupt das Wetter: Weit verbreitet war die Annahme, dass der Wilde Mann am glücklichsten sei, wenn es regne und stürme. Denn sein Gemütszustand war nicht von der gegenwärtigen Situation bestimmt, sondern von der Zukunft; regnete es also, konnte er hoffen, dass die Sonne bald wieder scheinen würde und umgekehrt. Aus welchen Quellen sich diese Vorstellung speiste, bleibt offen; jedenfalls aber zeigt sie sich kongruent mit den angenommenen hellseherischen Fähigkeiten des Wilden Mannes. Der Wilde Mann war der mittelalterlichen Gesellschaft aber auch stets Symbol bedrohlicher oder erwünschter sexueller Triebhaftigkeit – die beiden Haltungen gingen wohl meist ein schwer zu entwirrendes Konglomerat ein. Zwar wurden vorwiegend Frauen zu Opfern, aber auch Männer konnten zu sexuellen Objekten degradiert werden, wenn Wilde Frauen ein Auge auf sie geworfen hatten. Deren abscheuliche Hässlichkeit machte ein solches Schicksal dabei sicher nicht erstrebenswerter. Oft hatten diese daher die Macht, sich zur Täuschung zu schönen; umgekehrt zeigt das Wolfdietrich-Epos, wie sich die hässliche Rauhe Else am Ende in eine wunderschöne Frau verwandelt. Eine solch lüsterne Veranlagung konnte dem Seelenheil nicht eben zuträglich sein. Da man andererseits die Figur klar von übernatürlichen Mächten wie incubi oder succubi trennte, die ebenfalls für ungewollte Schwangerschaften verantwortlich gemacht wurden, war das angebrachte Gegenmittel gegen eine solche Art der Belästigung nicht der Exorzismus, sondern physische, ritterliche Stärke, welche die Kräfte der rohen Natur zu besiegen wusste. In den mittelalterlichen Romanen ist der Wilde Mann aber nicht nur Opponent des Ritters, sondern verkörpert auch dessen dunkle Seite – Eigenschaften, die das höfische Zivilisierungsbestreben einer strengen Zucht unterworfen hatte, die aber nichtsdestotrotz unabdingbare Voraussetzungen für den Erfolg im Kampf zu sein schienen. Insofern zeigte die Überwindung des Wilden Mannes durch den Ritter auch die Sublimierung der eigenen Psyche und deren Restauration auf einer höheren, durch Disziplin geläuterten Ebene.360 360 Immer wieder tauchen in der Literatur des Mittelalters auch Wilde Ritter auf, Männer, die – häufig nach einer enttäuschten Liebe – in die Wildnis flohen und dort schließlich sämtliche
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An der mittelalterlichen Ökonomie partizipierte der Wilde Mann nicht; er lebte in einem natürlichen Gleichgewicht, das seinen bescheidenen Ansprüchen vollauf Genüge tat. Immer wieder sind es Wurzeln, Gräser und Früchte, die als Grundbausteine seiner Ernährung genannt werden, eher selten jagte er auch andere Tiere.361 Das besondere und potenziell gefährliche einer solchen Lebensweise war die Absenz eigentlicher Arbeit. Der Wilde Mann lebte in einer Art asketischem Schlaraffenland – ein scheinbarer Widerspruch, aber die extreme Bedürfnisarmut ermöglichte ein Leben, das unerhörterweise aus dem gottdekretierten Muster herausfiel, dem sich die restliche Menschheit zu beugen hatte. Er musste nicht im Schweiße seines Angesichts schuften, um sein Überleben zu sichern, sondern schien eine Art Geheimpakt mit einer Natur eingegangen zu sein, deren Rolle im göttlichen Heilsplan vom Christentum seit jeher argwöhnisch beäugt worden war. Zudem lebte der Wilde Mann solitär, erst später und unter einem ganz anderen Paradigma erscheinen auch Darstellungen ganzer Wilder Familien. Im Hochmittelalter ist die Regel, dass der Wilde Mann ohne jede Begleitung, es sei denn durch Tiere, abgebildet wurde. Nun gelten Einzelgänger heute noch als mehr oder weniger suspekt, im Mittelalter aber war eine solche Asozialität beispiellos. In einer Zeit, die auf so engen interpersonellen Kontakten ruhte, dass man sich fragt, ob die Menschen je alleine waren, konnte eine solche Lebensart nur Unverständnis hervorrufen. Der Drang nach Einsamkeit schien nur zwei mögliche Schlüsse zuzulassen: Hier fehlte es entweder an intellektueller Kapazität, um ein soziales Leben führen zu können, oder, eng damit zusammenhängend, vielleicht sogar an der Seele überhaupt. Nur Wahnsinnige und Kranke, besonders Melancholiker, lebten allein, und der Wilde Mann konnte in der Summe seiner Eigenschaften diese beiden Krankheitsbilder verbinden.362 Einzig die Eremiten wussten mit der Nähe zu Gott eine ähnliche Lebensform greifbar zu begründen. Aber, wie wir unten sehen werden, die Grenzen zwischen Eremitentum und Wildheit verschwammen häufig, und der Mehrheit der Bevölkerung dürften auch die merkwürdigen, tief in den Wäldern hausenden Gottesleute nicht ganz geheuer erschienen sein. War in einem solchen wilden Zustand ein spirituelles Leben überhaupt möglich? Mussten nicht alle Ansätze menschlicher Rationalität im Sumpf tierischer Instinkthaftigkeit versinken? Befragen konnte man den Wilden Mann diesbezügeinschlägigen Charakteristika annahmen; vgl. die Bemerkungen BARTRAS, Wild Men in the Looking Glass, 133 ff. zur scheinbaren inhärenten Widersprüchlichkeit dieser Figuren und der Problematik einer strukturalistischen Interpretation. 361 Dies ist denn auch exakt die den meisten Wilden Kindern unterstellte Ernährungsweise. Dibgy beispielsweise verzeichnet für Jean de Liège: „[…] and he liued many yeares in the woods, feeding vpon rootes, and wild fruites, and maste.“ 362 „Even the layman in medieval Europe recognized the ‚fiery-complexioned, hyperactive, enraged, noisy, and murderous‘ behavior of the maniac and the ‚dark, shaggy, […] immobile, depressed, silent, solitary, and suspicious‘ behavior of the melancholic. A syndrome with these symptoms, readily recognizable as those of the wild man, would be diagnosed today as manic-depressive.“ TIMOTHY HUSBAND, The Wild Man: Medieval Myth and Symbolism. Catalog of an exhibition held at The Cloisters, The Metropolitan Museum of Art, from October 9, 1980, to January 11, 1981, New York, 8.
2.4. Ein Prototyp? Der Wilde Mann
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lich nicht, denn eine Sprache im menschlichen Sinn, so war man sich einig, fehlte ihm.363 Er verfügte aber durchaus über Mittel einer Kommunikation, mit der er imstande war, seinen Gefühlen durch körperliche Zeichen Ausdruck zu verleihen.364 Ein derartiges Vermögen unterschied sich fundamental von der gottgegebenen und über die Gesellschaft weitervermittelten Sprache. Es ist schwer zu sagen, ob es nicht trotz seiner grundsätzlichen Defizienz – der vollkommenen Inadaption an den Transport rationaler Inhalte – auch schon für die Zeitgenossen eine gewisse Art der Perfektion spiegelte, die womöglich Angst erzeugte. Denn wie konnte die Natur selbst etwas in seiner Funktion Göttliches hervorbringen? Somit bleibt festzustellen, dass die Attribute des mittelalterlichen Wilden Mannes – behaart, sprachlos und oft auch vierfüßig – denen der Wilden Kinder praktisch entsprechen und sich der temporale Bezugsrahmen des Phänomens schon damit immens weitet. Weniger augenfällig als diese Äußerlichkeiten ist dessen innerlich-charakterliche Verfassung; gerade sie beeinflusste jedoch die Rezeption der Wilden Kinder in der Frühen Neuzeit ebenfalls massiv. Um die Zusammenhänge verstehen zu können, ist es notwendig, noch weiter in die Vergangenheit vorzudringen. Denn es existieren mindestens zwei Überlieferungsstränge aus der Antike, die einander in großen Teilen widersprechen und so ein ambivalentes Bild des Charakters des Wilden Mannes zeichnen, insbesondere was dessen Moralität angeht.365 Im Hintergrund stehen dabei grundlegend unterschiedliche Verhältnisse zur Gesellschaft und differierende anthropologische Grundpositionen, wie sie sich im semitischen und griechisch-römischen Raum ausformten. 2.4.2. Halbmenschen? Bereits Bernheimer fand in seiner klassischen Studie den Wilden Mann des Mittelalters geprägt von der semitisch-biblischen und schließlich christlichen Tradition. Im Gilgamesch-Epos366 begegnet er uns unter dem Namen Enkidu in einer 363 Auch dies änderte sich mit Beginn der Neuzeit, wie weiter unten die eloquenten Klagen Sachsscher Prägung zeigen. 364 „[…] other language has he none, nor speach, / But a soft murmure and confused sound / Of senseless words, which nature did him teach / T’expresse his passions, which his reason did empeach.“ EDMUND SPENSER, The Fairie Queene, Book VI, Canto IIII, zit. n. Renascence Editions, URL: http://darkwing.uoregon.edu/~rbear/queene6.html#Cant.%20IIII. 365 Ich stütze mich in der Folge vor allem auf den brillanten Aufsatz von WHITE, The Forms of Wildness. 366 HARTMUT SCHMÖKEL, Das Gilgamesch-Epos. Eingeführt, rhythmisch übertragen und mit Anmerkungen versehen von H. Schmökel, Stuttgart u. a. 41978. Hier ist nicht der Platz für eine Diskussion der Frage, ob es auch in der Darstellung des wilden Mannes eine direkte Linie gibt, die, wie ERNST ROBERT CURTIUS’ (Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 41963; insbes. 93 ff.) meinte, in die Ausbildung von topoi mündete, die nach ihrer Verfestigung inhaltlich nicht mehr angetastet wurden und eine reine Konvention darstellten. Gegen diese „monogenetische“ Position hat schon D. ALONSO, Tradition or Polygenesis?, in: MHRA. Annual Bulletin of the Modern Humanities Research Association, 32 (1960), 17–34 Stellung bezogen, indem er anmahnte, dass viele literarische Themen über die ganze Welt verbreitet seien, ohne dass irgendwelche Kontakte angenommen werden könnten. Auch muss man wohl mit DAVID A. WELLS, The Wild Man from the Epic of Gilgamesh to Hartmann von
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tragenden Rolle, womit bereits um 2000 v. Chr. eine voll literalisierte Form existierte, die dem Charakter des Mittelalters nicht nur entfernt ähnelte, sondern fast alle seiner Eigenschaften teilte.367 Enkidu wurde in der Wildnis ausgesetzt und von einer Gazelle und einem wilden Esel großgezogen; in diesem primitiven Zustand ist er über und über mit Haaren bedeckt, vielleicht auch als vierfüßig gedacht worden.368 Damit aber war Enkidu Sinnbild der unkultivierten und ungezähmten Natur, die im Zweikampf mit Gilgamesch schließlich der Kultur unterlag und ihr fortan diente. Allerdings vollzieht sich dieser Übertritt in die menschliche Kultur nicht ohne Kosten für den Wilden Mann; Entfremdung von den Tieren und der Verlust der primitiven Fähigkeiten sind der Preis.369
Nebukadnezzar als Wilder Mann. Weltchronik in Versen. Mischhandschrift aus Christ-herreChronik, Rudolf von Ems und Jansen Enikel, nach 1360. Bayerische Staatsbibliothek, München.
Das Alte Testament greift auf ein solches, in den Hochkulturen des Nahen und Mittleren Osten weitverbreitetes Bild zurück. So sind Nimrod, Esau, Ishmael und Samson diesem Muster entsprechend gezeichnet; allerdings geht dem wilden Zustand hier ein Leben in der Gesellschaft voran, das aus verschiedenen Gründen endet. Von noch größerer Bedeutung als diese Gestalten ist aber die Geschichte, die das Buch Daniel vom babylonischen König Nebukadnezzar370 überliefert, und die in vielfältigen Formen literarisch, vor allem aber auch ikonographisch, bis
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Aue’s Iwein: Reflections on the Development of a Theme in World Literature, Belfast 1975, 4 in Betracht ziehen: „the conventional rhetorical utterances might actually coincide with the genuine sentiments of the author or speaker.“ Wells bezieht zur Erklärung eines solchen „polygenetischen“ Ansatzes auf Jungs Archetypentheorie; ebd. 11. Vgl. GREGORY MOBLEY, The wild man in the Bible and the ancient Near East, in: Journal of Biblical Literature, 116, 1 (1997), 217–233; hier 220. Darauf verweist indirekt eine Schriftstelle, in der er als fähig beschrieben wird, mit den Tieren Schritt zu halten; vgl. ebd., 221. Vgl. ebd. Zur Tradierung des Nebukadnezzar-Mythos vgl. RONALD R. SACK, Images of Nebuchadnezzar. The Emergence of a Legend, Selinsgrove u. a. 1991; PENELOPE R. DOOB, Nebuchadnezzar' s Children: Conventions of Madness in Middle English Literature, New Haven 1974.
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weit in die Neuzeit hinein überliefert wurde.371 Das Bild des babylonischen Potentaten, nackt, mit irrem Blick und langen Haaren sich auf allen Vieren fortbewegend, überdauerte in zahllosen Illustrationen – nicht nur der Bibel, sondern auch der Weltchroniken und ähnlich gelagerter Werke – die Zeiten. Um die Frage zu beantworten, welche Funktion diese Figuren im alttestamentarischen Kontext erfüllten, darf man nicht aus den Augen verlieren, dass die Hebräer eine theonomische Gesellschaft bildeten. Durch einen göttlichen Schöpfungsakt war der Urvater aller Menschen, ebenso die Prototypen aller anderen Wesen, geschaffen worden. Die verschiedenen Spezies ließen sich also direkt auf göttliche Schöpfungskraft zurückführen und konnten gar keine „Entwicklungsgeschichte“ im eigentlichen Sinne durchlaufen. Die Idee der Perfektionierung eines schon seit Anbeginn perfekten Wesens war nicht nur eine logische Unmöglichkeit, sondern kam geradezu einer Gotteslästerung gleich. Gott bildete also hier sozusagen das Paradigma aller Spezies. Die Unterschiede, die sich unter den Menschen aber dennoch feststellen ließen, galten als Folge jener unheilvollen Diversifikation, welche die Menschheit seit dem Ungehorsam Adams selbst verschuldet hatte. Nach der Sintflut trat eine neuerliche Dreiteilung des Menschengeschlechts ein, die auf die Noah-Söhne Sem, Cham und Japhet zurückzuführen war. Erst am Ende der Zeiten würde sich diese zerrissene Menschheit wieder vereinigen. Jede Veränderung der Spezies, inklusive des Menschen, musste in einem solchen Weltbild eine Verschlechterung bedeuten, wollte man nicht entweder die Weisheit Gottes oder seine Schöpferschaft grundlegend in Frage stellen. Andersartigkeit wurde so zu einem qualitativen Merkmal, das in jedem Fall Defizienz ausdrückte. Diesen Grundpositionen entsprechend bildete der Wilde Mann bei den Juden eine dritte Kategorie der Menschheit. Sie trat neben die Heiden372, die eine Art „natürlicher“ Humanität besaßen, und die Juden, das auserwählte Volk, das einen besonderen Platz im göttlichen Heilsplan einnahm. Erhoben die Juden Anspruch auf eine gewisse Übermenschlichkeit, die sich aus der Tatsache der Erwähltheit ergab, so hatte Gott von jenem wilden Wesen jeglichen Segen abgezogen. Dabei sank der Wilde Mensch in einen Zustand, der unter dem der Natur selbst lag; seine Degeneration war so bodenlos, dass er ihr aus eigener Kraft nicht mehr entkommen konnte. Dieser Zustand der Wildheit darf nun nicht mit Tierheit verwechselt werden, denn auch die Tiere profitierten vom Wohlwollen ihres Schöpfers. Damit waren sie, für das hebräische Denken eigentlich weit vom Menschen entfernt, in einem moralisch-theologischen Sinne noch weitaus gottnäher als der Wilde Mann. Letzterer befand sich in einem Zustand völliger moralischer Verworfenheit; „Wildheit“, „Wahnsinn“ oder „Barbarei“ waren nur äußerliche Anzeichen dieser Ent371 „Noch in derselben Stunde erfüllte sich dieser Spruch an Nebukadnezzar: Man verstieß ihn aus der Gemeinschaft der Menschen, und er mußte sich von Gras ernähren wie die Ochsen. Der Tau des Himmels benetzte seinen Körper, bis seine Haare so lang wie Adlerfedern waren und seine Nägel so lang wie Vogelkrallen. Als die Zeit verstrichen war, erhob ich, Nebukadnezzar, meine Augen zum Himmel, und mein Verstand kehrte zurück.“ Daniel 4, 30–31. 372 „Gentiles“; der Begriff lässt sich vielleicht am ehesten durch „zivilisierte Nicht-Juden“ übersetzen.
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fremdung von Gott. Kain, Cham oder Ishmael sind Prototypen dieser Figur: Menschen, die sich als Rebellen gegen Gott auflehnten – und in der griechischrömischen Sagenwelt damit wohl durchaus in den Rang eines tragischen Helden vom Schlage eines Odysseus oder Ödipus hätten aufsteigen können. Der jüdischen Überlieferung ist eine solche Glorifizierung des menschlichen Kampfeswillens, sofern er sich gegen die göttliche Allmacht richtet, ganz fern. Aus der Gesellschaft ausgestoßen, zeugten diese Gestalten eigene Nachkommenschaften, die wiederum einen Spiegel des menschlichen Abfalls von Gott darstellten.373 Diese innere Wildheit wurde nun auch nach außen offenbar. Die menschlichen Artattribute verschwanden, während tierisches Aussehen und tierische Verhaltensformen, eben die Behaarung und die Vierfüßigkeit, nach vorne drängten. Dies aber bedeutete ein neuerliches Sakrileg, denn die Überwindung der Artgrenzen drohte die perfekte göttliche Weltordnung zu pervertieren. Während der Kampf zwischen den Arten integraler Bestandteil dieser Ordnung war, galt die Vermischung als schreckliches Verbrechen.374 Levitikus 18, 23 verbot ausdrücklich die Sodomie375, aber die Furcht vor der Korruption der göttlichen Schöpfung griff noch viel tiefer: Levitikus 19, 19 indizierte nicht nur die Hybridisierung von Tieren, sondern auch das Besäen des Feldes mit zweierlei Saat376, Deuteronomium 22, 10 das gleichzeitige Anspannen zweier unterschiedlicher Tiere.377 Der Wilde Mann war also ein von Gott verfluchtes Wesen; sein hybrides Äußeres musste als sinnfälliges Bild seiner Auflehnung gegen den weisen Ratschluss Gottes gedeutet werden. Alle seine Attribute widersprachen den Idealen der hebräischen Gesellschaft.378 Das Christentum baute auf diesem Gerüst auf, modifizierte es aber. Während der Fall in den wilden Zustand im Judentum praktisch irreversibel war379, betonte das Christentum die Gnade Gottes und damit die Möglichkeit einer Erlösung – das Gleichnis vom verlorenen Sohn gab die Richtung unzweideutig vor. Diese Humanisierung nicht nur des Wilden Mannes, seine Zurechnung zum Menschengeschlecht verlief nicht ohne Probleme; dies belegt der Nachdruck, mit dem AU-
373 Vgl. WHITE, The Forms of Wildness, 14. 374 Deren desaströse Folgen bekannt waren, da Genesis 6 einen derartigen Fall übermittelte: Die Entstehung des Riesengeschlechts der Nefilim als Folge einer Verbindung von Engeln und Frauen galt als unmittelbarer Grund für die Sintflut. 375„Keinem Vieh darfst du beiwohnen; du würdest dadurch unrein. Keine Frau darf vor ein Vieh hintreten, um sich mit ihm zu begatten: das wäre eine schandbare Tat.“ 376 „Unter deinem Vieh sollst du nicht zwei Tiere verschiedener Art sich begatten lassen. Dein Feld sollst du nicht mit zweierlei Arten besäen. Du sollst kein aus zweierlei Fäden gewebtes Kleid anlegen.“ 377 „Du sollst nicht Ochse und Esel zusammen vor den Pflug spannen.“ 378 WHITE, The Forms of Wildness, 16: „Cursedness, or wildness, is identified with the wandering life of the hunter (as against the stable life of the shepherd and farmer), the desert (which is the Wild Man’s habitat), linguistic confusion (which is the Wild Man’s as well as the barbarians principal attribute), sin, and physical aberration in both color (blackness) and size.“ 379 Nebukadnezzar bildet hier eine Ausnahme, wohl auch ein Grund für seine spätere Prominenz
2.4. Ein Prototyp? Der Wilde Mann
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auf die Einheitlichkeit des Menschengeschlechts hinweist.380 Später, in der scholastischen Diskussion, wurde durch die strenge Unterscheidung von Essenz und Attribut zumindest für die kleine Zahl der Gebildeten das Konzept eines Wilden Mannes eigentlich unvorstellbar. Denn ein tatsächlicher Wilder Mann zu sein hätte bedeutet, den Körper eines Menschen, aber Seele und kognitive Fähigkeiten eines Tieres zu besitzen. Dies allerdings hätte die Vorstellung eines gütigen Gottes ins Wanken gebracht: THOMAS VON AQUIN hatte in Länge gezeigt381, dass die tierische Seele nicht heilsfähig, da mit keinem freien Willen ausgestattet war. Selbst Gott hätte also ein solches Wesen nicht rehabilitieren können, was wiederum einen kaum statthaften Eingriff in dessen Gnadenmonopol bedeutet hätte. Die Idee einer Kette der Wesen, die sich in einem neoplatonischen Sub-Diskurs seit der Antike gehalten hatte382, bot letztlich ebenso wenig Hilfe. Zwar ging mit ihr die Annahme der Fülle der Schöpfung einher, so dass der Wilde Mann als eine Art Bindeglied zwischen Mensch und Tier hätte fungieren können. Aber: An eine solche scala naturae, die notwendigerweise alle Daseinsformen, die möglich waren, auch umfassen musste, mochte vor allem die mittelalterliche Kirche nicht glauben. Zu häretisch erschien die Idee, der allmächtige Schöpfer sei wie seine Kreation einem Regelkanon unterworfen. Zudem griff, selbst wenn man diese ernsten theologischen Vorbehalte fallen ließ, nach wie vor der oben angeführte thomasianische Einwand – selbst im Kettenkonzept musste die Existenz logisch möglich sein. Graduell-quantitative Unterschiede innerhalb des Tierreiches oder der Menschheit stellten kein Problem dar, aber zwischen diesen existierte mit der GUSTINUS
380 Auch andere mythische Wesen, etwa die Wunderrassen, kamen seit Augustinus in den Genuss des Heilsversprechens; alle Menschen – von den Tieren unterschieden durch die ratio, von den himmlischen Wesen durch die Sterblichkeit – stammten von Adam ab und waren damit Kinder Gottes: „[…] wer immer irgendwo auf Erden als Mensch, also als sterbliches vernunftbegabtes Lebewesen geboren ist, er mag eine für unsere Begriffe noch so ungewohnte Körperform haben, an Farbe, Bewegung, Stimme, Kraft und Teilen seiner natürlichen Eigenschaften noch so sehr von anderen abweichen: Kein Gläubiger soll zweifeln, daß er seinen Ursprung aus jenem einen zuerst gebildeten Menschen herleitet.“ AURELIUS AUGUSTINUS, De Civitate dei. Der Gottesstaat, übers. v. CARL JOHANN PERL, 3 Bde., Salzburg 1953; hier Bd. 3, Buch XVI, Kap. 8, 21 f. Hier wird die Differenz zu einer bloß akzidentiell-physischen, nicht zu einer moralischen. 381 „Voluntas autem, cum sit in ratione […] non potest esse in brutis animalibus. Ergo neque voluntarium in eis invenitur.“ THOMAS V. AQUINO, Thomae Aquinatis Summa Theologiae. Cura et studio Sac. Petrus Caramello. Cum textu ex recensione Leonina, Pars Prima Secundae, Taurini u. a. 1952, hier qu. VI, art. 2, 39. Das bedeutet natürlich nicht, dass sich auch die breite Masse mit solchen Bedenken trug: „[…] from the neoplatonic or Thomist perspectives, the wild man amounted to a shattering of the cosmic order, a strange inexplicable rupture. In popular tradition, on the other hand, the myth recalled the existence of marvels for which theologians could never give a good explanation. Within that hollow and heartless man there dwelt passions and fears, sentiments and memories, pleasures and pains. The void that should have occupied the soul was filled with tendencies like solitude, liberty, and pleasure, all of which had no place in the hieratic and hierarchical world of Christianity.“ BARTRA, Wild Men in the Looking Glass, 118. 382 Vgl. generell die immer noch unentbehrliche Studie A. O. LOVEJOYS, The Great Chain of Being. A Study of the History of an Idea [1936], Cambridge (Mass.) 1964. Zu Kettenvorstellungen vgl. auch Kap. 4.1.2.
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Seele ein qualitativer Versatz, der eine Mittelposition nicht erlaubte. Verfügte der Wilde Mann über eine solche, war er Mensch – wenn nicht, blieb er Tier. Für beide Richtungen fanden sich in der Folge Gegner wie Befürworter, und er konnte ebenso menschlicher Bestandteil des Yvain383 oder Iwein384 wie Inventar eines Bestiariums werden.385 Aus diesem Dilemma ließ sich nur schwer ein Ausweg finden, aber schließlich setzte sich ein Erklärungsmuster durch, das dem bereits biblischen Schema folgte und die Frage bis auf Weiteres entschied: Der Wilde Mann war Opfer eines göttlich dekretierten Degradationsprozesses, dem er zu seiner Läuterung unterworfen worden war. Zunächst ein ganz normaler Mensch, hatte Gott seinen Segen von ihm abgezogen. Das Leben in der Wildnis führte dann zu den körperlichen Veränderungen, die schließlich sein Bild prägten.386 Für das Christentum konnte der wilde Zustand aber nicht mehr unwiderrufliches Schicksal sein. Im Gegenteil, in den Romanen und Legenden des Mittelalters kehrte der Wilde Mann häufig in den Schoß der Gesellschaft zurück; hier wurde er, freilich unter Verlust eines Großteils seiner wilden Eigenschaften, wieder ganz Mensch. Ein Wilder Mann gewesen zu sein, bedeutete keinen Makel, sondern eher eine Auszeichnung387; vor allem im Kampf, so glaubte man, waren diese Männer den anderen Rittern überlegen. Und auch Wilde Frauen konnten, wie es das Schicksal der Rauhen Else aus dem Wolfdietrich zeigt, durchaus hoffen, eine mehr als akzeptable Partie zu machen. Die Rückholung des Wilden Mannes in den Schoß der Gesellschaft erschien nicht zuletzt deshalb als Pflicht, als er die Auflösung dreier grundlegender Sicherheiten symbolisierte, die das Zusammenleben bot und dieses erst möglich machten: Fortpflanzung, ökonomische Absicherung und spirituelles Heil. Die erste wurde durch die monogame Organisation der Familie sichergestellt, die zweite durch das korporative oder obrigkeitliche Sicherheitsnetz, die letzte schließlich durch die Kirche.388 Der Wilde Mann hatte an keiner von diesen Sicherheiten irgendeinen Anteil, und die Vorstellung, in einen solchen Zustand zu geraten, musste zwangsläufig Unbehagen hervorrufen. Nicht nur, weil man sich an ihm sein eigenes Schicksal ausmalen konnte, sondern, weit handgreiflicher, weil ein solches Wesen den akzeptierten gesellschaftlichen Regelkanon nicht anerkennen würde und deshalb eine potenzielle Bedrohung darstellte. So wurde der Wilde Mann nach biblischem Muster als menschliche Regression ins Irrationale begriffen; von einer nicht zu tilgenden Schuldhaftigkeit, mit der ihn die Juden beladen sahen, 383 CHRESTIEN DE TROYES, Yvain, übers. u. eingel. v. ILSE NOLTING-HAUFF, München 21983. 384 HARTMANN V. AUE, Iwein, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen von MAX WEHRLI. Zweisprachige Ausgabe, Zürich 1988. Zu einem Vergleich der Darstellungen vgl. DERS., Iwein. Mit Beobachtungen zum Vergleich des ‚Yvain‘ von Chrestien de Troyes mit dem ‚Iwein‘ Hartmanns, Übers. v. WOLFGANG MOHR, Göppingen 1985. 385 Vgl. BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages, 5. 386 BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages, 8: „The status of the wild man was thus reached not by a gradual ascent from the brute, but by descent.“ 387 Ebd., 19. 388 Vgl. WHITE, The Forms of Wildness, 21.
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wurde er durch das gewandelte Gottesbild entlastet. Zwar konnte er sündigen, aber es handelte sich doch stets um Sünden, die eher durch Ignoranz als durch Vorsatz bedingt und daher lässlich waren. Er genoss damit einen gewissen Freiraum, der dem Gesellschaftsmenschen nicht zugänglich war. Soziale Konventionen mussten von ihm nicht eingehalten werden, und so ergab sich eine Narrenfreiheit, welche die engen Verbindungen von Wildheit und Wahnsinn nochmals betonte.389 Das Mittelalter vereinheitlichte darüber hinaus die Ikonographie390, tendierte aber andererseits auch dazu, ihn mit anderen, oft dämonischen Wesen – Waldgeistern, Werwölfen, aber auch Magiern oder dem Teufel selbst – zu vermischen. Eine wirklich scharfe Trennlinie wurde also zwischen diesen halbmythischen Wesen wohl nur selten gezogen. 2.4.3. Wilde Moralisten Die positive Umdeutung, die der Wilde Mann in der Renaissance erfuhr, wurde nur dadurch möglich, dass zumindest einige Bevölkerungsschichten, namentlich das stetig an Einfluss gewinnende städtische Bürgertum, die oben angesprochenen Sicherheiten ein Stück weit für selbstverständlich hielten und zumindest kurzzeitig aus den Augen verlieren konnten. Zusätzlich wurde nun der zweite, der heidnisch-antike Überlieferungsstrang reaktiviert. Denn auch Griechen und Römer teilten die Menschheit, im Prinzip ähnlich wie die Juden, in drei Klassen ein: zivilisierte Menschen oder Bürger391, Barbaren und Wilde. Diese Kategorien erwiesen sich als recht stabil, lediglich in Krisenzeiten geriet aus Propagandagründen die Grenze zwischen letzteren ins Wanken. Barbaren galten im Prinzip als zivilisationsfähig, denn auch sie lebten unter einer, wenn auch minderwertigen, Form des Rechts, das z. B in der Respektierung der Familie einen Ausdruck fand. Der Wilde hingegen lebte unter überhaupt keinem Recht; er war somit ein absolut asoziales Wesen. Als solches konnte er die gefestigten antiken Gesellschaften zwar nicht gefährden, erschien aber als Nemesis des Individuums, als dumpfe Androhung dessen, was der Verlust von Zivilisation und Gesellschaft bedeuten konnte. Dieser höchst individuellen Bedrohlichkeit entspricht auch die Lokalisierung: Während Barbarenstämme an weit entfernten und unzugänglichen Orten gewähnt 389 Vgl. BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages, 12. 390 Die Haarigkeit wird etwa ab dem 12. Jahrhundert zu einer ikonographischen Konvention der Gotik; HUSBAND, The Wild Man, 7. Wahrscheinlich greift man aber auch hier schon auf eine weit ältere Tradition, nämlich die Darstellung des antiken Berg- und Waldgottes Silenus zurück. Diesen hatten bereits antike Künstler, um Stärke, Wildheit und kulturfernen Aufenthaltsort zu verdeutlichen, behaart und einen entwurzelten Baumstamm tragend gezeichnet; BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages, 96. Eine ebenfalls dem Wilden Mann bis auf die Körperbehaarung wie aus dem Gesicht geschnittene Abbildung des Faunus, den Bernheimer kaum beachtet liefert GEORG WISSOWA, „Faunus“, in: W. H. ROSCHER, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Bd. I, 2, Hildesheim; New York 2ND 1978, Sp. 1454–60; hier 1459. Neu ist aber, dass im Hochmittelalter dem Attribut der Behaarung Wahnsinn zugeordnet wird; HUSBAND, The Wild Man, 10. Role-model spielte hier wohl Nebukadnezzar. 391 Was im Prinzip gleichbedeutend mit „Zugehörigkeit zum eigenen Staatswesen“ war.
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wurden, war der Wilde „just out of sight, over the horizon, in the nearby forest, desert, mountains, or hills. He sleeps in crevices, under great trees, or in the caves of wild animals, to which he carries off helpless children, or women, there to do unspeakable things to them.“392 Eine Schuld hatte dieser Wilde Mann jedoch nicht auf sich geladen; moralisch gesehen konnte er als geradezu geläutertes Wesen betrachtet werden, das im Einklang mit den Regeln der Natur lebte. Der Wilde Mann war von aller sozialen Kontrolle befreit und konnte eben deshalb seine libidinösen Impulse ohne Rücksicht ausleben; eine Position, die, je weiter der Zivilisationsprozess mit seinen Disziplinierungsmechanismen fortschritt, auf viele eine gewisse Anziehungskraft ausüben musste. Ungleich weniger problematisch als in der judeo-christlichen Tradition gestaltete sich in der mit einem reichen Pantheon versehenen heidnischen Welt auch die Einordnung des Wilden Mannes in die Hierarchie von Mensch und Tier. Denn hier wurde keineswegs ein so scharfer Bruch zwischen Tierreich und Menschenwelt unterstellt. Selbst die Götter nahmen häufig Tiergestalt an, ohne dass damit eine Abwertung verbunden gewesen wäre, und die antiken Sagen zeigten sich bevölkert von hybriden Wesen wie Centauren, Faunen, Silenen oder Satyrn.393 Die starke sexuell-erotische Konnotation des Wilden Mannes lässt sich vornehmlich auf diese Quellen zurückführen. Wie unten noch angeschnitten werden wird, zeigten diese antik-heidnischen Vorstellungen lokal eine beachtliche Resistenz gegen die christliche Missionierung; vor allem in der Volksmythologie spielten sie noch bis in die Neuzeit hinein eine prominente Rolle und gingen in der volkstümlichen Variante des Wilden Mannes, wie sie etwa in den Alpen anzutreffen ist, auf. Unter dem Einfluss des griechisch-römischen Gedankenguts und der folgenden tiefgreifenden Umwertung des Menschen und seiner Position in der Schöpfung veränderte sich in der Renaissance die Einstellung des Menschen zur Natur. Der Wilde Mann geriet zum Symbol einer freien, ungebundenen und dennoch in harmonischem Einklang mit der Schöpfung lebenden Menschheit. Nun schienen die Verluste, die der Übergang in die Zivilisation mit sich brachte, ungleich schwerer zu wiegen als noch wenige Jahrhunderte zuvor. Viele der Ambivalenzen, die den Wilden Mann am Eingang der Neuzeit umgaben, lassen sich von hier aus weitgehend klären. Als Symbol der Natur an sich musste er zwangsläufig die ihr jeweils zugedachten Attribute und Werte übernehmen. Damit konnte er als absoluter Antitypus der Menschlichkeit hingestellt werden: Macchiavelli, Hobbes und Vico, später dann Freud und Sartre verfuhren so. Die Natur ist hier eine schreckliche Welt des Kampfes, der Wilde Mensch dementsprechend ein aggressiv-ungebändigtes und destruktives Produkt dieser Umwelt. Dagegen steht die Linie, die von Denkern wie Locke, Montesquieu, Rousseau, in neuerer Zeit Camus und Lévi-Strauss vertreten wurde: Alle Zwistigkeiten der Zivilisation lassen sich durch die Entfremdung von der natürlichen Perfektion des Menschen erklären. 392 WHITE, The Forms of Wildness, 21. 393 Vgl. den ausführlichen Artikel von E. KUHNERT, „Satyros und Silenos“, in: W. H. ROSCHER, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Antike, Bd. IV, Hildesheim u. a. 2ND 1977, Sp. 444–531 sowie GEORG WISSOWA, „Faunus“. Eine detaillierte Studie des Komplexes liefert ROGER BARTRA, Wild Men in the Looking Glass, 9 ff.
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Hier wird der Wilde Mann zu einem positiv besetzten Antitypus sozialzivilisatorischer Korruption.394 Ein glänzendes Beispiel einer hier ansetzenden Gesellschaftskritik von außen stellt HANS SACHS’ Klag der wilden Holtzleüt dar.395 Der Wilde Mann, hier Bestandteil einer ganzen Wilden Familie, beklagt sich über den verkommenen Zustand der Welt. Alle Insignien der Wildheit sind in der beigefügten Illustration präsent: Er hält einen großen Stab, auf den er sich stützt, in der rechten Hand. Er und seine Frau sind ganz behaart und tragen Girlanden aus Efeu. Zwischen ihnen stehen, allerdings nicht behaart, zwei Kinder. Eines von ihnen kümmert sich um einen (angeleinten!) Hund, während das andere, halb zur Seite gedreht, eine Blume in der Hand hält. Die fehlende Behaarung der Kinder scheint weniger Zufall als Muster zu sein, wie ein Stich des deutschen Meisters BXG vom Ende des 15. Jahrhunderts zeigt. Auch hier ist in einer arkadischen Landschaft eine Wilde Familie mit zwei Kindern dargestellt, jedoch in unterschiedlichem Alter: Während der Säugling noch fast keine Behaarung zeigt, ist sein etwas älterer Bruder bereits von einem, wenn auch noch nicht besonders dichten, Haarkleid umgeben. Endgültig klären Sachs’ Verse über die Geschichte der Wilden Familie, und damit auch die Haarfrage, auf. Nach einem langen Lament über die Ungerechtigkeit, Verderbtheit und Gottlosigkeit der Welt findet sich folgende Passage: Seyd nun die Welt ist so vertrogen / Mit vntrew/ list/ gantz vberzogen So seyen wir gangen darauß / Halten jn wildem walde hauß Mit vnseren vnerzogen kindern / Das vns die falsch welt nit mög finden […] Vnser Gsellschaft vnd Jvbiliern / Ist jm holtz bey den wilden Thiern So wir den selben nichts nit thon / Lassens vns auch mit friden gon Also wir in der wüsten sind / Geperen kind und kindes kind Eynig vnd brüderlich wir leben / Kein zanck ist sich bey vns begeben Ein yedes thut als es dann wolt / Als jm von jhem geschehen solt Vmb kein zeytlichs thun wir nit sorgen / Vnser speyß findt wir alle morgen […] Felt vns zu kranckheyt oder todt / Wiss wir das es vns kumbt von Got […] Also jn einfeltigem mut / Vertreyben wir hie vnser zeyt Biss ein verenderung sich begeyt / In weyter welt vmb vnd vmb Das yederman werdt trew und frumb / Das stat hat Armut und Einfalt Denn wol wir wider auß dem waldt / Vnd wonen bey der menschen schar Wir haben hie gewart vil Jar / Wenn tugent/ redligkeyt/ auff wachs Das bald geschee wünscht vns Hans sachs.396 394 Das nachantike Aufkommen des Primitivismus vollzieht sich zeitgleich mit dem Heraufdämmern der Moderne. Denn erst als zivilisatorische Einrichtungen neuerlich gefestigt waren, konnte man daran denken, sie zu kritisieren. So sind – etwa in MONTAIGNES Essai Von den Kannibalen [MICHEL DE MONTAIGNE, Essais, 3 Bde., Zürich 1996 [ND d. Übers. v. JOHANN DANIEL T IETZ, Leipzig 1753/54], Erster Theil, XXX. Hauptstück, 362–387] – in der Übergangszeit vom Mittelalter zur Moderne ganz ambivalente Haltungen greifbar: Montaignes Kannibalen dienen zwar als Gegenbild zur Zivilisation, nicht aber als Idealbild. Insofern wird hier ganz ähnlich wie bereits in TACITUS’ Germania argumentiert. 395 HANS SACHS, Klag der wilden Holtzleüt/ vber die vngetrewen Welt [Nürnberg 1545], in: HUSBAND, The Wild Man, 202 ff. 396 Ebd., 132.
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Im protestantischen Umfeld der Mitte des 16. Jahrhunderts lässt sich nun ganz deutlich ein moralisierender Aspekt des Wilden Mannes greifen. Aus freier Entscheidung sind er und seine Familie in die Wälder gezogen, um möglichst fern der Verderbnis der Welt ihr Seelenheil zu erhalten. Seine Attribute, vor allem die Haarigkeit, sind also sekundär und erworben: erst das Leben im raueren Umfeld des Waldes hat eine solche Anpassung bewirkt. Darum sind die Kinder auch noch nackt dargestellt: Es wird Zeit brauchen, bis sie ebenso gut wie die Eltern vor den Unbillen des Wetters geschützt sind.
Die Wildenfamilie. Stich von Monogrammist bxg, Deutschland, zweite Hälfte des 15. Jh. Albertina, Wien.
Ganz ähnlich zeigt sich der französische Miniaturzyklus Les quatre états de la société 397. Dargestellt sind auf separaten Miniaturen die Armen, Handwerker, Adlige und schließlich Wilde Menschen. Offenbar existierte ursprünglich zu jedem der Motive ein gereimter, mehrere Strophen umfassender Text; erhalten sind jedoch nur die zum Handwerker und dem Wilden Mann gehörigen. Dieser ist mit seinem Leben zufrieden: „Je viz cellon que ma aprins nature/ sans soucy nul tousjours joyeusemant.“398 Dem bescheidenen Menschen stellt die Natur alles bereit, was man sich nur wünschen kann: Nahrung, Wasser, eine Behausung.399 Und so 397 [JEAN BOURDICHON], Four conditions of society [ca. 1500], in: HUSBAND, The Wild Man, 128 ff. 398 Die Texte finden sich bei HUSBAND, The Wild Man, 201 f. 399 Symptomatischerweise spricht auch dieser Text (vgl. ebd. 201) wieder von einem hohlen Baum als Aufenthaltsort, während in der Illustration die andere Möglichkeit, eine Höhle, ge-
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wird am Ende jeder Strophe formelhaft wiederholt: „Et ainsi ay, Dieu merci, souffisance.“ Das Leben in der freien Natur hat den Wilden Mann abgehärtet; auf Luxus und Komfort kann er ohne Weiteres verzichten, sein Haarkleid schützt ihn vor dem Wetter. Weltliche Güter sind ohnedies ohne Belang, ja dem Seelenheil abträglich. Denn am Ende bedarf es doch nur eines Leichentuchs: „Prince que vault vivre orguilleusemant/ Et rapiner pour mener grant bobance/ Quandnul n’emporte à son trespassement/ Qu’un seul linceul pour toute souffisance.“400 Wie zufrieden der Wilde Mann mit seinem Zustand ist, zeigt, dass nicht einmal die Zukunft eine Änderung bringen soll; bei Sachs klingt dieses Moment der Rückkehr in eine geläuterte Gesellschaft als Fernziel an. Auch der Handwerker singt das Hohelied der Bescheidenheit und vertritt ganz ähnliche Werte; nur ist es bei ihm harte Arbeit und Sparsamkeit, die zu einem zufriedenen Leben führen.401 Beide sind damit ohne Frage weit besser dran als die Armen: der Mann schwer krank im Bett, neben ihm, auf dem Boden zusammengekauert und betend, seine Frau. Die Rückwand der schäbigen Hütte, in der sie sich befinden, ist marode und gibt den Blick auf den Horizont, die Stadt, frei. Das Dach ist undicht, und die ganze Szene atmet den Hauch bitterer Armut. Keine Frage: Das Schicksal des Wilden Mannes, selbstbewusst mit seiner Familie vor dem Eingang der Höhle posierend, wehrhaft und kraftvoll, wird als das eindeutig eher zu erstrebende gesehen. Innerhalb kurzer Zeit erscheint der Wilde Mann damit als Archetyp eines christlichen Ethos.402 Von seiner heidnischen Vergangenheit, die ihn der Kirche lange Zeit suspekt machen musste, ist hier nichts mehr zu spüren. Er ist kein Waldgeist oder Dämon, nicht einmal ein Mischwesen irgendwelcher Art, sondern ein überaus real gezeichneter Mensch – zugegebenermaßen modifiziert durch besondere Lebensumstände. Fraglich ist freilich, ob eine solche Figur überhaupt noch beanspruchte, für tatsächlich existent gehalten zu werden; zu offensichtlich ist ihre Künstlichkeit, ihre Zweckmäßigkeit.
zeigt wird. Eher dem Text entsprechend ist aber eine weitere ihm zuzuordnende Zeichnung: Vgl. ebd., Fig. 1, o. P. 400 HUSBAND, The Wild Man, 202. 401 Ebd., 201. 402 Allerdings: das musste durchaus nicht immer so sein. Auf einer fast zeitgleich mit der Schrift Sachs’ erscheinenden Flugschrift MELCHIOR LORSCHS, versehen mit einem Text Luthers, wird der Papst als Wilder Mann dargestellt. Keineswegs so harmlos wie sein kulturkritisches Pendant speit er Feuer und erscheint eher als Teufel denn als Mensch. Vgl. HUSBAND, The Wild Man, 15. Überhaupt war die Benennung Wilder Mann meist wenig schmeichelhaft gemeint: Heinrich II. von Braunschweig-Wolfenbüttel wurde in den gegen ihn gerichteten Polemiken immer wieder als ein solcher – im übrigen auch als Werwolf – bezeichnet; vgl. F. J. STOPP, Henry the Younger of Brunswick-Wolfenbüttel. Wild Man and Werwolf in Religious Polemics 1538–1544, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, 33 (1970), 201– 234.
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Les quatres états de la nature: Homme sauvage (links) / Pauvres (rechts); Frankreich, um 1500. BnF, Paris, Ms. fr. 2374, fol.3v.
Diese einen Höhepunkt im 16. Jahrhundert findende moralische und sogar religiöse Deutung, paradoxerweise geboren aus der Übernahme und Transformation heidnisch-antiken Gedankenguts, wurde dadurch erleichtert, dass bereits die Bibel den Topos des in die Wildnis ziehenden heiligen Mannes kannte; Eliah personifiziert einen solchen Typus des Propheten in der Wildnis.403 Aber auch im Neuen Testament existierten Bezugspunkte, etwa in der Versuchung Christi oder dem Aufenthalt Johannes des Täufers in der Wildnis. Bereits früh zog es Klostergemeinschaften in die Wüste; hier, fern der Versuchungen der Stadt und der Gesellschaft, hofften schon die Essener einen Weg zu Gott zu finden. An diese Vorbilder konnten sich verschiedene Heiligenviten anlehnen, die allesamt nach einem stereotypen Muster gestrickt sind.404 Großen Bekanntheitsgrad erreichten die Hai-
403 MOBLEY, The wild man in the Bible and the ancient Near East, 227. 404 WILLIAMS fasst zusammen: „A holy man retires to practice asceticism. Through the machinations of the Devil, a young princess is brought in some marvelous way to his remote retreat. He violates this virgin and does all in his power to put her to death. Overwhelmed by remorse, he then imposes upon himself the penance of going about and feeding like a beast. In time a coat of hair all over his body replaces his garments. After many years this ‚beast-man‘ is discovered by a huntsman and brought to the king. He confesses that he was responsible for the disappearance of the princess. He follows the huntsman back into the wilds and points out the scene of his crimes. The princess is miraculously restored to life and is received with great joy by the king, her father. The anchorite is pardoned by God and once more becomes a man in appearance. Through the holiness of his life, he brings distinction to the land, and is given a bishopric or other high honors by the ruler. After a time he dies a blessed death.“ CHARLES ALLYN WILLIAMS, The German Legends of the Hairy Anchorite, in: Illinois Studies in Lan-
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ry Saints Aegidius, Makarius und Onufrius; Erwähnung fanden aber auch Frauen, insbesondere Maria Magdalena und die ägyptische Maria.405 Gemäß der Ähnlichkeit der Viten sind sie in der Ikonographie häufig nicht voneinander, vor allem aber auch nicht vom eigentlichen Wilden Mann zu unterscheiden406, und insbesondere Johannes Chrysostomos bildete eine der entscheidenden Gelenkstellen der Tradierung spezifischer Attribute von der Antike ins Mittelalter.
Der Hl. Johannes Chrysostomos wird gefangen. Holzschnitt aus der Legenda Aurea in der Ausgabe Fyners (JACOBUS DE VORAGINE, Der Heiligen Leben, Urach 1481, clxxxxii). Bayerische Staatsbibliothek, München.
Zum ersten Mal tauchen diese Anachoreten in koptischen Mythen aus dem 4. Jahrhundert auf407, und obwohl klar dem Christentum zugehörig, behalten sie in den Darstellungen jene stereotypen Eigenschaften, die sich nur aus einem orientalischen Hintergrund erklären lassen: Hierzu gehört vor allem auch die Idee, dass sich der Körper der Einsiedler im Laufe der Zeit behaarte.408 Sie bildeten ein entscheidendes Muster eremitischer Lebensart und standen für eine ganze monastische Tradition.409 Zum Regelfall christlicher Frömmigkeit konnten und durften diese Einsiedler aber nicht werden; dies verhinderte die Durchsetzung der augustinischen Lesart
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guage and Literature, XVIII, 1/2 (1935), 1–48; hier 9. Vgl. auch BARTRA, Wild Men in the Looking Glass, 53 f. HUSBAND, The Wild Man, 100 f. Ebd., 100. Zu den orientalischen Wurzeln der Legenden vgl. gen. CHARLES ALLYN WILLIAMS, Oriental Affinities of the Legend of the Hairy Anchorite, in: Illinois studies in Language and Literature, Pt. I: Pre-Christian, X, 2 (1925), 187–242 und Pt. II: Christian, XI, 4 (1926), 429–510; eine kurze Zusammenfassung der Besonderheiten der Besonderheiten der frühen koptischen Überlieferungen findet sich auch bei WILLIAMS, German Legends of the Hairy Anchorite, 12. Vgl. BARTRA, Wild Men in the Looking Glass, 55. Vgl. ebd., 59 f.
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des Glaubens. Denn während in der gnostisch-pelagianischen Tradition, der die ersten Berichte über die Anachoreten entstammen, die Willensfreiheit des Menschen betont wurde und für die Mönche das Erreichen von gnosis und apatheia mit Gottgefälligkeit gleichzusetzen war410, akzentuierte Augustinus die grundlegende Sündhaftigkeit der Natur und des Menschen. Hier konnte der Mensch seine Rettung nicht mehr durch Einhaltung streng asketischer Regeln selbst initiieren, sondern musste auf die göttliche Gnade hoffen. Damit aber verlor die Askese den wesentlichen Faktor ihrer Anziehungskraft, die sichere Verheißung, durch ein entbehrungsreiches Leben das Seelenheil zu sichern. Es entbehrt nicht einer gewissen Logik, dass diese wilden Gestalten Aufnahme in Strömungen des Christentums gefunden hatten, war dieses doch selbst vom Heidentum als asozial diffamiert worden: eine Folge der Weigerung der Christen, sich in die Ordnung der heidnisch-antiken Gesellschaft einzufügen. So schreibt Celsus im zweiten nachchristlichen Jahrhundert, die Christen seien eine „new race of men born yesterday, with neither motherland not traditions, conspiring against the religious and civil institutions, persecuted by justice, universally branded with infamy, but glorifying in this common execration.“411 2.4.4. Vorhang auf! Die seit der Renaissance moralisch-vindikative Deutung des Wilden Mannes, in Hochliteratur und Einblattdrucken bald Beweisobjekt für diese oder jene Spitzfindigkeit, fiktionalisierte die Figur in der Folge zusehends. Von einem als existent gedachten Mitbewohner des Landes, ja Nachbarn wurde er zu einer Kunstfigur, einer ideell überhöhten Darstellungsmöglichkeit anthropologischer Positionen. Von einer gedachten Realität zum Gedankenspiel412 und damit literarisch vielfältig nutzbar geworden, erscheint es folgerichtig, dass er zu einem Stammgast auf der Besetzungsliste des Theaters avancierte. Bereits seit Beginn des 13. Jahrhunderts lassen sich, ausgehend von Norditalien, Wilde-Mann-Spiele nachweisen.413 Diese griffen ihrerseits wahrscheinlich wiederum auf weit ältere Volkstraditionen zurück, von denen sich einige, vor allem im Alpenraum, bis in die heutige Zeit erhalten haben.414 Zur Mitte des 14. Jahrhunderts lassen sich dann für England sichere Hinweise finden, denn für ein Weihnachtsspiel sind in einer Garderobenliste König Edwards III. „xij capita de wodewose“415 nachzuweisen. In diesen Aufführungen wurde der Wilde Mann durch seine Dekoration unmissverständlich kenntlich gemacht. Er trug eine Bekleidung aus Moos und Efeu 410 411 412 413
Vgl. ebd., 77. Zit. n. ebd., 61 f. Vgl. WHITE, The Forms of Wildness, 33. Vgl. ROBERT H. GOLDSMITH, The wild man on the English stage, in: The Modern Language Review, 53 (1958), 481–491, hier 491. 414 Vgl. BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages, Abb. 13, o. P. 415 Zitiert bei GOLDSMITH, The wild man on the English stage, 481. Wodewose war, neben green man und wild man of the woods eine der typischen englischen Bezeichnungen der Zeit für den wilden Mann.
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oder aber alternativ ein langes Haarkleid; ein langer Stab oder Stock war sein ständiger Begleiter. Das 16. Jahrhundert machte diese Gestalten, die zunächst eine rein dekorativ-passive Rolle spielten, zu einer regelrechten Mode, kein pageant einer Handwerkervereinigung oder anderen Organisation, bei der sie hätten fehlen dürfen.416 In der Regel gingen sie vor dem eigentlichen Umzug – wohl auch, um durch ihr eindrückliches Äußeres Platz zu schaffen – und warfen Feuerwerk in die Menge. In der Praxis verschmolzen sie als Figur oft mit den traditionellen stage clowns und rustics. In England hatte damit eine gewisse Sonderentwicklung stattgefunden, die bereits an dieser Stelle betont werden soll, weil sie für die Eigenarten, welche die Engländer in ihrer Rezeption der Wilden Kinder an den Tag legten, von Belang ist. Durch das Verschmelzen mit den komischen Figuren prägte sich hier, nachweisbar seit dem 16. Jahrhundert, ein anderes, heitereres Bild des Wilden Mannes aus.417 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dann fand er seinen Weg von der Straße ins eigentliche Theater. Hier wandelte sich sein Charakter: Von einer reinen Dekorationsfigur wurde er nun auch handlungsbestimmend. Der erste Sprechpart eines Wilden Mannes – bezeichnenderweise eine „elegant speech in rhymed twelve-syllabled couplets“418, weit entfernt von den rauh-rustikalen Anklängen der pageants – findet sich 1575 in einem Stück von George Gascoigne: In den höfischen Schauspielen und pompösen Umzügen war aus dem wüsten wodewose ein, wie es GOLDSMITH fasst, „sanfter, wenn auch nicht besonders edler Wilder“ geworden.419 Aber auch dies sollte nur eine Übergangsstation sein. Gegen Ende des Jahrhunderts tauchte plötzlich in den Theaterstücken, Romanen und Gedichten eine brutale, sexuell obsessive Figur auf, die sich wieder stärker an den Vorbildern des Kontinents orientierte; insbesondere italienische Literaturformen wurden in England stark rezipiert und galten als vorbildlich. Der Übernahme der Form folgte die der Inhalte, und so waren die englischen Wilden Männer des späten 16. Jahrhunderts eigentlich italienische selvaggi, die in vielen Werken der Commedia dell’Arte auftraten. In diesen selvaggi aber hatten antike Vorbilder, vor allem der Satyr, überlebt, die jetzt, sozusagen undercover, importiert wurden.420 Die sexuelle Bedrohlichkeit des Wilden Mannes, die sich in Shakespeares Caliban421 so ausgeprägt findet, hat hier ihre Wurzeln. Als schließlich auch noch ita416 Dies führte schnell zu einer Professionalisierung des „Wilder-Mann-Marktes“. Aufzeichnungen scheinen zu belegen, dass man um die Mitte des 16. Jahrhunderts Wilde Männer ebenso ordern konnte, wie heute den Magier für den Kindergeburtstag. „We get the impression that these professional wild men, when they hired themselves out, came equipped with inevitable clubs, squibs, and fireworks.“ GOLDSMITH, The wild man on the English stage, 483. 417 „[…] long before the Restoration the wodewose had ceased to terrify and had remained to amuse his spectators.“ Ebd., 483 f. 418 Ebd., 485. 419 Vgl. ebd. 420 Zum Satyr und Silen vgl. E. KUHNERT, „Satyros und Silenos“, in: ROSCHER, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Antike, Bd. IV, Sp. 444–531. 421 WILLIAM SHAKESPEARE, The Tempest [1623], London 1968, I, 2, 345 ff.: „Prospero: […] I have used thee,/ Filth as thou art, with human care, and lodged thee/ In mine own cell, till
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lienische Schauspielertruppen zu einem festen Bestandteil der englischen Theaterlandschaft wurden und fiktive Reisebeschreibungen à la Mandeville, die von ähnlichen Kreaturen aus fernen Ländern berichteten, große Verbreitung fanden, war der Prozess der Verschmelzung des Wilden Mannes und der selvaggi nicht mehr aufzuhalten.422 Noch bei SPENSER sind diese zwei Stränge, aus denen der Charakter nun zusammengesetzt wurde, klar zu sehen und auseinanderzuhalten: Einer der beiden Wilden Männer, die in The Fairie Queene auftauchen, ist ein sanfter, fast schon edler Wilder; der andere ein hinterlistiger Vergewaltiger und Verführer.423 Eine Reminiszenz an die einstige Ubiquität des Wilden Mannes im Theater findet sich noch in GOETHES Faust, wo die Figur an dem großen Aufzug der mythischen und halb-mythischen Wesen teilnimmt: Die wilden Männer sind s’genannt, / Am Harzgebirge wohlbekannt; Natürlich nackt in aller Kraft, / Sie kommen sämtlich riesenhaft. Den Fichtenstamm in rechter Hand / Und um den Leib ein wulstig Band, Den derbsten Schurz von Zweig und Blatt, / Leibwache, wie der Papst nicht hat.424
Aber auch abseits der Hochliteratur und des Theaters war der Wilde Mann – insbesondere in einer Region wie dem Harz, der geradezu als sein „Wohnzimmer“ galt425 – immer wieder im Alltag gegenwärtig. Nicht nur auf den Portalen der Kirchentüren, sondern auch auf Münzen fand sich immer wieder sein Konterfei426: Im Herzogtum Braunschweig waren zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert die sogenannten Harzgulden im Umlauf, „im avers mit dem wilden mann“427. Die Bürger von Hameln, dem Fundort des populärsten deutschen Wilden Kindes des 18. Jahrhunderts, hatten die Figur also in ständiger Griffweite. Die Rolle des Wilden Mannes im Volksglauben beschäftigte schon MANNHARDT, der zu dem Schluss kam, die Vielzahl der noch im 19. Jahrhundert anzutreffenden Überlieferungen spiegele den Glauben der Bevölkerung wieder. Mann-
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thou didst seek to violate/ the honour of my child. Caliban: O ho, O ho! Would’t had been done!/ Thou didst prevent me. I had peopled else/ The isle with Calibans.“ GOLDSMITH, The wild man on the English stage, 488: „[…] the wild man of the 1590’s often took on a monstruous, hideous shape, adopted cannibalism, and became a cruel ravisher of ladies.“ Die Dramatiker erschaffen ihren Erzählstoff in aller Regel nicht neu; auch in den „historischen“ Stücken Shakespeares lässt sich nachweisen, dass die Rahmen älteren Volkstraditionen entstammen, auf welche die historischen Fakten nur aufgespannt werden. So bemerkt NORMAN R. VELIE, The dragon Killer, The Wild Man and Hal, in: Fabula, 17 (1976), 269– 74, hier 274 für Henry IV „ […] although historical events supply much of the material of the play, the material is shaped in accordance with narrative traditions and expectations.“ JOHANN W. V. GOETHE, Faust. Erster und Zweiter Teil. Urfaust, Berlin 1965. Hier: Teil 2, Erster Akt (weitläufiger Saal), 183. So notiert JAKOB GRIMM, „Wildemann“, in: DERS. Deutsches Wörterbuch, Bd. XIV, II, Leipzig 1854 ff., Sp. 63–65, hier 64 als Definition: „sagenhafter angehöriger eines riesengeschlechtes, dass vor der geschichtlichen zeit die heimat bewohnt haben soll; nach dem volksglauben noch vereinzelt in den bergen, namentlich im Harz […].“ Dies mag für die weitere Vereinheitlichung der Ikonographie nicht ohne Bedeutung gewesen sein; vgl. HANS HERRLI, Wilde Männer, in: Münzen-Revue, 25, 5 (1993), 612–615. GRIMM, Deutsches Wörterbuch, Bd. XIV, II, „Wildemann“, Sp. 65; hier werden auch noch eine ganze Reihe anderer Prägungen mit dem Motiv aufgeführt.
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hardt begreift als Manifestationen des Wilden Mannes auch Gestalten, die dem bärenstarken Wesen, das uns bekannt ist, nur noch sehr entfernt ähneln.428 Die Moosleute sind den Menschen gut gesonnene Waldbewohner; tut man ihnen Gutes, lässt beispielsweise einen Teil der Ernte liegen, so lohnen sie es durch ihre Hilfe. Sie wissen um die geheimen Kräfte der Waldpflanzen und teilen ihr Wissen in Krisenzeiten den Menschen mit.429 Sie „haben einen behaarten Körper, jedoch ein altes runzliges Gesicht, das an mehreren Stellen gleich alten Baumstämmen ganz mit Moos bewachsen ist. […] Sie wohnen in hohlen Bäumen, nach andern in Mooshütten, betten ihren Kinder auf Moos oder in Wiegen von Baumrinde […] und spinnen das zarte Miesmoos […].“430 Moosleute bilden so eine ganz eigene Gesellschaft, deren Sprache man nicht versteht.431 Diese Wesen sind nach Mannhardt verwandt mit jenen hessischen Waldmännern, die eher wie schreckliche Riesen denn Zwerge wirken, aber eigentlich einen ganz ähnlich menschenfreundlichen Charakter aufweisen.432 In der volkstümlichen Mythologie spielt der Wilde Mann also eine ganz eigentümliche Rolle. Einerseits hilft er den Menschen433: Er weiß insbesondere um die Heilkräfte der Pflanzen des Waldes, eine Annahme, die findige Quacksalber bald ausnutzten, indem sie einen als Wilden Mann verkleideten Helfer mit sich führten, der für die Wirkungskraft der Arzneimittel bürgen sollte. Offenbar eine Werbestrategie mit gutem Erfolg, denn immerhin hielt es die Obrigkeit noch 1800 für angebracht, in einer Polizeiordnung diesen Betrug zu verbieten.434 Auch dieses Faktum weist darauf hin, dass der Wilde Mann vielleicht tatsächlich, wie Mannhardt meinte, bis ins 19. Jahrhundert hinein eine im Volksglauben lebendige Figur 428 „Die Holz- und Moosleute in Mitteldeutschland, Franken und Baiern, die wilden Leute in der Eifel, Hessen, Salzburg, Tirol, die Waldfrauen und Waldmänner in Böhmen, die Tiroler Fanggen, Fänken, Nörgel und selige Fräulein, die romanischen Orken, Enguane, Dialen, die dänischen Ellekoner, die schwedischen Skogsnufvar, endlich die russischen Ljeschie bilden […] eine einzige Sippe mythischer Gestalten.“ MANNHARDT, Wald- und Feldkulte, Bd. 1, 73. 429 Ebd., 80 ff. 430 Ebd., 75 f. 431 Ebd., 77. 432 Ebd., 87 f. Auch BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages, 45 will die Größe des Wilden Mannes nicht für entscheidend halten, ja gerade die Wechselhaftigkeit wird für ihn zu einem auszeichnenden Merkmal: „[…] the wild man is thus a size shifter, whose appearance may vary with the conditions under which he is beheld and with the doctrine in the mind of the beholder.“ 433 In den Alpen wurde sogar das Hüten des Viehs während der Sommerweide dem Wilden Mann anvertraut. BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages, 52. 434 „‚Obschon wegen dem öffentlichen Ausstehen und Medizinverkaufen der Marktschreier und sogenannten Waldmänner bereits unter dem 14. November 1783 die Inhibitionsverordnungen erlassen worden, so will doch vorkommen, dass dessen ungeachtet an einigen Orten selbe wiederum öffentlich ausstehn und Medizinen verkaufen.‘ (Bavarian order of April 1800)“ BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages, 197 f. Bernheimer gibt als Quelle „Grimm’s Wörterbuch, article ‚wilder Mann‘“ an; hier findet sich der vorstehende Text zwar nicht, immerhin aber ein kurzer Verweis darauf, dass eine der Bedeutungen von Wilder Mann „ein mit schmieren und kräutern behandelnder quacksalber oder zauberer, auch waldhannsel genannt“ sei.
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2. Schattenwürfe: Das Substrat der Diskussionen
blieb. Andererseits ist er aber auch ein erschreckendes Wesen: Seine Hässlichkeit, seine wilder Lebensraum, der nur geisterhafte Wesen hervorbringen konnte, schließlich seine Vorliebe für Unwetter machten ihn mehr als nur suspekt.435 Die destruktiv-einschüchternden Züge behielten damit wohl letztlich die Überhand über seine Rolle als sanfter Vegetationsdämon. Immer jedoch blieb der Wilde Mann der Volkskultur eine sehr viel magischere Figur als jener der Literatur und der Bühne. Er war sicher nicht einfach ein in der Wildnis lebender Mensch, der im Laufe der Zeit einige zweitrangige körperliche Sondermerkmale ausgebildet hatte. Vielmehr wurde er zu der geisterhaften Schar gezählt, welche die tiefen Wälder bewohnte. Seit dem 13. oder 14. Jahrhundert verschmolz er allmählich mit der Wilden Horde436, örtlich war er sogar ihr Anführer.437 Vor allem im Alpenraum und in Norditalien haben bis heute eine ganze Reihe von Ritualen und Mummenschänzen überlebt, die vor allem die Weihnachts- und Karnevalszeit prägen. Die Maskenträger gehörten vielerorts lange Zeit zu einer auserlesenen kleinen Gruppe von Geheimgesellschaftlern; das Tragen der Maske sollte sie tatsächlich mit den Fähigkeiten des Wilden Mannes ausstatten.438 Ein gewisser Erfolg blieb offensichtlich nicht aus, denn eine ganze Anzahl von Polizeiordnungen versuchte, dem Treiben der Wilden Männer, vor allem während der Karnevalsumzüge, Einhalt zu gebieten.439 2.4.5. Zu neuen Ufern Der Wilde Mann im eigentlichen Sinne, dessen Züge hier zu skizzieren versucht wurden, erfuhr schon im 16. Jahrhundert, und noch stärker seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts eine radikale Umdeutung, die vor allem mit den in immer größerem Umfang nach Europa strömenden Reiseberichten zusammenhing. Denn an verschiedenen Orten waren die europäischen Entdecker auf Wesen gestoßen, die ihm zu entsprechen schienen. Erhärtet wurde dieser Verdacht durch eine Bezeichnungsähnlichkeit, die sich im südostasiatischen Raum fand: Orang-Outang, am besten zu übersetzen mit „Wilder Mann der Wälder“. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war der Bezeichnung „Wilder Mensch“ schließlich ein ganz neuer Sinn zugeordnet worden: Menschenaffe.440 Der Status der Primaten wiederum sollte 435 BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages, 44. 436 Zuvor stellte der Wilde Mann ein von dieser Gesellschaft getrenntes Wesen dar; die Annahme, dass man somit eine sozusagen „urgermanische“ Figur vor sich habe, weist BERNHEIMER, Wild Men in the Middle Ages, 73 ff. zurück. Aufgrund der regionalen Verbreitung hält er es für wahrscheinlicher, dass sich hier Überreste eines antik-heidnischen Glaubens erhielten. 437 Vgl. ebd., 73. 438 Manchmal führte das Anlegen der Maske auch zu einer Transformation in einen Bären: ein Anzeichen dafür, dass Bär und Wilder Mann in diesem mythologischen Kontext kaum getrennt werden können. Vgl. ebd., 58. 439 Vgl. ebd., 61. 440 „Wilde Menschen“, in: ZEDLER, Universal-Lexicon, Bd. 56, Sp. 802–804, hier 804: „In den unbekannten Gebürgen Indiens sollen Menschen anzutreffen seyn, die über ihrem Hintern einen Stiel oder Schwanz einer Spannen lang haben […]. Dies sind der Beschreibung nach leibhafftige Affen […].“ Eine Rasse von Wilden Menschen will Zedler keinesfalls gelten las-
2.4. Ein Prototyp? Der Wilde Mann
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auf lange Zeit unklar bleiben, und noch gegen Ende des Jahrhunderts ging MON441 BODDO davon aus, dass Orangs tatsächlich eine Unterart des Menschen darstellten. Die Entwicklungen des 19. und 20. Jahrhundert müssen hier kaum weiter ausgeführt werden. Im 19. Jahrhundert kam es zunächst zu einem Rückschlag in der Bewertung des Wilden Mannes, der nun, im Zeitalter des Kolonialismus, endgültig mit den „Wilden“, die man in den Kolonialgebieten vorzufinden glaubte, identifiziert wurde. Klare Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse resultierten in einer Rückweisung des Ideals des bon sauvage; stattdessen meinte man in den „primitiven“ Völkern nun ein Beispiel einer arrested humanity442, einen gleichsam in seiner Entwicklung festgefrorenen Teil der Menschheit erblicken zu können. Als paradigmatisch für eine solche kolonialistische Sicht mag Conrads Heart of Darkness gelten. Der zivilisierte Mensch sieht sich einem alter ego gegenüber, einem Teil seiner eigenen überwundenen oder verdrängten Entwicklungsgeschichte. Die Vergangenheit hat sich in weit entfernten Räumen erhalten. Erst die Überwindung dieser Ethnozentrik ermöglichte einen freieren Blick auf diese Kulturen, die schließlich nicht mehr als Vorstufen der eigenen Zivilisation, sondern als kulturelle Manifestationen eigenen Rechts und eigener Logik wahrgenommen wurden. Schon hier wird die Linie deutlich, die das 20. Jahrhundert einschlagen sollte: Der Wilde Mann wurde psychologisiert. Er wird, um mit MOBLEY zu sprechen, zu einem „walking (or crawling) Id“443, zu einem vom Anstrich der Zivilisation nur dünn übertünchten Urwesen des Menschen. Damit kehrt der Wilde Mann in unsere Gesellschaft zurück: Vom 18. und 19. Jahrhundert in die fernsten Gegenden des Erdballs expediert, ist er nun nicht nur da, wo er bereits im Mittelalter war – der unmittelbaren Nachbarschaft des Menschen –, sondern noch viel näher gerückt: unter unsere Haut.
sen; allenfalls könne man noch annehmen, „daß schon in den alten Zeiten kleine Kinder unter die wilden Thiere gerathen, und unter denenselbst aufgewachsen sind, welche, wenn man sie von ohngefähr erblicket hat, für wilde Menschen sind gehalten worden. […] [D]ann ist’s geschehen, daß man aus einem eintzelnen wilden Menschen gleich eine Nation gemacht hat.“ 441 Zu Monboddo vgl. Kap. 4.4. 442 WHITE, The Forms of Wildness, 34. 443 MOBLEY, The wild man in the Bible and the ancient Near East, 218.
3. SPRUNG INS LICHT: PETER VON HAMELN Die Geschichte des Wilden Peter, welche noch weit mehr als die des Mädchens von Zwolle eine breite zeitgenössische Öffentlichkeit fand, ist bereits an verschiedenen Stellen, jedoch nur selten ausführlich, vorgetragen worden.1 In den Auseinandersetzungen und schließlich der Instrumentalisierung des Falles wird in vielen Beziehungen zum ersten Mal das Eigentümliche des 18. Jahrhunderts greifbar, aufklärerischer Elan ebenso wie längst nicht überwundene Verhaftung in überkommenen Denkmodellen vorwissenschaftlich-abergläubischer Art. Eine möglichst exakte und fundierte Rekonstruktion der Geschichte des Wilden Jungen von Hameln erscheint daher ratsam, denn meist bleibt der Fall lückenhaft und einseitig belegt. Dies lässt sich als Folge einer generellen Crux der Forschung auf diesem Gebiet begreifen: Eben weil ein erhebliches Eigeninteresse der verschiedensten Wissenschaftsdisziplinen existiert, ist die Perspektive der Autoren häufig ausschnittartig verengt. Dabei sind die zur Verfügung stehenden Quellen in ihrer Vielfältigkeit überwältigend; sie ermöglichen geradezu einen Panoramablick. Diese Breite ergibt sich vor allem aus zwei Begleitumständen: Zum einen bleibt Peter kein Wildes Kind, sondern wird sozusagen zu einem Wilden Greis – er erreicht ein hohes Alter. Zwar ist sein Leben nicht gleichmäßig dokumentiert, aber bis zu seinem Tod 1785 bietet er doch immer wieder Anlass für die eine oder andere kurze Nachricht. Peter steht damit im Gegensatz zu einer Vielzahl anderer Fälle, in denen die Kinder entweder kaum ein jugendliches Alter erreichten oder die Öffentlichkeit schnell jegliches Interesse an ihnen verlor. Noch entscheidender scheint jedoch, dass sich keines der Kinder auch nur entfernt in einem so weiten geographischen Raum bewegte. Peter wird zwar bei Hameln gefunden, aber er stirbt schließlich im englischen Hertfortshire; Celle, Hannover und London markieren weitere Etappen seines erstaunlichen Lebensweges. Der Aufenthaltsort bestimmte jedoch maßgeblich die Art des sich an ihn jeweils anheftenden Diskurses: Diese Entwicklung zu verfolgen wird eine der Hauptaufgaben des vorliegenden Kapitels sein. Ein kurzer Überblick über die wesentlichsten zur Verfügung stehenden Materialien erscheint demnach angemessen. Peter erreichte in einigen Phasen seines Lebens, insbesondere im Jahr 1726, eine erhebliche Popularität, die den Rahmen des deutschen Sprachraums deutlich sprengte. Nachrichten finden sich insbesondere in der mit Macht expandierenden zeitgenössischen Presse, einer Quellen-
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In letzter Zeit etwa: NEWTON, Savage Girls and Wild Boys, 16–52; COLLINS, Not Even Wrong, 1–58. Durchaus beachtenswert auch MICHAEL BÜTTNER, Der „wilde Peter von Hameln“ – Die Debatte über seine Natur und Entwicklung, unv. Dipl.-Arbeit Oldenburg 1997.
3.1. Die deutsche Presse: Zwischen Sensation und Skepsis
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gattung, die bisher allenfalls in Ansätzen ausgewertet wurde.2 Die Berichterstattung beginnt mit dem Jahreswechsel 1725/26; danach finden sich im deutschen Sprachraum nur noch sporadische Mitteilungen, die, soweit nachvollziehbar, mit dem Jahr 1786 enden. Hinzu treten kleinere monographische Druckwerke, die das erhebliche Interesse der Öffentlichkeit widerspiegeln. Vor allem die Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht von dem bey Hameln im Felde gefundenen Wilden Knaben3 ist eine unersetzliche Hilfe bei der Rekonstruktion der Frühgeschichte des Fundes, auf der auch die Darstellung in ZEDLERS Universal-Lexikon beruht.4 1749, ein Vierteljahrhundert nach dem Fund, erscheint ferner die Copia eines Schreibens […] wegen des bei Hameln gefundenen Knaben im Druck5; auch diese erweist sich als wertvoll, liefert sie doch wesentliche Einblicke in die Motive, die dem Verhalten der Hamelner Bevölkerung zugrunde lagen. Der hannoverische Kammerschreiber HEINRICH REDECKER, eine der wesentlichen Quellen Blumenbachs, behielt den Fall über mehrere Jahre im Blick, auch wenn er kaum Augenzeugenstatus für sich beanspruchen können dürfte und seine handschriftlichen Aufzeichnungen offensichtlich auf den in der Presse erschienenen Nachrichten basieren.6 Auch nach der durch Georg I. im Frühjahr 1726 initiierten Verschiffung Peters nach London veränderte sich der Fokus der Mitteilungen zunächst kaum. Die deutschen Leser wurden nach wie vor bezüglich der Vorkommnisse aus England auf dem laufenden gehalten. Dort wird der Wilde Junge aus dem dominion für kurze Zeit zu einem Medienstar; Swift, Arbuthnot und Defoe widmen ihm Schriften, die eine ganz neue Sicht auf ihn eröffnen. Für den letzten Lebensabschnitt Peters – die Zeitungsmeldungen werden nun zunehmend dünn, die literarische Eintagsfliege ist längst gestorben – konnte schließlich auf eine Unzahl von Randbemerkungen rekurriert werden, die nachweisen, dass der young Forester, wie ihn Defoe nannte, bis zu seinem Tod eine erhebliche Popularität in England behielt. 3.1. DIE DEUTSCHE PRESSE: ZWISCHEN SENSATION UND SKEPSIS Wurde in Kapitel 1 die enorme Erwartungshaltung geschildert, die Victor 1800 entgegenschlug, ergibt sich für Peter ein völlig anderes Bild. Dessen Auftauchen bei Hameln – je nach Quelle im Frühjahr oder Sommer 1724 – ruft zunächst nicht 2 3 4 5
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Ansätze liefern DIETER RICHTER, Das fremde Kind. Zur Entstehung der Kindheitsbilder des bürgerlichen Zeitalters, Frankfurt a. M. 1987 und KLAUS VÖLKER (Hg.), Werwölfe und andere Tiermenschen, München 1994. Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht von dem bey Hameln im Felde gefundenen Wilden Knaben […], Hamburg 1726. ZEDLER, Universal-Lexikon, Bd. 56, „Wilde Knabe, hamelischer“, Sp. 785–792. JOHANN FRIEDRICH PALM, Copia eines Schreibens des ietzigen Herrn Burgerm. Palm zu Hameln […] wegen des bei Hameln gefundenen Knaben, in: C. F. FEIN, Die entlarvete Fabel vom Ausgange der Hämelschen Kinder, Eine nähere Entdeckung der dahinter verborgenen wahren Geschichte, Hannover 1749. HEINRICH REDECKER, Historische Collectanea von der Königl.n und Churfürstl.n ResidentzStadt Hannover […] am 8. Julii, An. 1723 angefangen, StA Hannover B 82 88 a.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
nur ein geringeres, sondern schlicht überhaupt kein nachweisbares Echo hervor; die Presse nimmt keinerlei Notiz. Insofern erklären sich auch die Unstimmigkeiten in den Quellen bezüglich der exakten Umstände des Fundes; sie sind allesamt Rekonstruktionsversuche eines bereits Jahre zurückliegenden Ereignisses. Setzt man voraus, dass Hameln zu Beginn des 18. Jahrhunderts zwar sicher nicht der Nabel der Welt, jedoch durchaus eine Stadt von regionaler Bedeutung und keineswegs unzivilisiertes, von der Außenwelt isoliertes Niemandsland war, muss dies überraschen; immerhin hatte das Mädchen von Kranenburg in relativer zeitlicher Nähe für ein erhebliches Aufsehen gesorgt. Zudem zeigt die spätere Berichterstattung, dass auch um 1725 die existierende Kommunikationsstruktur eine schnelle Verbreitung der Neuigkeit durchaus erlaubt hätte.7 Die Tatsache, dass dem Fund zunächst kaum Bedeutung zugeschrieben wird8, verweist also auf im Vergleich zu 1800 deutlich differierende Rahmenumstände. Dass sich der Fall des Wilden Peter mit einem Zeitversatz von etwa anderthalb Jahren dann doch zu einer Sensation entwickelte, an die sich eine umfangreiche literarisch-wissenschaftliche Verarbeitung anheftete, ist nach Quellenlage im Wesentlichen einem einzigen Umstand geschuldet: dem Aufenthalt des britischen Monarchen Georg I. auf seinem Stammsitz Herrenhausen, der im Frühsommer 1725 begann und sich mit einigen Unterbrechungen bis zum Beginn des Jahres 1726 hinzog. Im Hintergrund steht hier die 1714 erfolgte Sukzession in der britischen Thronfolge durch das Haus Hannover, die eine enge Verbindung zwischen dem Kurfürstentum Hannover und Großbritannien etablierte. Als König war Georg, den es immer wieder in seine hannoverische Heimat zog und der zeit seiner Regentschaft die englische Sprache nur bruchstückhaft erlernte, natürlich eine prominente Figur ersten Ranges, und die mediale Berichterstattung über seine Person verlief bereits in durchaus ähnlichen Bahnen, wie wir es von der heutigen Sensationspresse gewohnt sind. Der im Herbst 1725 beginnende und im Frühjahr 1726 endende Besuch des Königs in Hannover war dementsprechend ein Medienereignis, und die Leserschaft wurde über die Verrichtungen Georgs – Empfänge verschiedener Gesandter, aber auch Jagdstrecken – auf dem laufenden gehalten.
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Wenn auch Großbritannien zweifellos eine Führungsposition zukommt, sollte die Bedeutung der Zeitungen im deutschen, und ganz besonders im norddeutschen Sprachraum nicht unterschätzt werden. Mögen die Auflagezahlen für heutige Maßstäbe niedrig erscheinen – größere Zeitungen erschienen in etwa 800–1500 Exemplaren –, war die Zahl der Rezipienten doch um ein Vielfaches größer, die Leserschaft bereits schichtübergreifend, so dass MARGOT LINDEMANN, Deutsche Presse bis 1815. Geschichte der deutschen Presse, Teil I, Berlin 1969, 133 davon ausgeht, dass „zumindest ein großer Teil der Bevölkerung […] Zeitungen las und sich mit dem Gelesenen auseinandersetzte“. Heute wäre er sicherlich im Rahmen der Lokalberichterstattung verarbeitet worden; diese existierte um 1720 jedoch noch nicht, wohl weil man hier keinen Absatzmarkt zu finden glaubte: Diese Nachrichten wurden ohnehin mündlich vermittelt. Vgl. LINDEMANN, Presse, 144.
3.1. Die deutsche Presse: Zwischen Sensation und Skepsis
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3.1.1. Erste Meldungen: Ein Waldmensch… Ganz anders als bei Victor sind es also nicht die Suchscheinwerfer von Wissenschaft und Presse, die Peter schließlich erfassen; vielmehr stolpert dieser mehr oder minder in den Lichtkegel, der auf die Bühne Georgs I. in Herrenhausen gerichtet ist. A Leap in the Light, wird Defoe weniger Monate später notieren, sei sein Weg aus dem Wald zum Hof gewesen. Dabei sind die ersten Mitteilungen kurz, sie erwähnen den „wilden Knaben“ nur beiläufig, wenn auch nicht ohne Interesse an den abenteuerlichen Details. Am schnellsten reagieren noch im Dezember 1725 die Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen und die Vossische Zeitung: Hannover. Man hat Sr. Koeniglichen Majestaet einen Knaben von etwan 15 Jahren gebracht, der in einem Walde nahe bey Hameln gefunden worden, allwo er auf Haenden und Fuessen gieng und auf die Baeume kletterte, wie ein vierfueßigtes Thier. Weil er nicht reden kan, so weiß man nicht, wie oder wenn er in diesen Wald gekommen, allwo er bloß vom Mooß und Kraeutern gelebet. Man gewöhnet ihn nach und nach zu den ordentlichen Speisen und der Koenig hat verordnet, ihn so viel wie möglich zu unterweisen.9 Hannover, den 15. Decembr. Man hat vor wenig Tagen an Se. Groß=Britannische Majestät zu Herrenhausen einen Jüngling von 14. biß 15. Jahren präsentiret, welchen die Jäger in dem Hamelischen Busche auf Hände und Füßen als ein vierfüßig Thier gehend, und die Bäume mit grosser Geschwindigkeit hinauf kletternd, gefunden haben; Man hat aber noch nicht erfahren können, wie, oder auf was vor Arth er dahin gekommen, oder wie lange er allda gewesen, und wormit [!] er sein Leben daselbst erhalten, maßen er nichts sprechen, oder den geringsten Lauth von sich geben will. Auf Se. Majestät Ordre wird er indessen wohl verpfleget, und wartet man mit Verlangen, was man endlich von der Sache erfahren werde.10
Die Berichterstattung gestaltet sich also zunächst recht einmütig und zumindest im Tonfall durchaus zurückhaltend; das Datum des ersten Zusammentreffens Georgs mit Peter lässt sich durch die in der Vossischen Zeitung vorgenommene Datierung recht genau auf Anfang bis Mitte Dezember 1725 festlegen. In einem ansonsten fast wortgleichen Bericht des Hamburgischen Correspondenten, erschienen im Januar 1726, wird der „Intendant des Zucht=Hauses zu Zelle“ als die Person genannt, die den Knaben vorführte.11 Betont werden von beiden Quellen Verhaltensauffälligkeiten des Knaben; physische Deformationen werden nicht genannt, warum Peter der Sprache ermangelt nicht erörtert. Ganz offensichtlich trug niemand Bedenken, hier einen jungen Menschen, also weder ein Tier noch ein Monstrum, vor sich zu haben, obwohl die quadrupede Art der Fortbewegung, wie sie überliefert wurde, gewisse Parallelen nahe legte. Möglicherweise zweifelten aber bereits die Korrespondenten an der Zuverlässigkeit der Aussagen der Jäger, die ihn gefunden zu haben behaupteten. Da beide Quellen die vierfüßige Fortbewegung auf die Zeit des Auffindens datieren, scheint Peter beim Auftritt vor dem König keine solchen Auffälligkeiten gezeigt zu haben. Jedenfalls wurde 9
„Hannover.“, in: Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen, Bd. XI, CIV (Dezember 1725), 1014. 10 „Hannover, den 15. Decembr.“, in: Vossische Zeitung, 29. Dezember 1725, o. P. 11 „Hannover, den 24. Dec.“, in: Hamburgischer Correspondent, I. Stück (1726), o.P.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
das Interesse des Königs geweckt, denn dieser mag sich von der Anordnung, Peter „so viel wie möglich zu unterweisen“, wohl letztlich genauere Informationen versprochen haben. Die sich aufgrund des politischen Tagesgeschäfts verschiebende Abreise Georgs sorgte zudem dafür, dass der Knabe nicht binnen kürzester Frist wieder aus dem Blickfeld geriet.12 Ist Peter bei seinem Eintritt in das Licht der Öffentlichkeit noch eine Randnotiz, so wandelt sich dieses Bild mit verblüffender Geschwindigkeit, und bald gerät der König zur Dekoration der eigentlichen Nachricht, dem Wilden Knaben aus Hameln. Zwei Wochen nach der erstmaligen Erwähnung Peters melden das Wienerische Diarium, die Grazer Europäische Zeitung und der Hamburgische Correspondent in praktisch wortgleichen Berichten:13 Hannover 31. December. Der Knabe/ welcher im vorigen Sommer von denen Jägern im Walde bey Hameln angetroffen/ und von dar nach Zelle/ auch letztens anhero vor Ihro Königl. Majestät gebracht worden/ ist sehr wilder und grober Art und da man ihn im Walde erbliket gantz nakend gewesen und soll zu seiner Behausung einen hohlen Baum gehabt haben/ den er mit Moos ausgefüttert. Anfangs hat er keine Kleider auf dem Leibe haben wollen/ sondern alles zerrissen/ aber auf starkes Anreden/ und Bedrohungen mit Schläge/ dieselbe endlich behalten/ und lässet sich nunmehro ziemlich regieren. Die Augen stehn ihm etwas wunderlich im Kopfe/ und die Haare sind ihm ins Angesicht vorwärts gewachsen gewesen/ anietzo sind sie aber schon anders gewehnet. Er greiffet mit denen Händen gantz plump in die Schüssel/ und reisset das Fleisch mit denen Zähnen voneinander. Seine angenehmste Speise soll seyn Hasel-Nüsse und grün Kraut/ ohne Zweiffel darum/ weil er im Walde mit dergleichen sich mag ernehret haben. Er küsset die Hand/ seine Dankbarkeit anzudeuten/ und kratzet mit einem Fuß aus. Wird ihm Geld gegeben/ so stecket ers bey sich. Er hat zwar wenig Verstand/ und keine Sprache/ doch wenn man ihm nunmehro ein und andere Buchstaben vorsaget/ so kann er sie vernehmlich nachsprechen/ weil ihme die Zunge gelöset ist. Man hat observiret/ daß derselbe Mine gemacht/ als wenn er vor sich gesungen/ und hat geschienen/ als wenn es der Melodey des Schäfer Liedes gleich gewesen/ welches er ohne Zweiffel denen Schäfern (so vielleicht nahe am Walde gehütet) mag abgelehrnet haben. Wie er vor Se. Königl. Majestät gestellet worden/ hat er sich gar munter aufgeführet/ und wunderliche Actus gemacht/ auch wie man sagt/ sich mit beiden Armen auf die Tafel geleget/ und alle angesehen habe. Man hat ihn wieder nach Zelle ins Waisen=Hauß gebracht und beschlossen/ ihn in die Schule gehen zu lassen/ um zu sehen/ ob er durch das viele Lesen und Betten der Kinder bald zu unserer Sprache gebracht werden könne. Wie er mag in den Wald 12 „Hamburg, 25. December.“, in: Wienerisches Diarium, Nr. 2 (5. Januar 1726), o. P. „Wie aus dem Hannoverischen verlautet/ so sollten Ihre Königl. Majestät von Groß=Britannien dero Abreise von dannen nach Engelland deswegen ausgesetzet haben, dass sie noch vorhero die schließliche Resolution derer Herren General=Staaten/ wegen ihres Beytritts zu der neuen Alliantz/ durch einen Expressen erwarten wolten […]“; es folgt eine kurze Erwähnung des Zusammentreffens mit dem Knaben in Herrenhausen. 13 Die Artikel der Europäischen Zeitung entsprechen im Februar 1726 wortgleich denen des Wienerischen Diariums und erscheinen jeweils etwa 10 Tage später; sie werden darum hier nicht weiter berücksichtigt. Dies ist durchaus nicht ungewöhnlich: Die meisten Zeitungen verfügten nicht über die Geldmittel, eigene Korrespondenten, die exklusiv berichteten, zu unterhalten. So war das Kopieren von Meldungen oder die Übernahme von Nachrichten vom selben Korrespondenten an der Tagesordnung. Die Korrespondentenbeiträge wurden in aller Regel auch nicht weiter redaktionell bearbeitet, was die exakte Wortgleichheit erklärt; vgl. LINDEMANN, Presse, 143. In der Folge wird in diesen Fällen i. d. R. der zuerst erschienene Artikel zitiert.
3.1. Die deutsche Presse: Zwischen Sensation und Skepsis
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gekommen seyn/ ist noch unbekannt; Indessen hoffet man/ wenn er erst wird sprechen können/ von ihme selber einige Nachricht zu erhalten.14
Damit markiert der Januar 1726 einen Umschlag in der Berichterstattung. Von der zögerlich-vorsichtigen Art der ersten Berichte ist nicht mehr viel zu spüren. An die Stelle der Notiz treten nun längere Berichte mit einem deutlichen Hang zur Betonung sensationell-kurioser Aspekte und damit eine grundlegend differierende Darstellung des Fündlings, die dessen Charakteristika massiv umwertet. War der Junge noch im Dezember und Januar ein Mensch mit einigen Verhaltensauffälligkeiten, die an tierisches Verhalten erinnerten, kippt dieses Verhältnis nun zusehends. So liefert die Einleitung des Artikels das Bild eines nackten, in einem hohlen Baum vor sich hin vegetierenden und sich tiergleich ernährenden Wesens – der Wilde Mann ließ grüßen. Kein Wunder, dass es nun die menschlichkulturellen Qualitäten wie Handkuss, Kratzfuß oder Wertschätzung des Geldes sind, die als kurios herausgestellt werden, weil sie sich mit der zugrunde liegenden Folie nicht mehr zur Deckung bringen lassen. Peter erscheint insofern vor allem als Muster an Unzivilisiertheit: Das Zerreißen des Fleisches mit den Zähnen, die Ablehnung von Kleidung und nicht zuletzt das ganz und gar nicht standesgemäße Anstarren höhergestellter Persönlichkeiten stellten seinen menschlichen Status – wenn nicht in einem biologischen, so doch in einem sozialen Sinne – ganz offensichtlich ernsthaft in Frage. Hinzu kommen körperliche Auffälligkeiten: die ins Gesicht gewachsenen Haare, die Augen, die ihm „etwas wunderlich im Kopfe“ stehen. Als wirkliches Tier mochte man den Jungen andererseits doch auch nicht klassifizieren, was zu der Notwendigkeit führte, das so unmenschliche Verhalten und Aussehen nachvollziehbar zu erklären und als veränderlich darzustellen. Dies geschieht nun an mehreren Stellen. Die Haare stellen offenbar bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens des Artikels kein Problem mehr dar, und auch Kleidung wird bereits akzeptiert.15 Das drückendere Problem der fehlenden Sprache wird durch eine körperliche Behinderung erklärt, die durch das angesprochene Lösen der Zunge als beseitigt angesehen wird; erste Erfolge zeigten sich dem Bericht zufolge ja bereits. Auch die Unterbringung des Knaben in einem Waisenhaus und dessen schulische Unterweisung passen sich in dieses Bild ein. Peter erscheint unter dieser Aspektierung dann doch wieder als allenfalls oberflächlich animalisierter Mensch, dessen körperliche und geistige Kapazitäten der Freilegung bedurften. Der Gesamtkomplex der beschriebenen Effekte wurde offensichtlich vom Leben im Wald hervorgerufen. Völlig evident erscheint dem Autor dies in Bezug auf die kulinarischen Vorlieben des Jungen; aber auch die bedauernswerte geistige Verfassung lässt sich aus der Quelle heraus kaum anders deuten, wie die schnellen 14 „Hanover 31. December“, in: Wienerisches Diarium, Nr. 6, (19. Januar 1726), o. P.; vgl. auch den praktisch wortgleichen Abdruck: „Hannover, den 12. Jan.“, in: Hamburgischer Correspondent, XII (1726), o. P. 15 Dabei muss bedacht werden, dass der Artikel den Fund Peters falsch, nämlich auf den „vorigen Sommer“, also Sommer 1725 datiert; Peter befand sich aber tatsächlich bereits seit mehr als anderthalb Jahren durchgehend in menschlichem Gewahrsam.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Fortschritte unter menschlicher Obhut zu belegen scheinen. Zunächst nicht zu lösen ist die Frage der Verweildauer im Wald, aber wenn am Ende der Quelle der Hoffnung Ausdruck verliehen wird, dass der Knabe nach geglücktem Spracherwerb möglicherweise selber Auskunft darüber, wie „er mag in den Wald gekommen seyn“ geben könnte, schließt dies eigentlich aus, dass er bereits im sehr frühen Alter dorthin gelangte. Entgegen dieses Gedankenganges findet sich im Wienerischen Diarium vom 26. Januar 1726 eine kurze Notiz, welche die Vorfälle generell bestätigt, aber auch um ein weiteres Element anreichert: Hamburg 12. Januarii. […] Was jüngsthin von Hannover von einem in dem Hammel=Wald [!] gefangenen wilden Knaben gemeldet worden/ wird beyläuffig und zwar mit dem Zusatz bestättiget/ daß derselbe alle menschliche Gesellschaft beförchtet/ Mittel gefunden hätte aus seiner Verwahrung zu entfliehen/ und sich in besagten Wald/ als sein altes Vatterland/ zu retiriren/ worinnen er zum zweytenmal auf einem Baum gefangen worden seye.16
Endgültig wird hier der Wald als eigentliche Heimat des Fündlings festgeschrieben. Man mag sogar soweit gehen zu sagen, dass der Begriff „Vatterland“ ein Weiteres impliziert, nämlich die Aufzucht durch ein Tier. Das gezeigte Verhalten entspricht dann ja auch dem eines wilden Tieres, das die erste Gelegenheit zur Flucht nutzt – rational verständlich war es jedenfalls nicht, dass die „menschliche Gesellschaft“ so „beförchtet“ wurde. War der Junge also doch eine Kreatur, die eine lebenslange Verweildauer im Wald geprägt hatte? Zumindest in Ansätzen scheint diese These hier vertreten zu werden, und damit lag eine echte Sensation in der Luft, die bereits zu diesem relativ frühen Zeitpunkt versprach, eine über die Grenzen der deutschen Territorien hinausgehende Brisanz zu erlangen.17 3.1.2. …oder doch nicht? Sind zur Jahreswende 1725/26 die ersten Berichte über den dem König vorgestellten Knaben noch fast kongruent, etabliert sich bereits im Februar 1726 in der Presse eine deutlich differierende Sicht der Dinge, deren Vorreiter die Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen werden. Damit liegen wenige Wochen nach der 16 „Hamburg 12. Januarii“, in: Wienerisches Diarium, 8 (26. Januar 1726); eine sehr ähnliche Meldung findet sich bereits am 17. Januar: „Ausm [!] Holsteinischen den 4. Januarii“, in: Schlesischer Nouvellen Courier, 7 (1726), o. P.; der Vorfall wird hier auf den 4. Januar datiert: „[…] Der wilde Junge, so neulich in dem Hamler Wald gefunden worden, soll seinen Aufsehern entgangen, und wieder zurück in die Wildniß gelaufen seyn, wie er sich da auf einen Baum, wo er sicher zu seyn vermeynte, retiriret hätte.“ 17 So verzeichnet die Relation curieuse, wenn auch etwas später, ebenfalls das Ereignis: „On a attrapé dans la forêt de Hamelen un jeune homme âgé d’environ 15. ans. Il marchoit & courroit sur ses mains & pieds, & grimpoit sur les arbres avec la dernière agilité; il n’a pas l’usage de la parole, & il ne se nourissoit que d’herbes, des racines, & de mousse. On l’a présenté au Roy, qui a ordonné d’en avoir soin, & de tâcher de l’instruire; mais quelque jours après il s’est échapé & regagné le bois, où on l’a repris, & fut ensuite envoyé a Londres en Angleterre. „Homme sauvage pris dans la forêt de Hamelen.“, in: Relation curieuse Des choses les plus remarquables […] depuis le Mois de Septembre 1725. jusque à présent, Vingtième Suite (1726), 105.
3.1. Die deutsche Presse: Zwischen Sensation und Skepsis
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ersten nachweisbaren Nachricht prototypische Elemente der sich später entwickelnden Diskussion fest. Goettingen. Herr Inspector Heumann hat sich wegen des unlaengst bey Hameln gefundenen Knabens, von dem in unterschiedenen Zeitungen gedacht worden, genauer erkundiget, und von glaubwuerdigen Persohnen des Orths die Nachricht erhalten, daß die dabey gemeldeten Umstaende [es folgt ein Verweis auf den o. a. Artikel von Dez. 1725; H.B.] sich ganz ungegruendet befaenden; massen weder vor Hameln ein Wald sey, darinn der Knabe eine so lange Zeit unter den wilden Thieren haette leben koennen, noch auch viehische Geberden an ihm wahrgenommen worden. Vielmehr habe man aus denselben abnehmen koennen, daß er von Catholischen Eltern herstammen und ihnen vor kurtzer Zeit entlauffen seyn muesse; indem er sich gesegnet, zum öfftern an die Brust geschlagen &c. Ja man hat auch Nachricht, daß ein Krueger zu Wichtringen [!] einem Orthe im Paderbornischen, dergleichen unsinnige Kinder gehabt, deren ihm 2 weggelauffen, worauf man von dem einen das Gerippe im Holtze gefunden. Einige, welche da herum wohnhafft und hier durch gereiset, haben versichert, daß der Knabe vorgedachtem Krueger zugehoere, ob sich gleich derselbe nicht dazu bekennen wollen. Es ist aber der Knabe im Julio des Jahrs 1724 nach Hameln kommen, da er zuerst vor dem Thore im Hemde gesehen und darauf herein gebracht und ins Armen=Hauß ad beneficium Sti. Spiritus gethan worden. Von da hat man ihn nachgehends weg genommen und zu einem Buerger ins Hauß gethan, um zu sehen, ob er sich zu einem Handwercke schicke. Da man aber befunden, daß kein Verstand da sey, ist er nach Zelle ins Toll=Haus geschickt worden.18
In mehrerer Hinsicht erscheint dieser Artikel in den Leipziger Zeitungen bemerkenswert.19 Zunächst liefert er konkrete, und nun auch verifizierbare, Fakten: Der Zeitpunkt des „Fundes“ – der hier ja kaum mehr als solcher bezeichnet werden kann – wird korrekt auf das Jahr 1724 datiert, die sich anschließende Verwahrung des Knaben nachgezeichnet. Zudem wird mit dem Göttinger Inspectoren HEU20 MANN eine konkrete Quelle für die Informationen angegeben. Für den gegebe18 „Goettingen.“, in: Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen, Bd. XII, XVII (1726, Februar), 165 f. 19 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung galten die Leipziger Zeitungen als generell von hoher Qualität; der Eindruck bestätigt sich hier durchaus. Erst in den 1730er Jahren zeigte sich ein deutliches Nachlassen; vgl. LINDEMANN, Presse, 147. 20 Es dürfte sich dabei mit großer Sicherheit um CHRISTOPH AUGUST HEUMANN (1681–1763) handeln. Heumann, sehr produktiver Autor v. a. theologischer und philologischer Schriften, hatte 1717 das Amt des Inspectoren des Göttinger Gymnasiums übernommen und galt als umfassend gebildeter Mann mit hervorragendem Leumund. In seinem Conspectus Reipublicae Literariae sive via ad historiam litariam inventuti studiosae aperta, das in erster Auflage 1719 erschien und in dem MARTIN GIERL (Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert, in: HELMUT ZEDELMAIER & MARTIN MULSOW (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der Frühen Neuzeit, Tübingen 2001, 63–94, hier 70) das Muster für eine Reihe sich anschließender polyhistorischer Gelehrtengeschichten sieht, hatte er sich auch mit den Praktiken der Presse vertraut gezeigt und dürfte insofern insgesamt als eine ideale Besetzung zur Klärung des Falles gegolten haben. Heumann beendete seine akademische Karriere als ordentlicher Professor für Theologie an der Georgia Augusta; vgl. HALM, Heumann: Christoph August, in: ADB, Bd. 12, 327 ff. und LINDEMANN, Presse, 139. Ob sich Heumann selbst nach Hameln begeben oder, was wahrscheinlicher scheint, brieflich erkundigt hatte, bleibt unklar. Sein Biograph GEORG ANDREAS CASSIUS (Ausführliche Lebensbeschreibung des um die gelehrte Welt Hochverdienten D. Christoph August Heumanns […], Cassell 1768; insbes. 144–176), der Heumanns Wirken als Inspector einigen Raum widmet, erwähnt den Vorgang
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
nen Kontext wesentlicher ist jedoch, dass die Vorgeschichte des Falles völlig abweichend geschildert wird. Wenn oben von einer Betonung der sensationellen Aspekte des Falles die Rede war, so entspricht dieser Artikel offenbar eher unserem Verständnis journalistisch-investigativer Arbeit. Damit wird eine klare Gegenposition bezogen, die implizit eine größere Verlässlichkeit für sich in Anspruch nimmt. Schlagendes Argument ist hier zunächst, dass man sich auf von offizieller Seite vorgenommene Untersuchungen beziehen kann, die ihrerseits auf den Aussagen von „glaubwürdigen Persohnen“ aus Hameln fußen – ohne dass diese jedoch namentlich genannt würden. Es folgt der Generalangriff auf den Kern der Sensation: keinerlei „viehische Geberden“ seitens des Knaben, ja, die „gemeldeten Umstaende“ befinden sich generell „ganz unbegruendet“. Untermauert wird diese Sicht der Dinge durch den Verweis auf die topographischen Eigentümlichkeiten Hamelns: kein ausreichend großer Wald, ergo keine wilden Tiere, ergo keine Übernahme tierischen Verhaltens. Nicht wegzudiskutieren ist jedoch die Auffälligkeit des Knaben; wie hätte sich auch sonst das Interesse des Königs, bzw. überhaupt dessen Vorführung bei Hofe, erklären lassen? Die Gründe sind allerdings höchst profan: Der Junge ist geistig behindert – Blumenbach wird später dasselbe diagnostizieren. Geht man von dieser Voraussetzung aus, ergab sich für die Zeitgenossen eine zwar vielleicht tragische, keineswegs aber besonders ungewöhnliche Geschichte. Ausgesetzt vom Vater irrt das Kind kreuz und quer durchs Weserbergland, einer Kulturlandschaft in der sich, gerade im Sommer, problemlos Essbares finden ließ. Dass es eines Tages vor den Stadttoren Hamelns steht, ist ein bloßer Zufall. Das Verhalten der Hamelner Bürger scheint diese Sicht der Dinge zu stützen. Wie bereits oben dargestellt, finden sich keinerlei Pressemitteilungen über den Fund des Knaben im Sommer 1724, wohl vor allem, weil der Vorfall überhaupt nicht erwähnenswert schien. Findelkinder tauchten immer wieder auf, und so durchläuft Peter sozusagen die Standardprozedur: Aufnahme im Armenhaus, Versuch der privaten Unterbringung – der scheitert –, schließlich Überweisung ins Tollhaus im nahegelegenen Celle. Warum dessen Intendant den Jungen schließlich in Herrenhausen vorführt, wird nicht weiter angesprochen – vielleicht, wie wir unten sehen werden, jedoch nicht ohne Hintergedanken. Die Unbekümmertheit, mit welcher der Junge dem erwähnten „Krüger aus Wichtringen“, also eigentlich Lüchtringen, zugeschrieben wird, obwohl die Verlässlichkeit der Zeugen zumindest fragwürdig erscheint, verblüfft nur auf den ersten Blick. Die Leugnung der Vaterschaft konnte die Zeitgenossen nicht wirklich überraschen: Schließlich hatte sich der Wirt – zwar moralisch verwerflich, aber effektiv – eines vielleicht existenziellen Problems, nämlich zweier „schwachsinniger“ Kinder entledigt und konnte kein Interesse daran haben, dafür belangt zu werden. Darüber hinaus spielt aber auch dessen Wohnort eine nicht unerhebliche nicht. Eine Durchsicht des umfangreichen Gesamtwerks Heumanns wurde nicht unternommen; die Titel seiner Werke aus dem fraglichen Zeitraum liefern jedoch keinen Hinweis darauf, dass Heumann sich des Themas umfassender angenommen hätte.
3.1. Die deutsche Presse: Zwischen Sensation und Skepsis
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Rolle: Das weseraufwärts gelegene Lüchtringen gehörte bereits zum katholischen Bistum Paderborn. Was Kindesaussetzungen betraf, differierte die Rechtslage hier drastisch, denn der Vater hatte das Recht auf Anonymität, die obrigkeitlichen Behörden durften weder Nachforschungen noch Verfolgung betreiben. Dem vom Wirt mutmaßlich vorexerzierten Verhalten war also, zumindest durch die Brille der zum protestantischen Königreich Hannover zählenden Hamelner, Tür und Tor geöffnet. Und was konnte man von einem Katholiken auch schon erwarten? Denn es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, wie die „viehischen Geberden“ in „im Paderbornischen“ erworbene katholische Symbolik umgedeutet werden.21 Die offensichtliche logisch-argumentative Überlegenheit dieser Darstellung entging offenbar auch nicht den Publizisten, denn im März 1726 ruderte das Wienerische Diarium zurück und schwenkte mit einem inhaltsgleichen Abdruck des Februar-Artikels der Leipziger Zeitungen auf deren kritisch-rationale Sichtweise ein.22 Bereits im Frühjahr ist jedoch Schluss mit diesem Burgfrieden. In zwei längeren Artikeln vom 10. und 12. April verfolgt der Hamburgische Correspondent nun wieder eine abweichende Darstellungsstrategie. Hanover, den 4. April. […] Es ist dieses Knabens bisher nicht nur in unterschiedenen Zeitungen erwehnet worden, sonders hat auch zu allerhand Raisonnements und Erzehlungen Gelegenheit gegeben, ob und wie er sich habe können in den Waldungen aufhalten? Ja das Andenken der bekandten Historie, oder vielmehr Fabel, ist mit ihm wiederum erneuert, da in Hameln Anno 1284. am Tage Johannis des Täufers, ein unbekandter Mensch, so in bunten seltsamen Kleidern, mit einer Pfeiffe spielend, aufgezogen kommen, 130. Kinder zusammen gebracht, welche er in den Koppel=Berg soll geführet haben. Welche Geschichte diesen Orth berühmt gemacht; wovon sonst Theodorus Kirchmeyer, Samuel Erich, Martin Schrockius und Fran. Wörger pro und contra gehandelt. Vermuthlich sind die zu der Zeit entführten Kinder 21 Falls diese Darstellung zutrifft, müsste man konstatieren, dass sich bereits weniger als 80 Jahre nach Ende des Dreißigjährigen Krieges die kulturellen und religiösen Praktiken in den protestantischen und katholischen Territorien soweit voneinander entfernt hatten, dass es erst eines Experten bedurfte, um die Gebärden Peters zu deuten. 22 „Göttingen / eine Chur=Hannoverische Stadt zu 27. Februarii“, in: Wienerisches Diarium, 23 (20. März 1726), o. P.: „Ein gewisser vornehmer Herr alhier hat sich wegen des unlängst bey Hameln gefundenen Knabens/ von deme bis anhero unterschiedlicher Bericht eingelauffen/ genauer erkundiget/ und von glaubwürdigen Personen des Orts/ folgende Nachricht erhalten: Die vorhin=gemeldten Umstände befänden sich gantz anderst; massen weder vor Hameln ein Wald seye/ darinn der Knabe eine so lange Zeit unter denen wilden Thieren hätte leben können/ noch auch daß viehische Geberden an ihme wahrgenommen worden; vielmehr habe man aus demselben abnehmen können/ daß er von Catholischen Eltern herstammen/ und ihnen vor kurtzer Zeit entlauffen seyn müsse/ indeme er sich gesegnet/ zum öftern an die Brust geschlagen/ &c. Ja man hat auch Nachricht/ daß ein Wirt zu Wichtringin [!]/ einem Orte im Paderbornischen/ dergleichen unsinnige Kinder gehabt deren ihm 2 weggelauffen/ worauf man von dem einen das Gerippe im Holtz gefunden. Einige/ welche daherum wohnhaft/ und hier durchgereiset/ haben versichert/ daß der Knabe obgedachtem Wirte zugehöre/ ob sich gleich derselbe zu dato nicht darzu bekennen wollen: es ist aber der Knabe im Julio 1724. nach Hameln gekommen/ da er zu erst vor dem Thor im Hemde gesehen/ darauf herein gebracht/ und in das Armen Haus gethan worden; von da hat man ihn nachgehands weggenommen und zu einem Bürger ins Haus gethan/ um zu sehen/ ob er sich zu einem Handwerk ansch[icke?]; da man aber befunden/ daß kein Verstand bei ihme seye/ ist er so gleich nach Zelle ins Tollhaus abgeschickt worden.“
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln bey denen Creutz=Fahrten nach dem Gelobten Lande, als junge Recruten, um die Lufft in denen fernen Ländern desto besser zu gewöhnen, bey Hameln zu Schiffe gebracht, und also bey guten Wind und Wetter auf einmal mit ihnen davon geeilet worden. Was nun aber den neuerlicher Zeit vor Hameln gefundenen Knaben anbetrifft, so hat man nunmehro folgende beglaubte Nachricht davon eingezogen: Es ist diese Fündling 1724. im Julio nicht weit von der Stadt entfernt zuerst im Korn, in einer Furche sitzend, von einem dasigen Bürger angetroffen worden, wie er aber denselben wahrnimmt, springt er gleich auf und läufft in das Holtz. Er hat zwar anfangs ein Hemde, so mit Bind=Faden zugebunden gewesen, angehabt, allein kurtz darauf, wie er auch von andern Leuten gefunden wird, hat er hievon nur noch einige Stücke am Leibe gehabt; Vielleicht daß er solches selbst zerrissen, da er der Kleidung vorher nicht gewöhnt gewesen, wie aus Mitleiden das Hemde ihm jemand mag angethan haben, und kömmt also fast nackend wieder bey Leute so im Felde arbeiten. Dieselbe geben ihn zu trincken, als er aber getruncken, nimmt er einen Stein und zerschlägt den Krug. Indessen wird er von denen Leuten so ihn im Felde angetroffen, bis vor die Stadt genommen, woselbst er von vielen Kindern begleitet wird, so denselben Peter geheissen. Das Übrige hievon folgt nechstens.23 Verfolg der am Mittwochen abgebrochenen Beschreibung des bey Hameln gefundenen wilden Knabens: Wie nun der Herr Bürgermeister Severin davon Nachricht bekömmt, läst er ihn in das Armen=Haus bringen. Man hat ihn zwar einen Stroh=Sack hingeworffen darauf zu schlaffen, allein er hat sich dessen gar nicht bedienet, sondern auff allen Vieren gesessen, und also etwas geschlaffen. Vorher aber immer einen Ausgang im Zimmer gesucht. Wie er gekleidet wird, so er ungern gelitten, ist das seine gröste Freude gewesen, wenn er die Mützen oder Hühte in die Weser geworffen, hat dabey vergnügt auff die Brust geschlagen. Vor lebendige Fische hat er sich gefürchtet, jedoch sie gern gegessen. Er hat auch Zeichen einer Gutherzigkeit von sich spühren lassen, denn wenn ihm jemand Geld gegeben, oder was es auch gewesen, hat er solches denenjenigen alles wieder gegeben bey welchen er im Hause gewesen, und ihn gespeiset. Sonst hat man auch anfangs wahrgenommen, daß er die Rinde oder das junge Bast vom Holtz gekäuet. Von Hameln ist er endlich nach Zelle ins Waysens=Haus geschicket worden, von da ihn Königl. Majest. Ao. 1725. bey Dero hohen Gegenwart in Hannover anhero bringen lassen, da er überall dreiste zugegangen, auf Königl. Majest. Rent=Kammer hat er damals etliche Schachteln mit rohten Oblaten ausgegessen. Er siehet sonst nicht übel aus, hat schwartze krause Haare, so ihm ziemlich in das Gesicht gewachsen. Die Summe ist etwas viehisch und wild, man hat angefangen ihn das A B C zu lernen, und weiß er unter allen Buchstaben das R am deutlichsten auszusprechen. Bisweilen soll er des Nachts auch wilden Laut eines Gesangs von sich geben. Wenn er zu jemand kömmt, küsset er den Leuten die Hände. Er soll sich letztens sehr gefreuet haben, wie er ein grün mit Silber besetztes Kleid bekommen, und wer sein Vater, hievon hat man bisher noch keine gewisse Nachricht bekommen. Es hat zwar neulich der Herr Inspector Heumann zu Göttingen den Krüger zu Wichtringen, oder vielmehr Lüchtringen, im Paderbornischen zum Vater wollen angeben, allein folgende Umstände geben dieses nicht zu: Erstlich hat zwar der Krüger zum Stein=Kruge vor Lüchtringen am Solling im Paderbornischen belegen zwey unsinnige Kinder gehabt, und zwar einen Sohn und eine Tochter, allein zu geschweigen daß er seine Kinder noch bey sich, so hat desselben unsinniger Sohn auch blonte Haare, und unser gefundene Peter gantz schwartz krause, so auch alles verstehet was man ihm saget.24
Vergleicht man den die Ereignisse um Peter bis zum Frühjahr 1726 zusammenfassenden Bericht mit dem Stand der Diskussion von Februar 1726, ergibt sich ein 23 „Hannover, den 4. April”, in: Hamburgischer Correspondent, LVIII. Stück (10. April 1726), o. P. 24 „Verfolg der am Mittwochen abgebrochenen Beschreibung des bey Hameln gefundenen wilden Knaben”, in: Hamburgischer Correspondent, LIX. Stück (12. April 1726), o. P.
3.1. Die deutsche Presse: Zwischen Sensation und Skepsis
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durchaus zwiespältiges Bild. Der Fund des Knaben wird recht detailliert geschildert und um eine weitere Etappe erweitert. Die ursprünglich verbreitete Version – Fund des Jungen im Wald durch Jäger – scheint endgültig ad acta gelegt worden zu sein, als Fundort wird die kultivierte unmittelbare Umgebung Hamelns bekräftigt. Auch die weitere Unterbringung entspricht im Wesentlichen dem bereits Bekannten, lediglich aus dem Celler Tollhaus ist nun ein Waisenhaus geworden, der Hamelner Bürgermeister Severin wird namentlich genannt. Angesprochen werden auch die Versuche Peter zu unterrichten – offenbar mit bisher geringem Erfolg. Erstmals taucht nun in der Presse auch der Name Peter auf. Zum Verhalten des Jungen finden sich anekdotenhafte neue Informationen wie das Zerbrechen des Kruges beim zweiten Zusammentreffen mit Hamelner Bürgern. Amüsanter gerät die Episode in der Rentkammer, da mit den „rohten Oblaten“ wohl die auf der Amtsstube gelagerten Siegeloblaten gemeint sein dürften. Beides betont die Wildheit und Unzivilisiertheit des Knaben; man mag vielleicht sogar so weit gehen, das Zertrümmern des Kruges und das Zerreißen der Kleidung als symbolhaft für die Ablehnung zivilisatorischer Errungenschaften zu nehmen. Nahtlos passen sich hier auch die merkwürdigen Speisevorlieben Peters ein. Das Essen von Bast und Rinde verweist nun doch wieder auf einen langen und prägenden Aufenthalt im Wald, der aber offenbar, siehe die Vorliebe für Fisch, nicht dazu führte, dass aus Peter ein Vegetarier geworden wäre. „Die Summe“ von alldem ist also doch wieder „etwas viehisch und wild“. Damit deutet sich schon an, dass der Artikel in gewissem Sinn hinter die im Februar zementierte Position der Medien zurückfällt, der Junge sei vor kurzer Zeit aufgrund seiner geistigen Defizienz ausgesetzt worden. Folgerichtig werden die Untersuchungsergebnisse des Göttinger Inspectors Heumann nun angezweifelt, ja sogar eindeutig zu widerlegen versucht. Ob Heumann oder der Hamburgische Correspondent mit ihrer Beurteilung des Lüchtringer Wirts, dessen Name an keiner Stelle genannt wird, richtig lagen, lässt sich nicht mehr entscheiden, ist aus historischer Perspektive für die weitere Entwicklung des Falles aber auch unbedeutend. Der Hintergrund für diesen Richtungswechsel bleibt unklar: möglich, dass tatsächlich neue Informationen herangetragen worden waren, die sich mit den Erkenntnissen des Februars nicht deckten. Wahrscheinlicher aber vielleicht, dass man mit dieser Maßnahme eine eigentlich „tote“ Story wieder in eine Richtung drehte, die auf erhöhtes Publikumsinteresse hoffen ließ. Letzteres würde auch erklären, warum zu Beginn des Artikels auf den Rattenfänger angespielt wird, ein Ereignis, das sowohl zeitlich als auch inhaltlich meilenweit von der eigentlich zu behandelnden Materie entfernt lag. So schafft es auch der Autor des Artikels nicht, eine Brücke zwischen den beiden Ereignissen zu schlagen – erhöht aber die Sensationalität durch die Mythologisierung des Fundortes ganz erheblich. Möglicherweise war diese Strategie von Erfolg gesegnet, denn am 4. Mai 1726 erschien auch in der Europäischen Zeitung ein über weite Strecken wortgleicher Artikel.25 25 „Auß Hanover von dem 14. April.“, in: Europäische Zeitung, 36 (4. Mai 1726), o. P.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
3.2. KRONZEUGEN Während die Zeitgenossen über die Ereignisse in und um Hameln also intensiv durch Presseberichte informiert wurden, tritt diese Quellengattung in den Fußnoten und Verweisen der sich mit dem Fall beschäftigenden Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts weit in den Hintergrund. Stattdessen wird immer wieder auf drei Schriftstücke verwiesen, die den Fall mit teils geringem, teils aber auch erheblichem Zeitversatz zusammenfassend schilderten. Dabei fällt auf, dass die mit dem Fall befasste Wissenschaft oft davon ausging und bis heute davon ausgeht, hier Zugriff auf primäres Quellenmaterial zu erhalten – eine Annahme, der, wie sich zeigen wird, mit einer gehörigen Portion Zurückhaltung zu begegnen ist. Allen hier behandelten Schriften ist gemein, dass sie sich an einem Generalüberblick der Ereignisse bis zum Frühjahr 1726 versuchen. Ob die bereits angeführten AprilArtikel des Hamburgischen Correspondenten hier als Vorbild dienten oder diese ihrerseits von bereits erschienenen Veröffentlichungen profitierten, ist zunächst nicht zu entscheiden, da sich die Veröffentlichung der Monographien nicht hinreichend genau datieren lässt. Sämtliche der Schriften sind relativ schwer greifbar – Redeckers Mitteilungen liegen bis heute nur im Manuskript vor – und werden daher in der Folge relativ umfangreich zitiert. 1726 erscheint in Hamburg eine anonyme vierzehnseitige Schrift mit einem Titel wahrhaft barock anmutender Länge, die Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht von dem bey Hameln im Felde gefundenen Wilden Knaben, Was es mit selbigen eigentlich vor Beschaffenheit habe, wie er sich nach seiner Arretirung aufgeführet, und was vor Muthmassung sich herfür gethan. Auch was sonst merckwürdiges dabei vorgefallen, Von einer glaubwürdigen Person aus Hameln selbst an einen Freund schriftlich abgefasset, nunmehro aber wegen unterlauffenden Merckwürdigkeiten zum Drucke befördert. Wobey des Knaben seltzame Figur in Kupffer gestochen befindlich. Es finden sich mehrere Nachdrucke des gesamten Textes, so im vierten Supplementband der Breslauer Sammlungen26, im Historischen Kern27 und im Erfurter Welt=und Staats=Theatrum28.
26 „Artic. 10. Ausführliche Nachricht von dem Hamelischen wilden Jungen.“, in: Breslauer Sammlungen, vierdtes Supplement, Erfurt 1729, 69–78. 27 „Historischer Kern, oder kurtze Chronica derer merckwürdigen Begebenheiten des Jahrs 1726: Januarius“, in: Historischer Kern, oder sogenandter kurtzen Chronica Sechsten Theils, Zweites Stück. Worinnen alle Staats=, Kriegs= und Friedens=Geschichte [!], wie auch andere sonderbahre und merckwürdige Begebenheiten, welche sich von Ao. 1725. bis 1729. inclusive, und also in 5 nacheinander folgenden Jahren, in allen Theilen der Welt, vornehmlich aber in Europa zugetragen haben, kurtz, doch deutlich, vorgestellet werden. Die nöthigen Dokumenten und Beylagen erläutert, imgleichen mit Kupferstichen gezierte, und mit einem Alphabetischen Register versehen, Hamburg 1730, 40–46. 28 „Copia, eines von einer glaubwürdigen Person aus Hameln an einen guten Freud abgefasseten Schreibens und dazu gehörigen zuverlässigen Nachricht, Von dem bey Hameln in dem Felde gefundenen Wilden Knaben, dessen eigentliche Gestalt, Beschaffenheit, Aufführung und andere bey seiner Arrestirung merckwürdige Umstände betreffend“, in: Neu=eröffnetes Welt und Staats=Theatrum […], Siebzehende Eröffnung, Erfurt 1726, 285–299.
3.2. Kronzeugen
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Der Hannoveraner Kammerschreiber HEINRICH REDECKER hielt in seinen Collectanea29, einem umfangreichen Manuskript-Folio, tagebuchartig alles fest, was ihm in und um Hannover erwähnenswert schien; dazu gehörte an mehreren Stellen auch Peter. Abgesehen von der Jahreszahl fehlt eine genauere Datierung der einzelnen Artikel, so dass unklar bleibt, wann diese jeweils verfasst wurden. Man kann nach der Anlage des Manuskripts – ein thematisch ungeordneter Bauchladen, der nur durch die chronologische Abfolge der Ereignisse strukturiert ist – wohl davon ausgehen, dass Redecker das Tagesgeschehen relativ schnell verarbeitete. Schließlich kommt der Copiae eines Schreibens des ietzigen Herrn Burgerm. Palm zu Hameln an den Herrn Commissarium Burchardi bei dem königlichen Berg=Comtoir wegen des bei Hameln gefundenen Knaben eine große Bedeutung zu. Der Brief selbst ist auf den 31. Mai 1741 datiert und findet sich in Druckform angehängt an C. F. FEINS Die entlarvete Fabel vom Ausgange der hamelschen Kinder, das 1749 in Hannover erschien. 3.2.1. Die Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht Selbst wenn der Text inhaltlich nicht ergiebig wäre, müsste der 1726 erschienenen Zuverläßigen und wahrhafften Nachricht Platz in dieser Darstellung eingeräumt werden, präsentiert sie doch zum ersten Mal ein Bild Peters. Der Stich von künstlerisch eher rustikaler Qualität verdient insbesondere auch deshalb eine ausführlichere Würdigung, als man sich über die noch keineswegs flächendeckende Alphabetisierung der Bevölkerung klar sein sollte; ein Bild sagte in diesem Kontext eben tatsächlich viel mehr als tausend Worte. Die Gestaltung des in der Bildmitte stehenden Jungen zeigt sich als getreuliche Umsetzung der April-Berichterstattung des Hamburgischen Correspondenten. Die angenommene aufrechte Schritthaltung wirkt ausgesprochen gekünstelt, erlaubt aber die Darstellung wichtiger Details. In seiner ausgestreckten Rechten hält der Junge eine Wurzel, wahrscheinlich eine Pastinake, die er anblickt. Das Haar ist schwarz, lockig und eher kurz, um den Hals hängen die Reste des erwähnten Hemdes. Er ist gut genährt und zeigt keine Anzeichen von Krankheit oder Verletzungen; auffällig sind jedoch die Hand- und Fußnägel, die aufgrund ihrer Länge und Form krallenartig wirken. Zu seinen Füßen liegen verschiedene Feldfrüchte, wohl ein angehäufter Vorrat. Peter steht in offener Landschaft, auf einem abgeernteten Feld. Im Hintergrund sind Hügel zu erkennen, unmittelbar davor ein Flusslauf: Weser und Weserbergland. Während rechts der Saum eines recht lichten Waldes zu erkennen ist, wirkt die Begrenzung des linken Bildrandes durch einen freistehenden und fast kahlen Baum zunächst eigenartig: Als „hohle Behausung“ mag er aufgrund seiner Größe nicht recht taugen; die Ähnlichkeiten zur traditionellen Ikonographie des Wilden Mannes sind jedoch offenbar. 29 HEINRICH REDECKER, Historische Collectanea von der Königl.n und Churfürstl.n ResidentzStadt Hannover/ auch umher liegenden ur-alten Grafschaften Lauenrode, Wunsdorff und Burgwedel. am 8. Julii, An. 1723 angefangen, Stadtarchiv Hannover, NAB Nr 8287 / 8288.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht (1726), o. P. Kupfer eines unbekannten Künstlers. Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle.
Das Bild trifft insofern eine deutliche Aussage: Hier ist sicher weder ein Tier noch ein Zwischenwesen zu sehen, sondern ein bis auf den Kopf völlig unbehaarter Junge normaler Physis. Das Hemd verweist klar und deutlich auf eine Vorgeschichte innerhalb menschlicher Kultur, wohingegen die Länge der Finger- und Zehennägel deutlich macht, dass er dieser über längere Zeit entrissen war. Wie lang genau, ist schwer zu sagen, aber Wochen oder höchstens Monate liegen näher als Jahre. Hätte der Künstler eine derartig lange Isolation darstellen wollen, hätten wiederum andere ikonographische Elemente – vgl. etwa die Darstellungen des Wilden Mannes oder Nebukadnezzars – zur Verfügung gestanden. So widerstrebt es fast, den abgebildeten Jungen als „wild“ zu bezeichnen; er scheint sich eher aus der Absenz zivilisatorischer Merkmale wie Kleidung zu definieren. Die Lektüre des Textes wird diesen Eindruck erhärten. Der in Druckform gebrachte Brief ist auf den 18. März 1726 datiert und wurde in Hameln abgefasst. Sowohl Autor als auch Empfänger bleiben anonym, jedoch ergeben sich aus Titel und Einleitung einige Hinweise auf ihre Personen.
3.2. Kronzeugen
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Zwar bekräftigt der Titel ein Freundschaftsverhältnis, aber Stil und Inhalt des ersten Absatzes des Briefes scheinen einer gleichrangigen Freundschaft zu widersprechen und eher ein Dienst- oder Arbeitsverhältnis nahe zu legen: Der abgedruckte Brief antwortet auf eine offenbar recht formell gehaltene schriftliche Anfrage bezüglich Peters vom 26. Februar 1726. Die Tatsache, dass das „XVII. Stück der gelehrten Zeitungen“, welches im Februar 1726 erschien, erwähnt wird, unterstützt die vorgenommene Datierung. Damit scheidet denn auch die Möglichkeit aus, dass hier ein vom Göttinger Inspector Heumann angeforderter Bericht zum Druck befördert worden sein könnte; durchaus denkbar aber, dass Heumann dieselbe Quelle bemühte, denn es ergeben sich an vielen Stellen Parallelen. Da keine der ausgewerteten Zeitungen wortgleiche Passagen aus dem Brief abdruckte, scheint es wenig wahrscheinlich, dass hier seitens etwa des Hamburgischen Correspondenten bei einer örtlichen Verbindungsperson angefragt worden war. Möglicherweise existierten schlicht Verbindungen eines – aufgrund der Nachrichten hellhörig gewordenen – Hamburger Verlegers nach Hameln, die geschäftlich genutzt wurden. Bereits der Beginn der Schrift macht deren Stoßrichtung deutlich: Hier geht es um eine Korrektur jener Nachrichten, die „entweder gantz falsch oder doch in vielen Stücken wieder die Wahrheit lauffende Umstände und Urtheile vor gestellet.“30 Offenbar waren Hamelner Bürger an dieser Fehlinformations-Kampagne nicht ganz unschuldig, sei es aus „Leichtgläubigkeit“31 oder Absicht. Dementiert werden explizit viele der aus den Januar-Ausgaben der Zeitungen bekannten Details: Dergleichen falsches Vorgehen hat hauptsächlich hierinnen bestanden, wie, daß dieser wilde Knabe vorigen Sommer von den Jägern in Walde unseres Ortes angetroffen worden, wie daß derselbe die Bäume wie eine Katze bestiegen, unter den wilden Thieren in Walde sich auffgehalten, Mooß von den Bäumen gegessen, alle Viehische Eigenschafften an sich genommen, und also in allen Stücken Dinge vorgenommen, welchen denen Menschlichen Verrichtungen gantz und gar zu wieder sind, welches alles aber mit der Wahrheit gar nicht übereinkommet; Denn so ist erstlich an dem, daß um Hameln solche Wälder sich nicht befinden, daß der Knabe in denselben hätte können verborgen bleiben, anerwogen die hiesigen und angrentzenden Oerter dergestalt Volckreich und bewohnet sind, daß nicht der geringste Ort mag genennet werden, da nicht die Jäger durchstreichen, und so bald nur einiges Wild sich blicken lässet, so gleich aus dem Wege räumen. Ob nun also schon vorgegeben worden, als wenn dieser wilde Mensch in einen hohlen Baum seine Behausung gehabt, dahero er sich vor ankommenden Menschen verbergen, und also unerkannt bleiben können, so ist ausser allbereit gedachter Auffsicht, derer Jäger doch noch dieses in Wege, daß wenigstens die Wind= und Spür=Hunde seine Gegenwart gantz gewiß verrathen haben würden. Da nun also solches Vorgehen vernünfftigen Schlüssen Schnur=stracks zuwider, so folget von selbst, daß unmöglich er unter wilden Thieren gewohnet, und also dergleichen Eigenschafften erlanget haben könne, da zumahl der Wahrheit gemäß, daß seine Verrichtung von anderer Thiere vornehmen gantz verschieden, ja ein vernünfftiges Wesen, dann und wann mit hervor leuchtet.32
30 Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht, 4. 31 Ebd. 32 Ebd., 4 f.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Schon an dieser kurzen Passage lässt sich wunderbar ablesen, zu welcher Art Diskussionen die Presseartikel führten, denn obwohl in keinem der hier vorliegenden Artikel explizit behauptet wurde, dass der Junge seit Kleinkindesalter, vielleicht sogar seit seiner Geburt, von Tieren aufgezogen worden war, führten die Beschreibungen seines Verhaltens offenbar eine Vielzahl von Lesern zu diesem Schluss. Dem wird hier mit großem Nachdruck widersprochen, und zwar mit eben jenen durchaus einleuchtenden Argumenten, die bereits aus dem Zwoller Raum 1717 vorgebracht worden waren: Wo hätte in einem so dicht besiedelten Gebiet mit vergleichsweise wenig Wald, der zudem intensiv genutzt wurde, ein Kind über längere Zeit unbemerkt Zuflucht finden sollen? Und wie hätte ein „vernünfftiges Wesen“, das doch hier und da aus dem Jungen hervorleuchtete, mit der Aufzucht durch Tiere erklärt werden können? Jedoch bot sich eine eingehende Schilderung der wirklichen Umstände an, da „so viele Dinge in Verfolgung unsrer Historie vorkommen, welche einander schnur stracks entgegen zu seyn scheinen, dergestalt, daß auch die aller Klügsten bey aller angewendeten Vorsichtigkeit und Untersuchung einen festen Schluß zu machen, billig Bedencken tragen.“33 Folgt man der Schilderung der Zuverläßigen und wahrhafften Nachricht, so findet das erste Zusammentreffen Peters mit einem Hamelner Bürger am 4. Mai 1724 auf freiem Feld statt. Er wird in die Stadt gebracht und bald unter Betreuung eines Aufsehers ins Armenhaus eingewiesen. Etwa ein Dreivierteljahr später, also Ende 1724 oder Anfang 1725, beschließt der Rat, ihn in Kost zu einem Bürger zu geben, der die dafür übliche Aufwandsentschädigung erhält. Man will feststellen, ob sich der Junge „vielleicht alsdenn zu einem Handwerk sich bequemen“34 würde – eine Hoffnung, die enttäuscht wird. Letzte angesprochene Etappe ist die Verbringung Peters ins Celler Waisenhaus35, in dem er sich zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes immer noch befindet. Damit entspricht die Schilderung im Wesentlichen dem aus den April-Ausgaben des Hamburgischen Correspondenten Bekannten; ausgespart wird jedoch die Version des „doppelten Fundes“. Das Verhalten des Fündlings wird recht umfangreich geschildert; dies lässt die Zielsetzung des Briefes ohnehin als unumgänglich erscheinen. Immer wieder betont wird der abnorme Bewegungsdrang Peters.36 Dieser bezieht sich aber lediglich auf die horizontale Fortbewegung: Im übrigen ist nicht zu vergessen, daß er im Lauffen sehr schnell und flüchtig gewesen, dahero es wohl mag gekommen seyn, daß man hat vorgeben wollen, ob habe dieser wilde Knabe die Bäume, wie eine Katze oder Eichhorn, besteigen und von einen Baum auff den andern springen können, welches aber keineswegs an dem ist.37
Damit einhergehend ist der Junge äußerst ungern eingesperrt, sei es in einem Raum, sei es in Kleidung. Beides wurde für die Hamelner zum Problem, das jedoch bald gelöst wurde, zum einen durch Beaufsichtigung, zum anderen durch 33 34 35 36 37
Ebd., 6. Ebd., 9. Vgl. ebd., 10. Vgl. ebd., 7 und pass. Ebd., 8.
3.2. Kronzeugen
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Herstellung eines auch für den Knaben akzeptablen Gewandes aus Leinen. Dieser Freiheitsdrang wird zwiespältig beurteilt. Musste das Ablehnen von Kleidung, und mehr noch das Besudeln mit dem eigenen Kot, als „wild“ erscheinen; verwies die Findigkeit, mit welcher der Junge imstande war, aus einem geschlossenen Raum mit vernagelten Fenstern zu entweichen, darauf, dass „nimmermehr glaublich dass dieser Knabe von seiner Geburt an unter wilden Thieren könne gewesen seyn […]“38. Kein Wunder, dass man sich nach solchen offensichtlichen Manifestationen menschlicher Vernunft und Ingeniösität Hoffnungen machte, den Jungen zu einem nützlichen Mitglied der Stadtgesellschaft machen zu können, zumal Peter schließlich auch dazu gebracht worden konnte, normale Kleidung zu akzeptieren, wenn auch offenbar mit nicht unerheblichem Zwang.39 In Hinsicht auf die bevorzugte Nahrung machte man ebenfalls Fortschritte, die ursprüngliche Bevorzugung vegetabiler Rohkost und die Ablehnung von Brot verschwanden bald – und machten einem wahren Heißhunger Platz, der dazu führte, dass „auch sein Auffseher sich beschweret, und diesen Kost=Gänger gern wieder loß sein wollen“.40 Spätestens beim Zusammentreffen mit Georg I., also im Dezember 1725, wurde auch Fleisch als Nahrung angenommen.41 Dem stand jedoch die mangelnde Sprachfähigkeit entgegen. Zwar konstatierte man bald ein „gut Gehör“42, aber außer Gelalle – auf das wir noch zurückkommen werden – war aus dem Jungen nichts herauszubekommen.43 Die Ursache wird bald im physischen Bereich verortet, und es werden auch Maßnahmen zu deren Beseitigung ergriffen; dies allerdings mit beachtlicher Inkonsequenz: Was das Unvermögen zum reden bey diesen Knaben anlanget, so scheinet solches wohl hauptsächlich daher zu kommen, weil seine Zunge nicht in behöriger Form gebildet, sondern sehr dick ist auch an beyden Seiten angewachsen. Nun hat zwar ein Regiments Feldscherer selbige in Augenschein genommen, ist auch anfänglich Willens gewesen, durch einen Schnitt selbige frey und los zu machen, welches aber unterblieben, da doch meines Ermessens es am nöthigsten gewesen wäre die Zunge als das zum reden hauptsächlich nöthige Instrument auf gut befinden eines gelehrten Medici und erfahrnen Wund=Artztes in den Stand zu bringen, daß sie zum reden geschickt würde, da im Gegentheil gedachter Feldscherer den Aufseher gedachten Knabens nur befohlen daß er ihm öffters unter her streichen sollte, welches zwar geschehen, darauff aber keine Besserung erfolget.44
Die Diagnose erscheint aus heutiger Sicht inakzeptabel, hätte eine solche Behinderung, die ja keineswegs die generelle Produktion von Lauten unterband, doch weit eher zu einer undeutlichen, vielleicht auch nahezu unverständlichen Aussprache, nicht aber zu der beobachteten völligen Kommunikationsunfähigkeit führen müssen. Überdies finden sich im Verlauf des Textes zwischen den Zeilen viele Hinweise, dass auch Anweisungen kaum verstanden wurden; so muss der Aufse38 39 40 41 42 43 44
Ebd., 7. Ebd., 9. Ebd., 8 f. Ebd., 10. Ebd., 7. Ebd., 9. Ebd., 8.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
her im Armenhaus mit der Rute dräuen, um ein gewünschtes Verhalten durchzusetzen.45 Letztlich muss man sich damit anfreunden, dass der Junge nicht nur nicht redet, sondern eigentlich auch nicht versteht: Hierbey aber ist zu mercken, daß, ob er gleich nicht ein eintzig Wort von sich geben können, er dennoch ein sehr gutes und scharfes Gehör gehabt, daß es offtmahls das Ansehen gehabt, als wenn er die Worte des redenden verstünde, da doch nichts als der Schall von ihm beurtheilet werden können.46
Wenn Peter aber selbst einfache Anweisungen nicht nachvollziehen konnte, wie sollte man dann einige der über die Presse verbreiteten Anekdoten, insbesondere seine Wertschätzung des Geldes erklären? Wahrscheinlich, so der Autor, liege auch hier eine Fehlinformation vor, denn aus „Gelde hat er sich nicht viel gemacht, sondern solches allezeit wieder von sich geworffen“; allenfalls taugt es als Spielobjekt.47 Trotz der mannigfaltigen Defizite, die der Junge also auf intellektuellkognitiver Ebene zeigte, „hat sein Gemüth mehr zur Freude als zur Traurigkeit incliniret“. Peter erschien oft fröhlich, er mochte Musik, tanzte zu ihr und sang, was erneut die These von der festgewachsenen Zunge in Frage stellt. Er zeigte sich dankbar, wenn er beschenkt wurde, äußerte dies aber auf für die Hamelner höchst befremdliche Art, indem er „jenen hernachmahls die Küsse mit der Hand zugeworffen.“ Überhaupt überstieg Peters Kussfreudigkeit eindeutig die Grenzen der Dezenz: Nahrungsmittel und der Boden wurden ebenso damit bedacht, „wie denn auch einer ieden Person, so ihm entgegen kommen, er das Kleid aufgeknöpffet, und ihm die Brust geküsset.“ Man mag in Hameln insofern erleichtert gewesen sein, dass er „Frauens=Personen gar nicht leiden wollen, sondern dieselbe mit Händen und Füssen von sich“ stieß. Dennoch lauerte hinter der fröhlichnarrenhaften Fassade stets auch eine dunklere Seite: Peter von seiner „wilden Lebens=Arth“ abzuhalten erforderte äußeren Zwang, die „scharffe Aufsicht seiner Obern“. Ansonsten konnte es vorkommen, dass sich, ganz wie bei einem eingesperrten wilden Tier, Autoaggressionen zeigten.48 Die Äußerlichkeiten des Jungen gaben andererseits wenig Abnormes her. Die Quelle erwähnt „dicke schwartze Haare, welche kurtz und etwas kraus anzusehen gewesen“, was sich mit der Darstellung im Kupfer deckt. Kurz nach dem Auffinden waren diese zunächst etwas verfilzt. Die so prominent abgebildeten verlängerten Finger- und Zehennägel werden nicht erwähnt, aber die gesamte Beschreibung der Äußerlichkeiten bleibt so im Rahmen des Normalen, dass sich der Künstler wohl vor eine Unmöglichkeit gestellt sah: Wie hätte er die „Wildheit“ zeigen und gleichzeitig texttreu bleiben sollen? Die Haut erschien, wiederum unspektakulär genug, nach dem ersten Waschen weiß, an einigen Stellen zeigten sich Narben.49
45 46 47 48 49
Ebd., 7. Ebd., 9. Ebd., 10. Ebd. Ebd., 8.
3.2. Kronzeugen
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Woher letztere stammten, insbesondere ob sie mutwillig zugefügt worden waren oder einfach von Büschen herrührten, ließ sich nicht klar entscheiden. Es sind diese Narben, welche die Brücke zum letzten Teil der Quelle bilden. Nachdem die Hypothese vom seit Kindesbeinen im Wald aufgewachsenen Jungen verworfen wurde, fehlt zu diesem Zeitpunkt noch eine „vernünftige“ Erklärung. Schnell abgelehnt wird die Vermutung, der Knabe sei „von herumschweiffenden Zigeunern […] verlohren worden, da er sich denn hernach in die Wälder begeben, allwo er mit Kraut, Laub und dergleichen sich gesättigt“ habe. Seit Jahren seien nämlich „keine Zigeuner verspühret“ worden.50 Die festgestellten Narben offerierten jedoch eine andere, und aus heutiger Sicht sicher noch hanebüchenere, Möglichkeit. Waren sie vielleicht nicht zufälligen Ursprungs, sondern „gewisse Characteres und Kennzeichen […] wodurch die Heydnischen Völcker ihre Kinder zu zeichnen pflegten“? 51 Bedachte man weiterhin die Gewohnheit Peters, Alles und Jeden zu küssen, ergab sich als Schluss, dass dies ebenfalls nur mit „Heydnischen Dingen verknüpffet“52 sein konnte, und damit ließ sich die abenteuerliche Hypothese stützen, dass er „von Africanischen Eltern […] seinen Ursprung herhabe.“53 Hier kommt nun das oben erwähnte Lallen Peters wieder elegant ins Spiel, denn war es nicht evident, dass „das Wort ala ala ala, welches der Knabe zum öfftern von sich hören ließe, wenn er beleidiget würde, ein Heydnisches Wort wäre, und so viel heissen könnte, als: Mein GOtt! Mein GOtt!“? Peter mutiert hier also schnurstracks zum Kind maghrebinischer Muslime, und zwar über die Homophonie des offensichtlichen Lalllautes „ala“ mit „Allah“ – wobei völlig offen bleibt, welche Wege dieser beschritten hatte, um das Kind geradewegs in gut lutherisches Territorium einzuschleusen. Kaum verwunderlich also, dass auch diese These „bey mir und andern unpartheyischen Gemüthern wenig Beyfall“ fand.54 Als nächstes finden wir den Versuch, Peter im Umfeld des russischen Zaren zu platzieren, hatte sich dieser doch laut Quelle „vor ungefehr 8. Jahren […] hiesiger Lande des Pyrmontischen Brunnens bedienet“. War vielleicht „von dem Train dieser Knabe zurück geblieben, und also dergestalt verwildert“? Auch dieser Erklärungsansatz findet wenig Gnade vor dem gestrengen Auge der Vernunft, „indem auf solchen Fall der Knabe etwa 5. biß 6. Jahr damahls alt, folglich annoch viel zu unvermögend gewesen wäre, theils biß hieher in der Wildniß das allzustrenge Ungemach zu überstehen, theils die ihm in seiner ersten und zartesten Jugend beygebrachten Bezeugungen biß hieher beyzubehalten und z. E. die Hand zu küssen, ein † vor sich machen, &c. nach so langen Jahren annoch zu wißen, und gehöriger maßen anzubringen.“55
50 51 52 53 54
Ebd., 11. Ebd. Ebd.; verwiesen wird auf Hiob 31, 27. Ebd. Ebd., 12. Dem Autor der Zuverläßigen und wahrhafften Nachricht stößt dabei, neben der völlig ungeklärten Transportfrage, auch die weiße Hautfarbe Peters auf. 55 Ebd.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Erwartungsgemäß schwenkt die Zuverlässige und wahrhaffte Nachricht schließlich auf einen anderen Kurs ein: den bereits in den Leipziger Zeitungen durch den Bericht Heumanns vorgezeichneten. Es kommt mir also am allerwahrscheinlichsten vor, daß dieser Knabe von teutschen Eltern entsproßen, hingegen wegen sehr unvollkommenen Verstandes und Unvermögenheit zu reden, er vielleicht seinen Eltern entlauffen und also durch die Allmacht GOttes, obschon nicht allzulange, dergestalt erhalten worden, daß er von einem Wald in den andern gelauffen, indessen aber von Kraut, Obst, Rüben und andern Feld=Früchten, so aller Orten in den Feldern zu finden, sich gesättiget, da es denn vielleicht herkommen seyn mag, daß, da er das Laub von denen Bäumen, Mooß, Graß, und dergleichen gesogen, die Zunge desto unbrauchbarer worden. Hierzu kömmt noch dieses, daß offtmahls er mit den Händen vom Kopff biß auf die Brust solche Figuren gemacht, wie die Papisten, wenn sie sich segnen, dahero einige auf die Meynung gefallen, ob wäre er von Catholischen Eltern.56
Damit bezieht der Autor klar Stellung: Peter verschlug es aufgrund seiner geistigen Defizienz in die „Wildnis“; der logische Umkehrschluss ist, dass er durch diese eben nicht tiefgreifend geprägt wurde. In einer durch menschliche Kultur und Ackerbau geprägten Gegend konnte er, etwas Glück oder göttlichen Beistand vorausgesetzt, einige Zeit, aber eben „nicht allzu lange“ überleben, bis er schließlich in Hameln gefunden wurde. Für das seltsame Verhalten wird hier wieder die Herkunft aus einem zwar nicht geographisch fernen, aber katholischen Territorium verantwortlich gemacht, womit sich der bereits weiter oben gewonnene Eindruck einer durchaus tiefer gehenden kulturellen Andersartigkeit trotz räumlicher Nähe verdichtet.57 Jedoch zeigen sich auch deutliche Differenzen zur Zeitungsmeldung. So werden bereits Zweifel formuliert, ob Peter tatsächlich von jenem mittlerweile hinlänglich gewürdigten Wirt aus Lüchtringen abstammt. Allerdings sind im Unterschied zur ähnlich kritisch gelagerten Darstellung im Hamburgischen Correspondenten vom 12. April nicht mehr beide Kinder lebendig, sondern der in Frage stehende Junge sei laut Vater „in den Söllier=Wald gelauffen, und von den Thieren getödtet worden.“58 Möglicherweise gebe es auch zwei Söhne und der Vater habe, „da er ietzo höret, dass dieser so wohl und sorgfältig verpfleget würde, lieber der Stadt Hameln diese Beschwerung überlassen“.59 Zwar spreche die verlässlich überlieferte rote Haarfarbe der Kinder gegen diese Vermutung, andererseits sei „es etwas bekanntes, dass die Farbe der Haare binnen sehr weniger 56 Ebd., 12 f. 57 Die Verwendung des Begriffes „Papisten“ vertieft diesen Eindruck noch. Der Befund passt sich jedoch schlüssig ein, wenn man bedenkt, dass nur etwa 50 Jahre später der (protestantische) JOHANN CASPAR LAVATER (Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und der Menschenliebe, Bd. III, Leipzig; Winterthur 1777, 229 ff.) meinte, die Katholiken, und als deren Musterbeispiel vor allem die Jesuiten, über die Physiognomie identifizieren zu können. Vgl. PAUL MÜNCH, Finstere Katholiken und Madonnengesichter, in: JENS FLEMMING u. a. (Hg.), Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Festschrift für Heide Wunder zum 65. Geburtstag, Kassel 2004, 240–266. 58 Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht, 13. Man fragt sich, welche wilden Tiere dafür in Frage kommen sollten. 59 Ebd.
3.2. Kronzeugen
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Zeit ihre Farbe verändern, am allermeisten aber rothe in schwartze, zumal unter freien Himmel und in der Lufft, verwandelt werden.“60 Zitiert wird auch ein Bootsknecht, der bezeugt, dass der Knabe des lüchtringischen Wirtes Peter geheißen habe; eine nähere Überprüfung zeigt allerdings, dass der Junge auf den Zuruf dieses Namens nicht mehr und nicht weniger reagiert als auf andere Namen.61 Trotzdem übernimmt der Aufseher den Namen Peter für das Kind – womit sich auch in Hinsicht auf die Namensgebung eine Differenz zu den Presseberichten, in diesem Fall des Hamburgischen Correspondenten, auftut. Eine durchaus verstrickte Sachlage also, die von der „glaubwürdigen Person aus Hameln“ überliefert wird; so undurchsichtig, dass es „vorietzo fast unmöglich fallen“ will „einen festen und unumstößlichen Beschluss zu fällen.“62 Dabei scheint dem Autor kaum bewusst zu werden, dass entscheidende Beschlüsse von ihm längst getroffen worden sind: Peter ist ganz ohne Frage ein menschliches Wesen, das immer wieder im Zusammenhang mit ihm auftauchende Adjektiv „wild“ sollte nicht fehlgedeutet werden: Es bezeichnet hier keine grundlegende Differenz zu „human“, ist also nicht synonym mit „tierisch“ zu verstehen. Vielmehr verweist es nur auf ein von den sozial-kulturellen Normen abweichendes Verhalten: Auch die Kinder des Lüchtringer Wirtes sind „beyde stumm, dumm und so wilder Art wie dieser Knabe“63. Darüber hinaus wird die Aufenthaltsdauer des Jungen im Freien stark relativiert. Dass er mit Hilfe wilder Tiere über Jahre in der „Wildnis“ – die überdies im in Frage stehenden geographischen Raum gar nicht existierte64 – überlebt haben soll, wird zur Mär erklärt. Kein Wolf und kein Bär übernehmen die Rolle der Zieheltern. An die Stelle dieses mythischen Erklärungsmusters tritt eine „vernunftbetonte“ Sichtweise, die wundersamer Ereignisse nicht bedarf. Peter wird in der Zuverläßigen und wahrhafften Nachricht schlicht zu einem geistig behinderten Kind, das auf zugegebenermaßen ungewöhnliche Weise für kurze Zeit der Zivilisation entschwand um dann, im Großen und Ganzen unverändert und eben nicht mit dem Stempel der Natur versehen, wieder aufzutauchen.
60 61 62 63
Ebd. Ebd., 14. Ebd. Ebd., 13. Diese Aneinanderrückung von „Wildheit“ und geistiger Defizienz findet sich noch bei Gall und Esquirol; vgl. dazu Kap. 4.6. 64 Legt man eine Karte über den Landschaftszustand Niedersachsens Ende des 18. Jahrhunderts zugrunde (Geschichtlicher Handatlas von Niedersachsen, hg. v. INSTITUT FÜR HISTORISCHE LANDSCHAFTSFORSCHUNG DER UNIVERSITÄT GÖTTINGEN, bearb. v. GUDRUN PISCHKE, Neumünster 1989; mit Erläuterungen) zugrunde, lässt sich feststellen, dass die „Waldstücke […] überall als Hutungen genutzt – meist seit Jahrhunderten übernutzt und stark verhauen“ und „vielfach eher Buschland als Wald zu nennen“ waren. „Die großen Waldungen hatten durch übermäßigen Holzeinschlag für Gewerbezwecke (Glashütten, Bergbau u. a.) schwer gelitten und wurden erst allmählich in planmäßige Forstwirtschaft übernommen.“ Ebd., 7. Insbesondere der Wald um Hameln ist stark fragmentiert; zudem ist die Stadt von einem breiten Gürtel Kulturlandes umgeben. Erst am Solling und im Harz sind große zusammenhängende Waldflächen noch existent. Für detailliertere Informationen s. o., Kapitel 2.2.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
3.2.2. Redeckers Collectanea Während die Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht die früheste monographische Druckquelle zum Fall des Wilden Peter darstellt, liegt eine zweite bis heute nicht im Druck erschienene Abhandlung der Ereignisse vor, die einen näheren Blick wert ist. Es handelt sich hier um die Collectanea des hannoverischen Stadtschreibers JOHANN HEINRICH REDECKER. Redecker versah sein Amt hier seit 1723 und hinterließ nach seinem Tod 1764 eine umfangreiche handschriftliche Chronik von durchaus größerem lokal- und stadtgeschichtlichen Interesse.65 Interessant erscheint diese vor allem, weil sie möglicherweise eine zeitlich unmittelbarere Quelle als die Presseberichte darstellt. Unter dem Jahr 1724 findet sich folgender den Fund des Jungen betreffender Eintrag: Eod : Ao 1724. ward bey der Stadt Hameln der berufene so genante Wilde Junge gefangen. Im Julio sahe ein dasiger Bürger ihn zu erst, und zwar nicht weit von der Stadt, im Korn in einer Furche sitzen, da er, so bald er den Bürger erblicket aufsprung und in das Holtz lief. Er hatte keine andere Kleidung, als ein Hemd, welches mit Bindfaden zugebunden war. […] Als bald darnach andere Leute ihn sahen, waren nur einige Stücke von dem Hemde übrig. Zu der Erndte ward er durch einen Holtzführer aus Hameln, auf dem Holtzberge, der Klute genannt, gefangen, als er aus einem hohlen Baum sprang, an welchem der Fuhrmann zu hauen begonnen. Bey denen im Felde arbeitenden Leuten trank er, und zerschlug mit einem Stein den Krug, daraus er getrunken. Als er in die Stadt mitgenommen ward, versamleten sich vor und in der Stadt viele Kinder bey ihm, welche ihm den Namen Peter gaben.66
Die von Redecker gelieferte Version des „doppelten Fundes“ entspricht damit im Wesentlichen der vom Hamburgischen Correspondenten im April 1726 verbreiteten und ist passagenweise mit dieser sogar vollkommen identisch. Redecker nennt jedoch darüber hinaus einen konkreten Ort, nämlich den Klüt, und weist dem ersten Finder den Beruf des „Holtzführers“ zu. Auch im weiteren Verlauf zeigt der Eintrag große Ähnlichkeiten zum oben angeführten Zeitungsbericht. Dies betrifft etwa den anekdotenhaften Vorfall, dass Peter „die Mütze oder den Hut in die Weser warf“, aber auch die Schilderung seiner Nahrungsvorlieben: „Die Rinde oder den Bast von Bäumen käuete er gerne.“67 Unter dem Jahr 1725 taucht auch die Siegeloblaten-Episode wieder auf, wird jedoch noch weiter ausgeschmückt: Zu der ersten oder aber 2.te Advent-Woche, zwischen dem 1. und 15. Dec: ward der An: 1724 beschriebene so genante wilde Junge, so bisher im Hospital am Zuchthause in Zelle gewesen, mit seinem Geleits-Mann nach Hannover vor den König gebracht, und ging folgends in der Stadt, auf dem Schloße, in der Geheimen Rathstube und Rent-Cammer umher. In des Königs 65 Vgl. KLAUS MLYNEK, „Redecker, Johann Heinrich“, in: DIRK BÖTTCHER et al., Hannoversches Biographisches Lexikon. Von den Anfängen bis in die Gegenwart, Hannover 2002. Überschätzen sollte man Redeckers Prominenz in Hannover jedoch wohl auch nicht. Jedenfalls ließ die Person, die seinen Nachnamen mit einer kurzen Anmerkung auf der Titelseite der Collectanea einfügte, Platz: Der Vorname scheint nicht mehr bekannt gewesen zu sein. 66 REDECKER, Collectanea, 841. 67 Ebd.
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Zimmer bekam er Beliebung zu einem kleinen ledigen Medicinglase und steckete es in die Tasche; aus der Geheimen Rathstube und der Rent-Cammer aß er eine gute Quantität rohte und weiße Siegeloblaten wie er sie antraf, mit großer Begierde, hatte auch sonderlich Wolgefallen daran, daß er mit einer Schere ein Antheil Papier in kleine Stücke schnitte.68
Wirkliche Abweichungen zu bereits Bekanntem ergeben sich nur an sehr wenigen Stellen. Erwähnenswert ist in diesem Kontext jedoch die Beschreibung der Äußerlichkeiten Peters. Hier vermerkt Redecker, dass seine „Gestalt […] vollkömmlich wie eines anderen Menschen, die Haut etwas braun, und die Haare schwartzer Wolle ähnlich“69 waren. Zwar betont damit auch der Kammerschreiber den menschlichen Status des Knaben, relativiert diesen Standpunkt durch den Vergleich der Haare mit Wolle und den Verweis auf die Hautfarbe jedoch. Der Autor der Zuverläßigen und wahrhafften Nachricht hatte eine nach der Reinigung weiße Haut notiert; auch die Haare schienen so wenig bemerkenswert, dass nicht auf eine Tiermetapher zurückgegriffen werden musste. In ähnlicher Weise differiert die Beschreibung der Sprachfähigkeit Peters, zu der Redecker notiert: „Die Sprache fehlete ihm, und er lallete nur in viehischem Thon.“70 Auch in Hinsicht auf diesen Topos nimmt die Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht keine Annäherung an die Tierwelt vor, sondern liefert die oben geschilderten physiologischen Erklärungen. Mit diesen Besonderheiten erhält jedoch die – auch im Hamburgischen Correspondenten geschilderte – Randbemerkung, dass Peter „auf einem StrohSack nicht schlafe wollte, sondern sich auf Hände und Füße zum Schlaf setzete“71, eben wie ein Tier, ein neues Gewicht. Nimmt man die vielen Kleinigkeiten zusammen, rückt Redecker den Fündling näher an die Tierwelt heran, als dies die anderen Quellen seit Februar 1726 tun. Aufgrund der engen Konvergenz des Textes der Collectanea mit den zeitgenössischen Pressemitteilungen stellt sich die Frage, wer hier von wem kopierte. Während das Erscheinungsdatum der Zeitungen klar festzulegen ist, bleibt offen, wann Redecker schrieb. Kompilierte er nur Zeitungsberichte? Oder verarbeitete er, ganz zeitnah, mündliche oder schriftliche Mitteilungen, die er einholte oder die an ihn herangetragen wurden? Für letzteres scheint zunächst einiges zu sprechen: Auf der Titelseite der Collectanea findet sich der – allerdings wohl nachträglich eingefügte – Vermerk: „am 8. Julii, An : 1723. angefangen“. Dies suggeriert, dass Redecker seine Chronik tatsächlich tagebuchartig führte, und bei der bruchstückhaften Quellenlage in den Zeitungsarchiven ist nicht auszuschließen, dass doch bereits 1724 Meldungen aus Hameln über Peter kursierten. Die Oblaten-Episode weist darüber hinaus eine höhere Detaildichte als in den hier ausgewerteten Zeitungen auf: Peter befand sich zu diesem Zeitpunkt ja auch in räumlicher Nähe zu Redecker, nämlich in Hannover, und möglicherweise hatte dieser mündliche Mitteilungen über den Vorfall erhalten. Durchaus denkbar also, dass Korrespon-
68 69 70 71
Ebd., 853. Ebd., 841. Ebd. Ebd.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
denten der Presse bei einem „sehr fleißigen“, wenn auch „unstudirten“72 und kaum prominenten Schreiber über einen gewissen Zeitraum ihre Nachrichten einholten. Spätestens mit der sich erweiternden räumlichen Distanz verfügte Redecker aber nachweislich nur noch über die umlaufenden Pressemitteilungen. Untermauert wird dies durch den letzten Eintrag, der sich unter dem Jahr 1726 zu Peter findet: „Im Julio ward der […] gedachte hämelische Knabe, in London unpässlich; der König ließ ihn nach Harrow bringen, frische Luft zu schöpfen.“ Durchgestrichen und kaum mehr leserlich schließt sich an: „er starb aber bald hernach.“73 Redecker hatte hier offensichtlich die 1726 verbreiteten Pressemitteilungen über Peters Tod rezipiert; als sich kurz darauf herausstellte, dass der Junge sehr wohl noch lebte, strich er den Zusatz. Es findet sich noch ein weiterer Hinweis darauf, dass Redecker eher als ein beflissener Kompilator, der allenfalls kurzzeitig in die Vorgänge involviert war, gelten muss – und die Eintragungen zum Jahr 1724 vielleicht doch erst weit später entstanden und nachträglich in die Chronologie eingefügt wurden: das beigefügte, qualitativ hochwertige Kupfer Peters. Redecker bemerkt zu dem Bild, und zwar angefügt an die Schilderung des Fundes Peters unter dem Jahr 1724: „N[ota] B[ene] unterm Kupferbilde stehet Weihnacht 1725. sey er gefunden, solches ist irrig.“74 Dieses Kupfer, auf das weiter unten genauer eingegangen wird, zeigt nun Peter nicht kurz nach seinem Fund im Jahre 1724, sondern entstand deutlich später, nämlich nachdem William Kent den Knaben im King’s Staircase des Kensington Palace verewigt hatte.75 Damit findet sich ein klares Datum post hoc, das belegt, dass Redecker zumindest an dieser Stelle nicht direkt am Puls der Zeit schrieb – vor 1726 kann das Kupfer ja unmöglich gestochen worden sein76 –, wenigstens aber Nachbesserungen vornahm.77 So geht der Informationsgehalt der Collectanea letztlich kaum über das bereits aus der Presse Bekannte hinaus. Sie liefern jedoch einen, wenn auch nur kursorischen, Einblick in die individuelle Aufnahme und Verarbeitung der überlieferten Neuigkeiten durch einen intellektuell durchaus nicht unbegabten Zeitgenossen. Dass dieser Peter näher am Tier positioniert, als die nicht gerade durch Zurückhaltung auffallende Presse, verweist wieder auf die sozialen und mentalen Rahmenumstände der Zeit. Es ist, so scheint es, derselbe Mechanismus am Werk, der schon beim Mädchen von Kranenburg zu einem Auseinanderdriften der Meinungen führte.
72 73 74 75 76
So ein handschriftlicher Zusatz auf der Titelseite der Collectanea. Ebd., 856. Ebd., 841. Reproduktion des Stiches in Kap. 3.3. Zu Kent vgl. Kap. 3.5. Vgl. auch die Mitteilung „7. Wilder Knabe.“, in: Breslauer Sammlungen, 35 (Aprilis 1726), 506 f. auf die weiter unten (Kap. 3.3.) genauer eingegangen wird. 77 Auch bei genauerer Betrachtung des Schriftbildes des Manuskripts ließ sich dieses nicht klären; die Möglichkeit, dass hier nur ein einzelner Satz nachträglich eingefügt wurde – vielleicht, als 1726 das Bild eintraf – besteht aber.
3.2. Kronzeugen
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3.2.3. Palm an Burchardi Als 1749 in Hannover ein kleiner Oktavband mit dem Titel Die entlarvete Fabel vom Ausgange der hämelschen Kinder von C. F. FEIN erscheint, findet der Leser im Anhang unter anderem die Copiam eines Schreibens des ietzigen Herrn Burgerm. Palm zu Hameln an den Herrn Commissarium Burchardi bei dem Königlichen Berg=Comtoir wegen des bei Hameln gefundenen Knaben78. Dessen Autor, JOHANN FRIEDRICH PALM, war von 1727 bis zu seinem Tod 1755 Syndicus in Hameln und damit Nachfolger des aus den Quellen bereits bekannten, 1727 verstorbenen Theodor Severin.79 Das Schreiben ist datiert auf den 31. Mai 1741 und antwortet auf eine Anfrage des hannoverischen Berg-Comtoirs. Zu diesem Zeitpunkt waren also bereits ziemlich genau 17 Jahre seit dem Fund Peters ins Land gegangen; das Interesse war offensichtlich dennoch nicht ganz verblasst, und zwar weder von behördlicher noch von öffentlicher Seite, wie die Entscheidung, den Brief druckzulegen, zeigt. Bezüglich der Umstände des Fundes und auch des Verhaltens Peters liefert das Schreiben wenig Neues. Als Datum des ersten Auftauchens wird die Weizenernte 1724 angegeben, wir erfahren darüber hinaus auch den Namen des Bürgers, der zuerst mit Peter zusammentraf: Jürgen Meyer.80 Die Hautfarbe Peters wird als „einem Zigeuneriungen nicht ungleich“ angegeben, die Haare sind schwarz und kraus.81 Einige der bereits bekannten Eigenarten, wie das Schlafen auf allen Vieren und die Unfähigkeit zu sprechen, werden unverändert wiedergegeben. Neu ist, dass Peter zuzeiten eine kulinarische Vorliebe für Gras und vor allem „Coffee“82 entwickelte. Vor diesem Hintergrund fand sich für das Küssen der Erde eine ganz neue Bedeutungsdimension, verfuhr das Kind doch „nach Art der Orientaler“. Peter wurde also wieder in ein muslimisches Umfeld, diesmal allerdings den Maschrik, verwiesen.83 Peter wurde laut Palm zunächst im Heilig-Geist-Armenhaus untergebracht, konnte sich in der ersten Zeit in der Stadt jedoch völlig frei bewegen; erst als es zu handgreiflichen Auseinandersetzungen mit Gleichaltrigen kommt, beschließt man, ihn im Armenhaus „etwas genauer in Obsicht nehmen zu lassen.“84 Vielsagend wird Palms Wortwahl, wenn er beschreibt wie Peter, der sich zu seinem Vergnügen gerne auf den allgegenwärtigen Schiebekarren umher fahren ließ, auf die Versuche der Stadtjugend, ihn von seinem Platz zu vertreiben, reagierte: […] wen aber die Zeugmacheriungens oder andere, so solchen Karren zogen, ihn herunter warfen, wurde er im Gesichte ganz erbost und zeigte die Zähne wie ein Hund, oder Affe, fing auch nachmahls an sich Kinder seines Alters zu vergreifen.85 78 79 80 81 82 83 84 85
PALM, Copia, 36–40. Vgl. FRIEDRICH SPRENGER, Geschichte der Stadt Hameln, Hannover 1826, 196. PALM, Copia, 36 f. Vgl. ebd., 36. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., 38. Ebd., 37 f.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Ähnlich wie in Redeckers Bericht schleichen sich also auch hier Tiervergleiche ein, die zusätzliches Gewicht erlangen als Peters „Reinlichkeit nicht die beste“ ist, „den sowol das Bette, als die Erde boten ihm die gleiche Commodität dar.“ Man mag sich also in Hameln schon die Frage gestellt haben, wen oder was man sich hinter in die Stadtmauern geholt hatte, und wenn auch Peter im allgemeinen von der Bevölkerung akzeptiert wurde, entstanden auf längere Sicht – besonders durch das Ausbleiben von Änderungen in seinem Verhalten – Probleme, die dazu führten, dass „zuletzt keiner mehr die Aufsicht über ihn führen“ wollte.86 Dass die Bürger sich in dieser Aufsichtsrolle wenig wohl fühlten, scheint verständlich: Das „tierische“ Verhalten hätte eigentlich Gegenmaßnahmen erfordert, die mit der offensichtlichen Humanität Peters so gar nicht zusammenpassen wollten. Denn letztere stand, wie aus Palms Brief klar hervorgeht, für die Hamelner selbst völlig außer Frage; mehr noch, man konnte in dem Knaben eigentlich gar nichts Außergewöhnliches sehen: Man kam anfänglich alhier selbst nicht auf so wilde Gedanken, daß dieser Knabe wild seyn solte, denn bei dem Hereinbringen deßelben, wie ich selbst gehöret, sagte eine Bürgerfrau: Der Junge mus vorhin eine Hose angehabt haben, aber keine Strümpfe, weil das übrige des Leibes viel schwärzer von der Sonne gebrant, als die Beine.87
Die Lösung des Problems liegt nahe: Der Rat der Stadt sucht in Hannover um Aufnahme „in das Dollhaus zu Celle“88 nach, was schließlich ja auch geschieht. Merkwürdigerweise fehlt hier jeder Verweis darauf, dass Peter in der Zwischenzeit privat untergebracht wurde. Bezüglich der Frage der Herkunft des aus dieser Perspektive wenig mirakulösen Knaben schießt sich Palm stringenterweise auf den sattsam bekannten Wirt aus Lüchtringen ein, wobei sich allerdings einige Modifikationen finden. In dieser Version erhöht sich der Kinderreichtum des Wirtes weiter auf insgesamt drei Nachkommen, allerdings aus verschiedenen Ehen, wobei eine bis dato nirgends sonst erwähnte böse Stiefmutter durchaus einiges an Überzeugungskraft hinzugefügt haben mag. Auch die Frage, wie lange und auf welche Art Peter im Freien überleben konnte, wird entschieden. Tiere spielten dabei keine Rolle, die Verweildauer muss eher gering gewesen sein. Inzwischen fanden sich einige Leute und unter denenselben Schiffere an, welche erzähleten, daß sie bei ihrer letzten Fahrt von Polle herab den Sommer herdurch zuweilen einen nackenden Menschen am Ufer der Weser gefunden, dem sie auch als einem armen Menschen ein Stük Brot gereichet […]. Es wurde dahero ein vernünftiger Mann als Bothe die Weser hinauf gesandt, sich zu erkundigen, ob auch iemand ein Kind entlaufen sey, und brachte mit zurücke, daß die Leute zu Fürstenberge gesaget, es wären ihren Wirth daselbst, nachdem er zu der andern Ehe geschritten, und das Weib sehr böse gewesen, zwei Söhne weggekommen, davon der eine bereits im Holtze gestorben, er der Bothe fügte dem hinzu, daß er vor des Wirths Hause ein kleines Mädgen von eben der Visage und dicken kurz krausen Haren
86 Ebd. 87 Ebd. 88 Ebd.
3.3. Der Preis der Wildheit
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angetroffen, aber der Wirth, so vielleicht froh gewesen seyn mogte, daß er der Kinder loß, hätte von einem verlohrnen Sohn nichts wißen wollen.89
Dass sich mehr als ein Jahr nach dem Fund schließlich der König höchstpersönlich für den Jungen interessierte, mag in der Hamelner Bevölkerung für Verblüffung, möglicherweise aber auch für Spötteleien und Erleichterung gesorgt haben. Zumindest einige der Bürger schienen jedoch ins Grübeln zu geraten, ob der Knabe, der bald weiter gereist sein sollte als sie selbst und mit einigen der bedeutendsten Intellektuellen der Zeit umging, tatsächlich so unspektakulär gewesen sein konnte, wie man 1724/25 geglaubt hatte. Obwohl die Sachlage also zum Zeitpunkt des Fundes völlig klar schien, schossen in der Folge wildeste Spekulationen ins Kraut, die sich hinter den in der Zuverläßigen und wahrhafften Nachricht vorgestellten keineswegs verstecken müssen: Inzwischen gab diese Staatsveränderung einigen hiesigen tiefsinnigen Köpfen Anlaß, ein und das andere dubium zu formiren: 1) Ob dieser Junge auch etwa in einem im Orient entstandenen Gewitter gleich einen Frosch mit aufgezogen und alhie wieder niedergelassen sey. 2) Ob er nicht etwa aus Siebenbürgen als ein Spion der ehemals ausgegangenen Kinder Nachlaß hieselbst zu erkundigen, abgesandt sey, oder 3) Ob es nicht eine protuberatio terrae eines unter der Erden nach dem genio des Paracelsi gezeugeten Menschen sey.90
In all diesen Ansätzen spiegelt sich wohl nicht mehr als die Enttäuschung, den wahren Vater nicht wirklich zur Verantwortung ziehen zu können.91 Eine Frage bleibt jedoch offen: Warum forderte eigentlich eine Territorialbehörde – nämlich das kurhannoverische Berg-Comtoir – nach so vielen Jahren einen Bericht über Peter an? Ihre Beantwortung wirft, wie sich zeigen wird, neues Licht auf das Verhalten der handelnden Personen und Institutionen. Sie erlaubt gleichzeitig eine Subsumierung der Ereignisse bis Frühjahr 1726. 3.3. DER PREIS DER WILDHEIT Während die Quellen an der Oberfläche Informationen über den Ablauf eines Ereignisses liefern, lassen sie in ihrer Gesamtschau auch Rückschlüsse auf die mentale Verfassung jener Gesellschaft zu, die Peter aufnimmt, also zunächst die Hamelner Bürger. Exemplarisch lässt sich also hier nachvollziehen, wie die frühmoderne Gesellschaft auf das Nicht-Alltägliche, je nach Optik womöglich sogar Wunderbare reagierte. Hameln war durch den Jungen in die Schlagzeilen 89 Ebd., 38. Die veränderte Ortsangabe – Fürstenberg, etwa 10 km weseraufwärts, statt Lüchtringen – muss nicht irritieren: Tatsächlich liegt der „Steinkrug“ an einer Flussbiegung exakt zwischen den beiden Ortschaften. Genauere Angaben zu der bis heute existierenden Gaststätte liefert BÜTTNER, Der „wilde Peter von Hameln“, 8. 90 PALM, Copia, 38. 91 Paracelsische Theorien etwa spielen in der Folge keinerlei Rolle mehr. Hier mag daher der knappe Verweis genügen, dass Paracelsus vier verschiedene, mit den Elementen korrespondierende Menschengattungen angenommen hatte.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
der europäischen Presse gelangt; bildete sich also etwas wie Stolz auf den außergewöhnlichen Jungen, der die ohnehin einschlägig vorbelastete Stadt weiter mythifizierte und somit bekannt machte? Gab es eine Lust am Unbekannten, eine Neugier auf die weitere Entwicklung, wie immer sie auch aussehen mochte? Setzte sich vielleicht schon zu diesem frühen Zeitpunkt des 18. Jahrhunderts aufklärerischer Elan durch, der den weiteren Aufenthalt Peters wünschenswert machte und dessen Überführung nach England bedauerte? Falls es solche Hoffnungen gegeben haben sollte, wurden sie enttäuscht: Am 4. Mai 1726 meldet die Europäische Zeitung: Auß Hanover von dem 14. April. Der ohnlängst bey Hameln gefundene wilde Knabe/ ist auf hohen Befehl über Hamburg nunmehro nach Engelland gesandt worden/ da Ihre Königl. Groß=Britannische Majestät denselben an der Cron=Prinzessin von Wallis Königl. Hoheit sollen geschenckt haben.92
Überholt wurde sie in ihrer Meldegeschwindigkeit dabei vom Schlesischen Nouvellen Courier, der bereits zwei Tage zuvor, die Abreise des Jungen auslassend, eine auf den 16. April datierte Meldung aus London abgedruckt hatte, dass der „im Wald bey Hameln gefundene wilde Junge, von 11 Jahren ungefehr, […] hieher gebracht worden“ sei.93 Im Frühjahr 1726 befindet sich das Kind damit nicht mehr im Kurfürstentum Hannover, sondern in England. Ob diese Idee Georg I. höchstpersönlich gekommen war oder ob interessierte Kreise am und um den Londoner Hof in dieser Hinsicht auf den Regenten eingewirkt hatten, was fast wahrscheinlicher scheint, geht aus den deutschen Quellen nicht deutlich hervor. Ein Wort des Bedauerns über den Verlust des prominenten Knaben findet sich jedoch nirgendwo. Weder Bevölkerung noch Autoren scheinen Peter, der doch immerhin eine Sensation war und Hameln einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht hatte, eine Träne nachgeweint zu haben. Wie ist dies zu erklären? Eine genauere Durchsicht der Quellen ergibt mehrere Hinweise, die sich bald zu einem recht überzeugenden Gesamtbild verdichten. Zum Angelpunkt wird hier Palms Schreiben an Burchardi: So schreibt dieser 1741, also Jahre später, dass der Hamelner Stadtrat aufgrund des inakzeptablen Verhaltens des Knabens „veranlaßete nachzusuchen, daß königl. Regierung ihn in das Dollhaus nach Celle aufnehmen laßen mögte.“94 Diese Darstellung differiert zu der zeitnah in der Zuverläßigen und wahrhafften Nachricht überlieferten Angabe: Nachdem nun dieser wilde Knabe durch viele Gedult und Mühe dergestalt geändert worden, daß er so wohl in Essen die wilden Eigenschafften ziemlich unterlassen, auch seine Kleider nunmehro auf den Leibe gelassen, daß er also viel bequemer worden, hat man ihm nach Zelle ins Waysen=Hauß gebracht.95
92 „Auß Hannover von dem 14. April“, in: Europäische Zeitung, 36 (4. Mai 1726), o. P. 93 „Aus Groß=Britannien“, in: Schlesischer Nouvellen Courier, 70 (2. Mai 1726), o. P. Peter muss sich zu diesem Zeitpunkt bereits einige Zeit in London befunden haben, denn Swift spricht in einem Brief vom 6. April 1726 davon, dass der Junge bereits seit zwei Wochen das Gespräch der Londoner Gesellschaft sei. S. o., Kap. 3.5. 94 PALM, Copia, 38. 95 Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht, 10.
3.3. Der Preis der Wildheit
187
Palm berichtet davon, dass man sich in Hameln keinen anderen Rat mehr wusste, die Stadt sich mit der Aufgabe schlicht überfordert fand, während die Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht betont, dass der nach Zelle abgegebene Knabe sein Verhalten bereits drastisch gebessert habe. Möglicherweise versuchte man also 1726, den Zustand des Jungen zu schönen. Lässt man sich auf diese Hypothese ein, erklärt sich auch ein auf den ersten Blick zunächst wenig belangvoll erscheinender Passus. Nachdem Palm mehr oder weniger offen unterstellt, dass „der Wirth, so vielleicht froh gewesen seyn mogte, daß er der Kinder loß, […] von einem verlohrnen Sohn nichts [hätte] wißen wollen“, führt er mit erwähnenswerter Detailliertheit aus: Gleichwie nun aus Königl. Kloster=Casse die Unterhaltungskosten dieses Knabens bereits mildest angewiesen, und der mehrerwehnte Wirth dem Bericht nach nichts im Vermögen, also sind die von hiesiger Kämmerey vorgeschoßene 40 Thlr. 12 gl. 6 pf. aus gedachter Kloster=Casse hinwieder bezahlet, und ist der Knabe allendlich im Oktober a. 1725 im Zuchthause zu Celle aufgenommen worden. In der Rubric jener specificirten Unkosten ist dieser Knabe zum erstenmale von hiesiger Kämmerei als ein Wilder betitult worden, und in dem d. 7ten Iulii 1725 ertheileten Rescripto Ratificationis aus Königl. Klosterkammer ist ihm solches epitheton beibehalten worden: Und dieses ist alles, was ich Ew. Hochedelgeb., hiervon zur Nachricht von hieraus habe melden können.96
Hier und nirgendwo anders liegt möglicherweise der eigentliche Kern der 1741 erfolgten Mitteilung; folglich scheint sich die Anfrage aus Hannover weniger auf den Knaben selbst, als auf die durch diesen verursachten Kosten bezogen zu haben. Peters Versorgung war wohl schlicht zu einem finanziellen Streitfall zwischen der Territorialverwaltung und der Stadt Hameln geworden. Dies erklärt sich aus den reichlich unübersichtlichen Regelungen, die sich im Laufe der Frühen Neuzeit bezüglich der Frage der Kostenübernahme für Fündlinge und Waisen herausbildete und auf die bereits oben dezidiert eingegangen wurde.97 Hier daher nur knapp im Rückgriff: Während in den norddeutschen Territorien für Waisen generell das Heimatprinzip galt, das der Heimatstadt die Kostenübernahme für deren Versorgung auferlegte, galt dies für Findelkinder nicht.98 Konnte die aussetzende Familie 96 PALM, Copia, 38 f. 97 S. o., Kapitel 2.1.3. 98 Daher wäre es auch überraschend, wenn Peter tatsächlich ins Celler Waisenhaus (vgl. Hamburgischer Correspondent, 59 (12. April 1726), o. P.) überführt worden wäre. Dies umso mehr, als die Aufnahme ins Celler Waisenhaus unter anderem davon abhing, dass das Kind aus dem Fürstentum Lüneburg stammte, gesund und weitgehend für sich selbst zu sorgen im Stande war; vgl. REINHARD ROHDE, Das Celler Waisenhaus. Zur Geschichte einer 300 Jahre alten Stiftung, Celle 1994, 32. Viel wahrscheinlicher erscheint die zweite der angeführten Möglichkeiten, nämlich dass Peter in das gerade im Aufbau befindlich Tollhaus gebracht wurde (vgl. Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen, Bd. XII, XVII (Februar 1726), 165 f.). Zum Celler Tollhaus siehe generell C. CASSEL, Geschichte der Stadt Celle, Celle 1930 und A. LUDOLPH, Das Werk- und Zuchthaus und die Kettenstrafanstalt zu Lüneburg, ein Beitrag zur Geschichte und Entwicklung des Strafvollzugs, Göttingen 1930. Die Archivbestände des Tollhauses (HstaA Hannover, Hann. 86 Celle) sind äußerst lückenhaft; außer Baurechnungen liegen aus der in Frage stehenden Zeit kaum Akten vor. Besser sieht es mit dem Waisenhaus
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
nicht ermittelt werden, wurden deren Kosten von den obrigkeitlichen Kassen getragen, im Falle des hier betroffenen Kurfürstentums Hannover entweder von der Klosterkasse oder der Rentkammer. Waren die aufgefundenen Kinder jedoch bereits dem Kleinkindesalter entwachsen, lag ein Grenzfall vor, so dass für die Kosten möglicherweise doch die Stadt in die Pflicht genommen werden konnte.99 Im Falle Peters waren Hameln durch den ungewollten Zuwachs zunächst Kosten entstanden. Das Kind wollte verpflegt, gekleidet und untergebracht werden, sei es im Armenhaus oder bei einer Privatperson. Peters Ansprüche wuchsen bald über die zunächst bevorzugte Rohkost hinaus, er zerriss seine Kleidung und bedurfte erhöhter Aufsicht, so dass sich schon in der Zuverläßigen und wahrhafften Nachricht findet, dass „sein Auffseher sich beschweret, und diesen Kost=Gänger gern wieder loß seyn wollen.“100 Der Hamelner Stadtrat hielt sich jedoch gemäß der geltenden Rechtslage für nicht finanziell zuständig, da er Peter als Findelkind betrachtete, dessen Heimat eben nicht in Hameln lag – also war die hannoverische Klosterkasse in der Pflicht. Da der Junge dem Kleinkindesalter jedoch bereits weit entwachsen war, drohte Hameln auf den Kosten sitzen zu bleiben: Hannover konnte unterstellen, der Knabe habe eben doch mittlerweile Heimatrecht erlangt. Die kostendämpfende Maßnahme des Hamelner Stadtkämmerers verdient daher ob ihrer Findigkeit Applaus (und wird in den heutigen Zeiten leerer kommunaler Kassen den dort Tätigen in ihrer Machart vielleicht ganz alltäglich vorkommen). Statt Peter, wie ansonsten üblich, als „Fündling“ zu bezeichnen, wird er als „ein Wilder betitult“: Wie hätte ein solcher aber Heimatrecht im zivilisierten Hameln erworben haben können? Ob die Klosterkasse dies sofort ohne Vorbehalte akzeptierte, lässt sich mangels Quellen nicht mehr nachvollziehen; man mag jedoch mutmaßen, dass der in den Zeitungsartikeln erwähnte Göttinger Inspector Heumann vor diesen finanziellen Hintergründen zu einer genauen Prüfung des Falles gerufen wurde. Darauf verweist auch, dass die Suche nach dem potenziellen Vater ganz oben auf seiner Agenda stand. Jedoch fanden sich offensichtlich zwar recht klare Indizien, aber keine wirklichen Beweise gegen den verdächtigten Wirt, der, folgt man der Quelle, überdies als zahlungsunfähig gelten musste. Das Ende vom Lied ist jedenfalls das im Juli 1725 in Hameln eingehende Ratifikationsreskript – die Klosterkasse fügte sich in ihr Los. Dabei mag geholfen haben, dass man von Hamelner Seite aus alles tat, um den Wilden als bereits auf dem Wege der Besserung zu präsentieren. Erst Jahre später scheint Burchardi – vielleicht über eine Verbindung nach England, wo Peter nach wie vor eine gewisse
(StA Celle, L 3) aus, für das für den Zeitraum 1724–26 Rechnungen und Belege sowie eine Liste der aufgenommenen und abgegangenen Kinder vorliegen, jedoch erwartungsgemäß ohne jeden erkennbaren Verweis auf den Hamelner wilden Knaben. 99 Vgl. MEUMANN, Findelkinder, 184. 100 Zuverläßige und wahrhaffte Nachricht, 9.
3.3. Der Preis der Wildheit
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Popularität besaß – wieder über den Fall gestolpert zu sein, was zu der Rückfrage führte, die ihrerseits Palms Antwort auslöste.101 Weder in den verbliebenen Akten der Stadtkämmerei Hameln noch der hannoverischen Klosterkammer findet sich ein hieb- und stichfester Beleg für die Aufnahme und Verpflegung Peters. Die Akten der specificirten Unkosten konnten nicht aufgefunden werden, obwohl das Verzeichnis der Insgemeinen Ausgaben erhalten ist.102 Ein „Wilder“ taucht den Erwartungen entsprechend denn auch nach genauerer Durchsicht der Hamelner Kämmereiakten nicht auf. Wohl aber finden sich zwei von Privatpersonen verpflegte „Fündlinge“, leider ohne deren Namen zu nennen. Als Aufseher werden ein Hanß Kegeln und ein Johann Hinrich Lücken genannt; keiner der Namen ist in den übrigen Quellen nachweisbar. Kegeln erhielt für das von ihm verpflegte Kind noch bis mindestens Juni 1726 Mittel aus der Stadtkasse; da sich Peter zu diesem Zeitpunkt bereits lange nicht mehr in Hameln befand, wird man ihn also ausschließen können. Möglicherweise war es jedoch der erwähnte Johann Hinrich Lücken, der Peter in Pflege genommen hatte. Die Akten der Stadtkämmerei verzeichnen: Johann Hinrich Lücken, welchen auch ein Fündling zu alimentiren ist gegeben worden, wofür demselben von 11ten May. 1724 biß z. 11.ten May. 1725 à 1 Rtlr. 18 gl. [ – ] pf. [Gesamtsumme aufs Jahr:] 18 Rtlr.103
Sollte dies der Fall sein, könnte die Frage des genauen Fundtermins entschieden werden, und zwar zugunsten des in der Zuverläßigen und wahrhafften Nachricht überlieferten 4. Mai. Den weiteren Verbleib Peters betreffende Akten, etwa des Hamelner Heilig-Geist-Spitals oder des Zeller Tollhauses, konnten auch nach längerer Recherche nicht aufgefunden werden; wahrscheinlich zählen sie zu den großen während des Siebenjährigen Krieges zerstörten Beständen, welche die Forschung in der Region für diesen Zeitraum generell behindern. Schließt man sich der oben entwickelten Deutung an, so ergab sich für die Hamelner Offiziellen – über die Stimmung innerhalb der Bürgerschaft lässt sich wenig aussagen – ein sehr rationales Handlungsgebot. Man musste den nichtsnutzigen Kostgänger, der auf dem Stadtsäckel lag, schnellstmöglich loswerden. Die Entstehung der Vorstellung, dass Peter ein „entwicklungsfähiger Wilder“ sei, ergab sich vor diesem Hintergrund nicht zuvörderst wegen seines besonders „wilden“ Aussehens oder Verhaltens, sondern aufgrund höchst simpler finanzieller Überlegungen. Für Hameln scheint Peter kaum ein Gegenpol zum zivilisierten Menschen und erst recht kein halbtierisches Wesen gewesen zu sein; er wurde lediglich aufgrund äußerer Sachzwänge als ein solcher verkauft. Die Verschiffung des Kindes über den Ärmelkanal führte insofern wohl folgerichtig nicht zu Ver101 Es ist einzuräumen, dass die vorgelegte Argumentation einen Schönheitsfehler hat: Burchardi gehörte dem Berg-Comtoir an; warum dieses Zuständigkeit entwickelt haben könnte, konnte nicht geklärt werden. 102 StA Hameln, Akten der Stadtkämmerei Hameln, 1724–25. Die Akten der kurfürstlichköniglichen Klosterkammer lagern im HStaA Hannover; an dieser Stelle gilt mein Dank Dr. Claudia Kauertz, die freundlicherweise die Durchsicht des umfangreichen Bestandes Hann. 94, leider ohne Ergebnis, besorgte. 103 StA Hameln, Akten der Stadtkämmerei Hameln, Ausgaben Inßgemein, 1725.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
lustgefühlen, sondern zu Erleichterung, entschwand Peter damit doch auch dem Einflussbereich der möglicherweise Regress fordernden hannoverischen Klosterkasse, die über den tatsächlichen Zustand des sich doch angeblich prächtig entwickelnden Fündlings kaum erfreut gewesen sein dürfte und den Sachverhalt möglicherweise neu geprüft hätte. 3.4. ENGLANDS WILDER GREIS Peter wäre kaum zu seiner großen Prominenz gelangt, hätte sich im Frühjahr 1726 nicht das bereits erwähnte einschneidende Ereignis angeschlossen: die Rückreise Georgs I. nach England. Die im Rahmen dieser Arbeit ausgewerteten Periodika104 bringen bis Mitte 1727 in nun allerdings größeren Abständen Meldungen über den Verbleib und die Entwicklung des Jungen. Dann bricht die Berichterstattung abrupt ab, erst vierzig Jahre später finden sich in der deutschen Presse wieder Mitteilungen. Anfang April 1726 meldete der Hamburgische Correspondent die Abreise des Jungen aus Hannover105, und knappe zwei Wochen später findet sich im Schlesischen Nouvellen Courier ein erstes mediales Lebenszeichen aus England: Londen, den 16. April. Der im Wald bey Hameln gefundene wilde Junge, von 11 Jahren ungefehr, ist hieher gebracht worden; er kann noch nicht ein Wort sprechen. […] Obgedachte verwildeter Junge wurde zu eben der Zeit in den Garten des Pallastes von St. James gebracht, als der König in demselben spatzieren gieng; da riß er nicht nur Blätter von Bäumen ab, und fraß sie sehr begierig, sondern er wollte gar über die Mauer springen, welches auch gewiß würde geschehen seyn, wenn man ihn nicht daran verhindert hätte.106
Nach wie vor fehlte Peter die Sprache, das Abreißen und Essen der Blätter scheint geradezu ein Rückfall in bereits verloren gegangene Verhaltensmuster unmittelbar nach dem Fund 1724 zu sein; immer noch zeigt er auch eine Tendenz zur Flucht. Der Junge ist zu diesem Zeitpunkt zu einem dekorativen Element des Hofes geworden, ein Kuriosum, das dem König – wohl nicht ohne dessen Verlangen – bei seinen Spaziergängen vorgeführt wird. Bereits wenige Tage später fügt sich jedoch eine weitere Etappe in den Lebensweg Peters, die ihn, zumindest für kurze Zeit, in jenen Dunstkreis der Londoner Intelligenz führte, von dem im folgenden Kapitel zu reden sein wird. Die Breslauer Sammlungen notieren: Ferner hieß es vom 19. April. Gestern wurde der wilde Lunge nach Leicester geführet, und der Auffsicht des D. Arbuthnot anvertrauet, dass er ihn reden lehren und vernünfftig erziehen soll. Er gehet itzo in einem grünen Kleide, so roth gefüttert und mit Silber bordiret ist; er hat 104 Wünschenswert wäre eine Bestandsaufnahme der zeitgenössischen englischen Presse, die für die vorliegende Arbeit jedoch ein Desiderat bleiben muss. Einige Einblicke in deren Aufnahme des Falles ergeben sich jedoch aus den in diesem Kapitel bearbeiteten monographischen Quellen. 105 Peter muss sich jedoch schon deutlich früher in England befunden haben; der in Kap. 3.5. angesprochene Brief Swifts deutet auf Mitte März des Jahres. 106 „Aus Groß=Britannien“, in: Schlesischer Nouvellen Courier, 70 (2. Mai 1726), o. P.
3.4. Englands Wilder Greis
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eine große Freude darob bezeuget, und trägt zugleich rothe Strümpffe; ist auch hier abgemahlet worden. Man remarquiret, dass er seine Augen meist auf den König gehen läßt; und als ihm die Printzeßin von Wallis ihre Handschuh gab, war er darüber erfreuet, und machte Minen, als ob er dieselbe bey der Hand ziehen wollte. Er war verwundert, als er eine Repetitions=Uhr, die nahe bey ihm stund, schlagen hörete. Man hat ihn bis dato noch auf keine Bette bringen können, sondern er schläft gemeiniglich sitzend auf einem Stuhl oder Banck. Man hat ihm sonst verschiedene Kleider von allerhand Farben angethan. Er scheinet aber wenig Vergnügen an denselben zu haben. Er hat die völlige Gestalt als ein Mensch, ausser der Nase, welche eingebogen, und eines Affen Nase gleich ist, die Haare sind kraus, und er selber ist klein von Gestalt.107
Auf einige Besonderheiten dieses Artikels, der offenbar verschiedene Meldungen englischer Zeitungen kompiliert, wird unten noch genauer einzugehen sein. Hier mag zunächst genügen, dass Peter in die Obhut John Arbuthnots gegeben worden war.108 Dessen Zielsetzung wird explizit formuliert: Das Kind soll reden lernen und „vernünftig“ erzogen werden, und generell scheint dem Jungen in London große Aufmerksamkeit gewidmet zu werden. Seine Kleidung ist kostspielig, sein Verhalten wird minutiös beobachtet und erfasst, zeigt aber auch hier noch keine größeren Veränderungen – nach wie vor mag Peter beispielsweise nicht im Liegen schlafen. Das im Bericht erwähnte Bild war mit großer Wahrscheinlichkeit die Vorlage für den Stich, von dem Redecker einen Druck in seine Collectanea einheftete. Hierfür spricht vor allem die erwähnte Kleidung, die mit dem Bild korrespondiert. Vergleicht man die Abbildung mir der in der Zuverläßigen und wahrhafften Nachricht, kommt man kaum auf die Idee, dass es sich um denselben Jungen handelt. Erhalten geblieben ist das schwarze, krause Haar. Mit einigem Wohlwollen lässt sich auch eine gewisse Ähnlichkeit der Gesichtszüge feststellen. Statt Klauen findet man nun aber geradezu manikürte Hände, die Haut ist hell, der Knabe wirkt gepflegt. Geht man von der Kleidung aus, hatte der Zivilisationsprozess nicht nur bereits begonnen, sondern war abgeschlossen, wobei Peter eine verblüffende soziale Mobilität an den Tag gelegt zu haben schien.109 Allenfalls der Blick, mit dem er die Eicheln in seiner Hand halb hypnotisiert zu fixieren scheint, wirkt außergewöhnlich. Diese wiederum sind das letzte klare Symbol für „Wildheit“, das sich noch auffindet, obwohl sich ironischerweise in den Quellen nirgends ein Verweis auf eine Vorliebe für diese Nahrungsressource findet. Aber im eigentlichen Sinne scheinen sie nicht mehr zu der hier abgebildeten Persönlichkeit zu gehören; sie wirken mehr wie ein Überbleibsel aus einer Vergangenheit, von der sich Peter mittlerweile abgekapselt hat. Der Blick ist insofern wohl vor allem als ein Rückblick in die eigene Geschichte zu verstehen, der noch nicht ganz gelingen will – die Eicheln einverleiben will sich dieses Kind jedenfalls nicht. Aber Arbuthnots Anstrengungen machten ja gute Hoffnung, dass 107 „7. Wilder Knabe.“, in: Breslauer Sammlungen, 35 (Aprilis 1726), 506 f. Zugrunde liegt hier offensichtlich eine Meldung aus der Londoner Zeitung Wye’s Letters vom 5. April; vgl. COLLINS, Not even wrong, 21. 108 Zur genaueren Biografie und Bedeutung John Arbuthnots s. u., Kap. 3.5. 109 Vielleicht auch von daher die Bezeichnung in einem der weiter unten besprochenen Pamphlete: Lord Peter.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
der Junge mit Erlernen der Sprache auch Details seiner außergewöhnlichen Herkunft und seines extraordinären Lebens offenbaren würde.
Peter kurz nach Ankunft in London; Kupferstich von JOHN SIMON nach WILLIAM KENT, London 1726. Angeheftet an REDECKER, Collectanea. StA Hannover.
Diese enormen Veränderungen schlugen sich im Juli 1726 schließlich auch schriftlich nieder: Londen, den 9. Julii. Der aus dem Hannoverschen hieher gebrachte wilde Junge ist nunmehr so zahm gemacht, auch in unser Sprach und in dem Christentum so weit gebracht worden, daß er noch diesen Abend soll getaufft werden.110
Glaubt man der Meldung, hatte Peters Entwicklung dramatische, man möchte fast sagen wundersame Fortschritte gemacht, die das Bildnis voll zu bestätigen schienen. Er ist „zahm“, obwohl er noch im Mai bekanntlich versuchte zu fliehen und beherrscht nun zumindest die Grundzüge der Sprache. Damit werden auch religiöse Inhalte kommunikabel, was wiederum dazu führt, dass man dem Kind regulären menschlichen Status kaum mehr aberkennen kann. Die in der Folge anberaumte Taufe ist ein bemerkenswertes Faktum, das einiges Licht auf die Rezeption Peters durch die Londoner wirft: Eine sinnvolle Maßnahme konnte sie nur 110 „Aus Groß=Britannien“, in: Schlesischer Nouvellen Courier, 118 (25. Juli 1726), o. P.
3.4. Englands Wilder Greis
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sein, wenn Peter nicht bereits getauft war: Man ging nun doch wieder davon aus, das Kind sei unmittelbar nach der Geburt ausgesetzt worden.111 Wer für diese Entwicklung – hier vollzieht sich innerhalb zweier Monate, was in Hameln und Celle über Jahre unerreichbar blieb – verantwortlich ist, bekräftigen für die deutsche Leserschaft etwa die Leipziger Zeitungen112, die im August den Namen Arbuthnot erneut erwähnen. Dessen Rolle scheint kaum zu überschätzen zu sein, denn die Europäische Zeitung meldet, dass die Dinge tatsächlich den geplanten Verlauf nahmen: Peter wird am 9. Juli 1726 „in dem Hause des Doctor Arbuthnot/ welcher ihn reden lernet/ getaufet […]“113. Möglicherweise erklärt sich die Taufe aber durch einen weit dramatischeren Umstand, als der Öffentlichkeit kommuniziert wurde. Kurze Zeit nach der Taufe erkrankte Peter offenbar schwer; woran, ist aus den spärlichen Quellen nicht ersichtlich. Jedenfalls hielt man einen weiteren Ortswechsel, diesmal nach Harrow in Middlesex, für nötig114 – wohl um den Jungen vom Londoner Trubel abzuschirmen. Trotz dieser Maßnahme scheint sich Peters Zustand weiter verschlechtert zu haben, denn etwa ein Jahr später will ein guter Teil der Presse die Akte Peter schließen: „Der wilde Knabe, welcher in dem Walde bey Hameln gefunden, und von Hannover anhero gesandt worden, ist gestorben“.115 Bald jedoch, im August 1727, erläutert die Wöchentliche Relation: Groß-Britannien. Der bey Hameln ehedessen gefundene wilde Junge ist nicht tod; sondern lernt nunmehro sprechen; und haben der Königl. Maj. jüngst sich belieben lassen, auf verschiedene ihm gethane Fragen dessen Antworten zu hören.116 111 Möglicherweise war der menschliche Status Peters aber noch radikaler in Frage gestellt worden, da das Spenden des Taufsakraments laut Quelle vom Erfolg theologischer Unterweisung abhängig gemacht worden war. Ähnliche Bedenken – die Frage der Heilsfähigkeit der Indianer war ja bereits im 16. Jahrhundert abschließend beantwortet worden – zeigen sich im 18. Jahrhundert sonst nur noch bei mutmaßlichen Mensch-Tier-Hybriden; vgl. u., Kap. 6. 112 „Londen.“, in: Leipziger Zeitungen, Bd. XII, LXI (August 1726), 601. 113 „Auß Londen vom 9. Julij“, in: Europäische Zeitung, 64 (10. August 1726), o. P. NEWTON, Savage Girls and Wild Boys, 27 inferiert, offensichtlich von einer englischen Version dieser Meldung ausgehend, dass „Arbuthnot had named him Peter“; die deutschen Quellen weisen als Urheber dieses Namens jedoch die Hamelner Kinder aus. Arbuthnot blieb also lediglich bei einer Benennung, die sich schon eingebürgert hatte. 114 Vgl. „Londen, vom 29. Julii“, in: Hildesheimer Relations Courier, 31 (10. August 1726), 244: „[…] weilen sich derselbe anitzo etwas unpässlich befindet, so haben Se. Königl. Majestät befohlen, denselben nach Harow zu bringen und ihm eine Veränderung zu machen.“ 115 „Londen, vom 13. Junii“, in: Hildesheimer Relations Courier, 24 (21. Juni 1727), o. P. Gleiches melden auch die Breslauer Sammlungen, 39 (Juni 1727), 373 und die Relation curieuse Des choses les plus remarquables […] depuis le Mois de Septembre 1726. jusque à présent, Vingt-unième suite, 1727, 215: „Mort d’un Garçon sauvage. Le jeune sauvage, qui fût trouvé il y a deux annés dans la forêt de Hameln, & presenté au Roy d’Angleterre, étant alors à Hanover, qui le fit conduire par ses ordres à Londres, pour y être instruit dans la Réligion Chrêtienne, & dans les bonnes mœurs, y est mort le mois de Juin dernier.“ Vgl. auch die Streichungen im Manuskript REDECKERS (Collectanea, 856). Trotz aller Versuche, den Fall von seinem mythischen Schleier zu befreien, galt Peter hier immer noch – oder besser wieder – als „im Walde“ gefunden, obwohl dies 1727 längst obsolet war. 116 „Groß=Britannien“, in: Wöchentliche Relation, XXXII (9. August 1727), 128.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Dass hier eine offenbar weit verbreitete Falschmeldung dementiert wird, ist die eine Sache. Eigentlich aufschlussreicher ist, dass im Nebensatz auftaucht, der Knabe lerne – immer noch – „nunmehro sprechen“. Zuvor, gegen Jahresende 1726, hatten bereits die Breslauer Sammlungen verzeichnet dass Peter weiterhin in „Harraw [!]“ unter der Aufsicht „des berühmten Doctoris Arbouthnot [!]“ verbleibe, „welcher, aller angewendeten Mühe ungeachtet, ihn noch nicht zum Sprechen bringen kann, so von einigen dem Mangel des Verstandes, von andern aber einem Fehler an den Werck=Zeugen der Sprache zugeschrieben wird.“117 Der im Sommer 1726 geschilderte überwältigende Erfolg der Lehrversuche Arbuthnots scheint also nicht mehr als eine Zeitungsente gewesen zu sein. Ob die Presse sich Peters Sprachtalent einfach aus den Fingern gesogen hatte oder Arbuthnot respektive der Hof die Finger im Spiel hatten, kann nicht geklärt werden. Trotz dieses offenkundigen Fehlschlags reagierte, wie eine Nachricht aus den Leipziger Zeitungen vom November zeigt, die englische Publizistik nach wie vor intensiv auf den Fall. Mit der Erwähnung von DEFOES Mere Nature Delineated wird zudem deutlich, dass die engen Grenzen der Presseberichterstattung überschritten worden waren: Londen. […] Die Engellaender thun sich noch viel auf den aus dem Hannoverschen nach Engelland gebrachten vermeynten wilden Knaben zu gute. Sie haben unlaengst eine Schrifft unter dem Titel, Mere nature delineated heraus gegeben, die allerhand Anmerckungen von demselben in sich haelt. Es ist eine Dissert. beygefuegt, die sich, wenigstens dem Titel nach nicht uebel dazu schickt, indem derselbe eine Abhandlung vom Nutzen und der Nothwendigkeit der Narren in der Politick und der Natur verspricht.118
Zwischen den Zeilen lässt sich hier durchaus Befremden, vielleicht sogar Belustigung ob des entfachten englischen Interesses herauslesen – ganz im Einklang mit der Position des Blattes, das in Peter schon früh nicht mehr als einen ausgesetzten debilen Jugendlichen, und daher eben auch nur einen „vermeynten wilden Knaben“ gesehen hatte. Dass dies allerdings den mit dem Fall befassten britischen Schriftstellern nur bedingt gerecht wurde, wird sich unten zeigen. Ein letztes Mal zu seinen Lebzeiten werden Peter in der deutschen Presse dann im Januar 1767 Artikel gewidmet. Anlass war hier die Vorführung des mittlerweile etwa sechzigjährigen Peter vor die königliche Familie. Die Hamburgischen Addreß-Comtoir-Nachrichten liefern eine längere Zusammenfassung des Falles, der jedoch keine neuen Fakten zu entnehmen sind, und enden: In den neuesten Englischen Blättern finden wir, dass dieser Mensch noch lebt, und zeither zu Cheshunt in Hertfortshire unterhalten worden ist. Er hat neulich in den Pallast der Königin kommen müssen, da ihn die Königl. Familie in Augenschein genommen hat. Er ist jetzt ungefehr 60 Jahr alt, kann kein verständig Wort sprechen, und hat noch alle Spuren seiner vorigen Wildheit an sich. Er ist in England unter dem Namen Peter bekannt.119
117 „5. Von dem Hamelischen wilden Jungen“, in: Breslauer Sammlungen, 38 (Dezember 1726), 689. 118 „Londen.“, in: Leipziger Zeitungen, Bd. XII, LXXXVIII (November 1726), 872 f. 119 „Auszug aus einer Nachricht von dem bey Hameln gefundnen wilden Knaben“, in: Hamburgische Addreß-Comtoir-Nachrichten, 9. Stück (31. Januar 1767), 65 f. Die Vossische Zeitung
3.4. Englands Wilder Greis
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Mit Peter hatten sich kaum Fortschritte erzielen lassen. Immer noch konnte er „kein verständlich Wort sprechen“, immer noch trug er „alle Spuren seiner vorigen Wildheit an sich.“ 1786 erscheint schließlich posthum ein längerer Artikel im Teutschen Mer120 kur , der den Reigen der Berichterstattung durch die Presse zunächst abschließt und einen „Auszug aus dem Kirchenbuch von North=Church, in der Grafschaft Hertford“121 beinhaltet. Zieht man einige weitere Quellen hinzu, lässt sich Peters Lebensweg zwischen 1727 und 1785 zumindest in groben Zügen rekonstruieren. Auch hier werden Arbuthnots Erziehungsversuche als völliger Fehlschlag beschrieben, denn auch wenn Peter „keinen natürlichen Fehler an seinen Sprachorganen zu haben schien, so konnte er doch bey aller Mühe, die man sich mit ihm gab, nicht dahin gebracht werden, daß er deutlich eine einzige Silbe aussprach, und war also völlig unfähig zu dem geringsten Unterricht befunden.“122 Mit dem Scheitern der Anstrengungen war das Interesse der Londoner Gesellschaft an Peter zunächst erlahmt, so dass der Junge „Mrs. Tichtbourn, einer Kammerfrau der Königin“ übergeben wurde, die „für diese Last eine artige Pension erhielt.“123 Da besagte Mrs. Tichtbourn immer wieder einige Zeit im Haus eines „Hrn. James Fenn, eines reichen Pächters zu Axter’s End, in diesem Kirchspiel zubrachte“124, wurde Peter schließlich diesem überstellt – gegen Unterhaltskosten von immerhin 35 Pfund Sterling jährlich. Nach James Fenns Tod übernahm dessen Bruder Thomas die Aufgabe; Peter wurde dementsprechend in das Pachthaus Broadway überführt „und lebte hier bey den verschiedenen aufeinander folgenden Innhabern dieser Pacht, und von derselben Pension, die von der Regierung ausbezahlet wurde […].“125 Diese allein dürfte zur Kostendeckung mehr als ausgereicht haben, aber die Beherbergung Peters erwies sich auch darüber hinaus als profitabel: Die in der weiteren Nachbarschaft ansässigen EDGEWORTHS erwäh-
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(„Londen, vom 16. Januar“, in: Vossische Zeitung, 16 (1767); zit. n. VÖLKER, Tiermenschen, 353) bringt einen praktisch mit dem zitierten Ende inhaltsgleichen Bericht. „IV. Von Peter dem Wilden Knaben. Auszug aus dem Kirchenbuch von North=Church, in der Grafschaft Hertford“, in: Der Teutsche Merkur vom Jahre 1786, Erstes Vierteljahr (1786), 82–85. Eine Kopie des Originals findet sich bei BÜTTNER, Der „wilde Peter von Hameln“, Anhang o. P. Ebd., 82. Ebd., 83. Ebd.; ganz ähnlich wird später auch mit Victor verfahren werden. Ebd. Ebd. Aussehen und Verhalten Peters werden recht eingehend beschrieben; hier bestätigen sich im Prinzip die schon aus Hameln bekannten Eigenschaften: „Peter war gut gebaut, und von mittlerer Höhe. Sein Gesicht hatte keine Spur von Blödsinn, und in seiner Gestalt war nichts besonders abweichendes, ausser daß zwey Finger seiner linken Hand bis zum mittelsten Gelenke durch eine Haut verbunden waren. Er hatte viel natürliches Gefühl für Musik, und empfand soviel Vergnügen dabey, daß er, sobald er nur ein musikalisches Instrument spielen hörte, zu tanzen und zu springen anfieng, bis er vor Müdigkeit schlechterdings nicht mehr konnte, und obgleich man ihn nie ein Wort deutlich aussprechen lehren konnte, so lernte er doch leicht eine Melodie dudeln.“ Ebd., 84.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
nen jedenfalls Besucher, die so zahlreich gewesen sein müssen, dass eine – mit Eintrittsgeld versehene – „daily exhibition“ auf dem Plan stand.126 Diese zusätzliche Einnahmequelle mochte man den Fenns jedoch auch gönnen, denn zum Verdruss seiner Aufseher scheint Peter zeitlebens seinen Hang zur Flucht aus menschlicher Gesellschaft beibehalten zu haben, was zu einer erwähnenswerten Episode führte: Zu gewissen Jahreszeiten zeigte er einen sonderbaren Hang sich ins Holz wegzustehlen, wo er sehr begierig Blätter, Buchmoß, Eicheln und grüne Baumrinde aß, welches offenbar bewies, daß er hievon ehemals eine geraume Zeit gelebt hatte. Sein Aufseher mußte daher in diesen Jahreszeiten gewöhnlich ein genaues Aug auf ihn haben, und ihn sogar zuweilen einschliessen; denn wenn er sich nur auf eine kleine Strecke von seinem Hause verlaufen hatte, so konnte er sich nicht wieder zurückfinden. Einmal besonders hatte er sich verirrt, und war bis Norfolk gekommen; wo er aufgefangen und vor eine Magistratsperson gebracht ward, die ihn ins Zuchthaus nach Norwich schickte, und als einen halsstarrigen und verhärteten Landlaufer strafen ließ, der nicht sagen wollte, wer er sey, (denn in der That das konnte er nicht). Als aber Herr Fenn in den öffentlichen Blättern von ihm Nachricht gab, so ward er freygelassen und nach seiner gewöhnlichen Heimath zurückgebracht.127
Von diesen Scherereien abgesehen hielt sich überdies Peters Nutzbarkeit als Arbeitskraft in sehr engen Grenzen: „ [H]e could never be made to work at any continued occupation“, berichten die Edgeworths, die Peter 1779 einen Besuch abstatteten.128 Er hatte zwar „a few automatic habits of rationality and industry“129 übernommen, aber ein Test seiner geistigen Fähigkeiten erbrachte ein niederschmetterndes Ergebnis: In 1779 we visited him, and tried the following experiment. He was attended to the river by a person who emptied his buckets repeatedly after Peter had repeatedly filled them. A shilling was put before his face into one of the buckets when it was empty; he took no notice of it, but filled it with water and carried it homeward: his buckets were taken from him before he reached the house and emptied on the ground; the shilling, which had fallen out, was again shewn to him, and put into the bucket. Peter returned to the river again, filled his bucket and went home; and when the bucket was emptied by the maid at the house where he lived, he took the shilling and laid it in a place where he was accustomed to deposit the presents that were made to him by curious strangers […].130
126 „[…] the farmer’s wife collected the price of his daily exhibition.“ MARIA & RICHARD LOVELL EDGEWORTH, Practical Education, 3 Bde., London 21801; hier Bd. 1, 96. 127 Der Teutsche Merkur, „Von Peter dem Wilden Knaben“, 84 f. Die Episode berichtet auch MOSTYN JOHN ARMSTRONG, History and antiquities of the county of Norfolk, Vol. 10, Norwich 1781, 189 ff. Die Suchanzeige hatte gelautet: „Lost or strayed away, from Broadway in the parish of Northchurch […], about three months ago, Peter the Wild Youth, a black hairy man, about five feet eight inches high; he cannot speak to be understood, but make sa [!] kind of humming noise, and answers in that manner to the name of Peter. Whoever will bring him to Mr. Thomas Fenns, at the place abovesaid, shall receive all reasonable charges, and a handsome gratuity.“ Ebd., 189 ff. 128 EDGEWORTH, Practical Education, Bd. 1, 95 f. 129 Ebd., 95. 130 Ebd., 96. Zur an Rousseau anknüpfenden Experimentalpädagogik der Edgeworths vgl. JULIA DOUTHWAITE, Experimental Child-rearing after Rousseau. Maria Edgeworth, Practical Education and Belinda, in: Irish Journal of Feminist Studies, 2 (1997), 35–56; insbes. 37–42.
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Am 22. Februar 1785 verstarb Peter schließlich im Alter von „vermuthlich ohngefähr 72 Jahr“ und wurde neben St. Mary’s begraben. Immerhin wurde innerhalb der Kirche eine „metallene Platte errichtet, über der eine Zeichnung von Peters Kopfe nach einem sehr schönen Kupferstich von Bartolozzi gemacht, zu sehen ist. Auf der Platte steht eine kurze Innschrift, die das hauptsächlichste von ihm sagt“.131 Grabstein, Inschrift und Zeichnung sind bis heute erhalten und ziehen offenbar nach wie vor eine größere Anzahl von Besuchern an.132 Aber wie beurteilte nun Peters Umgebung, in der dieser fast 60 Jahre seines Lebens verbrachte, jenen merkwürdigen Menschen, der sich doch in Vielem wie ein Tier vom Instinkt treiben zu lassen schien? Das Resümee lässt an Prägnanz nichts zu wünschen übrig: Obgleich der ungewöhnliche und wilde Zustand, worin man Petern fand, die Aufmerksamkeit des Publicums aufs höchste reitzte: so war er doch, nach allem was gesagt ist, nichts weiter als ein gemeiner Blödsinniger, der nur nicht so aussah.133
In Bausch und Bogen werden auch die „ungereimten Erzählungen die von ihm in die Welt geschrieben sind, daß er die Bäume wie ein Eichhörnchen heran kletterte, daß er wie ein wildes Thier auf allen vieren liefe, u. s. w.“134, verworfen. Nicht nur ließ sich an ihm kein viehischer Sexualtrieb feststellen, „worüber viele falsche Geschichten […] ausgestreuet worden“; nein, ein Interesse an weiblichen Personen war schlicht nicht vorhanden „ob er gleich sonst von andern menschlichen Leidenschaften, als Zorn, Freude, u. s. w. gar nicht frey war.“ 135 Woher genau Peter ursprünglich gekommen war, blieb auch 1786 noch im Dunkeln. Das Kirchenbuch überliefert ganz zu Beginn des Eintrags eine kurze Zusammenfassung der gängigen Fundgeschichten, lässt dabei jedoch wohlweislich – siehe den abschließenden Befund „Blödsinnigkeit“ – das fragwürdige Beiwerk aus, während der noch vorhandene Hemdkragen erwähnt wird.136 Erstaunlicherweise findet der Lüchtringer Wirt keinen Eingang, dafür jedoch eine andere Theorie, die in der gesamten Presse von 1725/26 nicht erhalten ist und wohl erst in England entwickelt worden sein muss.137 Peter sei das Kind eines Missetäters, der nach Hameln „zum Vestungsbau verurtheilt“ worden sei und „das sich entweder in die Wälder verlaufen und nicht wieder hätte zurück finden können, oder das blödsinnig gewesen, und deswegen von den Eltern unmenschlicher weise verstossen und seinem guten oder bösen Schicksal allein überlassen worden sey.“138 Während der zweite Teil der Erklärung aus heutiger Perspektive einiger131 Der Teutsche Merkur, „Von Peter dem Wilden Knaben“, 83. 132 Der Grabstein trägt die Aufschrift „Peter the Wild Boy 1785“; Zeichnung und Inschrift vgl. St. Mary’s Northchurch, http://www.stmarysnorthchurch.com/peterTheWildBoy.asp. 133 Der Teutsche Merkur, „Von Peter dem Wilden Knaben“, 85. 134 Ebd., 84. 135 Ebd. 136 Vgl. ebd., 82 f. 137 Obwohl die Quelle „so vermuthete man damals zu Hannover“ verzeichnet; es besteht natürlich auch die Möglichkeit, dass eine solche Meldung in einer der hier nicht ausgewerteten Zeitungen Erwähnung gefunden hatte. 138 Ebd., 83
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
maßen einleuchtend erscheint und mit der ansonsten geläufigen Version des „Wirtssohnes“ in Übereinklang gebracht werden kann, fragt sich doch, warum ein zum Festungsbau verurteilter Mann sein Kind mit sich führte und warum darüber hinaus der Verlust dieses Kindes nicht zu sofortigen Suchaktionen geführt haben sollte, deren Erfolg ob der um Hameln fehlenden Urwälder sehr aussichtsreich gewesen wäre.139 Dass Peter dennoch und bis zu seinem Tode unter dem Namen „Peter, der wilde Junge“140 bekannt blieb, erscheint als zweifelhafter Verdienst einiger „Männer von großem Ansehen in der gelehrten Welt“, die „sonderbare Meynungen und unbegründete Conjecturen von ihm bekannt gemacht haben, die manchen ihrer Behauptungen ein großes Gewicht zu geben scheinen möchten“141; namentlich genannt werden in einer Fußnote Rousseau und Monboddo. Hier findet sich auch die Begründung für die Ausführlichkeit des Kirchenbucheintrags: […] so ist diese kurze und wahre Nachricht von Petern in dies Kirchenbuch von einem Manne, der dreyzig Jahr lang beständig in seiner Nachbarschaft gewohnt, und täglich Gelegenheit gehabt hat ihn zu beobachten, niedergeschrieben worden, damit die Nachwelt durch die Autorität jener Männer nicht zu unrichtigen Urtheilen über diesen Gegenstand verleitet werde.142
Für eine solche Mahnung gab es guten Grund: Bereits 1726 hatten sich bedeutende britische Schriftsteller von dem Fall inspirieren ließen. Sie entwickelten, bald nur noch locker an die aus Deutschland überlieferten Nachrichten anknüpfend, eine neue Nutzungsmöglichkeit für „Peter, the Wild Boy“, in der intellektuelle Raffinesse und satirischer Impetus publikumswirksam Hand in Hand gingen. Mehr als zwei Jahrzehnte später wurde sein wechselvolles Schicksal dann auf dem Kontinent in einen naturhistorischen Diskurs von beachtlicher Wucht eingeflochten, mit dem es sich schließlich so verzahnte, dass es schon den Zeitgenossen schwer fiel, in einem Wust an Überlieferungen bloße Behauptungen von Fakten, Schlussfolgerungen von Verbürgtem, Spekulation von Beobachtung und Spinnerei von Vernünftigem zu separieren. Die Begeisterung für naturgeschichtliche Themen schwappte schließlich nach England zurück: Vor allem Buffon wurde, wie Fußnoten und Querverweise zeigen, von den englischen Literaten der zweiten Jahrhunderthälfte eifrig rezipiert. Damit ergab sich eine zweite Welle der Aufmerksamkeit, denn le jeune homme trouvé dans les forêts d’Hanower, den dieser in seiner Histoire naturelle erwähnt 139 Nachweisbar ist jedoch der Aufenthalt von zum Bau eingesetzten Sträflingen in der Stadt. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde mit einem Ausbau der Festungsanlagen begonnen, der aus Hameln schließlich das „Gibraltar des Nordens“ machte. Insbesondere ist hier der festungsmäßige Ausbau des Berges Klüt zu berücksichtigen, der mit großem Aufwand 1771 bis 1784 erfolgte; vgl. JÖRG MEYER, Kurzgeschichte der Stadt, http://www.hamelnergeschichte.de/. Neuigkeiten über diesen Ausbau im dominion mögen auch die Aufmerksamkeit der englischen Bevölkerung gefunden haben, so dass „Hameln“ und „Festung“ synonym wurden, was die hier vorgenommene Verkettung erklären würde. 140 Der Teutsche Merkur, „Von Peter, dem Wilden Knaben“, 82. 141 Ebd., 85. 142 Ebd.
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hatte, lebte ja nach wie vor in Hertfortshire und bot sich für einen Besuch an.143 In Großbritannien, das keinen eigenen Fall zu bieten hatte, wurde Peter populärer, als er es in den deutschen Territorien je war – er besetzte im dortigen kollektiven Gedächtnis fast den Platz eines Kaspar Hauser. Kleinkinder konnten mit Peter ihre ersten Leseerfahrungen sammeln: „First they went to see West-min-ster Ab-bey, then the wax-work in Fleet-street, made by Mrs. Sal-mon. Mas-ter Will-li-am was quite di-ver-ted with old Mo-ther Ship-ton, and Pe-ter the wild boy.“144 Die Erbauungsliteratur für den adeligen Nachwuchs schien ohne die „well-known story of PETER the wild boy“ unvollständig, da er zeigte, „of what importance the cultivation of our infant faculties are“. Würdigte man dieses warnende Beispiel nicht, lief man Gefahr, ebenfalls auf dem Stand eines „meer ORANG OUTANG“ zu verharren.145 Die 1796 erschienene Select collection of ancient and modern epitaphs […] of eminent personages verzeichnet die Kupferplatte „at North Church, Herts“146. Im gleichen Jahr widmen JOHN PAYNES Geographical Extracts in der Sparte Peculiarities in the Human Species dem „animal phenomenon“ Peter – eingebettet zwischen weißen Negern, bartlosen Indianern, Idioten, Zwergen und Riesen – nicht weniger als sechs eng bedruckte Quart-Seiten.147 In seiner Betrachtung der indigenen nordamerikanischen Bevölkerung verwies JONATHAN BOUCHER, ein Vikar aus Surrey, der in den Revolutionszeit in Nordamerika gepredigt hatte, darauf, dass der Mensch kaum mehr als Kapazitäten mit auf die Welt bringe: „Uneducated, he is a Caffre, a Peter the wild boy, a New Zealander: a little (and perhaps but a little) superior to an Ouran-Outang.“148 Spätestens 1798 waren die Bürger der mittlerweile unabhängigen nordamerikanischen Kolonien dann noch besser informiert. Die Encyclopædia; or, a dictionary of arts, sciences, and miscellaneous literature reservierte dem Fall immerhin vier Spalten, obwohl zugestanden werden musste: „[…] we do not know that any satisfactory causes have been assigned for the striking difference betwixt him and other human
143 Zu Buffon s. u., Kap. 4.1.1. 144 SARAH TRIMMER, Easy lessons for young children, London 21790. 145 The historical pocket library; or, biographical vade-mecum. Six volumes. Consisting of I. The heathen-mythology. II. Ancient history. III. The Roman history. IV. The history of England. V. Geography. VI. Natural history […], Bath 1790; hier Bd. VI, 58. Angeblich war Peter bereits 1700 von König Georg I. – zu diesem Zeitpunkt längst noch nicht auf dem britischen Thron – gefunden worden. Der Fehler zieht sich durch Reihe von Veröffentlichungen aus dieser Zeit. Einen wortgleichen Bericht liefert etwa GEORGE RILEY, The beauties of the creation; or, a new moral system of natural history; displayed in the most singular, curious, and beautiful, quadrupeds, birds, insects, trees, and flowers: designed to inspire youth with humanity towards the brute creation […], 2 Bde., London 1790; hier Bd. 1, 62 f. 146 THOMAS CALDWALL, A select collection of ancient and modern epitaphs, and inscriptions: to which are added some on the decease of eminent personages, London 1796, 84. 147 JOHN PAYNE, Geographical extracts, forming a general view of earth and nature. In four parts […], London 1796, 505–511. 148 JONATHAN BOUCHER, A view of the causes and consequences of the American revolution; in thirteen discourses, Preached in North America between the Years 1763 and 1775: with an historical preface, London 1797, 158.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
beings.“149 Und noch CHARLES DICKENS setzte 1843 einschlägige Kenntnisse bei den Lesern seines Martin Chuzzlewit voraus, wenn er einen seiner Protagonisten ausrufen ließ: I wouldn’t have any such Peter the Wild Boy as him in my house, sir, not if I was paid raceweek prices for it. He’s enough to turn the very beer in the casks sour with his looks: he is!150
Die Tatsache, dass Peter bis in sein hohes Alter immer wieder porträtiert wurde, ist ein weiterer Beleg seiner auffälligen Prominenz in England. Greens nach einem Gemälde von Falconet 1767 angefertigter Stich präsentiert – immer noch unter dem Titel The Wild Boy – Peter in fast romantischer Manier.
The Wild Boy (1767). Das Mezzotinto von VALENTINE GREEN nach Gemälde von PIERRE ETIENNE FALCONET zeigt Peter im Alter von etwa 50 Jahren. National Portrait Gallery, London.
149 Encyclopædia; or, a dictionary of arts, sciences, and miscellaneous literature […] Compiled from the writings of the best authors, in several languages […] Illustrated with five hundred and forty-two copperplates […], 18 Bde., Philadelphia, 1798; hier Bd. XIV (PAS-PLA), 233– 235. Als Quellen dienten der Eintrag im Kirchenbuch von Northchurch und Monboddo. 150 CHARLES DICKENS, The Life and Adventures of Martin Chuzzlewit [1844], in: Digitale Bibliothek Sonderband: The Digital Library of English and American Literature, Frankfurt a. M.u. a. 2004, 33098. Vgl. auch DERS., The Works. With introductions, general essay, and notes by Andrew Lang, 36 Bde., London 1897–1908; hier Bd. 6, 130.
3.5. Der Kern der Satire: Die Pamphlete der Jahre 1726/27
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Inmitten einer bukolischen Natur vor einem bedeutungsschwangeren Himmel sitzend, meint man tatsächlich den bereits von Kents Gemälde bekannten Gesichtsausdruck wiederzuerkennen, an die Stelle der Eicheln ist ein ausgerissener Pflanzenschößling getreten. Vor seinen Füßen liegt der nach dem „Ausflug“ nach Norwich angefertigte Kragen mit der Aufschrift Peter Wild Boy.151 – mehr brauchte es nicht, um ihn für jedermann identifizierbar zu machen. Hier, inmitten seiner „Heimat“, ist dieser Rettungsring nicht mehr nötig. Erst die Zivilisation, der dieser Mensch trotz der Übernahme ihrer Attribute fremd geblieben zu sein scheint, erzeugt die Defizienz, die den Rückgriff auf ein solches Hilfsmittel erforderlich macht. Der offensichtliche Widerspruch zwischen der Bezeichnung Boy und dem abgebildeten vollbärtigen Mann deutlich fortgeschrittenen Alters, dessen Haar schon schütter wird, ist durch ein weiteres Detail aufgehoben: Peter hat offenbar gerade einige Kastanien, Nüsse und auch Steine gesammelt, die nun in kleinen Haufen vor seinen Füßen liegen. Innerlich, so scheint Falconet sagen zu wollen, war aus dem Wilden Jungen nie ein Mann erwachsen – und diese Einschätzung teilte wohl auch Blumenbach, der vermerkt, dass Peter „als hochbetagtes Kind sein vegetirendes Leben beschlossen“ habe.152 3.5. DER KERN DER SATIRE: DIE PAMPHLETE DER JAHRE 1726/27 Nicht nur die deutsche Presse nahm Anteil am Aufenthalt Georgs I. in Herrenhausen, wie ein Blick in die Londoner Zeitungen offenbart. Bereits im Dezember 1725, also unmittelbar nach der Vorführung Peters vor den König, wurden die deutschen Meldungen übersetzt153 und veröffentlicht. Zwei dieser Berichte werden beispielsweise von DEFOE zu Beginn von Mere Nature Delineated zitiert.154 Bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt war so die Londoner Bevölkerung über den Fund informiert, und das geradezu manische Interesse an Neuigkeiten, Sensationen und Kuriositäten findet endgültig seinen neuen Fokus, als Peter schließlich in London ankommt. Es drückt sich, neben den hier im Zentrum stehenden Schrif151 Der Kragen wird bis heute in Berkhamstead verwahrt; vgl. BÜTTNER, Der „wilde Peter von Hameln“, 8. 152 JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, Beyträge zur Naturgeschichte, Zweyter Theil, 23. 153 Zugrunde liegen offensichtlich die auch in der deutschen Presse zirkulierenden Meldungen; vgl. etwa Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen, Bd. XI, CIV (Dezember 1725), 1014 und Vossische Zeitung, 29. Dezember 1725, o. P. 154 DANIEL DEFOE, Mere Nature Delineated: Or, a Body without a Soul. Being Observations upon the Young Forester Lately brought to Town from Germany. With Suitable Applications. Also, A Brief Dissertation upon the Usefulness and Necessity of Fools, whether Political or Natural, London 1726, 10. NOVAK verweist auf St. James’s Evening Post, 14. Dezember 1725, British Journal, 18. Dezember 1725 und Mist’s Journal, 18. Dezember 1725 als Quellen Defoes; vgl. MAXIMILIAN E. NOVAK, The Wild Man Comes to Tea, in: EDWARD DUDLEY & MAXIMILIAN E. NOVAK (Hg.), The Wild Man Within. An Image in Western Thought from the Renaissance to Romanticism, Pittsburgh 1972, 183–216, hier 184. Das Ereignis wurde also praktisch zeitgleich mit Deutschland auch in England bekannt.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
ten, vielfältig aus. So erwähnt MICHAEL NEWTON „a wax effigy exhibited in the Strand, another half-length figure of him displayed then – and for many years afterwards – at Mrs Salmon’s in Fleet Street”155; Peter war also offensichtlich für breite Schichten der Bevölkerung, nicht nur für die Intellektuellen, interessant. Wie er in London wahrgenommen wurde, veranschaulicht der Blick auf ein wohl 1763 erschienenes Flugblatt, das für Mrs. Salmons besagtes Wachsfigurenkabinett warb. Peters wächsernes lookalike fand der Besucher in prominenter Position bereits im ersten Raum – und in illustrer Gesellschaft: 1st Room. Is to be seen a beautiful Rock, ornamented with Pearls, Corals, and rich Stones. It contains six Caves, in which are seen Hermits moving, Mermaids waving; Peter, the wild Boy; the British Giant, or King Arthur of the round Table, with his Queen Gunira whose bodies were found entire at Glastonbury 600 Years after they had been buried. […] A Cherokee King, with his Chief. […] The fair Princess Andromeda, who was chained to a Rock, to be devoured by a Sea-Monster. King Henry VIII. introducing to Court Anna Bullen […].156
Er reihte sich damit auch in eine Legion weiterer angeblich wundersamer Menschen ein, die als Freaks von findigen Geschäftsleuten vermarktet wurden.157 Preisgünstige Pamphlete oder Einblattdrucke gingen mit diesen typischerweise einher.158 In persona blieb der Junge der Öffentlichkeit jedoch weitgehend vorenthalten, dies im Unterschied zu seinen Leidensgefährten. Denn Peter war ja nicht in die Hände eines x-beliebigen Geschäftemachers gefallen, sondern hatte Anklang im Königshaus gefunden. Die treibende Kraft bei Hofe scheint die bereits aus den Pressemitteilungen bekannte Prinzessin von Wales, Caroline, gewesen zu sein. Sie hatte Intellektuelle aus ganz Europa um sich geschart und setzte sich damit wesentlich sowohl von ihrem Schwiegervater, der am liebsten weiter in Hannover zur Jagd gegangen wäre, als auch ihrem Ehemann, der als eher mäßig intellektuell begabt galt, ab. Nach einem kurzen Tauziehen mit Georg I., der den Jungen wohl als willkommene Abwechselung vom drögen Regierungsalltag sah und von William Kent sogar im King’s Staircase des Kensington Palace verewigen ließ159, wurde Peter schließlich zu ihrer Residenz, Leicester House, gebracht. 155 MICHAEL NEWTON, Savage Girls and Wild Boys, 34. 156 At Mrs. Salmon’s Royal Wax-Work, (No. 189, in Fleet-Street), London [1763]. 157 Vgl. hierzu generell JOY KENSETH (Hrsg.), The Age of the Marvelous, Hanover 1991; HANS SCHEUGL, Show Freaks and Monsters, Köln 21975. Zum Prozess der Naturalisierung der Monster seit dem 17. Jahrhundert vgl. MICHAEL HAGNER, Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. Wandlungen des Monströsen und die Ordnung des Lebens, in: DERS. (Hrsg.), Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995, 73–107, hier 81: „In eine ähnliche Richtung weist auch ein anderes Phänomen des 18. Jahrhunderts Die Konjunktur von wilden Kindern, die verwahrlost aufgefunden und womöglich bis dahin von Tieren großgezogen worden waren und von wilden Menschen, die von den Weltreisen mitgebracht wurden […].“ 158 Vgl. SHEILA O’CONNELL, The Popular Print in England, London 1999, 108. 159 „The Painting represents a Gallery […] with Groupes of Figures representing Yeoman of the Guard, and Spectators, among whom are drawn Mr. Ulrick, commonly called the young Turk, in his Polonese Dress, as he waited on the late Kinge George, Peter the Wild Boy, &c.“
3.5. Der Kern der Satire: Die Pamphlete der Jahre 1726/27
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An diesem Ort fand auch das Treffen mit dem nach einem mehrjährigen Aufenthalt in Irland nach London zurückgekehrten SWIFT statt. Dieser vermerkt in einem Brief an seinen Freund Thomas Tickell vom 6. April 1726, allerdings mit bereits kritischem Unterton: This night I saw the wild Boy, whose arrivall here hath been the subject of half our Talk this fortnight […] He is in the Keeping of Dr. Arbuthnot, but the King and Court were so entertained with him, that the Princess could not get him till now. I can hardly think him wild in the Sense they report him.160
Peter war also zum Gesprächsgegenstand der Londoner Intellektuellen, der wits, geworden. Für eine kurze Zeit beherrschte er den Diskurs dieser Schicht und wurde zum Katalysator für Gedankengut, das einmal mehr um den Status des Menschen generell und den Zustand der „zivilisierten“ Gesellschaft im Besonderen kreiste. Dementsprechend zählten die Orte, die im Zusammenhang mit Peter genannt werden – St. James’s Park, die Mall – zu den „trendiest areas in town.“161 Welcher Art dieses Interesse war, wird deutlich, als es bereits nach kurzer Zeit erlahmt: An die Stelle des wilden Jungen aus Deutschland tritt bruchlos der Fall der Mary Toft, einer Frau, die angeblich einen Wurf Kaninchen geboren hatte.162 Ein Wildes Kind, eine Kaninchen gebärende Frau, ein Stachelschweinmann163 – die Fälle dienen meist lediglich als flüchtiges Sprungbrett zur Eröffnung stilistisch möglichst eleganter Spekulationen und Kaffeehausdiskussionen, die sich in der Regel bald von ihrem vorgeblichen Gegenstand lösen. Vor diesem Hintergrund muss die Mehrzahl der 1726/27 in London veröffentlichten Schriften gesehen werden. Eine Diskussion dieser Pamphlete findet sich in der Sekundärliteratur bislang nur verstreut, und, da sich kaum neue Informationen über den Fall an sich gewinnen lassen, meist oberflächlich. In der Regel wird pars pro toto verfahren, was den Quellen, die eine beachtliche Varianz zeigen, nur bedingt gerecht wird. Eine gebündelte Darstellung fehlt, und es scheint daher sinnvoll, die in Frage stehenden Schriften kurz zu katalogisieren: [1] An Enquiry how the Wild Youth, lately taken in the Woods near Hanover (and now brought over to England) could be there left and by what creature he could be suckled, nursed, and brought up […], London 1726. [2] It cannot rain but it pours: Or, London Strow’d with Rarities. Being, An Account of the Arrival of a White Bear, at the house of Mr. Ratcliff, in Bishopsgate-Street; As also of the Faustina, the celebrated Italian Singing Woman; And of the Copper-farthing Dean from Ireland. And lastly, Of the wonderful Wild Man that was nursed in the Woods of Germany by a Wild Beast, hunted and taken in Toyls; how he behaveth himself like a dumb
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GEORGE BICKHAM, Deliciæ Britannicæ; or, the curiosities of Kensington, Hampton Court, and Windsor Castle, delineated […], London 21755, 2. JONATHAN SWIFT, Letter to Tickell, 6. April 1726, in: DERS., Correspondence, ed. by HAROLD WILLIAMS, 5 Bde., Oxford 1963–1965; hier Bd. III, 128. Vgl.. NEWTON, Savage Girls and Wild Boys, 34. Siehe hierzu CLIFFORD A. PICKOVER, The Girl Who Gave Birth to Rabbits: A True Medical Mystery, Amherst 2000; eine kurze Zusammenfassung unter Museum of Hoaxes, „Mary Toft”, URL: http://www.museumofhoaxes.com/mary_toft.html. Vgl. JULIA DOUTHWAITE, Homo ferus: Between monster and model, in: Eighteenth-Century Life, 21 (1997), 179.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
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[6]
Creature, and is a Christian like one of us, being call’d Peter; and how he was brought to Court all in Green, to the great Astonishment of the Quality and Gentry, London 1726. The Manifesto of Lord Peter, London 1726. The Most Wonderful Wonder That ever appear’d to the Wonder of the British Nation. Being, An Account of the Travels of Mynheer Veteranus, thro’ the Woods of Germany: And an Account of his taking a most monstruous She Bear, who had nurs’d up the Wild Boy: Their Landing at the Tower; Their Reception at Court; The Daily Visits they receive from Multitudes of all Ranks and Orders of both Sexes. With a Dialogue between the Old She Bear and her Foster Son […]. Written by the Copper-Farthing Dean, London 1726. Vivitur Ingenio: Being a Collection of Elegant, Moral, Satirical, and Comical Thoughts, on Various Subjects: As, Love and Gallantry, Poetry and Politicks, Religion and History, &c. Written Originally in Characters of Chalk, on the Boards of the Mall in St. James’s Park; for the Edification of the Nobility, Quality and Gentry. By a Wild Man, who stiles himself Secretary to the Wilderness there; and is the reputed Father of Peter the Wild Boy, lately brought from Hanover, London 1726. The Devil to pay at St. James’s: or, a full and true account of a […] battle between Madam Faustina and Madam Cuzzoni. Also of a hot skirmish between Signor Boschi and Signor Palmecini. Moreover how Senesino has taken snuff, is going to leave the opera, and sing psalms at Henley’s Oratory. Also about the Flying Man […], also how a certain great lady is gone mad for love of William Gibson, the Quaker, and how the Wild Boy is come to life again, and has got a dairy maid with child, etc., London 1727.
Da sämtliche Pamphlete anonym publiziert wurden, ist eine Zuschreibung schwierig. So sind in den Miscellaneous Works of the Late Dr. Arbuthnot164, erschienen 1751, The Most Wonderful Wonder [4], The Manifesto of Lord Peter [3] und The Devil to Pay at St. James’s [6] enthalten. Sämtliche dieser Titel listet BRUNE165 TEAU jedoch unter „Attributions douteuses ou erronées“ auf, und der Zusatz „written by the Copper-Farthing Dean“ im Titel von The Most Wonderful Wonder könnte tatsächlich auf Swift als Autor verweisen. Ebenso wird It cannot rain but it pours [2] zuweilen Arbuthnot, zuweilen aber auch Swift zugeschrieben.166 Für die restlichen Schriften lassen sich nicht einmal mehr Vermutungen äußern. Wenn die Frage der Autorschaft also auch im Einzelfall schwierig zu entscheiden ist, führt an dem Namen JOHN ARBUTHNOT doch kein Weg vorbei.167 Ein recht typisches Beispiel für den Gelehrtentypus seiner Zeit, gehörte er von 1704– 1735 der Royal Society an. Eigentlich hauptberuflich Arzt, zeigte er Zeit seines 164 JOHN ARBUTHNOT, Miscellaneous Works of the Late Dr. Arbuthnot, 2 vols., Glasgow 1751. 165 CLAUDE BRUNETEAU, John Arbuthnot (1667–1735) et les idées au début du dix-huitième siècle, Tome 1–2, Lille 1974. 166 Vgl. JONATHAN SWIFT, The Works of Jonathan Swift, Dean of St. Patrick’s, Dublin, containing additional letters, tracts, and poems not hitherto published with notes and a life of the Author by Sir Walter Scott, 19 Bde., London 21883; hier Bd. XIII, 180; dagegen LESTER M. BEATTIE, John Arbuthnot: Mathematician and Satirist, Cambridge 1935, 305. I. d. F. wird in der Kurzzitation wird bei den Pamphleten daher nur der Titel ohne Angabe des Autors erwähnt. 167 Zur genaueren Biografie und Bedeutung John Arbuthnots vgl. generell GEORGE A. AITKEN, The Life and Works of John Arbuthnot, Oxford 1892 und BEATTIE, John Arbuthnot: Mathematician and Satirist. Eine tabellarische Zusammenfassung findet sich auch in dem von RICHARD S. WESTFALL kompilierten Catalog of the Scientific Community in the 16th and 17th Centuries, URL: http://es.rice.edu/ES/humsoc/Galileo/Catalog/ Files/arbuthnt.html
3.5. Der Kern der Satire: Die Pamphlete der Jahre 1726/27
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Lebens Interesse für die verschiedensten Wissenschaftsbereiche und machte sich unter den Zeitgenossen einen Namen als Satiriker, aber auch als Mathematiker. Bereits 1692 hatte er ein Traktat Of the Laws of Chance verfasst, stand in Kontakt mit Newton und veröffentlichte mehrere Abhandlungen mit naturwissenschaftlichem Schwerpunkt in den Philosophical Transactions der Royal Society. Ebenso finden sich unter seinen Schriften jedoch Tables of Ancient Coins, Weights, and Measures (1727) oder An Essay concerning the Nature of Aliments (1731). So bezeichnete noch Dr. Johnson in seiner Betrachtung der Schriftsteller zu Queen Annes Zeit Arbuthnot als „the first man among them. He was the most universal genius, being an excellent physician, a man of deep learning, and a man of much humour.”168 Bald nach seiner Graduierung in Oxford eröffnete er eine Praxis in London, in der er vor allem Prominente behandelte. Nachdem er von Queen Anne zur Heilung des Prinzen Georg gerufen worden war, und dies auch tatsächlich bewerkstelligte, etablierte er sich bei Hofe, zunächst als Physician Extraordinary to Queen Anne, dann schließlich als Physician in Ordinary. Von literarischer Bedeutung ist sein bis heute in Karikaturen genutzter John Bull 169, die Personifikation des englischen Charakters. Zudem war Arbuthnot Mitglied des Scriblerus Club, einer Gruppe von Tory wits, die ihn in Gesellschaft und engen Kontakt mit Autoren wie Pope, Swift, Gay, Parnell und anderen brachte.170 Besonders mit Swift verband ihn eine enge Freundschaft, und innerhalb des Scriblerus Club kam Arbuthnot eine führende Rolle zu; offensichtlich griffen insbesondere Pope und Swift auf die weit gestreuten wissenschaftlichen Kenntnisse Arbuthnots zurück. Arbuthnot musste für die anstehende Aufgabe, den neu eingetroffenen „Wilden“ zu erziehen, daher als eine Idealbesetzung erscheinen. Um nochmals den bereits zu Wort gekommenen Dr. Johnson zu zitieren: Arbuthnot was a man of great comprehension, skilful in his profession, versed in the sciences, acquainted with ancient literature, and able to animate hiss mass of knowledge by a bright and active imagination; a scholar with great brilliancy of wit; a wit, who, in the crowd of life, retained and discovered a noble ardour of religious zeal.171
In Arbuthnots Person verbanden sich damit verschiedene Welten, von deren Zusammenwirken man sich einiges versprechen mochte: unbestrittene medizini168 DR. JOHNSON, Letter to Boswell, zit. nach BEATTIE, John Arbuthnot: Mathematician and Satirist, 3. 169 JOHN ARBUTHNOT, Law is a bottomless Pit; or, The History of John Bull, London 1712. 170 Ziel der Autoren war „to ridicule pretentious erudition and scholarly jargon through the person of a fictitious literary hack, Martinus Scriblerus” (Encyclopaedia Britannica, „Scriblerus Club”); die Zusammenarbeit begann bereits 1713/14, wurde jedoch für längere Zeit unterbrochen und erst nach der Rückkehr Swifts 1726 wieder aufgenommen. In Druckform erschienen die Memoirs of Martinus Scriblerus erst 1741 in London (JOHN ARBUTHNOT u. a., Memoirs of the extraordinary life, works, and discoveries of Martinus Scriblerus/ written in collaboration by the members of the Scriblerus Club [1741], ed. by CHARLES KERBYMILLER, New York; Oxford 1988). 171 DR. JOHNSON, Life of Pope, zit. nach BEATTIE, John Arbuthnot: Mathematician and Satirist, 3.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
sche Kenntnisse, ein mehr als nur oberflächliches Wissen von den neuen, empirischen Wissenschaften, Belesenheit, Sorgfalt und letztlich eben auch Religiosität.172 Die Hochachtung vor dieser so übergreifenden Gelehrsamkeit drückt sich auch in einem Brief Swifts an seinen Freund aus: „You are a Philosopher and a Physician, and can over come by your Wisdom and your Faculty those Weaknesses which other men are forced to reduce by not thinking on them.“173 Wisdom und Faculty, Gelehrsamkeit und methodologische Kompetenz, verbanden sich für die Zeitgenossen kongenial in Arbuthnots Person. Die frühen Nachrichten über dessen Erfolge – Peter lernte ja angeblich schnell sprechen – erklären sich daher wohl auch aus den Vorschusslorbeeren, die man Prinzessin Carolines Wunderwaffe seitens der Presse entgegenbrachte. Der makellose Ruf, den die medizinischen Kenntnisse des Schotten genossen, verleiht jedoch immerhin der Feststellung Gewicht, dass bei Peter keine physischen Deformationen das Sprechen behinderten.174 Dass Arbuthnot im Gegensatz zu vielen seiner Weggefährten, seien es literarische wie Swift und Pope, seien es naturwissenschaftliche wie Newton, heutzutage allenfalls marginal rezipiert wird175 und ihm Bedeutung am ehesten noch als politischer Satiriker zugeschrieben wird, mag in einer anderen Charaktereigenschaft begründet liegen. Der von Swift an anderer Stelle der Verses on the death of Dr. Swift explizit als friend bezeichnete Arbuthnot taucht weiter unten nochmals auf, nun im Zusammenhang mit weiteren Weggefährten: Here shift the scene, to represent / How those I love my death lament. Poor Pope will grieve a month, and Gay / A week, and Arbuthnot a day.176
Oder, wie BEATTIE es formuliert: „Arbuthnot’s real distinction from Swift lay in his power to swim rather than drown“.177 Obwohl mit beachtlichen Fähigkeiten ausgestattet, lässt sich von Arbuthnot nicht gerade behaupten, dass er selbige bis zur Selbstaufgabe, und schon gar nicht zu seinem persönlichen Nachteil, ausgelotet hätte. Er war sicher kein Faulenzer, aber wenn man seinem Lebenswerk auch eine beeindruckende Breite bescheinigen kann, so fehlt doch generell eben jene häufig mit einem Stück Selbstaufopferung verbundene Tiefe, jenes terrierartige
172 Arbuthnots Vater war bis 1689 episkopaler Kleriker gewesen; vgl. WESTFALL, Catalog of the Scientific Community. 173 Zit. n. AITKEN, Life and Works of John Arbuthnot, 62. 174 Vgl. „Von Peter dem Wilden Knaben“, in: Der Teutsche Merkur, Erstes Vierteljahr (1786), 83. 175 Die Zurückhaltung des Wissenschaftsbetriebs ist jedoch nicht unverständlich nachdem mehrere Dissertationen, die sich mit Arbuthnot beschäftigen, nicht im Druck erschienen und heute kaum greifbar sind; neben dem bereits erwähnten Weidenbroner fällt in diese Kategorie insbesondere auch ANGUS ROSS, The Correspondence of Dr. John Arbuthnot, unpublished Ph. D. dissertation, Cambridge University 1956, deren Inhalt eigentlich ein klares Forschungsdesiderat ist. 176 JONATHAN SWIFT, Verses on the death of Dr. Swift D.S.P.D., in: IAN LANCASHIRE (Hrsg.), Representative Poetry Online, URL: http://eir.library.utoronto.ca/rpo/display/poem2068.html. 177 BEATTIE, John Arbuthnot: Mathematician and Satirist, 390.
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und rücksichtslose Festbeißen an einem Thema, das etwa Swift im Vergleich zu ihm auszeichnet. Arbuthnot hatte innerhalb der Londoner Gesellschaft seinen Platz gefunden; diesen zu sichern war weit häufiger eine Frage des luftig-eleganten wie flüchtigvagen wit und des Wahrnehmens gesellschaftlicher Verpflichtungen als profunder Arbeit.178 Immer hart an der gerade gängigen Mode erschließen sich die Andeutungen seiner Schriften heute in Teilen nur noch Experten, während zeitüberdauernde Themen selten gestreift werden, was wiederum seine geringe aktuelle Prominenz erklären mag. Dies ging einher mit einem weitaus pragmatischpositiveren Menschenbild als dem seines notorisch misanthropen Freundes Swift, auch wenn er dessen Fundamente begriffen haben mag.179 Während der Machtwechsel 1714, der für den gesamten zu den Tories neigenden Scriblerus Club eine ungünstige Situation darstellte, Swifts Ausweichen nach Irland zur Folge hatte, blieb Arbuthnot in London, obwohl er seine Stellung als Hofmediziner verlor. Er sah keinen Sinn darin, sich das Leben grundlegend vergällen zu lassen, weder durch Politik, noch den Tod eines Freundes, wie Swifts Gedicht andeutet, noch durch Verschwenden von Zeit an Fragen, die unlösbar oder jedenfalls fernab jeglicher praktischer Verwertbarkeit schienen. Wenn schon nicht für die Zeitgenossen, so scheint damit doch zumindest aus heutiger Perspektive durchaus ungewiss, wie Arbuthnot weiterverfahren würde, wenn seine gutgemeinten Ansätze ins Leere liefen und andere Diskussionsgegenstände Peter im Stadtgespräch verdrängten. Einen „Proto-Itard“ jedenfalls darf man kaum erwarten. Tatsächlich hinterließ Arbuthnot keine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Abhandlung über seine Erziehungsversuche mit Peter; auch seine Korrespondenz, soweit diese ediert vorliegt, bleibt überraschenderweise stumm. So verbleiben nur die Zeitungsmeldungen – eine dürftige Quelle – und seine satirischen Pamphlete – deren Zuschreibung keineswegs gewiss ist. Erstere wurden bereits dargestellt, sie vermelden nur, dass Arbuthnots primäres Ziel der Spracherwerb war, wobei die angewandte Methode, auf die unten noch eingegangen wird, letztlich nebulös bleibt.180 Verbleiben also die Pamphlete, von denen einige, wenn auch nicht eindeutig zuschreibbar, doch aus dem Dunstkreis Arbuthnots und Swifts erwachsen sein müssen. Da die Autoren, wer immer sie auch genau gewesen sein mögen, zur selben Gesellschaftsschicht gehörten, ähnliche Ansichten und Ziele vertraten, ist 178 „Famously vague and inattentive in company, he meandered through social life in pleasant and concealing mist of happy inconsequentiality […]. Arbuthnot lived an enviably ordered life, surrounded by his family, bolstered by his religion, and diversified by his wit.”; NEWTON, Savage Girls and Wild Boys, 30 f. 179 Ebd., 31; die ätzende Schärfe der Satire Swifts oder auch Defoes, die zu äußerst unangenehmen Konsequenzen – Defoe wurde 1702 nach dem Erscheinen von The Shortest Way with the Dissenters inhaftiert und an drei Tagen an den Pranger gestellt – führen konnte, liegt diesem jedenfalls völlig fern. 180 COLLINS, Not even wrong, 29 stellt fest: „Arbuthnot had made some progress in getting the boy to speak […]“; dies ist äußerst fraglich, da der Collins die frühen deutschen Quellen nicht berücksichtigt. Wahrscheinlich blieb Peter auf dem bereits dort erwähnten Stand stehen.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
dies ein bei aller Ungenauigkeit ausreichender Befund. In der Betrachtung sieht sich der Historiker dann allerdings bald vor Probleme gestellt, die aus der Quellengattung erwachsen. Vor allem gilt es zu bedenken, welchen Effekt die kurzen Schriften – ihre Länge übersteigt kaum zehn Seiten – erzielen sollten. Natürlich ist der Humor eine wesentliche Ingredienz, und die Erheiterung der Leserschaft ob der Andeutungen, Querverweise und Seitenhiebe mag im Vordergrund gestanden haben; auch darum wohl bislang das weitgehende historische Desinteresse an dieser Quellengattung. Ein solcher Standpunkt übersieht aber, dass man unterhalb der Satire auf wesentliche Einblicke in das Selbstverständnis der Autoren und ihre Sicht der Gesellschaft stößt. Die Satire nährt sich gewissermaßen an einem Grundstock allgemein akzeptierter Vorstellungen, deren Infragestellung eben humoristische Effekte produziert. Peter spielt in diesem Zusammenhang eine gleichermaßen periphere wie entscheidende Rolle: peripher deshalb, weil Einzelheiten des Falles oder gar die investigative Rekonstruktion seiner Lebensgeschichte für die Autoren belanglos sind, entscheidend, weil er den notwendigen Ansatzpunkt für den literarischen Hebel bot, der lieb gewonnene Ansichten und Überzeugungen ins Wanken brachte. Kurz: Die Funktionalisierung Peters lässt Rückschlüsse auf das Fundament zu, auf dem die Londoner intellektuelle Gesellschaft aufgebaut war, und sie zeigt gleichzeitig, welche Fragen die Zeitgenossen umtrieben – oder eben auch nicht. Über die konkrete Rezeption der Pamphlete durch die Zeitgenossen ist wenig bekannt. Dass Peter ein lohnendes Thema war, zeigt ihre relativ große Anzahl, und es ist wahrscheinlich, dass weitere Schriften kursierten, aber nicht erhalten sind. Darauf deutet auch, dass die wohl zuerst veröffentlichte Enquiry noch gratis vertrieben wurde, während für nachfolgende Pamphlete immerhin drei oder vier Pence fällig wurden.181 Wie der einzelne Leser jedoch die Texte rezipierte, mag individuell unterschiedlich gewesen sein und auch vom Bildungsstand abgehangen haben. Was sich für den einen als offensichtlich zu satirischen Zwecken erdachte Fiktion darstellte, mag der andere als getreue Wiedergabe eines wundersamen Ereignisses gedeutet haben, und tatsächlich fällt es auch heute beizeiten schwer, die Intentionen der Autoren abzugrenzen, da sich Präsentation von Fakten und Satire in der Regel vermischten. 3.5.1. ’tis no fabulous Tale, but a real Thing that has happened Eine Sonderposition unter den Pamphleten nimmt zunächst die Enquiry ein; hier, und nur hier, liegt der Schwerpunkt der Darstellung tatsächlich noch auf dem Ereignis an sich. Sämtliche der übrigen Schriften instrumentalisieren den Fall, der bald nur noch als Sprungbrett zu anderen Themen dient – womit letztere in gewisser Hinsicht eine Blaupause für die weiteren Entwicklungen des 18. Jahrhunderts darstellen. Schon dies deutet darauf hin, dass die zeitlich erste Verarbeitung des Stoffes vorliegt, und die Struktur des Textes, der mit der heißen Nadel gestrickt zu sein scheint, untermauert dies: Die Darstellung ist sprunghaft, immer wieder 181 Vgl. die Titelseiten von Enquiry, Manifesto, Most wonderful wonder.
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kommt der Autor auf Themen zurück, die er eigentlich schon abgehandelt hatte, es findet sich eine Vielzahl von Setz- und Orthographiefehlern.
Ausschnitt des Titelblatts der Enquiry, London 1726. British Library, London.
Unter dem Titel und dem Fragment einer Prophezeiung des Astrologen Lilly182 findet sich ein Triptychon: In der Mitte eine offenbar nach dem Gedächtnis gefertigte Kopie des Portraits aus dem King’s Staircase, links die Darstellung eines Bären, der Peter säugt, rechts ein Baum, auf den sich Peter geflüchtet hat. Damit hat ein Gerücht seinen Weg nach England gefunden, das aufgrund offenkundiger inhärenter Widersprüche schon von den frühen Zeitungsberichten nicht offen benannt und von der Zuverläßigen Nachricht ausdrücklich dementiert wird: die Aufzucht Peters durch ein wildes Tier. Die Kontrastierung von „wildem“ und gegenwärtigem Zustand drückt jedoch auch ein gehöriges Maß an Erziehungsoptimismus aus, die wesentlichen Schritte zur Integration in die Gesellschaft haben sich zumindest optisch bereits vollzogen.183 182 „When Rome shall wend (i. e. go) to Benevento, / And Espagne break the Assiento; / When Spread Eagle flies to China, / And Christian Folks adore Faustina: / Then shall the Woods be Brought to Bed, / Of Creature neither taught nor fed /Great feats shall he atchieve.” (Enquiry, Titelblatt). Dieselbe Passage – abgesehen von einigen Übertragungsfehlern – findet sich auch in It cannot rain, 4 wieder. Lilly war der erfolgreichste und einflussreichste englische Astrologe des 17. Jahrhunderts. „His almanacs and pamphlets had a tangible effect on public opinion, his clients included many of the leading political and military figures of an age when most people naturally believed that the stars and planets had a direct influence on human affairs.” (DAVID PLANT, The English Merlin, URL: http://www.skyhook.co.uk/merlin/ _mainframe.htm) Die Vorhersagen scheinen auch im 18. Jahrhundert noch ihren Platz im öffentlichen Bewusstsein gehabt zu haben, zumal die vorliegende, wie It cannot rain erklärt, gerade eingetroffen zu sein schien: „The Pope is now going to Benevento; the Spaniards have broke their treaty; the emperor trades to China; and Lilly, were he alive, must be convinced, that it was not the empress Faustina that was meant in the prophecy [sondern eine italienische Sängerin gleichen Namens, die in London gerade Tagesgespräch war; HB].“ Ebd. Vor allem die letzte Zeile ließ in Bezug auf Peter die Hoffnungen sicher weiter steigen. 183 DOUTHWAITE, Homo ferus: Between Monster and Model, 182 knüpft diese Art der Darstellung an die scala naturae an: „This fictional trajectory moves through the biological and social hierarchy of the scala naturae: from animal to subhuman to gentry.”
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Peter, so der Text, sei seinen Eltern, die zu fahrendem Volk gehörten, als Kleinkind in der Nähe Hamelns verloren gegangen.184 Setzte man dies als – höchst fragwürdigen – Ausgangspunkt, ergab sich als „logische“ Folge: Nourishment it must have had, and since it had lost its Mother, nothing could keep it alive, but the Nourishment it must receive by way of Sucking from some living Creature. […] Now in these Woods there are but 3 Sorts of Creatures, that we can imagin [!] to have performed the Part of a Nurse to this Infant, viz. A She-Bear, a Wolf, and a wild Sow.185
Das Kind musste wohl irgendwie ernährt worden sein; dafür kamen nur Tiere, und, wie der Quellenausschnitt zeigt, von diesen wiederum nur wenige, in Frage. Da bei genauerer Überlegung, und in Anbetracht der langen in der Wildnis verbrachten Zeit, Wildschwein und Wolf ausschieden – beide hätten, so der Autor, das Kind im Winter nicht genügend wärmen können – blieb nur die Bärin übrig. Deutlich klingt hier die besondere Nähe von Mensch und Bär an, auf die oben bereits genauer eingegangen wurde.186 So that it is not impossible, that some She-Bear, somehow or other deprived of her Cubs, finding this Infant and being full of a suckling, nursing, tender Temper finding it a Livingthing, laid her self down to it, and suckled it, and ‘tis well known to those Persons who keep Bears tame, that where they naturally take, they are very fond of human kind. It may then be reasonably supposed that this Creature having thus taken to it, nourished it ‘till it could shift for it self, by which time being inured to Cold and Hardship as to Cloathing and Weather, it also contracted a Facility of eating what Food the Woods afforded, such as Nuts, Roots, Herbage, and Berries of diverse Sorts. Thus by a little Custom, he soon inured himself to raw Herbs and Fruits, and so lived till the Time he was taken.187
Peters Überleben verdankt sich demnach einerseits der Fürsorge durch eine Bärin; der Autor bestätigt diesen Befund an späterer Stelle im Text nochmals mit Vehemenz und verweist darauf, dass der Bär „the longest suckling and rearing its Cubs of any Creature“188 sei. Erst die räumliche Distanz zum Fundort ermöglicht nun wohl ein offenes Vertreten dieser These, ohne dass Ortskundige sofort widersprechen konnten – wilde Bären hätten im damaligen Hameln eine so große Aufmerksamkeit erregt wie heute. Für die meisten Briten dürfte das Heimatterritorium ihres Regenten jedoch terra incognita gewesen sein. Meist bezeichnet als abroad oder auch his Majety’s dominions abroad, war es für Richard Steele, als Herausgeber des Tatler und Spectator sicher kein ungebildeter Mann ohne Weltkenntnis, gar ein distant country.189 Sicher gab es enge Handelsbeziehungen, aber an diesen partizipierte 184 185 186 187 188 189
Enquiry, 2. Ebd. Vgl. Kap. 2.3.2. Enquiry, 3 Ebd., 4. JOHN HARRIS, A British Hero, or, a Discourse, plainly shewing that it is the Interest, as well as Duty of every Briton, publickly to avow his Courage and Loyalty to his most sacred Majesty King George, on the present important Crisis of Affairs, London 1715, 36; zit. nach: FRAUKE GEYKERS, Britische Bilder und Vorstellungen von Deutschland im 18. Jahrhundert, in: ELMAR MITTLER (Hrsg.), „Eine Welt ist nicht genug“. Großbritannien, Hannover und Göttingen 1714–1837 (Göttinger Bibliotheksschriften 31), Göttingen 2005, 52–65; hier 57.
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eben nur eine kleine Schicht von Kaufleuten, und deren Kontakte dürften sich vor allem auf die Einfallstore zu Kontinentaleuropa, die Hafenstädte, beschränkt haben. Wollte man sich also informieren, blieb nur der Rückgriff auf Literatur. Konsultierte man den voluminösen Atlas geographus190, konnte man zunächst, unter Verweis auf Tacitus und Pomponius Mela, finden: „in general ’tis covered with Woods, and filled with Lakes and Marshes“. Gleichzeitig jedoch: „Cluverius takes Notice of the Wild-Beasts and Fowls in their Forrests, of their Lakes and Rivers full of Fish […].“ Damit dürfte im Leser das ambivalente Bild einer nur spärlich von Siedlungen unterbrochenen Wildnis entstanden sein, die jedoch pastoral-idyllische Qualitäten aufwies. So ringt sich der Autor zu der Beurteilung durch: „Germany abounds with Many Things for Luxury, wants nothing that is necessary […].“ Noch deutlicher formuliert diese Ansicht der Compleat geographer191 von 1723 für das Land an der Weser: „This country was anciently Part of the Hercynian Forest, and there still remain great Woods and Forests by which the Inhabitants are plentifully furnished with Lumber and Fuel, and great store of Game.“ Der Hinweis, die weiten Wälder seien Überreste des von den antiken Quellen genannten Hircynischen Waldes, hat im Übrigen topische Qualität. Auch in der frühmodernen Literatur schlug die antike Germanien-Rezeption, bis in die Terminologie, noch voll durch.192 Wem diese Angaben zu ungenau blieben, wer Konkreteres über das Heimatterritorium des Königs erfahren wollte, der mochte überdies auf GUY MIÈGE und sein ganz aktuelles The present state of His Majesty’s Dominions in Germany193 zurückgreifen. Hier wurden die betreffenden Territorien fein säuberlich aufgeführt. Wer das Unterkapitel Lunenburgh194, in dem Celle lag, erreichte, erfuhr jedoch wiederum: „The County abounds with Woods and Forests, which afford good Fir, Oak and Elm, […] with all Sorts of Deer, wild Swine, and other Venison, and a great Part of it consists of vast Heaths and Wastes […].“ Wenig später erwähnt Miège nochmals die „remarkable Woods and Forests in this Country“195. 190 Atlas geographus: or, a compleat system of geography, ancient and modern. Containing what is of most use in Bleau, Verenius, Cellarius, Cluverius, Baudrand, Brietius, Sanson, &c. With the discoveries and improvements of the best modern authors to this time […], 5 Bde., [London] 1711-1717, hier Bd. 1, 385 f. Bereits der Titel zeigt, auf welche Weise hier Informationen gewonnen wurden. 191 The compleat geographer: or, the chorography and topography of all the known parts of the earth. ... To which are added maps of every country, […] The fourth edition. Wherein the descriptions of Asia, Africa and America are compos’d a-new […], London 1723, 182. 192 Vgl. Kap. 2.2. Eine genauere Aufarbeitung der im 18. Jahrhundert gängigen englischen Deutschland-Rezeption ist leider noch ein Desiderat. Auch der oben erwähnte Aufsatz (GEYKEN, Britische Bilder) liefert bezüglich der Frage, wie die Briten Deutschland als Landschaftsraum wahrnahmen, nur wenig Informationen. Immerhin bestätigt sie (ebd., 52) aber, dass die britische Vorstellung „von einem Kanon festgefügter Stereotypen“ bestimmt war, die u. a. von Tacitus vorgeprägt waren. 193 GUY MIÈGE, The present state of His Majesty’s Dominions in Germany. Containing An exact Description of the Same, and a new Map of them All, London 1722. 194 Ebd., 7. Defoe (s. u., Kap. 3.6.) verwendet für Peter mehrfach den Begriff Lunenburgher. 195 Ebd., 9. Diese werden im übrigen ebenfalls als Restbestände des Hircynischen Waldes aufgefasst; ebd., 15.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Calenberg, wo Peter eigentlich beheimatet zu sein schien, grenzte, so konnte der Leser erfahren, unmittelbar an. Zwar wird hier nicht nochmals auf eine besondere Bewaldung verwiesen – im Vordergrund steht die Schilderung der Stadt Hannover – aber unter dem Eintrag Hamelen erging sich Miège in einer Schilderung der „Story of the Hamelen Piper“, was den Ort nun in eine Traditionslinie stellte, die den Eindruck abgerundet haben dürfte. Hinzu kam sicher aber auch die im Most Wonderful Wonder erwähnte Tatsache, dass die Londoner Bärengräben aus „deutschen“ Beständen gespeist wurden, was mit großer Wahrscheinlichkeit den ostpreußischen oder Alpenraum meinte196, aber vor dem Hintergrund der über Nordwestdeutschland vermittelten Informationen den Zeitgenossen kaum bewusst geworden sein dürfte. Die menschliche Anpassungsfähigkeit, das Vermögen, die Ernährung vollends aus der Wildnis bestreiten zu können, was allein einen überaus langen Aufenthalt in der Wildnis plausibel macht, erscheint vor diesem Hintergrund weniger wunderbar.197 Peters Aufenthalt in Hameln, Celle und schließlich Hannover wird nicht weiter erwähnt; man musste glauben, der Junge sei unmittelbar nach England gebracht worden. Über den Text verstreut finden sich jedoch so viele Parallelen zu den kursierenden Pressemeldungen, dass man davon ausgehen muss, dass der Autor sehr wohl über mehr Einzelheiten informiert war, als er preisgeben wollte, möglicherweise um einen sensationelleren Effekt zu erreichen.198 So wird mehrfach betont, dass die Geschichte wirklich wahr sei und nur die hier gezogenen Schlussfolgerungen zulasse.199 Die grundlegende These – Peter ist ein eigentlich normaler Junge, der aber vom Menschen isoliert in der Wildnis aufwuchs – hätte äußerst fraglich erscheinen müssen, wenn sich sein Zustand trotz menschlichen
196 Vgl. Most Wonderful Wonder, 7. 197 Die Dimensionen des deutschen Waldes sprengen bis heute die britische Vorstellungskraft. George Gisborne, ein englischer Fußballfan, der Deutschland anlässlich der WM 2006 besuchte, gibt beispielsweise zu Protokoll: „Also, ehrlich gesagt, fand ich die Wälder entlang der Autobahn viel erstaunlicher [als die Windräder, welche die Briten ebenfalls zu faszinieren scheinen; H. B.]. Das größte zusammenhängende Waldgebiet Englands ist nichts dagegen. Hier hört es gar nicht mehr auf mit Bäumen. Wir spannen herum, was passieren wird, wenn wegen der Globalisierung in Zukunft überall immer mehr Menschen leben. Deutschland müsste dann riesige Luftfilter bauen, die den Sauerstoff aus dem Wald saugen und in den Rest der Welt pumpen, damit die Leute nicht ersticken. Seither ist Deutschland für mich die Lunge Europas.“ JULIA SCHAAF, Meine Deutschlandreise, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26 (2. Juli 2006), 59. Tatsächlich verfügt Großbritannien spätestens seit Beginn der Neuzeit über eine im Verhältnis zu Deutschland wesentlich kleinere Waldfläche; die sozioökonomischen Gründe dafür – Großbritanniens Seefahrttradition, die Einhegungspolitik – dürften geläufig sein. Einen kurzen Abriss liefert z. B. MICHAEL MAURER, Kleine Geschichte Englands, Stuttgart 2002, 84 ff. 198 So wird hier überliefert: „He readily sets himself down before any one, without Distinction of Persons, in which Posture of Sitting it was, that he was first of all seen and discoverd, sitting in the Hollow of a Tree cracking Nuts and eating Acorns“; Enquiry, 4. 199 „This being thus really true […]“; ebd. 2. „All this we must suppose, since ‘tis no fabuous Tale, but a real Thing that has happened, this Youth having really been taken wild, and is now alive, under the Care of proper Persons to make a civilized Creature of him.” Ebd., 4.
3.5. Der Kern der Satire: Die Pamphlete der Jahre 1726/27
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Einflusses eben nicht veränderte hätte.200 So lassen sich die trotz Unterweisung mageren Fortschritte Peters mit der erst kurzen Verweildauer in der Zivilisation erklären; das entscheidende menschliche Sprachmodell mangelte eben bis vor kurzem.201 Dass der Spracherwerb jedoch das vordringlichste Ziel sein musste – bei allerdings fragwürdiger Methode, die bereits Jahre zuvor in Hameln fehlgeschlagen war – steht außer Frage: He is […] delivered by the King’s Orders to proper Persons to teach him to speak, which can only be done by teaching him the Use of his Lips and Mouth in Uttering the Letters of the Alphabet A. B. C. D. and so on, & then to join them together. […] [W]hether he will be brought so soon to speak, as was expected is a Question […] Tho he can pronounce and utter after his Tutor Words of one Syllable, called Monosyllables, such as You, We How, Come, Pray, &c. For such Words consisting of the Utterance of but one single Sound of the Mouth, such Words are as easily expressed, as any one Letter by it self.202
Soweit also wenig Neues. Aber: In Ermangelung der Sprachfähigkeit des ansonsten äußerlich unauffälligen Jungen – er ist „straight and upright, & not Hairy, except a bushy Head of dark brown Hair“, seine Gesichtszüge sind recht hübsch203 – schlägt der Autor ein Experiment zur Verifizierung seiner These vor, das Niederschlag in einem weiteren Pamphlet finden sollte: […] ’tis not improbable, that if a Bear was brought to him, he would discover by some Action or other, that might naturally break out that that Creature had been no Stranger to him, and would confirm the Opinion of his being brought up by that Creature, rather than any other.204
3.5.2. The beast call’d man Das ebenfalls 1726 erschienene Most wonderful wonder setzt so haargenau an diesem Punkt an, dass es schwer fällt, an einen Zufall zu glauben.205 Beflügelt durch die rege Diskussion in England habe sich ein holländischer Kaufmann, Mynheer Veteranus, aufgemacht, die Ziehmutter des Jungen aufzuspüren. Ein kleines Kind wird als Köder im Wald ausgesetzt, und bald findet sich eine Bärin ein, die es in bester mütterlicher Manier verpflegt; das Ansinnen, es wieder von ihr zu entfernen, führt zu deutlichen Unmutsäußerungen. Als kurz darauf auch noch ein etwa zweijähriges Kind im Unterholz inmitten eines Wurfes Bären gefunden wird und ein Jäger bestätigt, dass eine Bärin, die einmal ein Kind aufgezogen habe, immer wieder eines haben wolle und es sogar notfalls raube, ist sich Veteranus sicher: Dies ist Peters Ziehmutter. 200 „As to his being dumb ‘tis no wonder, because if a Child was never to hear any Body speak, it would never spek it self, so that his being Dumb, is not from any Defficiency in Nature, which is generally accompanied by Deafness too, but ‘tis from Non-Use, and want of not having heard People speak about him, and to him.” Ebd., 3 (Hervorhebung H. B.). 201 Ebd., 3. 202 Ebd., 3 f. 203 Ebd., 3. 204 Ebd., 4. 205 Damit würde sich auch der sich aufgrund des Inhalts aufdrängende Eindruck, dass mit der Enquiry das zeitlich erste der Pamphlete vorliegt, bestätigen.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Man begibt sich auf den Weg nach England, und als Peter zum Hafen gebracht wird, sind jegliche Restzweifel beseitigt: The Lad no sooner saw her, but, with Tears of Joy, he embraced his dear Nurse; who on her Part gave as great Demonstration of Fondness, hugging him, throwing herself on her Back, and opening her Legs offered him the Tet, which he suck’d as heartily as if he had never been wean’d: He unmuzzled her, and it’s impossible to express the Joy which appeare’d in the Eyes of both.206
Hier endet die eigentliche Geschichte, den Rest des Pamphlets bildet ein ausgedehnter Dialog zwischen der Bärin und Peter, den letzterer freundlicherweise „partly by Words, partly by Signs“207 dem Autoren übersetzte. Inhaltlich zeigen sich zwei Schwerpunkte: Zum einen werden immer wieder Themen angesprochen, welche die schwierige Grenzziehung zwischen Mensch und Tier berühren, zum anderen finden sich ausgedehnte gesellschaftskritische Passagen, in denen die Akteure weit in den Hintergrund treten. Die Frage nach der Trennlinie zwischen Mensch und Tier und der Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung wird von keinem der Pamphlete so deutlich aufgenommen wie im Most Wonderful Wonder. Bereits zu Anfang macht Peter klar, dass die Aufnahme in die menschliche Gesellschaft keinesfalls sein Bestreben gewesen sei; im Gegenteil: „I was ravished from you, my dear Mother, by the barbarous Creatures of my own kind […].“208 Dies zu tun, leite sich dabei nur aus dem Recht des Stärkeren, der „power to do it“, ab, die wiederum von der megalomanen Vorstellung unterfüttert ist, dass dem Menschen als Krone der Schöpfung alle anderen Kreaturen untergeordnet seien.209 Diese Vorstellung führt bei der Bärin nun zu sichtlicher Erheiterung und Verwunderung: I find he is but a very silly Animal. Let him consult Experience (for Reason I suppose he has none) and see which has most Claim to Superiority, the Two-leg’d or the Four-leg’d Beast. Turn a Man loose to me, to a Tyger, or a Lyon, and let him shew his Excellence. He seems to me the most imperfect Piece of the Creation; for the Sun has given him neither Hair to cover him, nor Teeth nor Claws to defend him.210
Damit sind die wesentlichen Linien für den Generalangriff auf das zweibeinige Tier gelegt. Nicht nur, dass der Mensch, ganz entsprechend antiker philosophischer Tradition, ein Mängelwesen ist, das aufgrund seiner körperlichen Ausstattung nahezu hilflos erscheint, es fehlt ihm darüber hinaus auch das, was diesen Mangel nach gängiger Lesart eigentlich überkompensieren sollte, die Vernunft, so dass man von tierischer Seite die Vorstufe der bloßen „Erfahrung“ bemühen muss, um verstanden werden zu können. Dass ein solches körperlich wie geistig minderbemitteltes Wesen auf wenig noble Verhaltensweisen zurückgreift, um überle206 Most Wonderful Wonder, 6; man beachte schon hier die große gegenseitige Wiedersehensfreude. Die Segnungen der Zivilisation, die Peter mittlerweile erfahren hatte, konnten also so groß wohl nicht sein. 207 Ebd., 7. 208 Ebd. 209 Ebd., 8: „The Beast call’d Man, has the Vanity to imagine himself the Head of the Creation; that every other Creature is subservient to him […].“ 210 Ebd.
3.5. Der Kern der Satire: Die Pamphlete der Jahre 1726/27
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ben zu können, ergibt sich fast logisch, und so entfährt der Bärin der Kommentar „Monstruous!“, als sie erfährt, dass sich der Mensch von schwächeren Tieren ernähre und dass es eine Art Abkommen zwischen Mensch und Schlachttieren gebe.211 Wie gespalten das Verhältnis zwischen Tier und Mensch ist – die im übrigen beide vielerorts mit dem Attribut beast belegt werden212 – bezeugen noch weitere Tatsachen. Obwohl überzeugt von seiner Höherwertigkeit, greift der Mensch zur Glorifizierung seiner selbst auf Tiermetaphern zurück213 und verhält sich den Tieren gegenüber nicht equivok, sondern teilt diese in verschiedene Gruppen ein. Der nachgerade verräterische Umgang mit dem tumben Schlachtvieh wurde bereits angesprochen, aber Hunden, Pferden und Affen wird eine Sonderbehandlung zuteil, die dem Menschen nun auch wieder nicht zur Ehre gereicht, sondern seine unterdurchschnittliche Intelligenz belegt, so dass zur moralischen Verworfenheit auch noch Stupidität tritt. Der sich entwickelnde Dialog ist so aussagekräftig, dass er hier in längerer Form wiedergegeben wird. Boy. It is this I believe makes the Horse and Dog suffer the Insults they meet from Man; for all things rightly consider’d, Man who provides for the Horse’s Sustenance, who keeps him clean, carries away his Dung, and waits upon him when he has any Ailment, is nor more than Slave to that generous Beast. As to the Dog, I have seen the She Men treat him with so much Care, Tenderness and Deference, that I am apt to think they worship him; they take him into their Bosoms kiss, fondle and caress him, provide the best Entertainment for him serve him; before themselves: and never suffer him to set his Foot to the Ground, but carry him in their Arms, and are diligent attendants to him. They pay the same respect to the Monkey; I was one Day in Conversation with one, who told me he thought himself happy that he had such a number of Careful Slaves, who even prevented his wishes, and provided so well for him not only all the conveniencies of Life, but also what might gratisfye the Senses: that he was satisfy’d, the rest of his Species, had they a true Notion of Man, wou’d condescend to 211 „The Beast Man, in the Summer, cuts the Grass, and lays up Provision for the Beast Bull against the Winter; and the Beast Bull helps him, by working, to lay up a store for himself. But when Man is hungry, he takes an Opportunity, and kills and eats the undesigning innocent Bull.“ Ebd., 8. Die Idee taucht übrigens unverändert auch in der Belletristik des 20. Jahrhunderts auf: Richard Adams setzt die Helden seines aus der Kaninchenperspektive erzählten Romans einer ganz ähnlichen Situation aus; RICHARD ADAMS, Unten am Fluss. Watership Down, Frankfurt a. M. 1989, 112 ff.; Or. u. d. T. Watership Down, New York 1972. 212 Bereits im 16. Jahrhundert formulierte Montaigne Ähnliches, etwa in der Apologie de Raimond Seybond: „Wir sind weder höher, noch niedriger, als der übrige Theil.“ (Hier zitiert nach: MICHEL DE MONTAIGNE, Essais, II. Buch, XII. Hauptstück, Zürich 1996, 47; ND d. Übers. v. JOHANN DANIEL TIETZ, Leipzig 1753/54). Ein solcher Diskurs, je nach Sichtweise gleichermaßen theriophil wie misanthrop, durchzieht bereits die Antike; vgl. URS DIERAUER, Das Verhältnis von Mensch und Tier im griechisch-römischen Denken, in: MÜNCH & WALZ, Tiere und Menschen, 37–85. Zum frühneuzeitlichen Wandel in den Konstruktionen der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Mensch und Tier siehe PAUL MÜNCH, Verwandtschaft oder Differenz? Zur Theorie des Mensch/Tier-Verhältnisses im 17. Jahrhundert, in: HARTMUT LEHMANN & A.-C. TREPP, Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999, 517–535. 213 „Man is a very contradiction; he prides himself as superior to the other Beasts, and yet when he wou’d Exaggerate in his own praise, it is by shewing that he is equal to some or other of ‘em in the Gifts of Nature.” Most wonderful Wonder, 9.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln converse with and take upon ‘em the Government of that passive Animal. This is the Monkey’s Way of thinking; tho’ Man thinks quite differently, and boasts that the Monkey is his Slave. Bear. Why? does the monkey do any thing for Man? Boy. Nothing but when the Monkey laughs at the ridiculous Actions of that Beast, he laughs again at his gestures, the Monkey I just now mention’d found but one Fault with his Condition, which is (said he,) my Slaves are so incorrigibly Stupid, that when they do any thing to displease me, and I shew my resentment by gesticulation, for I don’t know their Language, they immediately fall a laughing.214
Die menschlicherseits unterstellte Hierarchie in der Schöpfung findet hier eine radikale Wendung. Von der Bibel zum Herrscher ausgerufen, ist der Mensch hintergründig nichts als Sklave der „nobler animals“ – und wer wusste, was die Zukunft bringen mochte? Eine Machtübernahme seitens der Affen wird ja bereits in Erwägung gezogen. Da sich der Mensch in diese Situation auch noch freiwillig begibt, verbleibt der ebenso klare wie erbärmliche Gesamteindruck eines aufgeblasenen, minderbemittelten und brutalen Möchtegern-Potentaten, womit sich die Frage nach der Wertigkeit innerhalb der Natur erledigt. Der Versuch, sich von dieser abzutrennen – wovon optisch die Bipedität, eine äußerst unnatürliche Fortbewegungsart, kündet, deren erzwungene Übernahme Peter bedauert215 – hat nicht zu einem Auf-, sondern zu einem Abstieg des Menschen geführt, und die physisch offenkundigen Mängel werden eben nicht durch eine gesteigerte Ratio substituiert. Dass der hier eingeschlagene radikale Perspektivwechsel beim Leser keinesfalls nur Erheiterung hervorrufen sollte, sondern durchaus als ernstgemeinter Angriff auf einen ebenso eingefahrenen wie liebgewonnenen Standpunkt verstanden werden sollte, ergibt sich aus der stringenten Weiterführung des zivilisationskritischen Gedankens im Verlauf des Pamphlets. So ist es für Peter ausgemachte Sache, dass die Menschen einer höchst merkwürdigen Religion anhängen: „The Glittering Earth I mention’d is their God“216; kein reiner Monotheismus allerdings: […] for they use many Words to which they join no Idea. These are I fancy imaginary Deities; as Justice, Honour, Religion, Truth, Friendship, Loyalty, Piety, Charity, Mercy, Publick Good, and many others which commonly fill their Discourse; but what is meant by ‘em I cannot yet discover, tho’ I have a strong Notion they have no Meaning at all […].217
Das Geld ist es auch, das entgegen jeglicher Vernunft über den gesellschaftlichen Status entscheidet, so dass nicht der Stärkste, sondern derjenige „bless’d with the Favour of their God“218 an der Spitze der Ordnung steht. Die Fähigkeit des Menschen zu abstrakter Begriffsbildung, eigentlich Ausweis hochentwickelter und zur Spekulation fähiger Vernunft, führt zu nichts als sinnentleerten Wortblasen, an die sich eben nicht die entsprechenden Handlungsweisen ankoppeln. Hass, Verlogen214 215 216 217 218
Ebd., 11 f. Ebd., 7: „[The barbarous Beast] deprived me of the Natural Use of my Fore Legs.“ Ebd., 9. Ebd., 10 f. Ebd., 10.
3.5. Der Kern der Satire: Die Pamphlete der Jahre 1726/27
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heit und das Verlangen nach Selbstauslöschung komplettieren ein Bild der Gesellschaft, das negativer kaum ausfallen könnte und eben darum den „Naturzustand“, in dem sich Peter und seine Mutter befinden, umso strahlender hervortreten lässt. 3.5.3. London, 1726: Die Grenzen des Interesses Im weiteren Verlauf der öffentlichen Diskussion prägten sich primär die satirischen Ansätze weiter aus, während die ätzende Form der Gesellschaftskritik zurücktritt. In prototypischer Art und Weise beschäftigt sich etwa das anonym erschienene Vivitur ingenio letztlich überhaupt nicht mit der Materie, sondern präsentiert sich als loses, zwischen Zote und Aphorismus schwankendes Pamphlet bezüglich der bereits im Titel vermerkten Themenbereiche. Tagespolitik und moralisierende Betrachtungen beherrschen die Zeilen. Peter selbst taucht überhaupt nicht auf, er dient nur als Aufhänger zur Konstruktion eines fiktiven Autors, der angeblich der Vater dieses Jungen ist und seine Schriften im St. James’s Park hinterlässt. Bemerkenswert ist jedoch der einem längeren Vorwort nachgestellte eigentliche Beginn der Schrift: I am exceeding happy in the solitude which I am now enjoying. I frequently stand under these Trees and, with great Humanity, pity one half of the World; and, with equal Contempt, laugh at the other Half. I shun the Company of Men, and seek that of Cattle, Deer, and Bushes: I consider my self as Monarch of all that I see or tread upon, and fancy that Nature smiles, and the Sun shines, for my Sake only.219
Hier ergeben sich sehr klare Parallelen zum mittelalterlichen „Wilden Mann“, wobei vor allem an die zivilisationskritischen Elemente angeknüpft wird. NOVAK hat hierfür den Begriff „philosophic natural man” geprägt und beschreibt ihn als „ideal of the wise man living close to nature that was particularly dear to the hearts of the Stoics.” 220 Erst in der Abgeschiedenheit der Natur kann sich nach dieser Vorstellung die menschliche Vernunft zu ihrer Blüte entwickeln, während Leidenschaften und Sinnlichkeit eine klare Abwertung erfuhren.221 Nur außerhalb der menschlichen Gesellschaft sind Zufriedenheit, Glück und Weisheit wirklich greifbar, während der Alltagsbetrieb der Zivilisation den Menschen korrumpiert, zu Verlogenheit, Selbstgefälligkeit und Gier führt.222
219 Vivitur Ingenio, 7. 220 NOVAK, The Wild Man Comes to Tea, 183. 221 Als literarisches Muster gilt hier das bereits aus dem 12. Jh. stammende und im zeitgenössischen England zirkulierende Hajj ibn Jaqzan der Naturmensch von IBN TUFAIL. (IBN TUFAIL, Hajj ibn Jaqzan der Naturmensch. Ein philosophischer Robinson-Roman aus dem arabischen Mittelalter, herausgegeben und kommentiert von Stefan Schreiner, Leipzig; Weimar 1983. Den Hinweis verdanke ich Annette Katzer. 222 „When a Lady holds up a delicate brown Hand, and tells you it is Sun-burnt, what you do less than cry, Oh, Madam, it is as White as a Lilly! and if a Minister of State talks to you of his small Abilities, he will think the Devil is in You if you do not contradict him. That Appetite for Praise […] is the Green-Sickness of the Soul, perpetually craving after Trash, and false nourishment.” Vivitur ingenio, 8.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Kultur und Natur sind in diesem Konzept eigentlich weniger Gegensätze als dass die Kultur einen Degenerationszustand der Natur darstellt: „It is Fawning time but once a year in Forests, Parks, Chaces; but at Court the Fawning Season lasts all the Year.”223 Dass ein Mensch mit solchen Ansichten seinen Sohn lieber einer ehrlichen Wildnis als einer korrupten Zivilisation überlassen würde, bildet also die Brücke zu Peter, der von der Warte des fiktiven Vaters ein Beispiel für eine ausgesprochen gelungene Erziehung darstellen musste. Die Idee, dass Peter „the Son of a great Philosopher“ sei, findet sich auch im Manifesto of Lord Peter wieder.224 Hier klingt nun in noch offenerer Form – und nicht zum letzten Mal, wie sich zeigen wird – die Idee an, Peter zeige die Überlegenheit des „natürlichen“ über den „zivilisierten“ Menschen. Die soteriologischen Parallelen zum Neuen Testament sind offensichtlich, und als Fundtermin kursierte in England passenderweise auch Weihnachten 1725.225 Aber durch den Verlust der ebenfalls ausgesetzten Schwester Peters steht in Frage, wie diese Linie des „neuen Menschen“ fortgeführt werden soll. Hier postiert sich nun der Autor – dessen Name, wie die Signatur am Ende des Werkes suggeriert, Solomon Audrian sei – als „first Minister to a Minor Prince [i. e. Lord Peter; H. B.]“, dessen Hauptaufgabe in der Sicherung der Weiterführung der Blutslinie und damit in der Auswahl einer passenden Partnerin für den Knaben bestehe.226 Dementsprechend besteht der Hauptteil des Pamphlets aus einem Katalog von Anforderungen, den Kandidatinnen erfüllen mussten. Zum Teil eine klare Reaktion auf die beobachteten Verhaltensauffälligkeiten Peters227, greift die Liste den „Verkehrte Welt“Topos auf: Natürlich musste sich Peters zukünftige Gemahlin als ein Negativbild der ansonsten im Adel üblichen Auswahlkriterien präsentieren.228 Nur recht vereinzelt verbindet sich dieses Motiv mit konkreten Seitenhieben auf die Hofge223 Ebd., 11. 224 „This Great Man, from a deep Sense of the Miseries brought upon Mankind by being civiliz’d, condescended to dedicate his only Son to an Experiment, by which he did not doubt but he should convince the World, how much a nobler Creature a Wild Man was than a tame one. A Curse (quoth he) on all those whimsical Coxcombs, who by Fiddling, Singing, Drinking and Dancing, have erected Governments, built Cities, and spoil’d the noblest Animal of the Creation. […] Having express’d himself to this Purpose, from the Height of Tenderness to the Child, as well as Love to Mankind, he turned out his Son into a desert Forest. Fortune has so far favour’d his Design, that the Boy is preserv’d, but the Girl, who was turned out with him at the same Time is missing.” Manifesto, 3. 225 Vgl. NEWTON, Savage Girls and Wild Boys, 27; auch REDECKER (Collectanea, 841) verweist auf diesen „irrig“ kursierenden Fundtermin, der sich aus dem zeitlich naheliegenden ersten Zusammentreffen mit Georg I. ergeben haben wird. 226 Manifesto, 4. Der Autor verweist darauf, dass solches bereits bei Livius anklinge. Dieses bizarr anmutende Problem wurde später ernsthaft aufgegriffen, etwa bei JOHANN SAMUEL ITH (Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen, Bd. 1, Bern 1795, 330), dem, in Anlehnung an Herder, bei der Vorstellung schauderte, dass sich ein vierfüßiger Naturmensch fortpflanzen, und „diese durch die Angewöhnung schon so tief eingedrungene Erniedrigung nach einigen auf einander folgenden Zeugungen in die Natur selbst übergehen“ würde. 227 „[…] that she have strong and sound teeth […] a shrill voice” etc.; Manifesto, 5 ff. 228 Dazu gehört das Fehlen jeglicher Bildung und Umgangsformen; ebd. 5 ff.
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sellschaft, etwa wenn betont wird: „she be active, sound, and strong in her Limbs: All fat, flabby, short-breath’d rickety Girls, being by these presents for ever excluded.“229 Ebenso sollte sie eine „strong Inclination for Courts, where Men commonly lose, but Women acquire Liberty“230 haben.
Porträt Peters. Manifesto of Lord Peter, 11. British Library, London.
Bemerkenswerter erscheint, dass Peter seinen eigenen kleinen Kosmos bildet, für den das Mitspracherecht der Mächtigen blockiert ist: […] as the Place of Our Nativity is utterly unknown to our selves, […] all Princes and Potentates must have equal Jurisdiction over us; consequently none at all. Nor can any Prince or Potentate found any such Claim on account of Protection, we having by our own Industry ministered unto our own Necessities, and therefore like all other Creatures ferae naturae, not appertaining to any particular Proprietor, it is manifest we are in a State of Nature and Independency, with Regard to all Earthly Potentates.231
Aus dem Grenzgängertum zwischen Natur und Zivilisation mochten also auch naturrechtliche und politische Implikationen erwachsen232, und wenn auch den Regenten das Zugeständnis der Unabhängigkeit aufgrund des proklamierten Status ferae naturae nicht schwer gefallen sein würde, sah die Sache doch schon bedenklicher aus, wenn die Rede auf die aus der „own Industry“ erwachsenden Ansprüche kam. Zaghaft scheinen sich hier schon bürgerliche Ansprüche zu manifestieren, die man vielleicht erst in der Zeit Smiths erwarten würde. Jedenfalls gebührte Peter etwas anderes, als „Prisoner of War of a great Prince“ zu sein,
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Ebd., 7. Ebd., 9. Ebd., 6. Auch dieser Gedanke wird später in gelehrter Form elaboriert; vgl. die naturrechtliche Dissertation von HEINRICH CONRAD KOENIG, Schediasma de Hominvm inter feras edvcatorvm statvm natvrali solitario, Hannover 1730. Koenig gelangte allerdings zu der Einsicht, dass auf die Wilden Kinder dasselbe Recht wie auf alle anderen Menschen anzuwenden sei, zeigten sie trotz ihrer Sprachlosigkeit doch die dem Menschen natürlich gegebene Vernunft. Sie fielen damit in die gleiche Kategorie wie die Taubstummen: „Imo & surdomutorum prostant exempla, qui citra cognitionem symbolicam, vel solius confortii humani ope, ideas universales, sibi formando, rationis usum sunt consecuti.“ Ebd., 31.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
vor allem weil „the foresaid Prince never set up any such Pretence, that there never was War proclaimed in due Form against us“.233 In It cannot rain but it pours, dessen ellenlanger Subtitel als Inhalt zwar auch einen weißen Bären, eine italienische Opernsängerin und Swift (der mit dem „Copper-farthing Dean from Ireland“ gemeint ist) verspricht234, dieses jedoch kaum einhält, ist Peter bereits von Beginn an zumindest nomenklatorisch zum „Wilden Mann“ geworden, der nur in enger Allianz mit Tieren hatte existieren können und von diesen aufgezogen worden war.235 Nach dem bereits obligaten Verweis of Romulus, Remus und Orson steht zunächst die Frage der Herkunft an. Obwohl das Kind augenscheinlich „a Father and a Mother like one of us“ hatte, ist sein Alter aufgrund fehlender Taufunterlagen „only to be guessed at by his Stature and Countenance, and appears to be about Twelve or Thirteen.”236 Es folgt ein munterer Reigen an satirischen Seitenhieben, einige heute kaum mehr entschlüsselbar237, denen sich die angestellten Spekulationen über den Jungen strikt unterzuordnen haben. Eine längere Passage vom Beginn des Pamphlets verdeutlicht diese Mechanik, die in der Folge strikt beibehalten wird: 233 Manifesto, 6. 234 It cannot rain but it pours: Or, London Strow’d with Rarities. Being, An Account of the Arrival of a White Bear, at the house of Mr. Ratcliff, in Bishopsgate-Street; As also of the Faustina, the celebrated Italian Singing Woman; And of the Copper-farthing Dean from Ireland. And lastly, Of the wonderful Wild Man that was nursed in the Woods of Germany by a Wild Beast, hunted and taken in Toyls; how he behaveth himself like a dumb Creature, and is a Christian like one of us, being call’d Peter; and how he was brought to Court all in Green, to the great Astonishment of the Quality and Gentry, London 1726. Auch in: JONATHAN SWIFT, The Works of Jonathan Swift, ed. by Sir Walter Scott, Vol. XIII, London 21883, 180– 186. Zitiert wird i. d. F. nach der Ausgabe London 1726. Im selben Jahr erscheint ein weiteres Pamphlet mit dem Titel It cannot Rain but it Pours: The First Part of London strow’d with Rarities. Being A Full and true Account of a Fierce and Wild Indian Deer that beat the Breath out of Mr. U****Rs Body. As Also How Madam Faustina the rare Singing Woman has been taken Hoarse. Together with a Lamentable Story of their being Blooded. And likewise A true Relation of the Arrival of the two Marvellous Black Arabian Ambassadors, who are of the same Country with the wonderful Horse lately shewn in King-Street, London 1726. Auf der Titelseite klärt ein Nota Bene die Verwirrung: „The Second Part of this Book by Mistake of the Printer was published first.“ Bezug genommen wird i. d. F. immer auf das erstgenannte Pamphlet. 235 Vgl. It cannot rain, Titel: „Of the wonderful Wild Man that was nursed in the woods of Germany by a wild beast […]”.Vgl. auch Kap. 2.4.: Da der Markt auch für die billigen populären Pamphlete nicht unerschöpflich war, schien es wohl schon aus editorischfinanzieller Sicht ein Muss, die schon bekannte Sensation zu überflügeln. 236 Ebd., 5. 237 Um nur ein Beispiel zu liefern spöttelt der Autor: „It has been commonly thought, that he is U–––– natural Brother, because of some resemblance of Manners, and the officious care of U–––– about him; but the Superiority of Parts and Genius in Peter, demonstrates this to be impossible.“ Ebd., 6. In der in Works of Jonathan Swift, Vol. XIII, 183 wird U–––– zu Ulrick aufgelöst. Der hier zum Ziel des Spotts werdende Ulrick (oder Ulric) war der polnische Page Georgs I.; er wurde zusammen mit Peter im King’s Grand Staircase im Kensington Palast von William Kent verewigt; vgl. Historic Royal Palaces, Kensington Palace, URL: http://www.hrp.org.uk/webcode/content.asp?ID=402.
3.5. Der Kern der Satire: Die Pamphlete der Jahre 1726/27
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Aristotle saith, That Man is the most Mimick of all animals; which Opinion of the great Philosopher is strongly confirm’d by the Behaviour of this Wild Gentleman, who is endow’d with that Quality to an extreme Degree. He receiv’d his first Impressions at Court: His Manners are, first to lick People’s Hands, and then turn his Breech upon them; to thrust his Hand into every body’s Pocket; to climb over Peoples Heads; and even make use of the Royal Hand, to take what he has a mind to […]. However, these are manifest Tokens of his innate Ambition: he is extremly tenacious of his own Property, and ready to invade that of other People. By his mimick Quality he discovered what wild Beast had nursed him: Observing Children to ask Blessings of their Mothers, one Day he fell down upon his Knees to a Sow, and mutter’d some Sounds in that humble Posture.238
Ganz eklektisch wird nach und nach die Philosophie der ancients wie der moderns nach möglichen Ansatzpunkten abgegrast, eine Verbindung konstruiert und schließlich zum eigentlichen Kern, der satirischen Gesellschaftskritik, vorgestoßen. Nicht nur der Adel bekommt so sein Fett weg, sondern auch die wachsende Gefolgschaft des den Vegetarismus propagierenden Dr. Cheyne239 und streitbare Operndiven240. Zuweilen geschieht dies mit beachtlicher Originalität, vor allem dann, wenn Fragen touchiert werden, die der Londoner Intelligenz im Umgang mit Peter am Herzen lagen. Wie zum Beispiel konstruierte sich das Kind, das doch über keine Sprache und damit auch nicht über Begriffe verfügte, seine Welt? Though he is ignorant both of ancient and modern Languages, (that Care being left to the ingenious Physician, who is entrusted with his Education,) yet he distinguishes Objects by certain Sounds fram’d to himself, which Mr. Rotenberg, who brought him over, understands perfectly. Beholding one Day the Shambles with great Fear and Astonishment, ever since he calls Man by the same Sound which expresses Wolf. A young lady is a Peacock, old Women Magpyes and Owls; a beau with a Toupee, a Monkey; Glass, Ice; Blue, Red, and Green Ribbons, he calls Rainbows; an heap of Gold, a Turd […]. He understands perfectly the Language of all Beasts and Birds, and is not, like them, confin’d to that of one Species. He can bring any Beast what he calls for, and no doubt is much miss’d now in his Native Woods, where he us’d to do Offices among his Fellow Citizens, and serv’d as a Mediator to reconcile their Differences.241
Trotz der offenkundigen ironischen Elemente merkt man der Passage doch an, dass die Grundfrage den Autor durchaus interessierte und zum Nachdenken 238 It cannot rain, 5 f. 239 „I am told, that the new Sect of Herb-eaters intend to follow him into the Fields, or to beg him for a Clerk of their Kitchen: And that there are many of them now thinking of turning their Children into Woods to Graze with the Cattle, in hopes to raise a healthy and moral Race, refin’d from the Corruptions of this Luxurious World.” Ebd., 8. Cheneys (1671–1743) Theorie war, dass der Verzehr von Fleisch nicht nur gesundheitsschädlich, sondern auch verhaltensmanipulierend war, wie einer seiner Gefolgsleute, Rev. William Cowherd, noch 1809 ausdrückte: „All the mildly disposed animals eat vegetables, while the savages of the forest are universally carnivorous.“ (vgl. DEREK ANTROBUS, Roots of Vegetarianism. Talk to the Salford Local History Society, URL: http://www.geocities.com/ derekantrobus/SLHvegroots.html.) 240 „He sings very naturally several pretty Tunes in his own Composing, and with equal Facility in the Chromatick, Inharmonick, and Diatonick Stile, and consequently must be of infinite Use to the Academy, in judging of the Merits of their Composers, and is the only Person that ought to decide betwixt Cuzzoni and Faustina.“ It cannot rain, 9. 241 Ebd., 6 f.
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veranlasst hatte. Seine Lösung des Sprachproblems, an dem ja auch ein Wahrnehmungs- und Denkproblem hängt, ist bemerkenswert. Peter ist von seinem Aufenthalt in der Wildnis so geprägt, dass er auch seine neue Umwelt nur im Vergleich und vor dem Hintergrund jener wahrnehmen und deuten kann. Erst hieraus ergibt sich der komisch-kritische Nebeneffekt, nämlich dass solche Analogien, die ja automatisch Verbindungslinien zwischen Natur und Kultur schaffen mussten, leicht zu ziehen waren – und zum Teil ja auch bereits gezogen worden waren, man denke an Hobbes’ Diktum vom homo hominis lupus. Dass nach wie vor der wit die wissenschaftliche Probabilität dominierte – man fragt sich, wo Peter in der hannoverischen Wildnis je einen Pfau zu Gesicht bekommen haben sollte – muss dabei nicht weiter irritieren. Peter ist aber kein Tier, und seine Fähigkeiten übersteigen die seiner wilden Fellow Citizens. Er ist imstande, den Code sämtlicher Tiere zu entschlüsseln und nimmt daher auch eine ganz besondere Rolle in der Natur ein, jedoch nicht die biblische des Dominators, sondern die eines Mediators: Damit verbleibt der Junge aber ein – wenn auch herausgehobener – Teil der Natur, „the most mimick of all animals“, weil er die dem Menschen heilsgeschichtlich eigentlich zugewiesene Rolle nicht einnimmt. Man konnte sich also durchaus fragen, ob ein solches Wesen eigentlich heilsfähig war, was wiederum mit der Zuschreibung einer Seele zusammenhing, und tatsächlich nimmt schließlich Defoe, auf den noch ausführlich einzugehen sein wird, diesen Faden – allerdings mit einem ganz anderen Schwerpunkt – auf. Ein letzter, im Pamphlet nur beiläufig erwähnter Punkt verdeutlicht nochmals, in welchen Diskurs Peter mit seinem Eintreffen in London eingebettet worden war; er wirft gleichzeitig auch Licht auf den möglichen Autor. Bereits früh erwähnen mehrere Quellen das sonnige Gemüt des Knaben, und neben der Sprache galt bereits in der antiken Philosophie auch das Lachen als Besonderheit des Menschen. It cannot rain hält hier eine Überraschung bereit: He expresseth his Joy most commonly by Neighing; and whatever the Philosophers may talk of thelr [!] Risibility, Neighing is a more noble Expression of that Passion than Laughing, which seems to me to have something Silly in it; and besides, is often attended with Tears. Other Animals are sensible they debase themselves, by mimicking Laughter: and I take it to be a general Observation, that the top Felicity of Mankind is to imitate Monkeys and Birds: Witness Harlequins, Scaramouches, and Masquerades; on the other Hand, Monkeys, when they would look extremely silly, endeavour to bring themselves down to Mankind. Love he expresseth by the Cooing of a Dove, and Anger by the Croaking of a Raven; and it is not doubted but that he will serve in Time as an Interpreter between us and other Animals.242
Die Tatsache, dass hier menschliche Gefühle an Tiere gekoppelt werden, ist zunächst nicht weiter auffällig und immer noch geläufig – siehe die Taube als Symbol der Liebe. Dass aber Tiere über angemessenere Mittel verfügen sollen, ihre Gefühle darzustellen, ja, dass das menschliche Lachen ob seiner Albernheit in der Tierwelt zur Erheiterung führt, ist ein Aspekt, der nun an theriophile Tendenzen, etwa bei Montaigne, erinnert – und im übrigen bereits aus dem Most wonder242 Ebd., 7 f.
3.5. Der Kern der Satire: Die Pamphlete der Jahre 1726/27
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ful wonder bekannt ist. Wenn nun noch das Wiehern als „more noble Expression of that Passion“ angepriesen wird, fühlt sich der Leser vor allem an eines erinnert: die in Swifts Gulliver verewigten Houyhnhnms, pferdeähnliche und unendlich weise Geschöpfe.243 Gulliver’s Travels erschien nach mehrjährigen Vorbereitungen im selben Jahr wie It cannot rain, und nimmt man weitere Hinweise – die Schärfe der Satire, der Verweis auf Arbuthnot als ingenious physician – hinzu, scheint eine Autorschaft Swifts fast eher wahrscheinlich als die Arbuthnots.244 So oder so kannte der Autor von It cannot rain wohl das Manuskript von Gulliver’s Travels, und mit dem Heranrücken Peters an die Houyhnhnms wurde auch eine klare moralische Wertung vorgenommen: Im Einklang mit der „natürlichen Vernunft“, und der Korruption der menschlichen Gesellschaft entzogen, kam er dem Ideal vielleicht näher als seine neue Umgebung. Dieser konnte dann, behält man den Vergleich mit Swifts Hauptwerk bei, eben nur die Rolle der moralisch depravierten Yahoos zukommen. Dass bereits den Zeitgenossen diese Implikation völlig klar war, belegt ein aus Anlass der fälschlichen Todesmeldung Peters 1727 verfasster Nachruf in Gedichtform, der im British Journal erschien.245 In bekannt satirischer Form wurde Peter nun, vermeintlich posthum, ein messianischer Status für die Menschheit, oder man müsste besser sagen, die Yahooheit, zugesprochen: Ye Yahoos mourn, for in this Place / Lies dead the Glory of your Race, One, who from Adam had Descent,/ Yet ne’er did what he might repent; But liv’d, unblemish’d, to fifteen, / And yet, O strange, a Court had seen, Was solely rul’d by Nature’s Laws, / And dy’d a Martyr in her Cause! Now reign, ye Houynhnms, for Mankind, / Have no such Peter left behind, None like the dear departed Youth, / Renown’d for Purity and Truth, He was your Rival, and our Boast, / For ever, ever, ever lost!
Was faszinierte die Londoner Pamphletisten also so an Peter, welche Rückschlüsse lassen sich aus den Quellen gewinnen? Offensichtlich ist zunächst: Man konnte durch die Verlegung der Perspektive auf Peter die Londoner Gesellschaft von außen, sozusagen aus der Vogelperspektive, kritisieren und karikieren – ein in der Literatur, zumal der satirischen, ganz geläufiges Vorgehen.246 Peter kam da als Tagesgespräch höchst gelegen, hätte aber völlig problemlos auch durch einen Indianerhäuptling, Hottentotten, Südseeinsulaner, Eskimo, Menschenaffen oder sonstwie den Normen der Londoner Stadtgesellschaft entzogenes Wesen ersetzt werden können. Diesen möglichen Substituten hatte er jedoch zwei Dinge voraus. 243 JONATHAN SWIFT, Lemuel Gulliver’s Travels into Several Remote Nations of the World. Compendiously methodized, for publick benefit; with observations and explanatory notes throughout, London 1726. 244 Vgl. dagegen aber JONATHAN SWIFT, Correspondence of Jonathan Swift, D.D., hg. v. DAVID WOOLLEY 4 Bde., Frankfurt a. M. u. a., 1999 ff, hier Bd. 2, Frankfurt a. M. 2002, 628, der es für wahrscheinlich hält, dass Arbuthnot der Autor sei und die Zitierung von Elementen aus Gulliver’s Travels wohl auf kursierendem „hearsay“ beruhe. 245 Zitiert nach ROGER MOORHOUSE, Peter the Wild Boy, URL: http://www.bi-secureserver.net/ web/rogermoorhouse/article4.html 246 Prototypisch etw Montesquieus 1717–21 entstandene Lettres persannes (CHARLES DE MONTESQUIEU, Perserbriefe, übers. v. JÜRGEN V. STACKELBERG, Frankfurt a. M. 1988).
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Erstens existierte in England bereits eine literarische Tradition, die aus dem mythischen Wilden Mann des Kontinents unterhaltsames theatralisches Beiwerk gemacht hatte. Peters Rolle in den Pamphleten ist von dieser Warte aus betrachtet also eine ganz konventionelle. Zweitens, und eng damit verbunden, pendelte sein Status zwischen Tier und Mensch, Natur und Zivilisation. Folgerichtig waren es Fragen der Anthropologie, die nun ins Zentrum der Betrachtungen treten konnten. Deren Behandlung im typischen Kaffehaus-Diskurs erbringt jedoch kaum Greifbares. Während Itard ein Dreivierteljahrhundert später – versehen mit einem bereits existierenden Katalog konkreter Forschungsdesiderate, vor allem aber klaren methodischen Vorstellungen – seinen Probanden in ein experimentelles Umfeld einbettet, geschieht in London nichts dergleichen. So musste aus der Perspektive des Jahres 1800 Arbuthnots Vorgehen ebenso planlos wie unverantwortlich oberflächlich erscheinen – eine vertane Chance auf echten Erkenntnisgewinn bezüglich der Natur des Menschen. Der Schluss, dass die Zeit 1726/27 noch nicht reif war, wissenschaftlich tragfähige Rückschlüsse zu gewinnen, erweist sich jedoch als unhistorisch. NEWTON bemerkt ganz richtig, dass man damit nur eine andere Kultur verdamme, weil sie ein anderes Interesse gezeigt habe, als man heute erwarten würde.247 „Hätte man sich nicht fragen müssen, ob…” und „Hätte man nicht versuchen sollen…” sind Fragestellungen, die ins Leere laufen müssen, weil sie den historischen Kontext eben vollkommen missachten. Nein, Swift, Arbuthnot oder wer immer die Autoren gewesen sein mögen, fragten sich nicht, ob man aus Peters Ontogenese Rückschlüsse auf die Phylogenese der Spezies Mensch ziehen konnte; erst die rapiden Entwicklungen in Biologie, Philosophie oder Sprachwissenschaft legten später diese Fragen nahe. Dies bedeutet aber nicht, dass man den Fall achselzuckend zur Kenntnis nahm, und in einiger Hinsicht erscheinen die sich später anheftenden Schwerpunkte des wissenschaftlichen Interesses bereits am Horizont, siehe etwa die Frage des Spracherwerbs. Gerne hätte man mit dem Knaben über seinen „wilden“ Zustand gesprochen, und man hätte durchaus auch Einiges zu fragen gewusst; wie man dies jedoch anstellen sollte, blieb unklar. Dennoch manifestiert sich in den Pamphleten ein noch nicht an Leitfragen gebundenes, sondern globales Interesse, das die gerade erst im Entstehen begriffene Aufsplitterung der Wissenschaft in ihre Einzeldisziplinen widerspiegelt. Ja, der Junge war von Interesse, weil er dazu taugte, einer spekulativen und mitunter augenzwinkernden Menschheits- und Gesellschaftskritik einen empirischen Ansatzpunkt zu geben; sein feststellbarer Zustand und die ihn umrankenden Geschichten boten sich dazu an. Und es ist durchaus diskutabel, ob ein solches weit von wissenschaftlichem Bierernst entferntes und die Grenzen der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit rezipierendes Vorgehen dem Fall nicht viel eher gerecht wurde als die angestrengten Versuche der Aufklärungswissenschaften, aus Peter und seinen Gefährten eine im empirischen Sinne tragfähige Basis wissenschaftlicher Theorien zu konstruieren.
247 NEWTON, Savage Girls and Wild Boys, 35.
3.6. Ein Schiff ohne Ruder
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3.6. EIN SCHIFF OHNE RUDER Noch das Jahr des Eintreffens Peters in London sieht die Veröffentlichung von DANIEL DEFOES Mere Nature Delineated.248 Schon aufgrund der beachtlichen Länge von 123 Seiten im Oktavformat erstaunt es nicht, dass der Traktat erst nach dem Großteil der vorgestellten Pamphlete im Juli 1726 veröffentlicht wurde.249 Nicht nur im Umfang, sondern auch in der inhaltlichen Ausrichtung stark von den Produkten der übrigen zeitgenössischen Literaten differierend250,wäre allein dies ein Grund, der Schrift ein eigenes Unterkapitel zu widmen. Noch gewichtiger erscheint allerdings, dass Defoe, der über umfassende wissenschaftliche Kenntnisse in den verschiedensten Disziplinen verfügte251, eine Brücke zwischen den primär satirisch orientierten Pamphleten und der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Fall Peter schlägt. Ein Dreivierteljahrhundert bevor Sicard in der Gazette de France Victor so emphatisch willkommen hieß findet sich in Mere Nature Delineated fast wortgleich: He seems to be the very Creature which the learned World have, for many Years past, pretended to wish for, viz. One that being kept entirely from human Society, so as never to have heard any one speak, must therefore either not speak at all, or, if he did form any Speech to himself, than they should know what Language Nature would first form for Mankind.252
So präsentiert sich Mere Nature Delineated als ein Mikrokosmos, in dem in praktisch vollständiger Form all jene Fragen aufgeworfen werden, welche die Debatten des 18. Jahrhunderts prägen sollten. Dies geschieht an vielen Stellen mit bereits so bemerkenswerten Denkansätzen und Lösungen, dass man sich fragt, warum das Werk bisher kaum in angemessener Tiefe rezipiert wurde.253 248. Die Schrift erschien anonym, wurde aber schon früh Defoe zugeschrieben. Dessen Autorschaft, im Rahmen der umfassenden De-Canonization zwischenzeitlich in Frage gestellt, scheint sich zu bestätigen: PHILIP NICHOLAS FURBANK & WILLIAM R. OWENS, A critical bibliography of Daniel Defoe, London 1998 kennzeichnen Mere Nature Delineated mit „P“ für „probable“. Nach MAXIMILLIAN E. NOVAK, Defoe and the Nature of Man, Oxford 1963, 30 f. ist der Titel eine Reaktion auf WILLIAM WOLLASTONS Religion of Nature Delineated (o. O., 1722; mehrere Neuauflagen) „which probably antagonized Defoe by attempting to construct a system of natural morality […]. Defoe merely adapted the title of a popular and controversial work to draw attention to his own study of a very different subject […].“ 249 In Deutschland lässt sich die Rezeption im Herbst 1726 nachweisen: vgl. „Londen.“, in: Leipziger Zeitungen, Bd. XII, LXXXVIII (November 1726), 872 f., hier 873. 250 NOVAK, Defoe and the nature of man, London u. a. 1963, 30 versteht Mere Nature Delineated dementsprechend auch als „reply to these pamphlets and their […] suggestions that […] man had destroyed the purity of his feral state […].“ 251 So hatte Defoe von den Jahren 1674–79 an CHARLES MORTONS Academy in Newington studiert und war hier in Berührung mit dem bereits von Bacon postulierten Curriculum gekommen, das dem Studium der Realia gegenüber dem klassischen Bildungskanon eine erhöhte Funktion zuwies. Der Einfluss Mortons (1627–98) auf Defoe ist generell nicht zu unterschätzen; vgl. ILSE VICKERS, Defoe and the New Sciences, Cambridge 1996, 32. 252 DANIEL DEFOE, Mere Nature Delineated, 17. Zu Sicard vgl. Kap. 1.1.9. 253 Dieser Befund ist zumindest zum Teil zu revidieren, da in der Entstehungszeit der vorliegenden Arbeit MICHAEL NEWTON einen solchen Versuch unternommen hat; MICHAEL NEWTON, Bodies without Souls: The Case of Peter the Wild Boy, in: ERICA FUDGE u.a. (Hg.),
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Eine Rolle spielt hier jedoch sicherlich, dass man sich schwer tut, die Schrift zu kategorisieren, denn satirisch im eigentlichen Sinne sind nur die Teile 4 und 5 und damit kaum mehr als ein Viertel des Gesamtwerkes. Bis zu diesem Punkt liest sich Mere Nature Delineated eher als eine durchaus seriöse Abhandlung über verschiedene Aspekte und Implikationen des Falles, was jedoch mit dem populären Rollenbild Defoes als Romancier, Moralist und Satiriker konfligiert.254 Wirklich zuständig fühlten sich bislang jedenfalls weder Literaturwissenschaften noch Wissenschaftsgeschichte; immerhin wurde jedoch mittlerweile das enge Nebeneinander von wissenschaftlichem und literarischem Anspruch, wie es Defoe verkörpert, von VICKERS erschöpfend dargestellt.255 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit soll die detaillierte Auseinandersetzung mit Defoes oft als marginal bewerteter Schrift zweierlei leisten: Zum einen wird deutlich, dass bereits im Jahr 1726 jene Fragen an den Fall Peter herangetragen wurden, die in den oben diskutierten Pamphleten keinen Raum fanden und sich damit der Befund des erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts vorgenommenen Diskurswechsels relativiert. Zum anderen liefern Defoes Gedanken eine brauchbare Vorstrukturierung für den sich anschließenden Versuch, die Einbettung Peters in die wissenschaftliche Theoriebildung nachzuzeichnen. Bereits Defoes dezidiert methodisches Vorgehen grenzt Mere Nature Delineated deutlich von den Werken seiner Zeitgenossen ab. So geht es ihm zunächst darum, die Faktenbasis des Falles, der mittlerweile unter einem Berg von Anekdoten und Falschmeldungen verschüttet liegt, durch Quellenkritik freizulegen. Deutlich zeigt sich in diesem Ansatz die von VICKERS betonte Nähe zu Bacons Entwurf der neuen, auf empirischem Fundament stehenden Wissenschaften.256 Defoe selbst erkennt jedoch rasch, dass diesem Bestreben Grenzen gesetzt sind, sich fact and fiction bereits 1726 häufig nicht mehr sauber trennen lassen und man die Beurteilung deshalb dem gesunden Menschenverstand überlassen muss. Relativ bald geht er daher dazu über, die für ihn objektiv feststellbare Phänomenologie Peters in den Vordergrund zu rücken: Nicht, was der Knabe vielleicht
At the Borders of the Human. Beasts, Bodies and Natural Philosophy in the Early Modern Period, Basingstoke; London 1999, 196–214. 254 Auch VICKERS, Defoe and the New Sciences streift in ihrer ansonsten ausgesprochen erhellenden Darstellung Mere Nature Delineated nur. 255 Damit ging einher, dass der Titel lange Zeit schwer greifbar war. Mittlerweile existiert eine im Rahmen der Neuauflage des Gesamtwerks Defoes (DANIEL DEFOE, Works of Daniel Defoe, 44 vols., ed. by WILLIAM R. OWENS, London 2000 ff.) erschienene neue Ausgabe: DANIEL DEFOE, Mere Nature Delineated, in: DERS., Works of Daniel Defoe: Writings on Travel, Discovery and History, ed. by. ANDREW WEAR Vol. 5, London 2002. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird die Ausgabe London 1726 zitiert. Eine deutsche Übersetzung liegt nicht vor. 256 Bacons Einfluss auf den Paradigmenwechsel der Wissenschaften hin zur Empirik steht außerhalb jeder Diskussion; eine genauere Diskussion der Schriften Bacons – am einflussreichsten wohl das in der Instauratio Magna (London 1603) enthaltene Novum Organon – kann hier nicht geleistet werden. Für eine nähere Diskussion vgl. VICKERS, Defoe and the New Sciences, insbesondere 55 ff.
3.6. Ein Schiff ohne Ruder
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war, sondern das, was er im Jahre 1726 ist wird zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen: […] that there is such a person, is visible, and he is to be seen every Day, all wild, brutal, and as Soul-less as he was said to be; acting MERE NATURE, and little more than a vegetative Life; dumb, or mute, without the least Appearance of Cultivation, or of having ever had the last Glympse of Conversation among the rational Part of the Worlde: This, I say is evedent, He is himself so far the miserable Evidence of the Fact.257
Vor dem Hintergrund einer solchermaßen abgesicherten Faktenbasis attackiert Defoe in der Folge weit ausgreifend das von der Existenz des Jungen gestellte Hauptproblem: Besitzt dieser eine Seele oder nicht? Und wenn ja, inwiefern unterscheidet sich diese von derjenigen eines gewöhnlichen Menschen und der eines Tieres? Schon hier sei kurz darauf verwiesen, dass der Begriff soul für Defoe noch etwas wesentlich anderes als das heute Geläufige denotiert. In der Seele manifestieren sich keineswegs nur religiöse und psychische Aspekte; der Begriff rekurriert vielmehr auf die seit der Antike tradierten Seelenvermögen und damit auf eine mit dem Körper delikat verwobene und diesen steuernde Instanz, für die uns heute ein angemessener Ausdruck fehlt.258 Aufschlüsse über das schwer greifbare Abstraktum Seele, dessen Wesenhaftigkeit und Struktur auch für Defoe letztlich undechiffrierbar bleiben, lassen sich aber nur über deren wahrnehmbare Manifestationen gewinnen. Defoe versucht daher eine Annäherung an seine Grundfrage über das Ausweichen auf drei unmittelbar mit dem Seelenproblem verflochtene Themenbereiche zu erreichen. So gerät zunächst die Sprache und die Frage des Spracherwerbs in seinen Fokus; das Vorhandensein einer Seele ohne gleichzeitige Sprachfähigkeit erscheint ihm wie vielen seiner Zeitgenossen als eine kaum erklärbare Merkwürdigkeit. Trotzdem zeigt Peter offensichtlich diese Konstellation, was wiederum die Rolle der Erziehung in der Ausbildung der Seelenvermögen nach sich zieht. Immer wieder tauchen schließlich sowohl im Kontext des Sprach- wie des Erziehungsproblems Überlegungen auf, welche die Wechselwirkungen von Seele und Physis thematisieren. Damit präsentieren sich in Mere Nature Delineated die vielleicht wesentlichsten der wissenschaftlichen Fragestellungen des 18. Jahrhunderts: Die des Spracherwerbs, der Bedeutung der Erziehung und schließlich des Zusammenwirkens von Leib und Seele. 3.6.1. Was war – was ist – was wahr ist Wie wacklig das Gerüst war, auf dem er seine weiteren Überlegungen aufzubauen gedachte, wird Defoe schnell klar. Um überhaupt zu tragfähigen Befunden zu gelangen, notiert er eifrig die überlieferten Nachrichten, um diese dann miteinander abzugleichen und gewissermaßen aus der Schnittmenge den historischen Kern herauszuschälen. Schließlich müssen sich aber auch die hier übrig bleibenden 257 DEFOE, Mere Nature Delineated, 3. 258 Zu den Seelenvermögen vgl. auch Kap. 4.1.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Informationen nochmals der rationalen Beurteilung unterziehen, sie müssen konsistent sein mit „common Sense, with the Nature of Things, and, at least, with Probability“; ohne einen solchen Dreischritt des Suchens, Abgleichens und Beurteilens „it can hardly be rational to make any Observation upon the Particulars“.259 Damit wird am Anfang von Mere Nature Delineated eine klares methodisches Vorgehen benannt, auch wenn die sich in der Folge entwickelnden Spekulationen diesem Anspruch sicher nur zum Teil gerecht werden. Wie nur das Instrument der ratio zu einer einigermaßen sicheren Bewertung verhelfen konnte, exemplifiziert Defoes Umgang mit zwei Pressemitteilungen vom 11. und 28. Dezember 1726.260 Die Quellenkritik Defoes fällt harsch aus. So teile die erste Quelle mit, dass der wilde Junge auf Händen und Füßen gegangen sei, und zwar als gewohnheitsmäßige Gangart. Offensichtlicher Unfug, „added by the News-makers of Holland“, denn dies sei überhaupt nicht vorstellbar: Eine wirkliche quadrupede Fortbewegung würde mit dem Körperbau des Menschen – „his long Arms sinking his Front, and his long Thighs and Legs raising his Haunches in the Air“ – nicht korrespondieren. Rousseau wird später ganz ähnlich argumentieren. Das Rutschen auf Händen und Knien sei zwar möglich, aber eben eine quälend langsame Fortbewegungsart; zudem fehlten alle Anzeichen von Schwielen auf den Knien, die man dann doch wohl erwarten müsste. Dem Gerücht, Peter sei auf allen Vieren gelaufen, ist also mit großem Argwohn zu begegnen, und zwar weil es eben den Forderungen nach Probability und common Sense widerspricht. Analoges gilt für Peters Kletterfähigkeiten.261 In ganz ähnlicher Form geht Defoe nun daran, die Ernährungsart des Jungen zu durchleuchten, denn auch hier tun sich beunruhigende Diskrepanzen auf: As to the Difficulty of getting his Food; this they have very ill put together, and we are much in the Dark about it. One Account says, That his Food was the Moss and Leaves that grew on the Trees. Others tell us, He had laid up a Store of Apples and Nuts. A third Account says, He eat Grass, Nebuchadnezzar like.262
Das eigentlich eine fundierte Auseinandersetzung Behindernde sind dabei jedoch noch nicht einmal die Abweichungen, sondern dass keine der Versionen für sich allein Bestand haben zu können scheint. Es steht für Defoe außer Frage, dass weder Moss and Leaves noch Apples and Nuts die Versorgung Peters sichern konnten, die Frage des Trinkwassers gar nicht zu erwähnen.263 Zu allem Überfluss ist der Ort, an dem Peter gefunden wurde, auch nicht mehr das, als was ihn die den Pressberichten beigefügte Fußnote verkaufen will. Der nach antiker Tradition ganz Germanien urwüchsig überwuchernde Hircynische Wald ist nach Defoes Kenntnisstand längst Geschichte, und so ist die Gegend um Hameln […] not so populous and well cultivated as England and Holland; and there may be, and no doubt are, large Wastes and Woods in several Parts of them; but as they are not so well 259 260 261 262 263
DEFOE, Mere Nature Delineated, 4. Ebd., 11 f. Zur Vierfüßigkeit vgl. auch Kap. 4.3. DEFOE, Mere Nature Delineated, 13. Ebd., 14. Ebd.
3.6. Ein Schiff ohne Ruder
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peopled as these Countries, so neither are they so wild and desolate, such Desarts and Wildernesses, that, like the Desarts in Arabia or Africa, such a Creature as this was (for his living) could live many Years there, and be undiscover’d. […] Hence it could not be possible that this Creature could be there long undiscover’d; and therefore that notion is as wild as himself, that he was drop’d in the Woods by some unnatural Mother, and left to the Mercy of the Beasts; that Providence directed some Female Brute to nourish him, perhaps a She-Wolf, as Romulus and Rhemus are fam’d to be nourish’d, tho’ improbably: That from hence growing up, by the Care of the same Providence, he must have been made able, in the dismal Condition he was in, to support himself in the Manner as above. All which I do not believe a Word of.264
Kurzum: Die gesamte Geschichte, wie sie in den Medien überliefert wurde, schien Defoe eine unglaubliche Räuberpistole zu sein, und dass sie je geklärt würde, war nicht zu erwarten.265 Die Berichte widersprachen sich in fast allen relevanten Punkten, und falls sie dies einmal nicht taten, machte den Leser der gesunde Menschenverstand zweifeln. Aber obgleich der Begriff Skepsis noch zu weich erscheint, um Defoes Attacke zu charakterisieren, wird das Thema nicht fallen gelassen. Defoe stellt zwar fest, dass sich die Ereignisse keineswegs wie überliefert zugetragen haben können, und Spekulationen über eine tragfähige Alternativkonstruktion interessieren ihn nicht; dennoch aber beharrt er vehement auf dem Standpunkt, der Junge exemplifiziere mere Nature.266 Erklärbar ist dies nur durch die Trennmauer, die zwischen den verschiedenen Arten des Beweismaterials errichtet wird. Papier ist Defoe – und wer hätte es zu seiner Zeit besser gewusst? – geduldig; das, was die tägliche, und zumal persönliche Erfahrung zeigte, stand allerdings auf einem ganz anderen Blatt und konnte eine unbezweifelbare Glaubwürdigkeit für sich beanspruchen.267 Wenn sich auch über die Genese dieses bemerkenswerten jungen Mannes, den es da nach England verschlagen hatte, nichts Weiteres herausfinden lassen mochte, blieb doch die Analyse des Gegenwärtigen: That there is such a Boy, about 14 or 15 Years of Age, perfectly wild, uninstructed, unform’d, that is, uninform’d, and the Image or Exemplification, as I say in my Title, of Meer Nature; this is certain and undisputed; that he is like a Body without a Soul; that he was found, or, as they stile it, was catch’d in a Wood or Forest about Hamelen in Germany, and brought to Zell; and from thence, as a Curiosity in Nature, for the Rareness of it worth enquiring into, brought to Hanover, when the King of Great Britain was there, and shew’d to his Majesty; and that he is since brought over to England, and every Day to be seen; I believe all this to be true.268 264 Ebd., 14 f. Man beachte Defoes Angriff auf die „antiken“ Vorstellungen, die immer wieder herangezogen werden. 265 Ebd., 17. 266 Ebd., 16. 267 WILLIAM LEE, Daniel Defoe: His Life, and Recently Discovered Writings: Extending from 1716 to 1729, 3 Bde., London 1869 geht davon aus, dass Defoe den Jungen tatsächlich besucht hatte; vgl. NEWTON, Savage Girls and Wild Boys, 42. 268 DEFOE, Mere Nature Delineated, 16. Dass es sich hier um einen geschickt angelegten Versuch des Betrugs handelt, hält Defoe für unwahrscheinlich; zwar seien die Berichte über die Ergreifung in vielen Belangen fragwürdig, aber der König selbst habe wahrscheinlich eine bessere und genauere Übersicht über die tatsächlichen Vorgänge erhalten; schließlich hätten sie ihn bewogen, den Jungen aufzunehmen. Genauso wenig hält er es mit der Idee, die später
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Auffällig ist, was dem Faktengehalt hier zugezählt wird. Dem kritischen heutigen Betrachter bleibt zunächst nur übrig, festzustellen, dass ein nicht sprechendes und verhaltensauffälliges Kind, das angeblich aus Deutschland stammte, an den Hof des englischen Königs gebracht wurde. Bei Defoe jedoch wird eine Vielzahl anderer Dinge zu „Fakten“, besonders eben die Annahme, hier sei ein Beispiel von mere Nature, oder noch mehr, a Body without a Soul aufgefunden worden. All das sind natürlich bestenfalls Ableitungen, eher noch Unterstellungen, aber sie bilden den Ausgangspunkte für die bald in ungeahnte Sphären schweifenden Gedankengänge Defoes. 3.6.2. Mensch, Tier, Zwischenwesen? Im Zentrum der Überlegungen Defoes steht die bereits oben angesprochene Frage, ob Peter über eine Seele verfügt. Die heute geläufigen Definitionen des Begriffs Seele respektive soul blockieren ein Verständnis dieses erklärten Erkenntnisziels so sehr, dass der Sprung zur eigentlichen Leitfrage geradezu unnachvollziehbar erscheint. Warum hätte der Junge denn über keine „Seele“ verfügen sollen, nur weil er isoliert – und selbst das war ja fraglich – aufgewachsen war? War diese Frage, die schon seit den frühen Entdeckungsfahrten für die zur allgemeinen Überraschung allerorts anzutreffenden „Wilden“ zur Disposition stand, nicht spätestens mit der 1537 von Paul III. erlassenen Bulle Sublimis Deus von religiösem Standpunkt aus endgültig beantwortet worden? Mit welcher Logik konnte man einem südamerikanischen Indianer, der doch mindestens ebenso exotisch anmutete, eine solche zusprechen, Peter aber nicht?269 Nun – Defoe verstand unter dem Begriff etwas gänzlich anderes, und die oben genannten Implikationen wie etwa die Heilsfähigkeit interessierten ihn allenfalls am Rande. Er expliziert: „[…] I must explain a little what I mean by having a Soul, namely, that this Soul is not only in being, and embody’d and cased up in the Cage of his Form as human Creature, for that I do not dispute; but that it is unfetter’d by Organick Ligatures, at Liberty to act, and not interrupted by the Defects of Nature, only wanting Culture, and Improvement: Upon this Supposition then I am to consider him as a Soul, a rational Creature, and endued with the ordinary powers of the Soul […].“270 Blumenbach vorbringen wird, nämlich dass Peter „nothing but an Idiot, or what we call a Natural“ sei. Ebd., 25. Denn solcher Idiotismus gilt als unheilbar, während der Junge diesen Eindruck nicht erweckt: „he may have some Degrees of Idiotism upon him, yet he seems still to have with it, some apparent Capacities of being restored and improved.“ Ebd. 269 Allerdings gilt es gleichzeitig festzuhalten, dass die puritanische Einstellung zu den Indianern äußerst ambivalent war, man diese u. U. für regelrechte Teufel in Menschengestalt hielt: „For Cotton Mather the Indian was a spawn of the Devil, and where the colonists won a victory, there was God’s triumph over the soldiers of Satan […]. The Puritans believed that the Indian was a natural man and that he could be expected to follow the laws of reason, distinguish between good and evil, and worship some kind of god. When […] the Indians revolted, the settlers felt that the laws of nature had been violated.” NOVAK, Defoe and the nature of man, 44. Dennoch: Eine Seele wird „den Wilden“ auch hier nicht abgesprochen. 270 DEFOE, Mere Nature Delineated, 18.
3.6. Ein Schiff ohne Ruder
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Unter metaphysischen Gesichtspunkten konnte Peter also ohne Weiteres eine Seele zugestanden werden. Für den weltlichen Bereich war dies aber nahezu bedeutungslos; hier zählte nur, dass sich die seelischen Kapazitäten, wie sie für einen Menschen vorausgesetzt werden mussten, auch manifestierten: Idem est non esse, & non apparere; Not to be, and not to be in Exercise, is much the same to him; as Not to be, and not to appear by its Operation, is much the same to us.271
Diese empirisch feststellbaren Seelenvermögen verweisen auf die bei Defoe zugrundeliegende Vorstellung von Seele als einer den Körper regierenden Instanz. Die Idee, noch über weite Strecken der frühen Neuzeit verbreitet, griff auf aristotelische Denkansätze zurück, in denen der Natur ein hierarchisch gegliedertes System übergestülpt wurde. So war für Aristoteles die Seele ein alle Lebewesen verbindendes Grundrequisit; sie fand sich jedoch in unterschiedlicher Ausprägung. Während die Pflanzen als niederste Lebensform nur über eine anima vegetativa oder, bedeutungsgleich, anima nutritiva verfügten, zeigte sich im Verhalten der Tiere bereits das komplexere Wirken der anima sensitiva (oder sensualis), während nur der Mensch die anima rationalis, und damit die Vernunft, für sich reklamieren durfte. Man kann sich, verkürzt gesagt, diese Ausprägungen als pyramidenartig aufeinander aufbauend vorstellen, wobei die jeweils höhere Form die unerlässlichen Elemente der niedrigeren Form(en) integrierte.272 Während die Pflanzen lediglich von einer Kraft beseelt waren, die eben deren bloßes Überleben sicherte, verfügten Tiere neben dieser bereits über Sinneswahrnehmungen und Instinkte. Sie ermangelten aber der ausschließlich dem Menschen zugeschriebenen Vernunft, die dieses augenscheinliche Mängelwesen somit an die Spitze der Schöpfung beförderte und die differentia specifica zur übrigen Natur ausmachte. Für Defoe steht daher lediglich die Frage offen, ob Peter tatsächlich über alle dem Menschen typischen Seelenvermögen verfügt, wie sich ihr Fehlen gegebenenfalls erklären lässt und welche Rückschlüsse damit auf den Prozess der Ausbildung dieser Vermögen im Menschen zu ziehen sein konnten. Dass der Junge diesen Kontext erhellen können sollte, überrascht nun kaum mehr. Defoe – und man fragt sich, ob hier eher der Satiriker oder der kritische Beobachter spricht – formuliert bald eine das gängige Wertungsschema relativierende Ansicht, in der die starre Rangfolge der Daseinsformen aufgehoben und durch eine nur schwer gegeneinander aufzuwiegende Parallelität ersetzt wird, die den jeweiligen Eigenwert, aber auch die jeweiligen Defizienzen betont.273 „A Man is 271 Ebd., 1. 272 Vgl. MICHAEL LANDMANN, De homine. Der Mensch im Spiegel seines Gedankens, Freiburg; München 1962, 86. Die Thematik wird im naturkundlich orientierten Kap. 4 nochmals aufgegriffen. 273 Generell wurde die Einzigartigkeit des Menschen als Einbahnstraße gesehen; er war etwas Besonderes, weil der menschliche Geist, der als präexistent und göttlichen Ursprungs gedacht wurde, aus der Einheit der organischen Natur herausfiel; vgl. LANDMANNN, De homine, 86 f. Eine solche fast areligiöse Sicht der Natur überrascht bei einem Moralisten wie Defoe natürlich zunächst. Sie erklärt sich durch die Übernahme von Gedankengut, das Thomas Burnet entwickelt hatte: Vor den Sintflut hatten die Antediluvianer eine noch fast paradiesische Welt bewohnt und über direkt von Gott erhaltenes Wissen verfügt, während sich die Zeit nach der
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no more fit to be a Beast, than a Beast is to be a Man.”274 Darum auch die profunde Verwunderung ob der überlieferten Geschichten und deren sich anschließende Zurückweisung: The Climate in that Part of the World, is known to be cold to Extremity, and unsufferable to Mankind, even cloathed and covered, without other shelter […]. Wolves range about in Troops, insulting not single Persons only, but even whole Villages […]. How a poor naked defenceless Child could support the Severity of the Cold there without Cloathes, without Covering, without Lodging, without Shelter, and, indeed, without Food, seems to be a Tale that does not tell well; and supposing him able to support that Cold, how he could protect himself from the rapacious Violence of the Wolves, and other wild Creatures, starved and made ravenous with Hunger and Cold, is yet to me an unanswerable Difficulty. Upon his being brought among rational Creatures, it does not seem that he had before, either Sense to know his Danger in such Cases, or Sagacity and Caution to shun and avoid it, much less Courage and Strength to resist it: He appears an Object of MERE uninformed NATURE, a Life wanting a Name to distinguish it, like a Creature abandoned by Nature itself, and left in a State worse than that of the Sensitive Part of the Creation […].275
Die Natur ist jenen Wesen gegenüber, denen die Ratio mangelt, freizügig. Davon zeugen Fell, Gefieder oder Behaarung der Tiere, die in den kalten Gegenden der Welt leben. Ebenso sind die Sinne denen des Menschen bei weitem überlegen: ein großer Vorteil, wenn es um das Aufspüren von Nahrung geht, insbesondere, da deren Verwertbarkeit dem Tier offensichtlich unmittelbar durch den Instinkt bekannt ist. Peter besitzt jedoch nichts davon, und da sich gleichzeitig auch keine Anzeichen menschlicher Vernunft zeigen, fällt er möglicherweise unter den Status des Tieres ab. Die genauere Betrachtung des Jungen scheint also anzudeuten, dass die klare Trennlinie zwischen Mensch und Tier, die fraglos existiert, von keiner Seite aus überschritten werden kann.276 Gebildet oder zumindest markiert wird diese Schranke durch die Ratio; erst durch sie wird der Mensch überhaupt überlebensfähig, zugleich aber auch schon den Tieren überlegen. Damit verhilft die Vernunft dem Menschen zu einem regelrechten Quantensprung, sie ist offenbar nicht nur eine weitere, auf die anima sensitiva aufgepfropfte Seelenkraft. Anders ausgedrückt: Der Mensch ist in diesem Schema nicht lediglich ein Tier zuzüglich der höheren Denkfähigkeit. Wäre dies so, würde das Fehlen der Ratio in der Tat lediglich zu einer Animalisierung des Menschen führen, zu einem Rückfall auf die nächsttiefere Seinsstufe. Die Überlebensfähigkeit des Menschen wäre dann nicht in Frage gestellt, da ihn sozusagen das Sicherheitsnetz der Instinkte auffangen würde. Er könnte ein ebenso triebgeleitetes Leben wie alle anderen Tiere führen. Flut vor allem durch moralische Korrumption und Erschwerung der Lebensumstände auszeichnete. „Deprived of his intuitive knowledge, men tried to replace it with reason.“; vgl. NOVAK, Defoe and the nature of man, 7 ff. 274 DEFOE, Mere Nature Delineated, 7. 275 Ebd., 4 f. 276 Unberührt blieb davon jedoch, dass es unter den mit Ratio begabten Menschen gewaltige, vor allem der Erziehung geschuldete Unterschiede gab. Dass damit einige Menschen eben „less brutish than others“ seien, hielt Defoe für „too evident to need any demonstration.“ DANIEL DEFOE, An Essay upon Projects (1667), zit. n. VICKERS, Defoe and the New Sciences, 120.
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Nichts an Peter deutet aber auf eine solche Fähigkeit, weder zeigen sich besondere Instinkte, noch existieren physiologische Anpassungen wie verbesserter Geruchssinn, Behaarung oder Klauen. Die Position des Menschen in der Schöpfung findet so bei Defoe eine bei genauerem Hinsehen durchaus originelle Deutung. Die pyramidenartige Dreigliederung in anima nutritiva, anima sensualis und anima rationalis wird deutlich durchbrochen; zumindest im Falle der anima rationalis enthalten die höheren Formen offenbar keineswegs alle Fähigkeiten der niederen Seelenformen. Stattdessen stellt sich das Tier als ein Wesen ganz eigener Dignität dar, und weit vor Rousseau wird damit jeder Versuch eines „zurück zur Natur“ zu einer Unmöglichkeit und Beleidigung nicht nur des Menschen, sondern auch des Tieres.277 Solange Defoe seiner Prämisse folgte, konnte Peter nicht das in den Medien beschriebene tierartige Leben geführt haben, und so erscheint die oberflächlich induktive Methodik von Mere Nature Delineated doch eher als auf einen im Grunde deduktiven Ansatz aufgepfropftes empirisches Ornament. Nur von dieser Warte aus wird auch die merkwürdige Ambiguität in Defoes Entschluss verständlich, trotz vernichtender Kritik an den Quellen sein Projekt fortzusetzen.278 Ob Peter über eine dem Menschen angemessene Seele verfügte oder nicht, ließ sich für Defoe also an der äußerlichen Manifestation der Seelenvermögen ablesen. Dabei waren es zwei Dinge, die besondere Beachtung verdienten, die Fähigkeit des Denkens und die des Lachens. Beide Kriterien warfen aber erhebliche Fragezeichen auf, und auch wenn die letzten Meldungen zu zeigen schienen, 277 „[…] in Spight of all sullen Degeneracy in some Men, shewing their strong Inclination to turn Brutes, they are not really qualify’d for that great Accomplishment; that they can’t throw off the Soul, or its Faculties, and that even the Body itself will not comply with it; when an obstinate Brutality seems to remain, the very Shape and Situation of their Microcosm rebels against the sordid Tyranny, forbids the stupid Attempt, and denies them the Honour of being Beasts in Form, and in the ordinary Functions of sensitive Life, whatever they will be in Practice. In a Word, they can’t tread upon all Four; they can’t run, gallop, leap, trot, &c. like the more sagacious and superior Brutes, the Horse, or the Ass: They can’t go naked, I mean in these Parts of the world; and tho’ they can be ALL FACE, when they have Occasion to be foolish, nay wicked, nay impudent, yet they cannot harden their Flesh against Frost and Snow, as they can their Cheeks against Blushing, or their Souls against Shame.”; DEFOE, Mere Nature Delineated, 12. Deutlich wird, wie hier ein neuer Bedeutungshorizont für Brutalität aufgeschlossen wird, der sich von der Konnotation des Tierischen immer mehr entfernt. Schließlich können Tiere gar nicht mehr im eigentlichen Wortsinn brutal sein, denn dazu bedarf es rein menschlicher Eigenschaften. 278 VICKERS, Defoe and the New Sciences, 15 f. kommt zu einem ähnlichen Befund: „Looking at Bacon’s whole scientific programme, it is clear that Defoe is not equally interested in every aspect of it. Defoe is not interested in induction or aphorisms, nor in Bacon’s scientific method as a totality. The aspects of Bacon’s philosophy in which he is interested are those which an ordinary man can do and use […]. In other words, he uses the observational method and directs it to ‘the benefit of man’s life’ but then stops short; he does not, as the Baconian scientist was invited to do, rise up the ladder of axioms to natural laws and general principles of natural philosophy.” Auch hier zeigt sich möglicherweise der Einfluss seines Lehrers Charles Morton, dessen wissenschaftstheoretisches Fundament Vickers ebenfalls als „rather a mixture of old and new ideas“ (ebd., 37) beschreibt.
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dass Peter durchaus Lachen konnte, blieb die Frage des Denkvermögens schwer zu beurteilen. Defoes satirische Stichelei, er wolle den Faktor Denkvermögen nicht überbewerten, weil er viele seiner noble and most extraordinary Friends and Favourites nicht im Rückschluss der Seele berauben wolle, bringt es dabei auf den Punkt. Wie und entlang welchen Maßstabs wollte man wirklich messen, ob gedacht wurde oder nicht? Defoe schränkt dementsprechend bereits früh die Validität solcher Beobachtungen ein: we think that he can think.279 Lachen also wahrscheinlich ja, Denken vielleicht ebenso viel oder wenig wie andere Menschen. War man benevolent, kam man kaum an dem Schluss vorbei, den Defoe schließlich auch zog: Nach den herangezogenenen Kriterien musste man Peter doch eine menschliche Seele zugestehen.280 Aber der Fall schien wie verhext. Kaum war man zu einer scheinbar vertretbaren Lösung gelangt, ergaben sich weitere Implikationen. 3.6.3. Zoon apolitikon Die aristotelischen Versuche einer Definition des Menschen, deren Ausstrahlung auf das Denken der Frühen Neuzeit sich ja bereits an mehreren Stellen zeigte, hatten bereits früh zu der Feststellung geführt, der Mensch sei ein zoon politikon und damit ein Wesen, das seine Charakteristika nur innerhalb der Gesellschaft anderer Menschen ausbilden könne. Damit ging eine offensichtliche Wertschätzung letzterer einher; den Menschen beseelte der Drang nach sozialen Kontakten mit Seinesgleichen. Für Defoe wurde der gerade mit viel Mühe zum Menschen erklärte Peter diesem Anspruch jedoch nicht einmal ansatzweise gerecht. Weit davon entfernt, die Wiederaufnahme in die menschliche Gesellschaft mit gebührlichem Dank zur Kenntnis zu nehmen, zeigte der Junge Verhaltensformen, die ihn nun doch wieder in bedenkliche Nähe zum Tier beförderten, und just dieses Verhalten hatte ja auch bereits in dem ausgedehnten Dialog zwischen Peter und seiner Bärenmutter, wie er sich in The Most Wonderful Wonder findet, seinen literarischen Niederschlag gefunden. Warum hatte er nicht aktiv die Gesellschaft der Menschen gesucht; wenigstens einige musste er doch im Wald bemerkt haben? Und warum versuchte er immer noch zu entfliehen?281 Die offensichtliche Asozialität des Jungen war unvereinbar mit der Annahme rationalen Denkvermögens und den Wirkungen tierischen Instinkts – der Defoesche Ansatz, dass eine Degeneration zum Tier unmöglich ist, wurde ja bereits angesprochen. Setzte man den zeitlichen und
279 DEFOE, Mere Nature Delineated, 19 ff. 280 „But if I must allow him to have a Soul, and to Think, which I am very much inclin’d to do, not only because he can laugh, which I must say I only suppose, but for divers other very good Reasons; some Difficulties then come in my Way, which make the Story more contradictory than it was before.”; Ebd., 20. Vor dem Hintergrund dieses Zitats fragt sich, wie NEWTON, Savage Girls and Wild Boys, 44, zu dem Schluss gelangt, Defoe erkläre, dass „Peter has none [i. e. no soul; H B.]”. 281 DEFOE, Mere Nature Delineated, 20 f.
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gesellschaftlichen Kontext, in dem Peter Aufnahme gefunden hatte, als weiteren Faktor, potenzierte sich die Problematik sogar noch: It would indeed be a terrible Satyr upon the present inspir’d Age, first to allow this Creature to have a Soul, and to have Power of thinking, qualify’d to make a right judgement of Things, and then to see that under the Operation and Influence of that regular and well order’d Judgement, he should see it reasonable to chuse to continue silent and mute, to live and converse with the Quadrupeds of the Forest, and retire again from human Society, rather then dwell among the inform’d Part of Mankind; for it must be confess’d he takes a Leap in the Light, if he has Eyes to see it, to leap from the Woods to the Court; from the Forest among Beasts, to the Assembly among the Beauties; from the Correction House at Zell, (where, at best, he had convers’d among the meanest of the Creation, viz. The Alms-taking Poor, or the Vagabond Poor) to the Society of all the Wits and Beaus of the Age: The only Way that I see we have to come off of this Part, is to grant the Creature to be Soul-less, his Judgement and Sense to be in a State of Non-Entity, and that he has no rational Faculties to make the Distinction: But even that remains upon our Hands to prove.282
Dies ist natürlich eine Stelle von extremer Doppelbödigkeit, in der sich der brillante Satiriker Defoe zeigt. Denn einerseits entspricht seine Schilderung der gängigen Sicht: Lebte man nicht ihn einem aufgeklärten Zeitalter, auf das ohne Frage die Menschen anderer Zeiten nur mit Neid blicken konnten? Warum dann dieser Fluchtimpuls eines angeblich rationalen Wesens? Andererseits spricht die Gegenüberstellung innerhalb der Passage Bände: Die Wälder und der Hof, die almosenbedürftigen Insassen des Arbeitshauses in Celle und die höfische und intellektuelle Prominenz… Vielleicht war die Antwort auf die Frage, welche der beiden Möglichkeiten vorzuziehen war, tatsächlich nicht so einfach zu geben. Wenn der volle Titel von Mere Nature suggerierte, man habe mit Peter A Body without a Soul vor sich, zeigte sich hier eine mögliche Erklärung: triefende Ironie. Mithin kreist die Betrachtung um das Thema der – mal anerkannten, dann wieder abgesprochenen – Seele, ohne dass der Eindruck entsteht, Defoe könne oder wolle die Frage wirklich entscheiden. Ohnehin wird das Unternehmen blockiert, weil die Seele einer direkten Untersuchung wesenhaft unzugänglich ist, jedenfalls […] unless we had a Method in Science, to obtain a Mathematical, or Anatomical System or Description of the Soul itself; that it was a Substance capable of Measurement, and having a Locality of Dimensions and Parts ascribed to it […].283
Ein solches System ist natürlich nicht vorhanden; und, was aufgrund der Selbstverständlichkeit nicht weiter ausgeführt wird, die Entwicklung eines solchen wäre ohnedies nur unter streng materialistischen Prämissen überhaupt denkbar, indem der Seele räumliche Ausdehnung und materielle Substanz zugewiesen werden müssten. Schon Locke ließ sich auf diese Problematik nur widerwillig ein – außer vielen, auch theologischen, Schwierigkeiten versprach sie wenig.284 So musste man sich mit dem begnügen, was man aus dem körperlichsichtbaren Bereich deduzieren konnte; wenn man aber so vorging, ergab sich 282 Ebd., 22. 283 Ebd., 23. 284 Vgl. WILLIAM UZGALIS, Supplement to John Locke: The Immateriality of the Soul and Personal Identity, URL: http://plato.stanford.edu/entries/locke/supplement.html.
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neues Problem: Wenn die Umwelt Peter als einen körperlichen Menschen wahrnahm – und die Quellen zeigten, dass dies in der Regel der Fall war – bedeutete dies, dass Peter auch über eine Seele verfügen musste. Denn die Erkenntnis, dass man mit einem Menschen zu tun hatte, ergab sich aus Beobachtungen, die wiederum nur erklärbar waren, wenn das Objekt in irgendeiner Form human erschien. Die Erscheinungsform aber konnte nichts anderes sein als die Manifestation der Seelenvermögen, und nur eine anima rationalis konnte dies leisten. Kurzum: In dem, was äußerlich nach Mensch aussah, musste auch Mensch drin sein. Defoe ist sich des Zirkelschlusses, dem man hier erliegt, bewusst. In dem Bemühen, die Seele zu definieren, beschreibt man letztlich nur den Menschen, ohne das, wonach eigentlich gesucht wurde, von diesem abscheiden zu können.285 Das Einzigartige und Verwirrende an Peter ist nun, dass er organischanatomisch ohne Frage menschlich ist, damit auch über eine Seele verfügt, ethologisch jedoch völlig vom bekannten Muster abweicht. Kommt man, das Verhalten zugrunde gelegt, nicht umhin, sogar den Tieren eine höhere Position zuzugestehen, verweist andererseits viel zu viel in diesem eigenartigen Wesen auf eine profunde Menschlichkeit, nicht zuletzt natürlich seine optische Humanität, die sich in allen seinen Organen fortzusetzen scheint.286 Defoes Erklärungsansatz bezüglich dieses Dilemmas basiert auf der Annahme, dass die verschiedenen Ebenen der Selenvermögen säuberlich voneinander zu trennen sind. Ein nur sensitives Tier muss und kann sich allein auf seine Sinne und auf seinen angeborenen Instinkt verlassen, während der rationale Mensch eben freiverantwortlich auf bewusster Ebene Entscheidungen zu treffen hat, die damit einen – und das unterscheidet sie grundlegend von denen der Tiere – moralischen Gehalt haben. Bei Peter scheint genau diese Abgrenzung nun gestört zu sein: Er ist a ship without a rudder: Sinne und Instinkte leiten ihn, den mit einer anima rationalis begabten Menschen, nicht mehr; täten sie dies, würden sie die untrennbar mit der höheren Fakultät verflochtene Entscheidungsfreiheit hemmen und den Menschen damit der Moralität entkleiden. Dramatischerweise ist die anima rationalis im Falle des Jungen jedoch nicht fähig, die ihr zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. Peter ist immer noch a naked Creature, though he has Cloaths on, his Soul is naked; he is but the Appearance or Shadow of a Rational Crature, a kind of Spectre or Apparition; he is a great Boy in Breeches, that seems likely to be a Boy all his Days […].287
Peter ist greifbar nur für Metaphern. Hier findet Defoe den letzten Ansatzpunkt für seine Überlegungen: Diese so einmalige Störung kann nur in den Besonderheiten der Lebensgeschichte Peters begründet liegen, und eine systematische Analyse 285 „[…] as we define Soul by Rational Powers, Understanding, and Will, Affection, Desires, Imagining, and reflecting Operations, and the like, we are, I say, at some Difficulty in suggesting a human Body in Life, without those Operations.“ DEFOE, Mere Nature Delineated, 23. 286 Ebd., 24. 287 DEFOE, Mere Nature Delineated, 28. Viel später, bei Blumenbach, wird Peter sein Leben als hochbetagtes Kind beschließen.
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der Frage „by what secret Power the Faculties of the Soul are restrained, or withheld and lock’d up from Action, while yet they are, perhaps in Being within“288 führt Defoe fast zwangsläufig zu einem Untersuchungsobjekt, das ihn schon mehrfach beschäftigt hatte: Der menschlichen Sprache. 3.6.4. These silent people Wollte man eine Rangfolge der die Aufklärungswissenschaften umtreibenden Themenkomplexe erstellen, käme man nicht umhin, der Debatte um Sprache und Spracherwerb einen besonderen Stellenwert zuzuweisen. Keinem anderen anthropologischen Kriterium wurde eine so umfassende Beachtung zuteil, nirgends sonst trafen die verschiedenen Schulen mit solcher Vehemenz aufeinander. Je nachdem, welche Bedeutung und welche Genese man diesem Instrument zuwies, konnte man den Menschen in die unmittelbare Nähe Gottes heben – oder die nur marginalen Unterschiede zum Tier betonen. Für Defoe, den das Thema zeit seines Lebens umtrieb und zu den mehreren Verarbeitungen anregte289, ist die Bedeutung der Sprache kaum überzubewerten. Von Bedeutung dürfte hierbei auch gewesen sein, dass seine Tochter Sophia 1729 Henry Baker heiratete, der eine bedeutende Rolle in den frühen Versuchen der Gehörlosenerziehung spielte. Schon 1726 bilden so die Taubstummen290 einen wichtigen Ankerpunkt; mit ihnen schien Peter noch am ehesten Gemeinsamkeiten aufzuweisen, und dementsprechend nimmt Defoe in der Folge ausgiebig auf sie Bezug. Peter, dessen Sinne, nach allem was man feststellen konnte, organisch nicht beeinträchtigt waren, zeigte einen für Defoe bemerkenswerten Mangel, denn er schien zu einer Objektdifferentiation im eigentlichen Sinne nicht fähig; die Dinge um ihn herum zeigten, obwohl er sie wahrnehmen konnte, keinen intrinsischen Wert.291 Schönes und Hässliches waren ihm eins. Dieser Mangel erstreckte sich 288 Ebd., 28. 289 Insbesondere ist hier das 1720 anonym erschienene Duncan Campbell (The History of the Life and Adventures of Mr. Duncan Campbell; a Gentleman, who, though Deaf and Dumb, Writes down any Stranger’s Name at first Sight; with their Future Contingencies of Fortune. Now Living in Exeter Court, over against the Savoy, in the Strand, London 1720) zu erwähnen, eine Biographie des seit Beginn des 18. Jahrhunderts in London tätigen und angeblich taubstummen Wahrsagers. Diesem ist als 3. Kapitel „Die Methode, Taubstumme zu lehren, eine Sprache zu lesen, zu schreiben und zu verstehen“ beigefügt, eine Abhandlung, die eine kurze Zusammenfassung der von John Wallis erarbeiteten Methode darstellt. Die Autorschaft Defoes ist in Bezug auf den Gesamttext fraglich, er scheint aber zumindest den ursprünglichen Entwurf gestaltet zu haben, der dann wahrscheinlich von William Bond stark überarbeitet und verändert wurde. Für das betreffende Kapitel zeigen sich jedoch enge Parallelen zu Mere Nature Delineated; vgl. das Nachwort GÜNTHER KLOTZ’ zur deutschsprachigen Ausgabe Die Geschichte des Lebens und der Abenteuer des Mr. Duncan Campbell, Berlin; Weimar 1984, 242 ff. 290 In der Folge werden, dem Duktus der Zeit entsprechend, die Begriffe taubstumm bzw. Taubstumme/-r verwendet, da das heute geläufige „gehörlos“ die zeitgenössischen Konnotationen nicht zum Ausdruck bringt. 291 Nature seems to be to him, like a fine Picture to a blind Man, ONE UNIVERSAL BLANK […]. DEFOE, Mere Nature Delineated, 27.
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nicht nur auf das visuelle Feld; im Gegenteil, alle Sinne waren hier in Mitleidenschaft gezogen.292 Peter, obwohl organisch gesund und mit allen notwendigen Requisiten versehen, war stumm, weil er zwar sah und hörte, aber nicht verstand 293; in diesem Sinne war er wie ein Taubstummer, der gerade die Hörfähigkeit erlangte. Die Konversationen seiner Umwelt blieben ihm ein nicht zu enträtselnder Geräuschteppich ohne jeden Informationsgehalt. Es schien, als ob der Mechanismus, der die bloßen Eindrücke mit den Begriffen, und damit den Bedeutungen, verband, gestört sei. Ohne diese Begriffe musste aber abstraktes Denken nachgerade unmöglich erscheinen, was das absonderliche Verhalten des Jungen erklären mochte. Words are to us, the Medium of Thought; we cannot conceive of Things, but by their Names, and in the very Use of their Names; we cannot conceive of God, or of the Attributes of God, of Heaven, and of the Inhabitants there, but by agitating the Word GOD, and the Words Infinite, Eternal, Holiness, Wisdom, Knowledge, Goodness. & c. as Attributes; and even the Word Attribute; we cannot conceive of Heaven, but in the very Use and Practice of the Word that signifies the Place, be it in what Language you will […]: But what do these silent People do? ‘tis evident they act their Senses and Passions upon Things, both present, and to come, and, perhaps, upon Things past also; but in what Manner, and how, that we are entirely at a Loss about; it confounds our Understanding, nor could the most refined, or refining Naturalist that I ever met with, explain it to me.294
Die schon erwähnte schwelende Debatte über die Bedeutung der Sprache wird hier offen greifbar. Ausgehend vom antiken logos-Begriff wird dessen inhärente Zweiteilung in äußeren und inneren logos, oder, etwas vereinfacht, in Sprache und Denken übernommen. Denken ohne Wörter erscheint Defoe unvorstellbar; sie ermöglichen nicht nur die interpersonelle Kommunikation, sondern sind vor allem auch Medium of Thought, unersetzbare Informationsträger in der Kommunikation der Seele mit sich selbst.295 Alle Phänomene der Außenwelt sind für den menschlichen Geist nur in der in Wörtern kodifizierten Form der Begriffe wahrzunehmen und zu verarbeiten. Sämtliche höheren kognitiven Fähigkeiten beruhen auf ihnen; undenkbar, dass es etwa Sachverhalte geben könnte, bei denen „einem die Worte fehlen“.296 Daher das Problem, das die Taubstummen darstellten, ohne Zweifel die Bevölkerungsgruppe, die dem young Forester am nächsten zu stehen schien. Noch bei Eröffnung des Londoner Deaf and Dumb Asylum 1819 wurden solchermaßen 292 Ebd., 34. 293 „[…] he whose untun’d Ear conveys no Ideas to his Understanding, distinguishes nothing […].“ Ebd. 294 Ebd., 38 f. 295 Ebd., 39. 296 Das 18. Jahrhundert unterscheidet sich damit in seiner Glorifizierung des Wortes deutlich von unserer Zeit; eine Glorifizierung, die eng mit der Bedeutung der Sprache im christlichen Glauben zusammenhängt, denn am Anfang war, wie der Evangelist Johannes sagt, das Wort. Dass in der Welt bislang unbenannte Dinge existierten, daran hatte man sich gewöhnt, seitdem sich der Horizont des Mikro- wie des Makrokosmos ständig erweiterte. Unbennenbare Dinge konnten aber unmöglich in eine von Anbeginn auf linguistischem Fundament stehende Schöpfung gelangen und blieben als Enigmen der Metaphysik und Religion vorbehalten.
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beeinträchtigte Menschen ganz nah an einen „wilden“ Zustand herangerückt, „ignorant as the beasts of the field“.297 Wie konnte es, Unterweisung vorausgesetzt, sein, dass sie trotz Sprachmangel nicht allesamt völlig verblödet und zu keiner vernünftigen Tat fähig waren? Denn dass dem keinesfalls so war, zeigte die Erfahrung: Every Mute is not an Idiot or Fool; and we see some daily among us, whose Parts are as bright, their Understanding as large and capacious, and their Reason in full Exercise, and as clear, as, perhaps, any other; which is evident by the great Length they will go to attain Mediums of Conversations, to supply the Want of Voice; nay, we have seen some, who have attained to the Power of expressing themselves articulately, and in Words, which those that stand by, can both hear and understand, though that Person so speaking, cannot hear the Sound he makes.298
Theoretisch hätten Taubstumme weder sprechen lernen noch irgendeine Idee von der Welt an sich haben dürfen; aber ihre Kommunikationsfähigkeit qua Zeichensprache ließ sich nun einmal täglich beobachten, und verschiedene Formen des Fingeralphabets waren bereits seit dem 17. Jahrhundert in England verbreitet.299 Selten gelang sogar der Erwerb der Lautsprache. Damit hatten sie etwas höchst Erstaunliches zuwege gebracht: Ohne äußeren Einfluss mussten sie die sie umgebenden Phänomene in eigenständige Bedeutungseinheiten aufgliedern können, die von der Sprache abgelöst waren. In einem zweiten Schritt konnten sie diese sogar mit denen der sprachbegabten Welt synchronisieren, was ohne große intellektuelle Fähigkeiten nicht möglich gewesen wäre. Waren dann möglicherweise tatsächlich alle notwendigen Begriffe dem Menschen von Geburt an innewohnend, wie es die Anhänger der starken Version der Theorie der idées innées behaupteten, und wurden sie nur durch körperliche Defekte an den Sprachorganen am Ausfluss gehindert? Dann hätte auch Peter über solche verfügen müssen, es sei denn, die Vorsehung hätte sie ihm aus dem menschlichen Erkenntnisstreben entzogenen Gründen vorenthalten. Mit diesem 297 „It is painful to reflect, how many must have lived in misery, and died in ignorance, who might have been materially benefited, had there existed a charity of this character! The visitors of this institution will find those who were once dumb and ignorant as the beasts of the field, receiving a course of moral and religious instruction, and enabled to speak, read, write, cipher, and comprehend the meaning and grammatical arrangement of words. What will not perseverance accomplish,—what cannot science effect?”; New Picture of London, London 1819, zitiert nach London Ancestor, Deaf and Dumb Asylum, 1819, URL: http:// www.londonancestor.com/ leighs/chr-deaf.htm 298 DEFOE, Mere Nature Delineated, 39. Fortschritte im Taubstummenunterricht waren schon zur Zeit Defoes gemacht worden; weitaus stärker betont werden sie natürlich immer wieder im Zusammenhang mit Victor, dessen Lehrer Itard eine der entscheidenden Gestalten in der Geschichte der Entwicklung der Gehörlosensprache darstellt. 299 Bereits in Defoes Zeit waren verschiedene Fingeralphabete gängig; sie bauten in der Regel auf den Vorleistungen BULWERS auf (JOHN BULWER, Chirologia: or the Naturall Language of the Hand. Composed of the speaking motions, and discoursing gestures thereof. Whereunto is added, Chironomia: or, the Art of manuall rhetoricke, 2 Bde., London 1664). Defoes Schwiegersohn entwickelte eine eigene Version, über die allerdings aus Geheimhaltungsgründen – Baker betrieb eine finanziell florierende eigene Schule – keine konkreten Aufzeichnungen angefertigt wurden
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rationalistischen Argument der idées innées wollte der dem Gegenlager der Sensualisten entstammende Defoe nun auch nicht ohne Weiteres operieren. Denn wenn man schon von solchen gottgegebenen Ideen ausgehen wollte, dann musste man mit Descartes doch annehmen, dass Gott die Idee seiner selbst zuallererst in den Menschen eingepflanzt hätte. Da sich die Ordnung der Natur im Einklang mit dieser so sublimen Vorstellung befinden musste, konnte der Mensch dann mit Hilfe der Vernunft alle weiteren notwendigen Ideen und Begriffe entwickeln und ableiten.300 In dieser Hinsicht war nun einzuräumen: Bis man die Taubstummen von der Existenz eines solchen Wesens explizit in Kenntnis setzte, zeigten sie herzlich wenig Kenntnisse der Grundmaximen der Metaphysik, noch nicht einmal die Notwendigkeit eines solchen Wesens schien ihnen eo ipso einzuleuchten.301 Dennoch verfügten sie aber über ein Instrumentarium, mit dem sie die Welt erfassten. Ob Peter in dessen Funktionsschema möglicherweise Licht bringen konnte, war unklar, aber die reine Annahme eines solchen in ihm wirksamen Begriffserwerbssystems konnte als Basis benutzt werden, um Peters arg depravierten Status anzuheben. Klar erscheint Defoe nämlich, dass das prinzipielle Problem, mit dem die Taubstummen im Alltag zu kämpfen haben, keineswegs einem Defizit an kognitiven Fähigkeiten zuzuschreiben ist. Vielmehr ist es die problematische Adaption an die über einen ganz anderen Kode synchronisierte Gesellschaft; die Soziabilität ist aber eine der grundlegenden Charaktereigenschaften des Menschen und eines seiner Grundbedürfnisse.302 Die Tatsache, dass diese Probleme, sei es mit oder ohne Hilfe, gelöst werden konnten, zeigte, dass deren Seele vorhanden, und, darüber hinaus, auch handlungsfähig war, ohne jedoch – in Ermangelung von Begriffen – ein exaktes funktionales Äquivalent der Seele des sprechenden Menschen zu sein. Mit anderen Worten: Wenn die Taubstummen prinzipiell zu den gleichen kognitiven Leistungen wie die sprechenden Menschen fähig waren, und ihre Seele zudem von Worten und Begriffen abstrahieren konnte303, entfiel zwischen Wahrnehmung und Denken der allen übrigen Menschen notwendige Schritt der linguistisch gedachten Begriffsbildung, ein für den Sprachbegabten kaum vorstellbarer Vorgang. Peters Unfähigkeit, Objekten bestimmte Bedeutungen zuzuweisen, war also vielleicht nur eine scheinbare und man tat ihm ebenso wie einem Taubstummen, den man für geistig defizient hielt, möglicherweise unrecht.304 300 Diese Fragestellung ist im 18. Jahrhundert in vielen Bereichen akut; sie kennzeichnet eine der prinzipiellen Frontstellungen zwischen Rationalismus und Empirismus. So wird lebhaft diskutiert, ob die „Wilden“ der Neuen und Alten Welt ohne ein solches Wissen von Gott, ohne jegliche Art der Religion leben. Das große Augenmerk, das bereits die ersten Reiseberichte, vgl. etwa die ersten Kapitel der Chronik Sahagúns, auf die Religion der Südamerikaner legen, erklärt sich nicht zuletzt von dieser Seite her. BERNARDINO DE SAHAGÚN, Aus der Welt der Azteken: die Chronik des Fray Bernardino de Sahagún, Frankfurt a. M. 21990, 19 ff. 301 Vgl. DEFOE, Mere Nature Delineated, 40 f. 302 Ebd., 42. 303 Ebd., 41: „’Tis certain they must think without the Agency or Interposition of Language.“ 304 Ebd., 41 f.
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War dann diese Art des Denkens nicht sogar entscheidend unvermittelter, näher an der Realität, an der Natur der Dinge? Erkannten die Taubstummen, und mit ihnen Peter, vielleicht viel unbelasteter und genauer als die nach der Erfahrung des Turmbaus von Babel linguistisch abgeglittene Menschheit das Wesen und die Eigenart der Schöpfung, damit aber auch Gottes?305 Waren sie so, isoliert vom Lärm der Welt, moralisch höherwertige Menschen, denen der Blick auf das Wesentliche noch nicht durch fragwürdige Kulturerrungenschaften wie die höfische Etikette verstellt war? Kannten sie weder Neid, noch Ehrgeiz oder Missgunst? Dann wäre der Wilde Junge zumindest aus moralischer Sicht dem Gesellschaftswesen überlegen gewesen. Defoe bemerkt scharfsinnig, dass eine solche überlegene Moralität des Jungen erst in der Gesellschaft, in die er nun gebracht wurde, von Vorteil ist. Denn im Zustand der mere Nature sind Ehrgeiz und Neid für Peter vollkommen unerheblich. Es ergibt sich hier keine Situation, in der solche Prädispositionen eine Rolle spielen würden. Aber nun, in der menschlichen Gesellschaft angelangt, zudem noch in London306, wird seine moralische Überlegenheit offenkundig, Peters wilder Zustand zu einem Glücksfall. […] how infinitely more happy is he than Thousands of his more inform’d and better-taught Fellow Brutes in human Shape, who are every Day raging with Envy, gnawing their own Flesh, that they are not rich, great, and cloath’d with Honours and Places as such-and-such, studying to supplant, suppress, remove, and displace those above them, and even to slander, accuse, murder, and destroy them to get into their Places?307
Eine moralische Überlegenheit, die allerdings unglaublich fragil ist. Zeitlich deutlich vor Rousseau verweist bereits Defoe auf die Risiken der Erziehung.308 Dies ist umso bemerkenswerter, als Defoe als einer der Apologeten des bürgerlichen Sitten- und Erziehungskanons gilt. Robinson Crusoe ist ja in vieler Hinsicht ein Gegenentwurf zum romantisch verklärten Naturmenschen, insofern hier die Wirksamkeit bürgerlicher Tugenden bei der Errichtung einer Zivilisation en miniature vorgeführt wird, anstatt eben diese Zivilisation durch das Gegenbild eines natürlichen Menschen zu destruieren. Nichts davon hier. Unmöglich erscheint es, den Jungen zu den vollen Möglichkeiten seiner Seele zu führen, den Erziehungsprozess des zivilisierten Menschen also nachzuholen und nicht gleichzeitig seine Moralität zu verderben.309 Untugend erscheint nachgerade als unver305 In Mere Nature Delineated findet sich auch ein längeres Gedicht On the Deaf and Dumb being taught to Speak, das mit seiner Flut theriophiler und zivilisationskritischer Anmerkungen und seiner didaktischen Ausrichtung eine eigene Studie verdient hätte. Ein Vers bringt die Sache auf den Punkt: „He that without the Help of Speech can pray,/ Must talk to Heaven by some superior Way.“ Ebd., 53. 306 „Mercy upon him, what can he learn here!“, ruft Defoe in Bezug auf London aus. Ebd., 55. 307 Ebd., 43. 308 Ebd., 43 ff. Die Sicherstellung des Glücks scheint ihm schließlich nur gegeben, wenn man ihn in seinem Zustand belässt: „Let him be as he is […].“ Ebd., 45. 309 „And here a Speculation of infinite Force and Signification occurs to me, namely, how impossible it is now, in the Nature of the Thing, for this Youth to attain the full Exercise of the Faculties and Powers of a reasoning Soul, without taking in, at the same time, and with the same Instruction, all the wicked Part too! Nothing of Virtue, nothing sound, nay, even re-
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meidliche Folge des Lebens in der Gesellschaft, der somit ein äußerst ambivalenter Status zugewiesen wird. Zum einen ist ein glückliches Leben in der Regel nur in ihr möglich, die Menschen streben danach, von ihr ummantelt zu werden. Andererseits führt diese Veranlagung schnell zum moralischen Absturz. Eigentümlich und für die Folge prototypisch dreht sich während der Ausführungen die Rolle Peters, ohne dass dies Defoe vollständig bewusst zu werden scheint. Eigentlich sollten sich aus dem Jungen neue Kenntnisse, hier in Bezug auf den Spracherwerb, gewinnen lassen. Es passiert aber genau das Gegenteil: Anstatt mit Hilfe seines Modells zu einer neuen Theoriebildung bezüglich der Sprache zu gelangen, wird auf diesen die für die Taubstummen diskutierte Theorie übertragen, dass er über eine erhöhte Moralität verfüge. Peter selbst liefert keinerlei neue Beweise oder Indizien, sondern wird nur in ein bereits existierendes Erklärungsschema eingepasst. Weit davon entfernt, mit Peter ein Stück Welt zu erklären, beginnt Defoe fast unmerklich, Peter zu erklären. 3.6.5. Nature, unerring: Die graduelle Menschwerdung In der strengen Hierarchie der Lebewesen schien Peter, wie oben dargestellt, zumindest oberflächlich betrachtet ein gewisser Sonderstatus zuzukommen. Bemerkenswerterweise findet sich aber an keiner Stelle von Mere Nature Delineated auch nur der kleinste Hinweis darauf, dass es sich bei Peter um ein „Zwischenwesen“, ein missing link in der Chain of Being handeln könnte. Stattdessen versucht Defoe nachzuweisen, dass ein grundlegender Bruch mit dem Konzept der Natur nicht vorliegt. Tatsächlich ist der Junge nur ein spezieller Fall einer gar nicht so seltenen Familie von Abweichungen von der Norm. Denn während die Natur in ihrem Ansinnen niemals irrte, konnte es bei der Ausführung durchaus zu gewissen Problemen kommen: Nature, unerring in her Designs, certainly, like a skilful Architect, always forms her Plan or Ichnography of a Building, before the Foundation is begun, or the Ground laid open: This Creature was certainly formed and designed by Nature for a Man; all the Operations necessary in the usual Generation, no doubt, passed in the usual Form; the Fœtus cannot be enquired into, or where, if any, the Omission of Organicks happened: That such Things may happen, we cannot doubt; for, as we see some Births wanting Arms, or Hands, or Feet, or Fingers, so, no doubt, some of the Wheels at the Cistern may be broken, some Vessels for the Supply of Nourishment to this or that Part, and for the due Circulation of the Animal Spirits, or for conveying them to this or that Part, may be wanting, by which those Parts, deprived of the natural Vigour usual in others, and requisite to the Functions and Offices for which they are intended, are disabled from performing their Office; and by which the whole Mechanism appears defective, and out of Order.310
Der Plan der Natur war also bei Peter nicht zur vollständigen Ausführung gelangt; man musste von einer Störung des Mechanismus ausgehen, der Seele und Körper ligious, can be taught him, but all these Hell-born Addenda will be let in with, and break out among them […]. Unhappy Man, that his Soul cannot receive the Good without the Evil!”; Ebd., 43. 310 Ebd., 56.
3.6. Ein Schiff ohne Ruder
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so delikat verband. Klar zutage tritt hier noch, wie mechanistisch die Anatomie des Menschen gedacht wurde: Die Organe sind zwar bekannt, aber das grundlegende Verständnis für einen komplexen Organismus findet sich erst in Ansätzen; es wird ersetzt durch das simplifizierende Bild der Maschine. Noch geraume Zeit später, um die Mitte des Jahrhunderts, hat diese Vorstellung nichts von ihrer Validität eingebüßt.311 Das Maschinenmodell erstreckt sich explizit auch auf die Verbindungen zwischen Seele und Körper, etwa wenn Störungen der Circulation of the Animal Spririts angesprochen werden, sodass physische und psychische Phänomene nicht als grundlegend verschieden verstanden werden. Wenn Defoe betont, dass Peter rein äußerlich in nichts von einem Menschen abweicht312, steht im Hintergrund so die Vorstellung einer innigen Verknüpfung der mentalen Fähigkeiten und des körperlichen Aussehens.313 Die Idee des Körpers als Spiegel, aber auch als Formgeber der Seele klingt hier an. An eine Heilung von Deformationen, die diesen Bereich betreffen, war nicht annähernd zu denken.314 Mochten die Phrenologen Gall und Spurzheim315 später auch an der Schädelform der Wilden Kinder bereits deren unheilbare Idiotie ablesen können, stand für Defoe fest, dass sich dieser Junge körperlich in nichts von seinen Altersgenossen unterschied. Rein äußerlich und organisch war Peter ein Mensch, und zwar gemäß der Definiton Platons: Animal Bipes, sine Plumes.316 Sicher, optisch hatte er etwas Merkwürdiges an sich, aber dies musste als Folge, nicht als Ursache gewertet werden. Wider die Physiognomen sucht Defoe hier nach den tatsächlichen Gründen für das Aussehen Peters, wobei die sich entwickelnden Implikationen schließlich ein völlig neues Licht auf die Beurteilung des Falles werfen. Seine Stummheit ist nicht Ausdruck eines irreparablen Defekts, sondern das Fehlen der Sprache ist der Grund für seine Auffälligkeiten. Erst der jahrelange Gebrauch der Sprachwerkzeuge formt das Gesicht des Menschen in einer Art, die wir schließlich als 311 Vgl. JULIEN OFFRAY DE LA METTRIE, L’Homme Machine [1748], in: DERS., Œuvres philosophiques, London 1751, 9–80. Zu La Mettrie und materialistischen Interpretationen vgl. Kap. 4.1. 312 „It is true, we see no apparent Deformity in the Carcass; if there are any such Defects as I speak of, they are in the intellectual Part […]“; DEFOE, Mere Nature Delineated, 56. 313 Defoe selbst weist physiognomische Ideen vehement zurück; die Vertreter dieser Kunst sind ihm „Pretenders to the Witchkraft of the Phyz“ und „as empty of Understanding […], as almost any body that wears a Face“ (DEFOE, Mere Nature Delineated, 57). Die hier geübte Kritik erinnert in ihrem Zungenschlag deutlich an die geraume Zeit später von Lichtenberg vorgebrachte, der gegen Lavater spöttelte, dieser haben den Negroiden zur „Asymptote der Europäischen Dummheits- und Bosheits-Linie“ verzeichnet; vgl. HANS RICHARD BRITTNACHER, Der böse Blick des Physiognomen. Lavaters Ästhetik der Deformation, in: M ICHAEL HAGNER (Hrsg.), Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen 1995, 127–46; hier 135. 314 „[…] What Art, what Application to supply a Paucity of Brains, to dilate a contracted Skull, to rectify the distorted Features, & c.? In short, Where is the Operator that can give an Idiot Understanding, a deform’d Body Shapes, or an ugly Face Beauty? No, no more than they can give a Fop Wit, a Beau Manners, or a Whore Modesty.”; DEFOE, Mere Nature Delineated, 56 f. 315 Zur Phrenologie s. u., Kap. 4.5.2. 316 DEFOE, Mere Nature Delineated, 57.
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natürlich betrachten, womit das körperliche Aussehen tatsächlich jedoch das Ergebnis des Lebens in der Kultur ist.317 Damit schlägt Defoe den Bogen zurück zur Sprache. Wenn der Mensch auch alle notwendigen Anlagen zum Spracherwerb mitbringt, so ist es doch erst die Immersion in die Gesellschaft, durch die Sprache entstehen kann. Sprache wird also, da ist sich Defoe sicher, durch Imitation gelernt. Keine andere Theorie hätte auch ansonsten für das Faktum aufkommen können, dass Kinder immer die Sprache ihrer Eltern lernten. Möglich wird der Spracherwerb jedoch erst durch die Capacity to speak, eine fraglos nicht erworbene, sondern angeborene Eigenschaft.318 Das ist zunächst eine recht banale Einsicht, führt aber in der Folge zu einer Neubewertung des gegenwärtigen Zustandes Peters, für dessen Schwierigkeiten beim Spracherwerb eine Lösung gefunden werden musste. Da Peter über eine menschliche Seele und damit auch die Sprachkapazität verfügte, und er mittlerweile von Sprachvorbildern erster Klasse wie Arbuthnot umgeben war, musste diese Hemmung mit organischen Besonderheiten des Sprechtraktes zusammenhängen.319 Problematisch an dieser Kapazität war nämlich, dass sie innerhalb eines gewissen Zeitraumes nach der Geburt aktiviert werden musste. Fand das Kind kein Sprachvorbild, verkümmerte die Flexibilität der körperlichen Organe, sodass ein normaler Spracherwerb nicht mehr möglich war.320 Darüber hinaus zeigte das Beispiel des auf Juan Fernandez ausgesetzten Alexander Selkirk, dass man vollkommen intakte sprachliche Fähigkeiten wieder verlieren konnte, was für Defoe nur durch mangels Übung eingetretene organische Rückbildung erklärlich schien.321 Der wilde Junge wurde also zum wiederholten Mal vergleichbar mit den Taubstummen, denen Defoe so viel Platz und Bewunderung widmet; vielleicht war er also auch mit denselben Maßnahmen zu unterrichten. Es ist dementsprechend der Sprachmangel, nicht eine Irrung der Natur, der den Sonderstatus Peters verfestigt; ohne eine angemessene Kommunikationsfä317 Ebd., 57 ff. 318 Ebd., 58. 319 Diese Art der Ätiologie scheint im Falle von Peter nahe gelegen zu haben, und zwar entweder, weil es die traditionelle medizinische Ansicht war oder/und wegen der Anatomie des Kindes. Denn bereits zur Zeit seines Aufenthaltes in Hameln wird auf die wahrscheinliche Ursache des Sprechproblems aufmerksam gemacht. Andererseits, müsste man nicht, wenn es tatsächlich eine organische Auffälligkeit gab, annehmen, dass zumindest Arbuthnot dies entdeckt und die notwendigen Maßnahmen eingeleitet haben würde? Jedenfalls fand eine Operation der Sprechorgane nie statt. Richtig erkannt werden andererseits die Phänomene des erschwerten Sprachlernens des bereits älteren Kindes oder Erwachsenen; ein Phänomen, das im übrigen aus den Schwierigkeiten des Fremdsprachenerwerbs schon lange bekannt gewesen sein dürfte. 320 DEFOE, Mere Nature Delineated, 58. 321 Eine Schilderung findet sich unter „Woodes Rogers Reise nach Ostindien durch Südwesten“ in Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande: oder Sammlung aller Reisebeschreibungen […], Bd. 12, Leipzig 1754, 68 ff. Zur Sprache heißt es: „Das Vermögen zu reden hatte er dergestalt verloren, daß er die Wörter nur halb aussprach, und mit Noth zu verstehen war […].“ Der Isolationszeitraum habe vier Jahre und elf Monate betragen. Ebd., 71.
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higkeit musste Peter stets am Rand der Gesellschaft verharren, war nicht fähig, mit ihr in eine echte Beziehung zu treten. Dies, und nicht der Sprachmangel an sich, war die echte Depravation, die sich an ihm feststellen ließ. Im Hintergrund steht zweifellos, auch wenn sie explizit nicht genannt wird, die bereits erwähnte aristotelische Definition des Menschen als zoon politikon. Aber noch etwas anderes wird hier deutlich: Schon der Ausfall eines einzigen der wesentlichen Attribute konnte den Menschen in eine hoffnungslose Lage stürzen, die ihn noch unter das Tier erniedrigte: what a strange Machine the Body of a Man is…322 Die Seele, als Lebensprinzip, wird hier noch in einem viel materielleren Sinn gedacht als heute. Sicher, sie trägt auch die metaphysischen Konnotationen, die heute noch geläufig sind, aber sie ist doch zuallererst notwendiges Organ des lebenden Menschen. Und, was noch wichtiger ist, sie steht in einer ganz engen Beziehung zur Maschine, zum Körper, sie ist auf seine Instrumente ebenso angewiesen wie dieser auf ihre Leitung.323 Von einer Unabhängigkeit der Seele kann also keine Rede sein; das starke Konzept der ideae innatae, wie es Descartes entworfen hatte, findet hier eine Widerlegung: Kapazitäten ja, präexistente Realfähigkeiten und -vorstellungen nein. Auch wenn es ihn selbst wohl erschreckt haben würde, berührt Defoe sich hier in seiner Argumentation mit einem Denker, der etwas mehr als zwanzig Jahre später, wiederum unter Hinzuziehung des Beispiels der Wilden Kinder, für einen europaweiten Skandal sorgen sollte: dem französischen Materialisten La Mettrie, dessen Schrift L’Homme machine von allen Seiten unter Beschuss genommen wurde. Nicht zum ersten Mal, aber doch mit einer ganz neuen Konsequenz wird hier schließlich auch die Seele des Menschen materialisiert. Defoe geht diesen Weg natürlich noch nicht zu Ende; hätte er es getan, wäre, so dürfen wir annehmen, diese Schrift um einiges bekannter als sie es heute ist – oder nie erschienen. Immerhin zeichnet sich hier aber der Weg ab, den La Mettrie beschreitet, um zu seiner Theorie zu gelangen. Die Seele hat bereits ihren Status als unumschränkter Steuerer des Körpers verloren; körperliche Defekte verraten nicht mehr eine Depravation der Seele, deren Ursache nur der göttliche Wille sein konnte. Im Gegenteil, Störungen der Physis, wie sie im Rahmen des Aufwachsens des Individuums in mannigfaltiger Form vorkommen konnten, vermochten die Funktion der Seele bis zu einem solchen Grad zu hemmen, dass deren Vorhandensein von außen kaum mehr wahrnehmbar war. 3.6.6. Verschüttete Kapazitäten Als Robinson Crusoe zu Beginn von Defoes großem Roman an die Gestade eines öden Eilandes gespült wird – und sich damit, man beachte den Wortlaut, reduced to a meer State of Nature findet324 – musste für die Leser durchaus unklar sein, 322 DEFOE, Mere Nature Delineated, 59. 323 Ebd.: „[…] the least Disorder of the Parts, even of the mere Apparatus […], made by Nature for the Reception of a Soul, renders that Soul unhappily useless to itself […].“ 324 DANIEL DEFOE, Robinson Crusoe [The Life and Strange Surprising Adventures of Robinson Crusoe, of York, Mariner, 1719], Ware 1993, 150.
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was die Oberhand behalten würde: menschliche Kultur oder ungebändigte Natur. Dies galt insbesondere vor dem Hintergrund der Geschichte des bereits beiläufig erwähnten Alexander Selkirk, der Defoe den Ansatzpunkt lieferte. Besagter Selkirk war 1709 von Kapitän Woodes Rogers während dessen Fahrt nach Ostindien auf der Insel Juan Fernandez gefunden worden, auf der er fast fünf Jahre zuvor „wegen eines Zwistes“ mit seinem Kommandeur ausgesetzt worden war. Die durch ein Feuer am Strand aufmerksam gewordene Besatzung Rogers’ brachte schließlich „einen Menschen in Ziegenfelle gekleidet, dessen Gestalt noch etwas wilderes hatte, als diese Tiere“ an Bord. Man hatte den Unglückseligen zwar mit einem Vorrat ausgestattet, dieser war aber bald verbraucht, und so entwickelte Selkirk gezwungenermaßen großen Erfindungsreichtum, passte sich aber auch physisch an die neuen Umstände an. Zum Entfachen von Feuer verwendete er in Ermangelung von Pulver aneinander geriebenes Pimentholz, die auf der Insel massenhaft vorhandenen Ziegen jagte er ohne Flinte: „Die beständige Übung hatte ihn so flüchtig gemacht, daß er durch Wald, Felsen und Hügel mit unglaublicher Geschwindigkeit lief […]. Sie hatten auf dem Schiff einen Bullenbeißer, und verschiedene gute Windhunde: Er lief allen vor. Er ließ Leute und Hunde zurück. […] Seine Schuhe und Kleider waren bald abgenutzet; weil er durch die Felsen und Büsche lief: aber seine Füße verhärteten davon.“ Tiere ersetzten die menschliche Gesellschaft, und er „richtete sich wilde Katzen, und kleine Ziegen ab, die mit ihm tanzeten.“325 Selkirk, und in der Folge sein literarisches alter ego Robinson, konnte die Situation allerdings nur bewältigen, indem er auf Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zurückgriff, die er als Mitglied der Gesellschaft erworben hatte. „So siegte er also durch die Gnade der Vorsicht und die Stärke seine Alters, denn er hatte nur etwa dreyßig Jahr, über das Schreckliche seiner Einöde, daß ihm solche selbst angenehm und ergötzend vorkam.“326 Dreißig Jahre waren ein Alter, in dem sowohl die Physis noch stark genug, andererseits aber auch der Intellekt voll ausgebildet war. Ohne den Grundstock gesellschaftlich vermittelter Kenntnisse und Erfahrungen hätte Selkirk, der beispielsweise der Rattenplage durch seine Katzen Herr wurde, nicht überleben können, die physische Anpassungsfähigkeit seines Körpers war zwar hilfreich, aber nicht entscheidend. Zudem funktionierte letztere in zwei Richtungen: So wie sich die Geschwindigkeit der Fortbewegung erhöhte, ließen die Sprachfähigkeiten Selkirks, den Rogers’ Besatzung nur noch mit Mühe verstehen konnte, nach.327 Die eminente Bedeutung, die Defoe so der gesellschaftlich überformten Erziehung und Belehrung zuweisen musste, liegt dann ja auch in Robinson offen zutage, denn das Zivilisationsprogramm328, wie es sich auf seiner Insel vollzieht, kann von den benachbarten Eingeborenen nicht 325 Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und zu Lande: oder Sammlung aller Reisebeschreibungen […], Bd. 12, 69 f. 326 Ebd., 70. 327 Ebd., 71. 328 „Crusoe is homo faber, the maker of things”, wie es VICKERS, Defoe and the New Sciences, 105 formuliert.
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geleistet werden, weil ihnen eben der notwendige Hintergrund fehlt.329 Letzterer ließ sich jedoch – wenn auch nicht immer ganz reibungslos, siehe Freitag – vermitteln. Im Prozess der Ausbildung der menschlichen Kapazitäten spielte also die Erziehung die Kernrolle, auch die Sprache war ihr letztlich untergeordnetes Instruktionsmittel. Dem medizinisch-anatomischen Denken der Zeit gemäß sind die Effekte der Erziehung nicht nur rein mental-psychologisch greifbar, sondern erstrecken sich auch auf den Körper, insbesondere aber auf das Wechselspiel von Leib und Seele. Stellte Defoe also fest, dass Peters Seele, obwohl augenscheinlich vorhanden, keinen angemessen Ausdruck finden konnte, ließen sich dafür verschiedene Ursachen vermuten: Zum einen (pränatale) Fehlbildungen oder (postnatale) Verletzungen der Organe, zu anderen aber „The Grand Negative mention’d above, namely, the Defects in, or want of Education“ 330. Letzteres erschien als zweifellos wichtigster Faktor – schon allein deshalb, weil er jeden Menschen betraf. Und da sich weder angeborene noch erworbene Organdefekte bei Peter feststellen ließen, blieb nur want of Education als mögliche Erklärung. An Peter ließen sich somit ererbte oder jedenfalls kongenitale Fähigkeiten von erworbenen abscheiden, und bedenkt man die mannigfaltigen Defizienzen, die Defoe an dem Jungen auffielen, überrascht es nicht, dass das Ergebnis geradezu auf eine Apotheose der Erziehung hinausläuft. Ins Positive gewendet hieß dies aber auch, dass für Peter Hoffnung bestand: „[…] his Soul being capable of Improvement, differs from us only in the Loss it has sustained under so long a deny’d Education.“331 Peter war also insofern vergleichbar mit einem Kleinkind, das ebenfalls noch keine Erziehung erhalten hatte, allerdings mit einem bereits oben angeklungenen erheblichen Nachteil, der die Hoffnung sofort wieder relativierte: Der lange Aufenthalt außerhalb der menschlichen Gesellschaft hatte an Peter wohl irreversible Spuren hinterlassen, weil der richtige Zeitpunkt für erzieherische Maßnahmen verpasst worden war. Dieses Versäumnis schlug bis auf die Physis durch; nichts anderes – siehe die Effekte der als deutlich kürzer vermuteten Isolation Selkirks – war auch zu erwarten. Die wichtigen Organe befanden sich nicht mehr in dem einfach zu formenden Zustand, den sie im Kleinkind aufwiesen, sondern hatten sich bereits verfestigt und reagierten auf erzieherische Einflüsse nur noch höchst widerwillig.332 Peter zeigte also, dass eine frühe Erziehung von unbedingter Notwendigkeit war und Versäumtes später, wenn überhaupt, nur noch deutlich erschwert wieder aufzuholen sein würde. Defoe bemüht zur Beschreibung der menschlichen Psyche eine Metapher, die Lockes unbeschriebenem Blatt Papier nahe kommt333: das Wachs. 329 Dies beginnt bei der Erziehung und endet logischerweise beim Nichtvorhandensein eben jener Materialien und Werkzeuge, die Robinson aus dem Schiff rettet. 330 DEFOE, Mere Nature Delineated, 62 f. 331 DEFOE, Mere Nature Delineated, 60. 332 Ebd., 60. 333 Defoe wird im allgemeinen als Popularisator der Ideen Lockes gesehen, der keinen großen Anspruch auf Originalität hat. Defoe selbst sah das anders; in Kenntnis der gängigen Theorien nahm er für sich in Anspruch: „[…] I am arguing by my own Light, not other Mens; and
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln If this be the Case, it dictates the Necessity of early Education of Children, in whom, not the Soul only, but the organick Powers are, as a Lump of soft Wax, which is always ready to receive any Impression; but if harden’d, grow callous and stubborn, and, like what we call Sealing-Wax, obstinately refuse the Impression of the Seal, unless melted, and reduced by the Force of Fire; that is to say, Unless moulded and temper’d to Instruction, by Violence, Length of Time and abundance of Difficulty.334
Überhaupt hat Lockes Sensualismus, dessen Erziehungsoptimismus Defoe teilt, tiefe Spuren hinterlassen. Nicht die Anlagen eines Menschen bestimmen dessen Fähigkeiten, sondern der Grad an Erziehung, den dieser genießt. Die Natur gibt dem Menschen nur das in jedem Individuum gleichförmige Rohmaterial der Seele mit auf den Weg, das jedoch in seiner Urform dem Menschen kaum zum Vorteil gereicht. Es ist nicht mehr als ein schmutziger Rohdiamant, und aus sich heraus ist kein Mensch fähig, diesen zum Funkeln zu bringen. Diese große Aufgabe ist eine sozial-zivilisatorische, die ausschließlich innerhalb der Gesellschaft gelingen kann. Dies vorausgesetzt, waren in der Ausbildung der Vermögen nach oben wie nach unten keine Grenzen gesetzt: je besser Erziehung und Unterweisung, desto vollkommener die Ausbildung der Seelenkräfte – je schlechter… nun ja. Erst auf der Basis einer solchen Erziehung wurde es dem Menschen schließlich möglich, sich aus sich selbst heraus weiter zu entwickeln, wie es das findige Vorgehen Selkirks belegte. Das Individuum steht, wie es schon Newton, eine Phrase von Didacus Stella aufnehmend, so zeitüberdauernd formulierte, auf den Schultern von Riesen und wird so zu einem historischen Wesen, das seine eigene Existenz der Geschichte schuldet. Ein Abschneiden des Menschen von der – natürlich vor-evolutionär gedachten – Phylogenese der Gesellschaft machte eine umfassende Ontogenese damit zu einer Unmöglichkeit. Eine Isolation, wie sie bei Peter vorzuliegen schien, führte dementsprechend zu erschreckenden Konsequenzen: Man would be little more than a Man-Brute, as we see this Youth to be.335 Ein Mensch im Naturzustand war – Defoe betont dies immer wieder – eine elende und zutiefst bemitleidenswerte Daseinsform, ten thousand times more miserable than a brute, und dem verbreiteten Primitivismus oder Anti-Intellektualismus tritt er vehement entgegen.336 Ohne die Unterweisung seiner Artgenossen blieb dem Menschen zudem nicht nur der Zugang zur Gesellschaft verschlossen; ihm, dem Naturwesen, dem paradoxerweise doch die Sagacity of the Brutes mangelte, fehlte das Verständnis der ihn umgebenden Welt und ihrer Ordnung ebenso wie die Selbsterkenntnis.337 Was konnte die Erziehung, bei allem Optimismus, in einem solchen Fall noch leisten? Defoe inseriert an dieser Stelle die Geschichte eines jungen Mädchens mit taubstummen Geschwistern, dessen Eltern bereits im Säuglingsalter sterben. Das Mädchen wird daraufhin von seinen Brüdern und Schwestern aufgezogen und
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therefore my Notions may be new […].“ Zit. n. NOVAK, Defoe and the nature of man, 14. Die hier vorliegende Stelle verdeutlicht, dass Defoe zumindest kein bloßes Plagiat lieferte. DEFOE, Mere Nature Delineated, 60 f. Ebd., 59 ff. Ebd., 84. Ebd., 64.
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erlernt deren Zeichensprache, nicht aber die Lautsprache der Menschen. Sie versteht nicht, dass es sich bei den Geräuschen, welche die Besucher ausstoßen, um eine Kommunikationsform handelt. Als ein Priester die Hörfähigkeit des Mädchens, das mittlerweile 14 Jahre alt ist, entdeckt und ihr die Lautsprache beibringen will, kommt es zu Schwierigkeiten: Das Mädchen sieht den Sinn dieser Maßnahme nicht ein, und erst die Überzeugungsarbeit ihrer Geschwister führt dazu, dass es die Lautsprache schließlich erlernt; mehr schlecht als recht, muss man hinzufügen. Kurzum: Wenn der Spracherwerb bereits bei einem in menschlicher Gesellschaft und geordneten Verhältnissen aufgewachsenen Kind derartig schwierig war; wenn bereits diesem Mädchen die notwendige Einsicht und Motivation fehlte; wenn bereits hier das Ergebnis eher an Radebrechen als an flüssige Sprachbeherrschung denken ließ; welche Erfolge mochten dann mit Peter, einem viel schwierigeren Fall, zu erzielen sein? Das kaum zu überwindende Hindernis schien dabei der erste Schritt zu sein, nämlich Peter begreiflich zu machen, was Sprache überhaupt ist, wozu sie dient, und was die Vorteile ihrer Beherrschung sein würden, denn wie zu erwarten zeigte der „young Lunenburgher, by all the Accounts I have yet have of him, […] not the least Sense of any Unhappiness in his present Condition […].“338 In seinem Fall gab es keine Geschwister, und vor allen Dingen gibt es auch nicht die Möglichkeit, auf die Zeichensprache auszuweichen. Während das Mädchen „an apparent Share of Brains“339 zeigte und „the Advantage of Conversation […] with her mute Relations”340 hatte, muss der völlig isoliert aufgewachsene Peter seine Intelligenz noch nachweisen, denn „no Art can teach a dumb Fool to speak.“ Aber die Sprache war nur das erste der Probleme, die Peter überwinden musste, um in den Kreis der Gesellschaft zu gelangen. Ebenso schwierig würde sich nämlich der Umgang mit den Konventionen herausstellen, gerade bei Hofe.341 Weiterhin fragte sich, ob sein Erinnerungsvermögen überhaupt imstande sein würde, die neu erlernten Begriffe, welche noch dazu in ihrer semantischen Bedeutung kontextuell variierten, zu erfassen und zu speichern.342 Gesetzt den Fall, alle diese Schwierigkeiten konnten überwunden werden – Schreiben wäre dann immer noch außerhalb der Reichweite des Zöglings.343 Die Perspektive des nachzuholenden Erziehungsprozesses wird so allmählich zur Lebensperspektive Peters: Zum Erlernen der Grundfertigkeiten Lesen und Schreiben – sechs Jahre. Erwerb von 338 339 340 341 342
Ebd. Ähnliche Probleme trieben später auch Itard bezüglich Victors um; vgl. Kap. 1.1.9. Ebd., 74. Ebd. DEFOE, Mere Nature Delineated, 77. „This is a Thing, perhaps, very little consider’d, yet very important to us all: As by Imitation of Sound we first attain to Speech, so it is certainly by the Memory, that we know what to speak […].“ Ebd., 78. 343 „[H]e is surprised, like the Indian that carried a Letter at the first Settling Virginia, to see a Piece of Paper speak. This requires a new Mechanism, and all the Powers of his soul […] cannot dictate to him how to do it. Divine Art dictated Letters originally upon Mount Sinai in a Flame of Fire, and the first Copy was set by the great first Author of Letters, the Sovereign of Nature; nor was it possible for any thing short of Infinite, to have found a Character for Speech […].“ Ebd., 80.
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3. Sprung ins Licht: Peter von Hameln
Alltagswissen, „not to speak a Word of Science, Philosophy, or Religion“ – weitere sieben Jahre.344 Man mochte so weit gehen zu sagen, dass der Junge die Wildnis zwar überlebt, gleichwohl aber sein Leben in ihr verloren hatte. 3.6.7. Sprache, Seele, Gesellschaft: Befunde Ist Mere Nature Delineated auch eine Schrift, die ganz offenbar unter Zeitdruck verfasst wurde – darauf deuten die Einschübe aktueller Nachrichten und die mitunter konfuse Strukturierung hin – hatte Defoe doch einiges an Kraft und Gedanken investiert. Die wesentlichsten seiner Befunde sollen daher hier nochmals zusammenfassend betrachtet werden. Bezüglich der Defoe merklich persönlich involvierenden Frage des Spracherwerbs musste man sagen, dass an Peter kaum Neues zu erfahren war. Im Prinzip ließ er sich bruchlos in die Erfahrungen einordnen, die man bereits mit dem Spracherwerb Taubstummer gemacht hatte. Gegenüber diesen wies er als Untersuchungsobjekt jedoch den entscheidenden Nachteil auf, dass man sich nicht sicher sein konnte, es hier nicht doch mit einem Fool zu tun zu haben, der nie über Sprache verfügen würde. Da für Defoe jedoch weniger die Sprache an sich, sondern die Frage, wie man sich von Begriffen abgelöstes Denken vorzustellen hatte, im Vordergrund stand, stieß man hier auf Grenzen. Ohnehin blieb unklar, ob sich im Moment des Erwerbs der Sprache das postulierte, unbegriffliche Denken nicht verflüchtigt hätte, ob also die Wachstafel der menschlichen Psyche nicht augenblicklich überschrieben worden wäre. Weitaus besser eignete sich der Junge dafür, Licht in die Leib-Seele-Dualität des Menschen zu bringen. An die Debatte zwischen Sensualismus und cartesianischem Rationalismus anknüpfend hält Defoe Peter im Großen und Ganzen für einen Beleg Lockeschen Gedankenguts. Die Seele ist dem Menschen nur in der Rohform in die Wiege gelegt, erst die Eindrücke, welche die Gesellschaft und die sich in ihr vollziehende Erziehung und Sozialisation hinterlassen, bilden das Individuum. Peter, dessen Humanität schon optisch außer Frage steht, ist keinesfalls a Body without a Soul, auch wenn sich diese im Titel getroffene Behauptung sicherlich trefflich vermarkten ließ. Allerdings, so betont Defoe, ist für die Praxis das bloße Vorhandensein der anima rationalis bedeutungslos; erst die tatsächliche Ausübung der Seelenvermögen generiert den Menschen. Geschieht dies nicht, darf man keinesfalls erwarten, dass an die Stelle der nicht ausgeformten Ratio der tierische Instinkt tritt: Dieser Weg ist dem Menschen verbaut. Isoliert von der Gesellschaft anderer Menschen fiel Peter auf eine Daseinsstufe, zu der letztlich kein Vergleichspunkt mehr existierte. Erst vor dem Hintergrund der besonderen Wertschätzung der menschlichen Gesellschaft zeigt sich das Bild, das sich Defoe von Peter macht, in all seinen Konturen. In Ermangelung jeder Erziehung war der Junge ein Mensch in the State 344 Ebd., 82 ff. „Let us then reflect for him at the Age of Six-and-Twenty, or thereabouts, what a terrible Loss he has sustained for want of Speech, and that Speech only lost for want of early Erudition, seeing he could hear from his Childhood.“ Ebd., 84.
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of Mere Nature geblieben. Dieser Naturzustand ist jedoch, so erkennt Defoe, paradoxerweise etwas für den Menschen zutiefst Unnatürliches, ja er stürzt ihn in einen Abgrund.345 Peter verfügte zwar über die notwendigen humanen Dispositionen, hatte diese aber außerhalb der Gesellschaft nicht aktivieren können. Zum Zeitpunkt des Eintreffens in London ist es dafür jedoch vielleicht bereits zu spät: Zu sehr hat sich seine eigentümliche Daseinsform auch organisch bereits verfestigt. Peter auch nur mit den grundlegendsten Fähigkeiten des Menschen zu begaben, geriet zu einer Herkulesaufgabe mit ungewissem Ausgang, was den über weite Strecken vorherrschenden und an Locke geschulten Erziehungsoptimismus in gewisse Schranken verweist. Nicht, weil an Lockes grundsätzlicher Prämisse, der Parity of Souls gezweifelt würde, oder sogar das Konzept der idées innées Aufnahme finden würde, sondern weil sich in Defoes Konstruktion zwischen die präexistenten Anlagen der Seele und deren praktische Manifestation eine subtile Verflechtung von Körper und Geist schiebt, in der die Ausübung der Seelenfähigkeiten und die organisch-physische Bildung des Menschen in eine enge Wechselbeziehung treten. Es sind die Mechanismen eben dieser komplexen Interaktion, die den Menschen zum Menschen und Peter zu dieser so schwer greifbaren eigenartigen Kreatur machen. Ein Vorbild konnte der Junge daher keinesfalls sein; ebenso wenig verkörpert sich in ihm die menschliche Essenz. Auf einen „Naturmenschen“ wie Peter konnten sich weder Gesellschaft noch Geschichte, unverzichtbare Requisiten der Weiterentwicklung, gründen, und wenn Defoe so immer wieder von einem Zustand der Mere Nature spricht, impliziert dies nicht, dass sich die Menschheit irgendwann in diesem Zustand befunden hätte. Eher belegt der Junge, dessen Überleben für Defoe unerklärlich bleibt, genau das Gegenteil: Ohne die Ratio war der Mensch nicht imstande, sich selbst zu bilden, konnte vermutlich nicht einmal seine Subsistenz sichern. Zwischen ihm und den übrigen Lebewesen klaffte eine Lücke, die der Mensch nie aus eigener Kraft hätte aufreißen können, und die er auch in absteigender Richtung nicht übersteigen konnte. So bildet der Lunenburgher keine Brücke zwischen Mensch und Tier, sondern ist lebender Beleg der Unmöglichkeit, eine solche zu errichten. In seiner Darstellung Peters liefert Defoe eine neue Facette in der Interpretation des Naturzustandes. In das bereits von NOVAK auf der Basis der Überlegungen LOVEJOYS aufgestellte Dreierschema, das die der Zeit geläufigen Varianten kategorisiert, lässt er sich nicht ohne Weiteres einbetten.346 Sicher hatte Peter erstens 345 Wie NOVAK, Defoe and the nature of man, 11 betont, ist diese Sichtweise „good Calvinistic theology“; Defoe befindet sich jedoch gleichzeitig über Kreuz mit einem bedeutenden Strang des zeitgenössischen Denkens, der durch Figuren wie Cumberland, Shaftesbury und Hutcheson bestimmt wurde. „To the school of sentimentalists, man was naturally good, and benevolence was the primary human characteristic.“ 346 ARTHUR O. LOVEJOY, The Supposed Primitivism of Rousseau’s Discourse on Inequality, in: DERS., Essays in the History of Ideas, 14–37, hier 14 f. NOVAK, Defoe and the nature of man, 23 formuliert: „Three opinions on the solitary natural man were current in Defoe’s day. Some writers believed that the isolated natural man might, through the use of his reason, achieve the same moral and intellectual condition as the human being raised in society. Others, following
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nicht denselben Entwicklungsstand wie der Gesellschaftsmensch erreicht. Andererseits erschien er zweitens sicher auch nicht rücksichtsloser und brutaler als die ihn umgebende Gesellschaft. Blieb die dritte und letzte Möglichkeit, nämlich dass man in Peter ein von ständiger Furcht umgetriebenes Wesen vor sich hatte. Im Gegensatz zu Robinson schien dies bei dem Knaben jedoch ebenso wenig der Fall, denn zur Erkenntnis seiner Gefährdung schienen die intellektuellen Fähigkeiten nicht auszureichen. Insofern konnte man aber auch kaum davon sprechen, dass Peter frei, glücklich und tugendhaft war: All diese Begriffe lagen außerhalb seines Fassungsvermögens und konnten daher nur von außen an ihn herangetragen werden. Weder trieb ihn das Verlangen nach Auflösung der Isolation, wie es sich in Robinson zeigte, noch verlangte es ihn danach, seinen nach lukretianischer Optik glücklich gedachten Zustand zu erhalten. Der sich in Peter manifestierende Naturzustand war für Defoe vor allem ein dumpfes Vegetieren, das alle menschlichen Triebfedern erschlaffen ließ.
certain hints in Lucretius, suggested that he would be savage and brutal but have greater freedom and happiness and fewer vices than civilized man. The majority of writers, however, argued that man was a social animal, that the bestial life of the solitary savage was insecure, and that so far from being happy, the isolated natural man lived in constant fear of death.“
4. LEUCHTFEUER: DIE EVIDENZ DER WILDEN KINDER Als am Ende des 18. Jahrhunderts MICHAEL WAGNER seine Beyträge zur Philosophischen Anthropologie verfasste, erschien es ihm notwendig, den Terminus Anthropologie zu erklären.1 Dass diese, wie zweifellos die meisten seiner Leser bereits dem Wort entnehmen konnten, die „Wissenschaft vom Menschen“ war, genügte ihm bei weitem nicht. Vielmehr glaubte er, den Begriff in sehr methodischer Form sezieren zu müssen. In „weitläufigter Bedeutung“ sei es die „Wissenschaft, welche den Menschen betrachtet, in so fern er durch den äußern und innern Sinn gegeben werden kann.“ Dies könne jedoch kaum ausreichen, man müsse vielmehr nach der angewandten Form und Methode sowie den zugrunde gelegten Quellen differenzieren. Der Form nach könne man von allgemeiner oder specieller Anthropologie sprechen, je nachdem, ob das Individuum oder das gesamte Menschengeschlecht im Mittelpunkt stehe; diese könnten jeweils eine theoretische oder praktische Ausformung erfahren und stellten dem gemäß ganz unterschiedliche Anforderungen an den Forschenden. Die angelegte Methode könne historisch oder philosophisch sein. Setze man die Quellen als Unterscheidungskriterium an, komme man zur Anthropologie des äußern und innern Sinnes, je nachdem, von woher die Kenntnisse afficirt seien. Den äußeren Sinnen erschiene der Mensch als „ein lebendiger, organischer Körper, in welchem alles wechselseitig Zweck und Mittel ist; durch den innern Sinn, als ein mit Vorstellungs= Gefühl= Begehrungsvermögen, und denen diesen Vermögen entsprechenden Kräften und Fähigkeiten begabtes Wesen.“2 Der letzte Grund derjenigen Erscheinungen des innern Sinnes, „die sich aus den bekannten Gesetzen der Materie nicht erklären lassen“ aber sei die Seele, das absolute Subjekt, das sich im Bewusstsein des Menschen durch die Wahrnehmung seiner selbst, das Ich ankündige. So sei der Mensch ein aus Leib und Seele bestehendes Wesen, und als solches müsse man ihn in der Anthropologie auch betrachten, denn nur so seien die Wechselwirkungen zwischen diesen Instanzen zu verstehen. 1
2
MICHAEL WAGNER, Beyträge zur Philosophischen Anthropologie und den damit verwandten Wissenschaften, 2 Bde., Wien 1794–1796; hier Erstes Bändchen (1794), IX ff. Es scheint auch eine anthropologische Konstante zu sein, dass sich die Deutungsmöglichkeiten für diesen Begriff immer mehr erweitern. Greift man zur Informationsgewinnung auf die Wikipedia zurück, bekommt man nicht weniger als zehn Möglichkeiten offeriert: Philosophische, theologische, biologische, forensische, historische, Kultur-, Sozial-, kybernetische und pädagogische Anthropologie, zuzüglich der „Anthropologie als Oberbegriff bzw. Dachwissenschaft“; Wikipedia, „Anthropologie“, URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Anthropologie &oldid=19597580. Hier ist darüber hinaus noch gar nicht in Anschlag gebracht, dass sich etwa die französische oder amerikanische Auffassung von anthropologie resp. anthropology nochmals deutlich unterscheidet. Hinzu kommt noch der historische Bedeutungswandel. Ebd., XII.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
Da die Sinnesorgane für Wagner eine bedeutende Rolle spielten – wie sonst sollte irgendetwas von außen affiziert werden – traten Anatomie und Physiologie auf den Plan: Diese könnten Aufschluss über deren Wirken vermitteln. Dabei erschien ihm der Mensch, was die körperliche und sinnliche Verfassung betraf, „von andern Thieren wenig unterschieden; einige scheinen ihn sogar in Rücksicht derselben zu übertreffen.“ Nur das Gemüth sei es, das den Menschen weit über diese erhaben mache, und hier gelte es wieder eine leidende, das Affizierte verarbeitende, und eine thätige Instanz – je nach ausgeführter Operation Verstand, Vernunft, Wille – zu unterscheiden. Vor allem aber verfüge der Mensch über eine komparative Grundkraft, die Reflexionsfähigkeit. Diese Eigenschaften seien ihrerseits wieder an den Körper gebunden, Fähigkeiten, und von außen, durch Klima, Nahrung, Alter beeinflussbar. Sie, ebenso wie die körperlichen Effekte der inneren Regungen, sozusagen deren Zwilling, gehörten ebenfalls zum Themenkreis einer Anthropologie, die eine Unzahl verschiedener Aspekte zu erfassen hatte. Hier, dreizehn Seiten nachdem er sich an die Klärung des Begriffes gemacht hat, schließt Wagner – nicht ohne zu betonen, dass sein Entwurf immer noch „mangelhaft ist, und noch manche Verbesserung leidet.“3 SERGIO MORAVIA, dessen La Scienza dell’Uomo nel Settecento4 zu Recht als eines der inspirierendsten Werke der historischen Anthropologieforschung gilt, dürfte an Wagner seine helle Freude gehabt haben. Moravia verortete im 18. Jahrhundert das allmähliche Entstehen einer Menschenkunde, in welcher der Mensch, als autonomes und der Natur zugehöriges Wesen, zum ersten Mal nach wissenschaftlichen Maßstäben untersucht wurde. Was heute wie eine Selbstverständlichkeit klingt, führte damals jedoch zu einem Eklat nicht gekannten Ausmaßes, denn um Untersuchungen dieser Art vornehmen zu können, die ihre Vorbilder in der bereits weit entwickelten empirischen Vorgehensweise der Physik hatten, musste auch der Mensch als Naturphänomen betrachtet werden. Dies bedeutete aber einen radikalen Bruch mit jener religiös überformten Sicht auf den Menschen, die im Mittelalter zu einer geheiligten Tradition geworden war und aus der auch der freiere Geist der Renaissance zunächst nicht wirklich auszutreten vermochte. Die bereits im Kapitel zu Victor benannten observateurs de l’homme markierten für Moravia den Kulminationspunkt dieser Entwicklung, die sich über das 18. Jahrhundert hinweg nachvollziehen lässt. Zwischen 1800 und 1850 entwickelte sich dann die kurze Blütezeit einer Anthropologie, die sich als integrative Klammer einer Vielzahl von Einzeldisziplinen verstand. Herzstück blieben jedoch eine auf komparativer Methodik aufruhende Anatomie und Physiologie, die eine innige Verbindung mit dem Entwicklungsgedanken eingingen.5 3 4 5
Ebd., 22. SERGIO MORAVIA, La scienza dell’Uomo nel Settecento, Bari 1970; dt. u. d. T. Beobachtende Vernunft. Philosophie und Anthropologie in der Aufklärung, München 1973. I. d. F. wird nach der deutschen Ausgabe zitiert. Vgl. WOLF LEPENIES, Naturgeschichte und Anthropologie im 18. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, 231 (1980), 21–41. Als Endpunkt bezeichnet Lepenies den Durchbruch der Evolutionstheorie; schon vorher hätten sich jedoch bereits bei Lamarck Tendenzen zu einer Desintegration der gerade erst eingerichteten Disziplin gezeigt; vgl. ebd., 39
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Wagners Sicht auf den Menschen zeigt in ihrer Breite tatsächlich eine Analogie zur Gesellschaft der Menschenbeobachter, die sich aus Medizinern, Anatomen, Naturkundlern und Naturwissenschaftlern zusammensetzte. Gleichzeitig erweist sich aber auch, dass die Entwicklungen des Jahrhunderts keineswegs geradlinig und schon gar nicht equivok verliefen. Nach wie vor trennt Wagner den Menschen in Körper und Geist: Die Abkehr von diesem „Dualismus christlichcartesianischer Provenienz“6, wie es WERNER KRAUSS fasste, zum Monismus war längst nicht vollzogen. Dass Descartes den Menschen in eine res cogitans und eine res extensa geteilt hatte, führte zu ambivalenten Folgen.7 Einerseits wurde die Untersuchung des menschlichen Körpers ihrer religiös fundamentierten Beschränkungen enthoben; die Folge war im 17. Jahrhundert ein Aufblühen der Anatomie, etwas später dann der Physiologie. Allerdings erreichte man damit allenfalls eine Körperkunde, keineswegs eine Anthropologie in so umfassendem Sinne, wie es etwa Wagner vorschwebte. Denn verließ man das sichere Feld der Anatomie, Physiologie und Medizin, sah man sich bald Fragen gegenüber, deren objektive Beantwortung durch nicht in Frage zu stellende metaphysische Prämissen blockiert wurden, die von Descartes’ Konzept ebenso ausstrahlten. Akzeptierte man die Dualität des Menschen, so musste man etwa zu der Grundeinstellung gelangen, dass der göttliche Funken das eigentliche Unterscheidungsmerkmal des Menschen darstellte, aber weiteren empirisch orientierten Untersuchungen nicht offenstand. In diesem Denken blieben Metaphysik und naturkundliche Untersuchung in verschiedenen Welten beheimatet, ohne dass die eine in das Hoheitsgebiet der anderen hätte eindringen können – wie aber wollte man dann eine Definition des gesamten Menschen unternehmen? Dabei standen die anthropologischen Fragen, welche die Epoche der Aufklärung noch weit überleben sollten, durchaus schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf der Tagesordnung, als sich sowohl der Makrokosmos als auch der Mikrokosmos der Menschen weiteten. Die Mikroskopie drang immer weiter in die bis dahin unsichtbare Welt des Kleinen und Kleinsten vor, die Reisenden brachten täglich neue Meldungen und Exemplare der Fauna und Flora aller Winkel der Erde nach Europa8, die biblische Überlieferung erwies sich als lückenhaft. Die räumliche Expansion führte schließlich auch zu einer Ausweitung des temporalen Rahmens: Noch im 17. Jahrhundert hatte der irische Bischof Usscher, der Geschlechterchronologie der Bibel folgend, die Erschaffung der Welt zielgenau auf Sonntag, den 23. Oktober des Jahres 4004 v. Chr. datiert.9 Buffon dagegen schätzte, dass die 6 7 8 9
WERNER KRAUSS, Zur Anthropologie des 18. Jahrhunderts. Die Frühgeschichte der Menschheit im Blickpunkt der Aufklärung, hg. v. HANS KORTUM & CHRISTA GOHRISCH, München; Wien 1979, 9. Zu genaueren Ausführungen s. u., Kap. 4.1.2. Vgl. hierzu auch die auch geographisch diversifizierende Darstellung von MICHÈLE DUCHET, Anthropologie et Histoire au siècle des Lumières. Buffon, Voltaire, Rousseau, Helvétius, Diderot, Paris 1977, insbes. 40 ff. Vgl. DONALD SIMANEK, Bishop Ussher dates the world: 4004 B.C., URL: http://www.lhup. edu/~dsimanek/ussher.htm
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
Erde bereits vor etwa 75.000 Jahren den Schmelzpunkt unterschritten haben musste.10 Wenig nach heutigem Maßstab, aber immerhin bereits eine Verfünfzehnfachung, die prinzipiell genügend Spielraum für den Gedanken lieferte, die Gattungen seien nicht konstant, sondern transformativen Prozessen unterworfen.11 Ein Gedanke, der jedoch nur in seltenen Fällen bis ans Ende gedacht wurde.12 Antike und mittelalterliche Definitionen des Menschen erwiesen sich mit dieser neuen Basis als inkommensurabel. Immer neue Berichte über unzivilisierte, rohe und wilde Völker nährten die Frage, ob Europäer und Pescherähs wirklich miteinander verwandt waren. Die judeo-christliche Dogmatik hatte an der engen Verwandtschaft aller Menschen keinen Zweifel zugelassen und die augenscheinlichen körperlichen Differenzen allenfalls mit der post-diluvianischen Neubesiedlung der Erdteile durch Sem, Cham und Japhet, die Söhne Noahs, erklärt.13 Das Ende des 18. Jahrhunderts aber durchzog eine heftige Debatte um Mono- und Polygenie: So konnte der Göttinger Christoph Meiners eine stringent polygenistische Theorie vorstellen, die behauptete, „daß das gegenwärtige Menschengeschlecht aus zwey Hauptstämmen bestehe, dem Stamm der hellen und schönen und dem der dunkelfarbigen, und häßlichen Völker […]“14, und auch erklärte Monogenisten wie Kant und Blumenbach suchten nach Mustern für eine Anordnung verschiedener „Menschenrassen“. Zudem hatte der Engländer EDWARD TYSON 1699, nach der Sektion eines Orang Outang, einen minutiösen Bericht verfasst15, der die Trennlinie zwischen 10 Buffon nahm sich des Themas mehrfach ausführlich an, etwa in der Théorie de la terre (1749) und in den Epoques de la nature (1778). Das tatsächliche Alter der Erde schätzte er weit höher, etwa auf 3 Mio. Jahre. Vgl. DAVID A. OLDROYD, Die Biographie der Erde. Zur Wissenschaftsgeschichte der Geologie, Frankfurt a. M. 1998, 132 f. 11 Vgl. KRAUS, Anthropologie, 31. 12 Paradebeispiel ist hier sicherlich BENOÎT DE MAILLET, Telliamed, ou entretiens d’un philosophe indien Sur la diminution de la Mer […], 2 Bde., nouvelle édition La Haye 1755. Maillet schätzte das Alter der Welt auf der Basis geologischer Befunde auf etwa 2 Milliarden Jahre; diese Zahl erschien jedoch einer langen Reihe von Herausgebern unmöglich zu publizieren zu sein, so dass Dezimalstellen radikal verschoben wurden. Erst 1968 erschien die erste den Manuskripten entsprechende Auflage: DERS., Telliamed, or: Conversations between an Indian philosopher and a French missionary on the diminution of the sea, ed. by. ALBERT V. CAROZZI, Urbana 1968. Vgl. ALBERT CAROZZI, De Maillet’s Telliamed: An Ultra-Neptunian Theory of the Earth, in: CECIL J. SCHNEER (Hg.), Toward a History of Geology, Cambridge 1969, 80–99, hier 97 ff. 13 Wobei jedoch besonders die mit einer schwarzen Hautfarbe versehenen Nachkommen Chams als hereditär erheblich belastet empfunden wurden; vgl. ALEXANDER PERRIG, Erdrandsiedler oder die schrecklichen Nachkommen Chams, in: THOMAS KOEBNER & GERHART PICKERODT (Hg.), Die andere Welt: Studien zum Exotismus, Frankfurt a. M., 1987, 31–87. Diese Minderwertigkeit sei ihnen von europäischen Kaufleuten und Missionaren so lange vorgepredigt worden, „bis diese schließlich selber an den Fluch des verkaterten Noah zu glauben anfingen […].“ Ebd., 52. 14 CHRISTOPH MEINERS, Grundriß der Geschichte der Menschheit. Zweyte sehr verbesserte Ausgabe, Lemgo 1793, 30. 15 EDWARD TYSON, Orang-Outang, sive Homo Sylvestris: or, the Anatomy of a Pygmie compared with that of a Monkey, an Ape, and a Man. To which is added, a Philological Essay Concerning the Pygmies, the Cynocephali, the Satyrs, and Sphinges of the Ancients, London
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Tierwelt und Menschheit verschwimmen ließ. Selbst die drei Naturreiche, seit Aristoteles als diskret gedacht und eng mit einer spezifischen Auffassung der Seelenfähigkeiten von Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen verbunden, gerieten unter Druck, als sich plötzlich Hybridwesen fanden, die weder Pflanze noch Tier zu sein schienen. Solche biologischen Befunde wurden jedoch stets auch unter einem anthropologischen Paradigma weitergedacht, das der Neigung des 18. Jahrhunderts, Beweiskraft in Analogien zu erblicken, entsprang: Überwand der Süßwasserpolyp die Grenze zwischen Tier- und Pflanzenreich, mochte mit dem Orang Ähnliches auch für Mensch und Tierreich gelten.16 Man hat es also im 18. Jahrhundert mit einer Überflutung durch neuartige Fakten und Erkenntnisse aus dem Naturreich zu tun, und diese war zunächst kaum eindämmbar: Adäquate Systematiken, die den Überfluss an Information auf ein handhabbares Maß reduzierten, existierten nicht, und erst langsam begann sich in einem erbitterten Wettstreit der Systeme die von Linné 1735 vorgeschlagene und in vielfachen weiteren Auflagen modifizierte Taxonomie durchzusetzen. Stattdessen ist insbesondere das zweite Drittel des 18. Jahrhundert die Hochphase der Naturgeschichte, einer heute verschwundenen, oder besser desintegrierten, Wissenschaftsdisziplin. Sie gewann eine vorübergehende Deutungshoheit in anthropologischen Fragen, bis diese, etwa ab 1770, allmählich wieder von den reformierten Disziplinen der Physiologie, Anatomie und Medizin übernommen wurde, die sich dann zur oben erwähnten Anthropologie des 19. Jahrhunderts verbanden. Der Terminus Naturgeschichte, vor allem in Bezug auf den Menschen, konnte sich jedoch bis ins 19. Jahrhundert erhalten17: Er wurde jetzt allerdings oft synonym mit Anthropologie gesetzt, und die Fixierung auf physiologisch-anatomische Elemente ist deutlich erkennbar. So definierte der Mediziner und Anatom KARL ASMUND RUDOLPHI 1821 im Grundriss der Physiologie seinen Gegenstandsbereich, indem er Anthropologie und Naturgeschichte des Menschen in eins setzte: Die Anthropologie oder die Naturgeschichte des Menschen vergleicht diesen mit den übrigen Geschöpfen, hebt die eigenthümlichen Merkmale heraus und bezeichnet dadurch seine Stelle im Natursystem; zweitens aber vergleicht sie auch die Völker der ganzen Erde unter einander […].18
Rudolphi hatte allerdings nachweislich nicht jene Ausprägung der Naturgeschichte im Sinn, wie sie das Werk Buffons verkörperte, fügte er doch hinzu: „Die Naturgeschichte des Menschen bedurfte so großer Fortschritte in so vielen Hülfs1699. Tyson hatte nach der Sektion eines Menschenaffen, wohl eines jungen Schimpansen, eine Liste von 48 Punkten erarbeitet, nach denen dieser eher einem Menschen als einem Affen gliche; dem standen 34 wesentliche Unterschiede gegenüber. 16 Vgl. LEON POLIAKOV, Le fantasme des êtres hybrides et la hiérarchie des races aux XVIIIe et XIXe siècles, in: Hommes et bêtes, Entretiens sur le racisme. Actes du colloque tenu du 12 au 15 mai 1973 au centre culturel international de Cerisy-la Salle, hg. v. LEON POLIAKOV, Paris; La Haye 1975, 167–181. 17 Tatsächlich findet sich bis heute eine Unzahl wissenschaftlicher Beiträge, insbesondere anglo-amerikanischer Provenienz, die den Begriff natural history erhalten. 18 KARL ASMUND RUDOLPHI, Grundriss der Physiologie, 2 Bde., Berlin 1821–1828; hier Bd. 1, 21.
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wissenschaften, dass sie erst sehr spät zu einiger Bedeutung gekommen ist.“19 Folgerichtig versah 1831 auch RUDOLPH WAGNER – der zwei Jahre später Blumenbach als ordentlicher Professor der Physiologie, vergleichenden Anatomie und Zoologie ersetzen sollte, was seine Forschungsschwerpunkte deutlich macht – die Naturgeschichte des Menschen mit dem Untertitel Handbuch der populären Anthropologie.20 Naturgeschichte wird hier zu einer vom streng wissenschaftlichen Standpunkt betrachtet sozusagen verwässerten und damit populären Form der Anthropologie, deren Erkenntniskern für Rudolphi wie Wagner zweifellos die physiologisch-anatomische Komparation und damit dem Laien nur noch schwer zugängliche Aspekte bildeten. War zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Anthropologie-Naturgeschichte also – man muss sagen, wieder – zu einer Disziplin geworden, die eine hohe Affinität zum medizinischen Feld aufwies, war dies im 18. Jahrhundert durchaus nicht der Fall. So beschreibt Lepenies eine überaus erhellende Anekdote: Der Göttinger Medizinprofessor August Gottlieb Richter, Mitglied einer Lesegesellschaft, hatte sich ein vom aktuellen Messekatalog angepriesenes „seltenes Produkt der Naturgeschichte“ bestellt, zeigte sich aber „sehr betroffen […], als man ihm einen Roman gebracht habe, wo er nichts von verstanden hätte.“21 Man kann die Hilflosigkeit Richters nur verstehen, wenn man bedenkt, dass der Naturgeschichte im eigentlichen Sinn streng systematisches und kategorial reduzierendes Denken, wie es etwa die komparative Anatomie einforderte, fremd war: Sie wollte „ein Verzeichnis und die Beschreibung der zu dem Naturreiche gehörigen Körper“22 liefern, und dies möglichst vollständig, möglichst ohne Reduktion: Die Histoire Naturelle Buffons, begonnen 1749 und fraglos das rezeptionshistorisch bedeutsamste Werk seiner Zeit, erreichte schließlich, Supplemente eingerechnet, einen Umfang von 49 voluminösen Bänden. Genereller Leitgedanke blieb dabei lange die Idee einer in unzähligen Schritten graduierten Natur, einer Kette der Wesen, die beim unbelebten und unorganisierten Mineral begann und unmerklich bis zum Menschen, dem irdischen Endpunkt dieser Kette, aufstieg. Diese Leitvorstellung gab gleichzeitig auch das Untersuchungsziel vor: Die einzelnen Kettenglieder sollten möglichst vollständig bestimmt, fehlende Glieder, insbesondere zwischen den Naturreichen, gefunden und integriert werden. Es ist leicht vorstellbar, dass ein solcher Ordnungsversuch, 19 Ebd., 21 f. Rudolphis Sicht lässt sich über die von diesem gelieferte Literaturliste konkretisieren (ebd., 22): Frühester Bezugspunkt ist Blumenbachs De generis humani varietate nativa von 1776. Auf Blumenbach wird weiter unten noch einzugehen sein. Seine hier genannte Dissertationsschrift, deren Basis eine Analyse der Schädelsammlung des Göttingers bildete, markierte jedenfalls einen deutlichen Umschlag in der Naturhistorie, weil anatomische und physiologische Gesichtspunkte in den Vordergrund traten. 20 RUDOLF WAGNER, Naturgeschichte des Menschen. Handbuch der populären Anthropologie für Vorlesungen und zum Selbstunterricht, Erster Theil: Bau und Leben des Leibes, Kempten 1831. 21 LEPENIES, Naturgeschichte und Anthropologie, 21. Das besagte Buch war das 1781 erschienene Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte von FRIEDRICH HEINRICH JACOBI, eine „Naturgeschichte des Menschen in Romanform“. Ebd., 22. 22 WOLF LEPENIES, Das Ende der Naturgeschichte, Franfurt a. M. 1978, 30.
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der gleichsam ohne Schubladen auszukommen gedachte, letztlich fehlschlagen musste, denn jede Neuentdeckung barg die Gefahr in sich, die Dominokette zu Fall zu bringen und als Ganzes in Frage zu stellen.23 Der Gedanke, ein geschlossenes und auch in Zukunft tragfähiges System zu erstellen, lag Buffon jedoch ohnehin fern: Stattdessen waren es auch literarische Gesichtspunkte, der Witz oder style, welche die Bedeutung der Werke bestimmten. Bezugspunkt der Naturgeschichte blieb stets der Mensch, der als einziges Wesen aus dieser herausragte: Physisch gehörte er für Buffon wie Linné zwar zum Tierreich, aber die Vernunft hob ihn über alle anderen Kreaturen weit hinaus: ein homo duplex, der eine unüberbrückbare Kluft zur übrigen Schöpfung aufriss. Seine materiell-körperliche Seite wurde zum uneingeschränkten Untersuchungsfeld, während die Seele als immaterielle Substanz zwar als gegeben hingenommen wurde, der naturkundlichen Forschung aber nicht offen stand.24 Jedoch belegt nicht nur die Position des Menschen die Anthropozentrik der Naturgeschichte, sondern auch das angestrebte Ordnungssystem als Ganzes: Nicht vom eigenen Standpunkt abgelöste Objektivität, sondern „menschliche Erfahrungswirklichkeit“25 bilden den Bezugspunkt für die gesamte Natur. Eine Anthropologie eigenen Rechts konnte sich hier daher, folgt man Lepenies, nicht ausbilden26 – es sei denn, man verstünde die gesamte Naturgeschichte als eine solche. Klammerte man also die Seele aus, die ohnehin per definitionem gegen jede Wandlung immun schien, konnte sich schließlich zaghaft der Blick auf eine temporale Sicht des Menschen öffnen, den das 19. Jahrhundert dann voll ausformte. Ein solcher Entwicklungsgedanke konnte sich umso leichter entfalten, als mit den Wilden eine Fülle von Vergleichsobjekten vorlag.27 Deren räumliche Trennung wurde allmählich in eine temporale umgedeutet, die „zivilisationslosen“ Gesellschaften schienen den Blick auf den vorgeschichtlichen Zustand des Europäers zu öffnen: Ethnologie und Prähistorie fielen in diesem Denken zusammen. In der Wahrnehmung der Wilden zeigen sich dabei zwei große Rezeptionsmuster: Sie konnten als defizient, vielleicht sogar degeneriert gelten; sie konnten aber auch zum strahlenden Muster des Menschen, dem bon sauvage, werden, der noch im Einklang mit seinen natürlichen Bedürfnissen lebte, ohne von den Fehlentwicklungen der Kultur und Zivilisation korrumpiert worden zu sein – die Folge jenes großen primitivistischen Missverständnisses, das Rousseaus Discours sur l’inégalité ausgelöst hatte. Allerdings war man sich durchaus bewusst, dass auch 23 Vgl. ebd., 63. 24 „Buffon fonde son analyse philosophique sur le dualisme cartésien […]. Il s’agit donc ‚de reconnaître nettement la nature des deux substances qui nous composent […]’.“ JACQUES ROGER, Buffon, Paris 1989, 211. 25 LEPENIES, Naturgeschichte und Anthropologie, 23. In der Tat läuft der mit einer modernen biologischen Grundbildung versehende Leser Gefahr, sich in Buffons Werk zu verirren, weil Gattungen nicht am erwarteten Platz stehen: „Ist es nicht besser, den Hund, der fünfzehig ist, dem Pferd, das einhufig ist, folgen zu lassen, als das Zebra, das uns schlecht bekannt ist und das vielleicht keine andere Beziehung zum Pferd hat, als daß es einhufig ist?“ 26 Ebd., 25. 27 Vgl. hierzu etwa DICKASONS Übersichtsdarstellung: OLIVE PATRICIA DICKASON, The myth of the savage and the beginnings of French colonialism in the Americas, Edmonton 1984.
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die Völker der Südsee oder Afrikas bereits gesellschaftlich verfasst und damit einer Tradition unterworfen waren, die den Naturmenschen bereits überlagerte. Wenn mit Aristoteles auch häufig der Gesellschaftszustand als dem Menschen eigentümlich angesehen wurde, stellte sich doch die Frage, welche Phänomenologie der Mensch ohne deren Einwirkungen aufweisen würde oder, der gleiche Gedanke in temporalisierter Form, aufgewiesen haben musste. Hätte man einen Vertreter solcher Art, einen wahrhaften homme sauvage zur Verfügung gehabt, so glaubte man, mussten sich viele der dringendsten anthropologischen Fragestellungen lösen lassen: Verfügte der Mensch, wie Descartes behauptet und Locke abgestritten hatte, über angeborene Ideen, idées innées, etwa eine Vorstellung von Gott? Woher kam und wie entstand die Sprache? Wie stand es mit der Vernunft? Wie war es um das Verhältnis der beiden bestellt? War der Hang zur Gesellschaft natürlich oder erst erworben? Hatte die Gesellschaft zur Sprache geführt, oder umgekehrt? War überhaupt die körperliche Gestalt des Menschen, und die spezifischen Fähigkeiten die er aus dieser bezog, von Beginn an vorhanden, oder hatte sich diese entwickelt? War der Mensch möglicherweise von Natur aus quadruped, wie auch Linnés Einordung nahe legte? Wie bestimmend war die Erziehung? Wie groß die natürliche Gleichheit? Auch wenn viele der Fragen eher in den Bereich der Pädagogik gehörten, und Sprache und Vernunft auch zur Domäne der Philosophie gerechnet werden mussten, konnte sich doch vor allem der Naturgeschichtler berufen fühlen, Streitpunkte solcher Art durch Abgleich der empirischen Daten entscheiden zu dürfen. Dabei standen dreierlei Quellen zu Verfügung: Die in den Kabinetten und Menagerien versammelten Kuriosa, Reiseberichte und die literarische Tradition, auch und gerade der Antike. Diese Liste verkürzte sich jedoch für die meisten Naturhistoriker: Wer nicht gerade, wie Buffon als Intendant des jardin du Roi, in der Situation war, direkt auf Realia zugreifen zu können, dem bot sich nur der Rekurs auf Literatur, deren Verlässlichkeit oft fragwürdig war.28 Überhaupt bildete sich über das 18. Jahrhundert eine eigentümliche naturkundliche Epistemologie heraus, die sich etwa bei s’Gravesande – einem der Lehrer Peter Campers – deutlich greifen lässt und deren Fundamente bei Newton lagen. Cartesianische Zweifel an der Verlässlichkeit empirischer Befunde wurden damit weitestgehend abgeschüttelt, wenn auch apriorische Konstruktionen nie ganz verschwanden: S’Gravesande hielt die Informationen, die durch die Sinnesorgane gewonnen wurden, grundsätzlich für verlässlich. Die natürlichen Grenzen der Wahrnehmung konnten zudem technisch verschoben werden, etwa durch den Einsatz der Mikroskopie. Gewissheiten zerfielen damit in zwei Kategorien: Apriorisch-mathematische und, für die Naturkunde zunächst weit bedeutender, empiri-
28 Campers Bericht über die Sprachorgane der Affen ist sehr erhellend: Zu jedem der von ihm sezierten Objekte erhält der Leser eine ausführliche Fund- und Überführungsgeschichte, die den Seltenheitswert überaus klar macht; vgl. PETER CAMPER, Account of the Organs of Speech of the Orang Outang, in: Philosophical Transactions, of the Royal Society of London, Vol. LXIX: 1 (1779), London 1779, 139–159.
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sche.29 Letztere konnten sich auf die sinnliche Wahrnehmung, die Beobachtungen anderer und schließlich die Analogiebildung stützen. Bei eigenen Beobachtungen war strikteste Akkuratheit zu wahren, technische Hilfsmittel waren, wo immer nötig und möglich, in Anspruch zu nehmen. Da die individuelle Lebensspanne aber viel zu kurz, und die individuelle Begabung unterschiedlich war, kam man nicht umhin, bereits existierende Forschungsergebnisse mit einzubeziehen. Zwar warnte etwa Camper seine Studenten eindringlich, hier in eine quasi-scholastische Autoritätsgläubigkeit zurückzufallen: In der Praxis jedoch entwickelte sich durchaus ein Hang, große Namen und große Verlässlichkeit gleichzusetzen, oder, ebenso problematisch, eine Eklektik, in der aus dem rasch wachsenden Bestand an Reiseliteratur das gerade Passende herausgesucht wurde, ohne grundlegende hermeneutische Verfahrensweisen einzuhalten. Hinzu kommt, dass in der Regel nicht direkt aus den Primärquellen, sondern aus Kompilationen geschöpft wurde, die ihrerseits bereits tendenziös sein konnten. GIERL sieht für das 18. Jahrhundert einen generellen Umschlag in der geisteswissenschaftlichen Methodik, den er mit dem Schlagwort „Kompilation produziert Autorität“ beschreibt und als Reflex auf den enorm gewachsenen Literaturfundus versteht. Selbst der Fachwissenschaftler habe sich keinen vollständigen Überblick über die Publikationen mehr verschaffen können, erst die Kompilation die Erkenntnisflut wieder wissenschaftlich handhabbar gemacht. Eine solche „Wissensadministration“ habe aber, da eine möglichst große Vollständigkeit in der Reproduktion der Standpunkte angestrebt worden sei, unausweichlich eine „antidogmatische Ausrichtung“ besessen.30 An die Stelle der direkten Auseinandersetzung „Streitschrift auf Streitschrift“ sei das „Aufsetzen der eigenen Position auf das […] zusammengefügte Material“ getreten.31 Konnte man mit dem Rückgriff auf Literatur also gleichsam die Vergangenheit als Quelle anzapfen, ermöglichte die Analogiebildung den Blick in die Zukunft. Denn setzte man voraus, dass Gott jene eigenen Regeln, die der Naturforscher gerade mühsam eruiert hatte, einhielt, dann konnte man die gewonnene Basis auf andere Phänomene übertragen. Die Korrektheit dieser Analogien, von denen die Literatur der Zeit geradezu überschwemmt ist, stand jedoch auf einem noch wackligeren Boden: Sie hing auf Wohl und Wehe von der fachlichen Kompetenz des Wissenschaftlers ab. Während Anatomen wie Camper oder Blumenbach aus ihren Studien wissen mochten, dass ganz unterschiedliche morphologische Strukturen – z. B. der Sinnesorgane – durchaus den gleichen Zweck erfüllen konnten, wurde die Sache haarig, wenn weniger versierte Wissenschaftler etwa aus dem Fehlen oder abweichenden Bau eines Organs sorglos auf das Fehlen der
29 Camper hielt eine solche Art von moral evidence für aus der Güte Gottes ableitbar; dieser würde seine Geschöpfe nicht vorsätzlich täuschen. Vgl. MIRIAM CLAUDE MEIJER, Race and Aesthetics in the Anthropology of Petrus Camper (1722–1789), Amsterdam; Atlanta 1999, 28; ich folge hier generell ebd., 27 ff. 30 MARTIN GIERL, Kompilation und die Produktion von Wissen im 18. Jahrhundert, in: ZEDELMAIER & MULSOW, Praktiken der Gelehrsamkeit, 63–94, hier 65 f. 31 Ebd., 89.
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entsprechenden Fähigkeit schlossen.32 War die induktiv-analytische Hypothesenbildung abgeschlossen, konnte also im Anschluss eine synthetische Methode angewendet werden, in der man aus dem so Gefundenen universelle Prinzipien deduzierte. Korrespondierten diese mit dem beobachtbaren Phänomen, war der Erkenntnisweg als abgeschlossen zu betrachten. So dürfen die ausgedehnten Debatten um die Menschenaffen nicht verwundern, obwohl die überwältigende Mehrzahl der Naturhistoriker zeitlebens keinen Orang, nicht ausgestopft und erst recht nicht lebendig, zu Gesicht bekam. Denn Menschenaffen boten einen der nötigen analogen Bezugspunkte zum Entscheid anthropologischer Fragen; ihr Status – waren sie Tiere, Menschen, irgendetwas dazwischen? – wurde kontrovers diskutiert. Die Wilden dagegen konnten aus den oben genannten Gründen zur Beantwortung der Fragen nicht taugen, und die Empirie stieß da an ihre Grenzen, wo sie ethische Gebote verletzte: Menschenversuche, etwa die Isolation Neugeborener33, schienen sich der Mehrzahl der Forscher zu verbieten. Aber es wirft ein bezeichnendes Licht auf die Dringlichkeit, die diesen Fragen zugebilligt wurde, wenn man zur Kenntnis nimmt, was der erklärte Philanthrop BASEDOW 1764 in seiner Philalethie andachte: Noch nützlicher würde es in Ansehung der Erkenntnis unserer Seele seyn, wenn ein grosser Herr zu folgendem Versuche die Erlaubnis und die Kosten geben wollte. Ich stelle mir eine Menge von dreyzig neugebornen Kindern aus beyden Geschlechtern vor, deren Eltern Missethäter sind, welchen man in dieser Absicht das Leben geschenkt hat. Es wird ein vor Raubthieren sicherer Garten erwählt, worinnen sich entweder keine oder nur zahme Thiere auf halten, und worinnen ein Vorrath von Früchten wächst, die zur menschlichen Nahrung geschickt sind. Der Mangel dieses Vorraths muß im Winter durch Hinlegen ersetzt werden. In diesem Garten werden im ersten Jahre die Kinder von Weibern gesäugt, die durch Verkleidung keine menschliche Gestalt haben, und bey grosser Strafe keinen menschlichen Laut von sich geben müssen. Zwischen der Zeit des Säugens überläßt man sie der Erde und sich selbst, obgleich einige davon umkommen werden. […] Diese Gesellschaft der Kinder betrachtet man jeden Tag, ohne von ihnen gesehen zu werden, und hält über alles Bemerkte ein Protocoll. Bey gar zu rauhen Witterungen muß man sie in Sicherheit stellen, bis sie es vielleicht selbst lernen, sich nach den Orten der Sicherheit hinzubegeben. Alle ihnen sichtbare Veranstaltungen müssen durch so verkleidete und stumme Zeugen geschehen. Mit einem Wort, diese Kinder müssen sich bis ins 25ste Jahr selbst überlassen werden, und man muß ihnen durch einige Verlegenheit Anlaß zur Bemühung und Kunst geben. Es wird eine gehörige Anzahl dieser Kinder sonder Zweifel so lange im Leben bleiben, insonderheit wenn man den Abgang in der ersten Kindheit durch andre ersetzt. Nach 25 Jahren muß man einige Erwachsene bey den Kindern lassen, und den um Versuche unnöthigen Überschuß in die menschliche Gesellschaft führen, und glücklich machen. Für ein solches Protocoll über 25, 50 oder 100 Jahre wollte ich all mein Vermögen geben, wenn ich Millionen hätte. Grausam wäre ein solcher Versuch nicht, weder nach der Absicht, noch durch die Ausführung. Die Existenz dieser Kinder, so kurz ihr Leben auch währen mögte, würde doch eine Quelle der Glückseligkeit für sie werden. Ich hoffe fast zuverläßig, ein solches Protocoll würde uns von der itzigen Natur des Menschen, soferne sie durch Instruction nicht verändert wird, solche Dinge offenbaren, die gar nicht zu 32 Die gesamte Debatte um die Sprachfähigkeit der Menschenaffen krankt an diesem Problem, obwohl hier die zeitgenössische crème de la crème der Wissenschaft, Buffon wie Camper, wirkte. 33 Vgl. auch EDUARD SEIDLER, Der Neugeborenenversuch Friedrichs II. von Hohenstaufen, in: Deutsches Ärzteblatt. Ärztliche Mitteilungen, 40 (1964), 2029–2032.
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errathen sind. Dieser Zuwachs für die Erkenntnis könnte für das menschliche Geschlecht von erstaunlichem Nutzen seyn.34
Man darf wohl sicher annehmen, dass es vor allem die Beispiele der Wilden Kinder waren, die Basedow zu seinen Auslassungen getrieben hatten. Ablesen lässt sich daran zweierlei: An ein solches Experiment, oder auch natürliche Unfälle in der geschilderten Form, wurde ein immenses anthropologisches Erkenntnisinteresse herangetragen. Und: Die bis dahin überlieferten Fallgeschichten waren für Basedow unbefriedigend, da sie sich fern eines Protokollanten, und damit außerhalb des Zugriffs normierter empirischer Verfahrensweisen abgespielt hatten – daher die messianischen Erwartungen, die sich 1800 an Victor knüpften. So waren es denn tatsächlich die überlieferten und im 18. Jahrhundert neu hinzukommenden Fälle der Wilden Kinder, die zur Erstellung, Absicherung oder Infragestellung wissenschaftlicher Postulate in Frage kamen. Ihre Beförderung von der Randbemerkung zum topischen Element vollzieht sich innerhalb wenig mehr als eines Jahrzehnts. Sie verband sich mit so großen Namen und so neuartigen Konzepten, dass ihre spätere Prominenz schon von hier eine Erklärung findet: LA METTRIE und CONDILLAC hatten 1745/46 in der Histoire naturelle de l’âme und dem Essai sur l’origine des connoissances humaines auf sie zurückgegriffen; ihnen folgten 1749 BUFFONS Histoire naturelle, 1755 ROUSSEAUS Discours sur l’inégalité und schließlich 1758 die zehnte Auflage von LINNÉS Systema Naturae. Bis gegen Ende des Jahrhunderts irrlichtern die Kinder dann durch jene wissenschaftlichen Disziplinen, die sich die Erkenntnis des Menschlichen auf die Fahnen geschrieben hatten: Pädagogik, Philosophie, Linguistik – und eben die Naturgeschichte. Der Aufbau des vorliegenden Kapitels folgt dieser Feststellung: Zunächst wird die Rolle diskutiert werden, welche die Wilden Kinder für die angesprochenen Wissenschaftler und deren Konzeptionen spielten; anschließen wird sich eine exemplarische Untersuchung ihres Einflusses auf die wissenschaftliche Entwicklung im deutschen Sprachraum. 4.1. NATURZUSTÄNDE Jegliche Form der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit naturgeschichtlichen Themen fußte im 18. Jahrhundert letztlich noch auf aristotelischen Ansätzen, auf die auch die Einteilung der Natur in drei Reiche zurückgeht.35 Neben der grundlegenden Unterscheidung zwischen unbelebter (Mineralien) und belebter 34 JOHANN BERNHARD BASEDOW, Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung dem denkenden Publico eröffnet […], 2 Bde., Altona 1764; hier Bd. 1, 252 f. Bezeichnenderweise gehen dieser Passage – im Einklang mit Poliakovs These – Auslassungen über die Unzuverlässigkeit der biblischen Tradition voran, die sich für Basedow u . a. in der Entdeckung des Süßwasserpolypen spiegelten. 35 Die Entwicklung dieser Naturwissenschaft zeichnen etwa ÄNNE BÄUMER, Geschichte der Biologie, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1991 oder, leicht greifbar und konziser, ILSE JAHN, Grundzüge der Biologiegeschichte, Jena 1990 nach.
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Materie (Pflanzen und Tiere) entwickelte Aristoteles in seiner Seelenlehre ein tragfähiges Konzept zur weiteren Systematisierung und Hierarchisierung alles Belebten, das bis weit ins 19. Jahrhundert hinein, wenn auch häufigen terminologischen Anpassungen unterworfen, den wissenschaftlichen Diskurs bestimmte.36 So besitzen Pflanzen zunächst nur eine anima nutritiva oder Ernährungsseele, die das Wachstum bedingt. Bei den Tieren tritt zu dieser die anima sensitiva (Empfindungsseele), die sinnliche Wahrnehmung und, damit zusammenhängend, etwa die Fähigkeit des Ortswechsels ermöglicht. Nur der Mensch verfügt schließlich mit der anima intellectualis oder rationalis (Vernunftseele) über die Fähigkeit des Denkens und damit aller Formen höherer Erkenntnis. Aristoteles hatte so ein Stufenmodell vorgelegt, in dem die jeweils höhere Form die niedrigere(n) integrierte. Allein der Mensch war aller Seelenqualitäten teilhaftig, während der Rest der belebten Schöpfung nur auf eingeschränkte Vermögen zugreifen konnte. Auch fiel die anima intellectualis aus der Einheit der organischen Natur heraus: Entstanden nicht aus Zeugung, sondern präexistenter göttlicher Funken in uns, ist dieser Teil der Seele „getrennt vom Seienden, leidet nicht durch es und mischt sich nicht mit ihm.“37 Zur Repräsentation des Aufbaus der natürlichen Ordnung behielt Aristoteles generell das schon platonische Prinzip der enkaptischen Gliederung bei38, ersetzte dessen strikte Dichotomie jedoch durch eine, seiner Meinung nach, die Natur besser kennzeichnende mehrfache Diairese. Die seit dem Mittelalter zusätzlich religiös überwölbte Bestimmung des Begriffes „Mensch“ gestaltete sich in diesem Denkmuster wie folgt und war im 18. Jahrhundert ein Schulbeispiel: Ausgehend vom höchsten Begriff der Substanz erfolgte zunächst eine Scheidung in materiell und nicht-materiell (Engel). Materie konnte nun entweder tot (Mineralien) oder lebendig (Pflanzen, Tiere) sein, die lebendige Materie wiederum fühlend (Tier – animal) oder gefühllos (Pflanze). Fühlende Organismen zerfielen dann letztlich noch in unvernünftige Tiere (bruta) und vernünftige, wobei der letzte Platz dem Menschen reserviert blieb – ein materielles, lebendes, fühlendes und denkendes Wesen, oder, kürzer, ein animal rationale. Um zu einer klaren begrifflichen Scheidung zu gelangen wurde ein binomisches System verwendet: Dem allgemein treffenden Oberbegriff (genos; hier also: animal) wurde das unterscheidende Attribut, die differentia specifica (eidos; hier rationale) beigeordnet.
36 Christlicher und aristotelischer Seelenbegriff sind klar zu trennen: „Seele ist für Aristoteles die Vermögen des Menschen oder des Tiers, die nicht aus einer Organisationsform der Materie entstanden sind, sondern die ihrerseits Materie organisieren und sich durch die so organisierte Materie verwirklichen, aktualisieren.“ ARBOGAST SCHMITT, Mensch und Tier bei Aristoteles, in: Tier und Mensch. Unterschiede und Ähnlichkeiten (Studium Generale der Joh. Gutenberg Universität (Mainz), Mainzer Universitätsgespräche, SS 1992 und WS 1992/93), hg. v. GÜNTER EIFLER, O. SAAME & P. SCHNEIDER, Mainz 1993, 177–213; hier 211. 37 MICHAEL LANDMANN, De homine, 87. 38 Ein logisches Denkschema von Ober- und Unterbegriffen in absteigender Reihenfolge, in dem durch die fortlaufende Trennung eines Oberbegriffs in zwei Unterbegriffe das letztlich nicht mehr teilbare Einzelne gefunden wird.
4.1. Naturzustände
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Die Trennung des Menschen von den Tieren warf in diesem Gedankengebäude jedoch eine Schwierigkeit auf. Zwar war der Unterschied einerseits fundamentaler Natur: Wie oben beschrieben verfügte nur der Mensch über die anima rationalis. Andererseits führte die aristotelische Definition aber automatisch zu einer physiologischen Annäherung an die Tierwelt, da der Mensch eben auf höherer Ebene dem Genos animal zuzurechnen war. Aristoteles erhielt einerseits den schon von Platon vorgeformten Leib-Seele-Dualismus des Menschen aufrecht, obwohl andererseits sein Stufenmodell der Seelenqualitäten denselben deutlich relativierte. Dies führte bereits hier zu dem erkenntnistheoretischen Problem, dass die differentia specifica der Gattung Mensch – die anima rationalis – dem Gegenstandsbereich der Naturgeschichte entzogen und empirisch nicht greifbar war. Da auch Aristoteles der Ansicht war, dass die Physis letztlich nur Ausdruck der Wesensform des Ganzen sei und damit die Organe und die allgemeine körperliche Verfassung eines Wesens als Werkzeuge zum Erreichen eines Telos verstand39, setzte schon in der Antike eine Glorifizierung der körperlichen Eigenschaften des Menschen ein40: Die Sprache und der aufrechte Gang mit erhobenem Haupt gerieten zum Nachweis der Verbindung des Menschen mit dem Göttlichen; letzterer erlaubte zudem die gezielte und kreative Verwendung der Hände. Das Gehirn galt als größer und qualitativ von den Tieren deutlich unterschieden, das Blut war wärmer und reiner – was auf Edelkeit, Tapferkeit und Klugheit verwies – und der Tastsinn erschien sensibler.41 Parallel dazu hielt sich jedoch eine gegenteilige Deutung, die auf Protagoras, Demokrit und Anaxagoras zurückging und den Menschen nicht als zumindest partiell der natürlichen Ordnung entrückt dachte, sondern vollkommen ins Tierreich integrierte.42 Aus dieser Perspektive geriet der Mensch nicht zur Krönung der Schöpfung, sondern zu einem mit vielfältigen körperlichen Defiziten behafteten Wesen. Weder verfügte er über besondere körperliche Kräfte, noch über ein Fell, das ihn gegen die Härten des Klimas schützte. Noch nicht einmal besaß er einen sicheren Instinkt zur Nahrungssuche. Und auch bezüglich der Vernunft war der Mensch nicht aus der Schöpfung herausgehoben, zeigten sich doch bei vielen Tieren, etwa dem Biber oder den Affen, ähnliche, nur graduell abfallende Begabungen. Die Sprache, wie beispielsweise einige Vogelarten zeigten, schied als sicheres Differenzkriterium ebenso aus. Es sind diese Sichtweisen, aus denen sich eine die Jahrhunderte überdauernde und im 18. Jahrhundert viel diskutierte Auffassung entwickelte: Die gesamte 39 Bei Aristoteles findet sich daher auch ein Startpunkt der Physiognomik; ARISTOTELES, Wesens-Erkundung, in: DERS., Kleine Schriften zur Naturgeschichte, Paderborn 1961, 82– 108. 40 „Both internally and externally man’s body generally matched his soul and his intellect, being in a class of its own. Our body was seen to be ideally suited for its task, a miracle of practicability, a compendium of the Creation in its entirety, a microcosm, something at which truly to marvel […].” GUNNAR BROBERG, Homo Sapiens. Linnaeus’ Classification of Man, in: TORE FRÄNGSMYR u.a. (Hg.), Linnaeus. The man and His Work, Berkeley u. a. 1983, 161. 41 Vgl. LANDMANN, De homine, 85. 42 Vgl. URS DIERAUER, Mensch und Tier im griechisch-römischen Denken, 37–85; hier 45 f.
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Natur sei als ein Kontinuum zu denken, sie steige in unmerklichen Gradationen und ohne Brüche vom unorganisierten Mineral bis zum Menschen auf, bilde eine scala naturae.43 Unterschiedlich zu beurteilen blieb nur der irdische Endpunkt dieser Kette. Auf der Basis dieser Theorie konnte sich für die Naturgeschichte ein klares Forschungsziel entwickeln: Die Erstellung eines Gesamtinventars der Natur, dessen Einzelelemente in eine klare Rangfolge zu bringen waren. Obwohl der Gedanke der scala naturae in dieser Extremform bei Aristoteles nicht auftaucht, war es durchaus möglich, ihn mit dessen Grundpositionen in Übereinklang zu bringen. Die drei Reiche der Natur konnten als künstlich-nominalistisches Ordnungskriterium erhalten bleiben, hatte sie doch schon Aristoteles als durch Bindeglieder verbunden gedacht. Auch die von diesem vorgeschlagene empirische Methodik blieb anwendbar. Nur vom Einzelnen ausgehend und dieses gezielt untersuchend schien es möglich, die Natur tatsächlich wahrheitsgemäß widerzuspiegeln. Eine weitere Unterfütterung erhielt die Idee einer linearen Kette von der Monadenlehre Leibniz’, der, wiederum auf bereits antike und mittelalterliche Denkschemata zurückgreifend, drei entscheidende Prinzipien erkannt zu haben glaubte: Sollte die Natur, als Produkt eines allgewaltigen und unfehlbaren Schöpfers, als perfekt gelten können, musste sie alle denkbaren Lebensformen enthalten (Prinzip der Fülle). Daraus folgte eine Kontinuität der Einzelwesen, die sich nach ihrem Perfektionsgrad auf einem bestimmten Punkt der scala naturae lokalisieren lassen mussten (Gradation). In einem solchen metaphysisch fundierten Konzept kam dem Artbegriff – und erst recht allen höheren Gruppenkategorien – bestenfalls noch eine ordnende, in der Regel aber schlicht die Realität verzerrende Funktion zu. Was die Ablehnung der realen Existenz von Arten anging, konnten sich also das idealistische Konzept Leibniz’ und der sensualistisch fundierte Nominalismus Lockes die Hand reichen. CHARLES BONNETS Konzept der échelle des êtres, aufgebracht im Traité d’insectologie und schließlich in der Contemplation de la Nature44 voll entwickelt, basierte auf diesen Ideen, nahm für sich aber gleichzeitig naturkundliche Präzision in Anspruch. Für Bonnet bestand die Natur aus einer kaum zu bemessenden Zahl von Individuen, die alle voneinander abwichen.45 Auch die Trennung der drei Reiche war eine reine Konstruktion: „Le Polype enchaîne le Végétal à l’Animal. L’Ecureuil-volant unit l’Oiseau au Quadrupède. Le Singe touche au Quadrupède & à l’Homme.“46 Mochten solche Polypen und Flughörnchen die Grenzen der Reiche oder Ordnungen auch zum Einsturz bringen, die zeitgenössische Diskussion feuerte etwas anderes an: Zwar stand der Mensch immer noch an 43 Die historische Wirkmächtigkeit der Leitervorstellung ist bereits von ARTHUR O. LOVEJOY, The Great Chain of Being einer eingehenden Analyse und Deutung unterzogen worden. 44 CHARLES BONNET, Traité d’insectologie ou Observations sur les pucerons, Paris 1745; DERS., Contemplation de la Nature, 2 Bde., Amsterdam 1764. 45 „Entre le dégré le plus bas & le dégré le plus élevé de la Perfection corporelle ou spirituelle, il est un nombre presqu’infini de dégrés intermédiaires. La suite de ces dégrés compose la Chaîne universelle.“ BONNET, Contemplation, Bd. 1, 27. 46 Ebd., 29.
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der Spitze der natürlichen Ordnung – soweit sie den Sinnen greifbar war –, wurde von dieser aber, auch graphisch deutlich sichtbar, nicht mehr abgetrennt.47 Unmittelbar unterhalb folgten die Menschenaffen, dann die Vierfüßer, Vögel usw.
Illustration der unilinearen Kette in CHARLES BONNET, Traité d’insectologie, ou observations sur les pucerons, Bd. 1, Paris 1745, nicht paginierte Falttafel. Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg, Frankfurt, 8° Q 346.5433. 47 „UN SEUL ETRE est hors de cette chaîne, & c’est CELUI qui l’a faite. Un nuage épais nous dérobe les plus belles parties de cette Chaîne immense […].“ Ebd., 27 f.
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Diese unilineare Vorstellung blieb allerdings kritikanfällig, denn zwar konnte Bonnet die Position des Orang Utang mit den großen körperlichen Ähnlichkeiten rechtfertigen, die fehlende Sprachbegabung der Menschenaffen hätte aber möglicherweise die Vögel als unmittelbares Folgeglied ebenso wahrscheinlich erscheinen lassen. CHARLES WHITE versuchte diese Einwände daher über eine eher netzartige, und damit weitaus komplexere Struktur zu entkräften: […] there is general gradation from man through the animal race; from animals to vegetables, and through the whole vegetable system. By gradation, I mean the various degrees in the powers, faculties, and organization. The gradation from man to animal is not by one way; the person and actions descend to the orang-outang, but the voice to the birds, as has been observed.48
Mit ROBINETS De la Nature49 hatte die Vorstellung von einer Kette der Wesen zuvor ohnehin nochmals eine neue Wendung erhalten: Sie wurde durch die Annahme, dass die Spezies eine naturgesetzliche Perfektionierung durchliefen, zu einer Art Leiter, auf der die Arten – im Rahmen ihrer Möglichkeiten und Anlagen – emporklommen. Die Temporalisierungstendenzen wurden nun auch in der Naturgeschichte deutlich greifbar. Trotz der augenscheinlichen Probleme blieb die Idee einer Kette der Wesen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert vorherrschende Meinung. Zudem eignete sich die Idee einer kontinuierlichen Gradation bis weit ins 20. Jahrhundert hinein um die „Menschenrassen“, häufig verbunden dann mit polygenistischen Ansätzen, in eine qualitativ-wertende Rangfolge zu bringen.50 4.1.1. Buffon: Eine wilde Romanze Prinzipiell schien diese Ketten- oder Leiteridee auch im Einklang mit den Grundlinien der Histoire Naturelle BUFFONS51 zu stehen. Sie war für das 18. Jahrhundert, und speziell auch den deutschen Raum, von einer kaum zu überschätzenden Wirkmächtigkeit: Mit ihr ging eine „profane Auffassung einer naturhistorischen 48 CHARLES WHITE, An Account Of The Regular Gradation In Man, And In Different Animals And Vegetables; And From The Former To The Latter, London 1799 [ND London; New York 2001/2006]. 49 JEAN BAPTISTE RENE ROBINET, De la Nature, 4 Bde., Amsterdam 1761–66; vgl. dazu auch LOVEJOY, Chain of Being, 271 ff. 50 Vgl. hierzu MEIJER, Race and Aesthetics, 139 ff. Zur Bedeutung des Aufklärungsdenkens für den Rassismus des 19. und 20. Jahrhunderts vgl. LÉON POLIAKOV, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg 1993, 179 ff. Poliakov stellt selbst bei den „gemäßigten Anthropologen“, also den Monogenetikern, eine rassistische Tendenz fest, wobei die Idee, auch unter den „Menschenrassen“ existiere eine Hierarchie, klar auf das zu Grunde liegende Denkmuster einer allumfassenden Kette zurückzuführen sei. Vgl. ebd., 182 ff. 51 BUFFON, Histoire naturelle; die Ausgabe ist auch in digitalisierter Form verfügbar: Buffon @ Web, http://www.buffon.cnrs.fr/. Deutsche Übersetzung als Allgemeine Historie der Natur, nach allen ihren besonderen Theilen abgehandelt: nebst einer Beschreibung der Naturalienkammer Sr. Majestät des Königs von Frankreich. Mit einer Vorrede Herrn Doctor Albrecht von Haller[s], 8 T. in 16 Bde., Hamburg und Leipzig 1750–1774.
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Bestimmung des Menschen“ einher, die sich, so DOUGHERTY, strikt gegen die nur zögerlich vom Wolffianismus verdrängte traditionelle theologische Anthropologie gewandt habe.52 Der Premier Discours (De la manière d’étudier & de traiter l’Histoire Naturelle) präzisierte die methodologischen und epistemologischen Prämissen des Werkes Buffons.53 Sie ergeben sich aus einer Analyse der parallel vorgeschlagenen künstlichen Systematiken, deren Realitätsferne, und damit wissenschaftliche Unzuverlässigkeit, scharf kritisiert wird: […] on voit clairement qu’il est impossible de donner un système général, une méthode parfaite, non seulement pour l’Histoire Naturelle entière, mais même pour une seule de ses branches; car pour faire un système, un arrangement, en un mot une méthode générale, il faut que tout y soit compris; il faut diviser ce tout en différentes classes, partager ces classes en genres, sous-diviser ces genres en espèces, & tout cela suivant un ordre dans lequel il entre nécessairement de l’arbitraire. Mais la Nature marche par des gradations inconnues, & par conséquent elle ne peut pas se prêter totalement à ces divisions, puisqu’elle passe d’une espèce à une autre espèce, & souvent d’un genre à un autre genre, par des nuances imperceptibles; de sorte qu’il se trouve un grand nombre d’espèces moyennes & d’objets mi-partis qu’on ne sçait où placer, & qui dérangent nécessairement le projet du système général: cette vérité est trop importante pour que je ne l’appuie pas de tout ce qui peut la rendre claire & évidente.54
So erhielt der Artbegriff bei Buffon, im Akkord mit Leibniz und Locke, einen rein nominalen Charakter, repräsentierten die ansonsten vorgeschlagenen Systeme doch keineswegs die Struktur der göttlichen Schöpfung. Die intraspezifische Varianz erschien Buffon so beträchtlich, dass er, um zu korrekten Aussagen gelangen zu können, eine begrenzte Auswahl morphologischer Kriterien und Ähnlichkeiten nicht zulassen wollte. Besonders Linnés Entwurf – auf den weiter unten eingegangen wird – hielt er für „purement arbitraire“.55 Stattdessen postulierte die „Buffon’sche Regel“, dass sich Artzugehörigkeit – wenn man die Naturgeschichte recht verstand – nur über fortgesetzte Fortpflanzungsfähigkeit ihrer Individuen, also Fertilität der Nachkommen, feststellen lasse. Den Grund für die Varianzen innerhalb des Menschengeschlechts verortete der überzeugte Epigenetiker Buffon vor allem im Einfluss des Klimas, der Nahrung und der durch diese bedingten Lebensgewohnheiten. Damit wurden die ausgedehnt beschriebenen 52 FRANK W. P. DOUGHERTY, Buffons Bedeutung für die Entwicklung des anthropologischen Denkens im Deutschland der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: GUNTER MANN & FRANZ DUMONT (Hg.), Die Natur des Menschen. Probleme der Physischen Anthropologie und Rassenkunde (1750–1850), Stuttgart; New York 1990, 221–280; hier 224. Zur Naturalisierung des Menschen bei Buffon vgl. auch ROGER, Buffon, 218 ff. Roger betont insbesondere, dass die Aufrechterhaltung des cartesianischen Dualismus bei Buffon letztlich keinerlei methodische Folgen zeigt: „Commencé sur le mode cartésien, le chapitre ‚De la nature de l’homme‘ se termine en chapitre d’histoire naturelle.“ Ebd., 219. 53 Vgl. dazu generell FRANK WILLIAM PETER DOUGHERTY, Buffon’s Gnoseological Principle, in: DERS., Gesammelte Aufsätze zu Themen der klassischen Periode der Naturgeschichte. Collected Essays on Themes from the Classical Period of Natural History, Göttingen 1996, 59–69. 54 BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. I, 13; Hervorhebungen H. B. 55 Ebd., 17.
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Unterschiede der Menschenrassen zur bloßen Folge eines entstehungsgeschichtlichen Prozesses. Ohnehin blieben die prototypischen Besonderheiten, namentlich die Vernunft, der Gattung Mensch stets erhalten.56 Bereits weit bevor sich Buffon in Band XIV57 endlich zu einer Definition des Menschen durchringt, kommt er in Band III58 – hier vor dem Hintergrund der großen kulturellen Andersartigkeit der von ihm beschriebenen nations – auf die Wilden Kinder zu sprechen. Ausgangspunkt ist, dass es Buffon schwierig erscheint, Fakt und Fabel in den ihm vorliegenden Berichten über nations sauvages säuberlich zu scheiden.59 Daher, so meint er, böte sich eine Untersuchung des sauvage absolument sauvage als mögliches Mittel an. An den Wilden Kindern könne man die dem Menschen im reinen Naturzustand zukommenden Eigenschaften feststellen und dann in einem zweiten Schritt mit den Berichten abgleichen, so dass sich Unwahrscheinlich-Erdichtetes von verlässlichem Faktenmaterial trennen lassen müsste. Die entsprechende Passage zeigt, wie sehr Buffon die Naturgeschichte als eine verschiedenste Wissenschaftszweige klammernde Disziplin verstand: Gemutmaßt wird keineswegs nur über körperliche Attribute, sondern auch die seelisch-innerliche Verfasstheit der Wilden.60 Unmissverständlich benennt Buffon hier einen präzivilisatorischen Naturzustand des Menschen, der selbst den wildesten Nationen noch weit vorgelagert ist. Die Exempel der Wilden Kinder zeigen einen noch unkorrumpierten Menschen, die unverwässerte Mitgift der Natur: 56 Vgl. DOUGHERTY, Buffons Bedeutung, 228 ff. An anderer Stelle (Buffon’s Gnoseological Principle, 69) sieht Dougherty damit Buffon in einer Linie mit Kant. „He [i. e. Man] will be capable of science because he possesses a faculty of reason; moreover, science will be nothing more than an application of this reason to the phenomena of nature […]. This is the gnoseological principle on which to build the new metaphysics of science – a principle which Kant would not forget.“ 57 Und zwar an einer merkwürdigen Stelle, nämlich mitten in der Nomenclature des Singes, wie schon Dougherty mit leichtem Befremden feststellt; vgl. FRANK W. P. DOUGHERTY, Missing Link, Chain of Being, Ape and Man in the Enlightenment: The Argument of the Naturalists, in: CORBEY & THEUNISSEN, Ape, Man, Apeman, 63–70, hier 67. 58 Dieser ist dem Körperbau des Menschen, den Sinnen und schließlich einer weiträumigen Schilderung der Variétés dans l’espèce humaine gewidmet. 59 „Autant il est done inutile de se trop étendre sur les coutumes et les mœurs de ces prétendues nations, autant il seroit peut-être nécessaire d’examiner la nature de l’individu; l’homme sauvage est en effet de tous les animaux le plus singulier, le moins connu, et le plus difficile à décrire, mais nous distinguons si peu ce que la Nature seule nous a donné de ce que l’éducation, l’imitation, l’art et l’exemple nous ont communiqué, ou nous le confondons si bien, qu’il ne seroit pas étonnant que nous nous méconnussions totalement au portrait d’un sauvage, s’il nous étoit présenté avec les vraies couleurs et les seuls traits naturels qui doivent en faire le caractère.“ BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. III, 492. 60 Im übrigen mit erstaunlichen Parallelen zu den Überlegungen Rousseaus im Discours sur l’inégalité: Dem Wilden werden, ganz gegen Hobbes, douceur, tranquillité und calme zugeschrieben. Eine ähnliche Einschätzung findet sich jedoch bereits bei Montesquieu: CHARLESLOUIS DE SECONDAT, BARON DE LA BRÈDE ET DE MONTESQUIEU, Vom Geist der Gesetze [De l’ésprit des lois, Genève 1758], ausgewählt, übersetzt und eingeleitet von KURT WEIGAND, Stuttgart 1994; hier: 1. Buch, 2. Kapitel, 100 f.
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Un sauvage absolument sauvage, tel que l’enfant élevé avec les ours, dont parle Conor, le jeune homme trouvé dans les forêts d’Hanower, ou la petite fille trouvée dans les bois en France, seroient un spectacle curieux pour un philosophe, il pourroit en observant son sauvage, évaluer au juste la force des appétits de la Nature, il y verroit l’ame à découvert, il en distingueroit tous les mouvemens naturels, et peut-être y reconnoîtroit-il plus de douceur, de tranquillité et de calme que dans la sienne, peut-être verroit-il clairement que la vertu appartient à l’homme sauvage plus qu’à l’homme civilisé, et que le vice n’a pris naissance que dans la société.61
Diese 1749 vor dem theoretischen Fundament der gradations inconnues formulierte Deutung des Phänomens sollte jedoch bald zu einer Hypothek werden, derer sich Buffon entledigen musste. Denn mit fortschreitender Zeit tritt im anthropologischen Entwurf der Histoire Naturelle ein anderer Faktor mit Macht in den Vordergrund: Die Erziehung, denn erst diese schien eine volle Entfaltung des menschlichen Potenzials möglich zu machen. Der Angriffspunkt ist für Buffon dabei nicht die Seele – wie sollte der Mensch diese auch je beeinflussen können? –, sondern der Körper, dessen Organe auf die Umsetzung der Seelenvermögen vorbereitet werden müssen.62 Die ungeheure Überlegenheit des menschlichen Intellekts ist jedoch unter dem Paradigma einer bloßen Individualerziehung (éducation d’individu), wie sie auch die Tiere erhalten, überhaupt nicht denkbar. Vielmehr ist dieser beim Menschen eine zweite Instanz, die éducation d’espèce, aufgesetzt, die sich nur innerhalb von Gesellschaft, auf der Basis von Tradition, vollziehen kann: Condillacs Sensualismus setzte zwar einen anderen, nämlich linguistischen Schwerpunkt, argumentierte mit der Verfügbarkeit arbiträrkonventioneller Zeichen aber ansonsten analog. Folge der neuen Linie: Gesellschaft musste für Buffon – gegen Rousseau und mit Aristoteles – als dem Menschen bereits im Naturzustand wesentlich gedacht werden: […] il semble même que l’effet principal de l’éducation soit moins d’instruire l’ame ou de perfectionner ses opérations spirituelles, que de modifier les organes matériels, et de leur procurer l’êtat le plus favorable à l’exercice du principe pensant: or il y a deux éducations qui me paroissent devoir être soigneusement distinguées […]; l’éducation de l’individu qui est commune à l’homme et aux animaux, et l’éducation de l’espèce qui n’appartient qu’à l’homme:[…]. Dès qu’elle commence à se former, l’éducation de l’enfant n’est plus une éducation purement individuelle, puisque ses parens lui communiquent non-seulement ce qu’ils tiennent de la Nature, mais encore ce qu’ils ont reçu de leurs aïeux et de la société dont ils font partie; ce n’est plus une communication faite par des individus isolés, qui comme dans les animaux, se borneroit à transmettre leurs simples facultés; c’est une institution à laquelle l’espèce entière a part, et dont le produit fait la base et le lien de la société.63
61 BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. III, 492 f. 62 „L’ame en général a son action propre est indépendante de la matière; mais comme il a plu à son divin Auteur de l’unir avec le corps, l’exercice de ses actes particuliers dépend de la constitution des organes matériels: et cette dépendance est non-seulement prouvée par l’exemple de l’imbécille, mais même démontrée par ceux du malade en délire, de l’homme en santé qui dort, de l’enfant nouveau né qui ne pense pas encore, et du vieillard décrépit qui ne pense plus […]“. BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. XIV, 33. 63 BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. XIV, 33, 36 f.
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Die vorgestellten Passagen erhellen zweierlei: Zum einen ergibt sich eine offensichtliche Inkommensurabilität zwischen den frühen Äußerungen von 1749 (Bd. III) und denen des Jahres 1766 (Bd. XIV); zum anderen scheut sich Buffon, wie gezeigt werden wird, nicht, das „empirische Material“ seinen Anforderungen anzupassen. Während er in der Nomenclature des Singes dem Menschen eine doppelte Erziehung zuweist, deren zweite Stufe dem Menschen wesentlich und zur Ausformung seiner natürlichen Kapazitäten – auch bereits im primitivsten Zustand – notwendig ist, spricht Band III davon noch nicht. Aus dieser Perspektive hätte man nämlich wenigstens für einen der drei angeführten Fälle – Connors Bärenjungen – zugestehen müssen, dass keinesfalls menschliches Verhalten sichtbar wurde, sondern von Tieren im Laufe der éducation d’individu übernommenes. Condillac hatte den Fall exakt so gedeutet, und auch bezüglich Peter und Marie-Angélique waren Vermutungen dieser Art immer wieder angeklungen. Ganz offensichtlich war sich Buffon 1749 – la Nature marche par des gradations inconnues – noch nicht bewusst, wie sehr er 17 Jahre später den Menschen – vassal du Ciel, roi de la Terre – aus eben diesem natürlichen Kontext herausreißen würde. 64 Der Bruch mit dem Gedanken der Gradation und eines vorgesellschaftlichen Naturzustandes eigenen Rechts findet sich jedoch schon früher, nämlich im siebten Band der Histoire Naturelle von 1758 und ist bereits auf sprachlicher Ebene klar nachzuweisen. Ist 1749 der Naturzustand noch le moins connu, et le plus difficile à décrire, verlautet hier gänzlich Gegensätzliches – ohne dass sich die Datenbasis in relevanter Weise geändert hätte: Ainsi l’état de pure nature est un état connu; c’est le Sauvage vivant dans le désert, mais vivant en famille, connoissant ses enfans, connu d’eux, usant de la parole et se faisant entendre.65
Vor dieser neuen Prämisse bestand nicht nur kein Bedarf mehr für isolierte Naturmenschen, sondern deren Existenz hätte im Gegenteil das neue Konzept widerlegen können. So musste sich auch die Rolle der Kronzeugen, der Wilden Kinder, ändern: Sie wird in der Folge beherzt umgedeutet und damit den theoretischen Erfordernissen ohne viel Federlesens angepasst. Buffon, dem an dieser Stelle der Schriftsteller so durchgeht, dass der Naturkundler kaum mehr zu erahnen ist66, imaginiert eine geradezu ans Herz gehende, nichtsdestotrotz aber in ihrer Hypothetizität irritierende Beziehungsgeschichte: Die Entstehung der Gesellschaft en miniature aus einer Romanze zwischen Peter und Marie67: 64 Ebd., Bd. XII, xi. 65 Ebd., Bd. VII, 29. Hervorhebungen H. B. 66 Dass Schriftstellerei und Wissenschaft oft zusammenfallen, ist ein genereller Befund für das 18. Jahrhundert, im Falle Buffons aber natürlich besonders deutlich. WOLF LEPENIES, Das Ende der Naturgeschichte, 135 ff., der die kurz- und langfristigen Folgen dieser Eigentümlichkeit für die Naturhistorie erörtert, führt an, dass sich in Frankreich im 19. Jahrhundert die Auffassung durchgesetzt habe, dass dies schließlich zur Rückständigkeit der französischen Wissenschaft ggü. Deutschland geführt habe. 67 Ein ganz ähnliches Gedankenspiel, allerdings mit Bezug auf den Sprachursprung, hatte zuvor bereits Condillac entwickelt. Zwar seien Adam und Eva direkt von Gott mit der Sprache be-
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La fille sauvage ramassée dans les bois de Champagne, l’homme trouvé dans les forêts d’Hanovre, ne prouvent pas le contraire; ils avoient vécu dans une solitude absolue, ils ne pouvoient donc avoir aucune idée de société, aucun usage des signes ou de la parole; mais s’ils se fussent seulement rencontrés, la pente de nature les auroit entraînés, le plaisir les auroit réunis; attachés l’un à l’autre, ils se seroient bien-tôt entendus, ils auroient d’abord parlé la langue de l’amour entre eux, et ensuite celle de la tendresse entre eux et leurs enfans; et d’ailleurs ces deux Sauvages étoient issus d’hommes en société et avoient sans doute été abandonnés dans les bois, non pas dans le premier âge, car ils auroient péri, mais à quatre, cinq ou six ans, à l’âge en un mot auquel ils étoient déjà assez sorts de corps pour se procurer leur subsistance, et encore trop foibles de tête pour conserver les idées qu’on leur avoit communiquées. Examinons donc cet homme en pure nature, c’est-à-dire, ce Sauvage en famille. Pour peu qu’elle prospère, il sera bien-tôt le chef d’une société plus nombreuse, dont tous les membres auront les mêmes manières, suivront les mêmes usages et parleront la même langue; à la troisième, ou tout au plus tard à la quatrième génération, il y aura de nouvelles familles qui pourront demeurer séparées, mais qui, toûjours réunies par les liens communs des usages et du langage, formeront une petite nation […].Ainsi l’homme, en tout état, dans toutes les situations et sous tous les climats, tend également à la société; c’est un effet constant d’une cause nécessaire, puisqu’elle tient à l’essence même de l’espèce, c’est-à-dire, à sa propagation. Voilà pour la société; elle est, comme l’on voit, fondée sur la Nature.68
Die Wilden Kinder, Peter und Marie-Angélique, belegen nun, dass der Mensch nur als soziales Wesen gedacht werden kann – ohne dass Buffon jedoch auch nur einen tatsächlichen Hinweis darauf in den Fallgeschichten finden kann. Stattdessen regiert in seinem Entwurf einer wilden Romanze der Konjunktiv: Wären sich die beiden begegnet, so hätte sich unweigerlich jener Automatismus in Gang gesetzt, der im unmittelbar folgenden generalisierenden Abriss der menschlichkulturellen Entwicklung geschildert wird. Die Familie stellt die nicht wegzudengabt worden und hätten daher zur Entwicklung derselben nicht auf Erfahrung zurückgreifen müssen. Mit der Sintflut ändert sich diese Situation jedoch: „Mais je suppose que quelque temps après le déluge, deux enfans de l’un et de l’autre sexe ayent été égarés dans des déserts, avant qu’ils connussent l’usage d’aucun signe. […] Qui sçait même s’il n’y a pas quelque peuple qui ne doive son origine qu’à un pareil événement qu’on me permette d’en faire la supposition; la question est de sçavoir comment cette nation naissante s’est fait une langue.“ ÉTIENNE BONNOT DE CONDILLAC, Essai sur l’origine des connoissances humaines. Ouvrage où l’on réduit à un seul principe tout ce qui concerne l’entendement humain, 2 Bde., Amsterdam 1746: hier Bd. 2, 1 ff. Condillac sah sich in dieser Annahme von WARBURTON bestätigt, der seinerseits auf Vitruv und Diodor rekurriert hatte. Der Engländer hatte schon vor Condillac ein mit dessen langage d’action praktisch deckungsgleiches Entwicklungskonzept der Sprache entwickelt: Die gottgegebene Sprache sei zunächst „very rude, narrow, and equivocal“ gewesen, „so that Men would be perpetually at a loss, on any new conception, or uncommon Adventure, to explain themselves intelligibly to one another: This would naturally set them upon supplying the Deficiencies of Speech by apt and significant Signs. Accordingly, in the first Ages of the World, mutual Converse was upheld by a mixed Discourse of Words and ACTIONS […].“ WILLIAM WARBURTON, The divine legation of Moses demonstrated, on the principles of a religious deist, from the omission of the doctrine of a future state of reward and punishment in the Jewish dispensation. In nine books.[…] The third edition, corrected and enlarged […], 2 Bde., London 1742–58; hier Bd. 2, 81 f. 68 BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. VII, 29 ff.
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kende Keimzelle der Gesellschaft dar, aus der sich diese schrittweise entwickelt. Äußere Umstände, Klima und Boden, nehmen dann Einfluss auf so entstandene Gesellschaften, die sich selbst, kraft der éducation d’espèce, verfestigen und fortschreiben. Das Individuum wird damit von Geburt an zum Produkt der Gesellschaft. Diese Theorie basiert ihrerseits wiederum auf einer Beobachtung, die sich notwendig aus dem Gedanken der Artkonstanz ergibt: Da der Mensch immer so war wie er heute ist, waren dessen Kinder auch immer hilfebedürftig. Da ein Überleben der Nachkommen ohne ständige Hilfe nicht denkbar ist – auch für die Wilden Kinder wird ja der Umstand betont, dass sie erst im fortgeschrittenen Alter in die Wildnis geraten sein können –, muss es Familien immer schon gegeben haben: le Sauvage vivant dans le désert, mais vivant en famille. Darüber hinaus, und hier ging es an die Grundfesten seiner wissenschaftlichen Arbeit, hatte Buffon einen rein biologischen Indikator der Artzugehörigkeit gefunden: die Fertilität der Nachkommen. Wie sollte dieses Kriterium valide sein, wenn der Mensch eine Art darstellte, die sich nicht selbst erhielt, was aber offenkundig nur in der Familie möglich war? Der solitäre Naturzustand der Wilden Kinder: aus dieser Sicht ein so widernatürlicher Unfall, dass man sicher annehmen konnte, er würde sich innerhalb kürzester Zeit von selbst bereinigen. Buffon schmettert damit die Heranrückung des Menschen an das Tierreich ab, obwohl sich diese Möglichkeit fast zwingend ergab: Der Artbegriff war von ihm nominalistisch aufgefasst, die scala naturae profanisiert worden. Die Kluft zwischen Orang und den wildesten Völkern ist dennoch unüberbrückbar, isolierte Naturmenschen im eigentlichen Sinne, die eine Klammer hätten bilden können, existieren nicht. Dieser Bruch zu den Postulaten des einleitenden Diskurses offenbart einige der Besonderheiten der Histoire Naturelle – und zwar nicht nur dieses Werkes, sondern generell: Für die Einteilung der Arten sind morphologischanatomische Kriterien letztlich belanglos, es ist erst die Einsicht in den Telos der Gesamtnatur, die eine solche ermöglichen würde.69 Auf den Menschen bezogen bedeutete dies aber, dass der souffle divin, der dem Menschen Vernunft und Sprache vermittelte, das Scheidungskriterium blieb. Der rein organische Bau der Lebewesen schien dagegen einem plan général zu folgen, und anatomische Zergliederung führte demgemäß nicht weiter: Körperlich ließ sich der Mensch weder sicher von den Affen, noch von der niedersten und unorganisiertesten Kreatur separieren.70 69 „Despite any morphological similarity, the criterion for judging the affinity of species is to be taken from their natural histories, for here the organism is determined in the execution of its specific function. The apes and man represent for Buffon fully independent species not because of any structural peculiarity, but because of the incommensurability of their nature.“; FRANK DOUGHERTY, Missing Link, 67. 70 „Je l’avoue, si l’on ne devoit juger que par la forme, l’espèce du singe pourroit être prise pour une variété dans l’espèce humaine: le Créateur n’a pas voulu faire pour le corps de l’homme un modèle absolument différent de celui de l’animal; il a compris sa forme, comme celle de tous les animaux, dans un plan général; mais en même temps qu’il lui a départi cette forme matérielle semblable à celle du singe, il a pénétré ce corps animal de son souffle divin; s’il eût fait la même faveur, je ne dis pas au singe, mais à l’espèce la plus vile, à l’animal qui nous paroît le plus mal organisé, cette espèce seroit bien-tôt devenue la rivale de l’homme; vivifiée
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4.1.2. Ein Glied in der Kette? Als „Zwischenwesen“, wie sie die scala naturae forderte, waren die Wilden Kinder für Buffon also spätestens ab 1758 nicht mehr verwendbar, denn sein homo duplex war durch die Seele qualitativ vom Tierreich abgesetzt. In allen anderen Bereichen der Natur mochte die Idee der Gradation aber durchaus zutreffen, und zum Nachweis konnte auf das aktuelle Paradebeispiel zurückgegriffen werden: Trembleys Polyp, der nach Ansicht der Zeitgenossen die Grenzen der Naturreiche – in diesem Fall der Pflanzen und Tiere – übersprang.71 Tatsächlich konnte die an Trembleys Erkenntnissen anknüpfende Theoriebildung zu höchst radikalen Ergebnissen führen, deren gesellschaftliche und religiöse Bedeutung eine politisch gemäßigte Person wie Buffon nicht hätte stützen wollen. Zum Verständnis der „perhaps […] most fascinating single curiosity of natural history in the 1740s“72 scheint ein kurzer Exkurs notwendig: Trembley hatte nach genauer Beobachtung des von Leeuwenhoek bereits 1703 beschriebenen und als Pflanze eingeordneten Süßwasserpolypen festgestellt, dass dieser, obwohl äußerlich einer Pflanze ähnlich und zur Fortpflanzung Sprosse bildend, im Stande war, den Tieren zugeschriebenes Verhalten an den Tag zu legen – etwa indem er sich mit seinen Fangärmchen Nahrung zufächerte. War dies erstaunlich genug, hätte man jedoch bis hierhin einfach von einem Kategorisierungsfehler Leeuwenhoeks ausgehen und den Süßwasserpolypen zu den Tieren stellen kön-
par l’esprit, elle eût primé sur les autres ; elle eût pensé, elle eût parlé: quelque ressemblance qu’il y ait donc entre l’Hottentot et le singe, l’intervalle qui les sépare est immense, puisqu’à l’intérieur il est rempli par la pensée et au dehors par la parole.“ BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. XIV, 32. 71 „On peut donc assurer, sans crainte de trop avancer, que la grande division des productions de la Nature en Animaux, Végétaux et Minéraux, ne contient pas tous les êtres matériels; il existe, comme on vient de le voir, des corps organisez qui ne sont pas compris dans cette division. Nous avons dit que la marche de la Nature se fait par des degrés nuancez et souvent imperceptibles, aussi passe-t-elle par des nuances insensibles de l’animal au végétal, mais du végétal au minéral le passage est brusque, et cette loi de n’aller que par degrés nuancez paroît se démentir. Cela m’a fait soupçonner qu’en examinant de près la Nature, on viendroit à découvrir des êtres intermédiaires, des corps organisez qui, sans avoir, par exemple, la puissance de se reproduire comme les animaux et les végétaux auroient cependant une espèce de vie et de mouvement; d’autres êtres qui, sans être des animaux ou des végétaux, pourroient bien entrer dans la constitution des uns et des autres, et enfin d’autres êtres qui ne seroient que le premier assemblage des molécules organiques […].“ BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. II, 263. Trembley und der von ihm untersuchte Süßwasserpolyp werden eine Seite zuvor erwähnt; „M. Trembley, cet auteur célèbre de la découverte des animaux qui se multiplient par chacune de leurs parties détachées, coupées ou séparées, observa pour la première fois le polype de la lentille d’eau, combien employa-t-il de temps pour reconnoître si ce polype étoit un animal ou une plante! et combien n’eut-il pas sur cela de doutes et d’incertitudes! c’est qu’en effet le polype de la lentille n’est peut-être ni l’un ni l’autre, et que tout ce qu’on en peut dire, c’est qu’il approche un peu plus de l’animal que du végétal […]“. Ebd., 262. 72 ARAM VARTANIAN, Trembley’s Polyp, La Mettrie, and Eighteenth-century French Materialism, in: Journal of the History of Ideas, Vol. XI, 3 (June 1950), 259–286; hier 259.
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nen. Das eigentlich Unerhörte zeigte sich dem neugierig gewordenen Forscher erst im Versuch: The story of the Phoenix who is reborn from his ashes […] offers nothing more fabulous. […] From each portion of an animal cut in 10, 20, 30, 40 parts, and, so to speak, chopped up, just as many complete animals are reborn, similar to the first. Each of these is ready to undergo the same division […] without it being known yet at what point this astonishing multiplication will cease.73
Der Süßwasserpolyp drohte also die gängige Lehrmeinung von drei separierten Naturreichen zum Einsturz zu bringen: Bonnet präsentierte ihn daraufhin 1745 in seinem Traité de l’insectologie74 als Bindeglied zwischen vegetativem und tierischem Leben und baute darauf seine Idee der echelle des êtres auf. Das eigentlich aufsehenerregende der Entdeckung Trembleys lag für die Zeitgenossen jedoch kaum auf biologischem, sondern auf metaphysischen Gebiet: Sie schien zunächst Descartes zu bestätigen. Dieser hatte den Menschen als duales Wesen begriffen, in dem sich Körperhaftigkeit auf der einen mit Intellekt und Seele auf der anderen Seite verbanden. Die res extensa wurde als materiell, räumlich ausgedehnt und teilbar gedacht, während die res cogitans – unteilbar, weil immateriell und unausgedehnt, zudem Sitz des freien Willens – in der Welt exklusiv dem Menschen zukam: Tiere partizipierten nicht an ihr, so dass diese in der Folge zu hochkomplexen Automaten degradiert worden waren.75 Die Ansicht wandte sich gegen jene aus der Antike vermittelten Positionen, die den Tieren durchaus Intelligenz und Seelenfähigkeiten – wenn auch minderer Qualität – zugebilligt hatten. Fand man nun in dem Polypen ein Tier, das trotz beliebiger Zerstückelung weiterlebte und sich sogar fortpflanzte, konnte das nur bedeuten, dass Descartes’ These zutraf: Das Leben dieses Wesens konnte nicht mit einer immateriell-unteilbaren Instanz verbunden gewesen sein, denn in diesem Fall hätte ja allenfalls einer der Teile überleben können. Die bis dahin spekulative qualitative Unterscheidung von Mensch und Tier, mit dem Menschen als Bindeglied zwischen Diesseits und göttlicher Sphäre – ohnehin die ex cathedra vertretene theologische Lehrmeinung – schien sich nun auch experimentell zu bewahrheiten. Jedoch hatte, und hier wurde das Aufsehen zum Eklat, die aufgerissene Dichotomie zwischen Leib und Seele noch eine weitere anthropologische Deu-
73 Mémoires de l’Académie des Sciences, Paris 1741, 33 f.; zit. n. der Übersetzung von Vartanian (VARTANIAN, Trembley’s Polyp, 259). Veröffentlichung der Untersuchungsergebnisse als Monographie 1744: ABRAHAM TREMBLEY, Mémoires pour servir à l’histoire d’un genre de polypes d’eau douce, à bras en forme de cornes, Leiden 1744. 74 CHARLES BONNET, Traité d’insectologie; ou observations sur les pucerons, 2 Bde., Paris 1745. 75 Die entsprechenden Passagen finden sich im Discours de la Méthode von 1637. Für einen umfassenderen Abriss der cartesianischen Tierautomaten-Lehre, vor allem auch deren lebensweltlicher Folgen vgl. PAUL MÜNCH, Die Differenz zwischen Mensch und Tier. Ein Grundlagenproblem frühneuzeitlicher Anthropologie und Zoologie, in: MÜNCH & WALZ, Tiere und Menschen, 324–347; hier insbes. 328–335.
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tungsmöglichkeit eröffnet, in die sich der Süßwasserpolyp einpassen ließ.76 Der Materialismus folgte Descartes und Malebranche zwar bezüglich des mechanistischen Körperkonzepts77, leugnete aber die Existenz der res cogitans und reagierte damit auf die erheblichen Leerstellen, die Descartes nicht hatte füllen können: Wenn Leib und Seele aus vollkommen wesensverschiedenen Substanzen bestanden, wie sollte sich dann überhaupt eine Interaktion zwischen diesen vorstellen lassen?78 Dass eine solche Verbindung zwischen Geist und Körper existierte, war aber nur zu offensichtlich, konnte doch der Wille den Körper lenken, letzterer aber auch den Gemütszustand und Intellekt beeinflussen. Die Lösung war naheliegend: Die Seele sei nicht als immaterieller Lenker des zu einem bloßen Instrument gewordenen menschlichen Körpers zu verstehen, sondern als integraler materieller, und damit teilbarer Bestandteil der „Maschine“ – und zwar des Menschen wie des Tieres. Trembleys Ergebnisse ließen sich von hier ebenso elegant erklären. Mit ihrer Materialisierung entschwand die Seele aus dem Zuständigkeitsbereich von Theologie und Metaphysik, der Mensch konnte in diesem Konzept keinerlei Sonderstatus für sich beanspruchen: Er wurde vollkommen naturalisiert. Die konsequenteste Ausprägung fand diese Idee bei LA METTRIE. Dessen Homme machine79 präsentiert eine Neudefinition von Materie als intrinsisch die Voraussetzungen für Aktivität und Organisation enthaltend.80 Gleichzeitig glaubte La Mettrie durch diese Begabung der Materie eine bekannte Schwierigkeit des antiken Materialismus epikureischer Ausprägung überwinden zu können, nämlich die Ordnung der Welt dem reinen Zufall – eine logisch unbefriedigende Lösung –, dem Schicksal oder Gott – beides metaphysische Erklärungen, die das eigentliche Ziel konterkarierten – überlassen zu müssen. Das organisierende und bildende 76 Für eine detaillierte Darstellung dieser hier nicht genauer nachzuzeichnenden Entwicklung vgl. LEONORA COHEN ROSENFIELD, From Beast-Machine to Man-Machine. Animal soul in French letters from Descartes to La Mettrie, New York 1968. 77 Ein knapper Abriss des Materialismus etwa bei ERNST CASSIRER, Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg 1998, 88 ff. 78 Die philosophisch-naturwissenschaftlichen Implikationen dieses Problems waren bekanntermaßen weitreichend und können an dieser Stelle nicht weiter verfolgt werden. Die wesentlichen drei Ansätze zur Erklärung erfasst Leibniz’ Uhrengleichnis; für eine kommentierte Darstellung vgl. FRITZ MAUTHNER, Zur Psychologie. Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 1, Stuttgart 21906. Online-Version ediert von PETER KIETZMANN (Hg.), textlog.de, URL: http://www.textlog.de/mauthner-psychologie.html. 79 JULIEN OFFRAY DE LA METTRIE, L’Homme Machine [1748], in: DERS., Œuvres philosophiques, London 1751, 9–80. Deutsche Übersetzung Der Mensch als Maschine, hg. v. BERND A. LASKA, Nürnberg 1985. 80 Zur Problematik des Materiebegriffs für die Anthropologie La Mettries vgl. etwa ANN THOMSON, L’Unité matérielle de l’homme chez La Mettrie et Diderot, in: Colloque International Diderot, hg. v. A.-M. CHOUILLET, Paris 1985, 61–68. Die Bezeichnung des Menschen als Maschine sollte als ein Analogon aufgefasst werden und meint bei La Mettrie keinesfalls einen „mechanischen“ Menschen: „Au lieu donc de décrire un homme mécanique, il vent simplement démontrer la possibilité d’expliquer l’être humain par la seule matière.“ ANN THOMSON, L’homme-machine, mythe ou métaphore?, in: Dix-huitième siècle, 20 (1988), 367–376, hier 375.
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Prinzip wurde bei ihm zu einer Funktion der Materie. Die naturwissenschaftlichen Folgen waren weitreichend: Nun ließ sich tatsächlich eine echelle des êtres für alle empirisch nachweisbaren Lebensformen unterfüttern, und darüber hinaus ließ sich diese, bis dahin stets statisch gedacht, sogar in Bewegung versetzen: Die selbstgenügsame Materie bot genügend Platz für die Ausbildung eines Transformismus, in dem die Spezies die nun zur Leiter gewordene Kette hinauf-, aber auch hinabsteigen konnten. Dies betraf durchaus auch die Position des Menschen. Buffon sprach den Affen die Möglichkeit des Spracherwerbs ab: Sprache war ihm, wie oben geschildert, abhängig von der Vernunft, diese wiederum Funktion einer immateriell gedachten Seele. La Mettrie dagegen hielt die Sache absolut nicht für ausgemacht.81 Es sei überaus wahrscheinlich, dass es sprachfähige Tiere in bislang unbekannten Regionen der Welt gebe, denn generell sei „la forme et la composition du cerveau des Quadrupèdes […] à peu près la même, que dans l’homme.“82 Hieraus ergab sich ein schlüssiges Fazit: „Des Animaux à l’Homme, la transition n’est pas violente […].“83 Tatsächlich sei der Übergang nicht nur ein gradueller, sondern auch ein erst im Verlauf des individuellen Lebens vollzogener; als Kind stehe der Mensch sogar noch unter den Tieren.84 Erst die Erziehung sei es, die ihn schließlich mühsam auf eine höhere Position befördere85, und nichts in La Mettries Konzeption sprach dagegen, dass körperlich ähnlich organisierte Wesen – wie etwa die Affen – nicht ebenfalls zum Erziehungsobjekt werden können sollten. Endgültig verwischten die Grenzen zum Tierreich jedoch, wenn man die erhebliche Variation unter den Menschen mit einbezog: Mais accordera-t-on la même distinction aux Sourds, aux Aveugles nés, aux Imbeciles, aux Fous, aux Hommes Sauvages, ou qui ont été élevés dans les Bois avex les Bêtes; à ceux don’t l’affection hypochondriaque a perdu l’imagination, enfin à toutes ces Bêtes à figure humaine, qui ne montrent que l’instinct le plus grossier? Non, tous ces hommes de corps, et non d’esprit, ne méritent pas une classe particulière.86
Zur Untermauerung seiner Theorie einer einheitlich-materiellen Natur bezieht La Mettrie an mehreren Stellen die Wilden Kinder ein. So werden in der Histoire naturelle de l’âme87 (Chapitre XV: Histoires qui confirment que toutes les idées viennent des sens), einer Schrift, die Lockes Sensualismus propagieren und stützen sollte und La Mettrie zum ersten Mal in Konflikt mit staatlicher Zensur brach81 „[…] seroit-il absolument impossible d’apprendre une langue à cet Animal? Je ne le crois pas.“ LA METTRIE, Homme Machine, 25. 82 Ebd., 23. 83 Ebd., 28. 84 „C’est lui faire honneur que de le ranger dans la même classe. Il est vrai, que jusqu’à un certain age, il est plus animal qu’eux, parce qu’il apporte moins d’instinct en naissant.“ Ebd., 39. 85 „La Nature nous avoit donc faits pour être au dessous des Animaux, ou du moins pour faire par là même mieux éclater les prodiges de l’Education, qui seule nous tire du niveau et nous élève enfin au-dessus d’eux.“ Ebd., 40. 86 Ebd. 87 JULIEN OFFRAY DE LA METTRIE, Histoire naturelle de l’âme [1745], in: DERS. Œuvres philosophiques, Londres 1751, 85–208.
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te88, Connors Bärenjungen, der irische Schafsjunge und Marie-Angélique angesprochen.89 Flankiert werden diese auf der einen Seite von den Taubstummen, auf der anderen, mit Verweis auf Tulp, den Hommes sauvages, appelés Satyres. Der litauische Bärenjunge wird äußerst knapp beschrieben. Etwa zehn Jahre alt sei er gewesen, als er 1694, „parmi un troupeau d’Ours“ gefunden worden sei. Die ursprüngliche Quadrupedie des Jungen – dieser im übrigen „horrible à voir“ – machte erst nach gewisser Zeit dem aufrechten Gang Platz, und obwohl der Wilde schließlich einige Worte zu sprechen weiß, zeigt er keine Erinnerung an seine Vergangenheit in der Wildnis; ein ähnlicher Fall sei auch aus Polen überliefert, und „personne ne doute en Pologne, que les enfans sont quelquefois nourris par les ourses, comme Remus & Romulus le furent, dit-on, par une Louve.“90 Nahm man die Geschichte also für wahr, musste man sich fragen, wo die Differenz zum von Tulp beschriebenen „Avang-outang“91 lag: Dieser zeigte eine „parfaite ressemblance“ zum Menschen und erweckte bei La Mettrie den Eindruck, dass dessen Gehirn ebenso zum Denken und Fühlen bestimmt sei.92 Auch die Wilden Kinder verfügten schließlich weder über Sprache noch Ideen. „Cependant ce sont des hommes, et tout le monde en convient.“93 Vor allem der irische Schafsjunge beweise94, dass das Denken von äußeren Einflüssen geprägt sei und diese mental-seelische Konstitution schließlich auch in der Physis sichtbar werde.95 So merkwürdig und schwer zu glauben die vorliegenden Fälle also im einzelnen auch sind, „au fond ils se ressemblent tous“96, und beweisen in ihrer kumulativen Qualität das, was La Mettrie als Conclusion de l’ouvrage ziehen zu können glaubt: „Point de sens, point d’idées. Moin on a de sens, moin on a d’idées. Peu d’éducation, peu d’idées. Point de sensations reçues, point d’idées.“97 So zeigt 88 Zu philosophischen Einflüssen auf das Denken La Mettries vgl. ARAM VARTANIAN, La Mettrie’s L’homme machine. A study in the origins of an idea, Princeton 1960, 57 ff. Bezüglich des Einflusses Lockes auf das materialistische Lager der französische Aufklärung vgl. generell JOHN W. YOLTON, Locke and French Materialism, Oxford 1991. 89 LA METTRIE, Histoire naturelle de l’âme, 186 ff. 90 Ebd., 199. 91 In dieser Schreibweise ebd., 237. 92 „Mais cette parfaite ressemblance […] me fait croire que le cerveau de ce prétendu animal est originairement fait pour sentir & penser comme les nôtres.“ Ebd., 202. 93 Ebd., 203. 94 Als Quelle nennt der Mediziner La Mettrie (ebd., 204) naheliegenderweise Boerhaave, den Vartanian für einen der medizinisch-anatomischen Haupteinflüsse auf La Mettrie hält; La Mettrie habe die von Boerhaave auf den Körper angewandten Ideen lediglich auch auf die Seele übertragen. Vgl. ARAM VARTANIAN, La Mettrie’s L’homme machine, 75 ff. Zu Boerhaave und der niederländischen empiristischen medizinischen Schule vgl. RICHARD TOELLNER, Medizin in der Mitte des 18. Jahrhunderts, in: RUDOLF VIERHAUS (Hrsg.), Wissenschaften im Zeitalter der Aufklärung, Göttingen 1985, 194–217, insbes. 197 ff. 95 „Il se trainoit et vivoit comme les animaux; il avoit les mêmes goûts, les mêmes inclinations, le même sens de voix; la même imbécilité étoit painté sur sa physiognomie.“ LA METTRIE, Histoire naturelle de l’âme, 204. 96 Ebd., 205. 97 Ebd., 207 f.
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sich auch wiederum der nur graduelle, lediglich aus der Hirnmasse herrührende Unterschied zwischen Mensch und Tier.98 Dieser materiell-monistische Naturalismus, der La Mettries Werk durchzieht, ließ sich bruchlos mit der Idee einer scala naturae verbinden, in der die Wilden Kinder zwar keine Zwischenwesen, und erst recht keine Hybriden im eigentlichen Sinn darstellen, aber benötigt werden, um die Nähe des Menschen zum Tier auch von dieser Seite zu belegen. Die körperliche Ähnlichkeit des Orang zum Menschen war eine Sache; hütete man sich ferner davor, den Menschen durch eine metaphysisch-hypothetisch gefärbte Brille zu betrachten, stellte man fest: „[…] l’imbécille, ou le stupide, sont des Bêtes à figure humaine, comme le Singe, plein d’esprit, est un petit Homme sous une autre forme.“99 La Mettries Position blieb in ihrer radikalen Härte eine randständige, die in der Folge zwar rezipiert, kaum aber je offen unterstützt wurde.100 Dennoch diente sie als eines der Fermente, auf denen die Naturgeschichte ihre Ausprägung fand. So beschreibt DOUGHERTY eindringlich die Bedeutung La Mettries für Buffon101: Letzterer habe seine in der Histoire Naturelle vertretene Linie bezüglich der menschlichen Natur in der dialektischen Auseinandersetzung mit La Mettrie, dem Materialisten, und Pascal, dem Metaphysiker, gewonnen, deren Positionen sich wiederum auf den Ausbau von Descartes angelegter Linien zurückführen lassen. Vor allem sei es ihm, der einen menschlichen Dualismus restaurierte, darum gegangen, La Mettries mechanistische Konzeptionen bezüglich der Sprache auf der einen und der Erziehung und Perfektibilität auf der anderen Seite zu widerlegen.
98 „[…] il est évident […] que ce viscère peut contenir une multitude prodigieuse d’idées, et par conséquent exige pour rendre ces idées, plus d’idées que les animaux. C’est en cela précisement que consiste toute la supériorité de l’homme.“ Ebd., 148. 99 LA METTRIE, L’Homme Machine, 77. 100 Was nicht bedeutet, dass der materialistische Strang vollkommen verschwunden wäre. D’HOLBACHS Systeme de la Nature wird 1770, auf La Mettries Ideen aufbauend, einen neuen materialistischen Deutungsversuch der Welt wagen. Das Leben des Menschen bleibt hier, ganz wie bei La Mettrie, „nur eine lange Reihe von notwendigen und miteinander verbundenen Bewegungen, die entweder innere […] oder äußere Ursachen [haben].“ PAUL THIRY D’HOLBACH, System der Natur oder von den Gesetzen der physischen und der moralischen Welt [1770], übers. v. FRITZ-GEORG VOIGT, Frankfurt 1978, 68. Holbach torpediert denn auch seinerseits Buffons Anthropologie: „Bist du in deiner gegenwärtigen Seinsweise nicht fortlaufend Veränderungen unterworfen? Du, der du dir in deiner Torheit anmaßend Titel König der Natur [Buffon hatte formuliert: roi de la Terre; H. B.] gibst? Du, dessen Eitelkeit sich einbildet, daß das Ganze erschaffen worden sei, weil du intelligent bist! Es bedarf doch nur eines kleinen Zwischenfalls, eines Atoms an unrechter Stelle, […] um dir die Intelligenz zu rauben, auf die du so stolz zu sein scheinst.“ Ebd., 80 f. 101 DOUGHERTY, Buffons Gnoseological Principle, 60 ff.
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4.1.3. Homo Sapiens Ferus Linn. LINNÉ, dessen 1735 erstmalig aufgelegtes Systema Naturae ohne Frage eines der wichtigsten Werke der Biologiegeschichte darstellt102, lehnte Stufenleitervorstellungen dieser Art ab.103 Stattdessen schuf er, ausgehend von Ray und Tournefort, ein „hierarchisch-enkaptisches System mit Gruppenkategorien von feststehender definierter Rangordnung: Gattungen, Ordnungen, Klassen mit konstanten Eigennamen und knappen, regelhaften Diagnosen, die die Zuordnung neuer Arten und die Identifizierung bereits bekannter Arten wesentlich schneller und sicherer als bisher ermöglichten“104 – ein Schubladenkasten also. Ausschlaggebend für diese Präferenz mögen dabei die Erfahrungen gewesen sein, die der schwedische Naturforscher, dessen Schreibtisch stets von einer nicht enden wollenden Flut neuer Reiseberichte und -mitbringsel überschwemmt wurde, gemacht hatte. Linné hatte erkannt, dass die Komplexität der Natur, sollte sie vom Menschen zumindest ansatzweise erfasst werden, ein klares und begrenztes Ordnungsschema notwendig machte, während individualisierende Stufenleiterideen zunehmend unhandhabbar werden würden.105 Folgerichtig vertrat er sein künstliches, das heißt auf wenigen taxonomischen Kriterien basierendes System offensiv gegen natürliche Systematiken, wie sie etwa Jussieu propagierte und erst recht gegen eine vollkommen unsystematische Naturgeschichte Buffonschen Zuschnitts. Geschwindigkeit und generelle Anwendbarkeit waren für Linné entscheidend; natürliche Systeme, die zwar theoretisch der Realität bisweilen näher kommen mochten, verfehlten daher aufgrund ihrer Aufgeblähtheit das eigentliche Ziel eines praktisch anwendbaren wissenschaftlichen Hilfsmittels.106 Darüber hinaus kann man jedoch mit POLIAKOV von einer „erstaunlichen Selbstgefälligkeit des berühmten Schweden“ sprechen: Mochte das System für seine Opponenten ein widernatürliches ohne Anspruch auf Exaktheit sein, meinte Linné, bezeichnenderweise in der dritten Person sprechend: „Gott gestattete ihm, einen Blick in die Kammer seiner geheimen Pläne zu werfen […].“107 Das Systema Naturae enthielt also nicht weniger als den geheimen Bauplan der Schöpfung. In dem Aufruhr, den Linnés Systema Naturae erzeugte, wurden fachliche Bedenken jedoch häufig nur vorgeschoben. Stein des Anstoßes war vielmehr die Position, die dem Menschen zugebilligt wurde. Zwar stand dieser nach wie vor an 102 JAHN, Biologiegeschichte, 228. Zum Lebenslauf Linnés generell: ILSE JAHN & K. SENGLAUB, Carl von Linné, Leipzig 1978. 103 Was jedoch nicht bedeutet, dass man nicht theoretisch der Stufenleiter-Idee anhängen und praktisch auf Linnés Taxonomie zurückgreifen konnte. 104 JAHN, Biologiegeschichte, 236. 105 Vergleicht man die erste Auflage von 1735 und die elfte Auflage von 1766 erhält man einen lebhaften Eindruck davon, welche Leistungsfähigkeit das System im Jahrhundert der Entdeckungen entwickeln musste: Während 1735 lediglich 549 Arten aufgeführt werden, sind es 1766 bereits 5.897; vgl. HEINZ GOERKE, Carl von Linné, in: Die Großen. Leben und Leistung der sechshundert bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Welt, hg. v. KURT FASSMANN, Zürich 1977, 490. 106 vgl. JAHN, Biologiegeschichte, 243. 107 Zit. n. POLIAKOV, Mythos, 185.
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der Spitze der Schöpfung, war dieser aber, zumindest auf den ersten Blick, weder entrückt, noch bildete er wenigstens eine eigene Klasse. Ebenso wie Buffon erhielt Linné aber tatsächlich die Idee eines homo duplex, dessen einzigartige Seele für den gläubigen Naturforscher außer aller Diskussion stand.
1. und 2. Ordnung (Anthropomorpha und Feræ) der 1. Klasse (Quadrupedia) des Tierreiches. LINNAEUS, Systema Naturae (11735), o. P. (Ausschnitt). Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
Dass die durchaus Parallelen aufweisende Sicht auf den Menschen bei Buffon akzeptiert wurde, bei Linné aber heftige Proteste hervorrief, dürfte vor allem der ganz unterschiedlichen Anlage der Werke geschuldet sein. Wo der Literat Buffon seine Ansichten weitschweifig-pathetisierend erklärte, konfrontierte der Systematiker Linné seine Leser mit einer nüchternen, graphisch abstrahierenden Darstellung. Der oben gezeigte Ausschnitt täuscht dabei noch: Auf der FolioDoppelseite, die im Systema Naturae der ersten Auflage das Tierreich im Ganzen präsentiert, droht der Mensch von der Fülle der präsentierten Arten fast erdrückt zu werden.
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Linné behielt die bereits aristotelische Gliederung der Natur in drei Reiche bei108 und teilte die Tiere (Regnum Animale) in sechs Klassen ein (I. Quadrupedia, II. Aves, III. Amphibia, IV. Pisces, V. Insecta, VI. Vermes), innerhalb derer wiederum Ordnungen etabliert wurden. Unterhalb der Ordnungen, die durch mehrere Merkmale charakterisiert wurden, fanden sich die Gattungen, daran anschließend die Arten, die 1735 nur exemplarisch genannt und als konstant und diskret aufgefasst werden.109 Diese Ordnung der Natur wird in Form eines Tableaus erfasst, in dem sich der Mensch in der 1. Klasse des Tierreiches wiederfindet (Vierfüßer / Quadrupedia). Linné hatte ihr die Attribute behaarter Körper, vier Füße, lebendgebärend und säugend beigelegt. Deren erste Ordnung bilden die Anthropomorpha, abgeschieden nur durch ein Ordnungskriterium, die Formation der Schneidezähne.110 Folge: Unmittelbare Nachbarn des Menschen werden die Simia und sogar Bradypus. Klare körperliche Unterscheidungsmerkmale zu den Affen oder zum Faultier vermochte Linné nicht zu finden, es sei denn, man möchte die bei den Menschenaffen explizit erwähnte Ähnlichkeit der vorderen und hinteren Extremitäten oder die Zahl der Finger beim Faultier als solche verstehen (Posteriores anterioribus similes).111 Stattdessen wird dem Menschen als Epithet Nosce te ipsum beigefügt, ein Charakteristikum mit deutlich metaphysischem Beigeschmack, das zudem in der graphischen Darstellung nahezu untergeht. Die gesamte Menschheit bildet eine Gattung; unterhalb dieser finden sich allerdings Varietäten, die nach der Hautfarbe klassifiziert werden. Linné blieb nach dem Studium seines Untersuchungsmaterials nur eine Einsicht: I well know what a splendidly great difference there is [between] man and a bestia when I look at them from a point of view of morality. Man is the animal which the Creator has seen fit to honor with such a magnificent mind and has condescended to adopt as his favorite and for which he has prepared a nobler life; indeed, sent out for its salvation his only son; but all that belongs to another forum; […] as a naturalist I consider man and his body, for I scarcely
108 In der Folge wird zunächst die erste Auflage zugrunde gelegt: CAROLUS LINNAEUS, Systema Naturae, Lugduni Batavorum 1735. Es existiert ein Faksimile-Reprint (Stockholm 1977) der schwer greifbaren Ausgabe. 109 Linné ging es stets darum, den Schöpfungsplan ordnend nachzuvollziehen; von daher auch das verbreitete Diktum Deus creavit, Linnaeus disposuit. 110 Linné ersetzt damit ein Kriterium eines seiner schwedischen Vorläufer, Petrus Artedis, der die Erscheinungsform der Füße für maßgeblich hielt. BROBERG, Homo Sapiens, in: FRÄNGSMYR u. a., Linnaeus, 156–194, hier 169, bietet dafür zwei Erklärungen an: Zum einen habe es Linné gereizt, mit den Zähnen „the possibility of an animal classification based on numerical criteria on the same lines as the sexual system of plants“ zu Verfügung zu haben; zum anderen: „there may also have been a theological aspect in that the teeth provided the best evidence for the way things were arranged at the Creation; they showed the form of life for which man was intended.” 111 „Linnaeus was convinced that neither physical criteria nor even other characteristics permit a boundary to be drawn between man and ape.“ Ebd., 167. Broberg führt diese Einbettung des Menschen auch auf die an die aristotelische Logik anknüpfende schulische Vorbildung Linnés zurück: „It is reasonable to assume that Linnaeus, like every other scholar, had had the proposition Homo est animal drilled into him in his school-days.” Ebd., 166.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder know one feature by which man can be distinguished from apes, if it be not that all the apes have a gap between their fangs and their other teeth […].112
Linné verteidigte diesen Standpunkt an mehreren Stellen offen – und mit einer so emotionslos rationalen Argumentationslinie, dass man sich fragt, ob er die „Freud’sche Dimension“113 seiner Arbeit je auch nur in Ansätzen nachvollziehen konnte oder wollte. Die Aufgabe des Naturhistorikers verortete er in der Fauna Svecica114 darin, wissenschaftlich haltbare Kriterien zu finden, mit denen man den Menschen sicher vom Affen trennen könne. Aber: Es gebe nun einmal vielfältige Belege für Affen, die weniger behaart seien als Menschen und aufrecht gingen. Die Sprache? Sicher, sie scheine Mensch und Affen zu separieren, sei aber, richtig bedacht, kein körperliches Wesensmerkmal, sondern nur potentia oder effectus – ein Resultat der Erziehung und insofern auch keine der Disziplin entsprechende nota characteristica. Was den Menschen vom Tier scheide, bleibe der empirischen Betrachtung unzugänglich: die Vernunft. Die bald einsetzende Kritik an der Positionierung des Menschen durch Linné hat BROBERG in detaillierter Form nachvollzogen.115 So bemängelte Johan Gottschalk Wallerius bereits 1741 die Aufnahme des Menschen in die Klasse der Quadrupeden mit anatomischen und physiologischen Argumenten. Ebenso könne Linné die Ordnungsbezeichnung (Anthropomorpha) kaum aufrecht erhalten: Sie möge für die Affen gelten, was aber sei der Sinn, den Menschen als menschenähnlich zu bezeichnen? In ähnlicher Ausrichtung kritisierte Jacob Theodor Klein das Attribut hirsutus für die Klasse der Quadrupeden; Linné möge nur an Nilpferde, das Rhinozeros oder das Gürteltier denken. Die hinter dieser bisweilen etwas kleinkariert anmutenden Kritik lauernde Furcht, so erkannte auch Linné, war allerdings eine andere, nämlich dass die theologisch fundamentierte herausgehobene Position des Menschen verloren gehen würde. Selbst ein eifriger Förderer wie Johan Frederick Gronovius sah sich schon 1735 veranlasst, in einem Brief an Linné zu vermerken, dass der Mensch bei genauem Hinsehen doch die Spitze der Schöpfung darstelle und über allen anderen Kreaturen stehe, die der allgewaltige Gott zu Unterhaltung und Nutzen des Menschen erschaffen habe.116 Sich selbst unter diese Geschöpfe einzuordnen kam aus dieser Perspektive einem Sakrileg, der Rückweisung einer von Gott zugedachten Rolle im Schöpfungsplan gleich. Die hohe Zahl der Auflagen, durch die das Systema Naturae ging, zeugt jedoch von dessen Popularität. Linné arbeitete konsequent neue Befunde ein, ohne 112 Menniskans Cousiner, ed. T. Fredbärj (Valda avhandlingar av Carl von Linné nr 21), Ekenäs 1955, 4; zit. n. BROBERG, Homo Sapiens, 167. 113 Freud erschien die Einbettung des Menschen ins Tierreich, die ihren Abschluss mit Darwin finden sollte, als „die zweite, die biologische Kränkung der Menschheit.“ Vorausgegangen war dieser bereits die kosmologische Kränkung, nicht das räumliche Zentrum der Schöpfung zu bilden. Vgl. SIGMUND FREUD, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, 12: Werke in den Jahren 1917–1920, London 1947, 7 f. 114 Vgl. CAROLUS LINNAEUS, Fauna Svecica, Holmiae 1746, praefatio. 115 BROBERG, Homo Sapiens, 170 ff. 116 Brief von Gronovius an Linné, 1. September 1735 (Linnean Society, London, Letters V: 363– 364); hier zit. n. BROBERG, Homo Sapiens, 172.
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jedoch dessen wesentliche Linien zu ändern. Eine echte Bruchstelle offenbart erst die zehnte Auflage von 1758.117 Als Reaktion auf die oben erwähnte Kritik finden sich zunächst terminologische Neuerungen: An die Stelle von Quadrupedia tritt nun die Bezeichnung Mammalia (Säugetiere), der ebenso kritisierte – und tatsächlich logisch wenig nachvollziehbare – Begriff Anthropomorpha wird durch Primates ersetzt. Stringent durchgesetzt wird darüber hinaus die schon aus den Species Plantarum bekannte binäre Nomenklatur der Arten.118 Aus homo wird also nun homo sapiens.119 Aber nicht nur das: An die Stelle der Detailarmut der Erstauflage tritt nun eine erstaunliche Diversifizierung, in der Linné der Gattung Mensch eine große Anzahl an Subkategorien hinzufügt. Grundlegend neu ist zunächst die Auftrennung der Gattung in zwei Spezies: Homo Sapiens oder Diurnus und Homo Troglodytes oder Nocturnus. Unter letzterem Terminus fasst Linné nun vor allem den Homo sylvestris Orang Outang und den Kakurlacko, physiologisch vom Homo sapiens durch die Nickhaut unterschieden, und stellt fest: Speciem Troglodytae ab hominem sapiente distinctissimam, nec nostri generis illam nec sanguinis esse, statura quamvis simillimam, dubium non est, ne itaque varietatem credas, quam vel sola Membrana nicitans absolute negat.120
Schon die von Linné als Beleg angeführten Quellen verweisen auf die hier zugrunde liegende Mechanik: Aus der Summe antiker und moderner Kenntnisse sollte Beweiskraft geschöpft werden, um die andauernde Unsicherheit bezüglich der Einordnung der großen Menschenaffen zu beseitigen121; in großer Eintracht findet sich Plinius neben der Reiseliteratur des 18. Jahrhunderts.122 Elemente der 117 CAROLUS LINNAEUS, Systema Naturae. Regnum Animale, Editio Decima [1758], ND Leipzig 1894]. 118 Die binäre Nomenklatur benennt die Art durch einen feststehenden und im gesamten System nur einmal vorhandenen Namen, der aus zwei Teilen besteht, dem Gattungsnamen und einem charakterisierenden Beiwort. 119 Zur Signifikanz dieser Bezeichnung vgl. MICHAEL CHAZAN, The Meaning of Homo Sapiens, in: CORBEY & THEUNISSEN, Ape, Man, Apeman, 229–240. Für Chazan betont der Terminus die ambivalente Position des Menschen in Linnés System: „a major tension in Linnaeus’ system is that Linnaeus at once sees humans as part of the animal kingdom and as something apart.“ 120 LINNAEUS, Systema Naturae, 101758, 24. 121 Diese Abgrenzungsfrage wird, im Großen und Ganzen erschöpfend, bei TINLAND, L’Homme sauvage, 89–130 untersucht. 122 Trotz der allmählichen Durchsetzung der Linnéschen Taxonomie wurde diese Ungewissheit durch eine flottierende Terminologie verschärft, so dass man sich sicher sein kann, dass ganze Forschergenerationen aneinander vorbei reden mussten. Wie groß diese Konfusion tatsächlich war, und wie sie entstand, zeigt eindrucksvoll die Übersicht, die SCHREBER, ein Schüler Linnés, noch 1775 vorlegte. Er fand in der einschlägigen Literatur mehr als 20 verschiedene Bezeichnungen. JOHANN CHRISTIAN DANIEL VON SCHREBER, Die Säugthiere in Abbildungen nach der Natur mit Beschreibungen. Erste Abtheilung: Der Mensch. Der Affe. Der Maki. Die Fledermaus, Erlangen 1775 [ND Erlangen 1817], 54 ff. Immerhin war es Schreber aber schon gelungen auszumachen, dass hier mindestens zwei grundverschiedene Arten vorlagen (kleinerer und größerer Orang outang). Keine Selbstverständlichkeit, denn neben ambivalenten Texten fand Schreber Abbildungen „nach übel ausgestopften Häuten mit sehr wenig Kunst gezeichnet, insonderheit das Profil des Gesichts nicht recht getroffen, die Leiber zu dünne
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komparativen Anatomie treten demgegenüber weit in den Hintergrund, sofern sie überhaupt erfasst werden.123 Von weit größerer Bedeutung ist jedoch die Diversifizierung der Spezies Homo Sapiens, oder, als Synonym, Homo diurnus. Linné behält hier zunächst, wie bereits 1735 eingeführt, die Aufteilung des Menschen in Varietäten (Americanus, Europaeus, Asiaticus, Afer) nach Hautfarbe bei, ergänzt diese jedoch durch weitere Attribute, die sich auf Physiologie, Charakter und Sitten beziehen.124 Eine Sonderkategorie ist für den Homo Monstrosus reserviert: Noch stärker als beim Homo Troglodytes zieht Linné zum Beleg antike Quellen heran, und so findet sich hier neben den riesenhaften Patagoniern das dem humanistisch Gebildeten geläufige Panoptikum von Macrocephali, Monorchides und Plagiocephali – beides nun gestützt von einer der überragenden naturkundlichen Autoritäten des 18. Jahrhunderts.
CAROLUS LINNAEUS, Systema Naturae. Regnum Animale, Editio Decima [1758], ND Leipzig 1894, 20 (Ausschnitt). Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
und die Beine zu lang gemacht.“ Ebd., 64. Glück hatte so derjenige, der, mehr oder weniger zufällig, auf eine geglückte Darstellung stieß. 123 Vgl. LEPENIES, Naturgeschichte und Anthropologie, 32. 124 Ohne dass Linné dieses Ziel explizit verfolgt hätte ergab sich dadurch die Möglichkeit, eine Wertigkeitsreihenfolge aufstellen zu können; die katastrophalen Folgen dieser Rassenlehre, wie sie sich vor allem im 19. Jahrhundert ausprägte, sind bekannt. Die Forschungsliteratur ist in diesem Bereich stark angewachsen; einen knappen Einstieg in die Problematik eröffnet etwa PAUL MÜNCH, Wie aus Menschen Weiße, Schwarze, Gelbe und Rote wurden. Zur Geschichte der rassistischen Ausgrenzung über die Hautfarbe, in: Essener Unikate. Berichte aus Forschung und Lehre, Bd. 6/7, Essen 1995, 87–97.
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Unmittelbar unter der Gattungsbezeichnung Homo mit dem nach wie vor vorhandenen Epithet Nosce te ipsum, das im übrigen in einer weitläufigen Fußnote in seinem Bezug zum Menschengeschlecht geklärt wird, und der Artbezeichnung Sapiens (mit dem Zusatz H. diurnus; varians cultura, loco.) hat jedoch eine ganz neuartige Gruppierung Einzug gehalten: Der Homo Sapiens Ferus mit der Kennzeichnung tetrapus, mutus, hirsutus.125 Angeführt werden, wie oben ersichtlich, zunächst sechs Beispiele. Anlässlich der zwölften, und damit letzten von Linné selbst besorgten Auflage, treten drei weitere hinzu: Der Juvenis Bovinus bambergensis, die Puella Transisalana und die Puella Campanica.126 Je länger man die typologische Darstellungsform betrachtet, desto mehr Komplikationen scheinen sich zu ergeben. Klar ist zunächst, dass der Homo sapiens ferus zur eigentlich menschlichen Spezies zu zählen ist: Linné nummeriert hier mit arabischen Ziffern, „1.“ für den homo diurnus, „2.“ für den homo nocturnus. Dann jedoch beginnen die Merkwürdigkeiten: Die Beifügung Ferus ist, ebenso wie die sich unten anschließenden Varietätenbezeichnungen, kursiv gesetzt, scheint diesen also hierarchisch gleichgeordnet zu sein. Bei genauerem Hinsehen ist dies jedoch nicht der Fall: Die Varietäten werden, einsetzend mit dem Homo sapiens Americanus und endend erst mit dem Homo sapiens monstrosus (nicht etwa Afer, die Hautfarbe kann also nicht das entscheidende Kriterium sein) von . bis . subordiniert und durch einen Absatz von jeweils etwa einer Zeile abgetrennt. Beides fehlt jedoch beim Homo sapiens ferus, was dazu führt, dass dessen Attribute – tetrapus, mutus, hirsutus – auf den ersten Blick die des Homo sapiens generell zu sein scheinen. Welche Bedeutung, welcher taxonomische Rang wurde also dem wilden Menschen zugewiesen, was war seine Funktion innerhalb des Systems, welche Aussage über den Status des Menschen machte er? Linné jedenfalls scheint mit seinem Arrangement zufrieden gewesen zu sein, denn abgesehen von der Erweiterung der Beispiele unterscheidet sich auch die zwölfte Ausgabe des Systema Naturae nicht im Geringsten vom hier Dargestellten. Die Hoffnung, dass der beigefügte Text den Sachverhalt entwirren helfen könnte, zerfliegt bald: Linné enthält sich bezüglich dieses Problems jeglichen Kommentars. Auch die Dissertation Anthropomorpha127, die vor allem Linnés Gedankengänge bezüglich des Homo Nocturnus recht detailliert erläutert, liefert nur wenige Anhaltspunkte. Die bereits aus der zehnten Auflage des Systema Naturae bekannten Fälle werden nochmals aufgeführt und um die Puella Campa125 Dass man paradoxerweise taxonomisch von einem Homo sapiens ferus sprechen muss – eine logische Widersprüchlichkeit auf sprachlicher Ebene, denn wie kann ein wilder Mensch, dem zudem die Sprache mangelt, als sapiens bezeichnet werden? – sollte man nicht überbewerten; dies ist Folge der o. a. strikten Anwendung des binomischen Prinzips. Das Ersetzen von sapiens durch einen generelleren Begriff dürfte Linné gescheut haben, um nicht noch mehr Wasser auf die Mühlen seiner Kritiker zu gießen. 126 CAROLUS A LINNÉ, Systema Naturae, Tomus I, Editio Duodecima, Reformata, Holmiae 1766, 28. 127 CHRISTIANUS EMMANUEL HOPPIUS, Anthropomorpha (Amoenitates Academiae, Volumen Sextum) [1760], Erlangae 21789. Hoppius war einer der Doktoranden Linnés; die Arbeit erschien, offenbar aufgrund der besonderen Qualität, jedoch nicht unter dem Namen Linnés, sondern des Doktoranden.
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nica erweitert, die spezifischen Merkmale jedoch kaum mehr als stichpunktartig referiert. Linné, oder besser dessen Doktorand HOPPIUS, rückt den wilden Menschen hier betont nahe an das Tier, insbesondere die Affen, heran – so nah, dass er kaum ein relevantes körperliches oder ethologisches Unterscheidungsmerkmal zu finden können glaubt. 1:O Quod loqui prorsus non potuerint. 2:O Quod omnes fuerint hirsuti. 3:O Quod manibus & pedibus innixi cucurrerint, arbores sine mora conscenderit, ad occursum hominum attoniti facti fuerint, similiores bestiis & simiis, quam sibi ipsi; unde etiam factum est, ut discrimen naturale has & simiarum genus ponendum, aegre omnino obtineretur.128
Dies ist allerdings nur die eine Seite der Medaille, denn betont wird in der unmittelbaren Folge, dass eines gleichwohl nicht entgehe könne: Wie ungeheuer der Abstand zwischen Tier und Mensch vom moralischen Standpunkt aus betrachtet sei.129 Die einzigartige Stellung des Menschen in der Schöpfung, insbesondere die unsterbliche und zu Vernunft fähige Seele spricht Linné auch dem Homo Sapiens Ferus nicht ab; jedoch erläutert er, dass die Ausbildung spezifisch humaner Fähigkeiten eben kein Automatismus sei, sondern der Hilfe, des Sozialen, bedürfe.130 Dies sind allerdings keine Kriterien, die dem Bereich der Naturforschung zuzuordnen wären, und so betont Hoppius gegen Ende der Passage nochmals, dass den Menschen in seiner natürlichen Verfassung – sehe man von der Lücke vor den Reißzähnen ab – nichts von den Simia unterscheide: Weder Gesicht noch Extremitäten oder aufrechter Gang, „neque aliud quidquam in externa structura hominis, discrepet ab omnibus Simiarum speciebus.“131 Diese Überlegungen fanden auch Eingang in die deutsche Ausgabe des Systema Naturae132, die der Erlanger Naturhistoriker PHILIPP LUDWIG STATIUS MÜLLER 1773 vorlegte und die für die Rezeption und Popularisierung Linnéschen Gedankenguts im deutschsprachigen Raum von erheblicher Bedeutung war.133 Schon die Beschriftung des Frontispizes – Linnaeus composuit. Houttuynus explicavit. Mullerus ad Ed. XII reformavit. – verdeutlicht, dass Müller dabei keineswegs eine bescheidene werkgetreue Übersetzung intendierte. Vielmehr wählte er als Grundlage die bereits vielfach veränderte und erweiterte holländische Ausgabe Houttuyns, die er wiederum mit Erklärungen versah, so 128 HOPPIUS, Anthropomorpha, 65 f. 129 „[…] quam ingens sit differentia inter brutum & hominem, utrumque si parte morali consideravis.” Ebd., 66. 130 „[…] mihi incumbit, ne cum sutore ultra crepidam ascendente, fines justos transeam, manere intra limites praefixos, id est, considerare hominem, respectum omnium partium corporis, more Naturae consultorum.“ Ebd. 131 Ebd. 132 PHILIPP STATIUS MÜLLER, Des Ritters Carl von Linné königlich schwedischen Leibarztes &c. &c. vollständiges Natursystem nach der zwölften lateinischen Ausgabe und nach der Anleitung des holländischen Houttuynischen Werks mit einer ausführlichen Erklärung ausgefertiget von P. L. St. Müller, Erster Theil: Von den säugenden Thieren, Nürnberg 1773. 133 Vgl. JAHN, Biologiegeschichte, 252.
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dass als Endresultat eher eine Schrift über Linnés Systematik denn eine bloße Eindeutschung zustande kam. So führt Müller als Beispiele für homines feri zwar die auch von Linné vorgeschlagenen Exempel an, versieht diese aber zum Teil – offenbar wenn die entsprechenden Quellen für ihn greifbar waren und um den kompilatorischen Wert seiner Ausgabe zu erhöhen – mit weiteren Erläuterungen134: Daß der Mensch unter allen Thieren am meisten fähig ist, gewisse Handlungen zu verrichten, und in Künsten und Wissenschaften den größten Grad der Geschicklichkeit zu erhalten, solches lehrt die tägliche Erfahrung; jedoch bringet ihm die Erziehung und die Bearbeitung seines Verstandes, sodann die Uebung seines Leibes, diese Vortheile am meisten zuwege, und dieses unterscheidet sich oft auf eine sichtbare Weise, nach der Beschaffenheit des Climats und der Sitten desjenigen Landes oder Volkes, unter welchem er gebohren ist. Denn sobald wir uns einen Menschen gedenken, der keine Erziehung gehabt, der zu gar nichts angehalten ist, und der gleichsam gänzlich der Natur überlassen worden, so gewöhnet er sich nicht einmal einen geraden Gang an, sondern kriecht auf Händen und Füssen, wie die Thiere auf vier Beinen, herum. Er bleibt stumm und lernet gar keine Sprache, und woferne er sich von Jugend auf in den Wildnissen aufhält, ohne Kleidung und Bedeckung, so bekommt er auch äusserlich ein thierisches Ansehen, wird wild, unbändig und fürchterlich in seinen Gesichtszügen, und erhält einen rauhen, haarichten und schwärzlichten Körper. Wenigstens sind Beyspiele vorhanden, die uns hiervon vollkommen überzeugen. […] Aus diesen Beyspielen erhellet allerdings, was der Mensch in seinem verderbten Naturzustande ist, und wie hoch wir eine gute Erziehung zu schätzen haben. Denn auch diese macht einen wichtigen Unterschied zwischen den gesitteten und ungesitteten Völkern aus, so wie die Weltgegend, das Climat und die Landesart zu der äusserlichen Gestalt und besonderem Temperament der Menschen vieles beyträgt.135
Müllers Ausführungen liefern zwischen den Zeilen eine plausible Erklärung dafür, warum Linné seine systematische Aufzählung der Varietäten von Homo Sapiens gerade mit der außergewöhnlichsten und zweifellos mit Abstand kleinsten beginnt. Wenn es tatsächlich erst Erziehung und Sozialisation sind, die die menschlichen Potenzen – Sprache, aufrechter Gang, physiologische Besonderheiten – aktualisieren, findet sich im Homo Sapiens Ferus sozusagen ein Sockel- oder Basiszustand des Menschen, unter den die diskret gedachte Spezies nicht absinken kann. Anders herum gedacht wäre dann aber alles darüber Hinausgehende naturkundlich betrachtet nur unwesentlicher zivilisatorischer Zierat. Jedoch ist die Argumentation nicht ganz widerspruchsfrei: Zwar möchte Müller eines „Menschen gedenken, der keinerlei Erziehung gehabt“ und „in seinem verderbten Naturzustande ist“ – liefert dann aber Beispiele, in denen die menschliche Erziehung sozusagen nur durch eine zwar defiziente, aber immerhin vorhandene tierische ersetzt wurde. Der eigentliche degré zéro kann hier jedenfalls nicht abgeleitet werden, es sei denn, man möchte das enorme Adaptionsvermögen des Menschen als wesentliches Kriterium setzen.136 Gleichzeitig wirft die Passage aber auch 134 Dies gilt insbesondere für die puella campanica; hier kennt Müller offensichtlich Condamines Bericht von 1755. 135 MÜLLER, Des Ritters Carl von Linné […] vollständiges Natursystem, 85 f., 88. 136 Man gelangt also auch von dieser Seite zu einer ähnlichen Interpretation, wie sie bereits TINLAND, L’Homme Sauvage, 58 entwarf: „Sans doute n’en fait-il pas à proprement parler une espèce distincte […] mais l’Homo ferus n’en constitue pas moins une variété pour lui
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Licht auf die von Müller angenommene Bedeutung der Rassen in Linnés Konzept, indem deren hereditäre Wirkkraft stark relativiert wird. Theologisch entlastet wird so auch die Heranrückung des Menschen an das Tier, konnte doch auf die gottgegebene Bildsamkeit des Menschen rekurriert werden.
Philipp Statius Müller verstand sich eher als interpretierender Vermittler denn als bloßer Übersetzer des Systema Naturae, wie die Beschriftung im unteren Bildteil zeigt. Die Bandbreite der Naturgeschichte und die dafür maßgebliche Rolle der Entdeckungsreisen finden greifbaren Niederschlag. PHILIPP STATIUS MÜLLER, Des Ritters Carl von Linné […] vollständiges Natursystem (1773), Frontispiz. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
Der von Linné an keiner Stelle seines Werks explizierte Sinn der Aufnahme des Homo Ferus in das Systema Naturae scheint insofern vielfach motiviert gewesen zu sein. Einerseits konnten die vorliegenden Beschreibungen die Behauptung stützen, dass der Mensch aus naturkundlicher Perspektive zweifellos dem Tierbien distincte de l’espèce humaine.“ Dies sei keine „différenciation biologique“, sondern einfach eine Folge der Isolierung. „Il s’agit donc ici d’êtres humains réduits au ‚degré zéro‘ d’humanité, et par là, parvenu à un mode d’existence qui ne laisse subsister que des formes de comportement animales.“
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reich zuzuordnen war, und so verkürzt Linné dessen Eigenschaften – durchaus nicht den Quellen gemäß – zur Summe tetrapus, mutus, hirsutus, klar tierischen Attributen. Ob Linné sein Material nicht intensiv studiert hatte, oder er sich hier – wie auch Rousseau in seinem Umgang mit der Reiseliteratur – einen kreativen Deutungsfreiraum genehmigen zu können glaubte, kann nicht geklärt werden. Willkürlich war die Wahl jedoch nicht, denn im Ensemble attackierten diese Attribute alle traditionell an den Menschen herangetragenen Definitionsversuche: Da auch der Homo sapiens ferus keine distinkte Art darstellte, konnte der Mensch folglich weder über die Sprache, noch über den aufrechten Gang oder die fehlende Behaarung, die immer wieder als Beleg für den homo inermis herangezogen worden war, von der übrigen Schöpfung abgetrennt werden. Mit der Sprache verschwand zudem auch die Möglichkeit, Vernunft klar zu belegen, weil deren äußerliches Attribut fehlte. Da all diese Ansätze also nachweislich fehlschlugen, hatte sich Linné geschickt in die Position manövriert, seine Deutung achselzuckend als die einzige wenigstens nicht falsifizierte präsentieren zu können – Dogmatik hin oder her. Von hier betrachtet erhält dann auch das eigentümliche graphische Arrangement einen Sinn: Nirgends manifestiert sich die These Linnés deutlicher als im Homo sapiens ferus, die Menschenrassen und auch der Homo monstrosus fügen nur unwesentliche Modifikationen hinzu und werden diesem dementsprechend kategorisch untergeordnet. So gedacht hatte der wilde Mensch also keineswegs die Funktion eines Bindeglieds zum Tierreich, und er erscheint ganz folgerichtig nicht an der sonst zu erwartenden Stelle zwischen Homo monstrosus und Homo nocturnus: Kettenvorstellungen lehnte Linné ohnehin ab, sie widersprachen seinem strikt hierarchisch-enkaptisch organisierten System, der Mensch gehörte zum Tierreich und musste nicht an dieses erst angebunden werden. Zum anderen erhellte gerade diese thetische Zuspitzung den besonderen Status des Menschen und verschaffte damit Linné, so mag dieser gehofft haben, auch ein Stück Schutz vor jenen traditionell-religiös motivierten Anfeindungen, die ihn seit spätestens 1735 begleiteten. Die Fallbeispiele wiesen die einzigartige Bildsamkeit und Formbarkeit des menschlichen Geistes und Körpers nach, die diesem jenseits aller kontingenten Varianzen innewohnte. Diese ließen sich dann wiederum durch Gottes Willen und die vernünftige und unsterbliche Seele erklären. Letztere konnte jedoch fraglos nicht mehr zum Untersuchungsgegenstand des Naturalisten erklärt werden, zumindest nicht, solange man nicht radikal materialistischen Vorstellungen anhing. Damit blieb ein von aristotelischem Denken gar nicht weit entfernter Dualismus, der das Potenzial hatte, naturwissenschaftlichempirische wie theologische-ideelle Forderungen zu befriedigen. Weiterhin dürfte ein Nebeneffekt gewesen sein, dass das Konzept der Menschenvarietäten vom Homo Ferus ausgehend verdeutlicht und gestützt werden konnte: Alle Menschen gehörten der selben Spezies an, die feststellbaren Unterschiede zwischen diesen konnten auf kulturelle und klimatische Einflüsse zurückgeführt werden – ohnehin erschienen sie, den Homo Ferus vor Augen, als wenig
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tiefgreifend.137 Entsprechend dieser Linie eines erneuerten Dualismus, bezeichnenderweise jedoch auch die Kompromisslosigkeit des Systema Naturae bezüglich des Körpers relativierend, leitet denn Müller das Kapitel über die Säugenden Thiere ein; fast meint man, nicht Linné, sondern Buffon sprechen zu hören: Der Mensch wird billig als das Haupt aller Thiere oben an gesetzt. Er gehöret würklich zum Thierreich, denn die körperliche Verfassung lehret es, und zwar zu den vierfüßigen Thieren, (denn er geht wild auf allen Vieren,) und zu den säugenden […]. Er ist aber das edelste unter allen Thieren: weil sein Körper der künstlichste und schönste ist, weil er gerade gehet, und zu den meisten Verrichtungen am bequemsten ist, und endlich vorzüglich deswegen, weil in ihm eine vernünftige Seele wohnet, die nach dem Bilde Gottes erschaffen ist, und weil ihm von Gott die Oberherrschaft über alle Thiere gegeben worden, ja er ist der König der Thiere.138
4.1.4. Condillac: Sinnlose Zeichen Blieben Buffon wie Linné in ihrer Anthropologie auch letzten Endes einem Dualismus verhaftet, so variierten sie diesen doch auf vielfältige Weise, während La Mettrie sich von dem Konzept ganz verabschiedet hatte. Rekurs genommen wurde in beiden Fällen auf einen der bedeutendsten französischen Theoretiker des Jahrhunderts, ETIENNE BONNOT DE CONDILLAC. Dieser vertrat einen an englischen Vorbildern geschulten, nichtsdestotrotz aber eine ganz eigene Ausbildung entwickelnden Sensualismus, in dem die Wilden Kinder ebenfalls ihre Rolle spielten. Bereits LOCKE hatte in seinem Essay Concerning Human Understanding den Grundstein des modernen Sensualismus gelegt.139 Sei es auch „an established opinion amongst some men, that there are in the understanding certain innate principles”140, müsse man solches bei genauerem Nachdenken doch kategorisch
137 Linné dürfte kaum vorausgeahnt haben, dass sein System jedoch auch Platz bot, die Annäherung der gesamten menschlichen Spezies an die Tiere durch Rückgriff auf die Rassen zu relativieren, und so tatsächlich rassistischer Theoriebildung eine Bahn zu brechen. So rückt etwa Virey in seinem Nouveau Dictionnaire d’Histoire Naturelle nur den Neger bis auf Haaresbreite an den Orang Utang heran, um die seiner Meinung nach „höherwertigen“ Rassen damit aufzuwerten: „La conformation (du Nègre) se rapproche même un peu de celle de l’Orang. […] Tous ces caractères montrent véritablement une nuance vers la forme des singes, et, s’il est impossible de la méconnaître au physique, il est même sensible dans le moral.“ J.-J. VIREY, Nouveau Dictionnaire d’histoire naturelle appliqué aux arts […], 36 Bde., Nouvelle édition Paris 1816–1819; hier Bd. XV, 167. 138 MÜLLER, Des Ritters Carl von Linné […] vollständiges Natursystem, 61. 139 Zum englischen Einfluss auf die kontinentale Aufklärung vgl. etwa REINHARD BRANDT, Die englische Philosophie als Ferment der kontinentalen Aufklärung, in: SIEGFRIED JÜTTNER & JOCHEN SCHLOBACH, Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt, Hamburg 1992, 66–79. Brandt hält Lockes Essay Concerning Human Understanding für „das fundamentale philosophische Werk, aus dem die Aufklärung spätestens seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wesentliche Elemente ihres Selbstverständnisses herleitet.“ Ebd., 66. 140 JOHN LOCKE, An Essay Concerning Human Understanding, I, 1, 1. Das Werk erschien als An Essay Concerning Humane Understanding 1690 in erster Auflage in London. Den Zitationen liegt die Online-Ausgabe von ROGER BISHOP JONES, URL: http://humanum.arts.cuhk.edu.hk/ Philosophy/Locke/echu/ zugrunde. Anbetrachts der großen Menge gebräuchlicher Ausgaben
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ablehnen: Weder die Kenntnis Gottes, noch die Sätze vom Widerspruch oder der Identität seien dem Menschen in die Wiege gelegt. Warum sonst verfügten beispielsweise Kinder oder geistig Beeinträchtigte nicht über sie?141 Nein, der menschliche Geist sei mit der Geburt nichts als ein „white paper, void of all characters, without any ideas.“142 Woher stammten dann aber die Ideen, jene Grundbausteine, ohne die Denken nicht möglich war? Locke postulierte zwei, sozusagen nachgeschaltete Quellen: Einerseits führten die Sinnesorgane dem Geist von außen sensations, also Sinneswahrnehmungen, zu. Zum zweiten beobachte und bewerte das Bewusstsein die von außen zugetragenen Informationen sozusagen selbst und generiere so innere Erfahrungen (reflexion).143 Diese einfachen Ideen kombiniere dann der Verstand zu komplexen Ideen – wobei die Kombinationsmöglichkeiten wohlgemerkt durch die vorhandenen einfachen Ideen, und damit den Zustrom der sensations und Bildung der reflexions, begrenzt wurden. Vereinfachend ausgedrückt: Wo nichts zugeliefert wurde, konnte auch eine keine intellektuelle Höchstleistung zu erwarten sein – und insbesondere Beobachtungen von Kindern schienen dies zu bestätigen.144 Condillac hatte, Lockes Untersuchungen aufnehmend, ebenfalls stets bestritten, dass höhere Verstandestätigkeiten angeboren seien. Während aber Locke Ideen auf zwei verschiedene Ursachen zurückzuführen können glaubte – sensation und reflexion –, machte Condillac auch aus der Reflexion ein Produkt der Sinneswahrnehmungen. Um diesen Gedankengang zu exemplifizieren, griff er auf das Bild der Statue zurück, innerlich lebendig und mit allen Organen versehen, aber von Sinneseindrücken abgeschirmt durch ihre Marmorhaut. Entfernte man nun den Marmor partiell, konnte man feststellen, wie sich die intellektuellen und moralischen Verstandesfähigkeiten der Statue entwickelten. Condillac greift als Beispiel auf den Geruchssinn zurück – Sehen, Hören und Schmecken hätten jedoch ebenso gute Dienste geleistet. Legte man also die Nase frei, konnte die Statue nichts als Gerüche identifizieren. Ausdehnung, Form, Klang oder Farbe mussten ihr verschlossen bleiben. Platzierte man nun eine Rose vor der Statue, ergab sich ein olfaktorischer Sinneseindruck. Für den außenstehenden Betrachter eine Statue, die eine Rose riecht. Für die Statue selbst aber ist dies nicht der Fall: Abgetrennt von allen andern Sinneseindrücken ist sie was man Rosengeruch nennt, sie weiß weder, dass die Rose ein Objekt, noch sie ein Subjekt ist. Dieser Eindruck, aus dem eine Sinneswahrnehmung resultiert, ist also das einzige, mit dem diese Statue beschäftigt ist: Der Eindruck ist zu Aufmerksamkeit geworden. Entfernt man die Rose, verbleibt ein Echo des Eindrucks: Erinnerung. Setzt man die Statue nun den Gerüchen anderer Blumen aus, können diese mit früheren
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und der kleinschrittigen Strukturierung des Werkes wurde bei den Stellenverweisen auf die Herstellung einer Seitenkonkordanz mit einer Druckversion verzichtet. Ebd., I, 1, 5. Ebd., II, 1, 2. Ebd., II, 1, 3–4. „No ideas but from sensation and reflection, evident, if we observe children.“ Ebd. II, I, 20.
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Eindrücken verglichen werden; die einen werden als angenehm, die anderen als unangenehm empfunden. Es entstehen Gefühle: Aversion, Hass, Furcht, aber auch Anziehung und Hoffnung. So entstehen aus dem Sinneseindruck Vorlieben, Begierden und die Willenskraft. Der Wille ist also keinesfalls eine neue Fähigkeit, die neben den Sinneseindrücken steht, sondern ein Resultat derselben. Multipliziert man die Sinneseindrücke, bilden sich die höheren rationalen Fakultäten weiter aus: Urteil, Reflexionsvermögen, Abstraktion – Verstand. Aus vergangenen Eindrücken sind Ideen, abgelegte Kopien, geworden, die ständig mit neuen Eindrücken verglichen werden können. Wenn die Statue Sinneseindrücke vergleicht, fokussiert sie ihre Aufmerksamkeit auf zwei Dinge zugleich: Die Idee, oder den alten Bezugspunkt, und den neuen Sinneseindruck. Dabei nimmt sie unausweichlich Unterschiede wahr, die in einem Urteil münden. Vergleich und Urteil sind daher nichts als Aufmerksamkeit – womit nun aus Sinneseindrücken zuerst Aufmerksamkeit, dann Vergleich und schließlich das Urteil entstanden ist. Einige der empfangenen Gerüche vermittelten Wohlgefühl, andere Schmerz oder Abneigung. Diese werden nun von den ehemaligen Zulieferern abgespalten, so dass sich Abstrakta entwickeln: Freude, Schmerz, Zahl, Dauer. Diese generellen Ideen sind nicht mehr an den Geruchssinn gebunden und stellen die höchste Form des Verstandes dar. Auch sie sind nur Modifikationen der Sinneseindrücke, und die innere Wahrnehmung, das Selbst, ist nicht mehr als die Summe aller je empfangenen Sinneseindrücke. Soweit gelangt Condillac nur unter Rückgriff auf einen Sinn; fügt man nun auch das Sehen, Hören, Schmecken hinzu, werden die zugelieferten Sinneseindrücke – Farbe, Klang, Geschmack – zu den schon vorhandenen addiert, wird das intellektuelle Innenleben der Statue komplexer und vielfältiger. Allerdings: So lange zu diesen nicht der Tastsinn tritt, muss der fühlenden Statue die Erkenntnis einer im Raum ausgedehnten Außenwelt verborgen bleiben. Nur dieser, der bedeutendste aller Sinne, vermag tatsächlich Ideen von Ausdehnung, Form, Solidität und Körperhaftigkeit zu vermitteln. Noch nicht einmal der Sehsinn kann dieses – wie schließlich in La Logique bewiesen werden sollte – bewerkstelligen, und Condillac war fest davon überzeugt, dass Blinde, die das Augenlicht zurückerlangt hatten, ebenfalls zunächst auf den Tastsinn zurückgreifen mussten um ihre visuellen Eindrücke mit der Außenwelt abzugleichen: Ansonsten wäre der ihnen präsentierte Ball eine schattierte zweidimensionale Scheibe geblieben. In einem Wort: Condillac vertrat die Ansicht, dass alle Ideen, und damit alle Geistesoperationen, auf Sinneseindrücke zurückzuführen waren, wobei der Tastsinn eine besondere Bedeutung erhielt.145 Wie ließ sich in diesem, von nur einer Ursache angestoßenen System aber erklären, dass nicht alle Menschen, auch wenn sie praktisch identischen Sinneseindrücken ausgesetzt waren, dieselben intellektuellen Kapazitäten entwickelten? 145 Die Darstellung folgt der von J. CARL MICKELSEN herausgegebenen Online-Version von ALFRED WEBER, History of Philosophy, § 59: Condillac, New York 1908; URL: http://www.class.uidaho.edu/mickelsen/texts/Weber%20-%20History/Condillac.htm. Condillac führt das Gleichnis im Traité des sensations [1754], Partie 1, Londres; Paris 1788, 11 ff. an.
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1780, in seinem Lehrbuch der Logik, lud Condillac seine Leser zu einem weiteren Gedankenexperiment ein146: Eine Gruppe von Menschen reist des nachts zu einem Schloss, gelegen auf einer Anhöhe vor einem weiten Panorama von Feldern, Bergen, Städten und Wäldern. Mit der Dämmerung werden die Fenster, nur für einen Moment, geöffnet. Jedes Individuum empfängt eine Flut visueller Sinneseindrücke, simultan vorhandene Farbflecken in zweidimensionaler Anordnung, die alle Teile des Panoramas, in dessen Richtung geblickt wird, umfassen. Aber: Dauert dieser Eindruck nur einen Augenblick, kann niemand sagen, was er gesehen hat. Öffnet man die Läden ein zweites Mal, und nun für längere Zeit, werden dem Auge keinerlei neue Informationen vermittelt: Aber erst jetzt versteht man, was man zuvor gesehen hatte, indem Einzelteile identifiziert und miteinander in Verbindung gebracht werden können. Ob Sinneseindrücke tatsächlich zu einer Erweiterung des Intellekts führten, hing damit davon ab, ob sich das Individuum seiner Sinne auch zu bedienen wusste – ein erlernbarer, aber eben auch zwingend zu erlernender Vorgang. Die Sinne waren wie Werkzeuge, deren Handhabung komplex sein konnte. Oder, um mit Condillac zu sprechen: Man kann nicht tanzen, wenn man nicht lernt seine Schritte zu lenken; man kann nicht denken, wenn man nicht lernt seine Sinneseindrücke zu lenken. Alle wahrnehmbaren Differenzen stammten von hier147, und es ist leicht ersichtlich, dass Anleitung durch die Gesellschaft zu besseren Ergebnissen als das Schmoren im eigenen Saft führen musste. Zumal dann, wenn, wie Condillac dachte, die Ausformung höherer intellektueller Kapazitäten auch daran gebunden war, dass die empfangenen Eindrücke zu sprachlichen Zeichen transformiert wurden; ohne diese hätten sich Denkinhalte nicht fixieren und miteinander kombinieren lassen148, und die Sprache als dem Menschen angeboren zu betrachten verbot sich von selbst. Sprache entwickelt sich daher für Condillac „allmählich im Prozeß der Wechselwirkung mit den Empfindungen und dem Denken in der Praxis der Kommunikation.“149 Zunächst entsteht eine spontane langage d’action – Schreie und Gebärden – zu denen sukzessive einige artikulierte, und damit notwendigerweise auch konventionalisierte Lautzeichen treten, die sich schließlich als Kommunikationsmittel durchsetzen. Denken ist letztlich die mittels Zeichen transformierte Sinneswahrnehmung, 146 ÉTIENNE BONNOT DE CONDILLAC, La Logique, ou Les premiers développements de l’art de penser […], Paris 1780, 14 ff. 147 „Cette inégalité ne peut provenir que de ce que nous ne sçavons pas tous faire également de nos sens l’usage pour lequel ils nous ont été données. Si je n’apprends pas à les régler, j’acquerrai moins de connoissances qu’un autre; par la même raison qu’on ne danse bien, qu’autant qu’on apprend à régler des pas. Tout s’apprend, & il y a un art pour conduire les facultés de l’esprit, comme il y a un pour conduire les facultés de corps. Mais on n’apprend à conduire celles-ci parce qu’on les connoît; il faut donc connoître celles-là, pour apprendre à les conduire.“ Ebd., 6. 148 Vgl. ULRICH RICKEN, Condillac: Sensualistische Sprachursprunghypothese, geschichtliches Menschen- und Gesellschaftsbild der Aufklärung, in: JOACHIM GESSINGER & W. V. RAHDEN (Hg.), Theorien vom Ursprung der Sprache, Bd. 1, Berlin; New York 1989, 287–311; hier 289. 149 Ebd.
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oder la sensation transformée. Die Sprache bricht aber keineswegs Condillacs sensualistisches Grundgebot. Auch ihr liegen Wahrnehmungen zugrunde, und dass mit den gleichen Sinnen wie Menschen versehene Tiere nicht sprechen können, muss daher auf Differenzen in deren Körperbau zurückgeführt werden. Sobald Sprache aber vorhanden ist, tun sich neue Welten auf: Erst durch sie kann der Mensch Herr seiner Geschichte werden. Wo das Tier in jeder Generation von Neuem beginnt, eine begrenzte Anzahl von Kenntnissen zusammenrafft und diese schließlich mit in den Tod nimmt, kann er auf den Kenntnissen seiner Vorfahren aufbauen. Nur er muss das Rad nur einmal erfinden, nur ihm gelingt der Übergang in den Kulturzustand, nur er wird im eigentlichen Sinne schöpferisch tätig, da sich die Zeichen immer wieder neu kombinieren lassen. Für Condillac war der Sprachursprung also ein natürlicher, er ergab sich nicht etwa aus dem Einwirken eines göttlichen Wesens, sondern den Prinzipien des Sensualismus, zu denen man, was die körperliche Organisation des Menschen betraf, nur die sich erweiternden biologischen Kenntnisse addieren musste. Sein Denken passt sich insofern, wie Ricken bemerkt, in das generelle Denken und die generellen Bestrebungen der Aufklärung bruchlos ein.150 Ebenso konnten Condillacs Ideen den Erziehungsoptimismus legitimieren. Schließlich waren es nur zwei Faktoren, von denen Wohl und Wehe des Intellekts abhing: die ausreichende Zufuhr diversifizierter Sinneseindrücke und der Erwerb der Verarbeitungskompetenz, zu dem zwingend Verfügungsgewalt über arbiträre Zeichen gehörte. Es ist dieser Kontext, in den sich im Essay sur l’origine des connoissances humaines die Wilden Kinder, aber auch die Taubstummen einpassen – zwei Stufen ein und derselben Fehlentwicklung. Condillacs Ausführungen beginnen mit dem weniger drastischen Fall des Taubstummen von Chartres. Dieser, ein junger Mann von 23 oder 24 Jahren, hatte zur allgemeinen Verwunderung plötzlich begonnen zu sprechen, nachdem er etwa ein Vierteljahr vorher Hörvermögen erlangt hatte – ohne dass dies bemerkt oder von ihm mitgeteilt worden wäre. Diese Zeit hatte er benötigt, um zuzuhören, das Gehörte leise nachzusprechen und schließlich seine Mutmaßungen über die mit den Worten verbundenen Ideen zu bestätigen. Schließlich begann er, wenn auch nicht perfekt, zu sprechen. Sofort stürzte der Klerus herbei, um ihn bezüglich seines vergangenen Zustands zu befragen: Hatte er – wie nach Descartes zu erwarten sein musste – eine Vorstellung von Gott, von der Seele, von Moral gehabt? Der junge Mann musste dies leider verneinen: Obwohl als Kind gut katholischer Eltern aufgewachsen, die ihm das Kreuzzeichen und korrektes Verhalten in der Kirche beigebracht hatten, 150 „Die sensualistische Ursprungshypothese ist also Bestandteil des Aufklärungsdenkens, das […] Natur, Mensch und Gesellschaft in eine geschichtliche Entwicklungsdimension stellte und den Anspruch einer übernatürlichen vorgegebenen Ordnung durch ein säkularisiertes Bild der Welt und des Menschen ablöste. Die Ablehnung apriorischer eingeborener Ideen in der Anthropologie und Sprachtheorie, der Präformationslehre in der Biologie, eines ahistorischen Naturrechts in der Gesellschaftstheorie, all das waren Aspekte der Ablehnung des Glaubens an präetablierte Strukturen der Welt, die immer mehr zum Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis und davon ausgehend zum potentiellen Gegenstand der Veränderung durch den Menschen wurde.“ Ebd., 291.
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waren seine Gedanken nie an solch einem Punkt angelangt: „il n’avoit jamais joint à tout cela aucune intention, ni compris celle que les autres y joignent.“151 Noch nicht einmal seiner Vergänglichkeit war er sich bewusst gewesen, er hatte „une vie purement animale“152 gelebt. Condillac bedauert zutiefst, dass der Junge gerade Geistlichen in die Hände fallen musste, die ihm Fragen stellten, die dieser nicht beantworten können konnte – anstatt sich danach zu erkundigen, wie und wann überhaupt erste Ideen entstanden waren. Nun könne man nur conjectures anstellen. Aber zweifellos habe der Junge noch nicht über die Fähigkeit verfügt, sein Bewusstsein aktiv zu lenken, seine Aufmerksamkeit sei abhängig gewesen von zufällig auftauchenden Objekten, die dieser ebenso schnell wie sie kamen wieder aus dem Blick verlor. Zwar habe ihn die Gesellschaft zu rohen Verknüpfungen von Zeichen und Ideen gelenkt; allein, diese bezogen sich nur auf seine unmittelbarsten Bedürfnisse.153 Für alles darüber Hinausgehende fehlten jedoch die Worte, und damit das erforderliche Speichermedium, um über solche abstrakteren Belange nachzudenken. Der Junge musste damit sozusagen zwischen Hysterie und Apathie schwanken, je nachdem ob zufällige Sinneseindrücke ihn erregten oder eben nicht. Selbst einfache Ideen konnte er so kaum bilden, von komplexen Urteilen, also eigentlich vernünftigem Denken, ganz zu schweigen: Dafür – und nun wird endgültig klar, wie stark Condillac linguistische Gesichtspunkte gewichtete – fehlten sämtliche abstrakten Sprachelemente, etwa die Konjunktionen.154 Noch schlimmer als einen sourd-muet musste es allerdings, verfolgte man diese Linie weiter, denjenigen treffen, der der Gesellschaft entrissen, und somit jeglicher Zeichen entblößt war: „quelqu’un […] qui, avec des organes sains & bien constitués, auroit, par exemple, été élevé parmi les ours.“155 Ein solcher Mensch konnte nun eigentlich über gar kein Erinnerungs- und folglich auch Reflexionsvermögen mehr verfügen und musste in einem sozusagen zeitlosen Zirkel immer wieder Dasselbe durchleben, ohne dies zu realisieren. Nur das zufällige Wiederauftauchen von Objekten, an die Wahrnehmungen gebunden waren, würde diese wieder aktualisieren können. Er würde rein triebhaft-intuitiv handeln und fraglos seine tierischen Genossen in allem imitieren; kurzum ein Zustand, in dem „peut-être un Descartes, à sa place, n’essayeroit pas seulement de marcher sur ses pieds.“156 Diesen Zustand könne er, ohne dass die Gesellschaft „des signes arbitraires“ vermittle, nicht verlassen, und so bleibe er völlig außers-
151 ÉTIENNE BONNOT DE CONDILLAC, Essai sur l’origine des connoissances humaines, Bd. 1, 191. 152 Ebd., 191. 153 Ebd., 193. 154 „Raisonner, c’est former des jugemens, & les lier en observant la dépendance où ils sont les uns des autres. Or ce jeune homme n’a pu le faire, tant qu’il n’a pas eu l’usage des conjonctions, ou des particules qui expriment les rapports des différentes parties du discours.“ Ebd., 195 f. 155 Ebd., 198. 156 Ebd., 199.
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tande, seine Seelenfunktionen selbst zu lenken.157 Und auch wenn Condillac noch zu Beginn des Kapitels bedauerte, auf bloße Folgeschlüsse angewiesen zu sein, finden sich schließlich sogar Beweise für seine Überlegungen: Je n’avance pas de simples conjectures. Dans les Forêts qui confinent la Lithuanie & la Russie, on prit en 1694 un jeune homme d’environ dix ans, qui vivoit parmi les ours: il ne donnoit aucune marque de raison, marchoit sur ses pieds & sur ses mains, n’avoit aucun langage, & formoit des sons qui ne ressembloient en rien à ceux d’un homme. Il fut longtemps avant de pouvoir proférer quelques paroles, encore le fit-il d’une maniere bien barbare. Aussi-tôt qu’il put parler, on l’interrogea sur son premier état, mais il ne s’en souvint non plus que nous nous souvenons de ce qui nous est arrivé au berceau.158
Hier passte nun tatsächlich alles in den sorgfältig entworfenen Rahmen: Der Junge hatte tierisches Verhalten übernommen, verfügte über keine Sprache und, noch wichtiger, über keinerlei Erinnerungen an sein wildes Leben. Diese zerrissen in der zwischen Fund und Spracherwerb vergangenen Zeit wie feines Spinnweben, waren sie doch nie durch innere Reflexion verstärkt und mit anderen Eindrücken verbunden worden. Denn Bären mochten den Jungen vielleicht aufziehen; arbiträre Zeichen konnten sie ihm als vernunftlose Tiere nicht liefern. An dieser Stelle werden biologische Implikationen mit einbezogen: Condillac unterscheidet drei Arten von Zeichen: signes accidentels, signes naturels und signes d’institution (oder arbitraires).159 Akzidentelle Zeichen waren fest mit einem Objekt verbunden und konnten bei ihrem Auftreten Erinnerungen auslösen. Hatte das Getöse eines fallenden Felsens einmal zu Verletzungen geführt, konnte das neuerliche Auftreten dieses Geräuschs zu Fluchtreaktionen führen: Zeichen und Ereignis hatten sich verbunden, Vogelscheuchen wären ein weiteres naheliegendes Beispiel. Die natürlichen Zeichen begleiteten die verschiedenen Gefühlszustände: Stöhnen bei Schmerz, Lachen bei Heiterkeit. Die Verwendung arbiträrkonventioneller Zeichen, also Sprache im eigentlichen Sinn, war an höhere intellektuelle Kapazitäten gekoppelt und blieb dem Menschen vorbehalten. Während Condillac also den Tieren guten Gewissens Verfügungsgewalt über akzidentelle und natürliche Zeichen zugestehen konnte, verfügte das unglückliche Kind noch nicht einmal über letztere. Die dahinter stehende Logik ist, folgt man strikt den sensualistischen Prämissen, durchaus einleuchtend. Wäre der Junge in menschlicher Gesellschaft aufgewachsen, hätte er (1) oft jene Laute gehört, welche die Gefühlsregungen natürlich begleiten, (2) bemerkt, dass diese Laute den seinigen glichen, (3) rückgeschlossen, dass andere Menschen beim Ausstoßen dieser Laute denselben Gefühlsregungen unterworfen waren wie er selbst und (4) über eine auf die Naturtriebe beschränkte Kommunikationsfähigkeit verfügt, weil er annehmen musste, dass seine Umwelt die eigenen Äußerungen in gleicher Weise auffassen würde. Diese Kette wurde im vorliegenden Fall jedoch an Punkt (2) unterbrochen, 157 Ebd. Condillac expliziert die Aussage in der Folge: Kurzzeitig und spontan könnten etwa contemplation und imagination auftauchen; diese blieben aber an gebunden an auslösende Faktoren, so dass man nicht von einer freien Steuerung sprechen könne. 158 Ebd., 202 f. 159 Ebd., 65. Zur Zeichentheorie Condillacs vgl. DAE KWON KIM, Sprachtheorie im 18. Jahrhundert. Herder, Condillac und Süßmilch, St. Ingbert 2002, 58 ff.
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weil die ausgestoßenen signes naturels sich fundamental unterschieden; die mugissemens der Bären „n’ont pas assez d’analogie avec la voix humaine.“160 Damit ergab sich der erschreckende Befund, dass der Junge auf ein intellektuelles Niveau unterhalb der Tiere absackte, weil er eben noch nicht einmal über deren intraspezielle Kommunikation via signes naturelles verfügte. Man musste annehmen, dass die Bären diesen hinsichtlich Aufmerksamkeits-, Erinnerungs- und Imaginationsvermögen übertrafen.161 Zur Menschwerdung war also menschliche Gesellschaft und, davon abhängig, die Verwendung arbiträrer Zeichen notwendig; in dieser Konstellation konnte sich dann die Vernunftkapazität voll ausbilden, der Mensch die Tiere intellektuell weit überflügeln. Welchen Sinn sah Condillac also konkret für sein Exempel? Als Speerspitze gegen die cartesianische Ideenlehre war der Junge zunächst eigentlich wenig nutzbar, da das Quellenmaterial in Bezug hierauf wenig hergab – der Taubstumme von Chartres war fraglos aussagekräftiger. Allerdings suggeriert die Aneinanderrückung der Fälle in einem Kapitel, dass der Bärenzögling auch auf die Frage nach dem höchsten Wesen wohl keine Antwort gewusst hätte. Ein ähnlicher Befund gilt für die Frage der Entwicklung mentaler Kapazitäten, insbesondere des Erinnerungsvermögens: Auch hier hätte der Fall aus Chartres prinzipiell ausgereicht. Dennoch unterscheidet sich für Condillac die Nutzbarkeit der Fälle fundamental: Bei ersterem hatte man es mit einer sensorischen Störung zu tun, er unterfütterte die eigentlich sensualistische Prämisse, dass nur sinnlich Vermitteltes in Ideen umgeformt werden konnte. Das litauische Bärenkind wies jedoch keinerlei Defekte dieser Art auf und verwies somit klar auf die determinierende Funktion menschlicher Gesellschaft. Diese konnte jedoch nur durch die dem Menschen innewohnende Imitationsfähigkeit aktiviert werden, wovon die Übernahme tierischen Verhaltens kündete. Beides – Defekte der Sinnesorgane wie Isolation – blockierte die Menschwerdung, beidem konnte aber auch wieder abgeholfen werden: Sei es durch körperliche Heilung, sei es durch Kontakt mit Menschen. Betrachtet man die französische Aufklärung jedoch in ihrer politischen Sprengkraft muss man sagen, dass der Bärenjunge das weitaus heiklere Beispiel war. Mochte der Taubstumme von Chartres von medizinischer, erkenntnistheoretischer, vielleicht theologischer Brisanz sein: Dass angeborene Unterschiede nicht existierten, dass der Mensch das Produkt seiner spezifischen Lebensumstände war – das zeigte das Wilde Kind aus Litauen. 4.1.5. Rousseau: Die Quelle eines großen Missverständnisses Kaum einem Denker des 18. Jahrhunderts wurde so viel akademische Aufmerksamkeit zuteil wie Jean-Jacques Rousseau. Schon Kant wurde von ihm, Locke und Hume aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt, eine selbst für den Spezialisten unüberschaubare Flut von Publikationen hat sich seines Denkens und der Wirkmächtigkeit seiner Ideen angenommen. Rousseausches Gedankengut, 160 CONDILLAC, Essai sur l’origine des connoissances humaines, Bd. 1, 206. 161 Ebd., 206.
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etwa der bon sauvage, der état de la nature oder der contrat social sind, wenn auch vielfach verzerrt und von verschiedensten Rezeptionsmustern überlagert, zu selbstverständlichen Bestandteilen der Allgemeinbildung geworden. Dies mag auch der Tatsache geschuldet sein, dass sich Rousseau der Spezialisierung verweigerte, dass sich gleichermaßen Politikwissenschaften, Pädagogik und Philosophie auf seine Konzepte berufen können. Seine bekanntesten Werke, die Diskurse Sur les Sciences et les Arts und Sur l’inégalité, der Contrat Social, der pädagogische Emile eröffneten bereits kurz nach ihrem Erscheinen Diskussionen, deren Echo bis heute vernehmbar ist: Rousseau, der Vordenker der Französischen Revolution, der Aufklärer (?) ganz eigener Prägung, der Sozialist, der Philanthrop, der Gesellschaftsfeind – ein gebrochener Charakter, voller Widersprüche, aber vielleicht deshalb so attraktiv. Auch im von dieser Arbeit verfolgten näheren zeitlichen und räumlichen Kontext relativiert sich dieser Eindruck nicht. So stellte etwas PETERS fest, dass sich in „Reaktion auf Rousseaus Abhandlungen der 50er Jahre […] eine neue historiographische Form, die Geschichte der Menschheit“ ausgebildet habe162; eine Ansicht, die ZEDELMAIER, der betont, dass es sich hier um „sehr heterogene Werke“ handele, modifizierte.163 Im deutschsprachigen Raum habe sich schnell eine kritische Sichtweise auf dessen „Paradoxe“ entwickelt, und es sei versucht worden, diese „zu widerlegen, zu differenzieren, weiterzuentwicklen oder auch zu kompensieren und ‚aufzuheben‘.“164 Ohne an den Grundlinien des Gedankengebäudes Rousseaus ganz vorbeigehen zu können, kann die vorliegende Arbeit doch eine auch nur ansatzweise Gesamtschau der an Rousseau herangetragenen Deutungen nicht leisten. Vielmehr geht es auch hier um eine perspektivisch ganz eingeengte Fragestellung: Was veranlasste Rousseau dazu, die Wilden Kinder als Referenz in sein Werk, insbesondere den Discours sur l’inegalité, zu integrieren? In welcher Weise unterstützen diese spezifischen Aspekte seine Argumentation? Grundfragen dieser Art wurden bereits, etwa von TINLAND, MORAN und DOUTHWAITE, untersucht, auf deren Ergebnissen also aufgebaut werden kann.165 Hinzu tritt die Frage, ob sich Zedelmaiers Beobachtung einer relativ equivok kritischen Grundhaltung auch auf die hier ausgewerteten, eher naturhistorisch orientierten, Werke übertragen lässt. 162 MARTIN PETERS, Möglichkeiten und Grenzen der Rezeption Rousseaus in den deutschen Historiographien. Das Beispiel der Göttinger Professoren August Ludwig von Schlözer und Christoph Meiners, in: HERBERT JAUMANN (Hrsg.), Rousseau in Deutschland: Neue Beiträge zur Erforschung seiner Rezeption, Berlin; New York 1995, 267–289, hier 275. 163 HELMUT ZEDELMAIER, Der Anfang der Geschichte. Studien zur Ursprungsdebatte im 18. Jahrhundert, Hamburg 2003, 270. 164 Ebd. 165 FRANCK TINLAND, L’interpellation de l’homme des Lumières par l’homme sauvage, in: Hommes et bêtes. Entretiens sur le racisme, publié sous la direction de L. POLIAKOV, Paris 1975, 183–199; vgl. insbesondere 187 ff.; DERS., L’Homme sauvage, 218 ff. FRANCIS MORAN III, Between Primates and Primitives: Natural Man as the Missing Link in Rousseau’s Second Discourse, in: Journal of the History of Ideas, 54 (1993), 37–58. JULIA DOUTHWAITE, Experimental Child-Rearing After Rousseau, in: Irish Journal of Feminist Studies, 2 (1997), 35– 56; DIES., The Wild Girl, Natural Man and the Monster, Chicago; London 2002; insbes. 95– 114.
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Ebenso wie bereits der Discours sur les Sciences et les Arts stellt der Discours sur l’inégalité166 von 1755 eine Antwort Rousseaus auf eine Preisfrage der Académie de Dijon dar: Quelle est l’origine de l’inégalité parmi les hommes, et estelle autorisée par la loi naturelle? Tatsächlich müsste man allerdings, wie HEINRICH MEIER herausstellt, konstatieren, dass der Text ein „exoterisch-esoterisches Doppelgesicht“ trägt167, gleichsam zwei Antworten auf die Frage liefert. Rousseau schreibe für zwei ganz verschiedene Adressatenkreise: Die breite Öffentlichkeit und, vor allem in den Anmerkungen, für eine kleine Zahl Gebildeter. Insofern setze bereits die Konzeption und semantische Struktur des Discours „von allem Anfang an eine fundamentale Ungleichheit“168, nämlich in der letztlich natürlich determinierten Auffassungsgabe der Rezipienten voraus.169 Was oberflächlich aussehe wie ein vehementer Ausfall gegen die Ungleichheit, sei tatsächlich der Versuch „mit philosophischen Mitteln die Fundamente des ‚Politischen Körpers‘ freizulegen, die Grundlagen der Ungleichheit, der Moral, des Rechts und des Eigentums zu untersuchen, ja die geschichtliche Menschwerdung des Menschen zu rekonstruieren.“170 So spielen die natürlichen Ungleichheiten eine bedeutsame und positiv geladene Rolle in der Konzeption Rousseaus, während gleichzeitig eine radikale Kritik der gesellschaftlich bedingten und damit unnatürlichen Ungleichheiten vorgenommen wird Ich unterscheide in der menschlichen Art zwei Arten von Ungleichheit: die eine, die ich natürlich oder physisch nenne, weil sie durch die Natur begründet wird, und die im Unterschied der Lebensalter, der Gesundheit, der Kräfte des Körpers und der Eigenschaften des Geistes oder der Seele besteht; und die andere, die man moralische oder politische Ungleichheit nennen kann, weil sie von einer Art Konvention abhängt und durch die Zustimmung der Menschen begründet oder zumindest autorisiert wird. Die letztere besteht in den ausgeprägten Privilegien, die einige zum Nachteil der anderen genießen […].171
Festzustellen, wann und wie dies geschah, ist Aufgabe der Schrift: Rousseau sucht „den Augenblick […] in dem das Recht [Droit] die Stelle der Gewalt [Violence] einnahm und die Natur somit dem Gesetz unterworfen wurde.“172 Wie die Verfassung des Menschen vor diesem Punkt, also der Naturzustand, aussah, sei bislang nicht ergründet worden, eine Folge der Scheuklappen der bürgerlichen Gesellschaft. Wohl aus Befürchtungen, der Text würde zensiert werden173, betont Rous166 JEAN JACQUES ROUSSEAU, Discours sur l’origine et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes, Amsterdam 1755. In der Folge wird die deutsch-französische Edition HEINRICH MEIERS herangezogen: JEAN JACQUES ROUSSEAU, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité, kritische Ausgabe des integralen Textes, hg., übers. und komm. v. HEINRICH MEIER, Paderborn u. a. 41997. 167 HEINRICH MEIER, Vorwort zu ROUSSEAU, Discours sur l’inégalité, XXIII. 168 Ebd., XXII. 169 Meier sieht hier vor allen Dingen die äußeren Umstände bei der Verfassung und Publikation, insbesondere die drohende Zensur, als Ursachen; vgl. ebd. XXVI ff. 170 Ebd., LIII. 171 ROUSSEAU, Discours sur l’inégalité, 67. 172 Ebd., 69. 173 Der Widerspruch zur biblisch-mosaischen Überlieferung ist hier offensichtlich.
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seau allerdings, dass seine Überlegungen spekulativer Natur seien und wohl bleiben müssten: Ihn interessiere lediglich, „was aus dem Menschengeschlecht hätte werden können, wenn es sich selbst überlassen“174, das heißt von göttlichen Interventionen unberührt geblieben wäre. Ohnehin sei eine Rückkehr zu diesem Zustand für den bürgerlichen Menschen gänzlich undenkbar.175 In dem so in Gang gesetzten Gedankenexperiment blendet Rousseau die physiologische Entwicklung des Menschen von vornherein aus. Zu dünn erscheine ihm die vorliegende Datenbasis der vergleichenden Anatomie, und somit wolle er annehmen, der Mensch „sei von jeher so beschaffen gewesen, wie ich ihn heute sehe: er sei auf zwei Füßen gegangen, er habe sich seiner Hände so bedient, wie wir es mit den unsrigen tun, er habe seinen Blick auf die ganze Natur gerichtet und mit den Augen die weite Ausdehnung des Himmels genossen.“176 Physisch, so ist sich Rousseau sicher, ist der Mensch im Naturzustand zweifelsohne ein Tier, das in seinen Fähigkeiten den anderen Tieren mindestens ebenbürtig ist. Zwar überragt keines seiner körperlichen Attribute für sich allein, aber er ist „alles in allem genommen am vorteilhaftesten von allen organisiert.“177 Unübertrefflich sei seine Imitationsfähigkeit, die ihm die Instinktleistungen anderer Tiere zugänglich mache, er verfüge, teils aus Anlage, teils aus Übung, über ein „robustes und nahezu unverwüstliches Temperament“178, Folge des unerbittlichen Druckes der Natur, die „diejenigen stark und robust“ mache, „die über eine gute Verfassung verfügen, und […] alle anderen zugrundegehen“ lasse.179 Krankheiten sind dem Menschen im solitären Zustand der Natur nicht bekannt, sie werden erst durch die Zivilisation ausgelöst. Denn nur hier bekommt der Mensch schließlich Gelegenheit, gegen seine Natur zu handeln – eine Folge des unnatürlichen Einsatzes seiner Denkfähigkeit, oder, wenn dieser Begriff noch anwendbar ist, Vernunft.180 So besteht zwischen dem wilden und zivilisierten Menschen eine kaum zu überbrückende Differenz: „Hüten wir uns also, den wilden Menschen mit den Menschen durcheinanderzubringen, die wir vor Augen haben.“181 Mit Bedacht wählt Rousseau hier den Numerus, ganz seiner Denklinie folgend werden Singular und Plural zugewiesen, wird der solitäre wilde Mensch mit den sozialen heutigen Menschen verglichen. So wie die Tiere bei der Domestikation entarten, tut es 174 ROUSSEAU, Discours sur l’inégalité, 73. 175 Voltaires bekannte Stichelei („Es kommt einen Lust an, auf allen Vieren zu gehen, wenn man Ihr Werk liest.“) beruht insofern auf einem Missverständnis; Rousseau ist bei genauerer Betrachtung sicher kein Primitivist, auch wenn Teile seines Werkes zur Begründung eines solchen nutzbar waren. Voltaire an Rousseau, 30. August 1755, zit. n. MEIER, Fußnote zu Anmerkung IX, in: ROUSSEAU, Discours sur l’inégalité, 318. 176 ROUSSEAU, Discours sur l’inégalité, 78 f. 177 Ebd., 79. 178 Ebd., 81. 179 Ebd. Man sieht, dass Rousseaus Naturkonzeption nicht mit einem romantisch verklärten Garten Eden zu verwechseln ist. 180 „Wenn die Natur uns dazu bestimmt hat, gesund zu sein, so wage ich beinahe zu versichern, daß der Zustand der Reflexion ein Zustand wider die Natur ist und daß der Mensch, der nachsinnt, ein depraviertes Tier ist.“ Ebd., 89. 181 Ebd., 93.
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auch der Mensch: „Indem er soziabel und Sklave wird, wird er schwach, ängstlich, kriecherisch […].“182 Gemäß den unterschiedlichen Bedürfnissen bilden sich auch die sinnlichen Fähigkeiten aus. So bleiben Tast- und Geschmackssinn beim wilden Menschen „von einer extremen Grobheit“, Gesichts-, Gehör- und Geruchssinn sind dagegen „von der größten Subtilität. Dies ist der tierische Zustand im Allgemeinen, und nach dem Bericht der Reisenden ist es auch der der meisten wilden Völker.“183 Körperlich unterscheidet sich der Mensch nicht vom Tier. Beide werden, getreu cartesianischem Denkmuster, als „kunstvolle Maschine“ aufgefasst, „mit dem Unterschied, daß bei den Operationen des Tieres die Natur allein alles tut, wohingegen der Mensch bei den seinen als frei Handelnder wirkt. Jenes wählt oder verwirft aus Instinkt und dieser durch einen Akt der Freiheit […].“184 Dieses Merkmal der Entscheidungsfreiheit ist aber nicht mit dem Verstand zu verwechseln, womit sich Rousseau an Condillac anlehnt, gleichzeitig aber durch die Betonung der spezifisch menschlichen Willensfreiheit theologische Einwände antizipiert: Jedes Tier hat Vorstellungen, da es Sinne hat; es verbindet seine Vorstellungen sogar bis zu einem gewissen Punkt miteinander, und der Mensch unterscheidet sich in dieser Hinsicht nur graduell […]. Es ist daher nicht so sehr der Verstand, der die spezifische Unterscheidung des Menschen unter den Tieren ausmacht, sondern dessen Eigenschaft, ein frei Handelnder zu sein.185
Daher ist von einer rein mechanistischen Herangehensweise keine Definition des Menschen zu erwarten, denn „in dem Vermögen zu wollen, oder vielmehr zu wählen, und im Gefühl dieses Vermögens stößt man nur auf rein geistige Akte, bei denen man mit den Gesetzen der Mechanik nichts erklärt.“186 Trotz der Wahlfreiheit des Menschen ist der natürliche Zustand jedoch ein überaus stabil zu denkender, denn die Leidenschaften, Auslöser jeglichen Veränderungswillens, sind noch kaum ausgeprägt. So verfügt der wilde Mensch nur über einen „natürlichen Antrieb“, der von dem „Begehren aus Vorstellung“ des zivilisierten Menschen zu unterscheiden ist. Die Begehren des Naturmenschen „gehen nicht über seine physischen Bedürfnisse hinaus. Die einzigen Güter, die er in der Welt kennt, sind Nahrung, ein Weibchen und Ruhe; die einzigen Übel, die er fürchtet, sind Schmerz und Hunger.“187 Ganz anders dagegen der von seinen widernatürlichen Leidenschaften zernagte Mensch in der Gesellschaft. Es ist schwer einzusehen, wie dieser stabile Zustand der solitären Wildheit und Selbstgenügsamkeit überhaupt überwunden werden konnte, um dann alle weiteren historischen und sozialen Entwicklungen des Menschengeschlechts einzuleiten. Sorgen um die Zukunft kennt der Mensch noch nicht. Vor allem stellt aber der für Rousseau offenkundige Zusammenhang von Sprache und Gesell182 183 184 185 186 187
Ebd. Ebd., 97. Ebd., 99. Ebd., 101. Ebd., 103. Ebd., 107.
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schaft ein erhebliches Problem dar. Ohne Sprache scheint eine gesellschaftliche Organisation undenkbar – und umgekehrt, ein Teufelskreis. Dies widerspricht auch der gängigen Lehrmeinung Aristoteles’ vom zoon politikon: „In der Tat erscheint es unmöglich, sich vorzustellen, weshalb in jenem anfänglichen Zustand ein Mensch eines anderen eher bedürfen sollte als ein Affe oder Wolf seinesgleichen […].“188 Den solitären Zustand des Menschen jedoch als elend zu betrachten, geht an der Sache völlig vorbei, weil damit das Verständnis und Empfinden des bürgerlichen Menschen als absolut gesetzt werden. Auch entfernt sich Rousseau von Hobbes’ Vorstellung, dass der Mensch naturhaft böse veranlagt sei und zu seinem eigenen Heil der gesellschaftlichen Einrahmung bedürfe. Tatsächlich lässt sich der Begriff der Moralität auf den wilden Menschen kaum anwenden: „Es scheint zunächst so, daß die Menschen in jenem Zustand – da sie untereinander weder irgendeine Art moralischer Beziehung noch erkannter Pflichten hatten – weder gut noch böse sein konnten und weder Laster noch Tugenden hatten […].“189 Ein Missbrauch seiner enormen körperlichen Kräfte fällt dem Menschen im wahrsten Sinne des Wortes nicht ein, sein Selbsterhaltungstrieb kollidiert aufgrund der solitären Lebensweise nur selten mit dem der anderen. Zusätzlich veranschlagt Rousseau, wie übrigens bei allen Tieren, einen „angeborenen Widerwillen […], seinen Mitmenschen leiden zu sehen“190 – also Mitleid (pitié). Allerdings gibt es eine Eigenschaft, die den Menschen zweifelsfrei, und auch äußerlich sichtbar, vom Tier unterscheidet: die Perfektibilität. Diese haftet dem Individuum wie auch der Art Mensch allgemein an, während der Zustand des Tieres ein statischer ist. Erst die Perfektibilität begründet die Möglichkeit einer Erhebung des Menschen über das Tier, gleichzeitig aber auch die Gefahr der Entartung unter das Tier.191 Trotz dieser Fähigkeit sind die im Naturzustand auszumachenden Unterschiede zwischen den Menschen gering, was der ganz ähnlichen und nicht-sozialen Lebensweise geschuldet ist. Heute als „natürlich“ geltende Unterschiede, etwa der gesundheitlichen Konstitution, treten aufgrund der gnadenlosen Selektion in der Natur nicht auf.192 Rousseau meint schließlich nachgewiesen zu haben, um wie viel der Unterschied zwischen einem Menschen und einem anderen im Naturzustand geringer sein muß als im Gesellschaftszustand und um wie viel die natürliche Ungleichheit in der menschlichen Art durch die [gesellschaftlich] eingerichtete Ungleichheit größer werden muß.193
Hier endet die Beschreibung des hypothetischen Naturzustandes des Menschen, die den ersten Teil des Discours bildet. Den gesamten zweiten Teil widmet Rousseau dann der – hier nicht weiter zu diskutierenden – Aufgabe, „die verschiedenen Zufälle zu betrachten und zusammenzubringen, die imstande waren, die men188 189 190 191 192 193
Ebd., 131. Ebd., 135. Ebd., 141. Vgl. ebd., 104 f. Vgl. ebd., 163. Ebd.
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schliche Vernunft zu vervollkommnen, indem sie die Art verdarben, ein Wesen böse zu machen, indem sie es soziabel machten, und den Menschen und die Welt von einem so entfernten Stadium schließlich bis zu dem Punkt hinführen, an dem wir sie sehen.“194 Welche Verwendungsmöglichkeiten ergeben sich nun in diesem Konstrukt – Rousseau betont ja gleich zu Anfang die Hypothetizität seiner Arbeit – für die Wilden Kinder? Formell-logisch betrachtet ist man geneigt zu sagen keine, denn damit würde sich Rousseau von einem Gedankenspiel zu einer Diskussion von Realia begeben. Nun zeigen aber bereits andere Passagen des Textes, dass Rousseau sein eigenes Postulat ohnehin bricht195, etwa in der Heranziehung von Reiseberichten bezüglich des Zustandes primitiver Gesellschaftsformen, womit sich die oben angesprochene These Meiers bezüglich einer textlichen Dichotomie bestätigt. Potenziell verwendbar wären Wilde Kinder in Rousseaus Diskurs jedoch allemal. So könnte von diesen ausgehend möglicherweise der Spracherwerb des Menschengeschlechtes in ein neues Licht gerückt werden. Ebenso müssten sich bereits Perfektibilität und Anpassungsfähigkeit, die Rousseau dem Menschen ja als natürlich zuerkennt, nachweisen lassen, ganz zu schweigen von den physiologischen und psychologischen Besonderheiten, die den Menschen im Naturzustand von dem der bürgerlichen Gesellschaft unterscheiden. Tatsächlich greift Rousseau nur wenige der sich anbietenden Argumentationsmöglichkeiten auf, während er andere Stränge unbeachtet lässt. Wiederum in Übereinstimmung mit der Feststellung Meiers, der Text sei letztlich für zwei Adressatenkreise verfasst worden, finden sich die diesbezüglichen Überlegungen in zweien der 19 weitläufigen Anmerkungen, die Rousseau dem Discours beifügte, und die immerhin etwa ein Viertel des Gesamttextes ausmachen. Rousseau knüpft in Anmerkung III196 an seine bereits oben referierte Proposition an, der Mensch sei körperlich von jeher so beschaffen gewesen wie noch heute sichtbar. Die Anmerkung diskutiert nun eine Frage, die bei der breiten Öffentlichkeit wohl tatsächlich eher auf Unverständnis und Belustigung, aufgrund ihrer Unvereinbarkeit mit dem Schöpfungsbericht vielleicht auch auf strikte Ablehnung, gestoßen wäre: War der Mensch in seinem natürlichen Zustand möglicherweise vierfüßig? Auf diese Möglichkeit, deren Konsequenzen beachtlich 194 Ebd., 167. 195 Schon JEAN STAROBINSKI, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, München; Wien 1988, 27 betont, dass die „‚historische‘ Fiktion in dem Maße, wie Rousseau sie entwickelt, ihren hypothetischen Charakter“ verliere. ZEDLMAIER, Der Anfang der Geschichte, 262 f; 275 f. und pass. weist diese Einwände bereits bei Isaak Iselin und Christoph Martin Wieland nach. Letzterer bemängelt darüber hinaus auch Rousseaus verfälschenden Umgang mit empirischem Material, was auf die bereits o. a. Problematik bezüglich der naturhistorischen Theoriegewinnung verweist. Rousseau entnehme etwa Merolla, dass die „Schwarzen […] zuweilen auf ihren Jagden wilde Männer und Weiber“ fingen, unterschlage aber, dass dieser unmittelbar anfüge, man meine damit „eine gewisse Art von Affen“, was „zehen andere Reiseschreiber […] auch“ sagten; CHRISTOPH MARTIN WIELAND, Beyträge zur geheimen Geschichte der Menschheit [1770], zit. nach ZEDLMAIER, Der Anfang der Geschichte, 280. 196 ROUSSEAU, Discours sur l’inégalité, 279 ff.
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wären, da die Bipedität die „Beschaffenheit des Menschen“197 vielleicht über einen langen Zeitraum modifizierte, verwiesen mehrere Indizien: Zum einen habe man rein physiologische Ähnlichkeiten zwischen den menschlichen Armen „und den Vorderbeinen der Quadrupeden beobachtet, und die Folgerung, die man aus ihrer Art zu gehen zog, haben Zweifel über jene aufkommen lassen können, die uns am natürlichsten gewesen sein muß.“198 Zudem gingen alle Kinder „zunächst auf allen Vieren und brauchen unser Beispiel und unseren Unterricht, um es zu lernen, sich aufrecht zu halten.“199 Dies zeige auch das Beispiel der Hottentotten oder Kariben, die ihre „Kinder sehr vernachlässigen und sie so lange auf den Händen gehen lassen, daß sie danach große Mühe haben, sich aufzurichten.“200 Zusätzlich kommen nun die Wilden Kinder ins Spiel: Es gibt verschiedene Beispiele quadrupeder Menschen, und ich könnte unter anderen das jenes Kindes anführen, das 1344 in der Nähe von Hessen gefunden wurde, wo es von Wölfen aufgezogen worden war, und das später am Hofe des Prinzen Heinrich sagte, daß es, wenn es nur von ihm abgehangen hätte, lieber hätte zu ihnen zurückkehren wollen, als unter den Menschen zu leben. Es hatte sich so daran gewöhnt, wie jene Tiere zu gehen, daß man ihm Holzstücke anlegen mußte, die es zwangen, sich auf seinen beiden Füßen aufrecht und im Gleichgewicht zu halten. Ebenso verhielt es sich mit dem Kind, das man 1694 in den Wäldern von Litauen fand und das unter den Bären lebte. Es gab kein Zeichen von Vernunft zu erkennen, sagt M. de Condillac, ging auf Händen und Füßen, hatte keine Sprache und formte Laute, die denen eines Menschen in nichts glichen. Der kleine Wilde von Hannover, den man vor einigen Jahren an den Hof von England brachte, hatte alle Mühen der Welt, sich zum Gehen auf zwei Füßen zu zwingen, und 1719 fand man zwei andere Wilde in den Pyrenäen, die nach der Art der Quadrupeden in den Bergen umherliefen.201
Den teleologischen Einwand, dass sich der Mensch „damit um den Gebrauch der Hände bringe“202, möchte Rousseau zunächst nicht gelten lassen: Affen könnten ihre Hand sehr wohl auf zwei Weisen benutzen, und dies sage wenig über die natürliche Bestimmung der Hände, aber viel über die Fähigkeit des Menschen, seinen Körper in einer nicht naturbestimmten Weise zu bewegen und zu gebrauchen. Jedoch ließen sich „weit bessere Gründe anführen, um zu behaupten, dass der Mensch ein Bipede ist“203. Erstens beweise der Nachweis einer Möglichkeit – Entwicklung des Menschen vom Quadrupeden zum Bipeden – noch nicht deren Wahrscheinlichkeit. Außerdem gelte es, die Nutzen der Einsatzmöglichkeiten gegeneinander abzuwägen: Zwar sei der Gebrauch der Arme für die Fortbewegung möglicherweise vorteilhaft, aber dem gegenüber stünden erhebliche Nachteile. Hinzu kommen damit detailliert ausgeführte physiologische und anatomische Bedenken gegen die Vierfüßigkeit: Erstens sei die Position des Kopfes denkbar ungünstig, da die Augen des Menschen bei quadrupeder Fortbewegung nicht 197 198 199 200 201 202 203
Ebd., 279. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., 279 ff. Ebd., 281. Ebd.
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horizontal ausgerichtet wären, was bei allen Tieren der Fall sei – und beim Menschen eben bei bipeder Fortbewegung. Zweitens fehle dem Menschen der Schwanz, „den er beim Gehen auf zwei Füßen nicht braucht“, der aber „für die Quadrupeden nützlich ist“. Drittens spreche die Position „der Brust der Frau“ dagegen; sie sei bequem „für einen Bipeden, der sein Kind in den Armen hält, aber nicht für einen Quadrupeden.“ Viertens ergebe sich aus der vierfüßigen Fortbewegung ein „schlecht proportioniertes und wenig bequem gehendes Tier“, da „das Hinterteil im Verhältnis zu den Vorderbeinen äußerst hoch ist.“ Fünftens widerspreche dem auch der Knochenbau der hinteren Extremitäten. Plattes Aufsetzen des Fußes hätte bedeutet, dass der Mensch „im Hinterbein ein Gelenk weniger gehabt hätte als die anderen Tiere, nämlich das Gelenk, das den Tarsus mit der Tibia verbindet.“ Hätte er dagegen nur die Fußspitze aufgesetzt, „wozu er zweifellos gezwungen gewesen wäre“, ergäben sich andere Konsequenzen, nämlich dass „der Tarsus […] zu groß erscheint, um an die Stelle des Kanon zu treten, und seine Gelenkverbindungen mit dem Metatarsus und der Tibia zu nahe beieinander erscheinen, um dem menschlichen Bein in dieser Stellung die gleiche Flexibilität zu verleihen, welche die Beine der Quadrupeden haben.“ Sechstens fänden sich als Beispiel nur Kinder „in einem Lebensalter, in dem die natürlichen Kräfte noch nicht entwickelt und die Glieder noch nicht gefestigt sind“ – dies beweise „überhaupt nichts“. Ebenso gut könne man behaupten, dass Hunde nicht dazu bestimmt seien zu gehen, weil sie unmittelbar nach der Geburt nur kröchen. Siebtens und schließlich verblasse die Beweiskraft dieser wenigen Fälle angesichts der bipeden „universellen Praxis aller Menschen, selbst der Nationen, die, da sie keine Verbindung mit den anderen gehabt hatten, diese in nichts haben nachahmen können.“204 Alles in allem neigt Rousseau also dazu, eine einstige Vierfüßigkeit des Menschen abzulehnen, indem er eine sehr rationale Kosten-Nutzen-Bilanz zieht. Dies bedeutet jedoch nicht, dass er die Fälle an sich für Märchen hält. Sie bilden nur keine passende Analogie zu seinem Menschen im Naturzustand und sind daher für ihn in Bezug auf etwaige Vierfüßigkeit desselben völlig ohne Beweiskraft. Tatsächlich verweisen die Fälle nur auf ein Grundpotenzial des Menschen, dessen Nachweis nicht des Rückgriffes auf solche Kuriositäten bedarf, der Perfektibilität und Anpassungsfähigkeit: Ein Kind, das in einem Wald ausgesetzt wurde, ehe es gehen konnte, und von irgendeinem Tier genährt wurde, wird dem Beispiel seiner Pflegemutter gefolgt sein und sich darin geübt haben, wie sie zu gehen; die Gewohnheit kann ihm Fähigkeiten verliehen haben, die es nicht von der Natur hatte; und wie Armlose durch viel Übung dahin gelangen, alles das mit ihren Füßen zu machen, was wir mit unseren Händen machen, wird es ihm schließlich gelungen sein, seine Hände als Füße zu gebrauchen.205
Damit befinden sich die Wilden Kinder letztlich nicht näher am Naturzustand des Menschen als die zivilisierte Menschheit, nur erfolgte durch das Spiel des Schicksals die Abweichung eben in eine andere, die tierische, Richtung. Sie sind ein, 204 Ebd., 283 ff. 205 Ebd., 285.
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wenn auch verzerrtes und vielfach unscharfes, Spiegelbild des homme civilisé, so dass ihrem Beispiel nicht mehr abzunehmen ist, als auch aus der Betrachtung der übrigen Gesellschaft gewonnen werden kann. Ganz anders hatte im übrigen noch MONTESQUIEU wenige Jahre zuvor die Beweiskraft der Fälle bezüglich des Naturzustandes eingeschätzt, der bei ihm wie bei Rousseau im Gegensatz zu Hobbes ein friedlicher ist und auch darüber hinaus durchaus Parallelen aufweist, ohne jedoch auch nur entferntesten so penibel durchdacht zu werden: Der Mensch im Naturzustand verfügt wohl eher über Erkenntnisfähigkeit als über Erkenntnisse. Seine ersten Vorstellungen wären wohl keinerlei spekulative Iden: er würde nach der Erhaltung seines Seins trachten, ehe er nach dem Ursprung des Seins forschte. Ein derartiger Mensch würde anfänglich nur seine Schwäche spüren und wäre von äußerster Furchtsamkeit. Wenn das noch durch Erfahrungen erhärtet werden müßte: die wilden Menschen, die man in den Wäldern aufgefunden hat, haben sie geliefert [eingerückt hier eine Anmerkung: „Zeuge ist der Wilde, der in den Wäldern von Hannover gefunden wurde und in England unter der Regierung Georgs I. zu sehen war.“]: Sie zittern vor allem, sie fliehen vor allem.206
Vor diesem Hintergrund wird die Ernsthaftigkeit, ja Akribie deutlich, mit der Rousseau die Fälle – deren Nutzen er von vornherein bezweifelt haben wird – einer Kritik unterzieht. Ein teleologisch-deduktives Vorgehen lehnt er betont ab und liefert stattdessen bereits eine Interpretation, die auf anatomischmedizinischen, naturgeschichtlichen und entwicklungsphysiologischen Überlegungen beruht. Zwar negiert er die Beweiskraft der Fälle – jedoch nur in Bezug auf seine konkrete Fragestellung. Dagegen deutet nichts in seinem Tonfall an, dass er die grundsätzliche Idee, auch solche Berichte zur Beweisfindung heranzuziehen, ablehnen würde. Rousseau bediente mit seiner Rettung des aufrechten Ganges also im Resultat traditionelle anthropologische Vorstellungen, die bereits Aristoteles formuliert hatte; in der Führung der Argumentation wich er aber drastisch davon ab – und inaugurierte so gewissermaßen auch jene Versuche, die später zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen sollten. Dass man hier tatsächlich von einer Neuerung sprechen kann, zeigt etwa ein 1726, also im zeitlichen Kontext des Auftauchens Peters, verfasster Artikel in den Vernünftigen Tadlerinnen, einer moralischen Wochenschrift.207 Ausgehend von den „Exempeln verwilderter Leute“ die „eine solche Fertigkeit gehabt, auf Händen und Füssen zugleich zu laufen, daß sie vielen vierfüßigen Be[stien?] hierinnen nicht nachgeben“, gerät der Autor ins Grübeln, ob nicht die „gewöhnliche Art, auf zwenen Füssen zu gehen, unnatürlich und gekünstelt sey.“208 Zwar wird in der Folge auch erwähnt, dass „unsere Fuß206 MONTESQUIEU, Vom Geist der Gesetze, 1. Buch, 2. Kapitel, 100 f. 207 „Den 15 Merz [!]“, in: Die vernünftigen Tadlerinnen, Zehntes Stück (1726), 92–94. 208 Ebd., 92 f. Das führt den Autor übrigens zu einer (wohl nicht von ungefähr) an keiner anderen Stelle vorfindlichen Überlegung: Der ganze Fall Peters sei äußerst verdächtig, und zwar nicht erst seit den letzten Nachrichten (angespielt wird mit großer Wahrscheinlich auf die skeptischen Äußerungen Heumanns in den Leipziger Gelehrten Zeitungen). Vielmehr sei schon die „erste Erzählung […] ungewiß, weil nicht gemeldet wurde, daß er auf vier Füssen gegangen wäre. Dieses war unumgänglich vonnöthen, wenn er im Walde erwachsen [sey?]n sollte; es
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sohlen […] nicht vergebens so breit und [fla?]ch gebildet“209 seien und die Hände kaum von einer solchen Filigranität wären, wollte man nur „den Koth damit treten und sie unaufhörlich im Schlamme besudeln […].“210 Dies wird jedoch nur als Folge der „Absicht der Göttlichen Weisheit“ gefasst. Solche wiederum könne nun schwerlich darin liegen, dass „wir auf dem schmalen Stege, der aus etlichen zu[sammen?] gedrehten Hanfstengeln bestehet, allerley gefährliche Spaziergänge anstellen“ oder „auf einem Platze, der zehen Schritte lang ist, mehr denn dreyßig seltsame Sprünge und Wendungen […] machen […].“ Vielmehr, und hier liegt eben der gewichtige Unterschied zu der von Rousseau vorgetragenen Argumentation, sei „der Mensch deswegen zu einem zweyfüßigen Thiere gemacht, damit er sein Haupt, die [Re?]sidenz seiner vernünftigen Seele, nicht nach der Erde ha[be?] [hän?]gen; sondern hoch empor tragen möchte: Um theils alle irdische Geschöpfe, insonderheit aber den Himmel, [diesen?] majestätischen Bau des ewigen Monarchen, desto aufm[erksamer?] zu betrachten.“211 Der aufrechte Gang besitzt hier noch einen immensen Zeichencharakter, er trennt den Menschen vom Tier, bindet ihn aber, zugleich und noch wichtiger, an Gott an. Es ist genau diese Signifikanz, die Rousseau entfernt; Moscati wird einige Jahre später die natürliche Bipedität bestreiten und simultan die metaphysische Sonderstellung des Menschen aufrecht erhalten können. In Anmerkung X212 kommt Rousseau nochmals, nun allerdings eher am Rande, auf die Wilden Kinder zu sprechen, hier diskursiv eingebettet in eine Erörterung der Artgrenzen des Menschen. Der erstaunliche breite Raum, den Rousseau einer Legion von Orang-Utans, Pongos, Enjokos, Quojas-Morros, Beggos und Mandrills widmet213, verweist wiederum auf dessen genuines naturhistorisches
209 210 211 212 213
wäre denn, daß er bereits hätte gehen können, [wi?]e er in die Wildniß gerathen wäre. Wäre dieses aber; [so?] sehe ich nicht, wie ein solcher Knabe nicht, durch Frost und Hunger getrieben, den Weg aus dem Walde gefunden haben sollte?“ Ebd., 93. Neben der augenscheinlichen Unlogik – als ob vierfüßige Tiere den Wald nicht verlassen könnten – hätte der Autor beruhigt sein können; in einigen der ersten Berichte finden sich Anmerkungen über Vierfüßigkeit. Ebd., 92. Ebd., 93. Ebd., 94. ROUSSEAU, Discours sur l’inégalité, 323–350. Die Frage der Artverwandtschaften von Mensch und anthropoiden Affen durchzieht das 18. Jahrhundert und bildet einen mindestens ebenso lebhaften Diskurs wie die Wilden Kinder. Linnés Systematisierung wurde bereits oben angesprochen. Ausführliche Darstellungen finden sich etwa bei TINLAND, L’Homme sauvage (hier insbes. Kap. 3, Orang-outang sive homo sylvestris, 89–130) und in der interdisziplinären Anthologie von RAYMOND CORBEY & BERT THEUNISSEN (Hg.), Ape, Man, Apeman: Changing Views since 1600. Evaluative Proceedings of the Symposium Ape, Man, Apeman: Changing Views since 1600, Leiden, The Netherlands, 28 June – 1 July, 1993, Leiden 1995. Für den vorliegenden Komplex vgl. hieraus etwa RICHARD NASH, Tysons Pygmie: the Orang-outang and Augustan ‚Satyr’, 51–62; FRANK DOUGHERTY, Missing Link, 63–70; ROBERT WOKLER, Enlightening Apes: Eighteenth-century Speculation and Current Experiments on Linguistic Competence, 87–100; WIKTOR STOCZKOWSKI, Portrait de l’Ancêtre en Singe: L’Hominisation sans Évolutionnisme dans la Pensée Naturaliste du XVIIIe Siècle, 141–156.
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Interesse und weit überdurchschnittliche Kenntnisse in diesem Bereich. Vor allem beschäftigt ihn die Frage, ob verschiedene den Menschen ähnliche Lebewesen, die von den Reisenden ohne lange Prüfung für Tiere gehalten wurden – entweder aufgrund einiger Unterschiede, die sie in der äußeren Beschaffenheit bemerkten, oder bloß deshalb, weil diese Lebewesen nicht sprachen –nicht in Wirklichkeit wilde Menschen waren, deren Rasse, in alten Zeiten in die Wälder zerstreut, keine Gelegenheit gehabt hatte, irgendeine ihrer virtuellen Fähigkeiten zu entwickeln, keinerlei Grad von Vollkommenheit erlangt hatte und sich noch im anfänglichen Naturzustand befand.214
Denn in der Gesamtschau der Reiseberichte findet Rousseau frappierende Übereinstimmungen mit der menschlichen Art und geringere Unterschiede als jene, die man zwischen einem Menschen und einem anderen bestimmen könnte. Man ersieht aus diesen Passagen nicht die Gründe, auf die sich die Autoren stützen, um den in Frage stehenden Tieren die Bezeichnung ‚Wilde Menschen‘ zu verweigern, aber es ist leicht zu vermuten, wegen deren Stupidität und auch, weil sie nicht sprechen – schwache Gründe für die, die wissen, daß, obschon das Organ der Sprache dem Menschen natürlich ist, die Sprache selbst ihm gleichwohl nicht natürlich ist.215
Schließlich zeige auch das 1694 gefundene Kind – Rousseau bezieht sich hier wieder auf den bei Condillac erwähnten litauischen Bärenjungen – dieselben äußeren Attribute, nämlich kein Zeichen von Vernunft, Quadrupedie und statt Sprache nur Laute, „die denen eines Menschen in nichts glichen.“216 Wenn dieses Kind zu seinem Unglück in die Hände unserer Reisenden gefallen wäre, kann man nicht daran zweifeln, daß sie sich – nachdem sie sein Schweigen und seine Stupidität bemerkt hätten – dafür entschieden hätten, es wieder in die Wälder zurückzuschicken oder es in eine Menagerie zu sperren; worauf sie mit glänzenden Berichten von ihm gelehrt als von einem höchst merkwürdigen Tier gesprochen hätten, das dem Menschen ziemlich ähnlich sähe.217
Was Rousseau hier mit den Wilden Kindern intendierte, wird kontextuell vollkommen deutlich: Niemand sprach ihnen ernsthaft die Humanität ab; sie zeigten aber ein Verhalten und Aussehen, das dem der von den Reiseberichten überlieferten merkwürdig menschenähnlichen Tierarten überaus nahe kam. Ergo schien es wahrscheinlich, dass besagte Tierarten in Wirklichkeit Varietäten des Menschen darstellten – La Mettrie hatte exakt denselben Gedanken vorexerziert. Obwohl die Konzeptionen Linnés und Rousseaus unterschiedliche Zielsetzungen aufweisen – hier der Anspruch auf Entschlüsselung und systematische Offenlegung des gesamten Schöpfungsplanes, dort die hypothetische Entwicklung 214 215 216 217
ROUSSEAU, Discours sur l’inégalité, 327. Ebd., 333. Ebd., 339. Ebd. Die überaus ambivalente Einstellung Rousseaus zu den Reiseberichten wird hier klar sichtbar: Zwar benötigt er sie als Faktenmaterial, ist sich aber gleichzeitig bewusst, dass die hier präsentierten Informationen nur cum grano salis zu genießen sind. Die generelle Eurozentrik der Berichte, die den objektiven Kenntniserwerb blockiere, wird denn weiter unten (ebd., 339 ff.) auch ebenso beklagt wie das Versäumnis, „nicht immerfort Steine und Pflanzen, sondern einmal die Menschen und Sitten zu studieren […].“ Ebd., 345.
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und detaillierte Ausbreitung eines menschlichen Naturzustandes – konnten diese sich gegenseitig stützen. Für den in Naturgeschichte bewanderten Rousseau stellte die systematische Einbettung des Menschen in das Tierreich das entscheidende Moment dar, den Naturzustand konsequent von moralisch-esoterischen Prämissen, die in seiner Sicht erst mit der Vergesellschaftung aufgepfropft worden waren, abkoppeln zu können. Andererseits konnten seine Spekulationen bezüglich der weiteren Entwicklung helfen, die Diskrepanz zwischen der auf morphologisch-anatomischen Kennzeichen fußenden Einbettung des Menschen in das Tierreich und der – durch traditionelle anthropologische Leitideen gestützten – Alltagserfahrung, dass zwischen Mensch und Tier eine ungeheure Lücke klaffte, einzuebnen und zu erklären. Linné und Rousseau, der fleißig-pedantische Ordner und Systematisierer und der originell-eklektische Denker, scheinen sich in dieser Frage der anthropologischen Differenz tatsächlich kongenial zu ergänzen. Beide Vorstellungen, Linnés nosce te ipsum wie Rousseaus Perfektibilität enthielten zudem, jenseits ihrer Tendenz, die Kluft zwischen Mensch und Tier auf materieller Ebene aufzuheben, parallele Erklärungsmuster für den Sonderweg, und die daraus resultierende Sonderstellung des Menschen in der Schöpfung. So verwundert es nicht, was der gealterte Rousseau der Confessions an Linné schreibt: Recevez avec bonté, Monsieur, l’hommage d’un très ignare mais très zèlé disciple de vos disciples […]. [J]e vous lis, je vous étudie, je vous médite, je vous honore et vous aime de tout mon coeur.218
Ob andererseits möglicherweise die Aufnahme des homo ferus in die zehnte Auflage des Systema Naturae (1758) einen unmittelbaren Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Discours sur l’inégalité (1755) aufweist, ließ sich nicht abschließend klären. Darauf zu verweisen scheint aber immerhin, dass sich von den sechs Fällen, die Linné aufführt, vier bereits bei Rousseau finden und teils auch dieselben Quellen, etwa Condillac, genannt werden. Für Rousseaus pädagogisch geprägte Schriften, etwa den Émile, blieben die Wilden Kinder ohne konkrete Bedeutsamkeit. Stattdessen dreht schließlich Itard, allerdings erst im frühen 19. Jahrhundert, das Konzept, indem seine von Rousseau mitgeprägten Erziehungskonzepte auf Victor angewendet werden. Schon vor diesem hatte allerdings der in seinem Denken Rousseau ebenfalls nahe stehende Ulmer Lehrer und spätere Lyzeumsdirektor GEORG CHRISTIAN RAFF einen Katalog Wilder Kinder in seine bemerkenswerte Naturgeschichte für Kinder219 über-
218 Rousseau an Linné, 21. September 1771, zit. nach: JAMES EDWARD SMITH, A selection of the correspondence of Linnaeus and other naturalists, from the original manuscripts, London 1821, 552 f. Insbesondere ist es wohl die von Linné geleistete Reduktion des ausufernden Datenmaterials auf ein einigermaßen übersichtliches System, das dem mittlerweile in der Botanik sein Lebensglück findenden Rousseau Respekt abringt; vgl. WOLF LEPENIES, Das Ende der Naturgeschichte, München; Wien 1976, 55. 219 GEORG CHRISTIAN RAFF, Naturgeschichte für Kinder [11778], Göttingen 61788. Raffs Werk durchlief bis weit nach dessen Tod mindestens 15 Auflagen und erfreute sich, insbesondere beim Heimunterricht, bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts großer Popularität. Vgl. BINDER, „Georg Christian Raff“, in: ADB, Bd. 27, 158 f. Es existiert auch eine englische Übersetzung:
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
nommen. Das durchweg in dialogischer Form verfasste Werk lässt sich durchaus auch als Eloge an die Naturhistorie lesen: Die Erkenntnis des „großen Gartens unsers Gottes“ sollte die jungen Leser den „gütigen Schöpfer mit seinen Werken erkennen lehren […]“.220 Die Naturgeschichte legitimierte, so erfuhren die Schüler, nicht nur menschlicher Nutzen oder generelles Erkenntnisinteresse; vielmehr betrieb man sie auch „um Gottes Ehre willen […].“221 Im Unterschied zu den übrigen hier diskutierten Naturgeschichten geht die Naturgeschichte für Kinder einen strukturell umgekehrten Weg: Der Mensch steht nicht am Beginn der Betrachtungen, sondern bildet den krönenden Abschluss, nachdem Raff seine Leser in aufsteigender Reihe durch die drei Naturreiche geleitet hat. Er, „das beste das vornehmste Geschöpf Gottes auf dem Erdboden“222, unterscheidet sich für Raff essentiell nur in einem Punkt von den übrigen Säugetieren223: Das Thier thut alles, was es thut, nur aus einem gewissen innern Trieb, den man Instinkt nennt […]. Der Mensch hingegen thut, was er will; thut seine Sache heut, oder Morgen; so, oder anders. Er pflückt und schlachtet, und iss’t und trinkt nach Belieben, und macht sich, so zu sagen, die ganze Erde, samt allem, was darauf und darin ist, unterthan. Er überlistet und fängt und bändigt auch das größte, das wildeste Thier, spannt es vor seinen Wagen, und fährt und reitet auf ihm. Kurz, nichts bleibt dem Menschen übrig, das er nicht erforschen, finden und bezwingen könnte.224
Der Mensch verfügt eben über eine „vernünftige Seele“, die in Raffs Konzept dem Instinkt nicht aufgesetzt ist, sondern diesen vollständig ersetzt, so dass das Kind zunächst völlig hilflos ist. Erst jahrelange Erziehung prägt die vorhandenen Potenzen aus225, und die Qualität derselben macht den Menschen.226 Hier er-
220 221 222 223
224 225 226
DERS., A system of natural history, adapted for the instruction of youth, in the form of a dialogue, 2 Bde., Edinburgh 1796. RAFF, Naturgeschichte, 9. Ebd., 10. Ebd., 658. Von diesen rückt er besonders den Orangutang sehr nahe an den Menschen. Für ein wirkliches „fremdes Volk“ hielten ihn aber nur „die meisten Neger“; ebd. 650. Raff verweist zudem auf die auch 1788 noch aktuelle Problematik, kaum geeignetes Untersuchungsmaterial zur Verfügung zu haben, denn es „kömmt selten ein Orangutang nach Europa, weil sie die Kälte nicht vertragen können, und sehr leicht sterben, man mag sie auch verpflegen und füttern, wie man will.“ Ebd., 651. Ebd., 658 f. Mindestens 15 Jahre scheinen Raff (ebd., 659) das absolute Minimum, um eine gewisse Eigenständigkeit zu erlangen; er ist von unseren Vorstellungen – siehe etwa die Länge der Schulpflicht – also gar nicht weit entfernt. „Für diesen Mangel des Instinkts nun gab uns der liebe Gott eine vernünftige Seele, mit der wir uns, wenn wir groß geworden und gut erzogen sind, weit über alles Vieh erheben, erstaunlich viel lernen, und uns gleichsam zu Herrn des ganzen Erdbodens machen können. Werden wir aber nicht gut erzogen, wachsen wir so wie die Ziegen und die Schweine auf, ja denn sind und bleiben wir auch halbe Ziegen und halbe Schweine, und werden uns nicht viel vom Vieh, das Heu und Stroh, Laub und Gras, und Eicheln und Bücheln friss’t, unterscheiden.“ Ebd., 569. Hier bleibt allerdings unklar, wie der Mensch – dem dann Instinkt und Vernunftseele mangeln würden – überhaupt auf eine solche Ebene klimmen würde.
4.1. Naturzustände
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scheint denn auch Raffs edukatorischer Zeigefinger: Wollte man nicht enden wie jene „taussend halb wilde und ganze wilde Menschen, die vom lieben Gott nichts wissen, und fast gerade so, wie die wilden Thiere leben, in Wäldern und Höhlen unter der Erde wohnen, und sich unter einander tod schlagen und fressen“227, nahm man als Schüler die angebotene pädagogische Hilfe wohl besser demütig an – zumal diese Menschen „auch gar nicht gut“ aussahen: „Was haben die Neger und Hottentotten nicht für häßliche Gesichter, für stumpfe Nasen, für aufgeworfene Lippen, und für dickwollichte Hare?“228 Raff wollte jedoch mehr: Mochten seine Eleven denken, dass sich hier der nicht weiter zu unterschreitende Minimalzustand des Menschen befand, der Magister, offenbar an Rousseau geschult, wusste es besser, denn: So wild und dumm sind aber doch die Indianer nicht, daß sie, wie die Thiere auf allen vieren liefen, in den Wäldern wohnten, Gras und Wurzeln, und Feld- und Baumfrüchte ässen, keine Sprache hätten, und also ein völlig thierisches Leben führten: Nein, das thun sie nicht. […] Allein man hat Beispiele, daß hier und da einzelne Menschen verlohren gegangen, und sich etliche Jahre nach einander in Wäldern bei wilden Thieren aufgehalten, und endlich auch, wie diese, auf allen vieren gelaufen, Baum auf, Baum ab geklettert, eben das gefressen, was ihre neuen Kameraden frasen, und so nach und nach mit Haren bedeckt, ohne Sprache, ohne Gebrauch ihrer Vernunft, und völlig wild geworden sind. Soll ich ein paar von diesen Geschichten erzählen?229
Raff tut dies, die Beifallsrufe seiner Schüler antizipierend, in der Folge genüsslich. Der Fall Marie-Angélique füllt zum Abschluss volle fünf Seiten – Condamines Bericht lieferte genügend Details, die das Interesse des jungen Publikums wecken mochten. Auffälligerweise jedoch taucht Peter, der doch ebenfalls eine Menge hätte hergeben können, nicht einmal als Randnotiz auf. Die Hintergründe lassen sich nur erahnen, aber es erscheint einigermaßen unwahrscheinlich, dass Raff, hätte er Details des Falles gekannt, diesen völlig außen vor gelassen hätte: Allein die räumliche und zeitliche Nähe erfüllte doch die philanthropischen Anforderungen an schülergemäßen Lernstoff, oder, wie es die moderne Didaktik ausdrücken würde, er wies einen deutlichen lebensweltlichen Bezug auf. Raff scheint den Fall, etwa im selben Zeitraum, in dem er Monboddos Aufmerksamkeit so in Anspruch nahm, also überhaupt nicht gekannt zu haben; der Rezeptionsstrang war für die deutsche Pädagogik weitgehend abgerissen. Vielmehr entnahm Raff seine Kenntnisse offenbar den Werken seiner großen französischen Leitbilder Rousseau und Buffon. Allerdings lässt sich feststellen, dass die Erkenntnisziele Rousseaus und Raffs weit auseinander driften: Stand für ersteren der Nachweis eines Naturzustandes im Rahmen einer breit angelegten Gesellschaftskritik zur Debatte, erwähnt letzterer diesen überhaupt nicht. Möglicherweise erachtete Raff dieses Konzept als zu komplex für seine Schüler. Stattdessen werden die Wilden Kinder zu abschreckenden Beispielen ausgebliebener, jedenfalls aber drastisch fehl geschlagener 227 Ebd., 660. 228 Ebd. 229 Ebd., 661.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
Erziehung.230 Vor diesem Hintergrund wird nun doch wieder fraglich, ob Peter sinnvoll hätte eingebettet werden können, denn dessen Umgestaltung zum Gesellschaftsmenschen war fehlgeschlagen – und zeigte dementsprechend harsch die Grenzen der Erziehung auf, wenn man sich auch mit allerlei Hilfskonstruktionen aus der Misere zu ziehen hätte versuchen können.231 Marie-Angélique jedoch war eine ganz andere Sache. Mit ihrem Fall ließ sich die Transformation von der Animalität und Brutalität hin zum wertvollen, religiösen Gesellschaftsmenschen qua Erziehung vorexerzieren, wenn auch letzte wilde Reste in ihrem Charakter verblieben. Nicht auszuschließen auch, dass Raff seine Naturgeschichte für Kinder prinzipiell für seinen eigenen Adressatenkreis verfasst hatte – und der Bestand für den Lyzeumsdirektor eben zuerst einmal aus weiblichen Schülern. Raffs Naturgeschichte für Kinder zeigt insofern eindrucksvoll, wie sich die diskursive Verarbeitung der Wilden Kinder unmerklich verändern und schließlich, in Bezug auf deren Nutzung, völlig transformieren konnte. Über die dem Philanthropismus eigene theoretische Nähe zu Rousseaus Erziehungsidealen, und die damit verbundene Rezeption des Franzosen, geraten die Beispiele in den Horizont Raffs, der an der Faktenbasis keinerlei Änderungen vornimmt. Wo allerdings bei Rousseau die Kinder nicht – oder allenfalls sehr vermittelt – zu pädagogischen Erwägungen Einsatz finden, wird dies bei Raff zum einzigen Daseinszweck. Naturhistorisch betrachtet wird er den Fällen kaum gerecht232, weil er die Diskussion um einen Naturzustand und die Genese des Menschen völlig ausklammert, eine gesellschaftskritische Komponente fehlt völlig. Im Bannkreis der pädagogischen Aura, die Rousseau mittlerweile umgab, werden bei Raff die Wilden Kinder zu mahnenden Beispielen ohne naturhistorische Bedeutung.
230 In Rousseaus Erziehungskonzept spielen die Wilden Kinder, wie oben bereits angerissen, direkt jedoch keine Rolle. Sie sind – im übrigen schon für Rousseau zweifelhafte – Hilfsmittel zur Rekonstruktion eines Naturzustandes, der dann Einfluss auf die im Émile (Émile, ou de l’éducation, 4 Bde., Francfort 1762) durchexerzierten Erziehungsziele ausübt. Eine Rückführung in den Naturzustand hielt Rousseau bekanntermaßen für nicht möglich und nicht wünschenswert, er bildet nur einen weitgehend abgekapselten Bezugsrahmen, um zu einer natürlicheren Ausbildung des menschlichen Wesens zu gelangen. Itard versucht dementsprechend ja auch, Victor unter Einsatz eines Rousseauschen Erziehungsarrangements zu zivilisieren, nicht etwa dessen wilden Zustand zu konservieren. Zu diesem Komplex vgl. auch JAMES F. HAMILTON, Literature and the „Natural Man“ in Rousseau’s Emile, in: CHARLES G. S. WILLIAMS (Hg.), Literature and History in the Age of Ideas. Essays on the French Enlightenment Presented to George R. Havens, Columbus 1975, 195–206. 231 Hier bietet sich vor allem die immer wieder auftauchende Vorstellung an, die Formbarkeit des Menschen lasse mit zunehmendem Alter nach; schlechte Karten also für lange isolierte Wilde Kinder. 232 Tatsächlich erinnern seine Darstellungen fatal an die Johann Samuel Halles, die weiter unten ausführlicher diskutiert werden.
4.2. Vom rechten Verständnis der neuen Theorien
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4.2. VOM RECHTEN VERSTÄNDNIS DER NEUEN THEORIEN Vor allem die naturhistorische und naturkundliche Neuorientierung um die Mitte des Jahrhunderts hatte so zu einer Integration der Wilden Kinder in die Theorien der wissenschaftlichen Avantgarde geführt. Hier erschienen sie als zwar immer noch einigermaßen exotische, letztlich aber doch respektable Exempel. Ermöglicht hatte dies jene Veränderung im generelleren Verständnis von „Wissenschaftlichkeit“, die in einer neuartigen Epistemologie und Methodik ihren Ausdruck fand. Strahlpunkt dieser Entwicklungen war ohne Frage Frankreich. Wie aber wurden die Innovationen im deutschen Sprachraum aufgenommen? Fanden sie Zustimmung oder Ablehnung, oder, noch grundlegender, wurden sie in ihrer Neuartigkeit überhaupt verstanden? Blieb die deutsche Wissenschaft in einer rezeptiven Haltung, oder wusste man den Diskussionen Neues hinzuzufügen? Die folgenden Unterkapitel gehen diesen Fragen nach. Die Befunde werden dabei exemplarisch bleiben, hoffentlich aber dennoch eine erste Einschätzung des Umgangs mit den neuen Theorien ermöglichen. 4.2.1. Tücken des Zeitgeistes: Halle und Steeb JOHANN SAMUEL HALLE (1727–1810), heute fast vergessen, beschloss seine akademische Laufbahn als Professor für Geschichte am adeligen Kadettenkorps in Berlin. Zuvor hatte er über ein halbes Jahrhundert hinweg eine Vielzahl von Schriften verfasst, in denen ein atemberaubend breites Themenspektrum verarbeitet wurde.233 Seine Naturgeschichte der Thiere in Sistematischer Ordnung234, ein Frühwerk, kann beispielhaft für die Schwierigkeiten stehen, welche die Rezeption neuartiger Gedanken mit sich brachte. In enger Anlehnung an Rousseaus Discours 233 Biographische Informationen zu Halle sind rar. Die NDB erwähnt ihn lediglich in einem Nebeneintrag, Meyers Universal-Lexikon kennzeichnet ihn in wenigen Zeilen als „populären Vielschreiber“. Diese Beurteilung mag nicht ganz falsch sein: Im Gelehrten Teutschland füllt die Bibliographie seiner Schriften mehr als vier Seiten. Erfasst sind, neben der als erstes genannten Naturgeschichte der Thiere, etwa die Übersetzung einer physiologischen Arbeit Albrecht von Hallers aus dem Lateinischen, ein Versuch einer allgemeinen Kornpolizey, eine Staatshistorie, ein Band über Die Kunst des Orgelbaues oder eine Praktische Anweisung, alle Stahlarten zu kennen. Hinzu kommen ökonomische, botanische und sogar mathematische Werke. Relativ weite Verbreitung fand die Magie oder die Zauberkräfte der Natur, welche in vier Bänden 1783–1786 erschien. Vgl. „Halle (Biogr.), Johann Samuel“, in: JOSEPH MEYER u.a. (Hg.), Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände […], Bd. 14, Hildburghausen 1849, 798; „Halle (Johann Samuel)“, in: GEORG CHRISTOPH HAMBERGER, Das gelehrte Teutschland oder Lexikon der jetzt lebenden teutschen Schriftsteller, Bd. 3, Lemgo 5 1797 [ND Hildesheim 1965], 63–67. 234 JOHANN SAMUEL HALLE, Die Naturgeschichte der Thiere in Sistematischer Ordnung. Die Vierfüssigen Thiere, welche lebendige Jungen zur Welt bringen; nebst der Geschichte des Menschen, Berlin 1757. Das Titelblatt liest irrtümlich Johann Samuel Haller. 1760 folgte ein zweiter Band (Die Vögelgeschichte). Der Titel gehörte auch zu Kants Bibliothek: vgl. ELKE KÖNIG, Kants Lektüre (Datenbank), URL: http://web.uni-marburg.de/kant/webseitn/ ka_lek01.htm.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
sur l’inégalité und deutlich vor MOSCATI235, der auf die Schrift jedoch nicht verweist, widmet er einen langen Teil seiner Abhandlung dem Vierfüssigen Thiermenschen.236 Halle muss auf naturhistorischem Feld insofern eine beachtliche Originalität zugesprochen werden: Die Aufnahme des Homo ferus in Linnés Systema Naturae vollzog sich erst ein Jahr später, und weder der VII., noch der XIV. Band der Histoire Naturelle Buffons (1758/1766) waren erschienen. Fast unvermittelt tauchen die Beispiele der Wilden Kinder, kaum hat der dritte Abschnitt (Der Mensch) der Naturgeschichte der Thiere begonnen, auf. Denn der „phisische Mensch ist eine sehr merkwürdige Demüthigung für uns mitten in der Geschichte der Thiere“, und man „hat traurige Beispiel von wilden, oder sehr einfältigen Menschen, so daß sich fast ein wiziges Thier schämen sollte, mit dem Menschen in einer Klasse zu stehen.“237 Ohne Frage sei der Mensch geschaffen, auf allen Vieren zu gehen.238 Darauf verweisen für Halle verschiedene Besonderheiten der Anatomie und der Haltung: Kinder beginnen natürlicher Weise mit dem vierfüßigen Gang239, der Rücken des Menschen „krümt sich von der Last des Kopfes allmählich“, die Menschen „tragen im Gehen den Kopf nicht vollkommen gerade in die Höhe, und bewegen die Hände gleichzeitig mit den Füssen, man lehnt sich im Sizen mit dem Rükken an, man krümt ihn zur Erleichterung […].“240 Die solchermaßen unnatürliche Haltung und Fortbewegung, bei welcher der Mensch seine Balance nur „der Fläche von einem Quadratschue“241 anvertraue, führe denn auch, aufgrund der ungleichen Belastung der Füße, zu vielerlei Beschwerden und schneller Ermüdung. Dass das Menschengeschlecht dennoch aufrecht gehe, sei insofern nur göttlicher Fügung zuzuschreiben: „Der erste Mensch ist also von der Hand des grossen Schöpfers aufrecht geschaffen, denn der Verstand hätte niemanden von der Erde erhoben […]. Diesem einzigen Stükke, daß wir nämlich mit aufrechtem Körper gehen, haben wir noch das Bisgen Unähnlichkeit zu danken, die uns von den Thieren unterscheidet.“242 Die Bipedität wurde allerdings keineswegs automatisch ausgebildet; vielmehr spielten hier das Vorbild und die Erziehung durch Eltern und Gesellschaft eine entscheidende Rolle. Wurde der Mensch von dieser Kontinuität abgeschnitten – 235 PIETRO MOSCATI, Delle corporee differenze essenziali, che passano fra la Stuttura de’ Bruti, e la umana. Discorso Accademico letto nel Teatro anatomico della regia Università di Pavia, Mailand 1770. 236 HALLE, Naturgeschichte der Thiere, 120–129. 237 Ebd., 21. 238 Allerdings sei er nie haarig wie die Tiere gewesen; Halle erklärt dies durch Entstehung der Menschen in warmen Gegenden, während sich die Besiedlung der kälteren Landstriche erst nach der Erfindung von Kleidung vollzogen habe. Auch würden die „wilden gefundne Knaben […] nicht eben als zottig beschrieben, sie kamen aber ohne Zweifel schon von gesitteten Eltern her.“ Vgl. ebd., 41. 239 Dieses Missverständnis findet sich in vielen Quellen. Mit genuin quadrupeder Fortbewegung ist jedoch nicht Kriechen auf Händen und Knien gemeint, sondern das Laufen auf Händen und Füßen. 240 Ebd., 22. 241 Ebd. 242 Ebd., 23.
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etwa durch Isolierung – behielt er seine natürliche, also vierfüßige Haltung.243 Eine dramatische Depravation, denn der Mensch, von der Natur nicht eben üppig mit Werkzeugen ausgestattet, benötigte die Bipedität zur Aktivierung seines Intellekts: […] indessen ist der Mensch das klügste Thier, und für dieses schicket sich in der That der völlige Gebrauch der Hände. Würden wir indessen auf allen Vieren gegangen seyn, so wäre es sehr zu zweifeln, ob wir jemals Herren der Thiere geworden wären. Der Herr der Natur richtete uns daher aus dem Staube der Niedrigkeit auf, und wir fingen an, die Arme durch den Gebrauch vollkommen zu machen […]; wir machten die Hände zum Werkzeuge aller Werkzeuge, sie wurden unsere Hörner, Sporen, Schwerdter, und Waffen; wir erwarben uns eine Stärke, die die thierische übertraf.244
Die Stärke durch Intellekt hat allerdings ihren Preis, wird der Mensch durch diesen doch „Lastern, die wider uns heftiger als die Thiere wüten“245 unterworfen. Echot schon diese Passage Rousseausches Gedankengut, werden die Parallelen bald noch stärker: Ausgehend von dem Befund, dass die Menschheit durch eine erhebliche Diversität ausgezeichnet ist, deren Gründe teils historischer Art246, teils auf Einwirkungen des Klimas zurückzuführen sind, glaubt Halle zu diesem Irrgarten keinen Faden zu haben, wenn man nicht den wilden Menschen zum Stammenschen annimmt. Die Triebe dieses wilden Menschen sind am wenigsten gekünstelt, oder durch den Umgang verderbt; alles ist lebhaft an ihm, er fühlet sich zu wenigen Ausschweifungen aufgelegt, die Gaben des Leibes stehen mit der Reizbarkeit der Seele in dem glücklichsten Vernehmen […].247
Keinesfalls stellten aber die Wilden, durch „das gesellige Leben […] schon genötiget, aus der Art zu schlagen“248, diese Urform dar. Man muss zurück zu einem vorgesellschaftlichen und solitären Menschen – der dann allerdings, folgte er nur seiner tierischen Natur, nicht aufrecht gegangen sein konnte. Halles Argumentation an diesem Punkt ist der Herderschen bemerkenswert ähnlich249: Die Bipedität ermöglicht erst Gesellschaft. Andererseits bleibt er hinter dessen elaborierter Erläuterung weit zurück, indem er behauptet, dass in dem Augenblick, „da die Menschen, wie wir, zu gehen anfingen, tausend Gelegenheiten zu einem geselligen Umgange“250 entstanden seien. Der Beleg dafür wiederum bleibt auch nach längerer Betrachtung kryptisch: Man konnte nicht anders denken, als daß die Menschen die man eben so nur auf zweien Füssen gehen sahe, zu unsrer Art gehören müsten, da sich sonsten das ganze Reich der Thiere auf 243 Es bleibt bei Halle letztlich fraglich, wie weit diese Kontinuität zurückreicht, ob der Mensch seit der Schöpfung biped ist. Das von ihm unternommene Gedankenexperiment (s. u.) legt allerdings eher nahe, dass mit einem zweiten, wohl als postdiluvianisch gedachten göttlichen Eingreifen gerechnet wird. 244 Ebd., 40. 245 Ebd., 41. 246 Halle denkt hier vor allem an die „Wanderungen der Völker“; vgl. ebd., 117. 247 Ebd. 248 Ebd. 249 Zu Herder s. u., Kap. 4.3.3. 250 HALLE, Naturgeschichte der Thiere, 118.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder allen Vieren bewegte, und es mussten die Wohnungen oder Hölen höher und geräumiger ausgeführet werden. Die Arme, zwei neue Gliedmassen, welche zu nichts als lauter Bewegungen geschickt waren, machten demnach den Anfang zur Erfindung und zur Geschäftigkeit, und beides war die Mutter, welche die Gesellschaft endlich hervorbrachte. Folglich ist der aufrechtgehende Mensch noch in etwas von dem ursprünglichen Menschen entfernt […]. Weiter reichen die menschlichen Gedanken nicht, wir sehen schon neben den vierfüssigen Menschen die Grenzscheide des Thierreichs vor uns […].251
Was denkt Halle hier an? Meint er tatsächlich, der Mensch habe seinesgleichen erst durch die auffallende Haltung wahrnehmen können? Dagegen sprachen doch einerseits alle Erfahrungen mit dem Tierreich, andererseits die Logik: Der Mensch wäre nach einer Generation bereits wieder ausgestorben gewesen. Welche Rolle spielen für ihn die Änderungen in den Behausungen? Der Text scheint zu suggerieren, dass durch diese die Hände zum ersten Mal gezielt eingesetzt werden mussten; ein wenig überzeugender Gedanke, verbringt der Mensch doch seine Zeit nicht im Stehen. Und konnten sich Geschäftigkeit und Erfindung nicht überhaupt erst in der Gesellschaft entwickeln, wobei die Sprache, die hier völlig ausgeklammert bleibt, eine wichtige Rolle spielt? Es bleibt so der Eindruck, dass Halle auf einem metaphernartig-düsteren Verständnis der Vierfüßigkeit aufbaute, um dieses nachträglich, und wenig erfolgreich, zu rationalisieren. Jedenfalls präsentierte Halle seinen Lesern in der Folge einige Beispiele, nicht ohne zu versichern, dass diese „beschimmelten Pinselstriche der Ahnen […] den Glanz der gepuzten Urenkel im geringsten nicht“252 beschädigen würden: Das Hessische Wolfskind von 1344, den Litauischen Bärenjungen, den „kleinen Hannöverischen Wilden“ und die „zween Wilden zwischen den Pirenäischen Gebirgen“. Gesezt, es hätten sich dergleichen verirrte oder entführte Wilden mit der Zeit in den Einöden fortgepflanzet, und eine Reihe von Nachkommen erhalten, so wären das die Menschen, wie wir sie hier schildern.253
Die Aufzählung ist bekannt: Halle gibt hier Rousseau (Discours sur l’inégalité, Anmerkung III) praktisch im Wortlaut wieder. Ob diese Auswahl zum Erreichen des Argumentationsziels jedoch eine glückliche war, ist fraglich, merkt Halle doch an, das Hessische Wolfskind habe sich daran „gewöhnt auf allen Vieren zu laufen“254 – schwerlich der Nachweis eines Naturzustandes. Im Falle Peters überliefert er, man habe ihn an den englischen Hof bringen müssen, bevor er
251 Ebd., 118 f. Rousseaus Lösungsansatz (keine Vierfüßigkeit, hohe Bedeutung der Sprache) scheint hier entschieden tragfähiger. 252 Ebd., 119. 253 Ebd. Zwar hatte Halle zuvor behauptet, die Kinder selbst seien bereits Beispiele für Menschen im Naturzustand; im folgenden Kapitel werden aber anatomische Unterschiede beschrieben, die sich für ihn offensichtlich nur durch langfristige Einwirkungen entwickeln können. 254 Ebd.
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gehen lernte – was nach Quellenlage schlicht falsch ist. Rousseau formulierte deutlich vorsichtiger und damit korrekter.255 Letztlich spielt dies aber auch keine Rolle, denn bei der Präsentation des Vierfüssigen Thiermenschen lässt Halle seiner anatomischen Vorstellungskraft freien Lauf. Der Kopf der Wesen, die „auf allen Vieren die Wälder durchstreifen“256, nehme eine längliche Form an, der Winkel zur Wirbelsäule ändere sich. Dadurch entstünden „Veränderungen in dem Gesichte“257: eine plattere Nase, eine größere Mundöffnung, ein längeres Kinn, bei den Männern schließlich die affenartige Behaarung des Gesichts. Hinzu komme eine Haarmähne, die mit dem Bart zusammenlaufe. Gleichzeitig versteiften sich die Arme, der gesamte Knochenbau verändere sich. Die Hand gliche der des Affen, die Position der Brüste, die Lage des Herzens, das Rückgrad veränderten sich wie beim Tier. Und auch ein Schwanz möge sich wohl schließlich aus dem Steißbein entwickeln.258 Eine genauere Anatomie von einem solchen Thiermenschen würde in allen Stükken die Wahrscheinlichkeit unserer Beschreibung vergrössern, und man würde sich wenigstens ehe die Gewalt anthun, und den Ekel überwinden, daß man hier einen vierfüssigen Wilden von seinem Geschlechte vor sich siehet. Ist der Mensch nun, wenn man das Sittliche von ihm absondert, etwas bessres als ein Thier?259
Auch diese Behauptung ist einigermaßen gewagt, möchte Halle doch ein hochspekulatives Denkgebäude mit einer imaginierten Sektion belegen – womit er wohl glaubte, der Empirie Genüge getan zu haben. Dem so bis an die Grenze des Denkbaren dem Tier angenäherten Menschen wird in der Folge sprichwörtlich – und „nach dem Herrn von Rousseau“260 – wieder auf die Beine geholfen. Nach einer ganz Rousseau geschuldeten Aufzählung der körperlichen, charakterlichen und moralischen Fähigkeiten des Naturmenschen261 versucht sich Halle an der Klärung einer Frage, die Rousseau wohlweislich im Dunkeln gelassen hatte: Wie entstand die menschliche Gesellschaft aus diesen solitären Anfängen? Wieder ist das Lösungskonzept überaus abenteuerlich: In der „Verwirrung“ der frühjährlichen Brunft 255 „Le petit Sauvage d’Hanovre qu’on mena il y a des plusieurs années à la court d’Angleterre, avoit toutes les peines du monde à s’assujetir à marcher sur deux pieds […].“ ROUSSEAU, Discours sur l’inégalité, 280. Dgg. HALLE, Naturgeschichte der Thiere, 120: „Eben so viel Mühe hatte man mit dem kleinen Hannöverischen Wilden, den man an den Englischen Hof brachte, bevor er gehen lernte.“ [Hervorhebung H. B.] Fraglich ist, ob hier ein Verständnisfehler Halles oder einfach nur ein doppeldeutiger Satzbau vorliegt. 256 Ebd. 257 Ebd., 120. 258 Ebd., 120 f. 259 Ebd., 124. 260 Ebd., 125. Halle glaubt allerdings in der Folge, dieses optimieren zu müssen und können. 261 Ebd., 125 ff. Aufgelistet werden etwa: besondere körperliche Stärke; Essen, Trinken und Schutz als Grundbedürfnisse; Fähigkeit zum Klettern; Begierden nach „Nahrung, Frau, und Schlaf“. Die Familien bestehen nur aus Mutter und Kind(ern), sie lösen sich schnell wieder auf: „Nachher kanten sie sich nicht mehr, und sie begegneten sich einander, als ob es fremde Wesen wären. Keiner hatte einen Begrif von Schönheit, von Eifersucht, von der methodischen Liebe“. Ebd., 126.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder begaben sich die zerstreuten Verliebten in die entfernten Gegenden, die Wanderungen sahen noch sehr ungesittet aus, man verbarg sich nur wider die Nebenbuler, vielleicht umflossen die Wasser solche Stükke Land, wohin man geflüchtet war, es blieb daher der Man, die Frau und ihre künftige Kinder beisammen, sie lernten sich vollkommen kennen, und wohnten friedlich beieinander. Also sind in den Inseln die Sprachen und die Gesellschaft entstanden.262
Völlig fraglich bleibt, warum die angeborenen Instinkte plötzlich ihre Wirkung verlieren. Die Loslösung der Kinder von der Mutter beschreibt Halle weiter oben folgendermaßen: „So bald sie mehr Stärke bekamen, wurden sie wiederspänstig, sie bissen nach ihr, und trenten sich endlich ganz und gar von ihr.“263 Insofern wäre eher ein Massaker als die Entstehung von Gesellschaft vorprogrammiert. Auch weiß man nicht, wie sich die Individuen so vollkommen kennen lernen sollten, denn die Entstehung der Sprache ist ja erst Resultat dieser Gesellschaftsinseln. Überhaupt Sprache: Halle kommt hier zum ersten Mal auf sie zu sprechen und begibt sich sofort wieder in ähnlich zirkuläre Denkmuster: Vielleicht gaben die Kinder durch ihr Geschrei oder den Hunger zu der Sprache Anlas, so wie man siehet, daß das Mutterschaf aus Liebe eben so, wie das Lämchen blöket. Die erste Sprache war also wohl ein natürliches Schreien in bedrängten Umständen, welches man denen Kindern abgelernt hatte.264
Hier müsste man also folgern, dass der Mensch mit Sprachfähigkeit geboren wird, diese dann wieder verliert, um sie schließlich von den Kindern zurück zu erlernen. Wie sich Halle die anschließende gesamtgesellschaftliche Übernahme und Konventionalisierung dieser Zeichen, aber auch den Übergang in die zivilisierte Gesellschaft vorstellt, bleibt mir rätselhaft. Die Passage beleuchtet jedoch exemplarisch die Widersprüchlichkeit und, auch terminologische, Unschärfe seines Ansatzes: Man ahmte also das gewöhnliche Geschrei in Gebaren, in den Händeln nach, und nachgehends nahm dasselbe gewisse Biegungen an, weil der Umfang der Leidenschaften immer größer wuchs, je grösser eine solche eingeschlossene Familie ward. Durch diese Geselligkeit vermehrte sich dieselbe ungemein, man stand sich einander bei, und keiner war dem andren unterworfen. Und dieses Geschlecht würde sich einige Jahrhunderte in gleicher Unwissenheit erhalten haben, da es nicht tugendhaft und nicht lasterhaft war, weil es nur dem Naturtriebe seiner Selbsterhaltung folgte, und es konnte nichts erfinden, weil es ohne Gesellschaft keine Sprache, oder Zeichen zu allgemeinen Begriffen besas. Sobald sich aber der horizontale Gang in einen aufrechten verwandelte, so öfnete sich das völlige Gebiet des Gefüles, und man bekam von den Flächen der Körper die ersten deutlichen Begriffe. Es ist nicht glaublich, daß wir dieses einem Zufalle zu danken haben, und wir würden noch heutigen Tages diesem beschriebenen Thiermenschen ähnlich seyn, wenn nicht Gott dem ersten Menschen zugleich mit der aufrechten Stellung den Seegen ertheilet hätte, ein Beherrscher der Thiere, und ein Bild der Gottheit zu werden.265
Ein erster innerer Widerspruch lässt sich – guten Willen vorausgesetzt – noch durch ambivalente Terminologie erklären. Warum hatte die Naturgesellschaft 262 263 264 265
Ebd., 127. Ebd., 126. Ebd., 127. Ebd., 128.
4.2. Vom rechten Verständnis der neuen Theorien
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„keine Sprache“, wo doch erst kurz vorher erklärt worden war, dass in den insulären Familien Sprache entstehe? Halle unterscheidet offenbar eine Sprache rein affektiven Inhalts – Laute und Zeichen, die gegenwärtige Absichten und Bedürfnisse vermittelten – von einer Bezeichnungssprache, die Intellekt voraussetzt und deren Zentrum unzeitliche Gegenstände und Abstrakta bilden. Nur letztere war, so hatte schon Cicero – Vocabula sunt notae rerum – herausgestellt, Sprache im eigentlichen Sinne.266 Halles Konzept rückte so also recht nah an die Sprachtheorie, die Condillac mit seinen signes naturelles und signes d’institution entworfen hatte. An Condillac, den Halle alllerdings nicht als Quelle angibt, gemahnt auch die hohe Bedeutung, die dem Gefül, also dem Tastsinn, für die Erfassung räumlicher Ausdehnung, und damit der Realität, zugeschrieben wird. Schwieriger ist jedoch die Deutung des letzten Satzes. Hier wird der Thiermensch zu einem historischen Faktum erklärt, dem wir „noch heute ähnlich seyn“ würden, hätte nicht Gott – und nun ergibt sich logisch, dass dies zu einem Zeitpunkt nach dem eigentlichen Schöpfungsakt gewesen sein muss – dem Menschen auf die Beine verholfen. Gleichzeitig erklärt Halle aber, Gott habe diesen Segen bereits „dem ersten Menschen“ zuteil werden lassen, so dass sich ein unauflösliches Paradoxon ergibt, selbst wenn in Rechnung gestellt wird, dass sich mit der Sintflut eine Sollbruchstelle ergab. Das Beispiel der Naturgeschichte der Thiere in Sistematischer Ordung weist so zweierlei nach: Zum einen, dass Rousseaus Text von einem der führenden deutschen Naturgeschichtler früh rezipiert worden war – eine nicht weiter überraschende Erkenntnis. Viel interessanter gestaltet sich jedoch der Abgleich der beiden Texte. Rousseau hatte nicht nur den rein hypothetischen Status seiner Überlegungen zumindest behauptet, sondern überdies die Frage der Vierfüßigkeit in eine der Anmerkungen verfrachtet und verneint. Halle meint nun offenbar, der Diskussion an diesem Punkt Neues hinzufügen zu können, mit – wie gezeigt wurde – teils katastrophalen Folgen für den argumentativen Zusammenhang. Das Resultat konnte auch kaum ein anderes sein; zumindest nicht, wenn man Rousseaus Entwurf als durchdacht und in sich weitgehend folgerichtig ansieht.267 Denn Halle versucht anhand einer identischen empirischen Basis entgegengesetzte Deutungen zu etablieren, ohne dann jedoch irgendwelche Folgen für das Gesamtkonzept abzuleiten. Wäre dies möglich, müsste man annehmen, dass die Frage der Vierfüßigkeit für die naturhistorische Bedeutung des menschlichen Naturzustands letztlich völlig irrelevant ist – die Folgen bleiben, vierfüßig oder nicht. Rousseau dürfte dies tatsächlich erkannt haben: Daher die randständige Diskussion, daher 266 Das Zitat findet sich auch Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache vorangestellt. Vgl. JOHANN GOTTFRIED HERDER, Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772], hg. v. HANS DIETRICH IRMSCHER, Stuttgart 2001, Titelseite. IRMSCHER (Nachwort zu HERDER, Abhandlung, 142) stellt heraus, dass die richtige „Erkenntnis, daß die menschliche Sprache in erster Linie Bezeichnung von Gedanken und Gegenständen sei und nicht Ausdruck von Zuständen, also – wie wir heute sagen würden – intentionalen Charakter habe“, die Lager der Rationalisten und Sensualisten übergriff, also allgemein akzeptiert gewesen sei. 267 Ob dies nach heutigem Forschungsstand der Fall ist, ist wenig entscheidend: Halle selbst beruft sich auf diesen und erkennt damit dessen Qualität an.
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das methodische Vorgehen. Vor der Paläoanthropologie musste die einzige empirisch erforschbare Anatomie des Menschen, die gegenwärtige, als gegeben angenommen werden. Nur aus ihr konnte man den Naturzustand induzieren. Halle jedoch geht den umgekehrten Weg, indem er die Vierfüßigkeit, für die letztlich nur die äußerst zweifelhaften Beispiele der Wilden Kinder sprechen, als gegeben setzt und aus dieser eine Naturzustandsanatomie deduziert, die sich aufgrund ihrer Spekulativität jeglicher Falsifikation oder Verifikation widersetzt. Der Grund für dieses Beharren ist zunächst kaum ersichtlich, dürfte jedoch möglicherweise in der Rettung des Menschen aus der Tierwelt, und damit der Stärkung einer esoterisch-religiösen Komponente bestanden haben. Abgesehen von der Schöpfung spielte Gott im Discours sur l’inégalité keine prominente Rolle. Die Entwicklung des Menschen ließ sich aus natürlichen Ursachen erklären, und an kritischen Stellen, dem Zusammenspiel von Gesellschaft und Sprache etwa, wollte Rousseau lieber auf die logische Unauflösbarkeit des Problems verweisen als sich für eine der Möglichkeiten, die dann nur metaphysisch fundiert hätte sein können, zu entscheiden. Dieses Vorgehen steht fraglos im Einklang mit den methodischen Grundprinzipien der modernen Wissenschaft und der Empirie. Eben diese Stelle, die Rousseau stringenterweise unbeantwortet lässt, bildet für Halle jedoch ein metaphysisches Einfallstor. Von den zwei offenstehenden Möglichkeiten – göttlicher Ursprung der Sprache oder der Gesellschaft, letztere vermittelt über den aufrechten Gang – entscheidet er sich für letztere, wohl weil die so mögliche anatomische Diskussion eher seinen wissenschaftlichen Kenntnissen268, auf jeden Fall aber dem Themenkomplex seines Werks entgegen kam. Hinzu kam, dass Halle meinte, den Affen generell Sprachorgane zugestehen zu müssen, die denen der Menschen identisch waren: „Die Mäuslein am Zungenbeine, an der Zunge, dem Luftröhrenkopfe, diese Maschinen einer begliederten Stimme, sind den menschlichen ohne Unterscheid ganz gleich, und doch schwazen die Affen nie unter sich.“269 Die Bipedität hingegen betraf nur den Waldmenschen270, und diesen, wenn man aus der Anatomie die richtigen Schlüsse zog, auch nur temporär.271 Lückenlos passt sich auch ein, dass Halles Grundkonzeption dem Natursystem Linnés folgt, jedoch dessen unbehagliche Implikation glättet. Stieß beim Schweden schon die Strukturierung seiner Tableaus vor dem Kopf, weil Mensch und Affe auch optisch aneinander gerückt wurden, verspielt sich dieser Effekt in der weitläufigen Prosa Halles: Die Erste Hauptabtheilung bleibt dem Menschen vorbehalten, von den Affen handelt er erst in der Zweiten Hauptabtheilung – den Vierfüssigen Thiermenschen und den Waldmenschen trennen so mehr als 400 268 Auf die konfuse Darstellung des Spracherwerbs wurde bereits oben verwiesen. 269 Ebd., 563. 270 Für Halle ein Begriff, der die Synonyme Orang-outang, homo silvestris, Quoiasmorrou, chimpanzee und Satyrus umfasst; später im Text finden sich noch Pongo und Enjoko. Ebd. 549 f. 271 Halle vermerkt, dass das Bein, „das einzige Glied, welches sie vom Menschen unterscheidet, […] keine Wade und keine Hinterbakken“ habe; ebd., 550. Abgesehen davon mochte dieser auch der bei Jesaja genannte Sagnir sein.
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Seiten. Während beim Menschen zudem eine klassifikatorische Angabe fehlt, findet sich unterhalb der Überschrift von Kapitel 18 (Das Affengeschlecht) die Beifügung „Anthropomorpha, Menschenverwandte Thiere“. Genau diesen hatte Linné jedoch bis zur zehnten Auflage des Systema Naturae (1758) auch den Menschen in seinen Spielarten zugeordnet – was Halles Leser in dieser Prägnanz nicht mehr nachvollziehen konnten. In Halles Werk treffen sich so widersprüchliche Tendenzen, deren Kombination nicht recht gelingen mag. Seine Naturgeschichte sollte ganz offensichtlich auf der Höhe der Zeit sein und mit den alten Traditionen brechen: Aristoteles’ Historia Animalium findet sich zwar noch im Schriftenverzeichnis, wird aber – als einzige – kommentiert: 60.000 Thaler habe Aristoteles von Alexander erhalten, einige hundert Personen habe er zur Informationsbeschaffung in seinen Diensten gehabt, aber ach: „Ein so scharfsinniger Geist, und diese Hülfsmittel dabei, konnten diese wohl ein schlechteres Werk, als die gedachte Thiergeschichte, hervorbringen!“272 Dass die neue Art der Wissenschaft, betrieb man sie methodisch konsequent, jedoch metaphysische und religiöse Implikationen in sich tragen konnte: Dies scheint Halle nicht akzeptabel gewesen zu sein. Halles argumentative Verfahrensweise erschien allerdings schon im engeren zeitlichen Umfeld höchst fragwürdig. So unternahm knappe 30 Jahre nach Veröffentlichung der Naturgeschichte der Thiere in Sistematischer Ordnung der württembergische Pfarrer, Ökonom und Naturkundler JOHANN GOTTLIEB STEEB273 eine ausführliche Kritik, eingebunden in eine generelle Ablehnung des vierfüßigen Menschen, wie bereits von Zimmermann bei der Widerlegung Moscatis vorexerziert. Halles Entwurf sei schon aus theologischer Perspektive – man hört den Pfarrer – irritierend: Warum solle der Schöpfer, wenn er doch die Erhebung des Menschen nicht nur beabsichtigte, sondern sogar aktiv durchführte, diesem eine „gegenseitige oder vierfüßige Anlage in seine Natur gelegt haben?“, insinuiere dies doch einen „reellen Widerspruch“ im göttlichen Tun.274 Bezüglich der herangezogenen Beispiele von Verwilderten moniert Steeb den bereits oben bemerkten Denkfehler: Diese könnten allenfalls die Befähigung des Menschen, Verhalten zu imitieren, nachweisen. Auch könne, ja müsse eine Erhebung auf zwei Beine durchaus mit einem anderen Mittel als göttlicher Intervention erklärt werden. Denn dass diese klare praktische Vorzüge habe, sei leicht ersichtlich und würde selbst von den Tieren, vor allem den Affen, verstanden. Aber auch wenn man, nun schon über Halle hinausgehend, annehme, dass der Mensch in einer solchen Isolation nicht zu Verstand gelange: 272 Ebd., 606. 273 JOHANN GOTTLIEB STEEB, Ueber den Menschen nach den hauptsächlichsten Anlagen in seiner Natur, 3 Bde., Tübingen 1785; hier Erster Band, 42 ff. Moscati wird ebenfalls erwähnt, es folgt aber nur ein kurzer Verweis auf dessen Widerlegung durch „Zimmermann und Mayer“. Sofern die knappe Fußnote eine Recherche erlaubt, sind wohl ZIMMERMANN, Geographische Geschichte und JOHANN CHRISTOPH ANDREAS MAYER, Beschreibung des ganzen menschlichen Körpers […], 6 Bde., Berlin u. a. 1783 gemeint; zu Zimmermann s. u., das Werk Mayers wurde hier nicht einbezogen. 274 STEEB, Ueber den Menschen, Bd. 1, 43 f.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder Daraus […] daß der, aus seiner Lage gesezte Mensch verwildern kann, folget so wenig, daß keine Anlage zum Verstande in ihm seye; als daraus, daß der Mensch unter vierfüßigen Thieren kriechen und klettern lernt, folgen sollte, er habe keine natürliche Anlage zum Aufrechtgehen.275
Ebenfalls ein schlechtes Beispiel seien die Kinder der Amerikaner, zeige doch die Erfahrung, dass Kinder, aufgrund ihrer physiologischen Besonderheiten, generell zunächst auf allen Vieren gingen, sich dann aber schließlich aufrichteten. Wann das geschehe, sei von der Kultur und von den Vorbildern abhängig, aber es geschehe.276 Dass der zweifüßige Gang besonders ermüdend sei, will Steeb ebenso wenig sehen.277 Noch radikaler geht er jedoch mit den Stellen ins Gericht, in denen Halle vollständig ins Reich der Imagination entfleuchte. Die Ansicht, dass die Bipedie zu einer strukturellen Umformung des Körpers führe, erscheint ihm schleierhaft. Schließlich ließen sich alle von Halle genannten Effekte bereits beim Säugling in ausgeprägter Form vorfinden, so dass Halle wohl eine von diesen Prämissen gesetzt haben müsse: Entweder sei die Transformation so stark, dass sie erblich werde, oder „der Mensch sey zuerst in einem mittleren Zustand erschaffen worden, nach welchen er eben sowohl zum zweyfüßigen als vierfüßigen Gang tauglich war.“278 Ersteres habe Halle, so weit man dies ausmachen könne, wohl intendiert, dagegen sprächen aber die Erfahrungen der Anatomen: Gewohnheit habe keinen so mächtigen Einfluss auf den Körper, und wenn dies doch so wäre, müssten andere Einflüsse noch weitaus wirkmächtiger als die Vierfüßigkeit sein. Dies spreche nicht gegen die generelle Möglichkeit der Vererbung, aber: In der zwoten, dritten, vierten u. s. w. Generation würde diese Veränderung vermuthlich noch nicht erfolget seyn; in der wievielten also? und wenn erst spät, warum nirgends eine Spur davon in der Geschichte? da kann man zwar die Dunkelheit der ersten Zeiten vorschützen, oder dem Daseyn des Menschen einige Jahrtausende mehr beylegen; aber wenn dieß zur Hilfe genommen wird, so kann man von unserer Gattung, weiß nicht was vorgeben.279
Ein schlüssigeres Bild habe Halle vielleicht aus der Annahme, der Mensch stünde in der Mitte zwischen Zwei- und Vierfüßigkeit, gewinnen können. Allein, ein solcher Ausgangszustand „wurde nirgends angenommen, sondern es heißt […] ausdrüklich, der Mensch scheine in seiner Natur zum vierfüßigen Gang geschaffen zu seyn.“280 Hinzu kommt für Steeb wiederum die religiöse Problematik, müsste man Gott in diesem Fall doch für einen lauwarmen Zauderer halten. Dann hätte dieser aber womöglich, so ist der Gedanke wohl weiterzudenken, keinen wirklichen Plan mit seiner Schöpfung verfolgt, sondern eher ein Versuchslabor inszeniert, was wiederum die völlige Tilgung Gottes aus dem Theater der Natur im Sinne materialistischer Ideen ermöglicht hätte. 275 276 277 278 279 280
Ebd., 45. Ebd., 45 ff. Ebd., 48. Ebd., 49. Ebd., 50. Ebd., 51.
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Schon weiter oben wurde auf die Passage verwiesen, die beim heutigen Lesen am wenigsten verständlich scheint und nur durch Rückgriff auf eine fehlerhafte Rezeption Rousseaus erklärbar wird: Halles imaginierte Sektion seines vierfüßigen Naturmenschen. Auch Steeb steht hier vor einem Rätsel, bekommt Sinn und Zweck dieses Gedankenspiels, der Metamorphose des Menschen zum Tiermenschen, ja zum „Orang-Utang“281, nicht zu fassen. Denn entweder könne man die Ausführungen Halles so verstehen, „daß der physische sogenannte Thiermensch, nach der Anlage seiner Natur, wirklich so gebildet war […]; oder daß ihn der vierfüßige Gang erst so gebildet hätte.“282 Ersteres passe zu Halles sonstigem Ansatz, letzteres sei aber tatsächlich „als Vorstellungsart des Herrn Verfassers anzunehmen.“283 Ein solcher Mensch aber müsste für den „zweyfüßigen Gang geschaffen gewesen, und erst durch den vierfüßigen Gang ein vierfüßiges Thier geworden seyn!“284 Warum aber bringe der Affe die zu ihm passende physische Verfassung dann schon mit auf die Welt, der Mensch aber nicht? Zumal der vierfüßige Gang höchstens einen kleineren Einfluss auf den Menschen ausüben könne285, wie – hier sind sie wieder – die „Beyspiele von wild aufgewachsenen vierfüßigen Menschen“286 doch belegten. Dachte man diese Hypothese darüber hinaus weiter, gelangte man an einen Punkt, der dem Pastor schlicht lächerlich erschien: „daß ein Affe, wenn man ihn von Jugend auf blos und beständig auf Zweyen zu gehen nöthigte, vermittelst einer ähnlich zu verfolgenden Verwandlung gestaltet werden müßte, wie wir […]“.287 Beiden – Halle wie Steeb – ist so letztlich anzumerken, woran das naturhistorische Denken des 18. Jahrhunderts immer wieder scheiterte: der noch nicht vollzogenen Temporalisierung, und damit der Verwandtschaftlichung der gesamten Natur, die dem nächsten Jahrhundert vorbehalten bleiben sollte, das sich von Traditionen und Schranken religiöser und metaphysischer Art radikal genug zu trennen vermochte. 4.2.2. Durchbruch der Skepsis: Schreber und Zimmermann JOHANN CHRISTIAN DANIEL VON SCHREBER (1739–1810), Zeitgenosse Halles, veröffentlichte ab 1775 sein vielbändiges Die Säugthiere in Abbildungen nach der Natur mit Beschreibungen288. Die Reihe, deren Kern vor allem die Tafelbände bildeten, die durch Textbände ergänzt wurden, wurde nach dem Tode Schrebers von August Goldfuß und Johann Andreas Wagner bis zum Erscheinen des letzten Bandes 1855 weitergeführt. Schreber, vielseitig interessiert, studierte in Halle 281 282 283 284 285 286 287 288
Ebd., 52. Ebd. Ebd. Ebd. Steeb schwebt hier z. B. vor, dass sich „höchstens sein Rükgrad krümmen“ könne. Ebd., 53. Ebd. Ebd. JOHANN CHRISTIAN DANIEL VON SCHREBER, Die Säugthiere in Abbildungen nach der Natur mit Beschreibungen. Erste Abtheilung: Der Mensch. Der Affe. Der Maki. Die Fledermaus [1775], ND Erlangen 1817.
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zunächst Medizin und Naturwissenschaften, aber auch Theologie. Seine sich sukzessive entwickelnde Vorliebe für Pflanzenkunde führte ihn schließlich 1760 nach Uppsala zu Linné, bei dem er auch promovierte. Zurück in Deutschland wurde Schreber zu einem der bedeutendsten Anhänger und Vertreter von dessen Botanik. Die Veröffentlichung seiner Darstellung der Säugetiere koinzidiert mit der Übernahme der Professur für Naturgeschichte in Erlangen, die ihm gleichzeitig die Oberaufsicht über das naturhistorische Museum brachte.289 In der öffentlichen Rezeption blieb dies aber ein Nebenaspekt: Schreber galt zeitlebens zuallererst als bedeutender Botaniker.290 Das grundsätzliche Ziel Schrebers ist, ganz seinem großen Vorbild Linné folgend, die „historische Kenntniß der Werke des Schöpfers, besonders derer die zu dem Thier- und Pflanzenreiche gehören“.291 Die Vorgänger, die er benennt, teilen sich ein in diejenigen, die Abbildungen der Natur lieferten292 und diejenigen, die sich vor allem mit deren literarischer Beschreibung und Interpretation befassten.293 Dass Buffon in dieser doch recht erschöpfenden Aufzählung fehlt, darf man wohl der Sympathie Schrebers für seinen Lehrer Linné zuschreiben; zumindest scheut er sich aber nicht, auf das Werk des Franzosen zurückzugreifen, wenn es die Materie erforderte, etwa bei der Beschreibung der Menschenrassen, die im Wesentlichen Buffon folgt. Die ursprüngliche und zentrale Idee hinter Schrebers Arbeit ist die Kompilation „von getreuen und saubern Copien der besten Thierfiguren aus denen Werken, die dergleichen enthalten […].“294 Zusätzlich aber soll es „zugleich die nöthige Nomenclatur und Beschreibung, auch das vornehmste von dem Aufenthalte, der Oekonomie, den Sitten und dem Nuzen jedes Thieres enthalten, und zur Bequemlichkeit des größten Theils der Liebhaber nach dem linneischen System eingerichtet werden“.295 Kurz: Schreber beabsichtigte eine systematische Naturgeschichte der Säugetiere, und dürfte dabei wohl eine Kombination von Buffonscher Lesbarkeit und lebensweltlicher Nähe sowie Linnéscher Stringenz im Kopf gehabt haben. Dabei soll exemplarisch vorgegangen werden: Aus jeder Gattung wird ein Beispiel geliefert, das in einem guten Kupfer abgebildet ist. Die Einteilung der Säugetiere folgt denn auch erwartungsgemäß den Linnéschen Taxa: den Zähnen. Ebenso wie jedes andere der Geschlechter kennzeichnet also auch den Menschen zunächst eine besondere Form des Gebisses. Hinzu kommt, dass „[z]wo Hände […] die Stelle der Vorderfüsse“296 vertreten. Aber 289 Vgl. E. WUNSCHMANN, „Johann Christian Daniel Schreber“, in: ADB, Bd. 32, 465 f. 290 Vgl. auch den Artikel in Meyers Conversations-Lexikon von 1851. (Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände: In Verbindung mit Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern und Technikern, Zweite Abt., Siebenter Band, Hildburghausen u. a. 1851, 1316.) Die ADB listet die Säugthiere noch nicht einmal in der Auswahlbibliographie auf. 291 SCHREBER, Säugthiere, Vorrede, o. P. 292 Schreber nennt u. a. Gesner, Aldrovandi und Nieremberg. 293 Zu diesen zählen z. B. Fab. Columna, Linné, Brisson, Daubenton, Pallas, Pennant. 294 SCHREBER, Säugthiere, Vorrede, o. P. 295 Ebd. 296 Ebd., 5.
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über diese bloß äußerlichen Merkmale hinaus ist es natürlich möglich, den Menschen entlang verschiedener Achsen zu definieren und einzuordnen: Dem Beherrscher der Thiere, welcher zwar in Ansehung der Seele in einem unendlichen Abstande zu ihnen stehet, in Ansehung des Körpers aber das erste Glied an der Kette derselben ausmacht, gebühret in der Reihe der Säugthiere ohnstreitig der erste Platz. Es würde vergeblich seyn, mit einigen Zoologen den Menschen von den Thieren absondern zu wollen. Die ganze Beschaffenheit des Körpers gibt seine Verwandschaft mit ihnen aufs deutlichste zu erkennen. Indessen ist es auch nicht nöthig, das menschliche Geschlecht mit irgend einem Thiergeschlechte zu vermengen. Es fehlet nicht an Kennzeichen an dem Menschen, nach welchen er von den Thieren, die zunächst an ihn gränzen, abgesondert, und als ein hinlänglich von ihnen unterschiedenes Geschlecht angesehen werden kan und muß.297
In einer Fußnote ergänzt Schreber, mit Verweis auf die Fauna Suecica Linnés: Das Geschlecht des Menschen hat nicht mehr als eine einzige Gattung, die in dem System, dessen Ordnung ich folge, Homo sapiens; Homo diurnus LINN. Syst. Nat. ed. 12. tom. 1 p. 28 heißt. Die übrigen, die man hat dazu rechnen wollen, sind theils eine Ausartung von dieser, theils wahre Affen.298
Als eine solche Ausartung müsse z. B. der in Maupertuis’ Venus physique erwähnte Homme nocturne gelten. Andere Bezeichnungen für diesen seien auch Dondo oder Nachtmensch, bei Linné Homo Troglodytes oder Homo nocturnus. Als Affe habe andererseits Linnés Homo Lar zu gelten, der geschwänzte Mensch dagegen sei wohl schlicht eine Erdichtung.299 Eine genaue Beschreibung des Menschen „seinem äusseren Baue nach“ wird nicht eingerückt; hier genügt der Verweis auf Linné und Buffon, die dies bereits in der notwendigen Ausführlichkeit geleistet hätten. Auch eine Darlegung der „natürlichen Geschichte des Menschen“ interessiere im Rahmen des vorliegenden Werkes allenfalls am Rande.300 Schon die fehlende Unterteilung des Kapitels steht im Einklang mit dem hier vertretenen monogenistischen Ansatz. Dennoch stellt Schreber fest, dass die Menschen gleichwohl keine amorphe Masse untereinander völlig gleicher Individuen bilden.301 So beschäftigt er sich recht ausführlich mit den „Spielarten, in welche sich die Gattung des Menschen zertheilt hat […].“302 Neben der Hautfarbe, die allerdings das bei weitestem auffälligste Unterscheidungsmerkmal der Menschenrassen ist, existieren weitere körperliche Unterschiedlichkeiten, die das
297 Ebd. Die Textstelle wird begleitet von zwei Fußnoten; zum einen eine Aufzählung der Zoologen, die den Menschen streng von Tier getrennt haben: Gesner, Ray und in neuerer Zeit Buffon, Klein, Brisson und Pennant. Dagegen steht der Linnésche Standpunkt, unterstützt etwa von Halle. Brooke und der „Verfasser eines Aufsatzes in den physikalischen Belustigungen, deren Herausgeber Mylius war“ gingen noch weiter und wollten den Menschen zu den Affen rechnen. 298 Ebd., 6. 299 Ebd. Schreber verweist hier auf die Darstellung in Hoppius’ Anthropomorpha. 300 SCHREBER, Säugthiere, 6. 301 Die Erläuterungen zu den Menschenrassen sind ausführlich. Mit Linné unterscheidet er vier nach Hautfarbe eingeteilte Hauptrassen. Konzentriert diskutiert Schreber auch die Frage der Entstehung der Hautfarben. Vgl. ebd., 17. 302 Ebd., 7.
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Menschengeschlecht zu gliedern scheinen303 und als Kategorien einer Systematik womöglich tragfähig wären: „Alle bisher berührte Abänderungen und Ausartungen der Gattung des Menschen, führen ganz natürlich auf die Vermuthung einer Möglichkeit, diese nach Maasgabe jener, in gewisse Stämme einzutheilen, und äussere Kennzeichen festzusetzen, woran solche erkannt werden können.“304 Eben einen solchen Versuch hatte ja Buffon unternommen; Schreber nimmt von diesem jedoch Abstand, denn möglicherweise sei in der Entstehung dieser Scheidemerkmale nicht die Naturgeschichte, sondern der im eigentlichen Sinne geschichtliche Werdegang der Menschen bedeutsam: Diejenigen data, welche die Naturgeschichte dazu beyträgt, sind vielleicht die unbeträchtlichern: die Geschichte der Völker hingegen, und ihre freywilligen oder gezwungenen Wanderungen, Trennungen und Vereinigungen, ihre Sprache, Religion, Sitten und Gewohnheiten, und mehr dergleichen Umstände, die nicht zur natürlichen Geschichte des Menschen gehören, ohnstreitig die vorzüglichsten Hülfsmittel dabey. Mithin liegt diese Untersuchung aus dem Gesichtskreise des Naturforschers.305
Schreber steht der Konzeption einer in „Stämme“ unterteilten Menschheit also gespalten gegenüber. Einerseits scheint er eine gewisse Unterschiedenheit, die über das Normalmaß intraspezifischer Variation hinausgeht, anzuerkennen; andererseits aber hält er die Ursachen dieser Unterschiede für hauptsächlich kulturellpolitisch bedingt. Vor allem fehlt es vollständig an einer Theorie, die physische Veränderungen des Menschen durch kulturelle Einflüsse zu erklären sucht. Schreber kann den „Stämmen“ so eigentlich nur eine sekundäre Bedeutsamkeit zusprechen; sie existieren nur als eine Überformung eines gemeinsamen Ausgangszu303 Ebd., 20 ff. Zwar lassen sich diese innerhalb Europas kaum mehr feststellen, da die Vermischung zu groß ist, aber nichtsdestotrotz sind sie prinzipiell existent. Es folgt eine weitläufige Aufzählung der von den Europäern abweichenden Völker. Anhand dieses Materials lasse sich eine Differenzierung nach verschiedenen Kategorien vornehmen. So zeigten etwa die Gesichtsformen relativ beständige Unterschiede. „Weit weniger wesentlich und beständig“ (ebd., 25) erweise sich der Faktor der Größe. Eine unterdurchschnittliche Größe lasse sich wahrscheinlich auf Kälte (ebd., 26), aber auch Überanstrengung in der Jugend sowie Nahrungsmangel zurückführen. Als glaubhaft nachgewiesene Minimalgröße gilt Schreber vier Fuß (ebd.). Die Bedeutung der Kälte für das Wachstum des Menschen wird, ganz typisch für das wissenschaftliche Denken der Aufklärung und Schrebers Forschungsgebiete, als Analogieschluss aus der Botanik übertragen. Konkret dienen die Alpenvegetation und die Ergebnisse der Entdeckungsreisen in die Polarregionen als Vorbild. Eine andere Bewandtnis habe es mit den Zwergen; diese fänden sich bei allen Völkern. Ein ganzes Volk, das vergleichbar klein wäre, existiere jedoch nicht. Als Heimstätte der riesenhaften Nationen gilt die Südhalbkugel, vor allem natürlich Patagonien. Ebd., 28. Wie groß die Patagonier genau würden, lasse sich noch schwer feststellen: Zu sehr widersprächen sich die unterschiedlichen Quellen, in denen die Angaben zwischen 8 und 12 Fuß schwankten. Eine gesunde Skepsis scheine demnach angebracht, wenn auch die Erfahrung zeige, dass Menschen, die weit über das gewöhnliche Maß des Europäers hinausgingen, durchaus lebensfähig seien. Eine einigermaßen vernünftige Grenze des Glaubhaften – auf welchen Voraussetzungen diese auch basieren mag – scheinen Schreber 9 Pariser Fuß zu sein. Ein guter Teil der extrem abweichenden Angaben ist wahrscheinlich Resultat des frühneuzeitlichen Größenwirrwarrs. 304 Ebd., 30. 305 Ebd., 31.
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standes. Da es bisher noch nicht gelungen ist, einen natürlichen Faktor auszumachen, der unstreitig für die Veränderungen verantwortlich zu machen wäre, wird das Problem an andere Disziplinen weitergereicht. Immerhin ergibt sich aus den Überlegungen aber, dass das Menschengeschlecht eine gemeinsame Basis hatte. Schwierig nur zu sagen, wie diese beschaffen war: Ist derselbe, wie ein Theil der Weltweisen, und selbst, welches sonderbar ist, der Naturkündiger behaupten, von Natur wild? Vierfüßig, mit Haaren bedeckt, ohne Sprache und Vernunft, an Schärfe der Sinnen, Stärke des Leibes und Fertigkeit der Glieder zu gebrauchen, den Thieren gleich, doch nicht gesellig wie diese; das ist das traurige Bild, welches von dem Menschen, wie man sich ihn in seiner ursprünglichen Beschaffenheit vorstellet, entworfen worden ist. Es ist hauptsächlich nach einigen in der Kindheit verlohrnen gezeichnet, die in Wildnissen, fern von der menschlichen Gesellschaft, unter den Thieren wieder gefunden worden sind. Ihre Geschichte verdienet in mancher Hinsicht hier einen Plaz. Ich will sie ihren wesentlichen Umständen nach erzählen, so weit sie bekannt ist; und dann wird nicht schwer seyn zu entscheiden, ob sie zur Kenntniß des ersten Zustandes der Menschheit etwas beytragen könne oder nicht?306
Es schließt sich die bis dahin vollständigste und bestbelegte Inventarisierung Wilder Kinder an.307 Aber nicht nur als Sammler und Chronist ist Schreber von Bedeutung: Trotz seiner, auch persönlichen, Nähe zu Linné ist ihm dessen Wort nicht heilig, und so unterzieht er die überlieferten Berichte einer skrupulösen Überprüfung, die in ihrer Art einen klaren Bruch mit den gepflegten naturkundlichen Usancen darstellt. Schreber, der sich die Mühe machte, tatsächlich bei Camerarius nachzuschlagen, kommt bezüglich des Hessischen Wolfsknaben schnell zu einem Schluss: „Diese Erzählung ist ein offenbares Mährchen, dessen Urheber man nicht einmahl weiß“308, und zu den ähnlich oberflächlich belegten folgenden Fälle – der Wetterauische Wolfsjunge, die Litauischen Bärenjungen, die Pyrenäischen Knaben, der Lütticher Hans – meint sich Schreber jedes weiteren Kommentars enthalten zu können. Interessanter, weil weitaus exakter beschrieben, ist für ihn der Irische Schafsjunge, von dem mit Tulp immerhin ein Mediziner, und keine fragwürdigen Literaten wie Camerarius oder Connor, berichtete. Tulp hatte vor allem auch eine recht genaue anatomische Beschreibung verfasst, nach der Deformationen, namentlich der Artikulationsorgane, festzustellen waren.309 Hier jedoch, so meint Schreber, widerspreche der gesunde Menschenverstand: „Tulpe vermuthet, er sey unter den wilden Schaafen in Irrland aufgewachsen. Allein dergleichen giebt es, meines Wissens, daselbst nicht.“310 Linné stelle diesem Fall mit dem Bamberger 306 Ebd. 307 Genannt werden: Hessischer Wolfsjunge (1544; das Datum wird von Camerarius falsch übernommen; vgl. Kap. 1.1.1.); Wetterauischer Wolfsjunge (1544); die Litauischen Bärenjungen (1661/1694); Irischer Schafsjunge; Bamberger Ochsenjunge; Mädchen von Zwolle; die Pyrenäischen Knaben (1719); Peter von Hameln (1724); Marie-Angélique; Johannes von Lüttich. 308 Ebd., 32. 309 Ebd., 33. 310 Ebd., Fußnote f).
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Ochsenjungen einen ähnlich gelagerten, und wiederum von Camerarius überlieferten, an die Seite. Jedoch: Man findet nicht, daß ihm einige Wildheit zugeschrieben wird; auch lässet sich diese aus seiner Erziehung unter dem Viehe keineswegs schliessen, denn in dem Stifte Bamberg hat es damahls so wenig, als itzo, wildes Rindvieh gegeben. Folglich gehört er in keiner Absicht hieher.311
Auch das Mädchen von Zwolle, Linnés Puella Transisalana, sei bei genauerer Überprüfung keineswegs „wild“ gewesen. Vielmehr „war sie aufrecht wie andere Menschen gegangen, und hatte eine selbstgemachte Schürze von Stroh um den Leib gehabt. Sie ist zwar vor Menschen scheu […], aber doch nicht wild gewesen, hat sich auch bald zu menschlicher Gesellschaft gewöhnet […].“312 Ausführlicher dargestellt werden Marie-Angélique – orientiert am Bericht Condamines –, vor allem aber auch Peter, dessen Vita Schreber den Breslauer Sammlungen entnimmt. Er gieng aufrecht, und war im Laufen sehr schnell und flüchtig, keineswegs aber so geschickt, auf den Bäumen herum zu klettern. Seine Zunge war unförmlich dick, so daß sie, wie die Nachricht sagt, an beyden Seiten angewachsen zu seyn schien. Um deswillen war er sprachlos; doch lallte er, wenn er beleidigt wurde […]. Er war übrigens klein von Person, hatte eine eingedrückte Nase, und kurze krause Haare. Nach zwey Jahren war von der Erziehung, die ihm der König in England zu London geben ließ, noch keine Wirkung zu spüren. Doch lernte er so viel, daß er die nöthigsten Dinge in englischer Sprache fordern konnte. Sein Gedächtniß aber war und blieb so unvermögend, daß man wenig Hoffnung hatte, ihm mehr beybringen zu können. Er starb daselbst 1727.313
Schrebers Resümee differiert erheblich von dem seiner meisten Vorgänger, Folge eines hier zum ersten Mal einigermaßen konsequent durchgehaltenen quellenkritischen Vorgehens. War La Mettrie noch zu dem Urteil gelangt, dass sich alle überlieferten Fälle ähnelten, hatte Buffon nicht weiter zwischen ihnen differenziert und Linné sie allesamt unter der Überschrift tetrapus, mutus, hirsutus versammelt, kam Schreber nun zu einem radikal abweichenden Schluss: Die Phänomenologie der Fälle machte deren Einbettung in eine einheitliche Theoriebildung nahezu unmöglich. Auf einen Naturzustand des Menschen konnte von ihnen ausgehend nicht geschlossen werden – erst recht nicht auf einen so defizitären, wie den oben beschriebenen. Aus den angeführten Nachrichten erhellet, daß an diesen Verwilderten keineswegs alle Stücke, die den vorgeblich natürlichen Zustand des Menschen bezeichnen sollen, wahrzunehmen gewesen sind. Sie sind nicht auf allen Vieren gegangen, welches nur von dem litthauischen und irrländischen Knaben, und zwar nicht mit der nöthigen Zuverläßigkeit, erzählet wird. Sie waren nicht haariger als gewöhnlich, ausgenommen der eine Litthauer und das Zwollische 311 Ebd., Fußnote g). Man könnte hinzufügen, dass auch das Beißen von Hunden nicht unbedingt typisch bovines Verhalten darstellt. 312 Ebd., 34. 313 Ebd., 35. Tatsächlich war Peter 1775 nicht nur quietschfidel, sondern in England geradezu eine lebende Legende. Der weiter oben getroffene Befund, dass die deutsche und englische Rezeption in diesem Fall weit auseinander driften, scheint sich also auch von hier zu bestätigen.
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Mädchen; ihre Haut war weder stärker, noch von anderer Farbe als gewöhnlich. Schärfere Sinne, und grössere Leibeskräfte und Behendigkeit waren nicht an allen anzutreffen, und nicht in höherem Grade, als ein jeder Mensch haben kann, wenn er will. Was ihnen insgesammt zu mangeln schien, war die Vernunft nebst der Sprache. Dieser Mangel war aber augenscheinlich eine Folge der Einsamkeit.. Jene ließ sich inzwischen bey einigen nicht ganz verkennen, und so bald sie unter Menschen kamen, entwickelte sie sich schleunig genug, obwohl wie gewöhnlich, nicht bey allen in gleicher Vollkommenheit. Das Vermögen zu reden äusserte sich gleichfalls bald. Anfangs durch Versuche, die Werkzeuge der Sprache zu gebrauchen, in der Folge durch den wirklichen Gebrauch derselben, den doch alle erlangt haben, oder erlangt haben würden, wenn es die Beschaffenheit der Werkzeuge, oder der Kräfte ihrer Seele verstattet hätte. Durch diese Beyspiele ist also die vorgebliche Unvollkommenheit des Menschen in seinem ursprünglichen Stande, noch lange nicht erwiesen. Ueberhaupt lässet sich nicht wohl annehmen, daß sie schon im zartesten Alter in die Wildniß gerathen seyn. Sie würden sich selbst weder ihren Unterhalt, noch den nöthigen Schutz gegen die Strenge der Witterung haben verschaffen können, in deren Ermangelung sie binnen kurzem würden haben umkommen müssen. Der wilden Thiere zu geschweigen, von welchen in Europa nicht viel für sie zu befürchten war. Vielleicht würden sie sich auch im gegenseitigen Falle in so bevölkerten Gegenden, als die meisten von denen sind, wo man sie gefunden hat, nicht so lange würden haben verborgen halten können. Sie waren also schon ziemlich herangewachsen, und hatten folglich auch bereits einen Theil der Erziehung genossen; das ist, wenigstens gehen, einigermaassen nachdenken, und reden gelernt, wenn ihnen die Beschaffenheit des Körpers dieses erlaubte. Hierauf wurden sie durch einen Zufall von den Ihrigen getrennet; einige vielleicht durch eine Art Wahnsinn, denn verschiedene von ihnen sind deutlich mit demselben behaftet gewesen; andere etwa durch eine harte Begegnung, auf der Reise u. s. f. Eine gewisse Blödigkeit des Gemüths oder Furcht hinderte sie, sich wieder nach menschlicher Gesellschaft umzuthun, welches sonst gewiß nicht unterblieben seyn würde. Wenn man dieses erwäget, so wird hoffentlich kein Zweifel seyn, daß weder die einen noch die andern, auch nur einigen Begrif von dem ursprünglichen Zustande des Menschen geben können. Nicht jene; denn man wird doch nicht eine Krankheit für die ursprüngliche Beschaffenheit des Menschen annehmen wollen? Nicht diese, denn sie waren nicht von der blossen Natur gebildet.314
Schreber führt den Nachweis so auf mehreren Ebenen. Erstens sind die Fälle höchst uneinheitlich: Quadrupedität etwa wird nur in wenigen Fällen beschrieben, und gerade diese – der nächste Einwand – sind „nicht mit der nöthigen Zuverlässigkeit“ dokumentiert. Gleiches gilt für die Behaarung, während die von den Zeitgenossen so betonten körperlichen Fähigkeiten der Wilden Kinder keineswegs das normale menschliche Maß überstiegen. Was jedoch allen mangelte, war „die Vernunft nebst der Sprache“ – für Schreber eine naheliegende Folge der Isolation. Wurde diese aufgehoben, verschwand auch der Mangel, jedenfalls wenn „die Beschaffenheit der Werkzeuge, oder der Kräfte ihrer Seele“ dies erlaubten. An einem Argument seiner Opponenten geht Schreber damit vorbei: Gerade der Zustand außerhalb der Gesellschaft war ja eine entscheidende Setzung gewesen, die Rousseau, und in seiner Folge Halle, vorgenommen hatten – was impliziert, dass ein solcher hier generell für unwahrscheinlich gehalten wird. Darüber hinaus klingt aber auch an, dass die beobachteten Phänomene sich vielleicht gar nicht aus dieser Isolation ergaben, sondern dieser vorangingen, dass also etwa körperliche oder geistige Störungen bereits vorlagen, bevor die Kinder ihren Weg in die Wildnis antraten. Diesen 314 SCHREBER, Säugthiere, 36 ff.
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Aspekt werden später Gall, Spurzheim und Blumenbach aufgreifen, und noch Rauber macht, nun gegen Schreber, die Frage einer dementia ex separatione zu seinem Ausgangspunkt. Aufgenommen wird nun endlich auch ein Denkansatz, der so naheliegend ist, dass man kaum verstehen kann, wie ihn eine ganze Generation von Wissenschaftlern in der Mitte des 18. Jahrhunderts übersah. Bereits die aus den 1720er Jahren stammenden Zeitungsberichte über Peter hatten immer wieder die Frage aufgeworfen, ob die realen Umstände die Schilderungen überhaupt erlaubten. Wie hätte ein solches Kind innerhalb einer dicht besiedelten Kulturlandschaft über viele Jahre unentdeckt bleiben sollen, woher hätten auf einmal Bären oder Wölfe, den meisten Menschen nur noch aus Erzählungen bekannt, als Zieheltern auftauchen sollen?315 Man konnte vor diesen Überlegungen nur zu der Einsicht gelangen, dass die Kinder „schon ziemlich herangewachsen“ waren und „folglich auch bereits einen Teil der Erziehung genossen“ hatten. Beispiele für einen Naturmenschen konnten sie danach nicht sein: Sie waren wohl meist krank, jedenfalls aber bereits vor ihrem Verschwinden vielfältigen gesellschaftlichen Einflüssen unterworfen gewesen. Auch letzteres Argument belegt einen gravierenden Unterschied im Denken Schrebers: Die Spuren der Erziehung konnten in den diskutierten Fällen nicht einfach wieder verschwinden, denn die Isolation war erstens nicht von langer Dauer gewesen und konnte so zweitens eben auch nicht von einer Erziehung durch wilde Tiere überlagert worden sein, was drittens ohnehin nichts über den Naturzustand des Menschen, sondern den der tierischen Zieheltern ausgesagt hätte. Anders sah die Sache aber wohl aus, wenn die Isolation tatsächlich über beträchtliche Zeit andauerte: Dann stand vor allem das Werkzeug der Sprache zur Disposition, was wiederum nahe legt, dass Schreber die Gesellschaft für dem Menschen naturgegeben hielt. Die Sprache ist eine Folge der Gesellschaft. Wenn man Kinder mit einander aufwachsen lassen wollte, ohne ihnen eine Sprache beyzubringen; so würden sie ohnfehlbar selbst eine erfinden. Je weniger ihrer wären, desto eingeschränkter würde die Sprache seyn. Das beweisen die Americaner. In gänzlicher Entfernung von Menschen denkt man nicht an die Sprache und vergißt sie sogar, wenn man eine kann. Ein californischer Knabe von zwölf Jahren, der nebst seinem Vater fünf Jahre in der Wüste zubrachte, wußte, als sie wieder gefunden wurden, so wenig von seiner an sich selbst sehr armen Muttersprache, daß sich seine ganze Kenntniß derselben auf eine äusserst kleine Anzahl Worte einschränkte. […] Der Schottländer Selkirk hatte die Kenntniß der Sprache und das Vermögen zu reden fast ganz verlohren, nachdem er fünf Jahre auf der Insel Juan Fernandez gelebt hatte.316
Die Gesellschaft verschafft dem Menschen also erst die Sprache; sie tut dies indes mühelos, durch ihre bloße Existenz. Je höher die Anzahl der Individuen in dieser Gesellschaft, so funktioniert wohl der Gedankengang, desto höher und differenzierter die Anzahl der Interaktionen, desto höher die Gesamterfahrung, die ge315 Dass in einigen Quellen – Irischer Schafsjunge, Bamberger Ochsenjunge – auf Nutzvieh ausgewichen wird, macht die Sache nicht besser; gerade bei diesem war menschlicher Kontakt ja vorprogrammiert. 316 SCHREBER, Säugthiere, 36 f. (Fußnote q).
4.2. Vom rechten Verständnis der neuen Theorien
333
macht wird und die kommunikabel gemacht werden muss; ergo folgt aus einer großen Gesellschaft eine weit entwickelte Sprache. So liegt es nahe, den Menschen vorwiegend im Hinblick auf die Gesellschaft zu definieren, ja diese als die eigentliche göttliche Gabe an den Menschen aufzufassen – womit isolierte Individuen nur zu tragischen Unfällen, aber auf keinen Fall zu Exempeln eines Naturzustandes des Menschen werden konnten.317 Der Mensch ist bestimmt zu denken, gesellig zu seyn, sich zu cultiviren, und den Schöpfer aus seinen Werken zu erkennen. Das zeigt die Geschichte der Menschheit unwidersprechlich. Höhere Bestimmungen des Menschen entdecket uns die göttliche Offenbarung.318
Damit löst Schreber zwar die Frage, die Rousseau umtreibt – Was war zuerst, die Gesellschaft oder die Sprache? – auf, allerdings zunächst nur oberflächlich. Denn wenn Gesellschaft aus sich heraus Sprache und Denken generierte, hätten andere soziale Tiere an diesen ebenso partizipieren müssen wie der Mensch. Zur Debatte standen hier, wie für die meisten seiner Zeitgenossen, natürlich die Affen, in denen die körperlichen, aber auch ethologischen Ähnlichkeiten zum Menschen kulminierten. Zwar hielt Schreber die von Linné vorgenommene Klassifizierung durch Zähne und Vierhändigkeit generell für „zureichend, das Affengeschlecht nicht nur von dem Menschen, sondern auch von den anderen Thieren zu unterscheiden“319. Jedoch legten einige Merkmale eine andere Sicht der Dinge nahe: So haben die Affen vor andern Thieren eine bald mehr bald weniger merkliche Aehnlichkeit mit dem Menschen in der Stellung des Leibes, wie in dem Baue und der Anordnung der Theile voraus; welche die Handlungen des Thieres verhältnismässig den menschlichen gleichförmig macht. Nächst den Händen nähert sich vornehmlich das Gesicht der Gestalt des menschlichen […]. Beyde Augenlieder sind mit Wimpern versehen. Das äussere Ohr ist fast völlig nach dem Modelle des Menschenohres gemacht. Die äussern sowohl als innern zur Fortpflanzung bestimmten, und andere inwendige Theile nicht zu gedenken. […] Doch gehet die Aehnlichkeit nicht so weit, daß man deswegen den Geschlechtsunterschied zwischen dem Menschen und dem Affen aufzuheben genöthiget wäre.320
Von gesteigerter Problematik erwies sich allerdings der Orang, denn dieses merkwürdige Thier nimmt sich vor den übrigen seines Geschlechtes gleich bey dem ersten Anblicke, wegen der Gestalt und Anlage der äusserlichen Theile seine Körpers, und dem aufrechten Gange aus; um dessentwillen es den nächsten Plaz nach dem Menschen behauptet […]. Da die Gleichheit des Menschen und dem Orang outang so groß ist, so erachte ich für
317 Der physiologische Entwicklungsprozess des Menschen ist für Schreber im Vergleich zu der Feststellung, dass dessen Wesen als Gesellschaftstier letztlich statisch ist, nur von untergeordneter Bedeutung. Er begnügt sich damit, die wahrscheinliche Entwicklung des Menschen mit groben Strichen und unter Rückgriff auf anatomische Beobachtungen zu skizzieren. So „beweiset die Stellung und Bildung seiner Zähne, nebst dem Baue des Magens und der Gedärme“, dass dem Menschen am ehesten eine vegetarische Ernährungsweise zukommt. Ebd., 38 f. 318 Ebd., 38. 319 Ebd., 46. 320 Ebd.
334
4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder nicht überflüßig, die vornehmsten Puncte, in welchen beyde sich entfernen, kürzlich aufzuzeigen.321
Jedoch ergibt die genauere Betrachtung Beruhigendes. Der aufrechte Gang ist dem Orang zwar möglich: „Er kann aber auch auf allen vieren gehen.“322 Endgültige Rettung naht aus dem Lager der Anatomie, denn vergleiche man den Orang schon äußerlich mit dem Menschen und den übrigen Affen, „so bleibt kein Zweifel übrig, daß der Orang outang ein wahrer Affe sey. An den innern Theilen ist der Unterschied noch deutlicher.“323 Schreber beruft sich hier auf Tysons Sektionsergebnisse – anderes Material, etwa aus Campers Untersuchung, fehlte 1775 ja auch noch weitestgehend. Beachtenswert ist aber die Bewertung, die er den Beobachtungen Tysons hinzufügt. Die von dem englischen Anatomen aufgeführten 34 Unterschiede zeugen für Schreber von einer großen Unterschiedlichkeit – während die 48 Punkte, in denen sich Mensch und Affe bis aufs Haar gleichen, für ihn nur von „geringer Erheblichkeit“324 sind. Finden sich so schon in der Anatomie gravierende Unterschiede, gründet sich die Scheidung des Menschen vom Orang doch auf etwas anderes: „Hauptsächlich aber fehlet ihm das Vermögen vernünftig zu denken, nebst der Fähigkeit zu reden, obgleich die Werkzeuge dazu vorhanden sind.“325 Geistig also ist zwischen den beiden eine starre Schranke vorhanden, auch wenn es oft scheint, als könne diese vom Affen überwunden werden. Zwar berichteten einige Autoren, der Orang besitze „Anzeigen eines vorzüglichen Verstandes“326; aber was hier als Verstandesleistung wahrgenommen und zu belegen versucht wird, ist doch nur Imitation, und diese wiederum instinktiv-triebhaft im Orang verankert. So ist spätestens das Entzünden des Feuers eine dem Affen unerreichbare Leistung, mag er dem Menschen noch so oft dabei zugesehen haben. Offenbar ist Schreber, im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen, nicht bereit, widersprüchliches Material zugunsten einer aufsehenerregenden Theorie zu manipulieren oder unterschlagen. Anders gesagt: Das methodisch saubere quellenkritische Arbeiten beraubt die Fälle aller naturkundlichen Evidenz. Mühsam erarbeitete Ergebnisse stellt Schreber anschließend selbst wieder in Frage – eben 321 322 323 324
Ebd., 55. Ebd., 59. Ebd., 56. Ebd. Diese qualitative Gewichtung ist allerdings recht einzigartig: So bemerkt Zimmermann 1778, dass der Orang „nach den Tysonschen Untersuchungen dem Menschen näher als dem Affen“ stehe (E. A. W. ZIMMERMANN, Geographische Geschichte des Menschen, Erster Band, Leipzig 1778, 117). Dieser Standpunkt wird in der Regel auch heute vertreten, wobei Tysons Ergebnissen im Rückblick ein erheblicher Einfluss auf die Einebnung der MenschTier-Differenz zugesprochen wird. MÜNCH etwa erscheinen gegenüber „der Verwandtschaft […] die Differenzen eher geringer“; dies habe erheblich zu einer allmählichen Ablehnung der cartesianischen Maschinentheorie beigetragen. (PAUL MÜNCH, Verwandtschaft oder Differenz? Zur Theorie des Mensch/Tier-Verhältnisses im 17. Jahrhundert, in: HARTMUT LEHMANN & ANN-CHARLOTT TREPP (Hg.), Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, Göttingen 1999, 517–535, hier 529). 325 Ebd. 56. 326 Ebd., 60.
4.2. Vom rechten Verständnis der neuen Theorien
335
weil entsprechende Hinweise da sind. Hatte er gerade noch belegt, dass die Verstandesleistungen Mensch und Orang klar trennten, findet sich in den nächsten Zeilen doch wieder der Anflug eines Verwandtschaftsgedankens.327 Man mag Schreber in dieser Hinsicht durchaus eine gewisse Widersprüchlichkeit vorwerfen; wenn es jedoch darum ging, Hypothesen zu falsifizieren, muss man ihm ein beachtliches Geschick zusprechen. Hier machte er selbst vor persönlichen Allianzen nur begrenzt Halt, mochte Linné auch sein Lehrmeister, ein genialer Systematisierer und überragender Botaniker sein. Das Konzept des von ihm postulierten Homo ferus, basierend nur auf einer Handvoll fragwürdig dokumentierter Fälle, wurde durch die Kritik der Fälle massiv angegriffen. Dass Schreber dies nicht lehrsatzmäßig festhielt, mag man aber auch als eine Verbeugung vor einer in ihren Grundlinien tragfähigen und bereits kanonisierten Natursystematik verstehen. Die Korrektur von Detailfehlern würde, mag er geglaubt haben, diese eben nicht mehr aus den Angeln heben, sondern verbessern, und so spiegelt sich in Schrebers Abhandlung auch die Internalisierung einer modernen Auffassung naturwissenschaftlicher Methodik. Schrebers Revision der Fälle der Wilden Kinder, die der Naturgeschichte zur Mitte des 18. Jahrhunderts so lieb geworden waren, zeigte nachweislich und schnell Wirkung. ERNST AUGUST WILHELM ZIMMERMANN, der 1778 den ersten Band seiner Geographischen Geschichte des Menschen328 veröffentlichte, lehnte sich schon ganz an dessen Deutung an – und benannte ihn explizit als Quelle. Dies ist insofern auffällig, als der weitgereiste und vielseitig gebildete Zimmermann mit seinem Werk eher eine Naturgeschichte Buffonschen Zuschnitts als eine Prosa-Version der Linnéschen Systematik vorlegte und folgerichtig selbst eher der Idee der scala naturae folgte. Vor diesem Hintergrund machte er sich daran, Buffons Konzept – Gradation der Natur, aber gleichzeitig herausgehobene Stellung des Menschen – zu modifizieren und dessen Widersprüche aufzuheben. Ankerpunkt wurde hier wieder die Frage der Differenz zwischen Mensch und Orang. Anatomisch glückt die Abtrennung zunächst: Das von Blumenbach unter Berufung auf Camper entdeckte os intermaxillare schien, bei aller Ähnlichkeit der sonstigen Physis, letzte Zweifel zu beseitigen. Da hieraus zwar qualitative, aber nur anatomische Unterscheidungskriterien zu gewinnen waren, tritt bald die Frage der Sprach- und Vernunftfähigkeit auf den Plan. Hier sieht sich Zimmermann nun einer nicht nachvollziehbaren Logik Buffons gegenüber, der dem Orang Sprachorgane und ein verblüffend ähnliches Gehirn attestiere, dessen Denkfähigkeit aber bestreite: 327 „Der Orang outang, den D. Tyson hernach zergliedert hat, konnte die Affen, die mit auf dem Schiffe waren, nicht leiden; gegen Menschen aber war er ungemein gefällig, und spielte gern mit solchen, die er kannte […]. Ein anderer, den der Herr Graf von Büffon 1740 in Paris sahe […], hatte ein bedächtiges, etwas trauriges Wesen, und war so zahm, daß er auf den Wink gehorchte […]. Er beleidigte niemanden, nahete sich den Fremden sehr bescheiden, und ließ sich gern liebkosen. Er ging immer aufrecht.“ Ebd., 61 f. 328 EBERHARD AUGUST WILHELM ZIMMERMANN, Geographische Geschichte des Menschen, und der allgemein verbreiteten vierfüßigen Thiere, nebst einer hieher gehörigen Zoologischen Weltcharte, 3 Bde., Leipzig 1778.
336
4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder Aber einmal kann man nicht genau wissen, ob er gar nicht denkt; zweitens ist der Unterschied, welcher eine größere oder mindere Seelenkraft in dem Gehirn anzeigt, dem anatomischen Messer vielleicht nicht merklich; und drittens steht gewiß die Vernunft eines Neuholländers und Neutons weiter aus einander, als die Seelenkräfte des Ourangs und Neuholländers.329
Dem Orang nicht den ihm gemäßen Platz zwischen Mensch und Tierreich einzuräumen, ist für Zimmermann daher nichts als Eitelkeit: Denn da die Natur nirgends Lücken läßt, warum soll dieser Halbmensch nicht zwischen dem Affen und Menschen stehen, und warum soll, unserer Eigenliebe zu gefallen, ein unermeßlich großer Abstand zwischen dem Orang und dem Menschen sein?330
Die Artgrenzen bringt dies nicht zum Einsturz, ist der Mensch dem Orang doch „freilich an Vernunft sehr überlegen; denn es ist keine Nation, sie sey so wild wie sie wolle, ohne Sprache.“331 Sprachlosigkeit ist kein Naturzustand, sondern Folge des Widernatürlichsten, das dem Menschen zustoßen kann: der Isolation. Und so hätte Rousseau schon allein am Beispiel Selkirks ableiten können, wie ungültig sein Einfall ist, daß er dem Menschen selbst im natürlichen wilden Zustande die Sprache ableugnet. Es giebt keinen solchen wilden Zustand des Menschen, und hat ihn nirgends gegeben. Denn die [!] Hamelsche Jnunge [!], das Mädchen von Songi, und andere ähnliche verwahlosete Menschen, lebten einzeln, und sind, wie auch Herr Schreber richtig bemerkt, ganz und gar nicht passende Beispiele, uns den natürlichen Zustand des Menschen zu lehren. Es hieße eben so viel, als wenn man an dem gefährlichsten Kranken die Physiologie studieren wollte. Man zeige mir eine Gesellschaft von zehn oder zwölf Menschen in irgend einem Welttheil ohne Sprache; dann will ich gern zugeben, daß unsere Ahnherrn Ourangs oder gar noch etwas niedrigers gewesen sind.332
Den Orangs geht die Sprache ab: Nicht weil sie solitär leben würden – de Pauw hatte mehr als dreißig von ihnen zusammen gesehen –, nicht weil ihnen die Sprachorgane fehlten, sondern weil „sie gewiß nicht die Seelenkräfte, sie brauchen zu können“333, besitzen. Diese Seelenkräfte aber, und hier verlässt Zimmermann denn doch wieder seinen Ausgangsgedanken, stammen nicht aus der Erfahrung, sie sind nicht sprachlich vermittelt, sondern bewirken die Ausbildung derselben und der rationalen Fähigkeiten des Menschen: Wo ein „ungelehrtes Kind […] sich am weitesten vom Ruhepunkte abstellt, um desto stärker“ auf ein als Hebel benutztes Stück Holz zu wirken, „freilich ohne irgend einen richtigen Begrif der Ursache dieses Phänomens zu haben“334, scheitert der Orang. Dies allerdings sind Schlussfolgerungen, die Schreber selbst gar nicht gezogen hatte, und, weil sie wieder in Richtung Metaphysik zielten, wohl auch gar nicht ziehen wollte. Und man kann noch weiter gehen: Schrebers Kritik basierte auf der Zweifelhaftigkeit der Quellen, der Annahme, dass die Kinder schon vor ihrer Isolation geschädigt gewesen seien und den erheblichen Divergenzen im 329 330 331 332 333 334
Ebd., Bd. 1, 121. Ebd. Ebd., 122. Ebd. Ebd., 123. Ebd.
4.3. Der quadrupede Mensch: Folgen einer Provokation
337
Fundus der Fälle. Daraus ergab sich, dass sie als Exempel, für welche Theorie auch immer, völlig unbrauchbar wurden. Zimmermann übernimmt zwar diese Formulierung, folgt ihr argumentativ aber nicht, indem er die Kinder nun als Beispiel gegen Rousseaus Naturzustand wendet. So findet sich zwar im Resultat – die Gesellschaft ist der Naturzustand des Menschen – Übereinstimmung mit Schreber, nicht aber in der Ableitung. Und wer Zimmermann ohne Kenntnis Schrebers rezipierte, mochte wohl bald die Wilden Kinder wieder nutzbar finden – für welche Theorie auch immer. 4.3. DER QUADRUPEDE MENSCH: FOLGEN EINER PROVOKATION Die Aufnahme des Themas Quadrupedie durch die strahlende Autorität Rousseau hatte also durchaus die zu erwartenden Nebenwirkungen: Eine bis dahin kaum ernstlich diskutierte Theorie schien jetzt dem wissenschaftlichen Diskurs angemessen.335 Immer wieder wurde in diesem Kontext auf das 1770 erschienene Delle corporee Differenzi essenziali des Anatomen und Mediziners PIETRO MOSCATI verwiesen, welches bald nach Erscheinen vom Göttinger Naturgeschichtler JOHANN BECKMANN ins Deutsche übersetzt wurde.336 Bereits von Zeitgenossen wie Kant und Herder lebhaft rezipiert geht auch die rezente Sekundärliteratur meist auf diese Schrift ein – allerdings bislang kaum mehr als kursorisch.337 Überdies scheinen die Thesen Moscatis, wenn auch nur am Rande, bis heute fachwissenschaftlich diskutabel zu sein, wie etwa die medizinische Dissertation MOßBRUCKERS338 nachweist. 335 „Ces récits influencèrent fortement les spéculations sur l’état primitif de l’homme: Rousseau évoquait déjà la locomation que l’on attribuait aux enfants sauvages, […] mais il finit par rejeter cette conjecture. De ce raisonnement […] Pietro Moscati s’inspira quinze ans plus tard, tout en prenant soin de n’en garder que les arguments favorables à l’hypothèse de la quadrupédie, pour les développer à sa manière.“ WIKTOR STOCZKOWSKI, Portrait de l’Ancêtre en Singe: L’Hominisation sans Évolutionnisme dans la Pensée Naturaliste du XVIIIe siècle, in: CORBEY & THEUNISSEN, Ape, Man, Apeman, 141–155; hier 144. 336 PIETRO MOSCATI, Delle corporee differenze essenziali, che passano fra la Stuttura de’ Bruti, e la umana. Discorso Accademico letto nel Teatro anatomico della regia Università di Pavia, Mailand 1770; dt. Von dem körperlichen wesentlichen Unterscheide zwischen der Structur der Thiere und der Menschen. Eine akademische Rede gehalten auf dem anatomischen Theater zu Pavia von Doct. Peter Moscati, übers. von JOHANN BECKMANN, Göttingen 1771. FRANK W. P. DOUGHERTY (Gesamtbibliographie zu Gesammelte Ausätze zu Themen der klassischen Periode der Naturgeschichte. Collected essays on Themes from the Classical Period of Natural History, Göttingen 1996, 531) verzeichnet eine erste Auflage unter dem Titel Sopra le differenze entra gli animali e l’uomo, Milano 1760 und datiert die von Beckmann übersetzte, erweiterte zweite Auflage auf 1771. In den hier untersuchten Quellen konnte keine Rezeption dieser weit früheren Auflage nachgewiesen werden. 337 Dies gilt selbst für den peniblen TINLAND, L’Homme Sauvage, 180 f. 338 GREGOR ARMIN MOßBRUCKER, Mittelfristige Ergebnisse nach ein- und mehrsegmentalen Spondylodesen der Lendenwirbelsäule, Diss. Freiburg i. Breisgau 2000, 4 (URL: http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/368/pdf/ promotion.pdf/): „Schon vor dem Aufkommen des Evolutionsgedankens im 19. Jahrhundert hat der italienische Anatom Pietro
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
4.3.1. Moscati und die Krankheit Bipedie Moscati wollte mit seiner Rede, offenbar vor Studenten und der lokalen Gesellschaft gehalten, eine „vernünftige und genaue Vergleichung des Baues der Menschen und der vierfüßigen Thiere […] entwerfen“339. Ob dabei seine ganz antimaterialistische und gegen französisches Systemdenken gewendete Stoßrichtung den Zuhörern sofort klar wurde, ist fraglich; der Leser jedoch findet bereits ganz zu Beginn des Textes eine umfängliche Fußnote, die dieses Argumentationsziel verdeutlicht: Die würksamste Widerlegung, die sich von dem menschlichen Materialismus machen läst, scheinet diejenige zu seyn, welche sich auf eine vernünftige Zergliederungskunde gründet. Denn in der That, wenn es dem Zergliederer glücken sollte, zu erweisen, daß der menschliche Körper, in so fern er materiell ist, im geringsten nicht über den Körper des Viehes erhaben ist; ja wenn es ihm gar glücken sollte, grössere Unvollkommenheiten bey jenem, als bey diesem zu finden, würde es dann nicht klar genug seyn, daß der Mensch durch einen ganz andern Grund, als die innere Einrichtung seines Körpers, über alle andere Thiere, wie so viele Vorfälle seines Lebens erweisen, unendlich erhaben ist?340
Nicht den Unwillen oder gar die Demütigung seines Publikums wolle er, Moscati, erreichen, sondern die „Bewunderung desjenigen unendlichen höchsten Wesens […], welches einen unvollkommenen Körper zum Gegenstande seiner Wunderwerke gewählet, und eben aus dieser Unvollkommenheit, die grösten Wunder hervorzubringen gewust hat […]“.341 Somit befindet sich Moscati von Beginn an im Gegensatz zu Denkern wie La Mettrie, aber auch Condillac, die durchaus nicht ausschließen mochten, dass Tiere die Führungsrolle des Menschen auch hinsichtlich des Intellekts angreifen konnten. Die Bipedität des Menschen, der „sichtbarlichste Unterscheid“342, ist denn auch der erste Angriffspunkt des Anatomen. Ganz falsch sei es, diesen „zur Ursache, oder wenigstens, wie die Schulweisen reden, zur Mitursache der gegenwärtigen menschlichen Vollkommenheit gemacht zu haben.“343 Das Freiwerden und die besondere Bildung der Hände seien zwar ohne Frage vorteilhaft; den Aufstieg
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Moscati (1770) bemerkt, daß der Mensch als Vierfüßler angelegt sei und den aufrechten Gang noch nicht richtig ‚verkraftet‘ habe, daher Krampfadern und Hämorrhoiden bekäme. In der Tat lassen sich auch an der Wirbelsäule Anzeichen dafür finden […].“ MOSCATI, Von dem körperlichen wesentlichen Unterscheide, 3. Ebd., 5 f. (Fußnote 1). Dementsprechend auch der Appell, mit dem Moscati seine Studenten aus dem anatomischen Theater entlässt: „[…] überreden Sie sich, daß Sie von der verachteten Natur der übrigen Thiere bey weitem nicht so weit entfernt sind, als der eingebildete menschliche Stolz zu behaupten pflegt; übertragen Sie diese nützliche Demütigung, doch jederzeit mit einem philosophischen Kennzeichen, in die bürgerliche Gesellschaft; ehe Sie von den Eigenschaften der Materie und deren verschiedenen Vollkommenheiten urtheilen, so erwägen Sie auch die geringsten Umstände, betrachten Sie mit dreistem Fleiße alle mögliche Seiten; und wann Sie alsdann […] nicht alles klar einsehen, so nähern Sie sich lieber einer ädlen und vernünftigen Ungewisheit, als daß Sie sich gefährlichen Hypothesen, verführerischen Systemen überlassen solten […].“ Ebd., 99 f. Ebd., 7. Ebd. Ebd., 8.
4.3. Der quadrupede Mensch: Folgen einer Provokation
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des Menschen hätten aber selbst Hufe nicht zu bremsen vermocht, „wenn er nur Vernunft gehabt, wenn er in Gesellschaft gelebet hätte, und vermögend gewesen wäre seine eigenen Gedanken andern mitzutheilen […].“344 Es folgt eine Flut der medizinischen Literatur entnommener Fallbeispiele, in denen selbst schwerste körperliche Behinderungen die Entwicklung des Menschen nicht aufhalten konnten. Andererseits: Ohne Vernunft, Gesellschaft und Sprache seien Hände letztlich zu nichts zu gebrauchen, würde der stumme, einsame, und nur sich selbst überlassene Mensch, auch mit den gegliederten Händen, so wie in Guinea und auf der Insel Borneo der Orang Utang, und die wilden Bewohner der großen Wüsteneyen der neuen Welt, ohne Künste und Wissenschaften, unter den übrigen Thieren […] und kaum von ihnen allen unterschieden geblieben seyn. Auf solche Art ist denn der physische Unterscheid der organischen Bildung nicht die Ursache, auch nicht die Mitursache des menschlichen Vorzugs vor dem Viehe.345
Möglicherweise, und Moscatis Tonfall wird hier vorsichtig, müsse man also annehmen, dass die Bipedität „nichts, als die erlernte Nachahmung der Kunst einiger Menschen sey, die davon den gegenwärtigen Nutzen, ohne die entfernten Nachtheile, einsahen […]“346 – was jedoch nicht automatisch den Schluss legitimiere, diese Art der Fortbewegung sei dem Menschen nicht natürlich.347 Stattdessen beginnt er in der Folge, eine medizinisch-anatomische Kosten-NutzenRechnung aufzustellen. Die Wilden Kinder will Moscati, der sich hier offen bei Rousseau bedient, jedoch nicht als Gegenstände einer solchen Analyse gelten lassen: Denn ich weis ganz wohl, daß man dawider einwendet, man könne mit eben dem Grunde erweisen, daß der Mensch nicht geboren sey, um zu hören und zu sehn, weil viele Menschen taub und blind geboren werden. Ich lasse also das Beyspiel der einfältigen Caraiben und der unflätigen Hottentotten, die spät und mit genauer Noth, wie man sagt, auf zween Beinen gehen lernen, gänzlich vorbey; auch mache ich keine Anwendung von dem vierfüßigen Menschen, den man im Jahr 1344. in der Nachbarschaft von Hessen fand, noch von dem im Jahre 1694. in den Littauischen Wäldern gefundenen vierfüßigen Kinde, noch von dem kleinen Wilden aus dem Hannöverischen, den man vor vielen Jahren an den englischen Hof gebracht hat, noch endlich von zween andern 1719. auf den Pyrenäischen Gebürgen gefundenen Menschen, die ganz gut auf vier Beinen giengen. Alle diese Fälle, die wegen ihrer Seltenheit zu schwach zum Beweise scheinen könnten, lasse ich vorbey; nur einige anatomische Anmerkungen, die man bey der unmittelbaren Betrachtung des menschlichen Körpers macht, werde ich hier beybringen.348
Zwar hält Moscati diese Selbstbeschränkung nicht konsequent ein: Schon, dass die Fälle hier überhaupt aufgeführt werden, und damit ihren rhetorischen Zweck erfüllen, spricht dagegen, und an späterer Stelle nutzt er denn doch noch das Beispiel Marie-Angélique. Gleichzeitig wird aber deutlich, wie sehr für ihn die 344 345 346 347
Ebd. 9. Ebd., 9 ff. Ebd., 15. Man sieht hier wieder sehr klar, dass evolutionäres Denken Moscati noch weit entfernt ist. Spätestens mit Darwins Erkenntnissen bezüglich der Selektion erscheint eine solche These in sich widersprüchlich. 348 Ebd., 17 ff. Auch dies ist wieder Wortlaut Rousseaus.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
Anatomie die eigentlich mit der Anthropologie beauftragte Wissenschaft ist349 – ein Befund, der DOUGHERTYS These stützt, der anatomische Diskurs habe im Verlauf des 18. Jahrhunderts wieder eine Deutungshoheit gegenüber dem naturhistorisch-philosophischen gewonnen, die Naturgeschichte zunächst unter einem neuen Paradigma geordnet und diese schließlich ganz zum Verschwinden gebracht.350 Ganz ähnlich hat hier auch TRIPP einen schleichenden Paradigmenwechsel in der Wissenschaft vom Menschen verortet, in dem an Stelle der Gesellschaftsanalyse wiederum auf die individuell-physische Konstitution Rekurs genommen wird.351 In beiderlei Hinsicht beredt ist denn auch Moscatis offenbar bewusst getroffene Entscheidung, den Namen Buffon in seiner Rede nicht in den Mund zu nehmen. Zwar zeigt eine kursorische Durchsicht der Fußnoten mindestens sechs Verweise auf dessen Histoire naturelle; der Zuhörer durfte aber selbst erschließen, wen Moscati meinte, wenn er abschätzig auf den neueren französischen Nachahmer des Aristoteles, den witzigen französischen Naturalisten oder generell auf den ganzen Haufen nicht genug philosophischer Finalisten anspielte. Seinen anatomischen Kenntnissen lässt Moscati dagegen freien Lauf. Kein Zweifel, die vierfüßige Haltung sei die festeste und bequemste, die man sich vorstellen könne. Insbesondere ergäben sich aber weitreichende gesundheitliche Folgen, wenn man sich gegen die Natur wende: Bereits beim Fötus finde, bedingt durch dessen nach unten gedrehte Position im Leib der Mutter, eine enorme Vergrößerung des Kopfes statt, die durch eine zu starke Durchblutung desselben entstehe. Gleichzeitig mache dies „die Hüften und Schenkel, durch den Mangel der Nahrung, kleiner […].“352 Die so schon pränatal erweiterten Blutgefäße in der Kopfregion macht Moscati für die menschliche „Neigung zum Schlage, zum Schwindel, zu Kopfschmerzen und zum Wahnwitze“ verantwortlich: „Krankheiten, welche alle viel öfter nur den Menschen, als die ganze Klasse der vierfüßigen Thiere zusammen genommen, befallen […].“353 Die Folgen für die unteren
349 Dieser Vorstellung schließt sich wohl auch Moscatis Übersetzer Beckmann an; zumindest lässt sich bei genauem Lesen die Bemerkung „wenige Philosophen sind Zergliederer, und nicht alle Zergliederer sind Philosophen“ (Vorrede, o. P.; Hervorhebungen H. B.) in diese Richtung deuten. 350 Vgl. DOUGHERTY, Missing Link, insbes. 66 f. Besonders betont Dougherty (ebd., 68 ff.) auch den auf Morphologie abstellenden Ansatz Blumenbachs. Beckmann lehrte ebenfalls in Göttingen und dürfte die Arbeiten seines prominenten Kollegen zweifellos gekannt haben. 351 „[…] un changement qui met à la place des apects sociaux l’analyse des functions corporelles. Il est question des physiologues.“ G. MATTHIAS TRIPP, L’idée de l’homme entre progrès scientifique et pensée philosophique, in: Dix-huitième siècle, 24 (1992) [Sonderheft: Le matérialisme des Lumières], 227–236; hier 235. 352 MOSCATI, Von dem körperlichen wesentlichen Unterscheide, 25 f. 353 Ebd., 27 f. Unklar bleibt, welche veterinärmedizinischen Untersuchungsergebnisse Moscati bzgl. der Frage der Kopfschmerzen der Vierfüßer vorlagen; Kant zeigte sich später ebenso gut informiert.
4.3. Der quadrupede Mensch: Folgen einer Provokation
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Gliedmaßen wären ebenso dramatisch, würde die postnatale Beanspruchung durch den aufrechten Gang dies nicht wieder ausgleichen.354 Speziell das weibliche Geschlecht hatte darüber hinaus einen hohen Preis für „den künstlichen Wunsch, durch […] aufrechte Stellung alle andere lebende Thiere zu übertreffen“355, zu zahlen. Die gar leichte Hervorschiessung der Gebährmutter, des Mastdarms, die häufige Verstopfung der Schwangern, die beschwerlichen Geschwülste der Beine, die gewöhnliche Trennung des Beckens, die unglückliche Geneigtheit zu unzeitigen, schmerzhaften und widernatürlichen Geburthen […] und endlich die ganze klägliche Iliade von Zufällen, welche die Schwangern, zum Vorzuge vor dem vierfüßigen Thier, quälen.356
Die inneren Organe sind jedoch bei beiden Geschlechtern betroffen: Das Herz etwa drücke senkrecht auf das Zwerchfell, wodurch sich die „großen Puls- und Blutadern“357 dehnten und falle schließlich beim Erwachsenen zwangsläufig in eine durch die Schwerkraft bedingte seitliche, fast waagerechte Fehlstellung. Folge sei ein Abknicken der eigentlich auf senkrechte Position ausgelegten Blutgefäße, was diese durch den dennoch zu bewältigenden Blutdruck nochmals erweitere. So drohten Aneurismen, Herzklopfen, innere Fehler des Herzens und, durch den vergrößerten Querschnitt der Lungenpulsader, Engbrüstigkeit, Lungenentzündung und Schwindsucht.358 Ähnlich genüsslich schildert Moscati die Folgen für den auf die Lendenwirbel drückenden Darm, um sich schließlich, und wohl zur Erleichterung aller im Publikum befindlichen Hypochonder, weitere Schilderungen der „traurigen physischen Würkungen der menschlichen aufrechten Stellung“359 aufgrund von Zeitnot zu versagen. In Anbetracht dieser Masse an anatomischen Beweisen dafür, dass der Mensch unter seiner besonderen Haltung eher leide denn von ihr profitiere, beendet Moscati den ersten Abschnitt seiner Rede. Egal ob Ovid, Seneca, Laktanz oder Cicero – die Verehrung der Alten muss beim Lob der Bipedie ein Ende haben. Noch schlimmer für den nun sarkastisch werdenden Moscati aber eine finalistisch ausgerichtete Naturgeschichte, die mit Nachdruck vorpredige, daß der Mensch deswegen zweyfüßig gemacht sey, um alle andere Thiere zu übertreffen; daß er von allen lebendigen Geschöpfen, deren Oberhaupt und Patron er zu seyn scheint, das ädelste, und der Natur das liebste sey; daß selbst die Natur für sich allein, wenn sich nicht die 354 Die naheliegende Frage, warum sich der Kopf dann nicht ebenfalls wieder auf sein Normalmaß zurückbildet, sieht Moscati: Die Wirkung des Blutdrucks auf den noch weichen Kopf des Fötus werde aufgrund dessen späterer Härte irreversibel. 355 Ebd., 28. 356 Ebd., 31 ff. Moscati bemerkt übrigens, dass es bezüglich der Leichtigkeit der Geburten bereits ein erhebliches Stadt-Land-Gefälle gebe, eine Folge der medizinisch fragwürdigen Kultivierung. Afrikanerinnen hätten sogar „kaum eine Viertelstunde bey der Geburt Schmerzen […].“ 357 Ebd., 35. 358 Ebd., 34 ff. Spätestens an dieser Stelle ist nicht mehr ganz klar, ob Moscati in grenzenlose Emphase oder augenzwinkernde Ironie verfällt: „O, was für eine reiche Quelle grausamer das menschliche Geschlecht verwüstender Krankheiten ist diese nothwendige unglückliche Vergrösserung der Gefäße!“ Und wenig später (ebd., 40) zum Publikum: „Ich sehe es Ihnen an, daß sie über die nachtheilige Mode, zweyfüßig zu sein, unwillig werden […].“ 359 Ebd., 44.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder witzigen Künste der Menschen sie zu verbessern bemühet hätten, traurig, einsam und rauh sein würde. Diesen verführerischen Reden der erhitzten eingebildeten Beredsamkeit würde ich mit der Frage antworten, ob es ihnen glaublich sey, daß eben diese Natur, die den Menschen so sehr liebet, ihn, zum Vorzuge vor allen den übrigen von ihr weniger geliebten Thieren, zum erbarmungswürdigen Gegenstande so großer Uebel machen wollen; daß sie seinem zweybeinigen Körper recht künstlich so grosse und so häufige Ursachen der Schmerzen, gleich als ob es eine eigenthümliche Eigenschaft der menschlichen Materie seyn müsse, eindrücken wollen; und alles dieses bloß zur metaphysischen Zierde, uns aufrecht zu halten; und wegen des eingebildeten Verdienstes, uns, um einige Handbreit mehr, über die Erde erhoben zu haben.360
Auch aus metaphysischer Sicht mag Moscati keine Einwände gegen seine Erkenntnisse zulassen. Es ist ihm „unbegreiflich“, wie die Physiko-Theologie zu der Einschätzung komme361, der aufrechte Gang erziele ein „vollkommeneres Gleichgewicht“; jedenfalls könnten die „Gründe nicht aus der anatomischen Betrachtung des menschlichen Körpers genommen seyn […]“.362 Überdies bedeute Quadrupedie keinesfalls, dass dem Menschen der Blick zum Himmel, und damit in jenseitige Sphären, vorenthalten bliebe, denn fraglos würden „die beständige Zusammenziehung und die nothwendig stärkere Anstrengung die Halßmuskeln […] ungleich mehr verstärkt haben […], daß also selbst der vierfüßige Mensch der angenehmen Aussicht gen Himmel und des geräumigen Horizonts, nicht würde beraubt gewesen seyn.“363 Überhaupt erkennt Moscati, dass Gewohnheit und Kultur einen durchaus starken Einfluss auf die Anatomie haben können, sodass das Studium, z. B. der Längenverhältnisse von Armen und Beinen, wie es Rousseau und Buffon betrieben, nicht ertragreich sein könne. Wiederum sind diese Verhältnisse nur Folge, nicht aber Ursache der Bipedität.364 Als Beleg hierfür wird nun doch ein Wildes Kind benutzt: „Man lieset, daß die in den Waldungen von Songi gefundene wilde Frauensperson, welche sich mit vieler Leichtigkeit von einem Baum auf den andern schwänkte, einen viel grössern und stärkern Daum, als gewöhnlich, gehabt hat.“365 Damit verlässt Moscati sein zentrales Thema, um den Menschen auf andere körperliche Unterschiede zu untersuchen. Solche liefern ihm zunächst weder die Muskeln366 noch die Eingeweide367; auch die Sinne seien äußerlich wie in ihrer Funktion denen der Tiere gleich.368 Die Fähigkeit, Laute auszustoßen, hätten ebenfalls alle Tiere, während eine Diskussion der Sprache – „wenn wir unter Sprache die künstliche unendliche Mannigfaltigkeit und Abänderungen wilkührli-
360 Ebd., 47 ff. 361 Der Begriff an sich fällt nicht; verwiesen wird ohne Angabe einer Stelle auf deren Exponent Derham; MOSCATI, Von dem wesentlichen körperlichen Unterscheide, 21. 362 Ebd. 363 Ebd., 51 f. 364 Ebd., 50 f. 365 Ebd., 51. 366 Ebd., 56. 367 Ebd., 56 f. 368 Ebd., 58 ff.
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cher, und erblich abgeredeter Zeichen […] verstehen wollen“369 – als Manifestation des Wirkens einer Seele370 nicht in den Gegenstandsbereich der Anatomie, oder überhaupt der Naturwissenschaften fällt. Einzig das bei Tieren feststellbare Übergewicht eines Sinnes, etwa des Geruchssinnes beim Hund, weiche vom Menschen ab, dessen Sinne gegeneinander ausbalanciert seien. Auch hier habe man es aber allenfalls mit einer graduellen Differenz zu tun.371 Selbst eine Zergliederung des Gehirns zeigt nichts als große materielle Ähnlichkeit. Anders jedoch, wenn die Wirkungen zerebraler Prozesse auf den Körper untersucht werden372: Während Tiere, nachdem das Gehirn „einen nur etwas starken Eindruck bekommen hat, […] die Würkung davon entweder gar nicht, oder sehr wenig und selten hemmen können“ besitze der Mensch „ein viel freyeres Vermögen, die körperliche Würkung seiner meisten Empfindungen zu unterdrücken oder aufzuschieben“373, sei dieser als Erwachsener in der Lage „zu vergleichen, zu trennen, und abzuwägen […].“374 Triebsubstitution als Geburtsstunde der Wissenschaften, ein merklicher Unterschied allemal, jedoch keiner, der so wesentlich wäre, dass die einmal getroffene Feststellung der körperlichen Gleichartigkeit aufgehoben werden müsste: Schließlich sei es nichts als Deutungssache, welcher Fähigkeit in einer konkreten Situation der Vorzug zu geben sei, der Spontanreaktion des Tieres oder menschlicher Bedachtsamkeit.375 Es gibt also „überall keinen substanziellen körperlichen Unterscheid zwischen den Thieren und uns […]. Und o wie fruchtbar ist diese Folgerung! wie viel philosophisches Lob enthält sie für den höchsten unendlichen Schöpfer der Welt und der Menschen, der unserm zerbrechlichen Thone die sichtbaresten Beweise seines unzweyfelhaften Daseyns einprägen wollen, der aus der Unvollkommenheit der menschlichen Materie das erhabenste Werk auf dem ganzen Erdboden gebildet hat.“376 4.3.2. Seiltanzende Elefanten und musikalische Faultiere Moscatis Schrift rief in Deutschland ein reges Interesse hervor, wobei ablehnende Haltungen klar überwiegen. Dazu beigetragen haben dürfte insbesondere auch der Göttinger Anatom und Naturalisten JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, der Mos369 Ebd., 63. 370 Der Begriff Seele fällt bei Moscati nicht, ist aber ohne Frage impliziert: Sprache wird zu einer „sonderbaren Eigenschaft des Gehirns und desjenigen, was inwendig dasselbe regieret […].“ Ebd., 63; Hervorhebung H. B. 371 Ebd., 64 ff. 372 Das Gehirn ist für Moscati sozusagen der materielle Katalysator der Seele, so dass „nothwendig eine gänzliche Unwürksamkeit der Seele erfolget, wenn die materiellen Bedingungen ihres Würkens im Körper fehlen […].“ Ebd., 82. In der strikten Aufrechterhaltung des cartesianischen Dualismus bleibt auch bei Moscati ungeklärt, auf welche Weise Seele und Körper konkret miteinander kommunizieren können. 373 Ebd., 76 f. 374 Ebd., 79. 375 Ebd., 86 ff. 376 Ebd., 95 f.
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catis Schrift 1775 in seiner Dissertation De generis humani varietate nativa377 erwähnte. Moscati eilte durchaus ein Ruf als Anatom voraus, seine Thesen befanden sich aber im Widerspruch zu allem, was Blumenbach feststellen zu können glaubte. So entschied sich dieser, am Beginn seines kometenhaften Aufstiegs stehend, zu einer höchst diplomatischen Lösung: Keine Frage, der Italiener beliebte hier geistreich zu scherzen378 – eine Sichtweise, die der Stil der Abfassung tatsächlich erlaubt, die sich aber in der Folge nicht durchsetzte: Moscatis Gedanken wurden in der Regel ernst genommen. So macht sich ZIMMERMANN 1778 in seiner Geographischen Geschichte des Menschen an eine minutiöse Widerlegung. Angreifbar erschienen ihm fast alle anatomischen Details der These Moscatis, vor allem aber dessen Prämisse, dass sich durch Zergliederung wesentliche Aussagen über den Menschen gewinnen lassen würden. So verwiesen schon die Struktur des Kopfes und die Halswirbel auf den aufrechten Gang: Letztere seien, im Gegensatz zu denen der vierfüßigen Tiere, „ohne in einander greifende Fortsätze […]. Gerade so waren sie auch nur nöthig, wenn der Kopf perpendikulair auf ihnen ruhen […] sollte.“379 Zudem fehle „das so genannte Haarwachs, ein weißes, starkes, tendinöses Ligament, wodurch der Kopf der Thiere gehalten und aufwärts gezogen wird“380, und das schon Linné (Paxwax) erwähne. Die Augenachse des Menschen würde dazu führen, dass dieser in vierfüßiger Stellung keine horizontale Sicht hätte, sondern tatsächlich auf den Boden blicken müsste; zudem fehle jener Muskel, der den Augapfel der Tiere in die Höhe halte. Ähnliches gelte für die Ausrichtung des Gehörs.381 Für den übrigen Bau des Menschen verweist Zimmermann auf Blumenbach: Der trichterförmige Bau des Beckens biete „der Frucht hinreichenden Plaz“, hindere „aber dabey den Vorfall der Mutter […], die Gesäß- und Wadenmuskeln kündeten von dem für den Menschen vorgesehenen Gang.382 Für Zimmermann, der Idee der scala naturae verhaftet383, ist der Mensch durch die Bipedität auch keineswegs von der übrigen Natur abgetrennt: Denn je mehr etwa die Affen, aber auch der Bär, die Fähigkeit gewönnen, sich aufrecht zu halten, desto mehr ähnele auch deren Körperbau dem des Menschen.384 Abgesehen von diesen anatomischen Einwänden wird aber auch Moscatis Hang zum Hypothetisieren und Separieren einzelner Gesichtspunkte einer Kritik unterzogen. Dieser hatte aus Zimmermanns Perspektive nämlich die Methodik 377 JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, De generis hvmani varietate nativa liber, Goettingae 1775; zitiert wird i. d. F. nach der Ausgabe Göttingen 1776. 378 „Certe Cl. Virum [i. e. Moscati] elegantem ceteroquin et in plurimis laude dignissimum libellum tentamenti gratia neque adeo serio confecisse, est quod credam, cum partem argumentis vsus est quae certe a viro anatomes humanae et comparatae gnaro, imo ad vtramque non semel prouocante, haud expectasses; partem grauissima et omni exceptione maiora momenta pro homine bipede, iam a magna GALENO […] et immortali BARTH“. Ebd., 22 f. 379 ZIMMERMANN, Geographische Geschichte, Bd. 1, 124. 380 Ebd., 125. 381 Ebd., 125 f. 382 Ebd., 126. 383 S. o., Kap. 4.1. 384 ZIMMERMANN, Geographische Geschichte, Bd. 1, 126 f.
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seines zergliedernden Alltagsgeschäfts auf einen höchst unzulässig ebenso zergliedernden Vortrag transferiert. Beim Menschen konnte jedoch keineswegs von einem bedauerlichen Mängelwesen die Rede sein, jedenfalls nicht, wenn man denselben als organisches Gesamtkunstwerk betrachtete: Was ist es zum Beispiel für ein Einfall, deswegen, weil verstümmelte Menschen ohne Finger haben nähen, schreiben, arbeiten können, dem Menschen alle die Verrichtungen […] auch alsdann zuzutrauen, wenn er Pferdehufe oder misgestaltete Glieder habe. Man kann einen Elephanten zum Seiltanzen abrichten, aber nie ist er dazu erschaffen. Daß der Mensch auf vier Füßen fester stehe, als auf zweien, ist unleugbar; allein würde man deswegen die Nase oder die Augen lieber auf die Spize der Finger sezen, um auf eine größerer Weite zu riechen oder zu sehen, und alle die übrigen Vortheile ihrer jetzigen Lage und Sicherheit dagegen aufgehen lassen? Es kommt auf die Summe der Vortheile, und auf die ganze Einrichtung an. Man muss keinen Theil oder Funktion allein beurtheilen; sonst wäre es besser, daß die Natur noch auf dem Hinterkopfe ein drittes Auge anbrächte.385
Die von Moscati angenommenen Krankheiten, die sich durch den aufrechten Gang entwickelten, mochte Zimmermann ebenfalls nicht hinnehmen. Einerseits würde jede beliebige andere Stellung des Körpers zu Belastungen, und damit zu Problemen führen. Sogar das „Liegen des Nachts“ könne schließlich, „wenn es anhaltend auf einer Seite oder auf dem Rücken dauret, große Unbequemlichkeiten nach sich“386 ziehen. Keinesfalls könne man die vielfältigen Erkrankungen des Kopfes auf die fatal nach unten gedrehte Position des Fötus zurückführen. Schließlich drehe sich dieser erst im fünften oder sechsten Monat in diese Position, aber der Schädel sei „in den ersten Monaten […] am weichsten, […] und da steht der Kopf ja nicht unten; es müßten also die Füße sich übermäßig ausdehnen […].“387 Überhaupt falle der Mensch auch hier nicht aus dem ansonsten in der Natur zu Beobachtenden hinaus, der Kopf junger Hunde sei verhältnismäßig größer als bei einem ausgewachsenen Exemplar. Wenn also beim Menschen überhaupt eine erhöhte Zahl von Geisteskrankheiten festzustellen sei388, dann könne dies nur daran liegen, dass „wir unnatürlich leben […].“389 Kopfarbeiten, sitzende Lebensart, warme Getränke mussten für Zimmermann zu „Melancholie, Hypochondrie, und […] Tollheit“390 führen, all dies Krankheiten, denen der „alte Deutsche, der Kanadier und ähnlich lebende, einfach lebende, wenig denkende Nationen“391 trotz aufrechtem Gang nicht anheim fielen. Abgesehen von den schon von Blumenbach in die Diskussion gebrachten anatomischen Argumenten wirft Zimmermann so eine ganzheitliche Sicht auf den Menschen in die Waagschale, die auf dessen Gesamtfunktionalität, und nicht den 385 386 387 388
Ebd., 127. Ebd. Ebd., 128. Selbst dies scheint Zimmermann möglicherweise ein Wahrnehmungsfehler, weil „in jedem Jahre gewiß ungleich mehr Hunde als Menschen toll werden. Man schlägt die erstern todt, die andern sperrt man ein, wodurch sie noch toller werden, und dabey ihre Zahl ersichtlich wird.“ Ebd., 128. 389 Ebd. 390 Ebd., 129. 391 Ebd., 128.
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spezifischen Bau einzelner Körperteile, fokussiert ist. Damit führt er ihn dann doch wieder zurück in den Gegenstandsbereich der Naturgeschichte, was auch die vielfältigen Vergleiche mit dem Tierreich bestätigen. Unterworfen bleibt Zimmermann dabei im Prinzip dem Buffonschen Paradigma: Der Mensch steht nicht vereinzelt in der Natur, er ist an sie angebunden; körperlich ragt aus ihr heraus, wenn man die einmalige Funktionalität seines Gesamtbaus beachtet – aus der man nun wieder eine durchaus teleologische Sicht entwickeln konnte. Zimmermanns Kritik mochte, rein naturgeschichtlich betrachtet, eine naheliegende sein, die sich nahtlos in den von Buffon geprägten Diskurs einpasste. Sie konnte jedoch in einer Zeit, die sich dem Paradigma der Naturgeschichte nicht mehr kritiklos unterwarf, auch unbefriedigend erscheinen, weil wichtige Aspekte vernachlässigt wurden. Dies versuchte 1795 JOHANN SAMUEL ITH (1747–1813) auszugleichen. Dieser, Theologe, Pädagoge und glühender Verehrer Kants392, machte sich in seiner Anthropologie393 daran, die „erhabenen Vorzüge der Menschheit über die vollkommensten Thiere ausser allen vernünftigen Zweifel zu setzen“394 und versuchte dies auf einer übergreifenden Basis von Philosophie, Anatomie, Linguistik und Naturgeschichte zu bewerkstelligen.395 Zum einen war da die Organisation zur Sprachfähigkeit. Sie basierte auf einem doppelten Fundament: Zwar mussten dem Menschen, wenn man Campers Untersuchungsergebnisse ernst nahm, anatomisch einzigartige Sprachwerkzeuge zugestanden werden.396 Doch, und hier werden zum ersten Mal die Besonderheiten im Denkens Iths deutlich, selbst wenn Campers Opponenten, wie Linné und Monboddo, recht behalten sollten, „so folgt daraus der Schluss auf die Sprachfähigkeit noch eben so wenig, als wenn man aus dem Daseyn der Ohren beim Bradypus auf dessen Talente zur Musik schliessen wollte.“397 Aus der bloßen anatomischen Einrichtung mochte Ith dementsprechend keinen Schluss auf Fähigkeiten ableiten. Vielmehr müsse zu dieser organischen Anlage die Vernunft treten. Diese nun sei dem Menschen wesentlich – allerdings nur virtualiter, denn „unter ungünstigen Umständen, beym Thiermenschen bleibt sie freylich unenthüllt […].“398 Unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung von Vernunft und Sprache, und an diesen Beispielen unmissverständlich ablesbar, sei also die Gesellschaft399, die dem Menschen natürlich sei und in die er „instinktmäßig durch seine geselligen Triebe hineingezogen“400 werde. Außerhalb 392 Zur Biographie vgl. BLÖSCH, „Johann Samuel Ith“, in: ADB, Bd. 14, 648 f. 393 JOHANN SAMUEL ITH, Versuch einer Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen körperlichen Anlagen, 2 Bde., Bern 1794–95. 394 ITH, Anthropologie, Zweyter Theil (1795), 71. 395 So nehmen etwa die Physiologische Betrachtung der Sprache, Sprachelemente und Mechanik der Articulationen – also die Diskussion der Sprachorgane und der Lauterzeugung – einen erheblichen Raum von etwa elf Seiten ein; ebd., 75 ff. 396 Ebd., 71. 397 Ebd. 398 Ebd. Dementsprechend blieben diese auch „sprach- und vernunftlos“. Ebd. 88. 399 „ […] so haben Sprache und Vernunft eine gemeinsame Wiege, die Gesellschaft, die älter als beyde ist.“ Ebd., 90. 400 Ebd., 86 f.
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derselben – siehe die Thiermenschen – erlerne der Mensch das Reden nicht401, wogegen „der Gebrauch der articulierten Sprache […] bey allen Völkern des Erdbodens ohne irgend eine Ausnahme angetroffen wird.“402 Ohne Sprache und ausser der Gesellschaft mit andern seines gleichen bleibt der Mensch ohne Vernunftgebrauch, also ein Thier; aber so gewiss es seine Bestimmung ist, vernünftig zu seyn, so gewiss sind ihm Geselligkeit und Sprache natürlich, d. h. in seiner Bestimmung gegründet. Vernunft, Sprache, Gesellschaft sind so in das Wesen des Menschen hineingewoben, dass er ohne sie ewig in der Thierheit versunken bleiben würde und nur durch sie zu der seiner Natur eigenthümlichen Würde, der Humanität gelangen kann.403
Das Leben in der Gesellschaft war dem Menschen also auf mehrfache Art natürlich: Er folgte seiner Bestimmung, gleichzeitig aber auch seinen Instinkten, womit sich Teleologie und Biologie verwoben. Dass vor dieser so offen ersichtlichen Situation dennoch der Ursprung der Menschheit ein so gewichtiges und widersprüchlich diskutiertes Thema geworden war, möchte Ith, wohl nicht zu Unrecht, durch die erheblichen terminologischen Unschärfen erklären.404 So menge man beständig drey ganz verschiedene Begriffe durcheinander […]: ursprünglicher Zustand des Menschen, Stand der erniedrigten herabgewürdigten Menschennatur und Stand der vollkommenen Natur. Der erste ist der älteste Zustand, in dem die Menschheit sich anfänglich befand; der zweyte, der Zustand des verwahrloseten Thiermenschen, der eine Art von Ausartung ist, und der dritte ist der Stand, dem die Menschheit unter der Begünstigung der Vorsicht freylich unter vielen Hindernissen und mit Schritten, die für die Ungeduld des Menschenfreundes beynahe zu langsam sind, allmählich entgegenrückt, wo er sich mit allen seinen Kräften in Freyheit fühlen wird.405
Iths Vorstellungen werden vor dieser Aussage vollkommen klar: Der Zustand der Verwahrlosung, in dem man die Thiermenschen vorfand, ist nicht der ursprüngliche Zustand der Menschheit, sondern eine Ausartung, die ungünstigen Umständen geschuldet ist – ein Unfall. Und: Der Mensch vervollkommnet sich, hin zu einem Zustand, der das eigentliche Ziel seiner natürlichen Anlagen ist. In diesem Sinne ist für Ith der Naturzustand nicht der Beginn, sondern Ende und transzendentes Ziel der Menschheitsgeschichte. Diese Redefinition, weg von einer historischen Ausgangsvorstellung, hin zu einer Zielvorstellung, hatte bereits Kant vorgenommen: Naturzustand bedeutete in dieser Konzeption die Erfüllung aller im Menschen vorfindlichen und auf eine spezifische Bestimmung verweisenden Anlagen. Die Erfüllung dieser Bestimmung war nicht vom Individuum zu erwarten, son401 Ith verweist neben dem „Mädchen von Champagne“ auf weitere „sieben oder acht“ Beispiele. Als Quelle wird bemerkenswerter Weise RAFFS Naturgeschichte für Kinder (GEORG CHRISTIAN RAFF, Naturgeschichte für Kinder, Göttingen 1778; zu einer Diskussion dieser Schrift s. o., Kap. 4.1.5.) angegeben, der also auch über ihren eigentlichen Einsatzzweck hinaus eine beträchtliche Wirkung zugesprochen werden muss. 402 ITH, Anthropologie, Zweyter Theil, 72. 403 Ebd., 87. 404 Übrigens mit dem Einwurf, dass die „Sache […] in die historische Anthropologie“ gehöre, also recht betrachtet gar nicht in seinen Bereich falle – es waren ja die körperlichen Anlagen, die Ith im Titel seines Werkes hervorhob. Bezeichnenderweise fällt ihm das erst in der Mitte einer mehrseitigen Passage, die um dieses Thema kreist, auf. 405 Ebd., 90.
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dern nur von der Gattung als Ganzem. Hier jedoch vermochte Kant tatsächlich zu erkennen, dass der Fortschritt „nach allgemeinen Naturgesetzen bestimmt“ war, und „was an einzelnen Subjecten verwickelt und regellos in die Augen fällt, an der ganzen Gattung doch als eine stetig fortschreitende, obgleich langsame Entwickelung der ursprünglichen Anlagen […] werde erkannt werden können.“406 Während also „bei Menschen und ihrem Spiele im Großen gar keine vernünftige eigene Absicht“ unterstellt werden konnte, war von diesen „Geschöpfen, die ohne eigenen Plan verfahren, dennoch eine Geschichte nach einem bestimmten Plane der Natur möglich.“407 Ablesbar war dies wiederum an der äußeren Einrichtung, denn ein „Organ, das nicht gebraucht werden soll, eine Anordnung, die ihren Zweck nicht erreicht, ist ein Widerspruch in der teleologischen Naturlehre.“408 Welche andere Körperhaltung hätte ein solches Wesen annehmen sollen als die „edle aufgerichtete Stellung“, widersprach doch die „demüthigende sklavische Lage“, in der sich die Tiere befanden, sowohl dem Endziel als auch der organischen Einrichtung.409 Ebenso wie man Vernunft, Sprache und Gesellschaft für dem Menschen wesentlich, und damit gottgegeben halten musste, mochte sich Ith auch nicht vorstellen, dass „derselbe sich allmählig vom vierfüssigen Gang emporgehoben und durch lange Uebung endlich zum aufrechten Stand gewöhnt habe […]. Ein aufrechter Himmelan gebauter Körper ist also der Menschheit natürlich, eigenthümlich und für seine ganze Bestimmung wesentlich.“410 Geechot werden in der Folge Überlegungen, die Herder in seinen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit entwickelt hatte.411 Auffällig sind dabei jedoch seine epistemologischen Überzeugungen, die sich an die von Kant in der Kritik der reinen Vernunft aufgeworfene Erkenntnisproblematik anzuhängen scheinen. Denn von der reinen Empirie glaubt Ith keinesfalls die Lösung seiner Frage erwarten zu können; im Gegenteil: Wenn es hier bloss auf historische Zeugnisse ankäme: so wäre freylich die Behauptung, dass dem Menschen die aufrechte Haltung ausschliesslich zukomme, sehr gewagt. Denn wie viele Naturalisten, an deren Spitze der grosse LINNÉ steht, und wie viele Reisebeschreiber bezeugen nicht eben diese Stellung vom Homo Lar, Orang-Outang u. s. w.412
Affen, und insbesondere der Orang, so belegten diese naturkundlichen Quellen, gingen aufrecht. Traf jedoch Iths Analyse zu, konnten sie nicht aufrecht gehen, weil ihnen dazu die anatomischen Mittel, vor diesen aber noch die Bestimmung fehlte. Konsequent behauptet Ith daher, es gebe 406 IMMANUEL KANT, Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: DERS., Kant’s gesammelte Schriften, AA, Erste Abtheilung: Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, ND Berlin 1923, 17–31, hier 17. Wobei Kant natürlich ganz besonders an „diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind […]“ dachte. Ebd., 18. 407 Ebd. 408 Ebd. 409 ITH, Anthropologie, Zweyter Theil, 324. 410 Ebd. 411 Ebd., 325 ff. Herders Gedanken werden weiter unten detailliert dargestellt. 412 Ebd., 326.
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gewisse, ich möchte sagen, wissenschaftliche Facta, welche sich auf die innere Möglichkeit, die Caussalität, die Bestimmung des Dinges beziehen, für deren Beweis historische Zeugnisse, so glaubwürdig sie auch seyn mögen, schlechterdings nicht hinreichen. Die Thatsache ist nur als Phänomen Gegenstand der Erfahrung.413
Auch wenn Ith in der Folge angibt, er befürchte, dass bei der Beobachtung der Phänomene „nicht alle Umstände gehörig beachtet worden sind“414, ein ohne Frage auch auf dem Boden der Empirie diskussionswürdiger Vorwurf, scheint sein eigentliches Argument doch in eine ganz andere Richtung zu laufen: Das Wesen des Menschen lässt sich unter Rückgriff auf eine naturwissenschaftliche Methodik überhaupt nicht eruieren, weil diese an evidenten Kausalitäten, eben der transzendenten Bestimmtheit des Menschen, vorbeigeht. Damit aber leugnet er letztlich die Zuständigkeit der Naturgeschichte und der Biologie für die wesenhafte Bestimmung des Menschen – um sie für eine transzendent orientierte Philosophie zurück zu gewinnen, die dann einen der Natur entrückten Status des Menschen wieder zementieren können würde. So wird auch die zweite Stoßrichtung, welche die Befürworter eines vierfüßigen Ganges immer wieder aufbrachten, abgelehnt. Getreu seiner gegliederten Definition des Naturzustandes bestreitet Ith zwar nicht, „dass die unter wilden Thieren gefundenen Menschen auf allen vieren giengen; sie ahmten jedoch nicht den Gang allein, sondern das Geschrey, die Gewohnheiten, die ganze Lebensweise derselben nach“, so dass sie nur nachwiesen, „wie der Mensch gleichsam in jede Thiergattung, worein er durch Zufall gestürzt werden kann, einartet.“415 Im Gegenteil verwiesen die ganz erheblichen Schwierigkeiten, die Unglücklichen wieder in einen halbwegs menschenähnlichen Zustand zu bringen, darauf, dass der Mensch keinesfalls aus eigenen Fähigkeiten und sukzessive zur Bipedie hatte gelangen können; sie war allein durch göttliches Einwirken erklärbar. Folglich gelte, wie schon bei der Sprache, dass „die Geschichte der Menschheit […] kein einziges Beyspiel eines vierfüssigen Volkes aufzuweisen“416 habe. Von dieser Warte aus betrachtet ist Iths Anthropologie ein höchst eindrucksvolles Zeitdokument. Das Ende der Deutungshoheit der Naturgeschichte, unter deren Paradigma sich ein guter Teil der Diskussionen um den Menschen im 18. Jahrhundert vollzogen hatte, spiegelt sich hier stellenweise überdeutlich. An ihre Stelle tritt nun in der Tat zunächst der Rückgriff auf die Anatomie417, dann aber auch ein philosophisches Denken, das Kant geschuldet zu sein scheint. Mit ganz ambivalenten Folgen: Ith verwendet empirisches Material, etwa Blumenbachs, 413 414 415 416 417
Ebd., 327. Ebd. Ebd., 329. Ebd., 330. Vgl. FRANK WILLIAM PETER DOUGHERTY, Missing Link, 68 f. Der Rückgriff auf die im 17. Jahrhundert den anthropologischen Diskurs beherrschende Anatomie war kommensurabel mit der Verwertung Kantschen Gedankenguts. Insbesondere ist hier an die grundlegende anatomische Prämisse zu denken: „anatomical build is to be studied as the expression of an intended purpose in the general design of the Creator“, so dass „the criterion of belonging to the essence of a species was exclusively teleological.“ Ebd., 66.
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dessen Befunde immer wieder herangezogen werden.418 Gleichzeitig jedoch scheint die Rückdrängung der Naturhistorie ein gewisses Deutungsvakuum hinterlassen zu haben, das von der Anatomie nur bedingt gefüllt werden konnte. Von dem so entstehenden Sog wurden offenbar auch rationalistisch fundierte Auffassungen zurück in den naturkundlichen Wissenschaftszweig befördert. Zumindest könnte Iths Scheidung zwischen empirischen Phänomenen und, wie er es nennt, wissenschaftlichen „Facta […] die sich auf die innere Möglichkeit, die Caussalität […] beziehen“ auf Kants Erkenntnismöglichkeiten a priori und a posteriori zurückgehen – die Kritik der reinen Vernunft war bereits 1781 erschienen. Humanität würde dann sozusagen zu einem zulässigen synthetischen Urteil a priori, weil eine offensichtliche Kausalverknüpfung von menschlicher Stellung in der Welt und menschlichen anatomischen Attributen vorliegen würde. Eine allerdings sehr fragwürdige Weiterführung der Kantschen Gedanken, weil sich hier letztlich ein Zirkelschluss ergibt: Die herausgehobene Position des Menschen folgt in Iths Denken ja nicht temporal dessen körperlicher Organisation nach; vielmehr ist dieses Emporstreben synchrones Anzeichen der spezifischen Bestimmtheit des Menschen. Gerade eine solche metaphysische Erkenntnis wäre für Kant aber unbeweisbar geblieben, während bei Ith nun wieder Glaubensgrundsätze die naturkundliche Empirie verdrängen konnten. 4.3.3. Fliehe, unseliges und abscheuliches Bild – Herders Ideen Während für Moscati gerade die Vierfüßigkeit des Menschen eine Demonstration der unbegrenzten Macht Gottes darstellte, kam JOHANN GOTTFRIED HERDER – von materialistischem Denken prinzipiell ebenso weit entfernt wie der italienische Anatom – zu vollkommen anderen Schlussfolgerungen bezüglich des göttlichen Wirkens im Menschen. Seine in den Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit entwickelte Anthropologie zielte darauf ab, eine ausgewogene Mittelposition zwischen Apotheose und Erniedrigung zu finden419 – mit der Folge, dass seine Überlegungen an vielen Stellen ambivalent, ja in sich widersprüchlich ausfallen und die Rekonstruktion eines einheitlichen Herderschen Menschenbildes erschweren. Eine detaillierte Diskussion des Gesamtkonzeptes ist 418 Blumenbach gilt Dougherty ohnehin als Klammer zwischen naturhistorischem Denken à la Buffon und anatomischer Methode; vgl. ebd. 68. 419 Die abzulehnenden Extrema werden von Herder expliziert: „Man hat unserem Geschlecht ein sehr unwahres Lob gemacht, wenn man behauptete, daß sich jede Kraft und Fähigkeit aller andern Geschlechter dem höchsten Grad nach in ihm finde. Das Lob ist unerweislich und sich selbst widersprechend: denn offenbar hübe sodenn eine Kraft die andere auf.“ Dagegen: „Von der anderen Seite hat man ihn […] zu einem ausgearteten Thier machen wollen, das, indem es höhern Vollkommenheiten nachstrebt, ganz und gar die Eigenheit seiner Gattung verlohren. Dies ist nun offenbar auch gegen die Wahrheit und Evidenz seiner Naturgeschichte. Augenscheinlich hat er Eigenschaften, die kein Thier hat […]. Kein Thier hat Sprache, […] noch weniger Schrift, Tradition, willkührliche Gesetze und Rechte […].“ JOHANN GOTTFRIED HERDER, Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit, Th. 1–4, Riga; Leipzig 1784–91; hier: Erster Theil (1784), Drittes Buch, VI, 109 f.
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an dieser Stelle jedoch auch nicht intendiert420: Vielmehr geht es vor allem die Bedeutung, die Herder dem aufrechten Gang zuwies.421 Dieser ist für Herder nun allerdings von eminenter Bedeutung, scheint er doch die entscheidende organische Voraussetzung für ein vernunftbegabtes Lebewesen darzustellen. Die Haltung wirkt gleichermaßen auf die psychische wie physische Gesamtkonstitution zurück, womit Herder ganz in Gegensatz zu Moscati gerät. Begründet liegt dieser Effekt in einer argumentativen Wende: Während Moscati seine anatomischen Befunde so interpretiert, dass auf Bipedität Hindeutendes als Folge der gesellschaftlich erzwungenen aufrechten Haltung erscheint, betont Herder eben diese Punkte als eigentlich natürliche. Beispielhaft hier die Muskulatur – für Moscati eine der Haltung folgende Erscheinung, für Herder eine natürliche Eigenschaft: Die Gestalt des Menschen ist aufrecht; er ist hierin einzig auf der Erde. Denn ob der Bär gleich einen breiten Fuß hat und sich im Kampf aufwärts richtet, obgleich der Affe und Pygmäe zuweilen aufrecht gehen oder laufen, so ist doch seinem Geschlecht allein dieser Gang beständig und natürlich. Sein Fuß ist fester und breiter; er hat einen längern großen Zeh, da der Affe nur einen Daumen hat; auch seine Ferse ist zum Fußblatt gezogen. Zu dieser Stellung sind alle dahin wirkende Muskeln bequemt. Die Wade ist vergrößert; das Becken zurück-, die Hüften auseinandergezogen; der Rücken ist weniger gekrümmt, die Brust erweitert; er hat Schlüsselbeine und Schultern, an den Händen feinfühlende Finger; der hinsinkende Kopf ist auf den Muskeln des Halses zur Krone des Gebäudes erhoben: der Mensch ist anthrôpos, ein über sich, ein weit um sich schauendes Geschöpf.422
Damit wurden für Herder nun auch die Wilden Kinder zu weitaus interessanteren Untersuchungsobjekten. Denn ohne Frage war der Mensch ein adaptionsfähiger Organismus, und der aufrechte Gang nun auch wieder „nicht so wesentlich, daß etwa jeder andere ihm unmöglich würde wie das Fliegen.“423 Tatsächlich war er nur durch „eine zahllose Menge angestrengter Tätigkeiten“424 möglich. Ging man also davon aus, dass der Mensch von Natur aus mit einem Hang zur Bipedität eingerichtet war, sich aber durchaus Modifikationen ergeben konnten, und fügte man hinzu, dass die Kinder, etwa aufgrund des Umgangs mit tierischen Zieheltern, diesen aufgegeben hatten, musste es doch möglich sein, daran die Konsequenzen einer solchermaßen widernatürlichen Haltung und Fortbewegung ablesen zu können. Naheliegend wie dies sein mag, überrascht dann aber doch das Horrorszenario, das Herder ableiten zu können glaubt: Also ist eben auch begreiflich, daß mit dem Thierartigen Gange viele Glieder des menschlichen Körpers ihre Gestalt und ihr Verhältnis zueinander ändern müssen, wie abermals das 420 Hier sei auf Astrid Gesches Untersuchung verwiesen, die einen weit größeren Rahmen spannt: ASTRID GESCHE, Johann Gottfried Herder: Sprache und die Natur des Menschen, Würzburg 1993. 421 Herder geht so weit über eine bloße Antwort auf Moscati hinaus. Er unterscheidet sich damit etwa von ZIMMERMANN, Geographische Geschichte des Menschen, Erster Band, 124 ff., wo mehrere Seiten auf dessen Widerlegung verwendet werden, ohne jedoch die von Blumenbach aufgespannte anatomische Ebene zu verlassen. 422 HERDER, Ideen, Erster Theil, Drittes Buch, VI, 110. 423 Ebd. 424 Ebd.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder Beispiel der verwilderten Menschen zeigt. Der Irrländische Knabe, den Tulpius beschrieben, hatte eine flache Stirn, ein erhöhetes Hinterhaupt, eine weite blöckende Kehle, eine dicke, an den Gaum gewachsene Zunge, eine stark einwärts gezogene Herzgrube; gerade wie es der vierfüßige Gang geben mußte. Das niederländische Mädchen, die noch aufrecht ging und bei der sich die weibliche Natur so weit erhalten hatte, daß es sich mit einer Strohschürze deckte, hatte eine braune, rauche, dicke Haut, ein langes und dickes Haar. Das Mädchen, das zu Songi in Champagne gefangen wurde, hatte ein schwarzes Ansehen, starke Finger, lange Nägel, und besonders waren die Daumen so stark und verlängert, daß sie sich damit wie ein Eichhörnchen von Baum zu Baum schwang. Ihr schneller Lauf war kein Gehen, sondern ein fliegendes Trippeln und Fortgleiten, wobei an den Füßen fast gar keine Bewegung zu unterscheiden war. Der Ton ihrer Stimme war fein und schwach, ihr Geschrei durchdringend und erschrecklich. Sie hatte ungewöhnliche Leichtigkeit und Stärke und war von ihrer vorigen Nahrung des blutigen und rohen Fleisches, der Fische, der Blätter und Wurzeln so schwer zu entwöhnen, daß sie nicht nur zu entfliehen suchte, sondern auch in eine tödliche Krankheit fiel, aus der sie nur durch Saugen des warmen Bluts, das sie wie ein Balsam durchdrang, zurückgebracht werden konnte. Ihre Zähne und Nägel fielen aus, da sie sich zu unsern Speisen gewöhnen sollte; unerträgliche Schmerzen zogen ihr Magen und Eingeweide, besonders die Gurgel zusammen, die lechzend und ausgetrocknet war. Lauter Erweise, wie sehr sich die biegsame menschliche Natur, selbst da sie von Menschen geboren und eine Zeitlang unter ihnen erzogen worden, in wenigen Jahren zu der niedrigen Tierart gewöhnen konnte, unter die sie ein unglücklicher Zufall setzte.425
Die Abkehr vom aufrechten Gang hat also zunächst erhebliche physiologische Konsequenzen; vor allem die Form des Kopfes, aber auch die Sprachorgane und Extremitäten wurden durch diesen modifiziert. Noch wichtiger aber: Herder konstruiert eine Rückwirkung der Haltung auf das Verhalten der Menschen. Dass der Gang sich als Folge der veränderten Körperbildung ändern mag, erscheint noch nachvollziehbar; was aber mit der Wandlung der Ernährungsgewohnheiten, der ghoulischen Vorliebe für rohes Fleisch und Blut, der physischen Unfähigkeit, wieder zu einer dem Menschen angemessenen Ernährung zurückzukehren? Es bleibt völlig unklar, welche Beweggründe Herder dahin brachten, dies als eine Folge der Quadrupedität einzuordnen; eine Intention, die aber ohne Frage vorhanden ist: Nun könnte ich auch den häßlichen Traum ausmalen, was aus der Menschheit hätte werden müssen, wenn sie, zu diesem Lose verdammt, in einem vierfüßigen Mutterleibe zu einem Thierfötus gebildet wäre: welche Kräfte sich damit hätten stärken und schwächen, welches der Gang der Menschenthiere, ihre Erziehung, ihre Lebensart, ihr Gliederbau hätte sein müssen u. s. f. Aber fliehe, unseliges und abscheuliches Bild, häßliche Unnatur des natürlichen Menschen! Du bist weder in der Natur da, noch sollst du durch einen Strich meiner Farben vorgestellt werden. Denn: […] Der aufrechte Gang des Menschen ist ihm einzig natürlich: ja er ist die Organisation zum ganzen Beruf seiner Gattung und sein unterscheidender Charakter. Kein Volk der Erde hat man vierfüßig gefunden; auch die wildesten haben aufrechten Gang, sosehr sich manche an Bildung und Lebensart den Tieren nähern.426 425 Ebd., 110 f. Ganz wie Linné benötigt auch Herder eine ganze Reihe von Fällen, um sein Argumentationsziel zu erreichen. Aus dem Blick gerät dabei, dass nicht einer der Fälle die behaupteten dramatischen Konsequenzen gebündelt aufwies. Hier findet sich eine Deformation des Schädels, dort der Haut, des Ganges oder der Ernährung. Erst die Kumulation erzeugt Evidenz. 426 Ebd., 111 f.
4.3. Der quadrupede Mensch: Folgen einer Provokation
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Hier wird der Gedanke nun tatsächlich bis an die ultimative Grenze getrieben: Wohl und Wehe der Menschheit hängen an nur einem Angelpunkt, nämlich der Einrichtung zur Bipedie. Alle weiteren Entwicklungen – Herder listet Erziehung, Lebensart, Gliederbau – hängen ursächlich von dieser ab. Wiederum ergibt sich aus dem Text eine merkwürdige wie symptomatische Widersprüchlichkeit, nämlich die Konstruktion eines verabscheuungswürdigen vierfüßigen „natürlichen Menschen“, der aber dann „nicht in der Natur da“ sei. Herders Spekulation über einen solchen Naturzustand des Menschen unterscheidet sich von daher tiefgreifend von der Rousseaus: Was im Discours sur l’inégalité zwar aufgrund mangelnden empirischen Materials Hypothese bleibt, aber durchaus nicht einer gewissen Wahrscheinlichkeit ermangelt, gerät in den Ideen zu einer Alpträumerei, der von vornherein jegliche historische Realität abgesprochen wird. Im Denken Herders entbehrt dieser Schritt jedoch nicht einer gewissen Logik, ja er ergab sogar eine Art anthropologischen Gottesbeweis – wie gesagt, unter im Vergleich zu Moscati exakt umgekehrten Vorzeichen: […] ich begreife nicht, wie das Menschengeschlecht, wenn es je diese niedrige Lebensweise als Natur gehabt hätte, sich zu einer andern, so Zwang-, so Kunstvollen, jemals würde erhoben haben. Welche Mühe kostete es, die Verwilderten, die man fand, zu unserer Lebensart und Nahrung zu gewöhnen! Und sie waren nur verwildert, nur wenige Jahre unter diesen Unvernünftigen gewesen. Das eskimoische Mädchen [Marie–Angélique; H. B.] hatte sogar noch Begriffe ihres vorigen Zustandes, Reste der Sprache und Instinkte zu ihrem Vaterlande, und doch lag ihre Vernunft in Thierheit gefangen; sie hatte von ihren Reisen, von ihrem ganzen wilden Zustande keine Erinnerung. Die andern besaßen nicht nur keine Sprache, sondern waren zum Theil auch auf immer zur menschlichen Sprache verwahrloset. […] Wäre der Mensch ein vierfüßiges Tier, wäre er’s Jahrtausendelang gewesen, er wäre es sicher noch, und nur ein Wunder der neuen Schöpfung hätte ihn zu dem, was er jetzt ist und wie wir ihn aller Geschichte und Erfahrung nach allein kennen, umgebildet.427
Das Zitat erhellt auch jene an früherer Stelle in den Ideen fallenden Bemerkungen Herders, die immer wieder zum Nachweis seiner theriophilen Haltung, welche die Sonderposition des Menschen stark relativierte, herangezogen wurden: „Der Menschen ältere Brüder sind die Thiere. Ehe jene da waren, waren diese […].“428 Denn auch wenn es „eine Sünde wider die Natur, wie irgend Eine“ sei, sie „als Maschienen betrachten zu wollen“429 und ihnen etwas später sogar zugestanden wird, sie hätten „menschenähnliche Gedanken“ und übten sich „in menschenähnlichen Trieben“430, bleibt der Mensch doch ein Wesen ganz und gar eigener Art: Weder der Pongo, noch der longimanus ist den Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger […]; mit dem Affen darfst du keine Brüderschaft eingehen.431
Der doppelt fallende Begriff des Bruders trägt deutlich unterschiedene Konnotationen: Im ersten Fall scheint der Bezugspunkt allein der Schöpfungsbericht zu sein, während die folgenden Bemerkungen klarstellen, dass dieses Faktum kei427 428 429 430 431
Ebd., 113. Ebd., Erster Theil, Zweytes Buch, 60. Ebd., 108. Ebd. Ebd., 155.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
neswegs die Artgrenzen in Frage stellt.432 Herder befand sich in diesem Punkt allerdings nicht ganz im Übereinklang mit den Ansichten Zimmermanns, dessen Geographische Geschichte des Menschen in den Ideen mehrfach als Quelle zitiert wird. Zwar dachte auch dieser, dass „die Natur […] den Menschen sehr genau vom Ourang unterschieden“ habe, indem sie ihn „eine Stufe höher setzte“433; andererseits zeigten sich erstaunliche physiologische Ähnlichkeiten zum Menschen, und „auch seine Triebe sind nicht so thierisch […].“434 Er sei sicher kein Mensch im Naturzustand, aber das machte es noch längst „nicht ganz unwahrscheinlich, dass ein Ourang mit einem Menschen eine Mittelgattung hervorbringen könnte.“435 Wichtiger als die Detailansichten des Naturhistorikers Zimmermann, ja von essentieller Bedeutung für seine Ansicht, in der Bipedität den Urgrund der menschlichen Wesensverschiedenheit gefunden zu haben, wurden für Herder jedoch die Forschungsergebnisse Peter Campers.436 Naheliegender Bezugspunkt für die Argumentation Herders wird dabei der Affe, „gebildet, dass er etwa aufrecht 432 Als ob dies nicht schon unübersichtlich und ambivalent genug wäre, hält Herder gleichzeitig noch an einer, natürlich ebenfalls wieder modifizierten, Kettenvorstellung fest. So wird im Menschen ein „Stufengang sichtbar […] der zunächst ans Thier gränzt, bis zum reinsten Genius“ (ebd., 147), was sich recht flüssig mit dem festgestellten „Hauptgesetz, das wir bei allen großen Erscheinungen der Geschichte bemerkten“ verbindet. Ebd., Dritter Theil, 12. Buch, 83. Ein gleitendes Kontinuum liegt allerdings nicht vor, denn die „Anlage zur Vernunft, Humanität und Religion“ verbindet alle Menschen. Ebd., Erster Theil, Viertes Buch, 387. So wünscht sich Herder die „Angrenzung der Menschen an die Affen […] nie so weit getrieben, daß indem man eine Leiter der Dinge sucht, man die wirklichen Sproßen und Zwischenräume verkenne, ohne die keine Leiter statt findet. Was z. B. könnte der rachitische Satyr in der Gestalt des Kamtschadalen, der kleine Sylvan in der Größe des Grönländers oder der Pongo beim Patagonen erklären? da alle diese Bildungen aus der Natur des Menschen folgen, auch wenn kein Affe auf Erden wäre. Und ginge man gar noch weiter, gewisse Unförmlichkeiten unseres Geschlechts genetisch vom Affen herzuleiten: so dünkt mich, diese Vermuthung sei ebenso unwahrscheinlich als entehrend.“ Ebd., 256 f. In einem solchen Konzept können auch die Wilden Kinder letztlich nicht als missing links zu den Tieren gelten, während die Menschheit an sich jedoch durchaus „wahrscheinlich das vermittelnde Bindeglied zweier Welten“ ist. Ebd., Erster Theil. Fünftes Buch: Titel des 6. Kapitels. 433 ZIMMERMANN, Geographische Geschichte des Menschen, Bd. 1, 123 f. 434 Ebd., 117 f. (Fußnote h). 435 Ebd., 118. Zimmermann scheint, zumindest für den deutschen Raum, auch der Ausgangspunkt für die vielfach übernommene Anekdote zu sein, dass ein solcher Kreuzungsversuch tatsächlich stattgefunden habe. Dieser sei allerdings kläglich gescheitert: „Ich habe erfahren, daß man vor kurzem in London einen solchen Versuch angestellet hat. Man bot dem männlichen Ourang eine dafür bezahlte Weibsperson an; allein, so viel ich weiß, lief der Versuch ganz fruchtlos ab. Dieser Versuch war aber nicht nur moralisch verwerflich, sondern auch physikalisch. Denn ein eben so schlechter Erfolg würde sich wahrscheinlich mit einer solchen Weibsperson auch durch Zuthun eines Menschen ereignet haben. Ueberdem weiß man ja, wie übermäßig heftig die Affen bey der Begattung sind, welches von selbst eine zu frühzeitige Verschwendung vermuthen ließ; gerade so traf auch der Fall ein.“ Ein allerdings ebenfalls wieder nicht ganz unmenschliches Problem... 436 Verweise auf Camper finden sich über den ganzen Text verstreut; vgl. z. B. HERDER, Ideen, Erster Theil, Drittes Buch, 115, 117, 134, 140. Verwiesen wird etwa auf Campers „Abhandlung v. d. Sprachwerkzeugen der Affen“, Philosoph. Transactions (1779), Vol. I.
4.3. Der quadrupede Mensch: Folgen einer Provokation
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gehen kann und […] dadurch dem Menschen ähnlicher als seine Brüder; er ist aber nicht ganz dazu gebildet und dieser Unterschied scheint ihm alles zu rauben.“437 Denn die auf quadrupede Fortbewegung und Haltung optimierte körperliche Organisation hatte eine spezifische Form des Kopfes, „unten hervor, hinten hinweg“438, zur Folge, die ihrerseits aus der Stellung auf der Wirbelsäule resultierte. Wurde der „Schwerpunkt […] auf dem der Menschenschädel in seiner erhabenen Wölbung ruhet“ jedoch auch nur minimal modifiziert, ergaben sich bereits unter den Menschen Gesichter, die, wenn „auch nur in der weitesten Ferne ans Thier“ zu grenzen schienen.439 Blicke also auf gen Himmel, o Mensch! und erfreue dich schaudernd deines unermeßlichen Vorzugs, den der Schöpfer der Welt an ein so einfaches Principium, deine aufrechte Gestalt knüpfete. Gingest du wie ein Thier gebückt, wäre dein Haupt in eben der gefräßigen Richtung für Mund und Nase geformt und darnach der Gliederbau geordnet: wo bliebe deine höhere Geisteskraft, das Bild der Gottheit unsichtbar in dich gelenket? Selbst die Elenden, die unter die Thiere gerieten, verlohren es: wie sich ihr Haupt mißbildete, verwilderten auch die inneren Kräfte: gröbere Sinnen zogen das Geschöpf zur Erde nieder. Nun aber durch die Bildung deiner Glieder zum aufrechten Gange, bekam das Haupt seine schöne Stellung und Richtung; mithin gewann das Hirn, dies zarte ätherische Himmelsgewächs, völligen Raum sich umherzubreiten und seine Zweige abwärts zu versenden. Gedankenreich wölbte sich die Stirn, die thierischen Organe traten zurück, es ward eine menschliche Bildung.440
Form und Funktion des Körpers und insbesondere des Kopfes gehen hier ein merkwürdiges Verhältnis ein, was wiederum Licht auf Herders naturhistorische Vorstellungen wirft. Gottgegeben – oder besser: gottgewollt – ist der zu einer bestimmten Haltung führende Körperbau, der dann die Form des Kopfes modifiziert. Diese wiederum bestimmt, da sie die Ausbildung der Vernunft hemmt oder fördert, die Hierarchie aller Wesen in der Natur. Der Blick gen Himmel ist also keineswegs bloß metaphysisches Sinnbild der Sonderstellung des Menschen, sondern begründet diese materiell-physiologisch. Tatsächlich meint Herder nur in dieser Konstellation die Möglichkeit der Verwilderung, deren psychischteleologisch depravierenden Folgen er ja bereits geschildert hat, erklären zu können. Einmal organisch gefestigt, ist der animalische Zustand ein Sumpf, aus dem sich das Individuum, sei es nun Tier oder verwilderter Mensch, nicht mehr am eigenen Zopf herausziehen kann. Dies deckt sich bruchlos mit der weiter oben bereits diskutierten Ablehnung einer selbständig-aktiven Genese des Menschen von einem tierischen Naturzustand hin zum heute sichtbaren Vernunftwesen.441 437 HERDER, Ideen, Erster Theil, Drittes Buch, 117. 438 Ebd., 118 f. 439 Ebd., 119. Herder verweist hier auf Camper und Blumenbach, vor allem aber Daubentons Sur les différences de la situation du grand trou occipital dans l’homme et dans les animaux, in: Mem. de l’acad. de Paris (1764). 440 HERDER, Ideen, Erster Theil, Drittes Buch, 129 f. 441 „Daß z. B. der Mensch sich selbst auf den Weg der Cultur gebracht und ohne höhere Anleitung sich Sprache und die erste Wissenschaft erfunden, scheint mir unerklärlich und immer unerklärlicher, je einen längern rohen Thierzustand man bei ihm voraussetzt.“ Ebd., 198. Daraus folgt, dass sich der Mensch entweder seit Anbeginn der Schöpfung im heute wahrnehmbaren Zustand befunden hat oder dass zu einem bestimmten Zeitpunkt eine göttliche
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
Gegen Ende des ersten Teils der Ideen erhalten die Wilden Kinder überdies fast die Qualität einer Gesellschaftsallegorie; ihr Schicksal steht stellvertretend für das des gesamten Menschengeschlechts: So wenig ein Kind Jahre lang hingeworfen und sich selbst überlassen seyn kann, ohne daß es untergehe oder entarte: so wenig konnte das menschliche Geschlecht in seinem ersten keimenden Sproß sich selbst überlassen werden. Menschen, die einmal gewohnt waren, wie Orang=Outangs zu leben, werden nie durch sich selbst gegen sich selbst arbeiten und aus einer Sprachlosen, verhärteten Thierheit zur Menschheit übergehen lernen […].442
Es ist durchaus symptomatisch für die Entwicklung von der Naturgeschichte hin zu einer umfassenden Anthropologie, dass Herder an diesem Punkt nicht stehen bleibt. Anatomische Merkmale spielten bis hierher schon eine zentrale Rolle und ersetzen eine bloß naturhistorische Herangehensweise; wirklich quantifizierbar sind diese aber noch nicht. Tatsächlich meint Herder jedoch, aus eigener Beobachtung einen Beleg der Camperschen Theorie vom Gesichtswinkel gefunden zu haben – die allerdings im Detail zu modifizieren ist, so dass er einen eigenen Lehrsatz formuliert: […] kurz, je weniger das Thier gleichsam Kinnbacke und je mehr es Kopf hat, desto vernunftähnlicher wird seine Bildung. […] Ich begegne mich hier mit dem feinen Verhältniß, das Camper über die Bildung der Affen und Menschen und unter diesen den verschiednen Nationalbildungen gegeben hat, indem er nämlich eine gerade Linie durch die Höhlen des Ohrs bis zum Boden der Nase und eine andere von der höchsten Hervorragung des Stirnbeins bis auf den am meisten hervorragenden Theil der Oberkinnlade in schärfstem Profil ziehet. Er meint in diesem Winkel nicht nur den Unterschied der Thiere sondern auch der verschiedenen Nationen zu finden […].443
Aus Herders Sicht hatte Camper schlicht Glück gehabt, dass seine Beobachtungen zu generell korrekten Ergebnissen führten, hatte er doch mit dem Gesichtswinkel ein Kriterium entwickelt, das nur ein Symptom, nicht den „physischen Grund“444 der Unterschiede darstellte: Dieser sei nämlich „das Verhältniß des Geschöpfes zur horizontalen und perpendikularen Kopfstellung und Bildung […].“445 Statt des Ohres müsse deshalb der letzte Halswirbel als Fixpunkt der Vermessung gewählt werden – auch dies ein inhärent logischer Schluss, da eine völlige Abtrennung des Kopfes vom Körper eben Herders Stufenkonzept nicht hätte belegen können.446 War für Herder die Bipedität also der Urgrund der menschlichen Sonderstellung, trat zu dieser doch noch ein weiterer Pfeiler hinzu: Gesellschaft und, als
442 443 444 445 446
Intervention stattfand – was letztlich für Herders Konzeption irrelevant ist und als Problem auch nicht weiter angegangen wird. Ebd., 435. Ebd., 134. Ebd., 135. Ebd. Vgl. Abb. in Kap. 4.5.2.
4.3. Der quadrupede Mensch: Folgen einer Provokation
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Funktion derselben gedacht, Erziehung.447 Da eben nur ein feiner körperlicher Unterschied Mensch und Tier trennte, blieb der größeste Theil der Menschen Thier; zur Humanität hat er blos die Fähigkeit auf die Welt gebracht und sie muß ihm durch Mühe und Fleiß erst ausgebildet werden […]. Lebenslang will das Thier über den Menschen herrschen […]. Es ziehet also unaufhörlich nieder, wenn der Geist hinauf, wenn das Herz in einen freien Kreis will; und da für ein sinnliches Geschöpf die Gegenwart immer lebhafter ist, als die Entfernung und das Sichtbare mächtiger auf dasselbe wirkt, als das Unsichtbare: so ist leicht zu erachten, wohin die Waage der beiden Gewichte überschlagen werde.448
Die Gesellschaft, deren Kultur und Tradition, umgab den Menschen wie eine Art Zwangsjacke, derer er bedurfte. Nur hier, im Austausch mit seinesgleichen, konnten die so wichtigen geistigen Kräfte entstehen.449 Damit war sie „Naturzustand des Menschen“.450 Entweichen konnte man dieser Kultivierung nicht; auch das bewiesen die Wilden Kinder: Bleibt der Mensch unter Menschen: so kann er dieser bildenden oder mißbildenden Cultur nicht entweichen […]. Selbst Kinder, die unter die Thiere geriethen, nahmen, wenn sie einige Zeit bei Menschen gelebt hatten, schon menschliche Cultur unter dieselbe, wie die bekannten meisten Exempel beweisen; dagegen ein Kind, das vom ersten Augenblick der Geburt an der Wölfin übergeben würde, der einzige uncultivierte Mensch auf der Erde wäre.451
4.3.4. Die Kritik der praktischen Quadrupedie Sowohl die Schrift Moscatis in ihrer Übersetzung durch Beckmann als auch die Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit wurden von IMMANUEL KANT unmittelbar nach Erscheinen rezipiert. Beiden widmete er Rezensionen in der Allgemeinen Literatur-Zeitung.452 Auf Kants Verhältnis zu Moscatis 447 „Sofort werden uns auch die Prinzipien dieser Philosophie offenbar, einfach und unverkennbar, wie es die Naturgeschichte des Menschen selbst ist: sie heißen Tradition und organische Kräfte.“ Ebd., 347. 448 Ebd., 196. 449 Ebd., 344. 450 Ebd., 383. 451 Ebd., 349. 452 Die Wiedergabe erfolgt nach der Akademie-Ausgabe: IMMANUEL KANT, Recension von Moscatis Schrift: Von dem wesentlichen körperlichen Unterschiede zwischen der Structur der Thiere und Menschen, in: DERS., Gesammelte Werke, AA, Erste Abtheilung: Werke, Zweiter Band: Vorkritische Schriften II, 1757–1777, Berlin 1912, 423–25; DERS., Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Joh. Gottfr. Herder. Erster Theil, in: DERS., Gesammelte Werke, AA, Erste Abtheilung: Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, ND Berlin und Leipzig 1928, 45–55; DERS., Erinnerungen des Recensenten der Herderschen Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit (Nro. 4 und Beil. der Allg. Lit.-Zeit.) über ein im Februar des Teutschen Merkur gegen diese Recension gerichtetes Schreiben, in: DERS., Gesammelte Werke, AA, Erste Abtheilung: Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, ND Berlin und Leipzig 192, 56–58; DERS., Riga und Leipzig bei Hartknoch. Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit von Johann Gottfried Herder. Zweyter Theil, in: DERS., Gesammelte Werke, AA, Erste Abtheilung: Werke, Bd. VIII: Abhandlungen nach 1781, ND Berlin und Leipzig 1928, 58–66.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
Gedankenwelt wird später noch zu kommen sein. Weitaus mehr Raum als diesem widmet er jedoch der Rezension der Ideen, was, neben der Komplexität des Werkes, auch der ungleich höheren Popularität des Autors geschuldet sein dürfte. Wird zunächst die „specifische Denkungsart“, die „Eigenthümlichkeit“ im „Geist unsers sinnreichen und beredten Verfassers“ betont, die es unmöglich mache, dass sein Werk „nach dem gewöhnlichen Maßstabe beurtheilt werden“453 könne, zeigen sich doch bald erhebliche Reibungsflächen, die exakt das hier im Vordergrund stehende Thema der Vierfüßigkeit betreffen.454 Mit ausführlichen Zitaten referiert Kant zunächst Herders These von der grundlegenden Bedeutung des aufrechten Ganges.455 Dessen Relevanz für das Wesen Mensch mag der Königsberger auch gar nicht bestreiten; wohl aber stoßen ihm die gezogenen Schlussfolgerungen übel auf. Allein bestimmen zu wollen, welche Organisierung des Kopfs äußerlich in seiner Figur und innerlich in Ansehung seines Gehirns mit der Anlage zum aufrechten Gange nothwendig verbunden sei, noch mehr aber, wie eine blos auf diesen Zweck gerichtete Organisation den Grund des Vernunftvermögens enthalte, dessen das Thier dadurch theilhaftig wird, das übersteigt offenbar alle menschliche Vernunft, sie mag nun am physiologischen Leitfaden tappen, oder am metaphysischen fliegen wollen.456
Die Ablehnung der Herderschen Vorstellung fußt dabei auf einem diesem unterlaufenen Analogiefehler, der mit der generell aufrecht erhaltenen Stufenleiteridee im Zusammenhang steht und den Kant über mehrere Seiten erläutert. Herder stelle den Menschen als Prototyp oder „Hauptform“457 der Natur dar, auf den alles hinstrebe und in dem sich alle niederen Organisationsformen letztlich vereinigten. Durch diese Erkenntnis werde nun der Mensch darauf gestoßen, auch ein unsichtbares Reich der Kräfte anzunehmen, das in eben demselben genauen Zusammenhange und Übergange steht, und eine aufsteigende Reihe von unsichtbaren Kräften, wie im sichtbaren Reich der Schöpfung. – Dieses thut alles für die Unsterblichkeit der Seele und nicht diese allein, sondern für die Fortdauer aller wirkenden und lebendigen Kräfte der Weltschöpfung. Kraft kann nicht untergehen, das Werkzeug kann wohl zerrüttet werden. Was der Allbelebende ins Leben rief, das lebet; was wirkt, wirkt in seinem ewigen Zusammenspiel ewig.458
Herder weigere sich, diese Prinzipien schlüssig zu erläutern, und postuliere stattdessen, dass man bei Geist und Materie zwar von „sehr verschiedenen Wesen“ 453 KANT, Rezension Herder (Erster Theil), 45. Kants Verhältnis zu seinem Schüler sollte in der Folge irreparabel gestört sein; verbogen hat sich Kant hier also nicht. 454 Zum generellen Zwischenspiel anthropologischer Ideen bei Kant und Herder, das hier nicht weiter thematisiert wird, vgl. generell etwa JOHN H. ZAMMITO, Kant, Herder, and the Birth of Anthropology, Chicago 2002; SIMON SWIFT, Kant, Herder, and the question of philosophical anthropology, in: Textual Practice, 19, 2 (2005), 219–238. 455 „Nicht weil er [der Mensch] zur Vernunft bestimmt war, ward ihm zum Gebrauch seiner Gliedmaßen nach der Vernunft die aufrechte Stellung angewiesen, sondern er bekam Vernunft durch die aufrechte Stellung, als die natürliche Wirkung eben derselben Anstalt […].“ KANT, Rezension Herder, Erster Theil, 48. 456 Ebd., 54 f. 457 Ebd., 49. 458 Ebd., 50. Kant zitiert hier aus dem Ersten Theil, Fünftes Buch der Ideen.
4.3. Der quadrupede Mensch: Folgen einer Provokation
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sprechen müsse, dass allerdings, da in der Materie „so viel geistähnliche Kräfte“ zu sehen seien, „ein Widerspruch dieser beiden […] wo nicht selbst widersprechend, doch wenigstens ganz unerwiesen“ scheine.459 So scheide Herder Seele, Kraft und Organ (oder Hülle), wobei letztere zwar „innigst verbunden, nicht aber eins und eben dasselbe“460 seien. Vielmehr bilde sich die Kraft das Organ „zur Offenbarung ihres Wesens“, sie „assimilirt“ es sich.461 Falle nun die Hülle weg – durch den Tod des Wesens –, bleibe doch die Kraft als unsterbliches Lebensprinzip, das aber eben nicht mit der Seele zu verwechseln ist. Für Herder geschehe damit die „Menschen-Organisation in einem Reich geistiger Kräfte“, und die „Seele ist aus geistigen nach und nach hinzu kommenden Kräften allererst geworden.“462 Hieraus, der sukzessiven weltlichen Vervollkommnung der Seele, meine Herder nun deduzieren zu können, dass der „jetzige Zustand es Menschen […] wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweier Welten“463 sei. Herder wolle so aus dem auf den Menschen zustrebenden Organisationsgrad der organischen Wesen ein ebensolches Fortschreiten der menschlichen Seele ableiten. Als Klammer behelfe er sich dabei mit jenen geistigen Kräften, die einem „gewisse[n] unsichtbare[n] Reich der Schöpfung“ entnommen würden und dazu führten, dass sich die Organisation des Menschen, vor allem eben dessen aufrechte Haltung, vervollkommne.464 Exakt hier liegt nun für Kant die erratische Analogie. Er mag nicht einsehen, dass durch diese vollendete Organisation, deren Bedingung vornehmlich der aufrechte Gang des Thieres sei, der Mensch ward, dessen Tod nimmermehr den schon vorher […] gezeigten Fortgang und Steigerung der Organisationen endigen könne, sondern vielmehr einen Überschritt der Natur zu noch mehr verfeinerten Operationen erwarten lasse, um ihn dadurch zu künftigen noch höhern Stufen des Lebens und so fortan ins Unendliche zu fördern und zu erheben. Recensent muß gestehen: daß er diese Schlußfolge aus der Analogie der Natur, wenn er gleich jene continuirliche Gradation ihrer Geschöpfe sammt der Regel derselben, nämlich der Annäherung zum Menschen, einräumen wollte, doch nicht sehe.465
Als unzulässig erachtet Kant so, dass von der Phylo- auf die Ontogenese geschlossen, die Stufenleiter der Arten zu einer Leiter des Individuums in die jenseitige Sphäre wird. Eine zulässige Analogie sei allenfalls, „daß irgend anderswo, etwa in einem andern Planeten, wiederum Geschöpfe sein dürften, die die nächst höhere Stufe der Organisation über den Menschen behaupteten, nicht aber daß dasselbe Individuum hierzu gelange.“466 Zwar finde man in der Natur die Meta459 460 461 462 463 464 465 466
Ebd. Wiederum Zitat. Ebd. Ebd. Ebd., 51. Ebd. Ebd., 52. Ebd., 52. Ebd., 53. Vgl. hierzu auch IMMANUEL KANT, Ideen zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 17 f., wo der Gedanke auf die Entwicklung der Vernunft angewendet wird: „Am Menschen (als dem einzigen vernünftigen Geschöpf auf Erden) sollten sich diejenigen Naturanlagen, die auf den Gebrauch seiner Vernunft abgezielt sind, nur in der Gat-
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
morphose von Maden und Raupen, aber das Puppenstadium sei eben nicht der Tod. Vielmehr müsse Herder nachweisen, dass „die Natur Thiere selbst nach ihrer Verwesung oder Verbrennung […] in specifisch vollkommenerer Organisation aufsteigen lasse […].“467 Die Betrachtung zeige allenfalls, dass die Natur die Individuen der völligen Zerstörung überlasse und nur die Art erhalte, während Herders Analogie dazu herhalten solle „zu wissen, ob auch das Individuum vom Menschen seine Zerstörung hier auf Erden überleben werde, welches vielleicht aus moralischen, oder, wenn man will, metaphysischen Gründen, niemals aber nach irgend einer Analogie der sichtbaren Erzeugung geschlossen werden kann.“468 Kurzum: Herder hätte statt dem Versuch, „das, was man nicht begreift, aus demjenigen erklären zu wollen, was man noch weniger begreift“469, die Erkenntnisgrenzen der Naturgeschichte akzeptieren sollen. Stattdessen betreibe er, unter naturkundlichem Mantel, „Metaphysik, ja sogar sehr dogmatische.“470 Kant, der die Stufenleiteridee zunächst undiskutiert lässt, um die logischen Widersprüche der Vorstellungen Herders aufzudecken, kann sich gegen Ende der Rezension einer Kritik derselben jedoch ebenfalls nicht enthalten. Herders fehlerhafte Fortführung sei wenig verwunderlich, führe doch „ihr Gebrauch in Ansehung der Naturreiche hier auf Erden […] eben sowohl auf nichts.“471 Für Kant generiert vielmehr die enorme Artenvielfalt automatisch die geringen interspeziellen Unterschiede. Insofern ist das gesamte Konzept nicht mehr als Dekor; Blumenbach sah es ebenso. Nur die Annahme, die Arten seien tatsächlich miteinander verwandt – entweder durch Transformation der einen zu anderen, Abartung von einer „Originalgattung“ oder durch die Diversifizierung aus einem „einzigen erzeugenden Mutterschooße“472 – würde tatsächlich „auf Ideen führen, die aber so ungeheuer sind, daß die Vernunft vor ihnen zurückbebt […].“473 Ohne dass der Terminus fällt, ergäbe sich hier nämlich als Konsequenz ein im modernen Sinne
467 468 469 470 471 472 473
tung, nicht aber im Individuum vollständig entwickeln. Die Vernunft in einem Geschöpfe ist ein Vermögen, die Regeln und Absichten des Gebrauchs aller seiner Kräfte weit über den Naturinstinct zu erweitern, und kennt keine Grenzen ihrer Entwürfe. Sie wirkt aber selbst nicht instinctmäßig, sondern bedarf Versuche, Übung und Unterricht, um von einer Stufe der Einsicht zur andern allmählig fortzuschreiten. Daher würde ein jeder Mensch unmäßig lange leben müssen, um zu lernen, wie er von allen seinen Naturanlagen einen vollständigen Gebrauch machen solle; oder wenn die Natur seine Lebensfrist nur kurz angesetzt hat (wie es wirklich geschehen ist), so bedarf sie einer vielleicht unabsehlichen Reihe von Zeugungen, deren eine der andern ihre Aufklärung überliefert, um endlich ihre Keime in unserer Gattung zu derjenigen Stufe der Entwicklung zu treiben, welche ihrer Absicht vollständig angemessen ist.“ KANT, Rezension Herder (Erster Theil), 53. Ebd. Ebd. Ebd., 54. Ebd. Ebd. Ebd. Die Stelle führte zu einem kritischen Leserbrief im Teutschen Merkur, den Kant zurückwies. Er betreibe hier keinesfalls „metaphysische Orthodoxie“ oder gar „Intoleranz“, sondern bemängele nur eine Idee, „bei der sich gar nichts denken lässt […]“. KANT, Erinnerungen, 57.
4.3. Der quadrupede Mensch: Folgen einer Provokation
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evolutionäres System mit echten Verwandtschaftsbeziehungen, ein materieller Monismus, den Kant Herder nicht unterstellen will und kann. „Da haben wir wiederum den natürlichen Menschen auf allen Vieren, worauf ihn ein scharfsinniger Zergliederer zurückbringt, da es dem einsehenden Rousseau hiemit als Philosophen nicht hat gelingen wollen.“ 474 Die Ironie, die sich hier anzudeuten scheint, ist im Laufe der Kantschen Rezension der Schrift Moscatis nicht weiter sichtbar. Tatsächlich ist seine Beurteilung von der harschen Kritik, die Herder zuteil wird, weit entfernt. Er erkennt klar die Verschiebung, die das seit Rousseau geläufige Thema durch die stringent durchgehaltene anatomische Perspektive erhielt, und so blieb Moscati für Kant sozusagen bei seinen Leisten. Einer getreuen und durchaus bis in die Details folgenden Wiedergabe des Textes wird ein ganz knappes, aber doch wohlwollendes Fazit nachgestellt475: Der Mensch allein ersäuft, wo er das Schwimmen nicht besonders gelernt hat. Die Ursache ist, weil er die Angewohnheit abgelegt hat, auf allen Vieren zu gehen. […] So paradox dieser Satz unseres italienischen Doctors scheinen mag, so erhält er doch in den Händen eines so scharfsinnigen und philosophischen Zergliederers beinahe eine völlige Gewißheit. Man sieht daraus: die erste Vorsorge der Natur sei gewesen, daß der Mensch als ein Thier für sich und seine Art erhalten werde; und hiezu war diejenige Stellung, welche seinem inwendigen Bau […] am gemäßesten ist, die vierfüßige; daß in ihm aber auch ein Keim der Vernunft gelegt sei, wodurch er, wenn sich solcher entwickelt, für die Gesellschaft bestimmt ist, und vermittelst deren er für beständig die hiezu geschickteste Stellung, nämlich die zweifüßige, annimmt […].476
Fast also eine Eloge. Aber: Entsprachen die Überlegungen Moscatis wirklich der kantischen Anthropologie? Und: War die angelegte Methode wirklich über alle Zweifel erhaben? Anhaltspunkte finden sich am ehesten in den Mitschriften zu Kants Vorlesung in Physischer Geographie477, die er über einen sehr langen Zeitraum, nämlich beständig zwischen 1755 und 1796, hielt.478 Sie zielte explizit auf ein breites Publikum ab und erfreute sich eines überaus regen Zulaufes aus 474 KANT, Rezension Moscati, 423. 475 Insofern kann man der Aussage, Kants Ausführungen entbehrten eines Kommentar, nicht ganz zustimmen; vgl. GESCHE, Johann Gottfried Herder, 88. Deutlicher wird dessen Haltung allerdings sicher in der Physischen Geographie (s. u.). 476 KANT, Rezension Moscati, 424 f. 477 Man darf hier keinesfalls das heutige Verständnis von Geographie zugrundelegen: Zwar berichtet Kant auch über die verschiedenen Gebiete der Welt, die Kontinente und Länder. Daneben finden sich aber geologische, meteorologische und, hier von besonderer Bedeutung, anthropologische Ausführungen. Die Vorlesung sollte im weitesten Sinne „Weltkenntnis“ vermitteln und tat dies angesichts des Publikums in populärer Weise. 478 WERNER STARK (Vortrag: Physische Geographie im Königsberg des 18. Jahrhundert, hg. v. der BERLIN-BRANDENBURGISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN, URL: http:// www.bbaw.de/forschung/kant/geo/ info.htm) sieht zudem eine hohe Bedeutung der Vorlesungsreihe für die Etablierung des jungen Kant in Königsberg. PAUL GEDAN wich bereits 1905 von dieser Einschätzung kaum ab: Die Vorlesung sei zwischen 1757 und 1797 mindestens 47mal angekündigt worden, wovon sie 29mal als gelesen bezeugt, wahrscheinlich aber weit häufiger gehalten worden sei. Vgl. IMMANUEL KANT, Physische Geographie, herausgegeben und mit einer Einleitung, Anmerkungen sowie einem Personen- und Sachregister versehen von PAUL GEDAN, Leipzig 21905, VII; i. d. F. KANT, Physische Geographie (Gedan).
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
verschiedensten Interessentenkreisen.479 Festzuhalten ist damit, dass Kant in seiner Zeit wohl anders rezipiert wurde; das Bild des abstrakten Denkers, dessen Kritiken heute im Zentrum des Interesses stehen, entstand erst sukzessive. Würdigen konnte diese himmelsstürmenden Gedankengebäude ohnehin nur jenes handverlesene Publikum, das intellektuell zu folgen vermochte. Daneben stand in der Wahrnehmung der Zeitgenossen aber noch der erdverbundenere Kant der Pädagogik, Kosmologie, Naturkunde, Rassenlehre und eben Geographie. Davon ausgehend ergibt sich für die Verbreitung und Rezeption der Schrift Moscatis ein erheblicher Multiplikationseffekt, der zudem, insbesondere gegen Ende des Jahrhunderts, von der ins Unermessliche gewachsenen Autorität Kants überwölbt wurde. Äußerst problematisch ist allerdings die Editionsgeschichte der Physischen Geographie. Kant selbst verfertigte kein zusammenhängendes Manuskript, sondern erteilte seinem Schüler Rink den Auftrag, aus Mitschriften eine Version für die Drucklegung zu erstellen. Dies tat Rink auch schließlich 1802480, wurde jedoch noch während der Arbeit – offensichtlich von einem anderen Schüler Kants, dessen Identität bis heute nicht geklärt ist – überholt: Bereits 1801 erschien bei Vollmer Immanuel Kants physische Geographie.481 Kant sah sich daraufhin genötigt, in einem Brief zu betonen, dass der „Buchhandler Vollmer […] unter meinem Namen eine physische Geographie, wie er selbst sagt, aus Collegienheften herausgegeben, die ich weder nach der Materie, noch nach Form, für die meinige anerkenne.“482 Einziger Effekt dieses Schreibens war jedoch, dass der völlig ungerührte Vollmer 1804 auf dem Schlussband „Einzig rechtmäßige Auflage.“ vermerkte.483 Durch die Akademie-Ausgabe der Werke Kants kanonisiert wurde schließlich die Ausgabe Rinks, an deren Korrektheit jedoch ebenfalls 479 Gedan bestätigt in seinem Vorwort zur Physischen Geographie (KANT, Physische Geographie (Gedan), VIII), dass diese „eine starke Anziehungskraft auf die Zuhörer ausübte […]. Nicht nur Studenten, sondern auch andere Freunde der Wissenschaft, reife Männer verschiedener Stände, fanden sich zahlreich ein; verschiedene Offizierskorps ließen sich Privatvorlesungen halten.“ Zedlitz habe Kant sogar persönlich um eine Mitschrift gebeten, die dieser auch erhalten habe. 480 IMMANUEL KANT, Immanuel Kant’s physische Geographie. Auf Verlangen des Verfassers, aus seiner Handschrift herausgegeben und zum Theil bearbeitet von D. Friedrich Theodor Rink, 2 Bde., Königsberg 1802. Diese bildet auch die Grundlage der Akademie-Ausgabe: IMMANUEL KANT, Physische Geographie, in: DERS., Kants Werke, Bd. IX: Logik, Physische Geographie, Pädagogik, Berlin 1968, 151–436 [unv. photomech. ND der AA, Berlin 1923]. Nach dieser wird i. d. F. zitiert: KANT, Physische Geographie (Rink). 481 IMMANUEL KANT, Immanuel Kants Physische Geographie, 7 Teilbde., Mainz; Hamburg 1801–1804; es folgte eine zweite Auflage bis 1817. I. d. F. KANT, Physische Geographie (Vollmer). 482 IMMANUEL KANT, Nachricht an das Publikum, die bey Vollmer erschienene unrechtmäßige Ausgabe der physischen Geographie von Im. Kant betreffend (29. Mai 1801), hg. v. INSTITUT FÜR KOMMUNIKATIONSFORSCHUNG UND PHONETIK, Elektronische Edition der Gesammelten Werke Immanuel Kants: Briefwechsel, URL: http://www.ikp.uni-bonn.de/Kant/briefe/ 7_oe.html. 483 Zu dieser „Preßfehde“ zwischen Rink und Vollmer vgl. KANT, Physische Geographie (Gedan), XV f.
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erhebliche Zweifel bestehen.484 Grundsätzliches Problem bei der Rekapitulation des von Kant vermittelten Stoffes ist dabei die Länge des Zeitraums, in dem die Vorlesung gehalten wurde: Kant selber ergänzte seine Aufzeichnungen und passte neuere Forschungsergebnisse ein. Die Ausgabe Vollmer, angeblich basierend auf Kollegmitschriften der Jahre 1778, 1782 und 1793, verzeichnet solche in großer Zahl; jedoch lassen sich aus dieser, so Gedan, „Kants Arbeit und Eigentümlichkeit […] kaum noch erkennen.“485 Damit stehen die folgenden Ausführungen auf einem tönernen Fundament, denn nur hier finden sich Verweise darauf, dass sich Kant mit Moscatis These nicht nur als Rezensent auseinandergesetzt, sondern diese auch in seinen Vorlesungen verarbeitet hatte. Möglicherweise wurden die Äußerungen also nur Kant zugeschrieben, nicht aber von diesem getätigt.486 Dies scheint man allerdings in Kauf nehmen zu müssen, legte doch Rink für seine Ausgabe vor allem die Vorlesungen von 1758/59 zu Grunde, für die ein handschriftliches Manuskript Kants existiert zu haben scheint; hier konnten Moscatis Gedanken schlechterdings Aufnahme finden.487 Während bei Rink der Abschnitt Vom Menschen mit dem Unterschied der Bildung und Farbe der Menschen in den verschiedenen Erdstrichen einsetzt488, und auch beim genannten Thema bleibt, findet sich diesen Passagen in der Ausgabe Vollmer eine lange Einleitung vorangestellt, die insbesondere die Abgrenzung des Menschen vom Tierreich diskutiert.489 Bereits ganz zu Beginn zeigt sich hier, dass Kant Mensch und Tier für durchaus weiter voneinander entfernt hielt, als dies die Natursystematik nahe legte: Der Mensch mache „eine eigene Gattung aus; und es ist gar nicht zu leiden, wenn Linne ihn mit den Affen und Faulthieren zu einer Klasse rechnet.“490 Aufgebaut wird dieser Befund auf dem Artkriterium Buffons, also der Fertilität der Nachkommen.491 Davon abgesehen meint Kant 484 Vgl. KANT, Physische Geographie (Gedan), XV f. Zum Zeitpunkt des Abschlusses der vorliegenden Arbeit noch nicht zum Abschluss gekommen war das von der BerlinBrandenburgischen Akademie der Wissenschaften unter WERNER STARK begonnene Projekt einer Neuedition; vgl. BERLIN-BRANDENBURGISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN (Hg.), Immanuel Kant: Physische Geographie. Das Editionsvorhaben, URL: http://www.bbaw.de/ forschung/kant/geo/edition.htm. 485 KANT, Physische Geographie (Gedan), XV. 486 Hier geht es jedoch nicht in erster Linie um eine exakte Rekonstruktion Kantscher Intentionen, sondern um dessen rezeptionshistorische Wirksamkeit. Unter diesem Aspekt wird man der bei Vollmer erschienenen Version, die immerhin schnell eine zweite Auflage erlebte, einige Relevanz zubilligen müssen. 487 Vgl. BERLIN-BRANDENBURGISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN (Hg.), Immanuel Kant: Physische Geographie, Vorabinformationen, URL: http://www.bbaw.de/forschung/kant/ geo/info.htm 488 Vgl. KANT, Physische Geographie (Rink), 311. 489 Vgl. KANT, Physische Geographie (Vollmer), Dritter Band, Zweyte Abtheilung (1804), 258 ff. 490 KANT, Physische Geographie (Vollmer), Dritter Band, Zweyte Abtheilung, 259. 491 „Wenn der Mensch auch je im wilden Triebe seiner Leidenschaften so weit sinken sollte, daß er seiner Würde vergäße und sich selbst zum Thiere machte, so würde doch kaum eine Frucht, noch weniger eine der Fortpflanzung fähige, seine Schande verewigen.“ Ebd.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
aber eine Vielzahl weiterer Kriterien, äußerer wie innerer, finden zu können: Vor allem sei der Mensch „durch seine aufrechte Stellung und seinen Gang zum Herrn der Erde und zum König der Thiere erklärt.“492 Damit ergibt sich auf den ersten Blick ein recht drastischer Unterschied zu den in den Rezensionen geäußerten Meinungen: Moscati also doch falsch, Herder dagegen korrekt? Eine genauere Analyse verwischt diesen Eindruck jedoch wieder. Die direkten Einwände gegenüber Moscatis Auslassungen bleiben zunächst recht knapp: Er führe an, dass die vierfüßige Stellung die festere sei – möglich, aber bedenken müsse man den ganz anderen Bau des menschlichen Fußes, der am ehesten dem des Bären entspreche.493 Ohnehin sei aber Vorsicht bei einer solchen Argumentation geboten, denn „bei der Beurtheilung der Vortheile der körperlichen Bildung müssen wir nicht auf einen Vortheil allein sehen, sondern auf die Summe aller.“494 Auch Moscatis Behauptung, die Bipedie führe zu einer unabsehbaren Zahl von Krankheiten, mag Kant nicht gelten lassen: Auch Hunde stürben „häufig an Schlagflüssen“, litten an Schwindel, würden toll.495 Die Schwere der menschlichen Geburt aber sei nur ein Zeichen der schwächlichen Konstitution des heutigen Menschen; sie sei in alten Zeiten leichter verlaufen.496 Hinzugefügt wird von Kant eine lange Liste körperlicher Eigentümlichkeiten des Menschen, die der italienische Anatom nicht gewürdigt hatte, und die an vielen Stellen der Kritik Zimmermanns bis in die Formulierungen folgt. Die Beckenknochen, Wirbel, Muskeln, Augenmuskeln, Lage des Kleinhirns: Sie alle machen den aufrechten Gang wahrscheinlich. Moscati behaupte, dass sich die aufgefundenen wilden Menschen vierfüßig bewegt hätten497: Aber dies taten nicht alle. Es giengen manche auf zwei, und die auf vier giengen, giengen sehr ungeschickt, und deswegen, weil sie es von anderen Thieren, die sie umgaben, sahen. Ueberdem sind sie das für die Naturgeschichte, was kranke Menschen für die Physiologie sind.498
Wie hätten sie dies auch tun sollen, war für Kant doch der Mensch das einzige zur Bipedität eingerichtete Wesen; ansonsten sah er nur Quadrupeden oder – siehe den Orang Utang – Quadrumanen, die jedoch ganz offensichtlich für ein kletterndes Leben in den Bäumen bestimmt waren.499 Der Mensch war also auch von 492 493 494 495 496 497
Ebd. Ebd., 261. Ebd., 259. Ebd., 260. Ebd., 259. Dies hatte Moscati, s. o., jedoch eigentlich gar nicht getan, sondern die Kinder „wegen ihrer Seltenheit als zu schwach zum Beweise“ eingestuft. 498 KANT, Physische Geographie (Vollmer), Dritter Band, Zweyte Abtheilung, 262. Die hier geäußerten Ansichten scheinen auf Blumenbach zurückzugehen. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass auch Kant die ungeheuer großen Diskrepanzen der Fälle erkennt: Eine Einsicht, die im 19. Jahrhundert (s. u., Kap. 5) wieder verschüttet wird. 499 „[…] wenn er aufrecht gehen muss, so braucht er einen Stab.“ Ebd., 262. Kant dürfte hier die Darstellung Bontius’ im Kopf gehabt haben, vielleicht vermittelt durch Hoppius’ Anthropomorpha.
4.3. Der quadrupede Mensch: Folgen einer Provokation
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dieser Seite ein einzigartiges Wesen, das von der Natur unbewaffnet, aber eben mit den Anlagen zur Vernunft gesegnet in die Welt gesetzt worden war. Auf letztere verwiesen schon Lachen und Weinen500, während die Bestimmung des Menschen zur Moralität ihren körperlichen Niederschlag recht exklusiv beim weiblichen Geschlecht fand: Das Hymen erschien Kant als eine merkwürdige Einrichtung, „von der man keinen physischen Zweck angeben kann. Es scheint also hier wirklich ein moralischer zu obwalten.“501 Allerdings zeigten sich ansonsten in der Anatomie nur kleinere und unbedeutendere Unterschiede zwischen Mensch und Tier.502 Die eigentliche Differenz musste demnach in den „Fähigkeiten des inneren Menschen, oder des seinen Körper belebenden Prinzips“503 liegen. Instinkte, außer denen des Saugens und der Fortpflanzung, schienen zu fehlen; Kunsttriebe fänden sich überhaupt nicht. Aber stattdessen sei er „ausschließend im Besitz der Vernunft, einer planmäßigen, überlegten Anwendung seiner Kräfte, eines deutlichen Selbstbewußtseyns und der von ihm selbst erfundenen Sprache.“504 Indem Sprache als Funktion der Vernunft aufgefasst wird und der vierfüßige Gang ohnehin nur in das Reich der weniger relevanten äußeren Eigenschaften des Menschen fällt, entfernt Kant sich deutlich von Herders Konzept. Moscati hingegen mochte man durchaus Motive zugestehen, die seine Schrift begreiflicher machten, denn da dieser „Zergliederer war, so läßt sich glauben, daß ihn bei der Behauptung entweder Liebe zu Paradoxien oder die Absicht geleitet habe, zu zeigen, daß die gewöhnlichen Gründe für den aufrechten Gang […] nicht zwingend genug wären.“505 Die Vierfüßigkeit des Menschen: aus dieser Perspektive vielleicht nur ein Denkspiel, wie es auch Blumenbach vermutete. Auf diese Sicht verweist auch eine Stelle in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hier vermerkte Kant: Die Fragen ob der Mensch ursprünglich zum vierfüßigen Gange (wie Moscati, vielleicht blos zur Thesis für die Dissertation, vorschlug), oder zum zweifüßigen bestimmt sei; ob der Gibbon, der Orangutang, der Schimpanse u. a. bestimmt sei (worin Linneus und Camper widerstreiten); – ob er ein Frucht- oder (weil er einen häutigen Magen hat) fleischfressendes Thier sei; – ob, da er weder Klauen noch Fangzähne, folglich (ohne Vernunft) keine Waffen hat, er 500 KANT, Physische Geographie (Vollmer), Dritter Band, Zweyte Abtheilung, 263. 501 Ebd.; ähnliches gilt für die Monatsblutung. Beides stellte sich jedoch bald als inkorrekt heraus. KARL ASMUND RUDOLPHI vermerkt in seinem Grundriss der Physiologie, Bd. 1, Berlin 1821, 26: „Manche sonst zwischen dem Menschen und den Thieren angenommenen Unterschiede fallen nach genaueren Untersuchungen weg. Das Jungfernhäutchen (Hymen), welches man dem Menschen alleine zuschrieb, und in dem man sogar einen moralischen Grund suchte, ist schon bei manchen Säugthieren in der Jugend gefunden. Die monathliche Reinigung […] kommt auch bei den Affen vor […].“ 502 KANT, Physische Geographie (Vollmer), Dritter Band, Zweyte Abtheilung, 264. 503 Ebd., 265. 504 Ebd., 266 f. Hierbei spielt die Erziehung eine eminent wichtige Rolle. „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung. Er ist nichts als was die Erziehung aus ihm macht.“ IMMANUEL KANT, Immanuel Kant über Pädagogik. Herausgegeben von D. Friedrich Theodor Rink, in: IMMANUEL KANT, Kants Werke, Bd. IX: Logik, Physische Geographie, Pädagogik, Berlin 1968 [unveränderter photomechanischer ND der Ausgabe der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1923], 437–499, hier 443. 505 KANT, Physische Geographie (Vollmer), Dritter Band, Zweyte Abtheilung, 260.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder von Natur ein Raub- oder friedliches Thier sei – die Beantwortung dieser Fragen hat keine Bedenklichkeit.506
Für Kant unterschied sich der Mensch durch seine technischen, pragmatischen und moralischen Anlagen hinreichend vom Tier; ein Rekurs auf ohnehin nicht zu erweisende Körperhaltungen oder aus diesen hypothetisch resultierende Verhaltensmuster und erworbene Vermögen interessierte ihn wenig. So blieb für ihn in der Frage der Vierfüßigkeit Moscati eine anregende Quelle, Herders Konzept aber ein loser Haufen von Hypothesen, in dem unwesentlichem Äußeren ein viel zu hoher Stellenwert eingeräumt wurde. 4.3.5. Ausklang: Die Persistenz eines Topos Vergegenwärtigt man sich die bereits früh in den 1770er Jahren einsetzenden und praktisch equivok den Standpunkt Moscatis zurückweisenden Reaktionen, überrascht doch die erhebliche Persistenz des Themas. So diskutiert noch 1821 RUDOLPHI die Frage der Vierfüßigkeit mit klarem Bezug auf Moscatis Schrift: Untersucht man Menschen und Säugthiere in verschiedenen Stellungen, so sieht man gleich, dass der Schwerpunkt des menschlichen Körpers die aufrechte, der des Thieres hingegen die Stellung auf vier Füssen fordert. Affen, Makis, Bären und einige andere Thiere können eine kurze Zeit lang auf den Hinterfüssen gehen, da aber ihre Schwerlinie dabei verrückt wird, so fallen sie leicht vornüber, oder sie bedienen sich einer Stütze. Selbst wenn Thiere aufrecht sitzen sollen, so bedürfen sie dazu gewöhnlich einer Hülfe, z.B. des Schwanzes. Das ganze Skelett des Menschen ist zur aufrechten Stellung eingerichtet; man betrachte nur die Wirbelsäule von oben bis unten, nach der Form und Verbindung ihrer Theile; das Brustgewölbe; das Becken; die Verhältnisse der Extremitäten und ihrer Theile, des Knies, der Fusssohle. Die Beschaffenheit der Muskeln, z. B. der Gesäss- der Hinterschenkel- der Wadenmuskel. Die Lage der Herzens, die Vertheilung der Gefässe. Das Verhältnis und die Lage der Eingeweide, der Bauchdecke u.s.w. […] Wenn gesagt wird, der Mensch bey aufrechtem Gange sey mehr Krankheiten ausgesetzt, als die Thiere bei ihrem Gang auf Vieren, so vergisst man, dass alle daraus entstehenden Nachtheile viel geringer sind, als die Vortheile, welche er mit sich bringt. Die Frage kann auch nur eigentlich die seyn: würde der Mensch, wenn er bei seinem jetzigen Bau auf allen Vieren ginge, wenigeren Krankheiten ausgesetzt seyn, als bei dem aufrechten Gang? und das würde wohl Niemand bejahen. Wie schnell wird uns schon der Andrang des Blutes unangenehm und selbst gefährlich, wenn wir den Kopf senken!507
Zurückgewiesen werden hier nun auch Überlegungen, die bislang als selbstverständlich, aber eben nicht aussagekräftig hingenommen wurden, und die von den Fortschritten der Physiologie künden: Auch der Schwerpunkt des menschlichen Körpers verweise auf die Bipedität, andere Angriffspunkte waren bereits von 506 IMMANUEL KANT, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: DERS., Kant’s gesammelte Schriften, AA, Abt. 1: Werke, Bd. 7, Berlin 1917, 322. Weitere Hinweise darauf, dass Moscati von Kant immer wieder als Anregung für anthropologische Fragen herangezogen wurde, finden sich verstreut über den handschriftlichen Nachlass; vgl. IMMANUEL KANT, Entwürfe zu dem Colleg über Anthropologie aus den 70er und 80er Jahren, in: DERS., Kant’s gesammelte Schriften, AA, Abt. 3: Handschriftlicher Nachlass, Bd. 2: Anthropologie, Bd. 15,2, Berlin 1913, 779, 782, 885. 507 RUDOLPHI, Grundriss, Bd.1, 26 ff.
4.4. Exzentrik: Lord Monboddo
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Zimmermann, Herder und Kant vorformuliert worden. Jedoch zeigt sich auch, dass Rudolphi mit einer bereits vorgeprägten Haltung in seine Kritik einsteigt: Es ist sehr zweifelhaft, ob er Delle corporee differenze überhaupt noch selbst eingesehen hatte, denn er warf Moscati nun vor, eine besonders „verwerfliche Hypothese“ formuliert zu haben, nämlich „den Menschen als vom Affengeschlecht losgerissen und veredelt“ habe darstellen wollen. Tatsächlich sei es aber so, dass kein „Thier in ein anderes durch äussere Umstände umgebildet“ werde: Durch „Begattungen verschiedner Affen-Arten, konnte ein Mittel-Affe, aber nie ein Mensch entstehen. Der Mensch war immer Mensch und wird es immer seyn.“508 Dies war nun eine Unterstellung, die sich Moscati, der solcherlei transformistische Gedanken an keiner Stelle auch nur anreißt, verboten haben dürfte. Er ging von diskreten Arten aus und wollte die Bipedie als zivilisatorischen Irrweg verstanden wissen – ein Irrweg freilich, der nur dem Menschen, und nicht den Affen offen stand, die auf intellektueller, und erst recht seelischer Ebene unendlich weit entfernt erschienen. Rudolphi missversteht diesen Ansatz jedoch gründlich, womit die These, dass naturgeschichtliche Sichtweisen sich ab Ende des 18. Jahrhunderts in scharfem Tempo temporalisierten, bestätigt wird. Vierfüßigkeit als Naturzustand anzunehmen, konnte er aus dem Bezugsrahmen der 1820er Jahre heraus nur noch als Rechtfertigungsversuch für einen Transformismus deuten. Dieser entsprang jedoch einem monistischen Diskurs, den Moscati selbst verachtete, und dem er eine konsequent dualistische Sicht auf den Menschen gegenübergestellt hatte. 4.4. EXZENTRIK: LORD MONBODDO Vergleicht man den zeitgenössischen und heutigen Bekanntheitsgrad JAMES BURNETTS, LORD MONBODDO509, mit dem eines Buffon, Linné oder Blumenbach ergibt sich eine erhebliche Diskrepanz. Sein Name durchzieht ab etwa 1773, dem Erscheinungsjahr des ersten Bandes von On the Origin and Progress of Language510, konsequent die Fußnoten der zeitgenössischen natur- und sprachwissenschaftlichen Literatur. Selten jedoch wurde seinen Ideen Zuspruch zuteil, was auch den bis heute marginalen Status in der Forschung erklären mag. Burnett, der nicht nur an die Existenz geschwänzter Menschen und der gesamten Plethora antiker anthropomorpher Wunderwesen glaubte511, sondern allen Ernstes den
508 Ebd., 24. 509 Die Schreibweise des Namens variiert; ebenso häufig findet sich auch Burnet. 510 JAMES BURNET, LORD MONBODDO, On the Origin and Progress of Language, 6 Bde., Edinburgh 1773–92. 511 Diese stereotype Rezeption weist CLOYD bis in die Moderne nach; vgl. E. L. CLOYD, James Burnett. Lord Monboddo, Oxford 1972, 165. Tatsächlich widmet Monboddo diesen Wesen breiten Raum: vgl. BURNET, Origin and Progress, Bd. I, 236 ff.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
Versuch unternahm, diese als Pfeiler seiner Konzeption zu verwenden512, galt bereits seinen Zeitgenossen als zu spleenig, um wirklich ernstgenommen werden zu können: Aus diesem Image ergab sich bald eine self-fulfilling prophecy. Tatsächlich aber nahmen weniger voreingenommene Zeitgenossen Monboddo auch von einer anderen Seite wahr. Geboren 1714, graduierte Burnett zunächst am Aberdeener King’s College und studierte weiter an der renommierten Universität Groningen. Er begann eine juristische Karriere und erarbeitete sich bald einen ausgezeichneten Ruf als Richter.513 Hier kam ihm zu Gute, was auch BOSWELL in seinem Life of Johnson vermerken sollte: Große Gelehrsamkeit, großes Wissen, vor allem der antiken Tradition, Originalität der Gedanken.514 Seine wissenschaftliche Tätigkeit blieb insofern, obwohl Herzenssache, Nebenprodukt und erbrachte vor allem zwei voluminöse Werke: Das bereits angesprochene On the Origin and Progress of Language und Antient Metaphysics. 1799, kurz nach Fertigstellung des letzten Bandes der Antient Metaphysics, verstarb Monboddo. Um zu verstehen, warum Burnett der überwältigenden Anzahl der Wissenschaftler seiner Zeit höchst fragwürdig erschien, kommt man nicht umhin, einen kursorischen Blick auf das von ihm errichtete – oder besser wiederzuerrichten versuchte – Denkgebäude zu werfen. Denn der Lord leistete sich, mitten im Jahrhundert der Aufklärung, einen extravaganten Luxus: Platons a priori Idealismus gab er gegenüber Bacons induktiver Methodik, der Physik Newtons und schließlich dem Sensualismus Lockes und Humes klar den Vorzug. Damit stand er, ganz besonders in Großbritannien, mehr oder weniger allein.515 Lockes Essay concerning human understanding: „[…] no other than a hasty collection of crude, undigested thoughts, by a man who thought and reasoned by himself upon subjects of the greatest difficulty and deepest speculation, without assistance of learning.“516 Newtons Astronomie: Wie konnte man die himmlische Sphäre, „an eternal emanation of an eternal being“, zu einem Spielfeld von Rechenoperationen, zur bloßen Himmelsmechanik herabwürdigen?517 On the Origin and Progress of Language wird von einem Leitgedanken durchzogen: „Language is not natural to man.“518 Die Argumentation verläuft dabei getreu der antiken Scheidung von innerem und äußerem logos. Verkürzt gesagt entstand nach diesem Muster Sprache aus innerlich-seelischen Ideen, die der Sprecher dann äußerlich artikulierte. Ohne Ideen war also keine Sprache 512 Eine Einbettung Monboddos in den naturhistorischen Diskurs in Schottland nimmt WOOD vor: P. B. WOOD, The Natural History of Man in the Scottish Enlightenment, in: History of Science, 79 (1990), 89–123; vgl. insbes. 105 ff. 513 Vgl. JAMES MCCOSH, The Scottish philosophy : Biographical, expository, critical, from Hutcheson to Hamilton, London 1874 [ND Hildesheim; New York 1966], 247. In der Folge wird der Biographie McCoshs, wo nicht anders vermerkt, gefolgt. 514 So notiert Boswell in einem Brief von 1773: „Mr Johnson says he would go two miles out of his way to see Lord Monboddo.“ Zit. nach: WILLIAM KNIGHT, Lord Monboddo and some of his contemporaries, London 1900 [ND London 1995], 15. 515 Vgl. KNIGHT, Lord Monboddo, 29 f. 516 Zit. nach MCCOSH, Scottish Philosophy, 249. 517 Ebd. 518 BURNET, Origin and progress, Bd. I, „Contents“, o. P. und pass.
4.4. Exzentrik: Lord Monboddo
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denkbar, und diese entstanden eben nicht, wie Locke dachte, aus Erfahrung, sondern hatten als präexistent und letztlich göttlichen Ursprungs zu gelten: Sie wurden in die Natur hineingelegt. Gleiches galt für die Artikulationsebene: Das Sprechen erschien Burnett als ein höchst komplexer Prozess, der nur zeitaufwändig zu erlernen war, also letztlich Produkt des menschlichen Fleißes darstellte. Vor allem aber ging der Sprache auf jeden Fall die Gesellschaft voraus, die er sich im Umkehrschluss durchaus ohne Sprache vorstellen konnte. Daher das Postulat, dass nicht nur „solitary savages, but whole nations have been found without the use of speech“ – obwohl die anatomischen Voraussetzungen gegeben seien.519 Von hier erklärt sich auch sein zeitlebens störrisches Beharren auf der Sprachfähigkeit des Orang-Outang, eine Argumentationslinie, die auf über 100 Seiten verfolgt wird. On the origin and progress of language sorgte für Aufruhr, fand aber auch Zustimmung; beides reflektiert das von Herder anlässlich der deutschen Übersetzung des ersten Bandes verfasste Vorwort von 1784.520 Lobenswert erscheint Herder zunächst der Stil der Abfassung, der sich „entscheidend gegen den neuen Flitterputz“ richte. Dass er dafür in Großbritannien vielfach angefeindet worden sei, müsse die „deutsche Nation“, die ohnehin „viel zu gleichgültig oder zu edel“ sei, sich davon beeindrucken zu lassen, nicht beunruhigen. Schließlich äußere sich überall der „ächte philosophische Geist“, vor allem sei dem Verfasser aber „der Hauptzweck seines Werks, die Untersuchung von dem Ursprung und den Fortschritten der Sprache“ so gelungen, dass „diese Materie von ihm beinahe erschöpft“ worden sei. Als kritikwürdig erachtet Herder zunächst nur „Kleinigkeiten, die das Innere des Werks nicht treffen“. So sei Monboddo in seiner Liebe zum Altertum manchmal zu leichtgläubig, insbesondere was Wunderwesen angehe: „Afrika ist immer reich an Ungeheuern gewesen, aus keiner andern Ursache, als weil es am unbekanntesten war.“ Gleiches gelte für die Aufnahme der von Linné verbürgten anthropomorphen Lebewesen, insbesondere aber die Aneinanderrückung von Mensch und Affe; hier habe sich mittlerweile, auch dank der Fortschritte in der Anatomie, vieles als falsch herausgestellt. Überhaupt vernachlässige Monboddo die besondere körperliche Organisation des Menschen und übersehe so, „daß also weder der Affe, noch irgend ein Thier […] wahre menschliche Vernunft je erhalten werde; vielleicht nicht aus wesentlicher Unvollkommenheit ihrer Seele, sondern weil ihre gegenwärtige Organisation sie von uns scheidet.“ Ganz entschieden äußert sich Herder dann auch gegen Monboddos Hypothese, es habe „rohe Thierähnliche Menschen“ gegeben, „die lange zuerst ohne Sprache waren; wo und wenn hat es sie gegeben? Die Geschichte kennet keine Nationen von Thiermenschen: denn auch die rohesten Menschenfresser haben Sprache. Sie lernen sie gerade wie wir, durch Tradition und Erziehung […].“ 519 KNIGHT, Lord Monboddo, 31. 520 JOHANN GOTTFRIED HERDER, Vorrede, in: LORD MONBODDO, Des Lord Monboddo Werk von dem Ursprunge und Fortgange der Sprache, übersetzt von E. A. Schmid. Mit einer Vorrede des Herrn Generalsuperintendenten Herder, Erster Theil, Riga 1784; i d. F. HERDER, Vorrede. Da die Vorrede nicht paginiert ist, wird auf weitere Verweise verzichtet.
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Herder kritisierte damit Ideen, die ihre volle Ausformung, nun unter einem weiteren Paradigma als dem der Sprache, in Antient Metaphysics fanden521; und es darf wohl zurecht bezweifelt werden, dass der Vorredner nach der Lektüre dieses Werks, das ihm nicht bekannt war, immer noch geäußert hätte, dass ihm „nach der Geschichte des Menschen, auf die Monboddo irgendwo in diesem Buch Hoffnung giebt, sehr verlange […].“ Denn gegen die unzureichenden, weil rein mechanistisch argumentierenden Theorien Descartes und Newtons reanimierte Burnett hier endgültig den platonisch-aristotelischen Leib-Seele-Dualismus.522 Gefordert werden so zwei wesenhaft voneinander unterschiedene Substanzen, aktives und passives Prinzip: Mind 523 wird definiert als „what moves“, Body als „what is moved“.524 Während Descartes für den größten Teil der belebten Schöpfung keine permanente seelische Einwirkung konzedieren wollte, bleibt für Monboddo alles Sein abhängig vom kontinuierlichen Wirken des mind. Ebenso wie bei Aristoteles werden verschiedene Fakultäten der Seele unterschieden; jedoch tritt an Stelle der Drei- eine von den Pythagoreern übernommene enkaptische Vierteilung: Elemental Life, Vegetable Life, Animal Life und Intellect.525 Nur der Mensch vereinigte alle dieser Kapazitäten in sich, was ihm eine Stellung an der Spitze der weltlichen Wesen sicherte.526 Von konzeptuellem Interesse ist vor allem die letzte der Stufen, denn nur hier unterschied sich ja der Mensch vom Tier. Monboddo führt aus: Intellect […] operates without either Sense or Imagination, by which only the Animal operates; nor is it connected in its operations with any particular parts of the Body […]. But it is connected with the whole Animal System […].527
Der Begriff Animal System meint hier den Körper zuzüglich der drei niederen Seelenkräfte. Betonenswert ist, dass dieses Gesamtsystem keineswegs die Grundlage für die Entwicklung des Intellect darstellt; vielmehr sind die vitalen Teile des Körpers lediglich „things without which, in its present state, it could not operate.“528 Die animalische Natur hat reinen Werkzeugcharakter, sei es als Zulieferer, etwa von Sinneseindrücken, oder Umsetzer von Aktionen, die von dem immate521 JAMES BURNET (LORD MONBODDO), Antient metaphysics, 6 Bde., Edinburgh; London 1779– 1799 [ND New York; London 1977], hier Vol. III (1784), 62. 522 „Mind is the author of all the motion in the Universe […] and, therefore, when body is moved and it cannot be shown to be moved by another Body, it must necessarily be supposed to be moved immediately and directly by Mind.“ MONBODDO, Antient Metaphysics, Bd. I, ii f. 523 Der Begriff darf keinesfalls mit intellect verwechselt werden; er entspricht am ehesten dem antiken anima. In der Folge wird der englische Originalbegriff verwendet. 524 Ebd., v. 525 Damit wird das Konzept Aristoteles’ nach unten erweitert, indem auch den Mineralien schon eine Beseelung zugestanden wird. Die höheren Stufen sind praktisch deckungsgleich mit den aristotelischen. Die Abweichungen in der Terminologie tragen keine Bedeutung: Monboddo wechselt frei zwischen Life, Nature und Mind. 526 „Man is undoubtedly at the top of the scale of Being here on earth, which we may observe rises by gradual ascent, according to the different degrees of excellency of the Beings that compose it.“ MONBODDO, Antient Metaphysics, Bd. III, 5 f. 527 Ebd., 19. 528 Ebd.
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riellen Intellect, den Monboddo auch als Governing oder Hegemonic Principle529 beschreibt, diktiert werden. Dagegen ließen sich aus der körperlichen Verfasstheit durchaus teleologische Rückschlüsse ziehen; alles andere hätte bedeutet, einen Mangel in der Schöpfung festzustellen, der dann nur auf einen unvollkommenen Schöpfer hätte zurückgeführt werden können. Auf die Welt bringt der Mensch jedoch zunächst nur das Potenzial zur Ausbildung des Intellect. […] all the parts of his composition did not exist at once, but there was a progress in his formation, as well as in other things in Nature. While in his womb he is no better than a Vegetable […]. By degrees he becomes an Animal, but is an imperfect animal even when born. After the Animal Nature is perfected in him, comes the Intellectual part; by slow degrees even among us, but by degrees infinitely slower when he could not be formed, as we are, by example and instruction. But even here is not an end of his changes: For, after he is become both an Intellectual and a Political Animal, and has invented arts and sciences, he is far from continuing the same, and a man in the first ages of society is exceedingly different from a man in the later and declining state of it. In short, Man appears to undergo as many changes as any animal we know […]; and, if we believe in a future state, we must suppose that the changes will not cease with this life.530
Monboddo bildet hier eine doppelte Analogie: Zum einen korrelieren stetiger Aufstieg und Wandel der Natur mit der Entwicklung des Menschen, ein mühsamer und langsamer Prozess. Zum anderen werden Phylo- und Ontogenese, die Entwicklung des Individuums und der menschlichen Gesellschaft, parallelisiert. KNIGHT hält diese Überlegung, also den Entwicklungsgedanken, für das root principle der Monboddoschen Ideenwelt – nicht ohne auf einen logischen Bruch hinzuweisen, denn wie konnte dieses universelle Prinzip für den declining state aufkommen, den Monboddo seiner Gesellschaft zuwies?531 Jedenfalls erschien es nach dieser Hypothese wahrscheinlich, Menschen je nach Entwicklungsstand in höchst unterschiedlichen körperlichen, intellektuellen und sozialen Zuständen antreffen zu können. Mehr noch: Eine rein äußerliche oder auch ethologische Unterscheidung zwischen Mensch und Tier musste in vielen Fällen unmöglich sein, denn das Anthropinon, der Intellekt, war nicht nur immateriell und daher der empirischen Untersuchung unzugänglich, sondern dessen Ausbildung in frühen Entwicklungsstadien musste von dem unvollkommenen Entwicklungsstand der Animal Nature gehemmt sein. „In such a state“, schreibt Monboddo, „Man had not the use of Intellect, which was then latent or dormant in him […].“532 Drehte man nun den Verlauf der Argumentationskette, musste der Nachweis ebensolcher Menschen im „original state, […] before societies were formed, or arts invented“533, die Hypothese beweisen: Hier ließ sich dann nämlich tatsächlich jene Animal Nature, Ausgangspunkt der Menschwerdung, in Reinkultur betrachten.
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Ebd., 25. Ebd., 25 f. KNIGHT, Lord Monboddo, 38. MONBODDO, Antient Metaphysics, Bd. III, 27. Ebd.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
Den Nachweis versucht Monboddo auf drei Ebenen zu führen. Eine von diesen wurde bereits erläutert: Aus der Entwicklung des Kindes lasse sich im Analogieschluss folgern, dass die Gattung Mensch eine ähnliche Entwicklung durchlaufen habe und weiter durchlaufe. Hinzugefügt, und dies ist für die weitere Argumentation bedeutsam, wird lediglich, dass dieser Entwicklungsprozess nicht in allen Teilen der Welt synchron verläuft, also sozusagen eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen festzustellen sei. Zweitens lasse sich eine allmähliche Progression in den Kunstfertigkeiten feststellen. So belegen für Monboddo zahlreiche der Reiseliteratur entnommene Beispiele die Existenz nackter Völker. Gleiches gilt für die Behausung, den Gebrauch des Feuers, die Sprache.534 Hier geraten neben den primitiven Gesellschaften zum ersten Mal auch Wilde Kinder in den Fokus: So habe das wilde Mädchen von Songi zunächst werde Behausung noch Feuer ertragen können535, während man bei Peter habe feststellen müssen, mit welchen Schwierigkeiten der Spracherwerb verbunden sei.536 Letzterer gerät bei Monboddo zum Markstein der Zivilisation, jedoch keinesfalls zum Scheidekriterium des Menschen; er ist sozusagen ein hinreichendes, aber kein notwendiges Kriterium. Mangelnde Sprache kann durchaus einfach aus einem (noch) nicht aktualisierten Sprachvermögen erklären, was sich wiederum aus embryonalen Gesellschaften wie körperlichen Mängeln ergeben kann: „I therefore do not at all wonder, that the dumb Savages have not learned to speak; for even the dumb and deaf among us cannot learn it, unless they give the greatest application.“537 Gesellschaft geht der Sprache stets voraus, das hatte Monboddo schon in On the Origin and Progress of Language geschlussfolgert. Hier exemplifiziert nun eine Passage die Entstehung von Sprache aus einer Miniaturgesellschaft.538 So habe ein Rev. Maddison aus Virginia überliefert, dass in einem Sumpfgebiet zwei junge Männer gefunden worden seien, die mit Hilfe einer rudimentären Sprache, „like the gaggling of geese“, kommuniziert hätten. Monboddo sieht hier Parallelen zu den von Condamine überlieferten südamerikanischen Indianersprachen539, die er als in einer ganz frühen Entwicklungsphase stehend betrachtet; diese könnten selbst von den erfahrensten Missionaren nicht verstanden werden. Le Roy überliefere, dass der in den Pyrenäen 1774 gefundene Wilde nicht habe sprechen können, gleiches gelte für die beiden dort bereits 1719 aufgespürten Wilden. Überdies zeige das Beispiel des Schiffbrüchigen von Diego Garcia, dass man die Sprachfähigkeit auch wieder verlieren könne, sobald die Gesellschaft fehle. Es folgen Verweise auf bereits in seinem Sprachwerk angesprochene antike topoi, und insbesondere die Ichthyophagen, belegt sowohl von den Alten wie Diodor als auch den Modernen wie Dampier, betrachtet Monboddo 534 535 536 537 538 539
Ebd., 29 ff. Ebd., 39. Ebd., 41. Ebd., 43. Ebd., 45 ff. Als Quelle gibt Monboddo „Memoire Geograph. Physic. et Historiq., tom. 5, Yverden 1767, p. 221.“ Die amerikanischen Indianersprachen gelten der Linguistik heute als überaus komplex.
4.4. Exzentrik: Lord Monboddo
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als machtvolles Argument – was seine Denkart erhellt. Die Übereinstimmungen in deren Berichten seien nämlich „so great, that […] we must either believe both, or suppose that both have concurred, at such a distance of time, in telling the same lie.“540 Dass tatsächlich ganze Gesellschaften über einen langen Zeitraum ohne Sprache existieren konnten, weist Monboddo zunächst wieder analogisch nach. Der Biber, die Ameisen, die Bienen: Bildeten sie nicht alle hochkomplexe Gesellschaften, ohne über Sprache zu verfügen?541 Sprache musste deshalb eine Errungenschaft sein, die dem Menschen erst in einem weit zivilisierten Zustand zukam. Für alle diejenigen aber, die trotz der Flut von Beweisen eine vorsprachliche Entwicklungsstufe des Menschen immer noch bezweifelten, meinte Monboddo ein vor der Haustür liegendes Argument enormer Überzeugungskraft zu besitzen: Such unbelievers may have an opportunity, without going out of there own country, and without trusting to the reports of historians or travellers, antient or modern, foreign or domestic, of convincing themselves, by their own eyes and ears, that there may be a human creature that has lived to be an old man without the use of speech. For this purpose, they have no more to do than go to a farmer’s house in Hertfortshire […] where they will see PETER, the Wild Boy, (as he is still called, tho’ he be now an old man) […]. I think him one of the greatest curiosities in the world, greater still than the wild girl I saw in France.542
Von so paradigmatischer Bedeutung – „more extraordinary, I think, than the new planet, or than if we were to discover 30,000 more fixed stars“543 – ist der Junge, dass Monboddo beginnt, den Leser mit allem Wissenswerten bekannt zu machen. Schon die von ihm präsentierte Zusammenstellung von Druckquellen, die mit dem 540 MONBODDO, Antient Metaphysics, Bd. III, 52. Als sei es ausgeschlossen, dass Dampier eben diese Schilderungen kannte. Offenbar konnte Monboddo, der die Zugrunderichtung der Gelehrsamkeit durch die Empirie beklagte, sich nicht mehr vorstellen, dass auch ein forschungsreisender Franzose wie Dampier über eine Grundbildung verfügte, die noch keineswegs von der antiken Tradition vollkommen abgekapselt war. Wie stark dagegen generell die Eindrücke von der Neuen Welt durch antike Rezeptionsschemata gefiltert waren, schildert etwa WERNER WOLF, „Das sind die neu gefunden menschen oder völcker“: Europäische Indianerbilder des 16. bis 19. Jahrhunderts zwischen Entwurf und Projektion, in: Mundus Novus: Amerika oder Die Entdeckung des Bekannten. Das Bild der Neuen Welt im Spiegel der Druckmedien vom 16. bis zum frühen 20. Jahrhundert [Ausstellung des Instituts für Zeitungsforschung, 21. Februar – 26. April 1992], hg. im Auftrag des INSTITUTS FÜR ZEITUNGSFORSCHUNG und des MUSEUMS FÜR KUNST UND KULTURGESCHICHTE DER STADT DORTMUND von PETER MESENHÖLLER, Essen 1992, 35–53. Das grundsätzliche Muster des Abgleichs antiker und moderner Quellen ist jedoch auch eine typische Methode der Naturhistorie, mit der Monboddo so über kreuz lag. 541 MONBODDO, Antient Metaphysics, Bd. III, 56. 542 Ebd., 57. Monboddos Verwertung des Falles Marie-Angélique wird hier nicht weiter verfolgt, seine Beschreibung des Zusammentreffens mit ihr findet sich im Appendix von Bd. IV, 403 ff. Monboddo hatte darüber hinaus die Einleitung für die 1768 in Edinburgh erschienene Übersetzung des Berichtes Condamines verfasst: An Account of a Savage Girl caught wild in the woods of Champagne. Translated from the French of Madame H[ecque]t with a preface containing several particulars omitted in the original account, Edinburgh 1768. Vgl. dazu auch NEWTON, Savage Girls and Wild Boys, 53 ff. 543 MONBODDO, Antient metaphysics, Bd. III, 62.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
21. Dezember 1725 einsetzt und mit Swifts It cannot rain von 1726 schließt, unterstreicht zweierlei: Monboddos genuines Interesse544, aber auch, dass die britische Öffentlichkeit den Fall ebenso aufmerksam verfolgte wie die deutsche.545 Kein Zweifel kann daran bestehen, dass sich dem unvoreingenommenen Leser ein äußerst ambivalentes Bild enthüllte: Hier ist Peter aufgrund der Erziehung durch Arbuthnott bereits „pretty forwarded in speech“, dort wird betont: „He has not yet been able […] to bring the wild youth, either to the use of speech, nor to the pronunciation of any words […].“ An der einen Stelle beteuern die Berichte „that he was entirely unacquainted with his species“, wo doch Swift für sicher hält „that he had a father and mother like one of us“. Letzteres hält auch Monboddo für zutreffend, „because I was told by a person yet living, that, when he was catched, he had a collar about his neck, with something written on it.“546 Für Swift spricht allerdings auch, wir kennen dieses Muster bereits, dass ein solch verdienter Mann schlechterdings Lügen erzählt haben konnte.547 Um jeglichen Zweifel zu beseitigen begibt sich Monboddo Anfang Juni 1782 schließlich selbst zu Peter, der nach wie vor in der Nähe von Berkhamstead lebt. Der mittlerweile um die 70-jährige macht auf den Schotten einen „fresh, healthy look.“548 Sein Gesicht sei keineswegs hässlich, „and he has a look that may be called sensible and sagacious for a savage.“549 Die Versuche, ihm die Sprache beizubringen, hatten nicht zu viel geführt; immerhin könne er aber seinen Namen verständlich aussprechen, und Peter verstünde „every thing that was said to him concerning the common affairs of life.“550 Sein Gemüt sei sanft, „which I hold to be characteristical of our nature, at least till we become carnivorous, and hunters 544 Immerhin lag die Berichterstattung zum Zeitpunkt der Abfassung des III. Bandes der Antient Metaphysics bereits mehr als 60 Jahre zurück. 545 MONBODDO, Antient Metaphysics, Bd. III, 58 ff. Monboddo zitiert dabei folgende Quellen: 1. Caledonian Mercury, 21. Dez. 1725; übernommen aus St. James’s Evening Post, 14. Dez. 1725; 2. Caledonian Mercury, 7. Jan. 1726, übernommen aus Flying Post, 30. Dez. 1725; 3. Caledonian Mercury, 29. März 1726, übernommen aus Wye’s Letter, 24. März 1724; 4. Caledonian Mercury, 11. April 1726, übernommen aus Wye’s Letter, 5. April 1726: 5. Edinburgh Evening Courant, 12. April 1726; 6. Edinburgh Evening Courant, 5. Juli 1726; 7. Edinburgh Evening Courant, 8. Aug. 1726, übernommen aus The Country Gentleman, No. 10 (11. April 1726); 8. Edinburgh Evening Courant, 14. Nov. 1726, übernommen aus Wye’s Letter (o. D.); 9. DEAN SWIFT, It cannot rain, but it pours. Da sich an keiner Stelle erhebliche inhaltliche Abweichungen zu den Zeitungen des deutschen Sprachraums ergeben, wird auf eine nochmalige Darstellung verzichtet. 546 MONBODDO, Antient Metaphysics, Bd. III, 61. Es ist nicht ganz klar, ob Monboddo hier nicht zwei Informationen vermischte. Monboddos Informant spielte möglicherweise auf Peters „Ausflug“ nach Norwich an; vgl. Kap. 3.4. 547 „Now […] we cannot suppose that such a man as the Dean would have told a lie, even if it had been a wonderful one, and such as could have made his readers stare.“ Ebd., 62. Ganz abgesehen von der fragwürdigen Zuschreibung des Pamphlets scheint Monboddo hier den Sinn und Zweck dieser Schriften aus dem Auge zu verlieren. 548 Ebd., 63. 549 Ebd. Allerdings dürfte Peter erst der zweite Wilde gewesen sein, den Monboddo zu Gesicht bekam; zuvor hatte er bereits Marie-Angélique aufgesucht. 550 Ebd., 63.
4.4. Exzentrik: Lord Monboddo
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or warriors.“551 Tatsächlich habe sich Peter der Zivilisation angepasst; er esse Fleisch, möge Bier, Schnaps und Feuer. Nur zu Geld habe er nach wie vor keinerlei Bezug. Von seinen animalischen Fähigkeiten ist nur eine geblieben, „a forefeeling of bad weather.“552 Nahm man das gesamte Material zusammen, glaubte Monboddo einige sichere Schlüsse ziehen zu können, die auch den skeptischsten Empiriker zufrieden stellen mussten: Peter war fraglos ein Mensch. Er war nicht schwachsinnig, jedoch als Kind auf allen Vieren gegangen. Dennoch stammte er von ganz normalen Zeitgenossen ab und verfügte über Sprachvermögen.553 Welche Funktionen erfüllte Peter nun für Monboddo, dass er sich so dezidiert mit dem Fall auseinandersetzte – immerhin widmet er ihm allein etwa 20 Seiten.554 Für den Autor selbst hing „my whole philosophy of man“555 an der Frage des Naturzustands des Menschen, in dem sich Peter ja befinden sollte. Ebenso hängt von diesem jedoch auch die gesamte Metaphysik ab556, denn Monboddo versuchte das Problem der Theodizee, das er bereits zu Beginn seines Werks aufgeworfen hatte, mit der Annahme eines transitorischen Zustandes des Menschen und der gesamten Natur zu lösen, die auf ihre Perfektionierung hinsteuerten.557 Ein gutes Stück weit scheinen die Berichte über die Wilden Kinder jedoch eine weitere Funktion zu erfüllen: Monboddos älteres Anliegen, nämlich dem Orang menschlichen Status zuzuweisen, von anderer Seite zu stützen. So bemerkt Monboddo: „[…] as the humanity of Peter never was disputed, I think we can as little doubt of that of the Oran Outan, who resembles him so much.“558 Hier 551 552 553 554
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Ebd. Ebd., 64. MONBODDO, Antient Metaphysics, Bd. III, 64 ff. Zu der hier vorgestellten Passage tritt im Anhang (ebd., 368 ff.) ein Bericht von Burgess hinzu, der neue Details liefert, allerdings keinerlei Anpassung der Hypothesen erforderlich scheinen lässt. Nur bezüglich der Sprachfähigkeit macht Monboddo Zusätze: So betont er, dass die Formbarkeit und Flexibilität der Sprachorgane im Laufe der Zeit nachlasse; ein Effekt, der sich übrigens auch bei jedem zivilisierten Menschen zeige, der eine Fremdsprache zu erlernen versuche. Ebd., 373. Ebd., 69. Schon CLOYD, James Burnett, 161 stellt fest, dass insbesondere die in Bänden III und IV (1784/1795) entwickelte History of Man eine Art Mikrokosmos der Monboddoschen Ideenwelt darstelle. Tatsächlich erweist sich eine Analyse der History of Man, der Naturgeschichte des Menschen, die Monboddo weiträumig und nicht ohne Redundanzen zeichnet, als notwendiger Startpunkt, will man verstehen, warum und in welcher Weise schließlich die Lebensgeschichte Peters in dieses Passepartout eingepasst werden konnte. „[…] this scene of man is to have an end, as well as the present system of Nature, and […] man is to appear again in some other form, as we are told the Heavens and the Earth will do […].“ Ebd., 69. Monboddo galt über längere Zeit als Vertreter evolutionistischer Ideen, der Darwin vorweggenommen habe. So etwa noch MCCOSH, James Burnett, 254: „He [i. e. Monboddo] then proceeds to divulge his own theory, which is an anticipation of the Darwinian.“ CLOYD, James Burnett, 162 ff., verfolgt den Rezeptionsstrang bis ins 20. Jahrhundert, weist dann aber schlüssig nach, dass dieses Missverständnis in der Undeutlichkeit der Terminologie Monboddos begründet liegt, der z. B. den Artbegriff auf höchst divergierende Weise auffasst. MONBODDO, Antient Metaphysics, Bd. III, 67 f.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
erscheint Peter tatsächlich nur als ein Instrument, um die Korrektheit einer vorhergehenden Hypothese nachzuweisen, indem eine weitere, und letztlich ebenso diskutable, aufgestellt wird: The case of the Orang Outang, I think, it is impossible to distinguish from the Case of Peter the Wild Boy; for, if Mr Buffon’s Orang Outang was not a man, because he had not learned to speak at the age of two, it is impossible to believe that Peter, who, at the age of seventy, and, after having been above fifty years in England, has learned to articulate but a few words, is a man; and yet I have it from most respectable authority, of a man of high rank now living, and who remembers very well, being then above the age of twenty, and in London, when Peter was brought over, that his humanity was never doubted of, though he had been running upon all fours in the woods of Hannover.559
Diese Beweisführung ist natürlich hochgradig angreifbar. Insbesondere die Möglichkeit, dass Peter wirklich einen Geburtsdefekt hatte, wird nicht erwogen. Vor allem aber baut Monboddo doppelt auf Sand: Der menschliche Status des Orang stand ebenso zur Disposition wie die Wildheit Peters. In der Analogisierung sollen sich die Fälle nun gegenseitig stützen: Peter und die übrigen Wilden Kinder waren unbestreitbar von menschlicher Physis, aber eben Einzelfälle, die als solche angreifbar blieben und vor allem die Existenz ganzer Gesellschaften in diesem Status nicht belegten. Der Orang dagegen schien weit verbreitet und gesellschaftlich organisiert zu sein, erinnerte äußerlich aber leider nur marginal an einen Menschen. Schließt Monboddo, dass beides zusammen auf präzivilisatorische Gesellschaften von Menschen hinweist, hätte man damit doch ebenso gut die Existenz nur solitär lebender Affen beweisen können.560 In dieses Bild fügt sich schlüssig, dass Monboddo neuere anatomische Befunde, welche die Sprachorgane des Orang Outang betrafen und eine klare Differenz zum Menschen postulierten, geflissentlich übersah, oder wenigstens als nicht gesichert abtat.561
559 Ebd., 367. 560 BARNARD, dessen Fokus in der Diskussion Monboddos auf dem Orang liegt, kommt von dieser Seite zu einem gleichlautenden Befund: „Feral children perform a function for Rousseau for example, as solitary, natural humans – as humans were at the beginning of society. They perform the same function for Monboddo, but Monboddo has also a special need for the Orang Outang in his explanation of human nature […]. The Orang Outang is the gregarious aspect of Natural Man.“ ALAN BARNARD, Monboddos Orang Outang and the Definition of Man, in: CORBEY & THEUNISSEN, Ape, Man, Apeman, 71–82; hier 78. Zu Ähnlichkeiten und Differenzen in den Konzeptionen des Naturzustandes bei Rousseau und Monboddo vgl. generell ARTHUR O. LOVEJOY, Monboddo and Rousseau, in: DERS., Essays in the History of Ideas, 38–61. 561 Vgl. hierzu TINLAND, L’Homme Sauvage, 104–119. Campers Untersuchungsergebnisse (PIETER CAMPER, An account of the organs of speech of the Orang-Outang, in: Philosophical Transactions of the Royal Society of London, London 1779, vol. 69, 139–59) stellt Monboddo dabei nicht in Frage, betont aber, dass es sich um ein Exemplar aus Borneo gehandelt habe, das nicht mit dem aus Angola stammenden Tysons übereinstimme; vgl. MONBODDO, Antient Metaphysics, Bd. III, 44.
4.5. Das Ende der Naturgeschichte der Wilden Kinder
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4.5. DAS ENDE DER NATURGESCHICHTE DER WILDEN KINDER Mit Schreber und Zimmermann hatte sich in Deutschland eine skeptische Sichtweise auf die Wilden Kinder ergeben. Allerdings: Schreber blieb ganz der naturgeschichtlichen Argumentation verhaftet, besser belegte Fälle – und ein solcher Stand mit Victor wenige Jahre später zu Verfügung – hatten das Potenzial, seine Argumentation auszuhebeln. Zimmermann griff in seiner Kritik der Vierfüßigkeit zwar bereits betont auf physiologisch-anatomische Kriterien zurück, wollte jedoch nicht von der prinzipiellen exemplarischen Bedeutsamkeit der Fälle lassen – wenn auch nun gegen die Idee eines depravierten Naturzustands gerichtet. Der Schlag, der die Wilden Kinder zumindest für geraume Zeit aus der wissenschaftlichen Theoriebildung entfernte, kam denn auch von anderer Seite: der reformierten Anthropologie Blumenbachs. Parallel sahen sich Phrenologie und Psychologie berufen, Maßband und Schädelzwinge zum Beweismittel zu erheben: Mit den Wilden Kindern sollte bald das Denken einer ganzen Epoche als unwissenschaftlich abgetan werden. 4.5.1. Blumenbach: Die Rückweisung des Naturzustandes Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840), „fast zwei Menschenalter hindurch der thätigste und gefeiertste Naturforscher Deutschlands“562, muss als einer der bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit gelten.563 Nach Studium in Jena und 562 „Blumenbach (Biogr.), Johann Friedrich“, in: JOSEPH MEYER u.a. (Hg.), Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände […], Bd. 4, Hildburghausen 1845, 1228–1229; hier 1228. 563 Bedenkt man die eminente Bedeutung dieses Mannes für die Zeit zwischen 1775 und etwa 1830, ist die Forschungslage zu Blumenbach dürftig. Dass man nicht von einem weißen Fleck auf der historischen Landkarte reden muss, verdankt sich vor allem der Tätigkeit Doughertys, der für eine Reihe exzellenter Aufsätze verantwortlich ist. Vgl. etwa: FRANK WILLIAM PETER DOUGHERTY, Historical and Philosophical Reflections upon Anthropological Themes in German Letters from 1775 to 1795, in: DERS., Gesammelte Aufsätze, 31–43; DERS., The Naturalist’s Confrontation with the Great Apes in the Seventeenth and Eighteenth Centuries – A Study in Fact and Fancy, in: DERS., Gesammelte Aufsätze, 89–99; DERS., Der Begriff der Naturgeschichte nach J. F. Blumenbach anhand seiner Korrespondenz mit Jean-André DeLuc – Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte bei der Entdeckung der Geschichtlichkeit ihres Gegenstandes, in: DERS., Gesammelte Aufsätze, 148–159; DERS., Johann Friedrich Blumenbach und Samuel Thomas Soemmering – Eine Auseinandersetzung in anthropologischer Hinsicht?, in: DERS., Gesammelte Aufsätze, 160–175; DERS., Christoph Meiners und Johann Friedrich Blumenbach im Streit um den Begriff der Menschenrasse, in: DERS., Gesammelte Aufsätze, 176–190; DERS., Missing Link, Chain of Being, Ape and Man in the Enlightenment: The Argument of the Naturalists, in: CORBEY & THEUNISSEN, Ape, Man, Apeman, 63–70. Bedingt durch den unzeitigen Tod Doughertys dürfte auch die Fortführung des von diesem angestrebten Großprojekts, die Edierung der Korrespondenz Blumenbachs, mehr als fraglich sein. Immerhin liegt jedoch der erste Band vor: FRANK W. P. DOUGHERTY, The Correspondence of Johann Friedrich Blumenbach, Volume I: 1773–1782, Letters 1–230, revised, augmented and edited by NORBERT KLATT, Göttingen 2006. Erfreulich ist auch das Engagement ROGER BRISSONS, auf dessen Website eine Vielzahl von Schriften im Volltext verfügbar ist: ROGER
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Göttingen, wo er 1775 mit seiner Dissertationsschrift De generis humani varietati nativa564 promovierte, folgte bereits 1776 die Übernahme einer außerordentlichen Professur der Medizin, gleichzeitig wurde er Inspektor der unter seiner Aufsicht Weltruhm erlangenden Naturaliensammlung. 1778 trat er eine ordentliche Professur an, wurde zum großbritannischen Hofrat und später zum Obermedizinalrat ernannt. Zeit seines Lebens unterhielt Blumenbach ausgezeichnete Beziehungen zu naturwissenschaftlich interessierten Kreisen und dem Hochadel Englands. Bedenkt man die Quellenlage, ist es wahrscheinlich, dass ihn diese englischen Verbindungen auf jenen Fall stießen, der sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts fast in seiner Nachbarschaft ereignet hatte: Peter von Hameln. Überhaupt streckte der Göttinger Naturkundler und Physiologe seine Fühler nach allen Seiten aus, und MEYERS Großes Conversations-Lexikon vermerkt 1845, kurz nach seinem Tod: „Sein Fleiß war ebenso groß, wie sein Drang zur Vermehrung seiner gelehrten Apparate; er unterhielt mit fast allen bedeutendern Gelehrten […] eine lebhafte Korrespondenz und von allen Seiten strömten ihm Sendungen und Naturmerkwürdigkeiten zu.“565 Die wissenschaftliche Bedeutung Blumenbachs resultiert vorwiegend aus seinen Veröffentlichungen in den Bereichen der Physiologie und der vergleichenden Anatomie. Weite Verbreitung fanden neben der erwähnten Dissertationsschrift vor allem sein Handbuch der Naturgeschichte566, das zwischen 1780 und 1830 nicht weniger als zwölf Auflagen erlebte und die Beyträge zur Naturgeschichte; letztere enthalten im zweiten Teil auch das in diesem Kontext besonders zu berücksichtigende Vom HOMO sapiens ferus LINN. und namentlich vom Hamelschen Wilden Peter.567 Bis heute verbunden wird sein Name jedoch mit einer im Rückblick eher fragwürdige Errungenschaft: Auf Blumenbach geht, zumindest wirkungsgeschichtlich568, die Einteilung der Menschheit in fünf durch die Hautfarbe unterschiedene „Varietäten“ zurück569, ohne dass er jedoch – was ihm später
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BRISSON, Johann Friedrich Blumenbach, URL: http://www.humanismus.com/blumenbach/ works.htm. JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, De generis hvmani varietate nativa, Göttingen 1775; mehrere Neuauflagen und Übersetzungen. Hier wurde die überarbeitete, kommentierte und ins Deutsche übertragene Ausgabe Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte, Göttingen 1798 verwendet, die z. T. deutlich vom Urtext abweicht. „Blumenbach (Biogr.), Johann Friedrich“, in: MEYER, Conversations-Lexicon, Bd. 4, 1228. JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, Handbuch der Naturgeschichte, Göttingen 1779. JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, Beyträge zur Naturgeschichte, Zweyter Theil: Vom HOMO sapiens ferus LINN. und namentlich vom Hamelschen Wilden Peter, Göttingen 21811. Die Originalität dieses Ansatzes sollte man tatsächlich nicht überbewerten; sowohl Buffon als auch Linné kannten ja bereits verschiedene „Rassen“; vgl. auch WERNER CONZE & ANTJE SOMMER, „Rasse“, in OTTO BRUNNER, W. CONZE & R. KOSELLECK (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, 135–178; hier insbes. 137–150. Blumenbach benennt als solche die kaukasische, mongolische, äthiopische, amerikanische und malayische Varietät und expliziert: „Wiewohl zwischen dem reinen Weiß der Europäerin, und dem höchsten Schwarz der senegambischen Negerin die Hautfarbe der Menschen in zahllosen Nuancen zu spielen scheint: und keine von diesen weder allen Menschen eines und desselben Volkes gemein, noch irgend einem Volke so eigen ist, daß man sie nicht auch bis-
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immer wieder unterstellt wurde – postuliert hätte, diese Varietäten seien strikt voneinander abgekapselt.570 Ebenso fehlt bei ihm jeder rassenchauvinistische Ansatz; Blumenbachs Systematisierung atmet weit eher zurückhaltenden Relativismus und Toleranz, kombiniert mit einem so gerüttelten Maß an Selbstkritik, dass selbst die Eurozentrik des Systems weitgehend aufgehoben wird.571 Dass weilen bey andern, übrigens von diesen sehr verschiedenen, antreffen sollte; so scheinen doch im Allgemeinen alle Nationalverschiedenheiten der Farbe sehr bequem auf folgende fünf Hauptklassen zurückgeführt werden zu können.” BLUMENBACH, Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte, 94. 570 „So findet man […] keine Varietät in Farbe, Gesichtsbildung, oder Gestalt, so auffallend sie auch sey, die nicht mit andern Varietäten ihrer Art durch einen unmerklichen Uebergang so zusammenflösse, daß daraus deutlich erhellt, sie seyen alle blos relativ, und nur in Graden von einander unterschieden. Eben daher ist es nicht zu verwundern, wenn eine blos willkührliche Eintheilung dieser Varietäten Statt finden kann.“ Ebd., 203. 571 Insofern erscheint auch die Kritik, die WALTER DEMEL (Wie die Chinesen gelb wurden, in: Historische Zeitschrift, 255 (1992), 625–666) an Blumenbach äußert, etwas tendenziös, weil sie dessen Person letztlich nicht trifft und die mindestens ebenso engen Kontakte zum in diesem Kontext weitaus positiver besetzten Lichtenberg nicht erwähnt: „Was schließlich […] Blumenbach anbelangt, so zählte zu seinen Kollegen nicht nur der berühmte Historiker und Aufklärungspublizist Schlözer, der China ‚das dümmste Reich der Welt‘ nannte, sondern auch der Philosoph Christoph Meiners, der […] stolz […] verkündete, daß das Menschengeschlecht aus zwei Hauptstämmen bestehe, nämlich dem ursprünglichen weißen kaukasischen und dem ursprünglichen braunen mongolischen und ‚daß der letztere nicht nur viel schwächer von Cörper und Geist, sondern auch viel übler und tugendleerer als der Kaukasische sey.’“ Zwar betont auch Demel die Blumenbach eigene Vorsicht, will aber doch eine klare Wertung unterstellen, weil Blumenbach eine Urrasse annehme, von der die anderen „entartet wären“ (651). Man fragt sich allerdings, wie der natürlich noch präevolutionär denkende Monogenist Blumenbach sonst hätte verfahren sollen; über die verschiedensten Texte verstreut betont dieser zudem immer wieder die „Einheitlichkeit des Menschengeschlechts“ weit stärker als die seiner Meinung nach ohnehin willkürlichen Rasseunterteilungen, die eigentlich nur der intrasystematischen Konvenienz dienen. Dementsprechend spricht er in der Regel auch nicht von Entartung sondern von Ausartung, dies klar im Sinne von Diversifizierung: „Es giebt nur eine Gattung im Menschengeschlecht; und die Menschen aller Zeiten und aller Himmelsstriche können von Adam abstammen. Die Verschiedenheiten in Bildung und Farbe der menschlichen Körper werden blos durch Clima, Nahrung, Lebensart u. s. w. bewirkt; da der Mensch kein Privilegium hat, warum er nicht auch, wie jeder andere organisirte Körper, […] wie eine Taube oder wie eine Tulpe, ausarten sollte? […] Alle diese Verschiedenheiten fliessen so unvermerkt zusammen, daß sich eigentlich keine bestimmte Grenzen zwischen ihnen fest setzen lassen […].“ BLUMENBACH, Handbuch der Naturgeschichte, 62 f. Es scheint wenig wahrscheinlich, dass Blumenbach gerade auf den Vergleich mit Tulpen, deren Beurteilung völlig subjektiv-ästhetischen Kriterien unterworfen ist, zurückgegriffen hätte, um eine unterschiedliche Wertigkeit der Rassen zu implizieren; da hätte sicher der Vergleich zwischen Flachlandund Krüppelkiefer näher gelegen. Noch zweifelhafter wird die Unterstellung, dass Blumenbach bereits eine wertende Rassenhierarchie aufstellte, wenn man seine Bemerkungen zu den „Negern“ einbezieht: „Auch Gottes Ebenbild, wie FULLER sagt, wenn gleich aus Ebenholz gearbeitet. Man hat diess zuweilen bezweifeln und dagegen behaupten wollen, die Negern seyen in ihrem Körperbau specifisch von den übrigen Menschen verschieden und müssten diesen auch in der Anlage ihrer stumpferen Geistesfähigkeiten bey weiten nachstehen. Eigne Beobachtung, verglichen mit den Nachrichten glaubwürdiger präjudizloser Zeugen, haben mich aber längst vom Ungrund dieser doppelten Behauptung überführt. […] Ich kenne z. B.
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man seiner Rasseneinteilung einen solchen Chauvinismus in der Folge der 19. Jahrhunderts überstülpte, hätte Blumenbach aller Wahrscheinlichkeit nach empört. Überhaupt zeichnete sich der Göttinger Gelehrte durch sein Interesse an Systematik, sei es im Anlegen des oben bereits gewürdigten Naturalienkabinetts, sei es in seinen Schriften aus. Damit ist auch sein Verhältnis zur klassischen Naturgeschichte weitgehend vorbestimmt: Die Idee der scala naturae in ihrer im 18. Jahrhundert vorgenommenen extremen Ausprägung, nämlich daß alle erschaffene Wesen, vom vollkommensten bis zum Atom, vom Engel bis zum einfachsten Elemente, in einer ununterbrochnen Reihe, wie Glied an Glied in einer Kette, zusammenhingen; daß sie in Rücksicht ihrer Bildung und Eigenschaften stufenweise, aber doch so unmerklich auf einander folgten, daß durchaus keine andre, als eine sehr willkührliche, sehr imaginäre Abtheilung in Reiche oder Classen oder Ordnungen &c. bey ihnen statt finden könne […]“572,
weist Blumenbach zurück. Dies sei zwar eine schöne Allegorie auf die Vollkommenheit der Schöpfung, man gehe aber doch zu weit, wenn man glaube, dass sich der göttliche Plan auf ein solchermaßen simplifizierendes Muster reduzieren lasse. Vielmehr sei es eine schwache […] Behauptung, wenn man im Ernste annehmen wollte, daß auch Er bei der Schöpfung einen solchen allegorischen Plan befolgt, und die Vollkommenheit seiner großen Handlung darein gesetzt hätte, daß er seinen Creaturen alle ersinnliche Formen gäbe, und sie folglich vom obersten bis zum untersten ganz regelmässig stufenweis auf einander folgen liesse. Man würde lächeln, wenn jemand den Vorzug bey der Einrichtung eines Hauses darinn suchte, daß die Meublen darinne alle von verschiedner Gestalt und Größe wären, und sich auch, so wie die angebliche Kette der natürlichen Körper, unter eine gleiche Stufenfolge bringen liessen. […] Daß Gott in seiner Schöpfung keine Lücke gelassen hat, daß dieses unermeßliche Uhrwerk nirgends stockt, sondern im ununterbrochnen Gange, im beständigen Gleichgewicht erhalten wird, davon liegt der Grund wohl schwerlich darinne, weil der Orangoutang den Uebergang vom Menschen zum Affen machen, oder weil die Vögel durch die Fledermäuse mit den vierfüssigen Thiern, und durch die fliegenden Fische mit den Fischen verbunden seyn sollen: sondern weil jedes der erschaffne Wesen seine Bestimmung, und den zu dieser Bestimmung erforderlichen Körperbau hat; weil kein zweckloses Geschöpf existirt, was nicht auch seinen Beytrag zur Vollkommenheit des Ganzen gäbe. […] Kette der Natur, die suchen wir nicht in der gradativen Bildung ihrer Körper, die suchen wir nicht darinn, daß der eine, Thier und Pflanze, und ein andrer Pflanze und Stein verknüpfen soll; sondern in den keinen einzigen auszeichnenden körperlichen Charakter der den Negern eigenthümlich wäre und sich nicht auch bey manchen andern noch so entfernten Völkerschaften finden sollte […].“ Ebd., 85 f. Ebenso hatte Blumenbach Gelegenheit, sich durch persönliche Kontakte dessen zu versichern, „was so viele unverdächtige Zeugen von den guten Geistesanlagen und Fähigkeiten dieser unsrer schwarzen Brüder versichern, als worin sie so gut wie in der natürlichen Gutherzigkeit schwerlich einer andern Spielart im Menschengeschlechte im Ganzen genommen nachstehen. Ich sage sehr bedächtlich im Ganzen genommen, und natürliche Gutherzigkeit, die nemlich nicht auf dem Transportschiff und in den Westindischen Zuckerplantagen durch die viehische Brutalität ihrer weissen Henker so betäubt oder erstickt worden, dass diese weissen Henker, so wie ohne Herz so auch obendrein ohne Kopf seyn müssten, wenn sie bey einer solchen Behandlung noch Treue und Liebe von diesen Sclaven verlangen wollten […].“ Ebd., 90 f. 572 BLUMENBACH, Handbuch der Naturgeschichte, 10 f.
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angewiesenen Geschäften der Glieder dieser Kette, wie Glied und Glied nicht nach ihrer Form, sondern nach ihrer Bestimmung in einander greifen u.s.w. Bey dem ewigen Cirkel von unermeßlich weiser Einrichtung, da die Pflanzen ihre Nahrung aus der Erde ziehn, und nachher Menschen und Thiern, und ein Thier dem andern, zur Nahrung dienen, und da am Ende Menschen und Thiere und Pflanzen wieder zur Erde werden; bey diesem großen Cirkel braucht die Vernunft keine Verbindungsglieder vorauszusetzen, da diese Geschöpfe so verschiedner Art in Rücksicht ihrer Bildung verknüpfen müßte; so wie uns auch die Erfahrung bis jetzt noch keine natürliche Körper kennen gelehrt hat, die mit Recht auf den Namen solcher Bindungsglieder zwischen den drey Naturreichen Anspruch machen dürften.573
Für Blumenbach war demnach die Physiologie notwendige Folge der Bestimmung. Die drei Reiche der Natur existierten real, und auch die Gattungsgrenzen widersprachen nicht der Idee der Vollkommenheit der Schöpfung. All dies waren deutliche Abwendungen von der nominalistischen Konzeption Buffons, was wiederum mit der Taxonomie Linnés korrespondierte. Blumenbach versuchte jedoch, diese zu verbessern: Er wollte zu einer natürlicheren Systematik des Pflanzen- und Tierreiches zu gelangen.574 Während Linnés künstliches System nur einem einzigen Merkmal – den Sexualorganen der Pflanzen, den Zähnen der Säugetiere - taxonomische Bedeutung zusprach, wollte Blumenbach eine Kombination mehrerer Merkmale zugrunde legen, welche die Wirklichkeit seiner Meinung nach besser wiederspiegelte.575 Insbesondere Linnés Klassifikationsmerkmal für Säugetiere, die Zähne, hinterließ bei dem Göttinger Gelehrten ein ungutes Gefühl, stieß er bei Durchsicht des Systema naturae doch „bald auf die unnatürlichsten Trennungen, bald auf die sonderbarsten Verbindungen […]. Das Geschlecht der Fledermäuse muß […] wenigstens in drey verschiedene Ordnungen zerstückt werden; der Elephant kommt mit den Panzerthieren, und den formosani573 Ebd., 12 ff. 574 Angedeutet hatte sich dieses Unterfangen bereits in seiner Dissertationsschrift: „Dem unsterblichen Linné bleibt auch dies Verdienst, daß er […] der erste gewesen […] welcher die Menschengattung nach den äußern Kennzeichen unter gewisse Varietäten zu bringen sich bemüht hat; und dies zwar nach der Kenntnis der damals nur bekannten vier Theile unsers Erdwasserballs und deren Bewohner, ziemlich adäquat. […] Ja sogar im Allgemeinen achtete ich es für […] vortheilhaft, Linnées Methode, die Säugthiere nach dem Verhältnis der Zähne zu ordnen, welche ebenfalls zu der Zeit, wo er sie aufstellte, tauglich genug war, aber jetzt, nachdem so viele und so wichtige neue Gattungen dieser Ordnung entdeckt worden sind, sehr mangelhaft ist, und ungeheuer viel Ausnahmen erfordern würde, zu verlassen, und statt jenes künstlichen Systems, ein natürlicheres von dem ganzen Habitus der Säugthiere hergenommenes, aufzustellen.” Ebd., XVII f. 575 Ohne jedoch tatsächlich eine „natürliche“ Systematik, wie sie JUSSIEU für die Botanik entwickelte, adaptieren zu wollen; vgl. ANTOINE-LAURENT DE JUSSIEU, Genera Plantarum [1789], ND Weinheim 1964. Der Streit um das „richtige“ biologische System durchzieht, wie oben bereits umrissen wurde, das gesamte 18. Jahrhundert. Aus heutiger Perspektive ist allerdings an vielen Stellen kaum mehr nachvollziehbar, warum die Debatte mit einer solchen Erbitterung geführt wurde, denn in „der vorphylogenetischen Taxonomie unterscheiden sich die ‚künstlichen‘ Methoden nach Linné und die ‚natürlichen‘ nach Jussieu durch die Anzahl der für die höheren taxonomischen Kategorien […] verwendeten Merkmalskomplexe, waren aber nicht prinzipiell gegensätzlich; bei beiden rechnete man mit konstanten und diskreten Arten, beide führten zu einem hierarchisch-enkaptischen System mit gleichrangigen Taxa.“; JAHN, Grundzüge der Biologiegeschichte, 210.
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schen Teufeln; der Igel aber und der Maulwurf mit den Löwen und Tigern in eine gemeinschaftliche Ordnung.“576 Blumenbachs System abstrahiert daher nicht auf ein einzelnes Kriterium, sondern „auf alle äußere Merkmale zugleich, auf den ganzen Habitus der Thiere […]. So sind Thiere die in neunzehn Stücke einander ähnelten, und nur im zwanzigsten differirten, doch zusammengeordnet worden […]“.577 In der Klasse der Säugethiere entstanden so zwölf Ordnungen, deren erste exklusiv dem Mensch vorbehalten blieb, während sämtliche Affen eine zweite Ordnung bildeten, was man mit Blick auf das Systema Naturae wohl als Rückschritt werten muss.578 Zwar bleibt der Mensch Säugetier, aber der Eklat, den dessen Zuweisung in eine Ordnung mit den Affen und sogar dem Faultier ausgelöst hatte, wird hier vermieden: I. Ord. Inermis. Der Mensch mit zwey Händen. Inermis hier in besonderem Sinne genommen, um Mangel angebohrner Waffen, Kunsttriebe, Bedeckungen, kurz alles dessen zu bezeichnen, wofür den Menschen Vernunft schadlos hält. II. Pitheci. Thiere mit vier Händen. Affen, Paviane, Meerkatzen, und Lemur.579
Eine weitere Untergliederung der ersten Ordnung ist eigentlich überflüssig, denn es existiert nur ein Geschlecht (homo) mit einer Gattung (sapiens). Dem Geschlecht zugeordnet finden sich vier Attribute: „Animal rationale, loquens, erectum, bimanum.“580 Schon die Nomenklatur macht Blumenbachs Marschrichtung überdeutlich. Der Mensch ist inermis, seine Spezifität besteht in seiner Natur als Mängelwesen: Mängel, die durch Vernunft und Anpassungsfähigkeit kompensiert werden. Allein diese „so merkwürdige Eigenschaften des Geistes und des Kör-
576 BLUMENBACH, Handbuch der Naturgeschichte, 56. 577 Ebd., 57. In der 12. Ausgabe des Handbuchs der Naturgeschichte (Göttingen 1830, 51) taucht der Begriff „Totalhabitus“ auf, wird aber von Blumenbach noch im selben Satz relativiert: „Ich habe daher ein im ganzen natürlicheres System der Säugethire zu entwerfen getrachtet, wobei ich mehr auf den Totalhabitus dieser Thiere gesehen, doch vorzüglich die Bewegungswerkzeuge, weil sie am leichtesten in die Augen fallen und dem Totalhabitus sehr angemessen sind, zum Grund der Ordnungen gelegt […].“ Der Ansatz wurde damit von Beginn an nicht konsequent durchgehalten und führte zu mehreren „gänzlich verfehlten“ Ordnungen; vgl. OSCAR SCHMIDT, „Blumenbach: Joh. Friedrich“, in: ADB, Bd. 2, 748–51; hier 750. 578 Gleichzeitig reagierte Blumenbach damit aber auf gegen Linné vorgebrachte Kritiken, wie sie etwa Diderot geäußert hatte. Dieser beschreibt in den Gedanken zur Interpretation der Natur zunächst den klassifikatorischen Weg bis zur Einordnung des Menschen unter die Vierfüßer, der ihm einsichtig scheint; dann jedoch folgt: „‚Allerdings’, fährt unser Methodiker [Linné; H. B.] fort, ‚konnte ich auf Grund meiner naturgeschichtlichen Prinzipien den Menschen niemals vom Affen unterscheiden; denn es gibt gewisse Affen, die weniger behaart sind als gewisse Menschen. Diese Affen gehen auf zwei Füßen und gebrauchen ihre Füße und ihre Hände wie die Menschen. Übrigens ist die Sprache für mich kein Unterscheidungsmerkmal; ich anerkenne gemäß meiner Methode nur Merkmale, die von der Zahl, der Gestalt, der Proportion und der Stellung abhängen.‘ – ‚Also ist ihre Methode falsch‘, sagt die Logik. – ‚Also ist der Mensch ein Tier mit vier Füßen‘, sagt der Naturforscher.“ DENIS DIDEROT, Gedanken zur Interpretation der Natur (1754), in: DERS., Philosophische Schriften, Erster Band, 454; zit. n. LEPENIES, Naturgeschichte und Anthropologie, 32. 579 BLUMENBACH, Handbuch der Naturgeschichte, 56. 580 Ebd.
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pers“581 rechtfertigen schon die Zuweisung in eine eigene Ordnung. Hinzu kommt – Blumenbachs System hat schließlich den Anspruch, ein natürlicheres zu sein – die Bimanität, und eben nicht die Bipedität, womit der Fokus neben dem ebenfalls postulierten aufrechten Gang auf die Hände als Werkzeuge des Menschen gelegt wird. Die Liste der offensichtlichen Mängel dieses Geschöpfs ist lang. Hat der Mensch schon wenig Instinkt, so fehlen jene Eigenschaften, die Blumenbach als Kunsttriebe bezeichnet, völlig.582 Der Mensch kann nicht, „wie tausend andere Thiere, ohne Unterricht und ohne Nachsinnen, aus blossem innerem Drange, Wohnungen, Netze für seinen Raub u. s. w. verfertigen“583. Er ist ein „wehrloses, hülfbedürftiges Geschöpf“, seine exorbitant lange Kindheitsphase hat in der Natur keine Parallelen, das Fehlen etwa eines Felles als Schutz vor Nässe und Kälte scheint so selbstverständlich, dass es gar nicht mehr expressis verbis erwähnt werden muss.584 All dies wird jedoch durch die Vernunft, alleiniges Gut des Menschen und göttliches Geschenk, mehr als kompensiert. Erst diese macht es möglich, dass der Mensch „seine endlosen Bedürfnisse passender befriedigen kann, als wenn er selbst die Kunsttriebe mehrerer Thiere in sich vereinte.“585 Eine direkte Folge der Vernunft, und damit wieder Exklusivgabe des Menschen, ist die Sprache (loquela), die man nicht mit der Stimme (vox) verwechseln darf. Letztere ist Gemeingut von Tier und Mensch, die „Sprache aber entwickelt sich erst mit der Vernunft, da denn die Seele ihre erlangten Begriffe, der Zunge zum Aussprechen überträgt.“586 Vernunft und Sprache sind sichere Kennzeichen des Menschen, und es „[…] giebt eben so wenig ein sprachloses, als ein vernunftloses Volk auf unserer Erde“587. Die Sprache ist ebenso ein unerlässliches soziales Werkzeug, denn die vielfachen Bedürfnisse machen den Menschen notgedrungen zu einem „geselligen Thiere“. Begabt mit Vernunft und Sprache und aufgehoben in der Gesellschaft erreicht der 581 Ebd., 60. 582 Blumenbach unterscheidet bei Tieren zwischen Instinkten und Kunsttrieben. Als Instinkte fasst er die „angebohrnen natuerlichen Triebe, nach welchen sie viele zweckmaeßige Handlungen ganz maschinenmaeßig, ohne Anweisung, sondern blos aus innerm eigenen Drange verrichten muessen.“ Ebd., 39. Diese Instinkte sind ungemein weitsichtig eingerichtet und erhalten die Balance der gesamten Schöpfung. Man stelle sich vor, die „Erde koennte fuer die Elephanten zu klein, und das Menschengeschlecht gegen die Löwen zu schwach werden, wenn diese grossen und fuerchterlichen Thiere den unersaettlichen Liebestrieb der Caninchen oder Meerschweinchen besaessen.“ Ebd., 39 f. Unterweisung irgendeiner Art ist hier nicht im Spiel, wie die jungen Zugvögel zeigen, die ihren Weg allein finden. Die Kunsttriebe nehmen einen gesonderten Platz ein. Hierunter werden komplexe Fähigkeiten verschiedener Arten gefasst, beispielsweise die Baukunst des Bibers, der Bienen oder einiger Vögel; dass hier ein Instinkt vorliegt, lässt sich aber durch die intraspezielle Uniformität dieser Bauten beweisen. Vgl. ebd., 41. 583 Ebd. 584 Ebd. 62. 585 Ebd., 60. 586 Ebd., 61. 587 Ebd.
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Mensch eine nicht zu überbietende Anpassungsfähigkeit, er „bewohnt die ganze Erde und nährt sich beynahe von der ganzen organisierten Schöpfung.“588 Es wäre überraschend, wenn sich der eifrige Physiologe Blumenbach mit diesem intellektuell-seelischen Differenzkriterium der Vernunft zufrieden geben würde, ließ es doch einer subjektiven Beurteilung – wo beginnt, wo endet diese? – einen weiten Raum und erschwerte so absehbar eine sichere, d. h. objektivierbare, Zuweisung. Es ist insofern folgerichtig, dass Vernunft und Sprache rein körperliche Merkmale an die Seite gestellt werden. So gehört zu den körperlichen Eigenschaften des Menschen „vorzüglich sein aufrechter Gang und der Gebrauch zweyer Hände“, was den Vorteil hatte, dass „er, unserem Bedünken nach, selbst vom Menschenähnlichsten Affen zu unterscheiden ist […]“589; letzteren wird dagegen Quadrumanität zugeschrieben. Blumenbach ist weit davon entfernt, dem von ihm erfassten System rein natürliche Ursachen zugrunde zu legen, was wiederum die Eröffnung einer eigenen, und stringenterweise der ersten Ordnung, für den Menschen auch als religiösmoralisch geboten erscheinen lässt. So lässt sich die Vernunft nur durch einen Schöpfer erklären; ebenso zeugt aber die weibliche Anatomie davon, dass der Mensch moralischen Prämissen unterworfen ist, die sich klar aus der Physiologie ableiten lassen und damit einen fast naturgesetzlichen Charakter erhalten. Nur so lässt sich ein gewisses „körperliches Kennzeichen der unverletzten jungfräulichen Unschuld, was blos seinen sittlichen Nutzen hat, und folglich für andre Thier ein zweckloser Theil seyn würde“590, erklären. Folgerichtig deklariert Blumenbach denn auch im weiteren Verlauf die Monogamie zur natürlichen Bestimmung des Menschen. An die Seite des physiologischen Kriteriums der Zweihändigkeit und der intellektuellen Vernunftkapazität tritt insofern auch noch die Sittlichkeit, die den Menschen von allen Tieren unterscheidet. Linné hatte diese dem Menschen innewohnende metaphysische Qualität zwar persönlich für gegeben gehalten, als Naturalist aber aus seinem System ganz ausgeklammert. Trotz seiner Sonderstellung bleibt der Mensch jedoch auch den vielfältigen Einflüssen der Natur unterworfen, und so erklären sich, obwohl es „nur eine Gattung im Menschengeschlecht“591 gibt, die feststellbaren Unterschiede, die schließlich zu den bereits erwähnten Varietäten führen. Dies allerdings, ist sich Blumenbach sicher, innerhalb so enger Grenzen, dass eine große Anzahl der überlieferten Reiseberichte falsch sein muss. Daher sind die „Patagonischen Riesen, von Magelhans Zeiten bis auf die unsrigen, in den Erzählungen der Reisenden, von zwölf Fus zu sechs bis siebenthalb eingekrochen“, während „Quimos und andre Zwergnationen […] in dem Maas wachsen, wie die Patagonen an Länge abgenommen haben.“ Voltaires „Kackerlacken, Blafards, Albinos oder weiße Mohren“: nicht einmal eine „besondre Gattung“, sondern schlicht patholo588 Ebd., 62. 589 Ebd. 590 Ebd., 61. Dass das gesamte System – letztlich wie bei Buffon – in Bezug auf seine Spitze, den Menschen, gedacht werden muss, verdeutlicht auch Blumenbachs VII. Ordnung der ferae, „[…] reissende Thiere, die Menschen [!] anfallen […].“ 591 Edb., 62.
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gische Fälle, während man Wunderwesen wie „[g]eschwänzte Völker, von Natur geschürzte Hottentottinnen […], Syrenen, Centauren […] der gutherzigen Leichtgläubigkeit unserer lieben Alten“ verzeihen sollte.592 Nein, Blumenbachs Skeptik vertrug sich nicht mit der Naturgeschichte alten Zuschnitts, wenn auch sein flüssiger, vor ironischen Randbemerkungen nie zurückscheuender Stil den Einfluss Buffons nicht verbergen konnte. In der natürlichen Ordnung, die gleichzeitig eine göttliche ist, bilden die diskreten Ordnungen feste Rahmen, innerhalb derer Modifikationen zwar in begrenztem Maß möglich sind, nicht aber die zugrunde gelegten Basiskriterien gefährden dürfen. Die Linnésche Maxime der Konstanz der Arten wird in Blumenbachs Denken zwar zumindest partiell in Frage gestellt: Er ist überzeugt, dass durch künstliche Bastardierung, zumindest im Pflanzenreich, „eine Gattung so vollkommen in eine andere verwandelt und umgeschaffen“ werden könne, „daß sie nicht eine Spur von ihrer angestammten Bildung und Unterscheidungszeichen“ übrig behielte.593 Eine solche Transformation ist jedoch nur auf erblichem Weg, und selbst hier wohl nur unter Steuerung von außen, möglich und benötigt damit einen längeren Zeitraum: eine Vorstellung, die im Einklang mit der von Blumenbach vertretenen Zeugungstheorie steht und diese im Umkehrschluss bestätigte. Denn Blumenbach war einer der entschiedensten Vertreter der epigenetischen Embryologie.594 Im Gegensatz zu den Präformisten, die davon ausgingen, dass das Sperma (Animalkulisten) oder das Ei (Ovulisten) bereits vollständig gebildete – eben präformierte – Wesen enthielt, vertrat er die These, dass sich die beiden unformierten Substanzen mischten und sich das Lebewesen erst nach und nach bildete.595 Er verband diese Theorie im Sinne des Vitalismus mit der Forderung nach einem in allen organisierten Wesen tätigen Bildungstrieb, dem nisus formativus.596 Kreuzungsversuche zeigten nun jedoch seit langem, dass man die männlichen und weiblichen Substanzen nicht beliebig mischen konnte, was den Präformisten lange Zeit als Beweismaterial gedient hatte. Um eine Gattung tatsächlich 592 Ebd., 64. Eine genauere Diskussion („Fabelhafte Verschiedenheiten im Menschengeschlechte“) findet sich in BLUMENBACH, Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte, 190 ff. 593 JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, Göttingen 1781, 61. Im Hintergrund stehen hier die wiederholten Rückkreuzungen fertiler Bastarde, die Kölreuter mit Nicotiana rustica und Nicotiana paniculata unternommen hatte, vgl. auch VITESZLAV OREL, Heredity before Mendel, in: Mendelweb, URL: http://www.mendelweb.org/archive/MWorel.txt. 594 Zentrale Schrift ist hier JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, Ueber den Bildungstrieb (Nisus formativus) und seinen Einfluß auf die Generation und Reproduction, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, 1. Jg., 5.St. (1780), 247–266. 595 vgl. JAHN, Grundzüge der Biologiegeschichte, 213 ff. 596 Dies sei ein „lebenslang würksamer Trieb”, der alle belebten Geschöpfe dazu treibe, „ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie ja zerstört worden, wo möglich wieder herzustellen. Ein Trieb, […] der sowol von den allgemeinen Eigenschaften der Körper überhaupt, als auch von den übrigen eigenthümlichen Kräften der organisirten Körper ins besondre, gänzlich verschieden ist […].“ BLUMENBACH, Ueber den Bildungstrieb, 249 f.
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in eine andere umzuwandeln, wie oben in Aussicht gestellt, musste man also schrittweise vorgehen, und dies war eigentlich nur durch planmäßiges Vorgehen unter der Ägide der menschlichen Vernunft, also als kulturell überformter Vorgang denkbar.597 Anders sah die Sache, die Menschenrassen wurden ja bereits angesprochen, bei den innerhalb einer Gattung auftretenden und viel weniger wesentlichen Spielarten aus598: eine, wie Blumenbach betont, letztlich vollkommen willkürliche und künstliche Kategorisierung des Kontinuums individueller Varianzen. Dementsprechend müsse „derjenige Physiolog oder Naturforscher wohl noch gebohren werden […], der im Stande sein könnte, eine bestimmte Gränze zwischen diesen Nüancen und folglich selbst zwischen ihren Extremen festzusetzen.“599 Die Entwicklung verschiedener Racen – es ist zu betonen, dass die Gattungsgrenzen hier nicht überschritten werden! – konnte für Blumenbach damit auf vielfältige, nicht nur natürliche, sondern auch kulturelle Einflüsse zurückgeführt werden, was der komparative Anatom auch sogleich durch einen augenzwinkernden, nichtsdestotrotz aber die Grundkonstanten seines Denkens erhellenden Vergleich zwischen Menschen- und Schweinerassen belegte.600 An anderer Stelle findet sich bei Blumenbach die Vermutung, dass „Künsteleyen oder zufällige Verstümmelungen am thierischen Körper, besonders wenn sie 597 Es ist nochmals zu betonen, dass Blumenbach es für wenig wahrscheinlich hielt, dass die gesamte Schöpfung konstant sei. Das Aussterben oder die Neuentstehung einer Gattung gefährdeten für ihn nicht die göttliche Ordnung: „[Die Natur] fällt nicht zusammen, wenn gleich eine Gattung von Geschöpfen ausstürbe oder eine andere neu erzeugt würde, – und es ist mehr als blos wahrscheinlich daß beides auch wirklich schon wohl eher erfolgt ist, – und dies alles ohne die mindeste Gefährde weder für die Ordnung in der physischen noch in der moralischen Welt, noch für die ganze Religion“; BLUMENBACH, Beyträge zur Naturgeschichte, Bd. 1, Göttingen 1790, 5 f. Als Beispiele für ausgestorbene Tierarten erwähnt Blumenbach bereits den „Dudu“, und auch die Wölfe existierten in Schottland nicht mehr; ebd., 29. Tatsächlich hatten ihn vor allem seine geologischen Interessen zu der Meinung geführt, „daß schon einmal nicht blos eine oder die andere Gattung, sondern eine ganze organisirte präadamitische Schöpfung auf unserem Erdboden untergegangen ist“; ebd., 6. Der genaue Ablauf sei noch zu eruieren, aber wahrscheinlich sei, „daß die Wirkung von unterirdischem Feuer, einem mehr oder weniger allgemeinen Erdenbrande, einen Hauptantheil daran gehabt haben müsse […]“; ebd., 16. 598 Die Terminologie schwankt hier, häufig wird auf das von Buffon genutzte race zurückgegriffen, obwohl Blumenbach die Begriffe eigentlich geschieden wissen möchte. Beide bezeichnen zwar zunächst „diejenigen Abweichungen von der ursprünglichen specifiken [!] Gestaltung der einzelnen Gattungen organisirter Körper, so diese durch die allmähliche Ausartung oder Degeneration erlitten haben. Rasse heißt aber im genauern Sinne ein solcher durch die Degeneration entstandener Charakter, der durch die Fortpflanzung unausbleiblich und notwendig forterbt, wie z. B. wenn Weiße mit den Negern Mulatten […] zeugen: welches hingegen bei den Spielarten keine nothwendige Folge ist; wie z. B. wenn blauäugige Blonde mit braunäugigen Brünetten Kinder zeugen.“ BLUMENBACH, Handbuch der Naturgeschichte, Göttingen 121830, 21 f. 599 JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, Über Menschen-Racen und Schweine-Racen, in: Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte, 6. Bd., 1. St. (1789), 1–13, hier 2. 600 Ebd; vgl auch K. F .H. MARX, Life of Blumenbach, in: THOMAS BENDYSHE (Hrsg.), The anthropological Treatises of Johann Friedrich Blumenbach, London 1865, 3–45; hier 9.
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durch ganze Reihen von Generationen wiederholt werden, mit der Zeit zum erblichen Schlag ausarten, und dann von Natur angeboren werden […] können“.601 Auch dies hängt mit dem Bildungstrieb zusammen, auf den sich äußerliche Modifikationen auswirken konnten, und Blumenbach führt Beispiele sowohl für Tiere – etwa Buffons Versicherung, „Hunde gesehen zu haben, denen man seit mehreren Generationen Schwanz und Ohren gestutzt hatte, und die nun diesen Mangel gänzlich oder doch zum Theil auf ihre Nachkommenschaft forterbten“602 – als auch für Menschen an. Für letztere greift er auf antike Überlieferungen, aber auch auf neuere Berichte zurück. So habe ihm der „seel. Hofrath Osann“ voller Verwunderung einen Fall aus seiner Nachbarschaft berichtet, bei dem einem „Vater […] in Jugendjahren der kleine Finger der rechten Hand zerhauen und krumm geheilt worden [sey]: und nun hätten seine Söhne und Töchter sämmtlich vom Mutterleibe an den kleinen Finger krummstehend.“ Blumenbachs Reaktion: „Ich habe nach der Hand den Vater und eine seiner Töchter selbst kennen gelernt, und die völlige Richtigkeit dieser Nachricht an beyden bestätigt gefunden.“603 Ja, Blumenbachs Skeptik relativierte sich deutlich, wenn es um den Beleg eigener Theorien ging; hier griff er dann doch wieder auf naturgeschichtliche Belegmuster zurück. Obwohl beide prinzipiell möglich sind, trennt Blumenbach also scharf zwischen intraspezifischen Varianzen – den Racen – und der gattungsüberschreitenden Transformation von Lebewesen. Erstere ist häufig, auf verschiedenste natürliche und kulturelle Ursachen zurückzuführen, empirisch leicht nachweisbar und berührt die wesenhaften Kriterien der Gattung nicht. Sie ist ein mehr oder weniger willkürliches Konstrukt, welches das realiter existierende Kontinuum rein nominell in leichter zu fassende Gruppierungen unterteilt und damit die wissenschaftliche Auseinandersetzung erleichtert; der Begriff „Idealtypen“, den etwa Demel verwendet, geht daher vielleicht schon zu weit.604 Dagegen ist letztere zwar prinzipiell möglich, kann aber kaum spontan auftreten, weil sie auf nur langfristig zu denkenden Erbgängen beruht – sie ist eigentlich nur eine aus der epigenetischen Theorie deduzierte Randerscheinung, die Kreuzungsversuche mit Pflanzen zu bestätigen schienen. Ein Überschreiten der Ordnungsgrenzen schließlich, die unmittelbar unterhalb der Klassen und damit an zweiter Stelle der Blumenbachschen Hierarchie angeordnet sind, wird an keinem Ort angesprochen. Sie sind innerhalb dieses Denkgebäudes zwar nicht prinzipiell, wohl aber praktisch unmöglich, da sich die schon bei der gattungsüberschreitenden Transformation geltenden Einwände potenzieren würden.605 601 JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, Über Künsteleyen oder zufällige Verstümmelungen am thierischen Körper, die mit der Zeit zum erblichen Schlag ausgeartet, in: Magazin für das Neueste aus Physik und Naturgeschichte, 6. Bd., 1. St. (1789), 13–23, hier 14. 602 Ebd., 21. 603 Ebd., 22. 604 Vgl. DEMEL, Wie die Chinesen gelb wurden, 650 605 Besonders unwahrscheinlich erscheint dies im Tierreich, und so bemerkt Blumenbach, dass „wenigstens unter den rothblütigen Thieren, in ihrem freien Natur-Zustande, meines Wissens niemals eine Paarung und Vermischung unter zweyerlei Gattungen bemerkt worden“; zudem
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Folgerichtig mochte Blumenbach das eigentliche Wesen der Ordnungen keinesfalls aus deren marginalen Regionen oder – ohnehin eher theoretischen – Schnittzonen, und schon gar nicht aus pathologischen Missbildungen erschließen, sondern aus deren Zentrum. Endgültig inakzeptabel musste es für sein System, das zumindest er selbst erklärtermaßen für ein natürlicheres hielt, jedoch sein, dass den Ordnungen Wesen zugeteilt wurden, die die gegebenen Kriterien nicht oder nur bedingt erfüllten – was für den Menschen, wie gesagt, Vernunft/Sprache, Bimanität und Moralität einschloss. Linnés Systematik hatte dagegen, wie wir gesehen haben, die seltsame Blüte getrieben, einen homo sapiens ferus zu postulieren, und diesen auch noch mit den Kennzeichen tetrapus, mutus und hirsutus zu versehen – für den Schweden in systematischer Hinsicht kein Widerspruch, da in dessen künstlichem System eben die Schneidezähne zum alleinigen Distinktionskriterium unter den Säugetieren erhoben worden waren. Hätte Blumenbach die Idee, dass einige Menschen möglicherweise aufgrund klimatischer Einflüsse behaart waren, noch hinnehmen können, galt dies nicht für die Forderung nach Vierfüßigkeit und Stummheit, die seine Kriterien schlichtweg ausgehebelt und zudem seinen Anspruch auf Natürlichkeit ad absurdum geführt hätten. Hier wären nicht nur Gattungs-, sondern Ordnungsgrenzen606 – wohl am ehesten hin zu den Pitheci – überschritten worden, ohne dass ein hinreichend langer Zeitraum eine solche Transformation hereditär überhaupt denkbar gemacht hätte. So bleibt nur eine Konsequenz: Gibt es wirklich Menschen, die diese Attribute zeigen, muss es sich, ebenso wie beim weißen Mohren, um pathologische Fehlformationen des nisus formativus handeln, und so schließt Blumenbach: Die in Wildnis unter Thieren erwachsenen Kinder sind klägliche sittliche Monster, die man eben so wenig als die Cretins oder andre durch Krankheit oder Zufall entstellte Menschen, zum Muster des Meisterstücks der Schöpfung anführen darf.607
Das Interesse, das Blumenbach dem „Hamelschen wilden Peter“ entgegenbringt, speist sich also wohl zumindest zum Teil aus der Besorgnis, dass ein homo ferus, wie er von Linné beschrieben worden war, seine eigene Taxonomie zum Kollaps sind die Nachkommen, wenn solche Kreuzungen geplant vorgenommen werden, wie bei Pferd und Esel, meist steril. Nur bei „den Pflanzen gelingt es leichter, daß durch künstliche Befruchtung verschiedener Gattungen Bastarde hervorgebracht werden […]. Hingegen bedürfen die fabelhaften Sagen von vermeynten Bastarden aus der Vermischung von Rindvieh und Pferden oder Eseln, und von Caninchen und Hühnern, oder vollends gar von Menschen und Vieh, jetzt hoffentlich keiner weiteren Widerlegung.“ BLUMENBACH, Handbuch der Naturgeschichte, Göttingen 121830, 21.606 S. o.; die Ordnung Inermis verfügt nur über eine Gattung, homo sapiens, die Einführung einer zweiten Gattung hätte die Ordnungskriterien ad absurdum geführt. Als einziger Ausweg wäre dann die Reduktion der Kriterien verblieben, was noch katastrophalere Auswirkungen gezeitigt hätte, wäre das System dann doch wieder auf die „Künstlichkeit“ des Linnéschen heruntergebrochen worden. 606 S. o.; die Ordnung Inermis verfügt nur über eine Gattung, homo sapiens, die Einführung einer zweiten Gattung hätte die Ordnungskriterien ad absurdum geführt. Als einziger Ausweg wäre dann die Reduktion der Kriterien verblieben, was noch katastrophalere Auswirkungen gezeitigt hätte, wäre das System dann doch wieder auf die „Künstlichkeit“ des Linnéschen heruntergebrochen worden. 607 Ebd., 64.
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bringen könnte: Ein solches Wesen bedrohte massiv die mittels langer Überlegungen sozusagen „naturalisierte“ Klassifikation, zudem noch in der eminent wichtigen ersten Ordnung des „Meisterstücks der Schöpfung“.608 Zweitens gab es für ihn, der die scala naturae ablehnte, keine Notwendigkeit, irgendwelche Zwischenwesen aus dem Hut ziehen zu müssen. So gerät Vom Homo sapiens ferus Linn. und namentlich vom Hamelschen wilden Peter zu einer überaus quellenkritischen Darstellung und dient als „warnendes Beyspiel von der Ungewissheit menschlicher Zeugnisse und historischer Glaubwürdigkeit.“609 Peter Animalität zuzusprechen, war vollkommen inakzeptabel. Diesen Befund erhärtet im Umkehrschluss Blumenbachs Reaktion auf zeitgenössische Versuche, „Wilden“ die Humanität abzusprechen; ein Ansatz, der sein System, diesmal von der entgegengesetzten Seite, in Frage stellte, und von ihm dementsprechend einer ebenso harschen Kritik unterzogen wird.610 Blumenbach macht sich zunächst an eine recht genaue Schilderung des Falles. Er beschreibt das Auffinden des Jungen – bei ihm ein ganz und gar unspektakulärer Vorgang. Eine einzelne Person und ein Apfel als Lockmittel reichen aus, um Peter aus der Wildnis wieder in die Reichweite der Gesellschaft zu bringen. Von Gegenwehr ist nichts zu lesen; der Hameler Bürger Jürgen Meyer findet zur Zeit der Heuernte lediglich ein „nacktes, braungelbes schwarzhaariges Geschöpf das da herum lief, an Wuchs einem zwölfjährigen Buben glich, keinen menschlichen 608 Abgesehen davon bot sich für Blumenbach die Möglichkeit, sein System, das man bald nach Erscheinen wegen zu großer Nähe zum Systema Naturae kritisierte, deutlicher von seinem Vorbild abzusetzen. 609 MARX’ (Life of Blumenbach, 9) Ansicht, Blumenbach habe hier eine „unsurpassable description of the wild or savage Peter von Hameln“ geleistet, die den Naturzustand des Menschen eindringlich zeige, mutet daher merkwürdig an. Blumenbach war sehr viel weniger als andere, beispielsweise Defoe, an einer Deutung des Falles interessiert, sondern eher von dem Interesse beseelt, seine Bedeutung herunterzuspielen. 610 „Bekanntlich haben sich einige Sophisten unter andern Gründen, womit sie die Würde und die Vorzüge der Menschheit zu bestreiten gesucht, auch unter andern darauf bezogen, daß es noch jetzt ganze Völker von so eingeschränkten Geisteskräften gäbe, daß man manchen Thieren hierinn den Vorzug vor ihnen zugestehen müsse […]. [A]llein das auffallende des ersten Blicks verliert sich auch hier gar sehr bey einer nähern präjudizlosen Beleuchtung.“ Blumenbach bekämpft diese Ansicht in der Folge von beiden Seiten: Weder will er den Tieren mit Montaigne – selbiger war in Susa auf Ochsen gestoßen, die bis 100 zählen konnten – Vernunft zugestehen, noch dieselbe irgendwelchen Menschen – Condamine trifft „ein Volk am Amazonasflusse (die Pameos)“ welches „nicht über drey zählen kann“ – absprechen; vgl. JOHANN FRIEDRICH BLUMENBACH, Einige zerstreute Bemerkungen über die Fähigkeiten und Sitten der Wilden, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, 2. Jg., 6. St. (1782), 409–425; hier 411. Das Beispiel der Pameos wirft im übrigen einiges Licht darauf, wie auch von wissenschaftlicher Seite das begrenzte Material zur Untermauerung völlig unterschiedlicher Theorien angewandt wurde. Blumenbachs Kollege MEINERS nutzt es, um die großen Unterschiede zwischen den von ihm vermuteten Menschengattungen zu belegen und hält den Stamm für auf „fast derselbigen Stufe der Verwilderung“ stehend wie die Neuholländer, die „elendsten wie die häßlichsten Menschen auf der ganzen Erde“, „HalbMenschen“; vgl. CHRISTOPH MEINERS, Über den Stand der Natur, in: Göttingisches Historisches Magazin, Zweyter Band (1788), 697–713; hier 708 f.
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Laut von sich gab […]“611. Die verschiedenen Stationen der Unterbringung werden korrekt beschrieben, neu ist nur, dass Blumenbach den Oktober 1725 als Datum der Verlegung ins Hospital nach Zelle nennt. Dort befindet sich Peter auch, als Georg I. bei seinem Aufenthalt in Hannover von ihm hört und ihn zu sich bringen lässt. Bereits wenige Monate später ist er auf dem Weg nach England; und, so stellt Blumenbach fest, mit diesem Ortswechsel „begann auch seine nachher so verbreitete Celebrität […]“612. Denn die Ankunft des Jungen aus der Provinz habe bei Hofe, und darüber hinaus in der gesamten gelehrten Gesellschaft Londons, für Furore gesorgt: Sie traf in die Zeit, wo gerade der Streit über die Frage: ob es angebohrene Begriffe gebe, mit voller Lebendigkeit und respektive Hitze geführt ward. Und da schien Peter ein erwünschtes Subjekt zur Entscheidung derselben.613
Diese Einwände Blumenbachs gliedern sich in mehrere Ebenen: Die tatsächliche Herkunft Peters wird in Frage gestellt, der vorliegende Einzelfall einer detektivischen Kritik unterzogen. Weiterhin, und über diese vorwiegend praktischen Belange hinaus deutend, wirft Blumenbach die Frage auf, ob man überhaupt von einem solchen Kind, und sei es auch echt, die Klärung irgendwelcher anthropologischer Fragen erwarten könne. Seine Antwort wird am Ende der Abhandlung klar ausfallen: Nein, auch wenn man alle bekannten Fälle zusammennimmt, etwas Brauchbares über die Natur des Menschen können sie dem Betrachter nicht liefern. Nein, auch wenn man noch weitere dieser Kinder finden würde, würde das an ihrer Bedeutungslosigkeit nichts ändern. Zunächst jedoch zur betont sachlich gehaltenen Kritik der Fallgeschichte an sich. Schon Defoe hatte ja unmittelbar nach dem Auftauchen des Jungen in London seine Skepsis bezüglich der kursierenden Geschichten und Anekdoten geäußert.614 Blumenbach kommt nun zu dem – uns mittlerweile geläufigen – Schluss, dass der aufgefundene Knabe keineswegs wild gewesen sei, sondern der Sohn eines verwitwete[n] Krüger[s] zu Lüchtringen zwischen Holzminden und Höxter im Paderbornischen […], der sich schon 1723 ins Gehölz verloffen, zwar im folgenden Jahre einmal ganz abgegriffen wieder eingefunden, aber da der Vater indess zum zweytenmal geheirathet gehabt, von der neuen Stiefmutter in Kurzem wieder fortgeprügelt worden.615
Zur Unterstützung dieser These – die übrigens zwei zu Jahresanfang 1726 in der deutschen Presse umlaufende Erklärungen elegant verbindet – führt Blumenbach mehrere Indizien an: Erstens habe Peter, als er von Meyer gefunden wurde, „den kleinen Überrest eines abgerissenen Hemdes noch mit Bindfaden um den Hals
611 BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 14. 612 Ebd., 18. 613 Ebd. Mit dieser Verkürzung auf die Debatte um die idées innées wird Blumenbach der Realität, ob bewusst oder unbewusst, zwar nur bedingt gerecht, macht Peter aber damit von Beginn an zum Gegenstand eher philosophischer als naturkundlicher Leitfragen. 614 DEFOE, Mere Nature Delineated, iii und passim; vgl. Kap. 3.6. 615 BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 22.
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gebunden“616 getragen. Zweitens habe die auffallend hellere Hautfarbe seiner Oberschenkel darauf hingewiesen, dass der Junge zwar eine (kurze) Hose, aber keine Strümpfe getragen habe. Drittens sei die Abnormität seiner Zunge kurze Zeit nach seiner Ankunft in Hameln festgestellt, aber nicht behoben worden.617 Der Verdacht einer physischen Behinderung, die zu Stummheit führte, liegt also nahe. Zudem werden viertens einige Weserschiffer als Zeugen angeführt, die den „armen Jungen am Weserufer gesehen und ihm ein Stück Brod gereicht“ hätten. Aber auch ohne Kenntnis dieser Zweifel sei in England Arbuthnot bereits nach zwei Monaten zu der Einsicht gelangt, „daß von dem blödsinnigen Buben für Psychologie oder Anthropologie eben keine belehrende Ausbeute zu erwarten sey […]“618; in relativer Kürze wird der Fehlschlag aller Sprachlehrversuche notiert.619 Peter wird mit einer Pension versehen und nach Hertfortshire gebracht, wo „er endlich im Febr. 1785 als hochbetagtes Kind sein vegetirendes Leben beschlossen hat.“620 Es bleibt nicht viel, was noch zu berichten wäre: Dass sich weder in seiner Statur noch in seiner Physiognomie Auffälligkeiten zeigten; dass er sich schließlich an gekochte Nahrung gewöhnte, seine Vorliebe für rohe Zwiebeln aber behielt; dass er gerne Branntwein trank. Interessanter erscheint Blumenbach dagegen Peters lebenslang vollkommenste Gleichgültigkeit gegen Geld, und was wohl über alles den mehr als thierischen unüberwindlichen Stupor […] beweist – eben so vollkommene Gleichgültigkeit gegen das andere Geschlecht […]. Lachen aber (– das wohlthätige Vorrecht der Menschheit –) hat man ihn nie gesehen.“621
Das von Blumenbach gezogene Resümee fällt somit in Hinsicht auf das zur Disposition stehende Natursystem überaus beruhigend aus: Peter ist ein pathologischer Fall, und damit ohne jede Aussagekraft für eine auf generelle Strukturen abstellende Systematik; mehr noch, der Fall ist nicht nur im Rahmen der biologischen Klassifikation oder Naturkunde unverwertbar, sondern generell nicht mit wissenschaftlich-empirischer Theoriebildung vereinbar, er ist ein Exempel höchstens für „Sophisten“.622 Der Nährboden, auf dem diese Fehleinschätzungen wuchern – hier reichen sich Defoe und Blumenbach die Hand – ist die extreme Unsicherheit der Überlieferung. Über kaum ein Faktum herrscht Einstimmigkeit, nicht einmal „im Jahr und Jahreszeit, und Ort, wann und wo er von dem Hamel616 Ebd., 21. 617 Obwohl Blumenbach Arbuthnots Verflechtung in den Fall bekannt ist, wundert er sich nicht, dass dieser als Arzt nichts Dementsprechendes feststellte. 618 BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 22. 619 „Sprechen hat er nie recht gelernt. Peter, und ki scho und qui ca (letztres sollte die Namen seiner königlichen Wohltäter, King George und Queen Carolina ausdrücken), waren die deutlichsten von den wenigen artikulierten Tönen, die man ihm hatte beibringen können.“ Ebd., 24. 620 Ebd., 23. 621 Ebd., 23 f. 622 „Kurz als Ende vom Lied, das vermeinte Ideal des reinen Naturmenschen, wozu spätere Sophisten den wilden Peter erhoben hatten, war durchaus nichts weiter, als ein stummer, blödsinniger Tropf.“; Ebd., 26 f.
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schen Bürger gefunden und zur Stadt gebracht worden, stimmen die Referenten miteinander überein. Der ganz irrigen, später sämmtlich gedruckten Sagen zu geschweigen, dass ihn König Georg I. auf der Jagd bey Herrenhausen, oder nach Andren auf dem Harz aufgetrieben […]“.623
Peter (um 1767) in BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 13. Gespiegelte Kopie eines Details nach Falconet/Green (s.u., Kap. 3.4.). Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
Blumenbach versucht, dieses Problem durch Kumulation verschiedener Quellen zu umgehen624, von denen einige leider trotz intensiver Suche unauffindbar blieben. Insbesondere verfügte er über eine Darstellung aus erster Hand, die von großem Interesse wäre, den „ausführlichen Bericht des gedachten Hamelschen Bürgermeisters Severins, den er im Febr. 1726 an einen Hannoverschen Minister abgestattet […]“625. Zurückgegriffen wird auch auf die bereits dargestellten Collectanea Redeckers, übrigens ohne dass Blumenbach deren weitgehend sekundären Charakter erwähnt. Über Peters spätere Lebensumstände zog Blumenbach Nachrichten aus erster Hand ein, was ihm aufgrund seiner Verbindungen nicht schwergefallen sein dürfte626; genannt werden Legationsrath von Hinüber, Dr 623 Ebd., 27 f. 624 Blumenbachs Katalog verwendeter Druckquellen findet sich ebd., 29 f.; die überwiegende Mehrheit der Einträge wurde bereits vorgestellt. 625 BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 30; der Bericht war weder im StA Hameln noch im HStaA Hannover nachweisbar. Auch die Durchsicht des von der SUB Göttingen [2° Cod. Ms. Blumenbach] gehaltenen, aber stark fragmentierten Nachlasses Blumenbachs brachte diesbezüglich kein Ergebnis. Es ist naheliegend zu vermuten, dass dieser Bericht der Zuverlässigen Nachricht zugrunde liegt. Dagegen spricht jedoch, dass Blumenbach beide Quellen auflistet, aber keinerlei Zusammenhang erwähnt. 626 Blumenbachs Beziehungen nach England waren seit einem längeren Aufenthalt dort außergewöhnlich eng.
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Dornford und Herr Crawfurd.627 Auch „zwey meisterhafte Kupferblätter“628 von Peter befinden sich im Besitz Blumenbachs, das „eine aus seinen 50ger Jahren, ein grosses Blatt in schwarzer Kunst von Val. Green nach P. Falconet; die ganze Figur sitzend, a. 67 in London gemahlt, da er dem König vorgestellt worden. Und das andere von Bartolozzi, nach dem von J. Alefounder drey Jahre vor Peters Tode gemahlten Brustbilde; ein recht wohl aussehender Greis, von dem man – wer es nicht besser wüsste – glauben würde, er habe es hinter den Ohren.“629 Wenn nun bereits die vergleichsweise ausnehmend gut belegte Geschichte Peters dringend einer genaueren Überprüfung bedurfte, um den faktischen Kern festzustellen, musste man bei den anderen Berichten über „wildgefundene Kinder“630 selbst an der Existenz eines solchen Kerns zweifeln. Sie sind „meist ohne Ausnahme, mit so mancherley theils ganz abentheuerlichen auffallenden Unwahrheiten oder Widersprüchen vermengt […], dass überhaupt ihre Zuverlässigkeit dadurch höchst problematisch wird.“631 Diese anderen Fälle sind im wesentlichen die von Linné im Systema Naturae angeführten: Tulps Irischer Schafsjunge sei nach dessen ganzen Erzählung wohl ein blödsinniges, stummes und auch im äussern missgestaltetes Geschöpf, aber schwerlich in Irland von der Wiege an unter wilden Schafen (deren es dort so wenig als irgendwo giebt) erwachsen.632
Die Prominenz dieses Falles ist leicht erklärlich. Der Junge wurde längere Zeit ausgestellt und so einem großen Publikum bekannt. Umstände, die in Blumenbach ein gehöriges Maß an Skepsis erwachsen lassen: Dass er in Amsterdam Gras und Heu im Angesicht der staunenden Zuschauer genossen, finde ich eben so begreiflich, als dass der vorgebliche Südsee-Insulaner von Tanna, der vor einigen Jahren auf Messen und Jahrmärkten umhergeführt wurde, Steine fressen mußte.633
Tulp ist als Berichterstatter zudem isoliert; keine andere Quelle weiß unabhängig von ihm etwas über diesen Fall zu berichten, der „gewiss nicht der Bedeutung werth, womit selbst noch unsere Schlözer und Herder ihn angesehen haben.“634 Eher noch magerer zeigt sich die Quellenlage angesichts des Bamberger Ochsenjungen, auf den lediglich die kurze Stelle in Camerarius Operae horarum verweist. Etwas besser belegt, aber „noch suspekter“635, erscheint der Hessische Wolfsjunge von 1344. Blumenbachs Skepsis bezieht sich vor allem auf den Teil der Überlieferung, in dem von der Fürsorge der Wölfe für das Kind die Rede ist, 627 Bei Dornford könnte es sich um Josiah Dornford (1764–1797) handeln; Korrespondenz Blumenbachs mit Adair Crawford (1748–1795) und Carl Heinrich von Hinüber (1723–1792) findet sich in FRANK W. P. DOUGHERTY, The Correspondence of Johann Friedrich Blumenbach, pass.; der betreffende Sachverhalt wird an keiner Stelle erwähnt. 628 BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 31. 629 Ebd., 31 f. 630 So Blumenbachs Bezeichnung; ebd., 32. 631 Ebd., 32 f. 632 Ebd., 33. 633 Ebd., 33 f. Man meint hier fast, den mit Blumenbach befreundeten Lichtenberg sprechen zu hören. 634 Ebd., 34. 635 Ebd., 35.
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und der ihm märchenhaft erscheint. Die litauischen Bärenkinder werden bei Blumenbach zu einem einzigen Fall, dessen Überlieferung er einzig „dem schwärmerischen Connor“ zuschreibt. Zusätzlich findet nur der „alte Joh. Dan. Geyer“ Erwähnung, dessen Werk dem Göttinger Anthropologen allerdings mindestens ebenso zwielichtig vorkommt.636 Bezüglich des wilden Mädchens von Kranenburg oder Zwolle, der puella Transisalana, wird nur ein längerer Artikel der Breslauer Sammlungen637 kurz zusammengefasst. Ein weiterer Kommentar scheint Blumenbach überflüssig zu sein.638 Johannes Leodicensis ist wiederum nur durch eine ganz spärliche Randbemerkung belegt; wenig glaubwürdig, auch weil der Autor der „leichtgläubige […] Digby“ ist. 639 Zuguterletzt noch Linnés – oder besser Rousseaus – „pueri 2 pyrenaici von 1719, denen ich aber bis jetzt noch nicht weiter auf die Spur habe kommen können.“640 Aufschlussreicherweise übergeht Blumenbach den ähnlich gut wie Peter beschriebenen Fall der puella Campanica fast völlig, obwohl er die längere Schrift Condamines durchaus kennt, sie jedoch augenscheinlich noch nicht diesem Verfasser zuordnen kann.641 Blumenbachs, um es freundlich zu sagen, nicht besonders redliche Wiedergabe von Condamines Bericht, dessen allgemeiner Tenor bis zum Beginn der Eskimo-Geschichte ein durchaus eher nüchterner ist, lässt noch heute schmunzeln und musste diesen seiner Leserschaft schlicht als unsägliche Räuberpistole vorkommen lassen: Die puella Campanica […] oder Dlle le Blanc nach ihrem französischen Biographen, der sie übrigens für ein nach Frankreich verschlagenes Eskimo-Mädchen zu halten geneigt ist, soll zuerst selbander im Wasser gesehen worden seyn, wo die beiden der Grösse nach etwa zehnjährigen und mit Keulen bewaffneten Mädchen wie Wasserhühner geschwommen und untergetaucht hätten. Sie wären aber sofort über einen Rosenkranz, den sie gefunden, in Streit gerathen; die eine sey von der andern vor den Kopf geschlagen aber doch auch gleich von ihr mit einem Pflaster aus Froschhaut und mit einem Streifen Baumrinde verbunden worden; habe sich aber seitdem nicht weiter sehen lassen, sondern Mamsell le Blanc, die Siegerin, sey allein mit Lumpen und Fellen bedeckt und statt Mütze mit einem Flaschenkürbs [!] auf dem Kopfe, im benachbarten Dorfe eingezogen u. s. w.642
Mit keinem Wort erwähnt wird Victor. Es scheint wenig wahrscheinlich, dass Blumenbach, der Mitglied in nicht weniger als 78 Wissenschaftsgesellschaften war643, Berichte über diesen außergewöhnlich gut belegten Fall nicht zu Ohren gekommen wären, so dass der zweite Teil der Beyträge wohl weit früher abgefasst 636 637 638 639 640 641
Ebd., 36. Zu Geyer vgl. Kap. 6. „Special-Relation“, in: Breslauer Sammlungen, XXII. Versuch (Oct. 1722), 437 f. BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 37 f. Ebd., 39. Ebd., 40. Dieses Forschungsresultat ist bis heute gültig; siehe Kap. 1.2.8. Blumenbach gibt als bibliographischen Hinweis „Hist. d‘une jeune fille sauvage, Paris 1755. 8.°“ Condamine wird als Autor nicht benannt. In Blumenbachs handschriftlichem Nachlass (SUB Göttingen, 2° Cod. Ms. Blumenbach IX, d.) findet sich zudem eine mehrere Seiten lange Abschrift des Berichtes aus der moralischen Wochenschrift Das Reich der Natur und Sitten (Bd. 1, 4 u. 6. St., [?] p. 245 ff.). 642 BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 38 f. 643 MARX, Life of Blumenbach, 31.
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wurde, als das Erscheinungsdatum suggeriert.644 Immerhin: Nicht auszuschließen ist auch, dass Blumenbach hier Argumente gegen seine Ideen erblickt hatte, auf die er keine Antwort wusste oder die Auseinandersetzung mit dem weitläufigen Material an dieser Stelle scheute. So jedenfalls blieb nur ein Fazit zu ziehen: Weder Peter noch ein anderer Linnéischer HOMO sapiens ferus kann zum Musterbilde des ursprünglichen wilden Naturmenschen dienen.Denn – wenn man auch nach billigem Abzug der gar zu abgeschmackten Fictionen in jenen Erzählungen, das übrige noch so nachsichtig will passiren lassen, so sieht man ja doch offenbar, dass das samt und sonders naturwidrige Missgeschöpfe waren, und doch, was selbst schon das Abnorme an denselben offenbart, unter ihnen samt und sonders, nach kritischer Vergleichung der Nachrichten die wir von ihnen haben, nicht zwey einander gleich. Sämmtlich zwar verunmenscht, aber jedes auf eigene Weise, nach Maasgabe seiner individuellen Mängel, Gebrechen und Unnatürlichkeiten. Nur darin einander gleich, daß sie, ihrer Naturbestimmung zuwider einzeln, von menschlicher Gesellschaft entfernt, umhergeirrt; ein Zustand, dessen Naturwidrigkeit schon Voltaire mit dem einer einzelnen verlorenen Biene vergleicht.645
Blumenbach hat damit sein Ziel erreicht: Mochte Monboddo, den er zitiert, der Entdeckung Peters ruhig mehr Bedeutung zuweisen „als wenn die Astronomen noch ein 30000 neue Sonnen […] hinzufänden“646; für den Göttinger war das vermeintliche wilde Kind keineswegs ein neuer Fixstern am Himmel der Wissenschaft, sondern allenfalls ein Komet, dessen winzigem Kern erst Leichtgläubigkeit und Spekulationsgier das Blendwerk einer hell leuchtenden Aura verpasst hatten. Für seine Taxonomie stellten die Wilden Kinder nach diesem Musterprozess keine Gefahr mehr dar, sie rechtfertigten keinesfalls die Einrichtung einer neuen Gattung und die damit zusammenhängende Generalrevision des Systems. Wenn es sie überhaupt gegeben hatte, waren sie samt und sonders von allenfalls pathologischem Interesse; eine Steilvorlage, die Gall und Spurzheim in der Folge für ihre Zwecke umsetzten. Darüber hinaus hat schon die Idee, es existiere ein „Naturzustand“ des Menschen, der sich von seinem jetzigen deutlich unterscheide, für Blumenbach etwas 644 Der zweite Teil der Beyträge zur Naturgeschichte wurde nach MARX (Life of Blumenbach, 12), der ein umfassendes Schriftenverzeichnis liefert, tatsächlich zuerst 1811 publiziert, also deutlich nach dem Erscheinen der Berichte Itards und vor allem auch Vireys, der Blumenbach bekannt gewesen sein muss. Eine Rekonstruktion dieses Erscheinungsdatums führt zu einiger Konfusion, denn der erste Teil erschien bereits 1790, und die hier benutzte Auflage des zweiten Teils von 1811 wird in einigen Katalogen als zweite Auflage geführt. Soweit rekonstruierbar wurde der erste Teil 1806 tatsächlich neu aufgelegt, ihm folgte aber offenbar 1811 die Erstausgabe des zweiten Teils. Darauf verweist auch, dass 1811 nur Errata der 2. Ausgabe des ersten Teils von 1806 korrigiert werden. Blumenbach hatte die Arbeiten an Vom Homo sapiens ferus Linn. jedoch mit ziemlicher Sicherheit schon deutlich früher, wohl zu Beginn der 1790er Jahre – und damit bevor Victor gefunden wurde –, abgeschlossen: Die erwähnten Kontaktpersonen v. Hinüber, Crawford und Dornford verstarben zwischen 1792 und 1797, in den Literaturnachweisen findet sich als neueste Quelle eine Ausgabe des Gentleman’s Magazine von 1785 und gegen Ende ein Verweis auf den ersten Teil der Beyträge. So oder so bleibt der Befund bemerkenswert, denn Blumenbach korrigierte und erweiterte seine Texte anlässlich von Neuauflagen in der Regel recht ausgiebig; zumindest dies geschah hier nicht. 645 BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 41 f. 646 Ebd., 19 f.
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zutiefst Befremdliches. Für den Anthropologen trägt der Begriff der Natur offenbar unentrinnbar das Wilde, das Tierische mit sich, das er dem Menschen nicht zuordnen will. Der Mensch ist per definitionem und von Beginn seiner Existenz an ein kulturelles Wesen und insofern von der übrigen Schöpfung abgetrennt. Ihn der Soziabilität, Vernunft und Sprache zu entblößen, hieße, ein Wesen zu beschreiben, das die Kluft zur Humanität nicht aus eigener Kraft überschreiten könnte. Eine physiologische Genese im eigentlichen Sinne – also abgesehen von der kulturell-zivilisatorischen Weiterentwicklung – ist damit ausgeschlossen: In seiner Essenz war der Mensch stets, was er heute noch ist, und damit erledigt sich auch die These, dass dieser in eine „wilde Stammrasse zurückarten“ könnte, wie etwa Johann Samuel Ith in seinem Versuch einer Anthropologie behauptet hatte. Peter und seinen Gefährten wird die Bedeutung daher letztlich auf zwei Ebenen aberkannt: Erstens sind sie als Exempel, wie eine kritische Analyse der Überlieferungen zeigt, mehr als fraglich; zweitens aber, und dies ist der entscheidende Punkt, ist bereits die Prämisse, unter der die Kinder eingebunden werden, grundlegend falsch. Der Mensch kann nicht – wieder berühren sich hier die Gedankengänge des Göttingers mit denen Defoes – zu einer wilden „Stammrasse zurückarten“, weil eine solche überhaupt nicht existiert und auch nie existiert hat. Der Mensch ist ein Hausthier. – Allein, statt dass Er, um sich andere Hausthiere zu verschaffen, Individuen ihrer Stammrasse erst ihrem wilden Zustande entreissen, sie sich häuslich machen, sie zähmen müssen; so war Er hingegen gleich von Natur zum vollkommensten Hausthier bestimmt und geboren. Andere Hausthiere wurden erst durch ihn vervollkommnet. Er ist das Einzige, das Sich Selbst vervollkommnet. Statt dass aber so manche andere Hausthiere, Katzen, Ziegen u. s. w., wenn sie durch Zufall in die Wildnis gerathen, im Naturell gar bald wieder ihrer wilden Stammrasse nacharten; so waren hingegen, wie gesagt, alle jene sogenannten wilden Kinder in ihren Benehmen, Naturell etc., auffallend von einander verschieden, eben weil sie in keine ursprünglich wilde Stammrasse zurückarten konnten, als dergleichen in dem zum vollkommensten aller Arten von Hausthieren erschaffenen, und in jeder Lage, jeder Lebensweise, so gut wie jeder Zone sich anpassenden Menschengeschlechte, nirgend existiert.647
Der Nachhall, den die autoritative Bewertung Blumenbachs hinterließ, ist über das gesamte erste Drittel des 19. Jahrhunderts zu hören. Als KARL ASMUND RUDOLPHI 1821 den ersten Band seines Grundrisses der Physiologie veröffentlicht, stellt er einen Kernpunkt der Blumenbachschen Überlegungen weit an den Anfang seiner Anthropologie.648 Rudolphi, dessen wissenschaftliche Interessen – Anatomie,
647 Ebd., 43 f.; dieser Gedanke wird auch im ersten Teil der Beyträge zur Naturgeschichte in komprimierter Form präsentiert: „Aber man kennt nicht einen bestimmten natürlichen wilden Zustand des Menschen. Denn es giebt keinen, weil ihn die Natur in nichts beschränkt“; BLUMENBACH, Beyträge, Erster Theil, 49. Auch für die Tiere muss zwischen „ursprünglich wild und blos verwildert“ unterschieden werden: „So giebts in beiden Welten verwilderte Pferde in unsäglicher Menge; aber niemand kennt das ursprünglich wilde Pferd“; ebd., 9. Aussagen über den „Naturzustand“ scheinen für Blumenbach dementsprechend immer mit dem Makel der unzulässigen, weil nicht überprüfbaren, Spekulation behaftet gewesen zu sein. 648 Anthropologie wird bei Rudolphi als synonym mit Naturgeschichte des Menschen verstanden, sie „vergleicht [den Menschen] mit den übrigen Geschöpfen, hebt die ihm eigenthümlichen
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Physiologie und Naturkunde – mit denen Blumenbachs zusammenfielen649, wollte den Menschen ebenfalls weiter vom Affen distanzieren, als dies bei Linné geschehen war. Ganz mit Blumenbach erschien es ihm deshalb als von überragender Wichtigkeit, einen angemessenen Vergleichspunkt zum Tierreich zu finden, und so darf man den Menschen „nur in seiner völligen Entwicklung hinstellen, nicht einen physisch oder moralisch Verkrüppelten, wohin wohl die mehrsten der verwildert aufgefundenen Kinder gehören.“650 Der Regelzustand des Menschen, nicht seine Verkrüppelung, muss hier das Maß sein. In der kurzen Kritik einiger Fälle, darunter Peter, Marie-Angélique, aber auch der „nach der Insel Barra verschlagene Negerknabe“651, stellt sich dementsprechend bald heraus, dass es „auf jeden Fall […] töricht“ wäre, „[…] in jenen Kindern das Urbild des Menschen sehen zu wollen“, ist es doch die menschliche Bestimmung, „als ein vernünftiges Geschöpf zu leben“, während die Tiere „blos nach sinnlichen Trieben handeln, und sich nie zu allgemeinen Begriffen erheben können.“652 Blumenbachs Grundkonstanten – aufrechter Gang, Vernunft, Anpassungsfähigkeit, Moralität – bleiben völlig unangetastet, lediglich hier und da korrigiert Rudolphi kleinere Detailfehler.653 Wie sehr sich die Thesen Blumenbachs bezüglich der Wilden Kinder verfestigt haben mussten, wird klar, wenn man bedenkt, dass Rudolphi in einer entscheidenden Streitfrage keineswegs auf der Linie des Göttingers lag, sondern dem Gegenlager zuzurechnen ist: Rudolphi war Polygenist, dass „alle Menschen von einem Elternpaar abstammten, welches die europäische Form gehabt habe“, erschien ihm als „höchst unwahrscheinliche jüdische Sage.“654 Obwohl man die Menschen „sämtlich zu eine Gattung“655 zählen musste, waren für ihn die Unterschiede doch so groß, dass er nicht umhin konnte „mehrere Arten, Species, desselben anzunehmen.“656 „Racen oder Spielarten“, wie sie dagegen Blumenbach nur festzustellen meinte, seien „nicht zu billigen“, weil sie „etwas Falsches, wenigstens etwas nie zu Erweisendes, den gemeinschaftlichen Ursprung von denselben Eltern“ implizierten.657 Eigentlich hätte sich hier das Beispiel der Wilden Kinder trefflich einflechten lassen, denn die Annahme eines wilden Naturzustandes und eine sich anschließende graduell-autochthone Entwicklung hätte die kulturellen wie physiologischen Unterschiede, die Rudolphi zu erkennen glaubte, elegant erklärt. Dieser Weg scheint durch die von einer kaum zu über-
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Merkmale heraus und bezeichnet dadurch seine Stelle im Natursystem; zweitens aber vergleicht sie auch dieVölker der ganzen Erde unter einander […].“ Ebd., Bd. 1, 21. vgl. JULIUS LEOPOLD PAGEL, „Rudolphi: Karl Asmund“, in: ADB, Bd. 29, 577–79. RUDOLPHI, Grundriss der Physiologie, Bd. 1, 24. Ebd., 25 Ebd., 26. Etwa Blumenbachs Ansicht, dass die Menstruation und das Hymen nur dem Menschen zueigen sind; ebd. Ebd., 50. Ebd., 37. Ebd., 55. Ebd., 55 f.
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schätzenden Autorität gestützte Lehrmeinung – nämlich der Blumenbachs, der im Verlauf des Textes vielfach zitiert wird – jedoch verbaut zu sein. In ebenso klarer Form ist diese Übernahme in RUDOLF WAGNERS Naturgeschichte des Menschen nachzuvollziehen.658 Wagner, Nachfolger Blumenbachs auf dem Göttinger Lehrstuhl, versteifte sich im weiteren Verlauf seiner wissenschaftlichen Tätigkeit zunehmend auf die Anthropometrie659, obwohl er die phrenologischen Ansätze Galls ablehnte und dessen System „eher für ein Spiel des Witzes als ein Produkt ernster, wissenschaftlicher Untersuchung“ hielt.660 Er preist Blumenbach als systematischen Neuerer, der den Menschen von der seit Linné gängigen „eben nicht erfreulichen Brüderschaft“661 mit dem Affen befreit habe. Bedarf es nur des „gesunden Blicks eines jeden, nichts weniger als scharffsinnigen oder wissenschaftlich gebildeten Menschen, um die eben nicht subtilen Unterschiede zwischen dem Menschen und dem Orangoutangs-Geschlecht aufzufassen“662, gilt Gleiches auch für die Ablehnung des von Linné geforderten „wilden Menschen“ der „auf allen Vieren gienge und behaart sey.“663 658 RUDOLF WAGNER, Naturgeschichte des Menschen. Handbuch der populären Anthropologie für Vorlesungen und zum Selbstunterricht, 2 Bde., Kempten 1831; hier zitiert: Erster Theil: Bau und Leben des Leibes. 659 Er gilt bspw. als Initiator einer 1861 in Göttingen einberufenen Anthropologenversammlung, die sich über Messmethoden am menschlichen Körper einigen sollte, worüber er auch einen Bericht verfasste: KARL ERNST V. BAER & RUDOLF WAGNER, Bericht über die Zusammenkunft einiger Anthropologen im September 1861 in Göttingen zum Zwecke gemeinsamer Besprechungen, Leipzig 1861; vgl. JULIUS LEOPOLD PAGEL, „Wagner, Rudolf W.“, in: ADB, Bd. 40, 573 f. Wagner Gesamtsicht des Menschen orientiert sich eng an Herder: „Die Gesammtform des Körpers und Gesichts ist es aber vorzüglich, welche dem Menschen jenes edle Ansehen giebt, das als Ideal irdischer Vollkommenheit den Stempel der Meisterschaft über die übrige Natur an sich trägt. Scheitelrecht steht der Mensch mit den Füssen an die Erde geheftet, mit dem Haupte gen Himmel gerichtet und schwebt so gleichsam zwischen Gegenwart und Zukunft.“ WAGNER, Naturgeschichte des Menschen, Erster Theil, 190. Die Seelenfähigkeiten, die über die materielle Instanz des Gehirns vermittelt werden, werden nach bester physiognomischer Manier vor allem im Gesicht ablesbar: „Wie das Gehirn der materielle Träger der Seele und ihrer für uns unsichtbaren Aeußerung, so scheint das Gesicht der sichtbare Messer jener Aeußerung zu seyn. Deshalb treten im Gesicht der verschiedenen Thiere die verschiedenen Grundtriebe hervor, das Schaaf sieht guthmütig, die Katze falsch aus. In der Seele des Menschen liegen alle jene Triebe gesammelt, vereinigt, gebändigt. Treten aber aus jenen innerlich gewordenen Zügen der Thierseele einzelne heraus, entwickelt sich einer vor dem andern frei und zügellos, so finden wir auch im menschlichen Antlitz den Ausdruck wieder und der Mensch bekommt vorübergehende Aehnlichkeit mit der Physiognomie einzelner Thiere, welche dauernder und bleibend werden kann.“ So schlummern im Menschen seelische Verbindungslinien zum Tier, die sich physiognomisch niederschlagen, und nur „wenn die Seele ihren dauernden Frieden gewonnen“ hat, „verschwinden auch jene Züge thierischer Ähnlichkeit und der Ausdruck der edlen Schönheit […] zeigt sich wahrhaftig, ein Abglanz der jenseitigen Vollendung.“ Ebd., 191. Auf physiognomische Deutungsmuster wird weiter unten noch eingegangen. 660 Ebd., 179 ff. 661 Ebd., 182. 662 Ebd. 663 Ebd., 186.
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Die Annahme einer wilden Menschenart beruht auf der Auffindung von einigen unglücklichen, in der Kindheit verloren gegangenen Geschöpfen, welche man in Wildnissen, unter den Thieren fand und die, der Sprache beraubt, ein trauriges Bild von dem Urzustande der Menschheit abgeben würden.664
Besonders gewürdigt wird Peter, und explizit betont Wagner, dass die mit ihm verbundene krude Theoriebildung kaum deutschen Hirnen hätte entspringen können. Vielmehr waren bei Gelegenheit seiner Entdeckung einige ausländische Schriftsteller entzückt, nun einen Menschen im Naturzustand gefunden zu haben, an welchem man die natürliche Entwicklung des Menschen vom thierischen Urzustand aus beobachten könne. Diese Freude wurde freilich bald durch die nächsten Mittheilungen über den wilden Peter gestört. […] Von allen diesen verwilderten Geschöpfen, deren Geschichte genau und zuverlässig bekannt ist, weiß man, daß sie weder auf allen Vieren liefen, noch behaart waren. Auch die übrige Beschaffenheit ihres Körpers war in Nichts von der der cultivierten Menschen verschieden.665
Die Rezeption Blumenbachs im deutschen Wissenschaftsbetrieb ist also ohne Weiteres greifbar und teils im Wortlaut nachweisbar. Die Wilden Kinder eigneten sich nicht zur Untermauerung anthropologischer Theorien; sie waren wenig bemerkenswerte Unglücksfälle, keinesfalls Belege für einen Naturzustand, der ohnehin nie existiert hatte. 4.5.2. Ce sont des vrais idiots: Die Vermessung der Defizienz Zu Beginn des 19. Jahrhunderts scheint die Diskussion um die Wilden Kinder einen gewissen Endpunkt zu erreichen. In authoritativer Manier sprechen Autoren wie GALL und SPURZHEIM666 dem Paradefall, Victor, und seinen Vorgängern jegliche Beweiskraft hinsichtlich eines menschlichen Naturzustandes ab; unter Rückgriff auf die Phrenologie unterstellt man ihnen nun schlicht hochgradige Imbezillität. Die Abnormität wird zu einer rein physiologischen und überdies vermessbaren, von Äußerlichkeiten ableitbaren. Die Phrenologie – deren prominenteste Vertreter fraglos Gall und Spurzheim waren – ging davon aus, dass sich bestimmten Hirnregionen, oder Hirnorganen, intellektuelle, moralische und seelische Kapazitäten zuweisen ließen. Je größer das Organ, desto größer dessen Wirkung. Da die Form des Gehirns wiederum an der Schädelform abzulesen sein sollte, meinte man durch deren äußere Analyse auf die psychische Verfasstheit rückschließen zu können. Aufschluss über die Gedanken Galls liefert ein 1798 abgefasster Brief an den Wiener Zensurbeamten Joseph von Retzer, in dem er seine Ideen in komprimierter Form äußerte.667 Er gehe davon aus, „daß man in der That mehrere Fähigkeiten 664 Ebd. 665 Ebd., 187. 666 FRANZ JOSEPH GALL & GASPARD SPURZHEIM, Anatomie et physiologie du système nerveux en général et du cerveau en particulier, 4 Bde., Paris 1810–19. 667 FRANZ JOSEF GALL, Schreiben über seinen bereits geendigten Prodromus über die Verrichtungen des Gehirns der Menschen und der Thiere, an Herrn Jos. Fr. von Retzer, in: Der neue Teutsche Merkur, 3 (1798), 311–332. Zitiert wird nach der digitalen Volltext-Ausgabe der
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und Neigungen aus Erhabenheiten und Vertiefungen am Kopfe oder Schedel erkennen kann“, und er gedenke, deren Bedeutung „überhaupt für die nähere Menschenkenntnis […] einleuchtend vorzutragen.“668
Verteilung der Hirnorgane. ALEXANDER WALKER, Physiognomy founded on physiology, and applied to various countries, professions, and individuals: with an appendix on the bones at Hythe, the sculls of the ancient inhabitants of Britain and its invaders, London 1834, pl. XIX. McCormick Library of Special Collections, Northwestern University Library.
Das Gehirn – welches Gall endgültig als einziges Seelenorgan festgestellt zu haben meinte, was effektiv auf eine materialistische Sicht hinauslief669 – bestimmte die Schädelform, da, folgte man der Theorie, die „Form der innern SchedelfläUB Bielefeld, Zeitschriften der Aufklärung, URL: http://www.ub.uni-bielefeld.de/diglib/ aufklaerung/. 668 Ebd., 312 f. 669 Gall sah das Problem, das mit den Zensurbehörden aufgrund dieses Faktums auftauchen konnte, selbst und ergeht sich in einer recht weitläufigen Rechtfertigung, die darauf hinausläuft, dass der „Naturforscher blos die Gesetze der Körperwelt“ ergründe, und voraussetze, dass „keine natürliche Wahrheit mit irgend einer geoffenbarten in Widerspruch gerathen “ könne; ihm gehe es nur um das „Werkzeug“, nicht um „das wirkende Wesen […]“. Ebd., 319.
4.5. Das Ende der Naturgeschichte der Wilden Kinder
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che von der äußern Form des Gehirns“670 abhing. Grundsätzlich finde diese Formung bereits im Mutterleibe statt, jedoch könnten für Veränderungen auch äußere Einwirkungen, etwa „Gewaltthätigkeiten“ in Betracht kommen.“671 Immer jedoch modifizierte das Alter die Schädelform, da sich die Organe, und mit ihnen die spezifischen Fähigkeiten und Neigungen, kontinuierlich bis zu ihrer Vervollkommnung entwickelten – um schließlich im Alter wieder abzunehmen. Betrieb man nun hinreichend exakte Studien, konnte man „Bestimmte Eigenschaften bey bestimmten Erhabenheiten“672 abnehmen. 1808 konnte Gall, mittlerweile in Paris, in einer Vorlesung dann betonen, dass die Phrenologie die eigentliche Humanwissenschaft sei, und so endlich ein Ende der metaphysischen Spekulation über den Menschen in Sicht komme.673 Nur wenige Jahre später schienen er und Spurzheim damit aber gleichzeitig zu einer endgültigen Lösung aller Fragen gelangt zu sein, welche die Wilden Kinder für die mangelhaft instruierten Wissenschaften des 18. Jahrhunderts aufgeworfen hatten: On leur trouve la tête ou trop grosse et attaquée d’hydrocephale, ou trop petite, comprimée et difforme; presque toujours une constitution scrophuleuse; les yeux petits, enfoncés, peu découpés en hauteur, et fendus en largeur; la bouche très-grande, les lèvres pendantes, la langue épaisse, le con gonflé, la démarche chancellante et mal assurée, etc. Leur organisation primitive est par conséquent défectueuse; ce sont des vrais idiots qui ne peuvent recevoir aucune instruction, ni aucune éducation; est c’est par là qu’on explique pourquoi on les trouve dans les bois. Comme ils sont à chargé à leurs familles, et que même, dans certains pays, les gens du bas peuple regardent ces malheureux comme des enfans ensorcelés, ou comme des étran-
670 Ebd., 322. 671 Ebd., 323. 672 Ebd., 325. Gall bedauert ausgiebig die noch mangelhafte Basis seiner Sammlung menschlicher und tierischer Schädel: „Sehr angenehm wäre mir’s, wenn mir Köpfe von Thieren zugeschickt würden, deren Karakter man genauer beobachtet hätte, z. B. von einem Hunde, der nichts fraß, was er nicht gestohlen hatte […] – von Affen, Papageyen, oder andern seltenen Thieren mit Lebensgeschichten, die aber erst nach ihrem Tode verfaßt sein dürften, weil ich sonst besorgen würde, sie möchten zuviel Schmeicheleyen enthalten.“ Ebd., 325 f. Noch weit segensreicher sei es freilich, wenn Retzer „es endlich zur Mode machen“ könnte, „daß mich in der Folge jede Art von Genie zum Erben seines Kopfes einsetzte.“ Man kann von Glück sagen, dass Gall offenbar über keinen guten Draht ins Jenseits verfügte, denn „[g]efährlich wäre es freilich für einen Kästner, Kant, Wieland u. d. g. wenn mir Davids Würgeengel zu Gebote stünde. Allein als guter Christ will ich mit Geduld auf Gottes langmüthige Barmherzigkeit harren.“ Ebd., 326. Zur Ende des 18. Jahrhunderts ausgebrochenen „Schädeljagd“ und zur Schädelsammlung Galls vgl. SIGRID OEHLER-KLEIN, Die Schädellehre Franz Joseph Galls in Literatur und Kritik des 19. Jahrhunderts, Stuttgart; New York 1990, 40 ff. 673 „Abandonnons aux spéculations métaphysiques les recherches sur lesquelles nos sens n’ont aucune prise, et refermons-nous dans le cercle des lois de l’organisation, dont l’ensemble, les détails et les modifications déterminent en grande partie, et modifient notre entendement et notre volonté. Tel est le domaine de physiologie du cerveau, qui est la science dont je dois offrir les élémens, et qu’on peut appeler aussi la doctrine des qualités générales des aninmaux, et en particulier des qualités merveilleuses, par lesquelles notre espèce l’emporte sur tous les êtres vivans.“; F. J. GALL, Discours d’ouverture lu par M. le Docteur Gall, à la première séance de son cours public, sur la physiologie du cerveau le 15 Janvier 1808, Paris 1808, 6 f.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder gers substitués à leurs véritables enfans, il arrive souvent qu’on les expose, ou bien qu’on les laisse errer á leur gré sans y faire attention.674
Als Kern der Argumentation zeigt sich dabei eine These, die für Peter in identischer Form bereits 1726 nachweisbar ist: Nicht die Isolation von der menschlichen Gesellschaft habe zu den beobachtbaren Anomalien geführt, sondern im Gegenteil die kongenitale Anomalie des Kindes zur Isolation. So schlagen sämtliche Belehrungs- und Erziehungsversuche notwendiger Weise fehl, aber nicht, weil die Methode unzureichend gewesen wäre oder der Aufenthalt in der Natur zu verfestigten organischen oder geistigen Fehlbildungen geführt hätte, sondern weil es für diese Kinder allesamt von vornherein keine Entwicklungsmöglichkeit gab. Wenig später führen Gall und Spurzheim aus, dass auch das beobachtete Fluchtverhalten ins Bild der fortgeschrittenen Idiotie passe.675 Aus der Nähe Marburgs wird gar überliefert, dass das Personal eines Hospitals auf der Suche nach entflohenen Insassen nicht nur diese, sondern „quelquefois d’autres qui s’étoient évadés d’autres endroits, et qui n’avoient plus que des lambeaux de vêtemens […]“676 im Wald aufgefunden habe – wer konnte, eingedenk des von Peter getragenen Hemdkragens, ob eines solchen Beweises noch zweifeln? Ohnehin, so die Autoren weiter, sei es schwierig zu glauben, dass „dans nos régions populeuses, un homme bien organisé puisse errer long-temps comme un sauvage […]“677 – wieder ein Argument, das sich schon früh, in der Rezeption des Falles des Mädchens von Zwolle, nachweisen lässt. Denn die menschliche Vernunft, mittlerweile zum Ausfluss des Gehirns profanisiert und damit der Anatomie endgültig unterworfen, hätte sich über kurz oder lang – Erziehung hin oder her – ihren Weg gebrochen.678 Da das menschliche Verhalten vor allem anderen von den im Gehirn materialisierten Kapazitäten abhängig gedacht wurde, war es völlig unglaubwürdig, dass solches etwa durch Imitation tierischer Stiefeltern erklärt wurde, und wenn die Aufgefundenen keinen Funken Verstand zeigten, verwies dies nochmals mit aller Klarheit darauf, dass man es mit kongenital Geistesschwachen zu tun hatte. Vor allem als Exempel für die Allgewalt der Erziehung sollten die Kinder damit endgültig abgewirtschaftet haben, lag doch offen zutage, dass sich die sensualistisch orientierte Pädagogik mit Victor in Ermangelung hinreichend genauer - und das hieß quantifizierender - Methoden ein Kuckucksei ins Nest 674 GALL & SPURZHEIM, Anatomie et physiologie, Bd. 2 (1812), 41 f. 675 Heute, vgl. Kap. 1.2., ein von den Unterstützern der Autismus-Theorie vorgebrachtes Argument. 676 Ebd., 42. 677 Ebd., 43. 678 Obwohl Gall und Spurzheim den Einfluss der Erziehung auf das Individuum nicht leugnen, halten sie doch die dispositions innées für weitaus bedeutender; jegliche Erziehung baut nur auf diesen Kapazitäten auf und wird ebenso durch diese begrenzt. Dieser Ansatz wurde in der Folge vor allem in Hinsicht auf praktische Anwendbarkeit, unter anderem auch im Strafvollzug, weiter ausgearbeitet; vgl. generell F. J. GALL & G. SPURZHEIM, Des dispositions innées de l’ame et de l’esprit, du matérialisme, du fatalisme et de la liberté morale, avec des réflexions sur l’éducation et sur la législation criminelle, Paris 1811.
4.5. Das Ende der Naturgeschichte der Wilden Kinder
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gelegt hatte. Überhaupt erwies sich hier die Fehlerhaftigkeit des pädagogischen Eigendünkels, denn „l’éducation et les circonstances ne pouvant agir sur l’homme, qu’autant qu’il possède les dispositions nécessaires, et qu’il y est préparée par son organisation.“679 Nicht, dass die Pädagogen eine solche Bedeutung der menschlichen Anlagen jemals völlig negiert hätten, aber Gall und Spurzheim machten unmissverständlich klar, welche dieser beiden Wissenschaften eher das wesentlich Menschliche erfassen können würde. On trouve un imbecile dans une forêt, et l’on conclut que l’éducation en auroit fait un homme. La première question à décider est pourtant de savoir si ces êtres, à qui éducation a manqué, n’étoient pas déjà des imbéciles, ayant de se perdre dans les forêts […] [L]’expérience de tous les temps a prouvé qu’ils restent imbéciles, soit qu’ils vivent dans les forêts, soit qu’il restent au sein de leur famille.680
Das große Selbstbewusstsein, ja fast schon die Arroganz, mit der diese Überlegungen vorgetragen werden, mutet im Rückblick seltsam an, denn Gall und Spurzheim waren weit davon entfernt, ihre eigenen Forschungspostulate einzuhalten.681 Direkte Kenntnis hatten sie nur von Victor. Dessen vage beschriebenen Auffälligkeiten werden nun zur Blaupause für alle Wilden Kinder – wobei Strukturierung und Tonfall des betreffenden Kapitels freilich das Gegenteil suggerieren: Victor passe perfekt in das Bild, dass man sich aus den bisherigen Überlieferungen habe machen können.682 In Practical Education hatten die Edgeworths überdem ein dieser Theorie völlig widersprechendes Auseinanderdriften von Erscheinungsbild und geistigen Fähigkeiten festgestellt: „Though [Peter’s] head […] resembled that of Socrates, he was an idiot.“683 Die Wucht des Angriffes macht jedoch deutlich, wie sehr sich die Kinder offenbar im wissenschaftlichen Diskurs, und das Hauptziel ist eindeutig die Pädagogik, festgesetzt hatten. Als JEAN ETIENNE DOMINIQUE ESQUIROL 1838 sein voluminöses Werk über die Geisteskrankheiten veröffentlicht684, wird der Sachverhalt noch deutlicher. 679 GALL & SPURZHEIM, Anatomie et physiologie, Bd. 2, 44. 680 Ebd., 43. 681 Vor allem über Galls in zweifelhafter Art und Weise deduzierte „Gehirnlandkarte“, die beispielsweise ein Organ der Freigebigkeit – „liegt etwas über dem Farbensinn, zu beiden Seiten an der Stirne. Bei dem Geitzigen und Wucherer findet man hier eine Vertiefung“ – postulierte, wurde bald Hohn und Spott ausgegossen; vgl. WAGNER, Naturgeschichte des Menschen, Erster Theil, 180. Wagner verzeichnet auch süffisant, dass man bei der Sektion des 1828 verstorbenen Gall „bemerkte, daß er im Verhältnis zum Schädel wenig Gehirnmasse hatte […]“; ebd., 181. 682 Als ob diese in der hier geforderten Exaktheit existiert hätten oder die Wälder mit Wilden Kindern überfüllt gewesen wären; dennoch wird festgehalten: „Il n’est pas différent de ceux dont nous venons de parler […].“GALL & SPURZHEIM, Anatomie et physiologie, Bd. 2, 42. 683 EDGEWORTH, Practical Education, Bd. 1, 95. 684 JEAN ETIENNE DOMINIQUE ESQUIROL, Des maladies mentales considérées sous les rapports médical, hygiénique et médico-légal, 2 Bde., Paris 1838. Die Passage über die Idiotie war nach GINESTE, Victor, 111 (Anm. 45) jedoch schon 1818 im Dictionnaire des Sciences Médicales, Bd. XXIII erschienen. Zu Entwicklung und Eigentümlichkeiten der französischen Psychiatrie vgl. generell auch RAFAEL HUERTAS, Locura y degeneración : psiquiatría y sociedad en el positivismo francés, Madrid 1987.
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Einer Detailanalyse der verschiedenen Formen der Idiotie und des Kretinismus folgend, die weitläufig von anthropometrischen Daten unterfüttert wird, gelangt dieser zu der Einschätzung, dass hier auch einige Bemerkungen über die sauvages gut aufgehoben seien. Eine wesenhafte Nähe von idiot und sauvage ergab sich für ihn bereits rein terminologisch, führte er den Begriff doch auf das griechische idios zurück: „Le mot […] exprime l’état d’un homme qui, privé de raison, est seul isolé en quelque sorte du reste de la nature.“685 Esquirol versucht in der Folge den Begriff sauvage exakter zu fassen und gelangt schließlich zu einer Zweiteilung: Wirkliche hommes sauvages, ist sich Esquirol sicher, existieren nicht; jedenfalls nicht, wenn man darunter „un homme doné d’intelligence, vivant seul, isolé, étranger à toute civilisation, sans éducation et n’ayant jamais communiqué avec autres hommes“686 verstehe. Sicher aber gebe es sauvages, wenn man darunter Menschen in einem niedrigeren Zivilisationszustand fassen wolle; zwischen ihnen und den Menschen der Städte gebe es keinen Wesensunterschied, die Differenzen ließen sich auf mangelnde Erziehung, Belehrung und Erfahrung zurückführen und seien daher reversibel. Schließlich aber gebe es eine dritte Gruppe, die nun gar keinen Anspruch auf Wildheit habe: die Menschen, die man in den Wäldern gefunden habe und die schließlich von den philosophes des vergangenen Jahrhunderts als perfekte Menschen verkauft worden seien, von denen man behauptet habe, dass sie mit nur ein wenig Erziehung Newton und Bossuet übertreffen würden. Diese seien nichts als Idioten oder Imbezile, die ihr Überleben einzig ihrem Selbsterhaltungstrieb und dem glücklichen Zufall zu danken hätten.687 Esquirol musste seine Phantasie keineswegs überstrapazieren, um von dieser Prämisse aus die Lebensgeschichte Victors, und mit der seinigen die aller Wilden Kinder, nachzuzeichnen. Ohnehin sah er gerade in den ländlichen Gebieten einen weit erhöhten Anteil Geistesschwacher in der Bevölkerung.688 Une mère coupable, une famille dans la misère abandonne son fils idiot ou imbécille; un imbécille s’échappe de la maison paternelle, et s’égare dans les bois, ne sachant retrouver son habitation; des circonstances favorables protègent son existence; il devient léger à la course, afin d’éviter le danger; il grimpe sur les arbres pour se soustraire aux poursuits de quelque animal, qui le menace; pressé par la faim, il se nourrit de tout ce qui tombe sous sa main; il est peureux parce qu’il a été effrayé; il est entêté, parce que son intelligence est faible. Ce malheureux est rencontré par des chasseurs, amené dans une ville, conduit dans une capitale, placé dans une école nationale confié aux instituteurs les plus célèbres; la cour, la ville s’intéressent à son sort et à son éducation; les savans font des livres pour prouver que c’est un sauvage, qu’il deviendra un Leibniz, un Buffon; le médecin observateur et modeste assure 685 ESQUIROL, Des maladies mentales, Bd. 2, 284. 686 Ebd., 373. 687 Ebd., 374: „Et ces hommes trouvés dans les bois, sur lesquels l’éloquence des philosophes du dernier siècle a appelé l’intérêt du monde civilisé, qu’on a montrés, avec affectation, à la curiosité publique, comme des hommes parfaits, supérieurs aux Newton et aux Bossuet euxquels ils ne manquait que l’éducation: ces infortunés n’étaient point des sauvages, c’étaient des idiots, des imbécilles abandonnés ou fugitifs que l’instinct de leur conservation, et mille circonstances fortuites avaient préservé de la mort.“ 688 Ebd., 342: „Il y a plus des idiots dans les campagnes que dans les villes.“
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que c’est un idiot. On appelle de ce jugement; on fait de nouveaux écrits; on discute; les meilleures méthodes, les soins plus éclairés sont mis en œuvre pour l’éducation du prétendu sauvage; mais, de toutes ces prétentions, de tous ces éfforts, de toutes ces promesses, de toutes ces espérances, qu’est-il résulte? Que le médecin observateur avait bien jugé; le prétendu sauvage n’était autre qu’un idiot. Tel avait été le jugement de Pinel sur le Sauvage de l’Aveyron. Concluons de ceci que les hommes dépourvus d’intelligence, isolés, trouvés dans les montagnes, dans les forêts, sont des imbécilles, des idiots égarés ou abandonnés.689
Es liegt klar auf der Hand, dass es Esquirol nicht einfach nur darum ging, eine Streitfrage unter Brüdern im Geiste der Wissenschaft zu entscheiden oder auch nur einen Fehler zu korrigieren. Vielmehr werden hier über Victor und die Wilden Kinder frontal die philosophes angegriffen, und mit ihnen steht das Denken einer ganzen Epoche am Pranger, wird zum Witzobjekt degradiert. Jeder Leser – und es werden vorwiegend die Mediziner und Gebildeten gewesen sein – musste sich fragen, wie verblendet oder vom Systemgeist zerfressen man gewesen sein musste, an diese Menschen ein anthropologisches Erkenntnisinteresse herangetragen zu haben. Immerhin konnte man selbst aber sicher sein, dem richtigen Lager anzugehören, den Sprung in die moderne und korrekte Wissenschaft getan zu haben: Pinel, médecin observateur et modeste, hatte es eben gewusst. Auf dem Prüfstand, oder besser auf dem Schafott, stand jedoch auch die ganze Methodik und Herangehensweise der Aufklärungswissenschaften. Wo Buffon und Rousseau vom Boden der Naturgeschichte aus das Menschliche ergründen wollten, und wo der style nicht nur Requisit, sondern auch Argument war, ernüchterten Esquirol und seine Kollegen die Anthropologie. Was nicht messbar, nicht quantifizierbar, nicht in Zahlen und Daten darstellbar war, das musste prinzipiell suspekt erscheinen. Das Resultat waren Rückschlüsse, wie sie die Abbildung unten zeigt: Je mehr der Idiotie zugeneigt, desto kleiner der Umfang des Kopfes – jedenfalls vielleicht.690 Eine andere Stelle des gleichen Werkes setzt nämlich hinter die diagnostische Nutzbarkeit ein großes Fragezeichen. Zwar sei es normalerweise so, dass der Schädel eines Idioten gewisse Deformationen aufweise; gleichzeitig gilt aber: […] le volume et la forme du crâne des idiots offrent autant des variétés, que le volume et la forme du crâne des hommes complets; il n’y a pas de forme propre pour l’idiotie. Une tête trop petite, proportionellement à l hauteur du corps, une tête trop grosse, peuvent être la tête d’un imbécille ou d’un idiot; il en est de même d’une tête réguliere et d’une tête déformée.691
Muss man also Esquirol fraglos zugute halten, dass er seine Befunde nicht unzulässig simplifizierte, gerät man doch ob des Erkenntniswerts ins Grübeln: Hier 689 Ebd., 375 f. 690 Ähnliche Entwicklungen weist HAGNER für das benachbarte Gebiet der Teratologie nach: „Im 18. Jahrhundert verblich das Bild einer spielerischen und trickreichen, stets Überraschungen bereithaltenden Natur. Es wich einer Vorstellung von der Natur, die auf Gesetzmäßigkeiten, prästabilen Formen und deterministischen Abläufen basierte. Abweichungen und Außergewöhnlichkeiten wurden nicht mehr als Folge einer ingeniösen Launenhaftigkeit angesehen, sondern wurden auf Regelhaftigkeiten und Gesetzmäßigkeiten hin untersucht.“ MICHAEL HAGNER, Vom Naturalienkabinett zur Embryologie,75 f. 691 ESQUIROL, Maladies mentales, Bd. 2, 342 f.
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ließ sich nur noch entnehmen, dass Geistesschwache Köpfe hatten – gleichzeitig bestand Esquirol jedoch auf der erheblichen Bedeutung der Schädelformation. Victor jedenfalls war mit einem eher kleinen Schädel gesegnet und passte daher perfekt ins Schema.
Craniometrische Tabelle. „De ce tableau, il résulte […] que la circonférence de la tête […] diminue dans une proportion presque égale de la femme ordinaire à l’idiotie privée même d’instinct.“ Tabellen dieser Art finden sich über das gesamte Werk verstreut. Geisteskrankheiten sollten sich nun vermessen und entlang anthropometrischer Befunde kategorisieren lassen. ESQUIROL, Des maladies mentales, Bd. 2, 349. Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Halle.
Solche Annahmen überlagerten offensichtlich auch die Wahrnehmung des Militärarztes LARREY, der während des Russlandfeldzuges 1812 ein Kabinett in Vilnius besucht hatte. Dort fand er das Skelett eines Zwerges, der in den Wäldern Litauens gelebt, sich von rohem Fleisch und Wildfrüchten ernährt habe und dessen crâne m’a paru avoir beaucoup de rapport avec la tête du sauvage de l’Aveyron, que j’avais vu chez M. le docteur Itard, à mon retour d’Égypte.
Abgesehen von der Ähnlichkeit des Schädels mit dem Victors zeige das Skelett gleichzeitig aber auch beaucoup d’analogie avec celui de l’ourang-outang. Le crâne est très-petit, comparativement avec celui des personnes même de cette taille et de cet âge. Le front est presque nul, l’occiput est très-développé, et forme une saillie très-forte à la protubérance occipitale. Les deux mâchoires sont très-saillantes aux arcades dentaires: les dents incisives et canines, d’une blancheur éclatante, sont presque coniques, aiguës, et plus longues que dans l’état ordinaire. Les membres supérieures ont plus de longeur que chez l' homme bien constitué; les inférieurs sont très-courts en proportion, et les calcanéums très-prolongés en arrière.692
692 DOMINIQUE JEAN LARREY, Mémoires de chirurgie militaire, et campagnes du Baron D. J. Larrey, 4 Bde. Paris 1812–1817; hier Bd. IV (1817), 17 f.
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Mit zeitlichem Abstand betrachtet führten die Versuche, ein Thema auf den Boden der „Wissenschaftlichkeit“ zurückzuführen, das sich im 18. Jahrhundert verselbständigt hatte, also durchaus nicht zu dem gewünschten Resultat. Im Gegenteil zeigt sich, dass eine gebildete, und insbesondere medizinisch bewanderte Person wie Larrey rezente anthropometrische Ansätze einfach auf den überkommen geglaubten Diskurs aufpfropfte und damit eine weit verwegenere These in den Raum stellte, als dies die bemitleideten philosophes je getan hatten. Bei ihm verwischen nun die Grenzen zwischen Orang Utang und Wildem Kind, weil beide mit einer fragwürdigen Klammer, der Schädelgröße, zusammengehalten werden. KARL ASMUND RUDOLPHI vermeinte später überdies, den von Larrey beschriebenen Zwerg mit den „Knaben, welche in Litthauen unter den Bären gefunden sind“693 gleichsetzen zu können, was die Bezüge zwischen Orang Outang, Schwachsinnigen und Wilden Kindern weiter generalisierte und verfestigte. Gleichzeitig brachen solche Schlüsse jedoch ohnehin nur oberflächlich mit jenem Jahrhundert, dem eigentlich der Garaus gemacht werden sollte: Die Physiognomik hatte ja seit Aristoteles und dann insbesondere mit Camper und Lavater behauptet, aus dem Äußeren auf die innere Verfassung schließen zu können. Gall betont zwar, dass er „nichts weniger als ein Fysiognomiker“694 sei, und die französischen Ideologen hatten tatsächlich erhebliche Probleme mit ihrem WahlLandsmann Gall.695 Esquirol erwähnte zwar die Konzepte Lavaters und Campers, hielt diese – vor allem Campers auf die Ästhetik abzielenden Gesichtswinkel – jedoch für viel zu simplifizierend und diagnostisch wertlos: Einige Idioten überträfen dessen terme extrême von 90 Grad, während „des individus très raisonnables“ mitunter weniger als 80 Grad aufwiesen.696 Beide – Gall wie Esquirol –
693 KARL ASMUND RUDOLPHI, Grundriss der Physiologie, Bd. 1, Berlin 1821, 25. 694 GALL, Schreiben an Retzer, 330. Diese hätten ihre Thesen aus dem luftleeren Raum gegriffen, während er, Gall, streng empirisch arbeite. Er sei auch mitnichten ein „Kranioskop“: Vielmehr gehe es ihm um das Gehirn. 695 Gall war 1819 als Franzose naturalisiert worden, jedoch trotz Antrages nicht in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen worden; vgl. SCHRAMM-MACDONALD, „Gall, Franz Josef“, in: ADB, Bd. 8, 315–316; hier 315. OEHLER-KLEIN, Schädellehre, 71 geht davon aus, dass Galls Vorstellung einer durch das Gehirn determinierten menschlichen Natur, und der damit zusammenhängende kulturanthropologische Pessimismus, automatisch zu Verwerfungen mit den sensualistisch-erziehungsoptimistischen Ideologen führen musste. Zu bedenken ist hier aber, dass etwa Pinel, den Gall kennen gelernt hatte, zwar mit dem Sensualismus sympathisierte, sich von diesem, wie klar an seiner Beurteilung Victors ersichtlich, aber nicht davon abhalten ließ, körperliche Defizienzen für ausschlaggebend zu erachten – was sich durchaus mit Galls Ansatz decken konnte. Zur generellen Rezeption Galls, etwa durch Goethe und Hegel vgl. ebd., 211 ff. 696 „Camper qui, au reste, n’a cherché dans la ligne faciale qu’un caractère de beauté de la face, fixe à quatre-vingt-dix degrés le terme extrême de la ligne faciale. Il est des idiots dont la ligne faciale a plus de quatre-vingt-dix degrés, et des individus très raisonnables dont la ligne faciale n’en a pas quatre-vingts.“ ESQUIROL, Maladies mentales, 351. Tatsächlich scheint sich Esquirol mit Camper kaum detailliert beschäftigt zu haben, denn dieser setzte das antike Optimum des Gesichtswinkels auf 100 Grad, während er den durchschnittlichen Gesichtswinkel des Europäers bei etwa 80° platzierte. Vgl. MEIJER, Race and Aesthetics, 108.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
mussten daher glauben, sich aus guten Gründen von der unwissenschaftlichen Physiognomik weit distanzieren zu können. Diese Bedenken gingen jedoch bald wieder verloren. Der der Phrenologie mehr als zugeneigte Alexander Walker etwa betitelte 1834 eines seiner Werke – diesem ist auch das kapiteleinleitende Kupfer der Hirnorgane nach Spurzheim entnommen – mit Physiognomy founded on physiology. Zwar soll die These OEHLER-KLEINS, dass Gall nachgerade eine „Destruktion traditioneller Physiognomik“697 vornahm, weil er nur noch von der direkten Wirkung der Hirnorgane auf den Schädel ausging „und nicht etwa wie Lavater auch ein dort und analog an anderen Körperteilen merkbares Symbol der geistigen bzw. moralischen Stellung des jeweiligen Menschen im Naturgefüge annahm“698, hier gar nicht in Abrede gestellt werden: Wenn aber auch Physiognomik und Phrenologie oder psychiatrische Craniometrie auf völlig verschiedenen theoretischen Fundamenten geruht haben mögen, blieb deren diagnostischer Grundanspruch doch ein ganz ähnlicher: der Rückschluss vom Äußeren auf das Innere. Ob dabei äußere und innere Verfassung als parallele Phänomene einer abgetrennten Ursache oder in einem direkten Wirkungsverhältnis zueinander stehend gedacht wurden, spielt an dieser Stelle keine entscheidende Rolle: Von Interesse ist die praktische Nutzbarkeit, auch unter Verkehrung der ursprünglichen Motive.699 Insbesondere Camper war jedoch nicht etwa ein Außenstehender, ein von den philosophes Belächelter gewesen, sondern hatte seine Rolle schon in dem Getriebe der Aufklärungswissenschaften gespielt.700 Als klammernder Faktor – seine Bedeutung für Herder wurde ja schon dargestellt – sollte er daher nicht übersehen werden. Zum einen lieferte er 1779 einen Tyson widersprechenden Befund bezüglich der Sprachorgane des Orang Outang: Ihr Bau sei „evident proof of the incapacity of the Orangs, apes, and monkies, to utter any modulated voice […]“701. Zum anderen ließ sich seine Gesichtswinkel-Ästhetik, wenn auch von Gall und Esquirol als unzureichend empfunden, doch ohne größeren Aufwand auf das 697 OEHLER-KLEIN, Schädellehre, 151. 698 Ebd., 172. 699 MEIJER, Race and Aesthetics, 139 sieht den Sachverhalt ähnlich, wenn sie von Camper ausgehend die Verwendung des Gesichtswinkels in der Rassenkunde des 19. Jahrhundert nachzeichnet, auch wenn dies Campers Motiven widersprach. 700 „[…] important tenets of physiognomic discourse continued under the guise of phrenology well into the 19th century“, stellt auch RICHARD TWINE fest (Physiognomy, Phrenology and the Temporality of the Body, in: Body & Society, 8:1 (2002), 67–88, hier 68). Dieser übergeht Camper jedoch völlig und bezieht sich nur auf Lavater. 701 PETER CAMPER, Account of the Organs of Speech of the Orang Outang, 156. Camper war sich im Übrigen schon hier völlig darüber im Klaren, dass verschiedene Spezies vorliegen mussten: „The Orang Outangs described by TULPIUS and TYSON came from Angola, and both had black hair, and large nails upon their great toes. [T]he animals are represented and described as very strong and muscular; whereas all the Orangs from Borneo, I have seen, were the contrary, and had very lean arms and legs. […] The organs of voice of the Angolese Orang, dissected by TYSON, are very different from those of the Pithecos which I dissected 1777.“ Ebd., 147. Sein Verdikt – keine Sprachfähigkeit – bezieht sich jedoch ausdrücklich auf alle Orangs und Affen.
4.5. Das Ende der Naturgeschichte der Wilden Kinder
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intellektuelle Vermögen übertragen. Camper betonte zwar, dass das ästhetische Empfinden der reinen Gewohnheit entsprang702, und insbesondere das griechische Ideal, in dem ein Gesichtswinkel von um die 100° auftrat, hielt er nicht für eine korrekte Repräsentation der Natur, sondern den künstlerischen Versuch, perspektivische Fehler, die durch die Betrachtung der Statuen entstanden, auszugleichen.703 Gleichzeitig hatte er aber eine vom Europäer- zum Affenkopf verlaufende Linie feststellen können, zwischen deren Polen sich Neger und Kalmucken einreihten.704 Lavater war an diesem Punkt noch deutlich weiter gegangen und konnte sich nicht vorstellen, dass „Newton und Leibniz allenfalls ausgesehen haben könnten, wie ein Mensch im Tollhause, […] daß der eine von ihnen im Schädel eines Lappen die Theodicee erdacht, und der andere im Kopfe eines Labradoriers […] die Planeten gewogen und den Lichtstrahl gespalten hätte.“705 Man darf wohl zweifeln, ob diese fast parallel geäußerten Ansichten in der Rezeption deutlich getrennt wurden. Denn sah man Camper als Naturkundler und Anatom, konnte leicht in Vergessenheit geraten, dass seine Überlegungen zum Gesichtswinkel gar nicht diesem Kontext, sondern seinem zweiten großen, und für Camper klar separierten Betätigungsfeld entwachsen waren: der Kunst, und hier insbesondere der Ästhetik. Verband man seine These aber mit der Kette der Wesen706, was vor allem die graphische Repräsentation ohne Weiteres nahe legte, 702 Vgl. MEIJER, Race and Aesthetics, 160 ff. 703 Ebd., 159 f. 704 „When in addition to the skull of a negro, I had procured one of a Calmuck, and had placed that of an ape contiguous to them both, I observed that a line, drawn along the forehead and the upper lip, indicated this difference in national physiognomy; and also pointed out the degree of similarity between a negro and the ape. By sketching some of these features upon a horizontal plane, I obtained the lines which made the countenance, with their different angles. When I made these lines to incline forwards, I obtained the face of an antique; backwards, of a negro; still more backwards, the lines which mark an ape, a dog, a snipe, &c. – This discovery formed the basis of my edifice.“ PETRUS CAMPER, The works of the late Professor Camper, on the connexion between the science of anatomy and the arts of drawing, painting, statuary, &c. &c. in two books […]. Translated from the Dutch by T. Cogan, M.D, London 1794, 9. 705 JOHANN CASPAR LAVATER, Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig; Winterthur 1775–1778; hier Erster Versuch, 46. 706 Ob Camper selbst Anhänger dieser Theorie war, ist fraglich. Als Juror der Holländischen Akademie der Wissenschaften favorisierte er 1783 den Beitrag Jean André DeLucs auf die Preisfrage, ob man eine Kette der Wesen real annehmen müssen („Indeed I have agreed for a long time with the conclusion of this beautiful and sublime treatise.“). DeLuc war zu einem negativen Ergebnis gekommen und hielt dafür, dass die Kette eine erratische menschliche Konstruktion sei. Im selben Jahr nahm Camper selbst an einem Wettbewerb teil und stellte in seinem Beitrag fest, dass eine solche Kette existiere: „Starting from the Humans to the porpoise, there is a Chain of Modifications, consisting of a row of links, which […] are fused to such an extent that they touch each other.“ Meijer bietet als Lösung Campers Ehrgeiz an: Er habe sich möglicherweise in eine allgemein akzeptierte und damit aussichtsreiche Startposition bringen wollen, selber das Konzept aber kritisch gesehen. Hierzu passt, dass DeLucs Beitrag kurz zuvor trotz Campers Zuspruchs durchgefallen war. Vgl. MEIJER, Race and Aesthetics, 48 f.
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4. Leuchtfeuer: Die Evidenz der Wilden Kinder
ergab sich, verbunden mit den Überzeugungen Lavaters, eine scheinbar konsistente und überaus brauchbare Grundlage für die Pathologisierung der Wilden Kinder.
Campers geometrische Methode zur Bestimmung des Gesichtswinkels. Gemessen wird der Winkel zweier Linien: von der Nasenbasis zum Ohrloch und von den oberen Schneidezähnen zum vorstehendsten Teil der Stirn. Obwohl Campers Interessen ästhetisch-künstlerischer Natur waren, konnte die Nebeneinanderstellung von Mensch und Tier Gradationsideen durchaus befeuern. Die waagerecht durch die Ohren verlaufende Linie würde in Herders Konzept nach unten, zum ersten Halswirbel rutschen. Herder wollte damit eine stringente Anbindung an die aufrechte Haltung des Menschen sicherstellen. Falttafel Tab. 1 zu PIERRE CAMPER, Dissertation sur les variétés naturels qui caractérisent la physionomie, Paris 1791.Universitätsbibliothek Augsburg.
Allerdings ist zu betonen, dass solche letztlich auf Physiognomie und Craniometrie fußenden Vorstellungen keineswegs den unangefochtenen Stand der Wissenschaft darstellten. Im Gegenteil stellte EMIL OSANN, der sich im Kreis der einflussreichen Berliner physiologischen Schule um Hufeland bewegte707, 1828 fest, man kenne „nicht eine besondere Form des Hirns, des Schädels oder anderer Organe, die zu Vorstellungskrankheiten disponirte, vielmehr sehen wir häufig allerlei Fehler der Schädelbildung bei ganz Gesunden, und bei vielen Blödsinnigen finden wir sehr regelmäßig gebildete Schädel.“ 708 Wie wir oben gesehen haben, widersprach er damit nicht einmal direkt Esquirols Ergebnissen, betonte aber im Gegensatz zu diesem ganz deutlich, dass craniometrischen Befunden 707 Hufeland selbst hatte allerdings zu Beginn des 19. Jahrhunderts Gall als einen „unbefangenen, von jeder Charlatanerie, Unwahrheit oder transcendentellen Schwärmerei weit entfernten, mit einem seltenen Grade von Beobachtungsgeist, Scharfsinn und Inductionstalent begabten Mann“ empfangen; zit. n. SCHRAMM-MACDONALD, „Gall“, 315. 708 EMIL OSANN, „Amentia“ in: Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften, hrsg. von den Professoren der medicinischen Fakultät zu Berlin: C. F. V. GRAEFE, C. W. HUFELAND, H. F. LINK, K. A. RUDOLPHI, E. VON SIEBOLD, Bd. 2, Berlin 1828, 203.
4.5. Das Ende der Naturgeschichte der Wilden Kinder
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kaum Signifikanz zugesprochen werden konnte. Noch weiter ging ein Jahr später das von PIERER herausgegebene Medizinische Realwörterbuch: Des Menschen Bestimmung ist, in Geselligkeit zu leben, und unter Anleitung in seiner Kindheit, und überhaupt im Umgang mit seinen Mitmenschen, seine Anlagen zu demjenigen Charakter auszubilden, der eben dadurch, weil er den Menschen über die Thierwelt erhebt, als Humanität bezeichnet wird. Auch unter den rohesten Nationen mangelt dieser Charakter nicht ganz, wenn er auch auf einer tiefen Stufe zurückgedrängt bleibt. Wenn aber der Mensch von frühester Kindheit, und wenigstens von der Lebensperiode an, von welcher ihm Eindrücke in dem Gedächtniß erhalten bleiben, aller Gemeinschaft mit andern Menschen entzogen ist, bleibt er auch in den Banden der thierischen Natur, und diese entwickelt sich dann im Körperlichen um so kräftiger, je weniger seine Triebe auf etwas Anderes, als die dringendsten Bedürfnisse seiner Selbsterhaltung sich richten. Dies lehrt insbesondere die Geschichte einzelner unglücklicher Wesen, welche in frühester Kindheit in der Wildniß, von Menschen verlassen, einzig ihrem guten Glück ihre Selbsterhaltung zu danken hatten, das dann gewöhnlich fast wie durch ein Wunder sie den Gefahren entzog, die ihrem kümmerlichen Dasein auf jedem ihrer Schritte drohten709
Die Grundprämisse, dass die Struktur des Schädels die Form des Hirns, und damit dessen spezifische Funktionalität wiederspiegele, erfuhr aus diesem Denken eine ganz entscheidende Modifikation, weil nun Umwelteinflüssen die maßgebliche Rolle in der Formung der menschlichen Physis zugeschrieben wurde. Argumentierte Esquirol, die Wilden Kinder seien allesamt als Idioten geboren worden, ließ sich hier wieder ableiten, dass diese aufgrund der äußeren Umstände so geworden waren, wie man sie schließlich auffand. Linnés Behauptung, der wilde Mensch sei tetrapus, mutus, hirsutus mochte also doch stimmen, ohne dass man hier aber einen Ur- oder Naturzustand des Menschen einfordern musste: Lediglich dessen Adaptionsfähigkeit schälte sich deutlich heraus. Schließlich und endlich widersprach der These, dass es sich bei den Wilden Kindern um kongenitale Idioten handelte, jedoch noch etwas anderes: CARL HEINRICH RÖSCH etwa hatte Feldstudien in Württemberg betrieben und glaubte sicher belegen zu können, dass Idiotie sich keinesfalls nur in der Schädelform, sondern im körperlichen Gesamthabitus abbilde: „Alle Blödsinnigen sind muskelschwach, zittern, haben einen unsichern Gang, ihre Muskeln sind dünn, bloß, schlaff, hängend […].“710 Legte man eine solche Gesamtdiagnostik, die aufgrund ihrer Breite einer nur auf craniometrischen Befunden fußenden Diagnose überlegen zu sein schien, an die überlieferten Fälle an, stellte man aber eine über dem Durchschnitt liegende körperliche Verfassung der Wilden Kinder fest – was Pierers Vermutung, Umwelteinflüsse spielten eine bedeutende Rolle, bestätigen konnte. Ausgebildet wurden jene Fähigkeiten, die für ein Überleben in der Wildnis notwendig waren; zurück traten mentale Kompetenzen, die nur in der Gesellschaft benötigt und damit ausgebildet wurden. 709 JOHANN FRIEDRICH PIERER (Hg.), Medicinisches Realwörterbuch: zum Handgebrauch practischer Ärzte und Wundärzte und zu belehrender Nachweisung für gebildete Personen aller Stände, 8 Bde., Leipzig 1829; hier Bd. 8, 557 f. 710 CARL HEINRICH RÖSCH, Untersuchungen über den Kretinismus in Württemberg, Erlangen 1844, 146; zit. n. TAFEL, Fundamentalphilosophie, 147.
5. HOHLSPIEGEL: TRADITIONSLINIEN DES 19. JAHRHUNDERTS Während deutsche Autoren im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts in der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Wilden Kinder meist eine nachgeordnete Rolle spielten und den Konzeptionen eines Linné, Rousseau oder Buffon allenfalls Details hinzufügten, lässt sich bereits mit Schreber ein Umschlag verorten: Getragen von seinen Forschungsergebnissen verschwanden die vermeintlichen Zeugen des Naturzustandes nach und nach weitgehend von der Bildfläche. Ebenso wurden sie jedoch von Deutschen wiederbelebt: Die neuere Rezeption der Fälle wäre anders verlaufen, hätten sich im 19. Jahrhundert nicht JOHANN FRIEDRICH IMMANUEL TAFEL (1796–1863) und AUGUST RAUBER (1841–1917) weitläufig ihrer angenommen.1 Sie sorgten damit nicht nur für eine Kontinuität der Vermittlung, an die im 20. Jahrhundert Autoren wie Zingg wieder anknüpfen konnten, sondern prägten die weitere Rezeption entscheidend. Beide eint, dass sie große Katalogisierungen der überlieferten Fälle vornahmen: Tafel listet sechzehn, Rauber immerhin zwölf. Vor allem aber: Beide brachten den Kindern keineswegs ein bloß lexikographisches Interesse entgegen, sondern wollten sie, wie die Wissenschaft des 18. Jahrhunderts, für eigene Ziele nutzen. Dennoch wurde bisher nirgends der intrinsische Wert der Wilden Kinder für die Theoriebildung dieser Vermittler – Theologe und Philosoph der eine, Anatom und Biologe der andere – diskutiert. Damit ergibt sich für die rezeptionsgeschichtliche Verarbeitung eine Lücke, die von der modernen Forschung offenbar gerne übersehen wird: Sie wurden im 20. Jahrhundert zu identitätslosen Zulieferern, und offenbar waren die Belieferten so froh darüber, eine Unmenge von Informationen gratis zu erhalten, dass eine Quellenkritik völlig unterblieb. Bis in die Deutungen hinein werden Tafel und Rauber von der Literatur des 20. Jahrhunderts wiedergekäut – worüber sich viele Autoren der Generation nach Zingg möglicherweise gar nicht mehr bewusst waren und sind. Auch hier werden nur einige erste Denkanstöße gegeben werden können: Über Rauber liegt bis heute keine größere biographische oder wirkungsgeschichtliche Arbeit vor2, während die frühen Viten Tafels von ihm selbst3 oder enthusiastischen Anhängern4 verfasst wurden und insofern 1
2 3
JOHANN FRIEDRICH IMMANUEL TAFEL, Die Fundamentalphilosophie in genetischer Entwicklung, mit besonderer Rücksicht auf die Geschichte jedes einzelnen Problems, Erster Theil, Tübingen 1848 (zweiter Teil nicht erschienen); AUGUST RAUBER, Homo sapiens ferus oder die Zustände der Verwilderten und ihre Bedeutung für Wissenschaft, Politik und Schule. Biologische Untersuchung […], Leipzig 1885. Insofern muss hier Rekurs auf einen älteren Beitrag genommen werden: WILHELM LUBOSCH, August Rauber. Sein Leben und seine Werke, in: Anatomischer Anzeiger, 58 (1924), 129– 170, der eher eine Gedenkrede als eine kritische Auseinandersetzung darstellt. Magazin für die Neue Kirche, Bd. III, 202 ff.
5.1 Die Visionen des Bibliothekars
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für den vorliegenden Rahmen eher mehr als weniger Probleme aufwerfen. Immerhin finden sich mit den Beiträgen EBERHARD ZWINKS5 und WALTER DREß’ kurzer Biographie6 sehr verwertbare Ansatzpunkte, die für eine erste Einschätzung hinreichen mögen. 5.1 DIE VISIONEN DES BIBLIOTHEKARS Tafel legte 1848 seine Fundamentalphilosophie vor, mit der er sich in Tübingen habilitierte.7 Vorgezeichnet war dieser Weg wahrlich nicht: Er stammte aus bescheidenen pietistischen Verhältnissen, hatte sich aber vor allem seit seiner Jugend den Offenbarungslehren Swedenborgs zugewandt. So gab Tafel dessen lateinische Originaltexte heraus und verfasste Übersetzungen, die z. T. bis heute noch in Gebrauch sind; hinzu kamen eigene dogmatische Beiträge. Die Folge war ein steter Konflikt mit dem dominanten Protestantismus lutherischer Prägung. Die philosophischen Arbeiten Tafels stellen insofern nur einen Nebenstrang seiner Tätigkeiten dar, aber auch sie waren „getragen von dem Zwecke, dem er sein Leben widmete.“8 Das Verhältnis zu dieser Disziplin war ohnehin verkompliziert, hatte sich der von ihm verehrte Kant doch in den Träumen eines Geistersehers gegen den sich außerweltlich inspiriert wähnenden Swedenborg gewandt und diesen zu einem „Schwärmer“ erklärt.9 4 5
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So jedenfalls H. SPITTA in seinem Artikel (H. SPITTA, „Tafel: Johann Friedrich Immanuel“, in: ADB, Bd. 37, 846 ff.; hier 848); genannt wird CH. DÜBERG, Leben und Wirken von Dr. Joh. Fr. Imm. Tafel, Wismar 1864; 2. Auflage hg. v. TH. MÜLLENSIEFEN, Basel 1868. EBERHARD ZWINK, „Tafel, Johann Friedrich Immanuel“, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, hg. v. FRIEDRICH-WILHELM und TRAUGOTT BAUTZ, 26 Bde., Hamm u. a. 1990 ff.; hier Bd. XI, Herzberg 1996, Sp. 398–404; zitiert wird nach der Online-Version, URL: http://www.bautz.de/bbkl/t/tafel_j_f_i.shtml; DERS., Die Neue Kirche im deutschsprachigen Südwesten des 19. Jahrhunderts. Johann Friedrich Immanuel Tafel – Friede. Gustav Werner – Liebe. Johann Gottlieb Mittnacht – Lehre. Erweiterte Fassung eines Vortrags bei dem schwedisch-deutschen Arbeitsgespräch „Emanuel Swedenborg“ in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Mai 1988, Stuttgart 1993; zitiert wird i. d. F. nach der OnlineVersion, URL: http://www.wlb-stuttgart.de/referate/theologie/volltext/nk.html. WALTER DREß, Johann Friedrich Immanuel Tafel (1796–1863). Ein Lebensbericht zugleich ein Beitrag zur württembergischen Kirchen- und Kulturgeschichte im 19. Jahrhunderts, Zürich 1979. Man kann sich nach Lektüre gut vorstellen, was Spitta meinte, als er von enthusiastischen Anhängern sprach. Herausgeber Friedemann Horn, selbst Mitglied der Neuen Kirche, kann sich nicht enthalten, Dreß’ Text mit einiger Penetranz Anmerkungen beizufügen, die dessen „Fehlinterpretationen“ Swedenborgs korrigieren sollen. Dreß hatte in die Familie Tafel eingeheiratet, war aber kein Swedenborgianer. Mein Dank geht an dieser Stelle an Dr. Eberhard Zwink von der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, dessen freundliche Hilfe die Arbeit an diesem Kapitel enorm erleichterte. Wo nicht anders vermerkt, folgt der biographische Abriss SPITTA, „Tafel: Johann Friedrich Immanuel“. Ebd., 347. Tafel betrieb aufwändig, dieses Dilemma zu beseitigen, indem er einen Brief Kants, der eine gegenteilige Haltung bezeugte, umzudatieren versuchte. Vgl. ebd. ZWINK, Die Neue Kirche
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5. Hohlspiegel: Traditionslinien des 19. Jahrhunderts
Der Swedenborgianismus prägte Tafels Lebenslauf so radikal, dass er wenigstens in seinen Grundlinien zu skizzieren ist.10 Swedenborg (1689–1772) galt seiner Zeit zunächst als Universalgenie beinahe Leibnizschen Zuschnitts. Bewandert in Mathematik, Naturwissenschaften, Physik und Mechanik war er ab 1715 im schwedischen Bergwerkskollegium tätig. 1744 erfuhr er in Den Haag eine Christusvision, der im April 1745 eine Gottesvision, 1757 gar die Erlaubnis, dem Jüngsten Bericht beizuwohnen, folgte: Gott hatte ihn erwählt, „um endlich den Menschen den wahren Sinn der Heiligen Schrift zu vermitteln, und er erhält, um diese Aufgabe erfüllen zu können, als einziger Mensch freien Zugang zur himmlischen, zur geistigen Welt […].“11 Swedenborg, der sich selbst als einzigartigen Propheten, als „Vollender der Heilsoffenbarung“12 betrachtete, unternimmt daraufhin eine rationalistisch geprägte Neuinterpretation der Heiligen Schrift, deren Verständnis er von Ungereimtheiten befreien will: Hauptangriffspunkte sind die Trinitätslehre, die Christologie und Luthers Rechtfertigungslehre. In seinen Schriften verwirklichte13 sich für ihn und seine Anhänger „die zweite Wiederkehr Christi, die man nicht buchstäblich-wörtlich verstehen darf.“14 Vor allem die Infragestellung der orthodoxen Deutung der lutherischen Rechtfertigungslehre dürfte zu Bezugspunkten mit pietistischen Kreisen gesorgt haben: Sola fide könne nicht hinreichen; vielmehr müsse man tätig Gutes tun, die Gebote einhalten, um zur Erlösung zu gelangen. Tafel stammte aus einem moderat pietistischen Pfarrershaus, und wenn auch sein Vater große Besorgnis ob der Faszination für Swedenborg trug, die Johann Friedrich schon in seiner Jugend an den Tag legte, nagten am Sohn die religiösen Zweifel. Schon während seines Studiums gab er so die ersten Übersetzungen der Werke Swedenborgs heraus, und 1828 sollte sich die Angelegenheit endgültig entscheiden. Tafel, der schon zuvor der Seherin von Prevorst, Rike Hauffe, die wie Swedenborg mit Geistern kommunizierte, Besuche abgestattet hatte, erfuhr von dieser von einer Vision, die ihn betroffen habe: „Nachts 12 Uhr kam die lichte Gestalt, ich fragte sie: Sag mir, kann dieser Mann das Werk von Swedenborg völlig ausführen […]? Die lichte Gestalt verschwand, und plötzlich donnerte dieselbe Stimme oben von der Decke auf mich
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betont zu Beginn seines Kapitels über Tafel, dass die Tübinger Fakultät insgesamt von einer „rationalistisch-supranaturalistischen Richtung“ beherrscht gewesen sei und einen „aus Kants Vernunftkritik geborenen biblischen Rationalismus“ vertreten habe. Als Exponenten nennt Zwink die Professoren Gottlob Christian Storr und Johann Christian Flatt. Der Vorwurf der „Schwärmerei“ sollte nicht unterschätzt werden: In Kants Preußen war solche strafbar und konnte bis zur Zuchthausstrafe führen, während Regionen mit Neigung zum Pietismus Erweckungserlebnissen offener gegenüber standen; vgl. MARTIN TABACZEK, „Wunder“, „Wahnsinn“ und „Schwärmerey“ in der Erweckungsbewegung Minden-Ravensbergs im 19. Jahrhundert, in: WALZ u. a., Anfechtungen der Vernunft, 115–146; hier 116, 123. Ich folge hier weitgehend den Darstellungen Dreß’, Tafel, 9 ff. Ebd., 12. Ebd. Und verwirklicht, denn die Neue Kirche existiert nach wie vor; Zentren des Swedenborgianismus sind heute vor allem die USA und Großbritannien, aber auch die Schweiz. Ebd.
5.1 Die Visionen des Bibliothekars
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herein: ‚Ja, diese Seele soll an demselben Monat anfangen.‘“15 Hierzu muss man wissen: Tafel war zu diesem Zeitpunkt schon Unterbibliothekar in Tübingen16, den Weg ins Pfarramt hatte er trotz absolvierten Studiums, das er mit einer theologischen Dissertation 1821 abschloss, nicht angetreten.17 Seit 1825 arbeitete er mit der Auflage, die Schriften Swedenborgs weder mittelbar noch unmittelbar zu verbreiten. Dass diese Bedingung 1828, kaum ein halbes Jahr vor der Vision Hauffes, aufgehoben worden war, erschien ihm als klares weiteres Zeichen seiner Bestimmung. Tafels Verehrung Swedenborgs war schließlich grenzenlos: „[D]ie von Jesus Christus selbst durch Swedenborg der Christenheit geoffenbarten Lehren, welche an Erhabenheit und Heiligkeit alle bisher der Kirche bekannt gemachten Wahrheiten übertreffen, sind das einzige Mittel, eine klare, in sich zusammenhängende und in sich selbst vollendete Erkenntniß und eine unverwüstliche Überzeugung von der göttlichen Wahrheit hervorzubringen“18, hatte er bereits 1821 an einen Freund geschrieben. Sich selbst konnte er nun als maßgebliches Werkzeug 15 Ebd., 50. 16 Tafels Karriere und Wirken als Bibliothekar sind ein Kapitel für sich: Ein erstes Einstellungsgesuch war abgelehnt worden, er scheint sich aber dennoch mit Nebentätigkeiten in der Bibliothek nützlich gemacht zu haben. Als 1824 durch den Abgang seines Vorgängers die Stelle des Unterbibliothekars vakant wird, erhält er diese nur mit knapper Not und auf einjährige Probe. Aufgrund seiner religiösen Ausrichtung versucht man ihn danach zu entfernen, was erst ein Bittschreiben an den König abwendet. Dennoch bleibt der Arbeitsplatz über Jahre, und trotz mehrerer Anträge Tafels, man möge ihn endgültig anstellen, provisorisch. Erst 1829 erfolgte die endgültige Anstellung; offensichtlich waren finanzielle Aspekte ein weiterer Hemmschuh gewesen. In der Folge machte ihm dann jedoch sein Vorgesetzter, der Oberbibliothekar Robert von Mohl, das Leben zur Hölle und schikanierte ihn, wo er nur konnte. Die Beurteilung der Leistungen Tafels als Bibliothekar waren auch zunächst von dessen Lebenserinnerungen (ROBERT V. MOHL, Lebenserinnerungen. 1799–1875, Bd. 1, Stuttgart; Leipzig 1902, 155; zit. n. SOEHNLE, s. u.) geprägt: Tafel habe „nicht den mindesten Sinn für die Bibliothek“ gehabt und nur „möglichst ungestört an seiner Lebensaufgabe, nämlich an der Verbreitung der Lehre seines Meister Swedenborg“ arbeiten wollen. Dass ausgerechnet Tafel ins Zentrum der intriganten Tätigkeiten Mohls geriet, lag jedoch weniger an dessen Glauben, als an Mohls Plan, sich selbst als unumschränkten Herrscher der Bibliothek zu etablieren, indem er die von ihm vorgefundenen Zustände – angeblich eine „Bibliotheks-Schweinerei“ ungekannten Ausmaßes – erst reklamierte, um diese dann scheinbar in Ordnung zu bringen. Seine Untergebenen als bibliothekarisch minderbemittelt darzustellen war wohl vorsätzlich geplant. Tatsächlich war Tafel jedoch höchstwahrscheinlich „über Jahre hinweg der eigentliche Motor der Bibliothek, der eine wahre Sisyphusarbeit leisten mußte, um […] die 130.000 Bände große Bibliothek am Leben zu erhalten.“ Insgesamt müsse man ihn „als ausgesprochenen Pechvogel“ bezeichnen. Vgl. WERNER PAUL SOEHNLE, Gelehrtenwirtschaft hinter Schloss und Riegel. Die Universitätsbibliothek Tübingen am Anfang des 19. Jahrhunderts (1798–1836), Tübingen 1976, 19 ff.; 97. 17 Die von der Kirche bezogene Haltung scheint allerdings ambivalent gewesen zu sein. Während Zwink davon ausgeht, dass der Hang zu Swedenborg „den Weg ins Pfarramt der württembergischen Kirche“ versperrte, weiß SPITTA, „Tafel: Johann Friedrich Immanuel“, 346, dass „man ihm, trotz manchen Tadels, der gegen ihn erhoben wurde, […] doch drei Vicariate“ angeboten habe. 18 Tafel an P. M., zit. n. DREß, Tafel, 41.
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5. Hohlspiegel: Traditionslinien des 19. Jahrhunderts
der Popularisierung betrachten.19 1848 initiierte Tafel in Cannstatt darüber hinaus eine Generalversammlung der swedenborgianischen Neuen Christlichen Kirche, die diesen in der Folge in den Vorstand wählte und seine Übersetzungen weiter finanziell förderte.20 5.1.1. Der Ursprung der Vernunft Die Fundamentalphilosophie muss also vor diesem Hintergrund gelesen werden, und mit ihr die Diskussion um die Wilden Kinder. Denn als Swedenborgianer, gleichzeitig aber auch Anhänger Kants und der romantischen Philosophie, lag es für Tafel nahe, die Erkenntnismöglichkeiten, welche die Empirie bot, als beschränkt aufzufassen. Stattdessen wollte er gegen die „in neuern Zeiten versuchte Unterwühlung der Grundlage […] der Wissenschaftlichkeit“21 auf die philosophische Tradition zurückgreifen, um im akribischen Abgleich der Meinungen schließlich die vermittelnde, und damit wahrscheinlichste, Position zu finden.22 Weiträumig wird so zunächst eine Begriffs- und Bedeutungsklärung von Philosophie vorgenommen, und der Bruch zum Denken des 18. Jahrhunderts, die bereits gefestigte Aufsplitterung der Disziplinen, wird hier offensichtlich. Die Philosophie soll eine „apriorische und in so fern rationale Wissenschaft“ sein, die aber nicht, wie die Mathematik, auf Größen beschränkt ist. Ihr Ziel ist viel weiter gesteckt, nämlich die „allgemeinen und nothwendigen Bestimmungen und Verhältnisse des Seienden überhaupt, also nicht bloß die Quantität, sondern auch die Qualität und die Relation“ festzustellen; diese soll sie „auf den letzten und gewissesten Grund beziehen, und so alles aus dem Urgrund ableiten.“ 23 Damit werden die „übrigen“ Wissenschaften de facto zu Hilfswissenschaften der Philosophie, die jenen so erst einen gemeinsamen Boden verschafft, auf dem sich Erkenntnisse addieren und in Beziehung setzen lassen; sie ist damit, wie Aristoteles sagt, Wissenschaft der Wissenschaften. Wie aber gelangte der Mensch nun zu dieser Krönung seiner Geistestätigkeit, wie kam er dazu, „über die nächsten Bedürfnisse hinauszugehen, und sich über Thierheit und Thorheit zu erheben“24, wo doch „jene Idee und jenes Streben dem Kinde, so wie dem Thiere, gänzlich fehlen?“25 Der Trieb des Tieres – der prinzipiell auch dem Menschen innewohnt – richte sich nur nach den in allen Naturrei19 Für ein Schriftenverzeichnis vgl. ZWINK, Tafel. 20 Vgl. ZWINK, Die Neue Kirche, o. P. 21 TAFEL, Fundamentalphilosophie, Vorwort, III. Die Tätigkeit des Bibliothekars scheint Tafels literarischen Neigungen, jedenfalls aber seiner Liebe zur Texthermeneutik entgegen gekommen zu sein; vgl. DREß, Tafel, 36. 22 „Wer sich daher vor Einseitigkeit und Parteilichkeit bewahren, und wahrhaft wissenschaftlich verfahren will, darf nicht bloß seinen eigenen Speculationen vertrauen, sondern muß Schritt für Schritt auch auf das von anderen Denkern zu Tage geförderte Rücksicht nehmen […].“ TAFEL, Fundamentalphilosophie, Vorwort, III. 23 Ebd., 30. 24 Ebd., 42. 25 Ebd., 38 f.
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chen gültigen Gesetzen der Attraction und Repulsion und diene dem Erhalt des Individuums wie der Gattung; eine vom Individuum ausgehende Steuerung desselben ist in diesem mechanistischen Entwurf weder vorgesehen noch denkbar.26 Damit sah sich Tafel eben dem Zirkel gegenüber, der schon Herder umgetrieben hatte: Wie kommt nun der Mensch aber aus dieser Thierheit heraus? Offenbar nur dadurch, daß ihm ein Sinn für das über dieselbe hinausgehende Höhere aufgeht, und er dem gemäß höhere, somit uneigennützige Zwecke als Ziel seines Strebens kennen lernt. Wie läßt sich aber das Erwachen zu diesem Bewußtsein denken? Offenbar setzt dasselbe schon ein Losgetrenntsein des innern Auges von dem Naturtrieb voraus; aber auf der andern Seite setzt auch dieses Losgetrenntsein oder diese Freiheit ebenso schon jenes Erwachtsein des Bewußtseins voraus, und wir drehen uns in einem Zirkel herum, aus dem wir nicht hinauskommen, wenn wir nicht annehmen, die Idee eines höheren Zieles seiner Thätigkeit werde ihm von außen gegeben, mit der Aufforderung, ihr zu folgen. Diesen Zirkel haben die Psychologen gewöhnlich übersehen, und das Erwachen zum Selbstbewußtsein und zur Freiheit schlechtweg aus der sich allmählig entwickelnden Anlage zur Vernünftigkeit und Freiheit erklärt, wohin auch gehört, daß Manche selbst dem Thiere Bewußtsein zuschrieben, nur ein dunkles, so daß nach dieser Seite hin keine Grenze blieb, obwol man bei den Thieren keine Spur einer Erhebung zu Ideen, und, was damit zusammenhängt, kein Streben nach dem Idealischen und kein Fortschreiten in ihrer Vervollkommnung nach inneren Gesetzen aufzeigen konnte, sondern dieselben, so viel wir wissen, weder besser noch schlechter geworden sind, als sie vor Jahrtausenden waren; was wol eben daher kommt, daß ihnen eine gewisse Richtung auf bestimmtes Gegenständliche angeboren ist; weshalb man bei ihnen, in diesem Sinne, von angeborenen Kenntnissen sprechen konnte, welche aber dem Menschen gänzlich fehlen, in Folge dessen er denn auch, sich selbst überlassen, von Geburt her das hülfloseste Wesen ist. Stände ihm daher nicht ein schon selbstbewußtes Wesen gegenüber, wie sollte er sich losreißen und seine Gedanken sehen oder zum Gegenstand machen, wie zum Begriff des Ganzen und seines Grundes und Zweckes sich erheben können?27
Kein Mensch wird also aus sich selbst heraus zum Menschen – an eine selbständige und fast automatisch ablaufende „evolutionäre Perfektionierung“ ist nicht zu denken. Stattdessen benötigt jedes Individuum einen initialen Einfluss von außen, den heute die Gesellschaft ausübt. Was aber ist mit dem oder den ersten Menschen? Da auch hier ein erster Anstoß erfolgt sein müsse – siehe die Entwicklung des Menschen, während Tiere kein „Streben nach dem Idealischen“ zeigten –, bleibe nur der Schluss auf ein Wesen, das selbst kein Mensch sein könne. Dieses sei vielmehr als ewig und intelligent zu denken, da fähig, die Logik des geschilderten Erwerbsprozesses zu umgehen. Man erkennt leicht, dass Tafels Denken sich vollkommen mit den Offenbarungsvorstellungen Swedenborgs deckte. Ebenso offensichtlich ist jedoch, dass Tafel seine Ausführungen mit einer Prämisse eröffnete, von der sein sonst durchaus stringenter Gedankengang auf Wohl und Wehe abhing: Dass der „Mensch […] nur unter Menschen ein Mensch“ werde und „ohne diese Erziehung […] ein Thier“ bleibe28, war zunächst nicht mehr als eine Setzung. Es erfordert wenig Phantasie sich auszumalen, wie eine solche Behauptung, die sich ja in unzähligen 26 Ebd., 42 f. 27 Ebd., 43. 28 Ebd.
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Varianten schon im 18. Jahrhundert findet, belegt werden sollte. Den hier dringend benötigten Aufschluss über den „Urzustand des Menschen“, so war sich Tafel sicher, würden ihm „Verwilderte“ liefern.29 Bezeichnend ist, dass sich ein völlig kongruenter Gedankengang 1851 auch in einer der dogmatischen Schriften Tafels wiederfindet30, dessen philosophische Arbeit eigentlich nur der rationalen Unterfütterung seiner theologischen Vorstellungen diente. Ausgehend von dem – von Tafel als deistisch-naturalistisch klassifizierten – Einwand, dass die menschliche Ratio allein, ohne Offenbarung, im Stande sein könnte, eine vernünftige Religion zu generieren, konzediert er zwar, dass „die gesunde Vernunft ein Hereinscheinen jenes göttlichen Lichtes ist […].“31 Nur sei diese nicht mehr als ein Keim, der sich in der Gesellschaft entwickeln müsse, womit Tafel an genau dem Punkt anlangt, den er zuvor schon in der Fundamentalphilosophie abgehandelt hatte. Dieser wird nun lediglich religiös expliziter dargestellt: [E]ine Menge Thatsachen beweisen, daß Kinder, die frühzeitig in Wildnisse geriethen und unter Thieren aufwuchsen, gar nicht Menschen wurden, bevor sie in die menschliche Gesellschaft zurückkamen; wodurch der psychologische Satz bestätigt wurde, daß der Mensch nur unter Menschen ein Mensch wird, und zum Menschen von schon entwickelten Menschen erst erzogen werden muß: so folgt von selbst auch, und mußte sogar von der des Atheismus angeklagten Philosophie anerkannt werden, daß auch in den ersten Menschen die Vernunft und Freiheit sich gar nicht erst entwickelt hätte, wenn nicht das unerschaffene Vernunftwesen sich ihnen menschlich genähert, und sie belehrt und väterlich zum Guten ermahnt und ermuntert hätte. So ist also auch auf diesem Wege nicht nur das Dasein eines persönlichen Gottes […] sondern auch eine Uroffenbarung als eine Vernunftnothwendigkeit bestätigt.32
Diese Uroffenbarung wuchert jedoch nach dem Sündenfall zu, so dass die Heilige Schrift zum notwendigen Wegweiser wird – selbstverständlich in der Auslegung Swedenborgs. Eigentlich charakterisiert diese Passage die wesentlichsten Vorstellungen der Neuen Kirche: Offenbarungsglaube, jedoch kein dogmatischer, sondern ein auch durch die Vernunft belegter. Ein Glaube, der, wie Tafel es schon 1832 fasst, die Prüfinstanz eines kritischen Rationalismus zulässt, „der ohne eine Offenbarung zum Voraus auszuschließen, die allgemeinen und nothwendigen Principien, an welche jedes Bewußtsein gebunden ist, als göttliche Gesetze, die Vernunft selbst aber als innern Richter anerkennt, der nach jenen Gesetzen die Göttlichkeit einer Offenbarung zu prüfen hat, mithin weder einer angeblichen Offenbarung blindlings glaubt, noch alles das Concrete, was dem Menschen zu
29 Ebd., 39. 30 JOHANN FRIEDRICH IMMANUEL TAFEL, Die Grundlehren der Neuen Kirche oder des verheißenen Jerusalem : aus dem Worte Gottes abgeleitet und als vernunftmäßig nachgewiesen / im Auftrag und Namen des Ausschusses für den, während der Weltindustrieausstellung, am 19. August 1851. zu London abzuhaltenden allgemeinen Kirchentag der aus der ganzen Welt versammelten Mitglieder und Freunde der Neuen Kirche, London; Tübingen 1851. 31 Ebd., 3. 32 Ebd., 4.
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wissen Noth thut, aus sich allein ableiten will.“33 Die Philosophie – sie wird letztlich wieder zur ancilla theologiae. Bezüglich der Wilden Kinder, die er als Beweisobjekte für so überzeugend hielt, dass er sie sogar in die Dogmatik beförderte, stand Tafel jedoch 1848 vor einem neuartigen Problem. Seine Haltung wäre wohl im 18. Jahrhundert wenn nicht akzeptiert, so doch hingenommen worden. Aber spätestens mit Schreber, vor allem aber Blumenbach, Gall und Esquirol war, wie oben gezeigt wurde, die Vorstellung, dass man mit diesen luftige Theoriegebäude errichten konnte, weitgehend gestorben. Stand der Wissenschaft war dagegen: Die Kinder taugten nicht zum Exempel, weil sie bereits vor ihrer Verwilderung geistige Störungen, die sich aus rein physiologischen Deformationen ergaben, aufgewiesen hatten und damit vielleicht von pathologischem, keinesfalls aber prinzipiellem erkenntnistheoretischen Interesse sein konnten – erst recht nicht bezüglich einer so heiklen Frage wie jener der Vernunft. Allerdings: Die Autorität von auf die Empirie beschränkten Wissenschaftlern, mochten diese auf ihren Gebieten noch so verdienstvoll sein, wollte und konnte Tafel, der ja gerade eine Lanze für die apriorische Philosophie gebrochen hatte, keinesfalls anerkennen. Die Frage der Humanität dürfte ihm dafür als viel zu gewichtig erschienen sein – was durchaus auch Licht auf das neue Selbstbewusstsein der Philosophie wirft, das gerade im deutschen Sprachraum in der Folge Kants, der Romantiker und schließlich Hegels entstanden war.34 Blumenbachs empirische Befunde deckten sich nicht mit den Prämissen, die Tafel a priori setzen zu können glaubte. Eine solche Inkongruenz musste aber inakzeptabel erscheinen: Die Fundamentalphilosophie biss sich mit der Derivativphilosophie, und da Tafel erstere auf ein sicheres Fundament gestellt zu haben glaubte, lag der Fehler bei letzterer, mussten die empirischen Befunde inkorrekt sein. Folgerichtig wird herausgestellt, dass Blumenbach sich vor allem des Falles Peters von Hameln bedient habe: ein Fall der, auch wenn der Göttinger Anthropologe dies behaupte, keineswegs stellvertreterische Qualitäten aufweise. Er greife auf diesen überdies nur zurück, weil er die Quellenbasis aller übrigen Fälle für unzuverlässig halte. Tafel glaubte damit eine klare Objektive für sein weiteres Vorgehen an der Hand zu haben, saß er doch als Bibliothekar einer der großen Universitätsbibliotheken ohnehin an der Quelle: „Es ist daher der Mühe werth, auch diese ‚übrigen Beispiele einmahl kritisch zu prüfen und zu sichten‘, was Blumenbach nicht oder nur sehr oberflächlich und unvollständig gethan hat.“35
33 JOHANN FRIEDRICH IMMANUEL TAFEL, Religionssystem der Neuen Kirche: aus den Quellen dargestellt […], Erster Band, erstes Heft: Ueber Religion und Offenbarung und deren Verhältniß zur Vernunft, Tübingen 1832. 34 DREß, Tafel, 36 listet Herder, Schiller, Lavater, Kant und die Romantiker auf; besonders Fichtes rigorose Moralvorstellungen hätten Tafel angezogen. 35 Ebd., 45.
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5.1.2. Die Kritik der Skepsis Hier findet sich also der Ausgangspunkt der langen Auseinandersetzung mit den – oder besser zunächst den Beschreibungen der – Verwilderten, die nun folgt. Tafels Vorgehen muss dabei ein dreistufiges sein: Die Verlässlichkeit der Quellen ist erneut zu prüfen. Ein positives Resultat vorausgesetzt, wäre dann nachzuweisen, dass in zumindest einigen der Fälle, entgegen der Expertise Blumenbachs, keine angeborene „Verblödung“ vorlag. Erst dies würde die Verwilderten dann für das eigentliche Argumentationsziel beweiskräftig machen: den Nachweis zu liefern, dass der Mensch niemals aus eigener Kraft das erreichen konnte oder kann, was ihn von den Tieren unterscheidet, nämlich vor allem Selbstreflexion, Kontemplation des Höheren und Altruismus. Ließe sich dies zeigen, dann wäre durch logischen Folgeschluss belegt, dass irgendwann eine göttliche Intervention stattgefunden haben musste, die den Menschen im eigentlichen Sinn erst schuf. Dann aber wäre der Mensch ganz ohne Frage das privilegierte Wesen der Schöpfung, geadelt durch den Ritterschlag der direkten Berührung, versichert seiner ganz besonderen Bedeutung, seines herausragenden Zwecks und Ziels im Gesamtwerk. Er wäre ein nicht nur graduell von den Tieren unterschiedenes Wesen, sondern dieser Unterschied wäre qualitativ. Es wäre zudem eine denkbar sichere Position, da sie nur durch eine neuerliche Intervention des höchsten Wesens angefochten werden könnte. Und schließlich: Tafels apriorische Prämissen wären gerettet. Tafel beginnt nun also eine Beschreibung der ihm zugänglichen Fälle und unterzieht sie einer quellenkritischen Prüfung; eben das, was Blumenbach in seinem Bestreben, deren Irrelevanz zu beweisen, nicht getan habe. Insgesamt werden sechzehn Fälle aufgelistet36, wobei hier versucht wird, Tafels Vorgehen und Denkweise nur anhand einiger Beispiele zu verdeutlichen. Bereits der erste Fall, das Hessische Wolfskind, bestätigte Tafel bezüglich der methodischen Schwächen Blumenbachs: Die von diesem angegebene Quelle scheine er nicht selbst nachgeschlagen zu haben, denn dort sei von zwei verschiedenen Fällen die Rede. Eine dieser beiden Geschichten sei aber alles andere als unglaublich, werde durch Dilichs Hessische Chronik bestätigt und sei zudem von nachträglichen Ausschmückungen verschont.37 Camerarius kenne offenbar auch nur den Text, der bei Pistorius verzeichnet sei und gebe die Jahreszahl falsch an, ein sicheres Indiz für schlampiges Arbeiten. Die Einzelheiten, die der aus der Wildnis in die Zivilisation zurückgekehrte Junge zu berichten gewusst habe, seien tatsächlich nicht eben
36 Genau genommen sogar mehr, denn einige Einträge umfassen mehrere Kinder zugleich: 1. Juvenis lupinus Hessensis, 1344; 2. Juvenis bovinus Bambergensis Camerarii; 3. Johannes Leodic. Boerhavii; 4. Juvenis ovinus Hibernus; 5. – 7. Juvenis Ursinus Lithuanus; 8. Puella Transisalana; 9. Pueri Pyrenaici Linn., 1719; 10. Peter von Hameln, 1724; 11. Puella Campanica, 1731; 12. Negerknabe von Barra; 13. Ungarisches Bärenmädchen, 1767; 14. Wilder Mann und wildes Mädchen in den Pyrenäen; 15. Zwei Wilde aus Tribizund; 16. Knabe von Aveyron. 37 Ebd., 46.
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glaubhaft, andererseits aber auch nicht völlig ohne Beispiel, so dass etwa Rousseau den Fall ernst nehme. Noch schlimmer: Den Irländischen Schafsjungen beachte Blumenbach überhaupt nicht; wohl, so meint Tafel unterstellen zu dürfen, weil an diesem Fall wenig auszusetzen war. Tulp sei ein äußerst respektabler Gewährsmann, und dieser „Fall […] enthält alles, worauf es hier ankommt, nämlich den Mangel der Vernunft und Sprache auf der einen, und die Perfectibilität auf der anderen Seite.“38 Schreber wende zwar ein, es gebe in Irland gar keine wilden Schafe; „allein wie leicht konnten sich Schafe in die Wälder [!] verirrt haben, und dort verwildert sein?“39 Ähnlich gut in Tafels Konzept passend zeigt sich auch die Puella Transisalana, ein Mädchen, das, „sobald es unter die Menschen gekommen war, seine Wildheit allmählig ablegte. So ist auch kein Grund vorhanden, es für ursprünglich blödsinnig zu erklären […].“40 Restlos überzeugend aber schließlich die Puella Campanica: Nicht nur, dass ausgezeichnete Berichte Condamines und Racines vorlägen, es sei ein Fall der „alles darbietet, dessen wir bedürfen, nämlich auf der einen Seite die Verwilderung, und auf der andern Seite die nachher unter den Menschen erlangte Civilisation […].“41 Man müsste eigentlich sagen: Die beiden Mädchen – Douthwaites These, gender sei eine wichtige Determinante, scheint sich zu bewahrheiten – sind die einzigen Fälle, die in Tafels Konzept passen. Nur bei ihnen fand ja die von ihm geforderte Entwicklung der Vernunft statt. Aber nicht nur hier sah sich Tafel in der Annahme, Empiriker neigten zum Schludern und dächten wenig philosophisch, bestätigt. Zwar könne der Bamberger Ochsenjunge tatsächlich eigentlich nicht zu den Fällen der Verwilderten gezählt werden, auch wenn Linné ihn darunter einreihe. Camerarius schreibe ja auch nichts von einer Wildheit. Andererseits hieß das für den Tübinger noch lange nicht, dass zweifelhafte Naturkundler – zumal solche aus dem düsteren Zeitalter, das die Grundlagen der Wissenschaftlichkeit unterwühlt hatte – an dem Fall herummäkeln durften: Die Kritik am mittlerweile neben Blumenbach zum Intimfeind avancierten Schreber, der den Fall als völlig unglaubwürdig eingestuft hatte, atmet nun endgültig nicht mehr philosophische Distanz, sondern missionarische Hitze. Schreber hatte moniert, dass es in Bamberg keinesfalls „wildes Rindvieh“ gegeben habe – worauf Tafel, alle Geschütze der Philologie auffahrend:
38 TAFEL, Fundamentalphilosophie, 52. Allerdings: Dies ist bereits Fall 4; ganz offenbar ist die Vorgehensweise Tafels nicht gar so sehr von der Blumenbachs unterschieden. Hier wie dort wird das Material auf seine „Brauchbarkeit“ hin untersucht; wobei das eingesetzte Raster natürlich ein durchaus unterschiedliches ist. 39 Ebd., 53. 40 Ebd., 73 f. 41 TAFEL, Fundamentalphilosophie, 95 f. Was Marie-Angélique für Tafel so attraktiv machte, dürfte deren unstrittige Intelligenz und Moralität gewesen sein: Sie lernte nicht nur in kürzester Zeit Französisch und Handarbeiten, sondern wurde später eben auch Nonne. Racine schließt von ihr ausgehend explizit auf den Zustand „der ersten Aeltern“; vgl. ebd., 113.
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5. Hohlspiegel: Traditionslinien des 19. Jahrhunderts Allein was das Vieh (pecora) betrifft, so ist darunter nicht nothwendig Rindvieh zu verstehen; nach Linné [!] gehören unter die pecora: camelus [!], moschus, cervus, capra, ocis, bos; und selbst Rindvieh konnte sich in die montana loca verirrt haben und dort verwildert sein.42
Eine andere Strategie bemüht Tafel bezüglich der oder des Litauischen Bärenjungen: Die Datierung sei schwierig: Moréri gebe 1661 an, während Kircher 1663 festsetze und der Augenzeuge Tylkowski sich auf 1657 verlege. Hätte diese Überlieferungssituation sicherlich Schreber wie Blumenbach in ärgste Zweifel ob der generellen Glaubwürdigkeit des Falles gestürzt, zieht Tafel weit optimistischere Konsequenzen: Man müsse sich fragen, ob man es hier nicht mit einem, sondern vielleicht drei verschiedenen Fällen zu tun habe – womit sich die Datenbasis in für Tafel erfreulicher Weise verbreiterte. Schließlich seien die Schilderungen auch durchaus voneinander abweichend, vor allem was den späteren Erwerb der Sprache betreffe, den Kircher feststelle, Moréri und Linnés Übersetzer Müller aber verneinten. Blumenbach beziehe sich in seiner Kritik aber auf keinen der oben angeführten und bestens beleumundeten Autoren. Stattdessen berufe er sich absichtlich auf Quellen, die dem Leser suspekt erscheinen müssten: Connors Medicina mystica und Geyers Von denen Litthauischen Bärenmenschen.43 Kreisten Tafels Gedanken bislang um Fälle, denen Blumenbach seiner Meinung nach fahrlässig ausgewichen war, wagte er sich nun sozusagen auf Feindesland: Peter hatte ja schon der Göttinger Naturforscher auf einer scheinbar sicheren Quellenbasis eingehend untersucht. Die Richtung, die Tafel hier einschlagen muss, ist vorgezeichnet: Es ist der Nachweis zu führen, dass Peter nicht von Geburt an „blödsinnig“ war; ein nicht ganz einfaches Unterfangen, wie er selbst auch einräumt. Zumindest aber konnte man versuchen, den Jungen nicht als einen gewöhnlichen Idioten dastehen zu lassen. Das Konzept erinnert an die terminologische Spitzfindigkeit, die bereits zuvor bei Schreber angewandt wurde: Nicht Idiotie meint er demnach bei Peter feststellen zu können, sondern nur Verwirrtheit, wobei Tafel pikanterweise auf die Untersuchungen Esquirols verweist.44 Das aber bedeute: Keine Schädigung von Geburt an, sondern eine durch das Leben in der Wildnis erworbene. Dem entspreche auch, dass Peters Physiognomie, wie verschiedene Bilder zeigten, so gar nicht die eines Idioten sei.45 Mit viel Aufwand und Mühe erreicht Tafel so eine Replik, die ihn selbst eigentlich nicht ganz zufrieden stellen kann: Peter sei nicht „den sogenannten Idioten im engern Sinne beizuzählen“, andererseits sei aber auch „kein Grund da […] seine Erscheinung für merkwürdiger zu erklären […] als wenn die Astronomen noch 30,000 neue Sonnen zu den schon bekannten hinzu fänden, zumahl es ja nicht an anderen
42 Ebd., 49. Wohlgemerkt, der Fall hatte sich Ende des 16. Jahrhunderts ereignet; wie Camerarius die Linnésche Taxonomie antizipiert hatte – vielleicht durch Sehertum – bleibt ungeklärt. Die Ungereimtheit sieht später auch RAUBER, Homo sapiens ferus, 18. 43 Vgl. TAFEL, Fundamentalphilosophie, 59 f. Zu Geyer vgl. Kap. 6. 44 Dessen Haltung zu den Fällen, nämlich völlige Ablehnung, führt er jedoch nicht an. 45 TAFEL, Fundamentalphilosophie, 86.
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Verwilderten fehlt, welche noch weniger den Blödsinnigen beigezählt werden können.“46 Den Abschluss der Historien bildet jener Fall, den Blumenbach in seinen Betrachtungen übergangen hatte: Victor. Den Einstieg bildet die Diskussion um die Bedeutung der Schädelform: Dass angeborener Schwachsinn oder Kretinismus von dieser abhingen, schien Tafel widerlegt zu sein.47 Sollte sie dennoch auffällig gewesen sein, bestehe also kein Grund, dies nicht den Einwirkungen der Umwelt zuschreiben zu können.48 Darüber hinaus könne man nach Vireys Dissertation sur un jeune enfant den Jungen nicht für einen gewöhnlichen Schwachsinnigen halten, da es ihm, ging man nach Röschs Definition des Begriffs, weder an Schärfe der Sinne, noch an einem gewissen Thierverstande fehlte; er war zwar ohne alle Reflexion, ohne eine Spur von Vernunft und Gewissen, ohne irgend ein Mitgefühl oder eine Idee des Guten und Wahren, sondern lebte bloß seinen thierischen und egoistischen Zwecken; aber er wußte diese sehr geschickt zu erreichen; im Jahre 1817 konnte er zwar noch nicht in articulirten Worten sich ausdrücken, verstand aber schon viele Dinge, und es traf bei ihm kein Zeichen des Stumpffsinns oder Blödsinns, noch einer andern Form des Kretinismus im weitern Sinne zu […].49
Wenn aber Victor geistig gesund geboren worden sei, bestehe kein Grund, bei den übrigen Fällen etwas anderes anzunehmen, und sollte „auch der eine oder andere den Kretinen oder Blödsinnigen beizuzählen sein, so bleiben doch noch genug andere übrig, welchen den a priori bewiesenen Satz, daß der Mensch bloß unter schon vernünftigen Menschen ein Mensch, seine Anlage zur Vernunft und Freiheit nur unter schon entwickelten Menschen entwickelt wird, auch a posteriori bestätigen.“50 Was sich schon in der Diskussion um Peter andeutete, wird hier nun in der Tiefe ausgelotet: Die Physiologie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Esquirol und Blumenbach konnte man unterstellen, dass sie sich als Naturwissenschaftler eben nicht in hermeneutisch korrekter Manier mit den Quellen auseinandergesetzt hatten. Mochten ihre Theorien auch fachwissenschaftlichen Wert besitzen, hatten sich doch beide in ihren anthropologischen Deutungen überhoben. Sehr zupass kam dabei, dass strikt craniometrische Verfahrensweisen, wie sie insbesondere bei Esquirol Aufnahme gefunden hatten, im physiologischen Lager selbst mittlerweile unter Beschuss standen. Sie waren von Rösch und Pierer, die nun zu Kronzeugen Tafels werden, abgelehnt worden. Tafel meint damit seine apriorische Forderung auch empirisch nachgewiesen zu haben, womit er den selbst gesetzten Zweck seiner Einleitung erreicht hat. Die empirischen Wissenschaften, und ganz besonders die Physiologie, zeichnen in seinem revidierten Abriss ein eindrückliches Bild des isolierten Menschen, der weder der Erziehung noch des menschlichen Modells teilhaftig wurde. Dieser 46 47 48 49 50
Ebd., 91 ff. Ebd., 129. Ebd., 129 f. Ebd., 147. Ebd., 132.
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falle, nun nachgewiesenermaßen, gleichsam „in ein Chaos der Unwissenheit und Thierheit zurück“, ja „noch unter die Thierheit herab“, weil ihm die Instinkte fehlten. Der isolierte Mensch gleiche im Gegensatz zum Tier so „seiner Anlagen ungeachtet, einer tabula rasa […], welche mit allem Möglichen beschrieben, oder einem leeren Gefäß, das mit jeglichem Inhalt erfüllt werden kann […].“ Bevor die Vernunft des Menschen, die diesen letztlich zur Freiheit führe, erwache, werde er genau was seine Gesellschaft und seine Verhältnisse aus ihm machen, so daß, wie wir sahen, der seit dem dritten Jahr unter den Wölfen Aufgewachsene auf allen Vieren ging, wie die Wölfe, und ihre Geschwindigkeit und Lebensart nachahmte und sich angewöhnte […], der unter Schafen Aufgewachsene aber blökte, wie die Schafe, sich nährte, wie die Schafe, und eine völlige Schafsnatur annahm […], und ebenso die unter Bären aufgewachsenen Kinder nicht nur auf allen Vieren gingen, brüllten, sich nährten und geberdeten, wie die Bären, sondern auch zum Theil am ganzen Leibe haarig wurden, und längere Finger als gewöhnlich erhielten […]. Fand nun solche Verwilderung bei Kindern statt, welche doch wol nicht sogleich nach der Geburt von der menschlichen Gesellschaft entfernt worden waren, sondern eine Zeitlang unter der Einwirkung schon entwickelter Menschen gestanden hatten: wie viel weniger konnten sich Solche zu Menschen entwickeln, welche nie einen schon entwickelten Menschen gesehen hatten?51
Einigermaßen überraschend kommt in diesen Abschlussbetrachtungen der Rückgriff auf die Lockesche Terminologie. Man muss sich aber im Klaren sein, dass das dahinterstehende Gedankengut in Tafels Konzeption keine Einbindung erfährt. Denn bei Locke und seinen Nachfolgern, insbesondere Condillac, hält sich die Ansicht, der Mensch könne eigentätig und nur durch seine Erfahrungen geprägt im Laufe der Zeit und über viele Generationen hinweg all das entwickeln, was Humanität ausmacht. Dem widerspricht Tafel vehement. Ohne eine fundamentale göttliche Intervention ist die Zivilisierung nicht möglich, der Mensch würde für immer in der Thierheit verharren. Dies deutet auf eine ganz unterschiedliche Auffassung der Begrifflichkeit und damit der Position des Menschen im Universum. Für Tafel ist die Humanität eine Wesensunterschiedlichkeit, die den Menschen von der übrigen Schöpfung, besonders aber von dem ihm in vielen Punkten so überaus ähnlichen Tier, unüberbrückbar trennt. Folgerichtig betont er in einer Fußnote: Der dem Menschen noch am nächsten stehende Affe macht als Hausthier diesem Vieles nach, was aber bloß äußerlich ist; er bleibt dessen ungeachtet in jeder Beziehung Affe, ohne je einen Funken von Vernunft in sich aufzunehmen.52
Die Existenz dieses Faktors verdankt sich ganz und gar einer metaphysischen Gegebenheit, auf die der Mensch zunächst keinerlei Einfluß hatte. Damit erledigt sich auch das aufklärerische Projekt, unter Verzicht auf einen solchen metaphysisch-transzendenten Überbau zu einem wesenhaften Verständnis des Menschen zu gelangen; dieser Versuch muss misslingen, weil er stets das eigentlich Huma51 Ebd., 148 f. 52 Ebd., 148. Es wird deutlich, wie weit sich Tafel bereits vom naturhistorischen Denken des 18. Jahrhunderts entfernt hatte.
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ne, das gleichzeitig eigentlich auch Göttliches ist, außer acht lässt. Aus den gleichen Gründen musste auch der naturgeschichtliche Versuch, den Menschen durch Vergleich und Analogiebildung mit der Natur zu definieren, fehlschlagen. Bemerkenswert erscheint weiterhin, für wie formbar Tafel, wohl im Sog Herders, den Menschen hält. Nicht nur, dass sich die Psyche den Gegebenheiten der Umwelt anpasst, nicht nur, dass die Kinder blöken oder fauchen, sich also deren Fähigkeiten und Fertigkeiten modifizieren: Haarig werden die Verwilderten überdies, und auch die Finger sind länger als gewöhnlich. Getrieben von den übernommenen tierischen Instinkten passt sich auch die Physis des Menschen an.53 Was schließlich die Physiologie als „ausgemachte Wahrheit“54 ansprechen kann, ist Folgendes: Im Menschen existiert ein Dualismus von Thierheit und Humanität. Erstere erhält der Mensch mit der Geburt; aber keinesfalls findet sich hier dessen natürliche Bestimmung. Seine Animalität ist bereits eine defiziente. Es mangelt ihm an dem, was die Tiere auszeichnet, nämlich am Instinkt. Insofern kann Tafel eben schreiben, der isolierte Mensch sinke unter die Thierheit herab. Lediglich eine Möglichkeit bleibt noch offen: „Kann nicht schon das bloße Zusammensein mehrerer Menschen ihre Anlagen zur Entwickelung bringen?“55 Denkbar wäre nämlich immerhin, dass sich aus einer natürlichen Gravitation, die den Menschen zur Gesellschaft treibt, dessen menschlichen Fähigkeiten entwickeln, dass also aus der Summe mehrerer defizienter Wesen schließlich wie in einem Fermentationsprozess das Humane entsteht. Ähnliche Auffassungen hatte ja, gerade auch in Bezug auf die Wilden Kinder, etwa Buffon vertreten. Die völlig isolierten Verwilderten konnten hier keine Klärung bringen. So greift Tafel auf die antiken Isolationsexperimente zurück56, in denen ganze Gruppen von Kindern betroffen waren. Allerdings sei der Erfolg dieser Experimente kaum feststellbar; wie könne man heute wissen, ob „bek, bek“ nun die phrygische Bitte um Brot oder lediglich die Nachahmung eines Ziegenlautes gewesen sei?57 Abgesehen von diesen Quellen seien zwar einige Fälle von Verwilderten bekannt, die zumindest paarweise lebten, aber leider seien die Berichte über sie durchweg unbefriedigend. Noch am deutlichsten zeigten so die Berichte über „ganze Völker, welche weder Vernunft, noch Sprache, weder menschliche Gefühle, noch die zum Leben notwendigen Künste zeigten, und nichts als die Gestalt und Haltung mit anderen Menschen gemein hatten, ja zum Theil sogar am ganzen Körper mit Haaren bewachsen waren, und auf allen Vieren krochen […]“58, wie wenig der Mensch dem Tierhaften von selbst entkommen könne. Tafel nutzt hier Lucretius, Herodot, Diodor und natürlich Plinius. Ganz im Stile Monboddos werden die geläufigen Wundervölker aufgezählt; von besonderem Interesse sind dabei diejenigen, die auf der tiefstvorstellbaren Stufe zu verharren scheinen: die sprachlosen Atlanten 53 54 55 56 57 58
Ebd., 149. Ebd. Ebd. 159. Ebd. 150 ff. Tafel verweist auf Herodot, Historien, II, 2. TAFEL, Fundamentalphilosophie, 152 f. Ebd., 153.
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und Troglodyten, die in absolutem Hedonismus und kulturlos lebenden Ichthyophagen, die Hylophagen.59 Für eine wissenschaftliche Betrachtung bedauerlich ist, dass diese Völker so schnell verschwinden. Sie sind flüchtig wie der sich in der Morgensonne auflösende Nebel, denn sobald der Kontakt mit einem Kulturvolk einsetzt, beginnt der Prozess der Kulturübernahme. Wenn solche Völker zum ersten Mal in den Quellen auftauchen, ist ihre Zeit bereits abgelaufen, sie verschmelzen mit dem Volk, mit dem sie in Kontakt kamen oder werden von diesem unterjocht. Beides führt jedenfalls zu einem völligen Verlust der alten Lebensart.60 Die Pescherähs und Buschmänner besäßen zwar bereits, ebenso wie die „Wilden der Urwälder Amerika’s, die Polarmenschen und die Südsee-Insulaner […] eine Sprache“61, und seien damit von dem Zustand der oben überlieferten Völker weit entfernt; andererseits existiere bei ihnen noch kein Individualismus, Eigentum und Eigennamen seien unbekannt. Bereits hier, bei den Buschmännern des südlichen Afrika, sieht Tafel also den Übergang zu den Tieren nahen. Wie viel näher müssen dann erst die völlig kulturlosen ersten Menschen diesen gestanden haben? Wenn nun auch andere Beobachter eine vortheilhaftere Schilderung von ihrem moralischen und intellectuellen Charakter entworfen haben, und schon Lichtenberg zeigte, daß sie der Civilisation fähig sind, so ist dies bei der Berührung, in der sie mit andern Nationen standen und immer mehr kamen, ganz in der Ordnung; aber wir fragen billig, was wol aus ihnen geworden wäre, wenn eine solche Berührung mit schon entwickelten Menschen nicht Statt gehabt hätte. […] Durch das bloße Zusammensein mit Andern, die noch nicht entwickelt sind, könnte keiner aus der Thierheit herauskommen; denn was der Eine nicht hat, das kann er dem Andern auch nicht geben; und wenn man noch so viele Blinde, Taube oder Stumme zusammengesellte, so könnten sie einander doch nicht sehend, hörend oder sprechend machen.62
Man kann sich hier einiger Fragen nicht erwehren. Zunächst erscheint Tafels Vorgehen methodisch kaum nachvollziehbar. Ein schlüssiger Beweis lässt sich nicht ableiten; wozu also all die Mühe? Ungeklärt bleibt auch, wo und wann das erste sinnliche Gegenübertreten des Menschen mit dem selbstbewußten Vernunftwesen stattfand, ob es nur ein einziges Treffen gab und so weiter. Dies ist wichtig, denn zwischen den Zeilen lässt sich hier sehr wohl schon eine „missionarische Pflicht“ des Vernunftmenschen ableiten. „Wir fragen billig, was wol aus ihnen geworden wäre, wenn eine solche Berührung mit schon entwickelten Menschen nie Statt gehabt hätte?“ Lassen sich hier schon die Grundstrukturen kolonialistischer Rechtfertigungsversuche ablesen, zumal die rassistischen Theorien Bory de St. Vincents ebenfalls bereits rezipiert worden sind?63 Oder ist Tafel im tiefsten Grunde seines Herzens Missionar? Vielleicht, wie sich unten zeigen wird, eher 59 60 61 62 63
Vgl. ebd., 158 ff. Ebd., 161 f. Ebd., 164. Ebd., 168 f. Die Buschmänner Südafrikas etwa sieht „Bory de St. Vincent […] als diejenigen […], welche sich am weitesten von der von ihm so genannten Japetischen Menschenspecies unterscheiden, und den Uebergang vom Genus Homo zu den Gattungen der Orangs und Gibbons bilden, wie er denn selbst Analogien zwischen ihnen und den Makaken findet!“ Ebd., 168.
5.1 Die Visionen des Bibliothekars
427
letzteres. Denn schließlich fragt sich dieser, was den nun „die letzte Bedingung und das letzte Ziel der Entwickelung zur Vernunft und zur Freiheit“64 sei. Die Antwort fällt eindeutig aus: Die Hegemonie von Vernunft, Moralität und Religiosität – Faktoren, die im Denken Swedenborgs, das auch das Tafels ist, letztlich zusammenfallen.65 Tafel stellt damit nicht nur Richtung und Ziel des menschlichen Lebens fest, sondern gelangt auch zu einer radikalen Wertung des innermenschlichen Dualismus aus Vernunft und Thierheit. Alles, was am Menschen Tier ist, soll entfernt werden, denn das Tier verkörpert für ihn nicht nur das Dumpfe und Unbewusste, sondern auch das Hedonistische und Egoistische, damit aber das Unmoralische. Man könnte auch sagen: Tiere waren für Tafel die Antipode Swedenborgs, keiner Offenbarung teilhaftig geworden und irrational. Die religiösen Überzeugungen Tafels lassen sich wieder mühelos einbeziehen. So erinnert seine Betonung des Zusammenspiels von Vernunft und Freiheit frappant an dogmatische Inhalte der Programmschriften Swedenborgs, die nach dessen Tod als die „Vier Hauptlehren“ zusammengefasst und von Tafel übersetzt wurden. So heißt es in Tafels Lebenslehre für das Neue Jerusalem: Es ist der göttlichen Ordnung gemäß, daß der Mensch mit Freiheit nach der Vernunft handle, weil mit Freiheit nach der Vernunft handeln aus sich handeln heißt. Aber jene zwei Vermögen, die Freiheit und die Vernunft, sind nicht Eigenthum des Menschen, sondern des Herrn beim Menschen; und sofern er Mensch ist, werden sie ihm nicht entzogen, weil er ohne sie nicht umgebildet werden kann.66
Hiermit wird aber offenbar, dass das in der Fundamentalphilosophie behauptete philosophische a priori tatsächlich ein religiöses ist, und die hier entwickelten Gedanken bezüglich der Humanität des Menschen erweisen sich als absolut kongruent mit den Glaubensgrundsätzen der Neuen Kirche. Diese hatte sich darüber hinaus bereits auf ihrer Versammlung 1848 für verpflichtet erklärt, „die Grundsätze und die Schriften der von ihnen als wahr erkannten Religionslehre nach Kräften zu verbreiten“67, so dass sich sozusagen ein Missionsgebot für die Ausbreitung der Vernunft ergab, dem Tafel wohl durchaus auch mit einer nicht-religiösen Schrift nachkommen zu können glaubte. Der Mensch gibt für Tafel als Tier eine traurige Figur ab, denn er erfüllt nicht sein Ziel: Ohne die Ratio kann er nicht zu theologischen Einsichten gelangen, ohne diese fehlen die Grundlagen eines moralischen Lebens, ohne dies fällt er 64 Ebd., 170. 65 Ebd., 178 ff. 66 EMANUEL SWEDENBORG, Die Lebenslehre für das Neue Jerusalem aus den Geboten des Decalogus. Übers. [von J. F. IM. TAFEL], Stuttgart 1876, 17. Ähnlich formuliert auch die Erklärung der Mitglieder der Neuen Kirche, als Synode versammelt zu Manchester im August 1857: „Er [Gott] hat den Menschen die zwei großen Vermögen des Willens und des Verstandes gegeben, daß sie mögen gelehrt und in Freiheit dahin geleitet werden, alles, was gut ist, zu wollen, alles, was wahr ist, zu erkennen und hieraus in Freiheit mit Vernunft zu handeln.“ Beide zit. nach ZWINK, Die Neue Kirche, o.P. 67 Ebd.
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5. Hohlspiegel: Traditionslinien des 19. Jahrhunderts
letztlich der Verdammung anheim. Denn für die Swedenborgianer konnte eben nicht Glaube allein den Menschen retten, sondern nur fortwährendes Handeln im Guten.68 Was dem Menschen außerhalb der Traditionslinien der Gesellschaft aber nur bleibt, sind nicht einmal Vernunftreste oder Instinkte, es ist nur die Fähigkeit zur Imitation, die ihn in einzelnen, besonders glücklichen, ja wunderbaren Fällen gerettet, aber ihm in wie vielen anderen nicht geholfen hat. Hier trifft sich Tafel, ohne dies wollen zu können, mit seinem Opponenten Blumenbach: Bei beiden gibt es letzten Endes keinen Naturzustand des Menschen, sondern nur deformierte menschliche Überreste, die bestenfalls im Kampf um das nackte Leben stehen. Bei beiden gibt es keine Urform, zu welcher der Mensch zurückarten könnte, sondern nur die Entartung. Bei Tafel, weil der Urahn des Menschen, der Mensch vor der göttlichen Intervention, kein Mensch, sondern diesem wesenhaft völlig fremd ist. Blumenbach hält sich von solchen metaphysischen, ihm fraglos höchst spekulativ vorkommenden Ideen zurück. Für ihn ist der Mensch das am perfektesten domestizierte Tier, das Tier, das eben diese Domestikation, die bei ihm durchaus positiv, als „Verbesserung“ gedacht wird, selbst durchführte und immer noch durchführt. Den Anfang dieses Prozesses betreffende Spitzfindigkeiten interessieren ihn nicht. Nur das Faktum bleibt: Es gibt keine Wildform, zu der der Mensch degenerieren könnte. Warum aber dann die völlig unterschiedliche Bewertung der Wilden Kinder? Tafel und Blumenbach rezipieren das, was ein Mensch ist, grundsätzlich anders. Für den Tübinger Bibliothekar ist die Physis, auch wenn er ausgiebig auf physiologische Erkenntnisse rekurriert, völlig bedeutungslos, lediglich die Hülle, in die von außen das hineingelegt wurde, was den Menschen nun vom Rest der Natur trennt. Wohlgemerkt spirituell trennt, denn der Körper gehört weiterhin dem Tierreich an. Die Verwilderten sind ihm der Beweis dafür, dass die Entwicklung, die nicht eintreten konnte, auch nicht eigenständig eintrat; oder, in seinem Duktus, sie sind der a posteriori-Nachweis einer schon a priori feststehenden einzigen Möglichkeit. Auch wenn tatsächlich alle Verwilderten geburtsmäßige Schwachsinnige gewesen wären, würde dies die These Tafels nicht widerlegen; dann wären die Fälle lediglich völlig aussagelos. Für Blumenbach aber ist das, was da aus den Wäldern direkt ins Zentrum der europäischen Intelligentsia hereinplatzte, ganz ohne Frage und bedingungslos menschlich. Was er jedoch nicht akzeptieren kann, ist, dass diese Art der Menschlichkeit die eigentliche sein soll. Umso mehr, als spätestens seit Rousseau – ob richtig oder falsch verstanden wurde an anderer Stelle geklärt – in dem Ursprungsgedanken immer auch eine Zielvorstellung zumindest unterschwellig mitschwang. Das hieße aber, wenn man diese Fälle betrachtet, dass der mühevolle und zu solch eindrucksvollen Ergebnissen führende Selbstbildungsprozess des Menschen womöglich ein Irrweg war. Es ist diese Idee, die Blumenbach bekämp68 „Swedenborgs Anthropologie kennt keine Erbsünde und damit auch nicht die Rechtfertigung aus Glauben allein. Der Mensch habe im Glauben das Böse zu meiden und hernach das Gute zu tun.“ ZWINK, Die Neue Kirche, o. P.
5.2. Staatsfeind Nr. 1: Wilde Kinder im Biologismus
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fen will, die ihm völlig inakzeptabel erscheint, weil die Entwicklung des Menschen, sein Zivilisationsprozess, doch so deutlich zu seiner Verbesserung führt und damit den weiteren Weg weist. Der Telos Blumenbachs und der Primitivisten erweisen sich schlicht als inkompatibel. Was er in den Isolierten vorfindet, ist nicht der Naturzustand. Er kann es nicht sein, weil ein solcher Zustand des Menschen nicht existiert, und mit großer Wahrscheinlichkeit niemals existiert hat. Und im genauen Umkehrschluss zu Tafel: Selbst wenn nicht alle Fälle das Ergebnis geistiger Devianz wären, wären sie nicht aussagekräftiger als Voltaires verirrte Biene dies für ihre Art ist. 5.2. STAATSFEIND NR. 1: WILDE KINDER IM BIOLOGISMUS „Wären sie noch nicht da, man müßte sie erfinden.“69 Fast 40 Jahre nach Tafel empfand mit dem Anatomen und Biologen AUGUST RAUBER ein weiterer Deutscher die Wilden Kinder als schmerzlich unterschätzt. Sein Name ist bis heute in seiner Disziplin geläufig, veröffentlichte er doch 1886 ein Lehrbuch der Anatomie des Menschen70, das immer noch – freilich mit erheblichen Änderungen – aufgelegt wird. Geboren 1841, studierte Rauber Jura, Medizin und Naturwissenschaften in München, schloss sein medizinisches Studium 1865 ab und widmete sich in Wien, wo er sich auch habilitierte, der Zellforschung.71 1870–71 leistete er Dienst als Militärchirurg, um 1872 dem Ruf Wilhelm His’ nach Basel zu folgen. Diesen begleitete Rauber ein Jahr später auch nach Leipzig, erhielt hier aber zu seiner Enttäuschung nicht den erwarteten Lehrstuhl. Gleichzeitig überwarf er sich mit seinem Mentor, was sich auf unterschiedliche Ansätze in der Embryologie zurückführen lässt: Rauber, hier – aber wie wir sehen werden, nicht nur hier – von Haeckel beeinflusst72, vertrat den Standpunkt, dass diese sich stärker den Homologien verschiedener Spezies, und vor allem der Frage, welche Zellstrukturen sich in welcher Abfolge entwickelten, zuwenden sollte.73 Die Ontoge69 AUGUST RAUBER, Homo sapiens ferus oder die Zustände der Verwilderten und ihre Bedeutung für Wissenschaft, Politik und Schule. Biologische Untersuchung […], Leipzig 1885, 8. 70 CARL ERNST EMIL HOFFMANN & AUGUST RAUBER, Lehrbuch der Anatomie des Menschen, 2 Bde., Erlangen 31886. 71 Seine Antrittsvorlesung, die als verschollen gilt, widmete Rauber einem naturphilosophischen Thema; vgl. WILHELM LUBOSCH, August Rauber, 134. Eine kurze Zusammenfassung der Biographie Raubers auch bei SABINE BRAUCKMANN, August Rauber (1814–1917): from the primitive streak to Cellularmechanik, in: Journal of developmental biology, 50 (2006), 439– 449. 72 Vgl. ebd., 136. Zur Bedeutung Haeckels, der seine Tätigkeit vor allem dem Nachweis der Darwinschen Deszendenztheorie gewidmet sah, vgl. etwa THOMAS JUNKER, Zur Rezeption der Darwinschen Theorien bei deutschen Botanikern, in: EVE-MARIE ENGELS (Hg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt 1995, 147–181; JÜRGEN SANDMANN, Ernst Haeckels Entwicklungslehre als Teil seiner biologistischen Weltanschauung, in: ENGELS, Evolutionstheorien, 326–346. 73 Vgl. BRAUCKMANN, August Rauber, 441.
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5. Hohlspiegel: Traditionslinien des 19. Jahrhunderts
nese erschien ihm als Schnelldurchlauf der Phylogenese.74 In der Folge stagnierte die akademische Karriere Raubers für über zehn Jahre. Er experimentierte einsiedlerartig, veröffentlichte jedoch eine lange Reihe von Aufsätzen und konzipierte die oben erwähnte Anatomie des Menschen. Raubers Interessengebiete zeigen sich in dieser Periode weit gestreut75: Er liest ohne Bezahlung am Anatomischen Institut, jedoch geraten nun auch die Teratologie und Paläontologie in seinen Themenkreis. 1886 folgt er schließlich dem Ruf nach Dorpat, wo er bis 1911 den Lehrstuhl für Anatomie, Histologie und Embryologie bekleidet. Nach seiner Emeritierung und der wenig standesgemäßen Heirat mit seiner estnischen Haushälterin bricht offenbar wieder sein Hang zur Vereinsamung durch, er zieht sich aus dem öffentlichen Leben zurück – spielt allerdings durchaus Violine für wohltätige Zwecke oder hält Vorträge über Polygamie und Frauengleichberechtigung. Mit Ausbruch des Ersten Weltkrieges werden Raubers Ehefrau und sein Sohn deportiert, wonach sich Rauber völlig isoliert. Er verstirbt 1917. 5.2.1. Experimentaldarstellungen der Natur 1885, also noch in Leipzig, verfasste Rauber seine Monographie über den Homo sapiens ferus, die bereits an Passagen seiner Urgeschichte des Menschen76, einer meist übergangenen Quelle, anknüpfen konnte.77 Raubers Interesse an den Wilden Kindern, von denen er im Homo sapiens ferus zwölf Fälle beschreibt78, erwächst aus seinem Bedürfnis, die für ihn eminente Bedeutung des Staates zu erklären. Dies geschieht in so emphatischer, fast manischer Weise, dass man zunächst geneigt ist, den politischen Kontext des gerade entstandenen Deutschen Reiches als ausschlaggebend zu betrachten. So berichtet Lubosch, dass Rauber wohl den 74 Vgl. SANDMANN, Ernst Haeckels Entwicklungslehre, 328. 75 LUBOSCH, August Rauber, 131 führt dies auf den Einfluss des Vaters zurück, der trotz der naturwissenschaftlichen Neigungen seines Sohnes auf einem Jurastudium bestand, das diesen an die Philosophie und Staatslehre heranführte. Seine durch den Aufsatz scheinende tiefe Sympathie für Rauber erklärt sich wohl auch hieraus, hatte doch Lubosch selbst einen druckgelegten Vortrag Über die Bedeutung der humanistischen Bildung für die Naturwissenschaften (Jena 1920) gehalten. 76 AUGUST RAUBER, Urgeschichte des Menschen. Ein Handbuch für Studirende, 2 Bde. in 1 Bd., Bd. 1: Die Realien, Bd. 2: Territorialer Ueberblick. Entwickelungsgeschichte des Menschen, Leipzig 1884. 77 Es ist schwer entscheidbar, ob dem Werk eine besonders weite oder freundliche Rezeption zuteil wurde: Lubosch, der ansonsten auch kleinere Arbeiten Raubers akribisch auflistet, übergeht diese recht voluminöse Monographie völlig; vgl. LUBOSCH, August Rauber, 169 ff. Andererseits erschien bereits 1888 in Leipzig eine zweite Auflage, und Pagel führt das Werk in einer eher kurzen Liste ebenfalls an; vgl. JULIUS LEOPOLD PAGEL, „Rauber, August“, in: Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts, Basel u. a. 1901 [ND Leipzig 1989], Sp. 1347. Augenscheinlich war das Interesse der Öffentlichkeit stärker als das der Wissenschaftsgemeinde. 78 Nämlich 1.–2. Die beiden hessischen Knaben; 3. Bamberger Knabe; 4. Lütticher Hans; 5. Irischer Jüngling; 6.–8. Die Lithauischen Knaben; 9. Mädchen von Cranenburg; 10.–11. Die Pyrenäischen Knaben; 12. Der wilde Peter von Hameln.
5.2. Staatsfeind Nr. 1: Wilde Kinder im Biologismus
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„Geist, der in seinem Vaterhause herrschte, wo der Beamte sich dem Staat innig verpflichtet fühlte“, internalisiert hatte.79 Nur der Staat könne dem Menschen „inmitten aller Spaltungen und Gefahren, aller Schwankungen und Zweifel […] einen starken, vereinigenden Mittelpunkt“ bieten. Und weiter: Wie die Planeten um die Sonne, so bewegen wir uns um diesen Mittelpunkt. […] Sein Anblick verleiht Kraft in allen Anwandlungen von Schwäche, sicheren Halt bei jedem Anlaß von Schwanken, zuverlässigen Grund, wenn sich der Boden uns zu entziehen scheint, Licht und Wärme, wenn Kälte und Finsternis über uns hereinbrechen. Wie ein in nächtlicher Fluth umherirrendes Schiff, wenn es in die Nähe gefürchteter Gebiete kommt, nach den tröstlichen Strahlen eines fernen Leuchtturms ausspäht, durch ihn seinen Aufenthaltsort erkennt und vor Gefahren bewahrt wird, so verhält es sich auch mit der Bahn des Einzelnen seinem Mittelpunkt, seinem höchsten irdischen Besitzthum gegenüber.80
Diesen Staat nun reklamiert Rauber als legitimes Untersuchungsobjekt nur der Biologie.81 Besonders fasziniert ihn die Möglichkeit, über deren naturwissenschaftliche Methodik den Stellenwert des Gemeinwesens empirisch zu belegen. Akzeptiert man diese Prämissen, ist die Beweisführung fast naheliegend: Ein akkurates Bild eines so komplexen „Organismus“ lässt sich am besten vor einer Negativfolie, nämlich den „in vollständiger Isolirung Aufgewachsenen“ entwickeln. Die an diesen, und somit auf „biologischem Boden“ gewonnenen „Erfahrungs- und Experimentalbeweise“ hielt Rauber für das letzte Wort in der Sache: „Ihnen zu entrinnen, daran ist nicht zu denken. Sie haben weit festeren Bestand als Felsen. Denn Felsen zerbröckelt und verwitert und es ist bekannt, daß selbst die festen Felsen beben.“82 Mit den Isolirten ließ sich zugleich – Rauber hing Darwins Evolutionstheorie an – die Urgeschichte der Menschheit nachvollziehen. Diese wiederum wies nicht einmal eine entfernte Ähnlichkeit mit jener idealisierten Idylle auf, deren „Reinheit und Unverdorbenheit ein vergangenes Zeitalter sich so herrlich auszumalen versuchte, während es das Leben innerhalb der vorhandenen Gesellschaft als verdorben, mißgestaltet und unnatürlich bezeichnete.“83 Das Gegenteil war der Fall. Mit den Isolirten wurde für Rauber – siehe das dem Kapitel voran gestellte Zitat – ein wissenschaftlicher Traum wahr: Ihr Aufenthaltsort sei „die Wildniß, sie leben fern von der Gesellschaft der Menschen, fern von bebauten Fluren. Schon in 79 LUBOSCH, August Rauber, 132. Rauber selbst schreibt, rückblickend auf seine ersten JuraSemester, er habe es als „tiefe Beschämung“ empfunden, „so wenig vom Staate zu wissen“ und „diesen Mangel möglichst gründlich und möglichst rasch durch das Studium verschiedener trefflicher Werke zu beseitigen“ versucht. Zit. n. ebd. 80 RAUBER, Homo sapiens ferus, 2. 81 „Wir entreißen die Untersuchung des Staates denjenigen Zweigen der Wissenschaft, die sich bisher vor Allem mit ihm beschäftigt haben und nehmen ihn für die Biologie in Anspruch. Der Staat ist ein biologisches Problem. Wir setzen ihn daher den leuchtenden Strahlen der Biologie aus […].“ Ebd., 3. Rauber dürfte hier von den biologistischen Anschauungen Haeckels beeinflusst gewesen sein, worauf auch seine Auffassung des Staates als Organismus (s. u.) verweist. 82 Ebd., 3. 83 Ebd., 7. Für seine Untersuchungsobjekte findet Rauber im Verlauf seines Werkes verschiedene Bezeichnungen: Verwilderter, Isolirter, Kulturloser, Homme sauvage, Homo ferus.
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5. Hohlspiegel: Traditionslinien des 19. Jahrhunderts
früher, zarter Jugendzeit sind sie durch irgend welche Umstände von Menschen abgekommen und haben für sich allein ihr Leben weiter fortgesponnen, Knaben und Mädchen. Durch Zufälle sind sie nach langen Jahren, zum Theil erst als Erwachsene, wieder in die menschliche Gesellschaft zurückgelangt.“84 Auch wenn ihm die Tradierung an vielen Stellen merkwürdig erschien, wollte und konnte er den Fällen nicht jede Aussagekraft absprechen, und diese schon gar nicht generell pathologisieren, wie es Blumenbach getan hatte.85 Sie waren „Experimentaldarstellungen der Natur.“86 Bezüglich der Relevanz wird jedoch differenziert: „Sie sagen uns viel, indem sie uns mit unbezwinglicher Gewalt davon in Kenntnis setzen, was denn eigentlich Kultur sei.“87 Sie sind so das perfekte Argument ex negativo. „In anderer Beziehung sagen sie uns wiederum sehr wenig.“88 Dies verweist auf das grundlegende Kommunikationsproblem: Die Verwilderten können entweder nicht sprechen und lernen es auch nicht, oder sie lernen es, können aber keine Auskunft mehr über ihren ursprünglichen Zustand geben. „Alles, was sie uns erzählen, geschieht in wortlosen, aber erschütternden Dialogen.“89 Man muss hinzusetzen: in Dialogen, die damit über alle Maßen deutbar wurden. Die Betrachtung des vorliegenden Materials, wobei im Übrigen ganze Passagen von Tafel übernommen werden90, brachte Rauber zu einer ambivalenten Einschätzung. Beklagenswert sei zunächst, dass viele der Fälle nicht adäquat beobachtet, geschweige denn reflektiert und aufgezeichnet worden seien. Die betrifft vor allem die ältesten Fälle, die Rauber heranzieht. Die Überlieferungslage für die beiden Hessischen Knaben, von denen mit Dilich und Pistorius erst im 17. Jahrhundert berichtet werde, sei schlicht unbefriedigend. Dennoch mag er sie nicht, wie Schreber, als „offenbares Märchen“ sehen und damit „das Kind zugleich mit dem Bade“ ausschütten. Der Kern könne durchaus korrekt sein, wenn man nur das „Beiwerk auf sich beruhen läßt oder beseitigt.“91 Ähnlich sieht Rauber die Fälle des Bamberger Knaben und des Lütticher Hans. Und auch bei den rezenteren Fällen der Lithauischen Knaben scheint Vorsicht geboten: Der Augenzeugenbericht Tylkowskis werde ergänzt durch die Schrift Kirchers.92 Bei diesem würden
84 Ebd., 8. 85 „Manche Beurtheiler haben sich darum für berechtigt gehalten, die fraglichen Fälle zwar nicht im Ganzen als Erfindungen zu betrachten, wohl aber sie in ihrer Bedeutung herabzudrücken und insbesondere für pathologische Bildungen zu erklären. Es wird sich zu zeigen haben, wie sich die Sache in Wirklichkeit verhält.“ Ebd., 8. 86 Ebd., 12. 87 Ebd., 10. 88 Ebd. 89 Ebd. 90 Allerdings in der Regel ohne Verweis auf den eigentlichen Urheber; konkreter s. u. 91 Ebd., 18. Wie man allerdings Beiwerk und Kern verlässlich trennen können soll, erläutert Rauber nicht. Es wird sich zeigen, dass er generell das Prinzip adaptiert, das schon Generationen vor ihm anwandten: Wahr ist, was zur These passt. 92 Für die ablehnende Haltung Raubers gegenüber diesen Autoren dürfte das Faktum, dass beide Jesuiten waren, nicht unmaßgeblich gewesen sein; zu Raubers antiklerikalen Tendenzen s. u.
5.2. Staatsfeind Nr. 1: Wilde Kinder im Biologismus
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jedoch bereits nicht mehr nur die Fakten geschildert, sondern gegen die Existenz einer eigenen Gattung von Waldmenschen argumentiert.93 Es existierten jedoch so viele Gegenbeispiele, die aus wissenschaftlicher Sicht durchaus zufriedenstellen könnten, dass insgesamt das „Vorhandene […] in großer Ausdehnung und in hohem Grade brauchbar […]“94 sei. Der endlich von einem Naturwissenschaftler, nämlich von Tulp, erwähnte Irische Jüngling sei nun ein Fall, „der Alles enthält, worauf es ankommt, den Mangel der eigentlichen menschlichen Vernunft und der Sprache auf der einen, die Vervollkommnungsfähigkeit auf der andern Seite“95. Das treffe tendenziell auch das Mädchen von Songi zu, ein glänzendes „Beispiel von weitgehender Fortentwicklung aus roh gebliebenem, unentwickeltem Anfangszustand […].“96 Wie schon Tafel vor ihm sieht Rauber jedoch auch, dass „der Grad, in welchem das Mädchen während der vorausgehenden Zeit der menschlichen Gesellschaft entzogen war“97, zweifelhaft bleibt. Mit dem Wilden Peter von Hameln findet sich dann eine fast überbordende Fülle von Material. Rauber schöpft dieses einmal mehr ohne Verweis von Tafel, dessen Bewertung er nur leicht modifiziert. Möglicherweise, schließt er sich Blumenbach an, habe Peter tatsächlich nur eine verhältnismäßig kurze Zeit wild gelebt, so dass Geistesstörung wie Stummheit tatsächlich angeborener Natur sein könnten.98 Aber auch bei diesem Blödsinn frage sich, ob es ein angeborener oder ein erworbener gewesen sei. Zwar nicht ein in der Wildnis erworbener, soviel schien klar zu sein. Aber vielleicht ein durch frühzeitige „Verwahrlosung und Vereinsamung“99, sprich mangelhafte Fürsorge des Elternhauses ausgelöster. Dass
93 Wie sehr man sich in diesem Wust, der zunahm, je mehr Quellen offen gelegt wurden, verirren konnte, zeigt Rauber selbst, der zunächst Moréri zitiert: „Sein Gesicht war hübsch, seine Augen blau, alle seine Sinne aber so verthiert, er des Verstandes und der Vernunft so entblößt, daß er von einem Menschen nichts zu haben schien als den Körper.“ Nur eine fußnotenübersäte Seite später dann: „In Übereinstimmung mit Moréri erzählt Prof. Müller von diesem Knaben als einem vollkommen überzeugenden Beispiel, daß der gänzlich der Natur überlassene, von Jugend auf sich in Wildnissen aufhaltende Mensch keine Sprache lerne, wild werde und auch äußerlich ein thierisches Aussehen bekomme.“ Ebd., 24 f. Damit ist die Widersprüchlichkeit der Berichte jedoch noch lange nicht zuende: Nach Kircher lernt der Knabe zu sprechen, nach Moréri nicht. Dennoch will Rauber den Fall nicht unter den Tisch fallen lassen und findet schließlich eine für ihn akzeptable Lösung des Problems: Der Junge habe eben verstehen, aber nicht sprechen können. Ebd., 25. 94 Ebd., 14. 95 Ebd., 20. Der Einfluss Tafels wird hier überdeutlich; letzterer (Fundamentalphilosophie, 52) vermerkt praktisch wortgleich: Der „Fall […] enthält alles, worauf es hier ankommt, nämlich den Mangel der Vernunft und Sprache auf der einen, und die Perfectibilität auf der anderen Seite.“ 96 RAUBER, Homo sapiens ferus, 41. 97 Ebd. 98 Ebd., 40. 99 Ebd.
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5. Hohlspiegel: Traditionslinien des 19. Jahrhunderts
Peter zu einem der Vorzeigefälle geworden war100, fand Rauber wenig erquicklich, konnte doch die hohe Zahl der Quellen „dazu verleiten, einen Fall für typisch zu betrachten und auszugeben, der es gar nicht ist.“101 Daher auch die Bedeutung, die Blumenbach hinterlistig dem Fall beimesse: So, wie er gelagert sei, spreche er mehr gegen als für die wissenschaftliche Relevanz der Wilden Kinder. Keinesfalls mochte Rauber eine physiognomische Begründung für Peter gelten lassen, und er verweist auf mehrere Bilder, die eben „keine dumme Physiognomie“102 zeigten; auch diese Schablone hatte bereits Tafel gefertigt. Rauber konnte sich in der Materie eines sicheren Urteils fähig fühlen, gehörte die Vermessung von Schädeln doch zu seinen Steckenpferden. So unternahm er einen Modellversuch, in dem er mittels rein geometrischer Formwandlung den Drahtumriss eines Neandertaler-Schädels sukzessive in den Kants überführen wollte – für ihn „Beginn und Krönung des menschlichen Denkens“.103 In zwei weiteren Fällen ergab sich jedoch eine andere Sachlage: Ganz im Gegensatz zu Peter beschreibe Wagner, an dessen Bericht sich Rauber hält104, dass die Physiognomie des Kronstädter Wilden sehr aussagekräftig sei. In seinem „demüthigenden Anblick“ zeige sich, wie bei vielen Insassen der Tollhäuser, dass „jenes eigenthümliche Gepräge, welches die Vernunft der menschlichen Bildung aufdrückt, bei allen denjenigen Personen mehr oder weniger vermißt werde, welchen der Vernunftgebrauch in höherem oder geringerem Maß versagt ist.“105 Wagner möchte dieses traurige Beispiel einer menschlichen Existenz, dieses „unbehülfliche Geschöpf“, nur ungern zur Menschheit zählen. Eine Besserung seines Zustandes tritt erst ein, als es nach etwa einem Jahr gelingt, ihn an gekochte Speisen zu gewöhnen. Überhaupt bringt die Zeit dann doch einige „zivilisatorische Fortschritte“106. Der Wilde bleibt jedoch ohne Sprache, obwohl er einen ausgesprochenen Imitationsdrang zeigt. Er gleicht so „in allen Stücken einem Kinde, dessen Fähigkeiten sich zu entwickeln beginnen, nur mit dem Unterschiede, daß er – der Sprache unfähig – keine Fortschritte in dieser Entwicklung machen konnte, sondern stets auf derselben niedrigen Stufe stehen blieb.“ 107 Rauber betont nun, Wagner habe ausdrücklich nicht von einem blödsinnigen, sondern von einem geistig zurückgebliebenen Menschen gesprochen. Die körperlichen Auffälligkeiten, die er beschreibe, seien zu unpräzise, um zu einem Urteil in Richtung kongenitaler Schwachsinn zu kommen. Außerdem sei der Wilde ja 100 Dieser Befund Raubers trifft übrigens kaum zu. Zwar widmet Blumenbach seine Monographie dem Fall, aber in vielen der deutschen Naturgeschichten des 18. Jahrhunderts ist er, wie oben gezeigt wurde, verschwunden. 101 Ebd., 32. 102 Ebd., 38. 103 Als Ergebnis zeigte sich übrigens eine evidente „geometrische Überlegenheit“, weil erhabenere „Rundheit“ des Kantschen Denkbehältnisses. Vgl. LUBOSCH, August Rauber, 147 f. 104 MICHAEL WAGNER, Beiträge zur philosophischen Anthropologie und den damit verwandten Wissenschaften, 2 Bde., Wien 1794–96. 105 Ebd., Bd. I, 251 ff. 106 RAUBER, Homo sapiens ferus, 52. 107 Ebd., 53; hier wird wieder Wagner (s. o.) zitiert.
5.2. Staatsfeind Nr. 1: Wilde Kinder im Biologismus
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durchaus intelligent genug gewesen, sein Überleben zu sichern.108 Stattdessen glaubte der nun noch auf das psychologische Feld vordringende Biologe, auf eine ganz neue Form des Blödsinns, die dementia ex separatione gestoßen zu sein.109 Auch wenn an topische Ideen wie die besondere Weichheit oder Formbarkeit der Organe des Kindes angeknüpft werden konnte, die bei Defoe einen so greifbaren Niederschlag gefunden hatten, gemahnt das dahinterstehende Konzept bereits an entwicklungspsychologische Prämissen: Solche, in der Wildnis isolirt aufgewachsene Menschen wird man nicht zu jeder Zeit ihres Daseins für vollkommen bildungsfähig betrachten wollen. Sind sie in ihrem Zustand bereits erstarrt, was bei dem Einen früher, bei dem Andern später sich ereignen wird, dann ist es für alle Zeit vorbei mit ihrer vollkommenen Bildungsfähigkeit, selbst wenn sie nach Auffindung unter die rationellsten Bildungsbedingungen versetzt werden.110
Das Konzept der Perfectibilität wird hier deutlich modifiziert, indem Rauber dessen temporale Dimension betont: Dem Menschen bleibt nur ein schmales Zeitfenster, in dem die eigentliche Humanität ausgebildet werden kann. Wann sich dieses öffne und wieder schließe, sei individuell verschieden – womit Raubers Behauptung schwer anfechtbar wird, auf das bloße Lebensalter der Isolierten konnte ja nicht verwiesen werden. Verstreiche diese Zeit, blieben die Effekte der Isolierung chronisch, das Gehirn degeneriere, weil die entscheidenden Schlüsselreize unterblieben. Victor, dessen Schicksal Rauber über Virey erschließt, ließ sich hier bruchlos einordnen.111 Zwar berichtete Larrey eine Übereinstimmung mit „gewissen Schädelformen von Idioten“112, aber dessen Verlässlichkeit sei fraglich, bemerke doch Virey an keiner Stelle seiner ausführlichen Abhandlung etwas von einer solchen Auffälligkeit, die einem Forscher seines Ranges keinesfalls hätte entgangen sein dürfen. Zudem verfing auch hier wieder das Argument des für einen kongenitalen Idioten unmöglichen Überlebens in der Wildnis, so dass das Konzept der dementia ex separatione gerechtfertigt schien. Rauber gelangt so schließlich zu einer eigenständigen Kategorisierung der Fälle entlang der Variable Ausbildungsfähigkeit, oder, gleichbedeutend, der Schwere der durch die Isolation aufgetretenen Demenz. Extremfälle sind auf der einen Seite Marie-Angélique, die sich praktisch vollständig in die menschliche Gesellschaft reintegrieren lassen habe, auf der anderen die lithauischen Knaben, die in ihrem tierischen Zustand verblieben seien. Dazwischen ließen sich die anderen Fälle einreihen.
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Vgl. dazu die Position, die Malson in den 1960er Jahren entwickelte; s. o., Kap. 1.2. Zur Übernahme dieses Konzepts bis heute vgl. ebd. RAUBER, Homo sapiens ferus, 54 f. Das Quellenmaterial Itards und Bonnaterres, von dem Rauber zumindest die Existenz bekannt ist und das doch eigentlich aufgrund der Nähe der Verfasser zum Objekt eher zu bevorzugen wäre, wird dagegen ganz beiseite gelassen – eine Folge der auf die Physiologie abstellenden Betrachtungsweise. 112 Ebd., 62.
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5. Hohlspiegel: Traditionslinien des 19. Jahrhunderts
5.2.2. Coelenteraten und Isolirte „Es ist schon so lange Zeit verflossen, seitdem die Verwilderten zum letzten Male der Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gewesen sind, daß die Gegenwart kaum mehr von ihnen Kenntniß besitzt.“113 So beginnt Rauber seine Beurteilung der Fälle. Aber vielleicht war dieses Vergessen ja gerechtfertigt? Vielleicht war die wissenschaftliche Befassung mit den Wolfskindern tatsächlich eine Marotte des 18. Jahrhunderts, die von der modernen Wissenschaft nur als Fauxpas begriffen werden konnte? Raubers Antwort ist verblüffend pointiert, denn sehr klar erkennt er, dass die Skepsis eines Blumenbach ihre Motivation möglicherweise gar nicht aus den Fällen an sich, sondern einer weit generelleren Abneigung gegen naturgeschichtliche Denkschemata schöpfte: „Er sowohl, wie v. Schreber, kämpfen aber nicht gegen den Urmenschen der heutigen Wissenschaft, sondern weit eher gegen den ‚Naturmenschen‘ der Naturphilosophie des vorigen Jahrhunderts“, ein „Phantasiegebilde, kein Gegenstand der Wissenschaft“.114 Eine für Rauber ganz verständliche, aber aufgrund der Fortschritte der Naturwissenschaften eben mittlerweile obsolete Haltung. In dem verständlichen Kampf gegen diese Chimäre schienen die Kritiker also über ihr Ziel hinausgeschossen zu sein, indem sie den Naturmenschen mit dem Homo sapiens ferus gleichstellten und „gänzlich aus dem Wege zu räumen bemüht“ 115 waren. Schrebers Einwand, dass ein Überleben ganz junger Kinder nicht vorstellbar sei, erkennt Rauber durchaus an, nicht aber dessen Folgerungen. Ganz im Gegenteil seien eben die älteren Kinder aussagekräftig, weil sich an ihnen, die bereits im Besitz gewisser kultureller Fähigkeiten gewesen seien, die schrecklichen Wirkungen der Isolation ganz besonders zeigten. Verließ man die synchrone Betrachtungsweise, welche das 18. Jahrhundert mangels der Temporalisierung der Biologie noch nicht ablegen konnte, wurden die Verwilderten durchaus aussagekräftig: In ihnen sah Rauber den Urzustand des Menschen, den Nullpunkt der menschlichen Evolution vor sich.116 Die Verwilder-
113 Ebd., 64. 114 Ebd., 87. Insgesamt stürzt sich Rauber in seiner Widerlegung etwas übereifrig auf die Terminologie. Ihm unterläuft dabei derselbe Denkfehler, den er bei Tafel vorher erkannte. Linné, dem er den Begriff des Homo sapiens ferus entlehnt, und der bei ihm auch ein Aushängeschild für die seriöse wissenschaftliche Verwendung desselben bleibt, konnte selbst ja noch keineswegs auf die Bedeutung der Urgeschichte rekurrieren – die Arten sind und bleiben bei ihm konstant. Die Beweiskraft, die Rauber damit erreicht, ist also gering, auch weil er selbst genaue Begriffsdefinitionen umgeht: Bis zum Schluss bleibt sein Begriff des „Urmenschen“ unklar, ebenso wie der „Naturmensch“ nur höchst eindimensional, im Sinne des Primitivismus erfasst wird. 115 Ebd. 116 „Die ursprünglichen Zustände des frühesten urgeschichtlichen Menschen können von denjenigen unserer Verwilderten nicht sehr verschieden gewesen sein, wie die urgeschichtliche Forschung uns belehrt. […] Die frühesten urgeschichtlichen Menschen waren gegen die Isolirten freilich dadurch bedeutend im Vortheil, daß sie in Gesellschaft lebten […].“ Ebd., 67 f.
5.2. Staatsfeind Nr. 1: Wilde Kinder im Biologismus
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ten bilden dabei zwei Stränge einer im Ganzen dreigliedrigen Argumentation, die im Gegenzug die Plausibilität der Fälle stärkt: Von drei verschiedenen Seiten aus vorgehend erhalten wir somit das gleiche Ergebniß: von Seiten der Zurückverfolgung der Kultur auf ihre ersten Anfänge an der Hand der urgeschichtlichen Forschung; von Seiten der Schlußfolgerung gegenüber einer in Gedanken vollzogenen Experimentaluntersuchung Isolirter; und endlich von Seiten der Erfahrung, die uns die wirkliche Beobachtung Isolirter vermittelt hat.117
Jede dieser Beweisführungen – paläontologische Funde, Gedankenexperiment, empirische Beobachtung – ist für sich betrachtet schwach. Aber zusammengenommen, meint Rauber, seien sie aussagekräftig, da sie alle auf denselben Zustand hindeuteten. Die Nähe, die Hypothesen und Gedankenspiele solcher Art zu denen Rousseaus oder Halles aufweisen, ist nur eine scheinbare. Denn im Unterschied zu diesen dachte Rauber auf einem ganz anderen Fundament, nämlich dem der Darwinschen Evolutionstheorie.118 Der Urmensch Raubers ist nicht mehr der Naturmensch des 18. Jahrhunderts, sondern ein tatsächlich temporal gedachter Vorfahre des Menschen. Die Folgerungen, die er schließlich aus dieser Untersuchung zieht, sind radikal und zumindest in ihrer Terminologie aus heutiger Sicht sogar schockierend: Der Wert eines Menschen lasse sich nur aus dessen Bedeutung für den Gesamtorganismus, den Staat, ableiten, weil der individuelle Wert gegen Null tendiere. Es ist klar, daß der Mensch, für sich selbst und durch sich allein nur einen sehr geringen Werth darstellt; denn er erhebt sich aus eigener Kraft nicht über thierische Zustände. So werden wir also genöthigt sein, zwischen dem Rohwert und dem Kulturwerth des Menschen streng zu unterscheiden. Der Kulturwerth des Menschen wird dargestellt durch die geschehene Aufnahme und Verwerthung des überlieferten tausendjährigen geistigen Besitzthums vorausgegangener Zeitalter. Das Anwachsen und Überlieferung alles geistigen Besitzes vollzieht sich aber nicht in einem beziehungslosen Nebeneinander von vielen Einzelnen. Sondern ausschließlich in den zu einem Organismus sich angliedernden einzelnen Bestandtheilen, von dem sie abhängig sind und welcher sie unter seine Wirkung stellt. Der Kulturwerth ist demnach das Erzeugniß der staatlichen Organisation und kann mit Recht und vielleicht noch zweckmäßiger Organisationswerth genannt werden.119
Mit der Darstellung der politischen Bedeutung der Verwilderten ist Rauber ohne Zweifel am Herzstück seiner Darstellung angekommen. Grundsätzlich sollen mit den Isolierten die „überaus weit verbreitete Unkenntniß und die damit zusammenhängende Feindseligkeit, ja der unversöhnliche, grimmige Haß gegen den Staat und alles staatliche Wesen“120 ad absurdum geführt werden. Die Entwicklung des Staates aber werde ganz neu beleuchtet durch die Erkenntnisse der Urgeschichte, die zum ersten Mal über den geschichtlichen Rahmen hinausgehe und ihr Deutungsmaterial in den Fossilien und sonstigen Überresten finde. Ebenso trügen
117 Ebd., 68. 118 Dass Rauber Darwins Theorie völlig überzeugend fand bestätigt auch LUBOSCH, August Rauber, 153. 119 RAUBER, Homo sapiens ferus, 68. 120 Ebd., 89.
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5. Hohlspiegel: Traditionslinien des 19. Jahrhunderts
Botanik und Zoologie zu einer Neudefinition bei.121 Nur die Naturwissenschaften verfügen so für Rauber über den Fundus, „den menschlichen Staat zu durchschauen bis in seine Tiefen“, und „so lernt der Mensch aus der biologischen Untersuchung heraus sofort und ohne Weiteres begreifen, der menschliche Staat sei etwas außerordentlich Hohes, ein Unendliches, das höchste Besitzthum des Menschen auf Erden.“122 Tatsächlich liefert Rauber schließlich die angekündigte biologisch fundamentierte Definition des Staates, nämlich als naturgemäße Vereinigung der Einzelnen zu einem in sich geschlossenen lebensfähigen Organismus, mit der obersten Aufgabe, den Menschen aus einem vernunft-, kultur- und sprachlosen Wesen zu einem Vernunft-, Kultur und Sprachwesen zu entwickeln, die Menschheit zu erzeugen, zu erhalten und weiterzuführen.123
Rauber, mit seinen fundierten Kenntnissen in Urgeschichte und Biologie, – hier besonders übrigens „über die Coelenteraten sowie überhaupt über das ganze Gebiet der Verbände im Thierreich“124 – gerät in seinem Selbstbild so zum idealen Staatswissenschaftler. Hinzu kommen nun noch seine Kenntnisse über das experimentelle Feld: eben die Verwilderten. Aus deren Schicksal hielt Rauber für ableitbar, dass im „bestimmten Falle […] der Einfluß dieser Entziehung des Verbandslebens ein so tiefgreifender [ist], daß eine organische Degeneration der Seelenorgane, eine geistige Erstarrung auf der vorhandenen thierischen Stufe sich ausbildet und Nichts mehr im Stande ist, den geistig Umnachteten zu retten […]“125. Daraus lässt sich umgekehrt der Schluss ziehen, dass es der „Wirkungen des staatlichen Verbandes auf den Einzelnen“ bedarf, „um ihn, den Vernunftlosen, zu einem Vernunft- und Sprachwesen zu machen“.126 Diese Tatsache habe schon Aristoteles festgestellt, der aber nie richtig verstanden worden sei. Rauber übersetzt zoon politikon dann auch tatsächlich konsequent mit staatliches Wesen, während er den 121 Emphatisch lässt Rauber die Wissenschaften ausrufen: „‚Ihr unternehmt es unvorsichtig, das höchste und schwierigste Gebilde einer Organisation von Einzelnen zu einer Gesammtheit, und dieses zumal im fertigen Zustand verstehen zu wollen und bedenkt nicht die Hülfe, welche Euch die Voruntersuchung zahlloser und wichtiger Verbände im gesammten Reich der Pflanzen und Thiere zu gewähren vermag? Bewahret Euch vor einseitigem Beginnen! Auch Eure Organisation gehört zu den unsrigen, sie ist nur eine von Tausenden. Werdet Ihr nicht fürchten müssen, Euch zu irren und zu kurz zu greifen, wenn Ihr nur diese eine, die Eurige berücksichtigt?‘“ Ebd., 91. Schließlich tritt auch noch die „experimentelle Biologie“ auf und verkündet: „Wenn Ihr zu wissen begehrt, was eine Organisation von Einzelnen für die Einzelnen zu bedeuten habe, entzieht doch Einzelne den Einflüssen der Organisation und Ihr werdet sichere Kunde erhalten!“ 122 Ebd., 95. 123 Ebd., 97. 124 Ebd., 92. Zu den Coelenteraten zählen etwa die staatsbildenden Quallen. Die Auffassung, dass Kenntnisse bezüglich deren Organisationsform von gesteigerter Bedeutung für das Verständnis der menschlichen Gesellschaft seien, ist offensichtlich Haeckel geschuldet und wird weiter unten ausgeführt. 125 Ebd. 126 Ebd.
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Begriff „Gesellschaft“ ablehnt: Es sei „die bürgerliche Gesellschaft, welche hier gemeint ist“, und diese nun allenfalls ein Teil des Staates ohne jeden Anspruch auf Vertretung der gesamten Menschheit. Falsch wäre es auch, die gesamte Menschheit als Gesellschaft zu bezeichnen, denn: „Die groß gewordene menschliche Gesellschaft der Erde hat sich nach biologischer Ausdrucksweise in eine Reihe von Organisationen, Staaten, gegliedert. Diese aber sind die Erzeuger der Gesellschaft als Standesbegriff, nicht umgekehrt.“127 Der Staatsbegriff erfährt hier eine immense Ausweitung; man könnte sagen, Rauber definiere ihn nach seinem Ermessen und nach seinen Bedürfnissen neu. Er umfasst schließlich praktisch jegliche Art menschlicher, letztlich aber auch tierischer und pflanzlicher Organisation. Wie differenziert oder elaboriert diese ist, ist absolut zweitrangig.128 Um diese Auffassung zu verstehen, ist ein Rückgriff auf die biologistischen Theorien Haeckels, dessen Nähe zu Rauber in embryologischen Fragen ja schon erwähnt wurde, notwendig.129 Haeckel meinte, dass sich die Anpassungsfähigkeit der Individuen, Grundvoraussetzung für das Wirksamwerden der Selektion, aus den „Prinzipien der Arbeitsteilung und der Zentralisation im Organismus“130 erklären lasse. Dieses Prinzip übertrug er ohne Abstriche auf die menschliche Gesellschaft, so dass man hier durchaus von einer frühen Form des Sozialdarwinismus sprechen kann. Ebenso wie die Zellen des Organismus übernähmen die Individuen bestimmte Funktionen, so dass Haeckel schließlich einen relevanten Unterschied zwischen „Zellenstaaten“ und „Herden und Staaten der Oberthiere und Menschen“ nicht mehr zu sehen vermochte.131 Die politischen Implikationen waren drastisch und intendiert: Haeckel legitimierte einerseits biologisch die bestehende soziale Differenzierung, die nach Darwin als bestangepasste gelten musste. Andererseits definierte er die Rollen von Individuum und Gesellschaft: Da ersteres auf die Gemeinschaft angewiesen sei, müsse es in dessen sittlichem Interesse liegen, sich für letztere einzusetzen. Bestehende gesellschaftliche Normen werden so als unausweichliches und zeitgebunden perfektes Resultat der 127 Ebd., 100. 128 Eine „atomistische“ Staatslehre, und die dahinter stehenden Entwürfe eines Hobbes, Locke oder Rousseau, findet Rauber absurd. Der Staat entstehe nicht dadurch, dass souveräne Individuen in einem freiwilligen Akt ihre Kompetenzen an einen Staat abträten, der dann für das Wohl eben dieser Individuen verantwortlich sei. Die vorstaatlichen Individuen könnten über gar keine Souveränität verfügen, da sie weder Vernunft noch Sprache besäßen, und somit sei „ihr Kennzeichen […] nicht Souveränität, sondern Thierähnlichkeit.“ Ebd., 103. Im Übrigen ist der Staat, als Erzeuger allen geistigen Besitzes der Menschheit, „auch der Erzeuger der Kirche und letztere seine Tochter“– eine klare Stellungnahme in Zeiten des Kulturkampfes. 129 Der Einfluss Haeckels auf die Öffentlichkeit war ungleich größer als der Raubers. DANIEL GASMAN, Haeckel’s Monism and the Birth of Fascist Ideology, New York u. a. 1998, 12 stellt fest, dass insbesondere die populär gehaltenen Veröffentlichungen Haeckels „basic reading for any educated member of the European society“ gewesen seien. 130 SANDMANN, Ernst Haeckels Entwicklungslehre, 331. 131 Zit. n. ebd.; Sandmann gibt als Quelle ERNST HAECKEL, Die Lebenswunder. Gemeinverständliche Studien über Biologische Philosophie. Ergänzungsband zu dem Buche über die Welträthsel, Stuttgart 1904, 472.
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Entwicklungsgeschichte gefasst – eine Art biologischer Fundamentalkonservativismus, dem durchaus totalitäre Tendenzen innewohnten. Da Haeckel gleichzeitig ein bekennender Anhänger der rassistischen Theorien Gobineaus war132, ergibt sich hier der Startpunkt für einen unheilvollen Pfad, der letztlich nur wenig gewunden bis zur Weltanschauung Rosenbergs oder Hitlers verläuft.133 Natürlich-biologische Selektionsmechanismen sah Haeckel bereits 1870 durch die Zivilisation stark beeinträchtigt134: Schwache würden vom Kriegsdienst befreit, chronisch Kranke durch die Medizin nicht an der Fortpflanzung gehindert, so dass prinzipiell eine Kontraselektion notwendig geworden wäre135, wollte man das Menschengeschlecht nicht auf lange Sicht so schwächen, dass es sich selbst sein Grab schaufelte. Zwar wird dieser Gedanke von Haeckel noch nicht bis an sein inhumanes Ende befördert – dem widerspreche der Instinkt der Sympathie, dem man zuwiderhandle, wenn man etwa Kranke nicht versorge –, aber nur zwei Jahrzehnte später fanden sich bereits Rassenhygieniker, die eben diesen letzten Schritt tun wollten.136 Rauber kann man sicher für diese Entwicklung nicht direkt verantwortlich machen, aber auch seine Untersuchung über den Homo sapiens ferus trug einen solchen und hinterlässt einen üblen Nachgeschmack. Besonders delikat erscheint, dass Haeckel, mit dem sich Rauber auch die antireligiöse Haltung teilte137, ab 1877 für eine grundlegende Reform der schulischen 132 JOSEPH ARTHUR DE GOBINEAU, Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen. Deutsche Ausgabe von Ludwig Schemann, 4 Bde., Stuttgart 1898–1901. 133 Vgl. dazu GASMAN, Haeckel’s Monism, 10: „[…] it was Haeckel’s omnipresent Monist vision of the world which decisively contributed to the birth and development of National Socialist ideology in Germany.“ Ein solcher Einfluss habe auch auf die übrigen Spielarten des europäischen Faschismus bestanden. Gasman vertritt die These in überaus scharfer Form: Weder ein bestimmtes soziales oder ökonomisches System, noch eine historische Fehlentwicklung lägen dem Faschismus zugrunde, sondern eine „direct and specific transformation of a widely held, popular scientific system of ideas into a political, philosophical, and religious ideology that – in combination with other more general anti-liberal and anti-rational traditions – acquired a revolutionary dimension.“ Ebd., 3. Gleichzeitig betont Gasman aber auch den (positiv gewerteten) Einfluss des Monismus Haeckelscher Prägung auf die modernistische Kunst und Kultur, etwa den Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus; ebd. 82–100. 134 ERNST HAECKEL, Natürliche Schöpfungsgeschichte. Gemeinverständliche wissenschaftliche Vorträge über die Entwickelungslehre im Allgemeinen und diejenige von Darwin, Goethe und Lamarck im Besonderen, über die Anwendung derselben auf den Ursprung der Menschen und andere damit zusammenhängende Grundfragen der Naturwissenschaft [1868], Berlin 21870. Zit. n. SANDMANN, Ernst Haeckels Entwicklungslehre, 334. 135 Ein logischer Fehler, da sich eine solche keinesfalls aus Darwins Selektionslehre ergibt: Die Individuen, die den Kampf ums Dasein überstehen, sind für Darwin automatisch die bestgeeigneten. Eine korrekte Sicht nach Darwin wäre also im Gegenteil, dass in Kriegszeiten Soldaten äußerst unvorteilhaft angepasst sind – ein auch dem gesunden Menschenverstand sehr nahe liegender Befund. 136 SANDMANN, Ernst Haeckels Entwicklungslehre, 334 ff. nennt als Beispiele Wilhelm Schallmayer und Alfred Ploetz. 137 Christentum und Evolutionstheorie blieben für Haeckel unvereinbar: „Ernst Haeckel devoted much of his career to arguing that Western civilization and especially Christianity with its
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Lehrpläne eintrat: Die Religionserziehung sollte durch das Studium des evolutionären Monismus ersetzt werden. NYHART kann nachweisen, dass diese Haltung im Deutschen Reich tatsächlich, wenn wohl auch vereinzelt und mit erheblichen regionalen Differenzen, den Weg an die Oberschulen fand.138 Raubers exotischer Stoff, der willkommener Anlass zur Verbreitung haeckelianischen Gedankenguts gewesen zu sein scheint, dürfte aber den Interessen des durchschnittlichen Oberschülers in hervorragender Weise entsprochen haben. Ob didaktisch versierte Lehrer tatsächlich Einsatzmöglichkeiten im Unterricht fanden, bleibt aber Spekulation.
Raubers Vorschlag für einen Stundenplan im Elementarbereich. Religion ist verschwunden, Anschauungs- und Handfertigkeits-Unterricht werden in den Vordergrund gerückt. RAUBER, Homo sapiens ferus, 130. Universitätsbibliothek Bochum.
Kein Zweifel besteht jedoch an den generellen pädagogischen Interessen Raubers. Da sein Konzept der dementia ex separatione auf Entwicklungsphasen verwies, in denen der Erwerb bestimmter Fähigkeiten vollzogen werden musste, konnten die Verwilderten nun dazu dienen, diese Phasen genau festzustellen – um, wohlgemerkt, den Staat nachhaltig zu fördern.139 Raubers Idee: Die Erziehung des Kindoctrines of weakness and submission, had represented an intrusion into the functioning of nature and, as a consequence, had fatally disturbed the evolutionary balance between man and the natural world.“ GASMAN, Haeckel’s Monism, 23. 138 Vgl. LYNN K. NYHART, Biology Takes Form. Animal Morphology and the German Universities 1800–1900, Chicago; London 1995, 342 f. Nyhart weist dieses Vordringen für Preußen nach, wo es aber bald auf dem Verordnungsweg gebremst worden sei. Auch hätte der betont humanistisch ausgelegte Lehrplan kaum Einsatzmöglichkeiten eröffnet. Dagegen stünden aber liberaler verfasste Länder wie Thüringen und Sachsen. In diesen weist Nyhart Unterricht in Darwinismus für Real- und Oberschulen nach. 139 Vgl. RAUBER, Homo Sapiens Ferus, 108.
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des sollte die Perfektionierung der Gattung nachvollziehen, die kulturelle und intellektuelle Ontogenese den Pfaden der Phylogenese folgen. Und nun gerät die Urgeschichte wieder ins Zentrum der Betrachtung, denn von dieser war zu erfahren, in welcher Reihenfolge der Mensch seine Fähigkeiten erwarb. Als Kardinalfehler entdeckt Rauber die frühe Einführung des Schreibens und Lesens in der Schule, ein „Erwerb, welcher in der Kulturentwicklung des menschlichen Geschlechts in spätester Zeit aufgetreten ist […].“140 Stattdessen sollte die Unterweisung in den frühen Jahren rein mündlicher Natur sein, Lesen, Schreiben, Grammatik und Religion aus dem Lehrplan gestrichen werden. Die freiwerdende Zeit solle lieber dem „Handfertigkeitsunterricht“ gewidmet werden. Selbst vor Vorschlägen für Stundentafeln, in denen, sicher ganz im Sinne Haeckels, Katechismus oder Biblische Geschichte ersatzlos gestrichen werden, machte Rauber nicht halt. Aber auch bezüglich anderer Disziplinen hielt Rauber seine Ergebnisse für epochal: Für die Philosophie interessant seien vor allem die „Nichtentzündung der Vernunft, das Verharren der Isolirten auf sprachloser Stufe“.141 Die Urgeschichte könne ihnen Bilder entlehnen, „welche an die frühesten Anfänge unseres Geschlechts erinnern. […] Die politische Bedeutung der Isolirten endlich ist so groß und augenfällig, daß wir ihren Rang unbedenklich als den überwiegenden bezeichnen.“142 Sie bilden das traurige Gegenbeispiel zu „jedem politischen Verbande“, und die sich für Rauber ergebenden Konsequenzen wurden geschildert. Blieb die philosophisch-religiöse Komponente: Tafel, bis hierhin zwar selten gewürdigte aber unerschöpfliche Quelle Raubers, hatte in seiner Fundamentalphilosophie eine klare These bezüglich des Vernunfterwerbs geliefert. Nur ein initialer Eingriff Gottes schien diesem eine mögliche Antwort zu sein. Rauber kann aber nicht akzeptieren, was Tafels Theorie fordert, nämlich eben die „Nothwendigkeit eines oder wiederholter Eingriffe göttlicher Macht in das Dasein des Menschen, die Nothwendigkeit von Offenbarungen.“143 Man müsse nur in den Maßstäben der geologischen Zeitalter denken, um die Entwicklung zu begreifen. Erkenne man dieses Faktum an, so bestehe die Möglichkeit, dass der Mensch sehr wohl aus eigener Kraft die Vernunft entwickeln konnte.144 Nur dürfe man sich dies nicht als explosionsartigen Vorgang vorstellen, sondern als ein langsames, sukzessives Erwerben dieser Fähigkeit, eben als ein evolutionäres Phänomen. Der Mensch habe vor aller Kultur bereits „geistige Anlagen“145, ebenso wie sie ja auch die Tiere besäßen. Diese seien „ein gewaltiges Etwas“ und nur „unter un-
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Ebd., 109. Ebd., 69. Ebd. Ebd., 77. „Diejenigen, welche ohne Rücksicht auf die Ergebnisse der neueren Sprachforschung auf der Ansicht beharren wollten, die Sprache sei ein dem Menschen anerschaffenes Wunderwerk, nicht aber ein langsam gereiftes Erzeugniß seiner eigenen Geistesthätigkeit, werden durch das Zeugniß der Isolirten in nicht geringe Verlegenheit gesetzt.“ Ebd., 83. 145 Ebd., 77.
5.3. Die unwahrscheinliche Allianz
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günstigen Bedingungen unterbleibt […] die Entfaltung.“146 Aufgrund dieser Keime könne sich dann im Laufe der unendlich großen Zeitspannen der Evolution die Kommunikationsfähigkeit ausbilden und damit die Akkumulation von Wissen vollziehen. Sei dieses erst einmal da, so setze ein Gravitationsprozess ein, der die Entwicklung immer weiter akzeleriere. 5.3. DIE UNWAHRSCHEINLICHE ALLIANZ Die phasenweise Selbstüberschätzung einiger Wissenschaftsdisziplinen, insbesondere kurz nach deren Herausbildung und Institutionalisierung, ist aus historischer Sicht fast der Regelfall. Er lässt sich im 17. Jahrhundert an der Physik, im 18. Jahrhundert erst an der Naturgeschichte, dann an der Anatomie und Physiologie nachvollziehen. Das 19. Jahrhundert darf man wohl mit einigem Recht – man denke an Mendel, Darwin, auch Haeckel – als das biologische bezeichnen. Dass die Biologie ebenfalls für sich in Anspruch nahm, zur Leitwissenschaft geworden zu sein, wie es sich in den Werken Raubers spiegelt, ist insofern leicht hinzunehmen und in Bezug auf die Untersuchungsobjekte, sofern man den Menschen als Teil der Biologie begreifen möchte, nachvollziehbar. Erst der Kenntniszuwachs in der Biologie selbst, aber auch der im 20. Jahrhundert wieder an Wucht gewinnende Einfluss der Sozialwissenschaften, lassen die Analogisierung des menschlichen Staates mit dem der Ameisen oder Bienen naiv, oder auch historisch-politisch katastrophal, erscheinen. Wie ein Faustschlag trifft jedoch die Erkenntnis, wie stark sich bei Rauber biologische und politische Momente miteinander verbanden und niederschlugen. Sie, insbesondere ein wohl Haeckel geschuldeter Staatsbegriff, bilden das eigentliche Fundament, aber auch den teleologischen Horizont seiner Betrachtung der Wilden Kinder. Noch schärfer und deutlicher hatte er seine Formulierungen schon ein Jahr zuvor in der Urgeschichte des Menschen gewählt. Die Paläontologie und ihre Schwester, die Geschichte, trügen den Auftrag, den Staat gegen seine drei ärgsten Feinde zu schützen: Die eine sich gegen den Staat, ihren Erzeuger heranwälzende Heeressäule ist die sociale, die andere die kirchliche. Und wenn die dritte Heeressäule genannt werden soll, so sei sie genannt, es ist diejenige der unfruchtbaren Schwätzer […].147
Schon aus diesem Zitat erhellt, dass Rauber die Deutungen seiner Vorgänger ablehnen musste: Die Tafels, weil dieser sich viel zu stark an eine religiöse Komponente klammerte; die des 18. Jahrhunderts, weil er hier zweifelsohne eine Brutstätte egalitären, individualistischen und schwärmerischen Gedankenguts beheimatet glaubte, die seiner Staatskonzeption diametral entgegenstand. Raubers dementia ex separatione, die schon von Zingg und noch bis Blumenthal ganz unkritisch allenthalben als pathologischer Befund herangezogen wird, wurde genau aus 146 Ebd. 147 RAUBER, Urgeschichte, Bd. 2, VII.
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dieser Weltsicht geboren: Es ist der Wahnsinn des viel zu freien, weil aus der genetisch-nationalen Bindung gelösten Menschen. Es ist eine Sicht, die auch die Volksgemeinschaftsideologie des Nationalsozialismus hätte hervorbringen können. Die Wilden Kinder wurden insofern bei Rauber zu nichts als einer Folie, auf der sich das Bild des strahlenden Staates ausmodellieren ließ. Genau diese Deutungsebene ist aber, vergleicht man sein Werk mit denen Tafels, Schrebers oder Blumenbachs, das einzig wirklich Neue: Weder liefert Rauber unbekannte Fakten, noch lässt er sich, wie Tafel, auf eine eigenständige Quellenkritik ein. Es bleibt ein zerrissener Eindruck, denn trotz aller Unterschiede in den Fallgeschichten behauptet Rauber, dass sich einheitliche Kenntnisse aus diesen generieren ließen. Seine „empirische“ Untersuchung liefert daher bis in den Wortlaut exakt das Ergebnis, welches er a priori schon 1884 in der Urgeschichte postuliert hatte – womit, aus wissenschaftlicher Perspektive, Sinn und Zweck der gesamten Abhandlung fraglich werden. Vergisst man jedoch für einen Moment die großen Differenzen zwischen Tafel und Rauber, öffnet sich der Blick für den rezeptionsgeschichtlich entscheidenden Faktor. Beide betonten, dass die Fallgeschichten der Wilden Kinder sehr wohl von erheblichem erkenntnistheoretischem Interesse seien, dass sich an ihnen philosophische, biologische, pädagogische und politische Hypothesen bilden und belegen ließen. Und: Beide waren so determiniert von dem Wunsch, ihre konkreten Vorstellungen zu belegen, dass sie in ihren Beurteilungen nicht vorsichtiges Abwägen, sondern den Nutzaspekt walten ließen. Wenn Tinland, und mit ihm Blumenthal148, zu der Einschätzung gelangt, vor allem Monboddo und Blumenbach hätten die entscheidenden Traditionslinien gelegt, so ist das nur bedingt korrekt. Sicher, in ihnen prägten sich die widerstreitenden Meinungen am deutlichsten aus, aber die großen Systematisierer und Sammler der Fälle im 20. Jahrhundert, insbesondere Zingg und Malson, griffen auf Rauber und Tafel zurück. Ein einfacher wissenschaftlicher Reflex: Ihre Arbeiten waren die vollständigsten, aktuellsten und damit – scheinbar – objektivsten. Die Interpretationen, zu denen Rauber und Tafel gelangten, bilden so eine ganz erhebliche Bruchstelle: Wo das späte 18. und das beginnende 19. Jahrhundert – mit den Exponenten Schreber und Blumenbach – nach und nach zu einer Skepsis gelangt waren, die den Fällen jede Relevanz, für welche Wissenschaft auch immer, absprach, restaurierten Rauber und Schreber letztlich eine Grundauffassung, wie sie für die Zeit um 1750 typisch war: ironischerweise, während sie die alten Deutungen abtaten. Dass beide jedoch keineswegs objektive, sozusagen von den Wirrnissen des 18. Jahrhunderts endlich gelöste Betrachter waren, sondern ihrerseits von religiösen oder politischen Prämissen ausgingen – das scheint im 20. Jahrhundert schlicht übersehen worden zu sein.
148 BLUMENTHAL, Kaspar Hausers Geschwister, 34.
6. DAS WACHS DER WISSENSCHAFTEN Als JOHANNES PRAETORIUS 1668 sein Anthropodemus plutonicus veröffentlicht1, ist überall spürbar, wie unsicher die Grenzlinie zwischen Mensch und Tier, Mensch und Teufel, Mensch und Engel eigentlich ist. Den Leser, der den voluminösen Oktavband zur Hand nimmt, überfällt bereits auf der Titelseite ein Alphabet von 1. Alpmännergen/ Schröteln/ Nachtmähren. 2. Bergmännerlein/ Wichtelin/ Unter=Irrdische. 3. Chymische Menschen/ Wettermännlein. 4. Drachenkinder/ Elben. 5. Erbildete Menschen/ Seulleute. 6. Feuermänner/ Irrwische/ Tücke=Bolde. 7. Gestorbene Leute/ Wütendes Heer. 8. Haußmänner/ Kobolde/ Gütgen. 9. Indianische Abentheur. 10. Vielkröpffe/ Wechselbälge. 11. Lufftleute/ Windmenschen.
12. Mondleute/ Seleniten. 13. Nixen/ Syrenen. 14. Oceanische oder Seemänner. 15. Pflantzleute/ Allraunen. 16. Qual- oder verdammte Menschen. 17. Riesen/ Hünen. 18. Steinmänner. 19. Thierleute/ Bestialische/ Weerwölfe. 20. Verwündschte Leute. 21. Waldmänner/ Satyren. 22. Zwerge/ Dymeken.
Es ist ein aus mehr als zweitausend Jahren abendländischer Mythologie geborenes Panoptikum, die Skizze einer Welt bevölkert mit Wesen, die sich dem alltäglichen Umgang des Menschen entziehen, deren Existenz aber dennoch oft als gegeben angenommen wird. Beinahe noch bemerkenswerter zeigt sich eine weitere Liste, die der Autor im Vorwort anführt. Hier ist hors d’oeuvre von Menschen die Rede, deren Beschreibung der Text nicht bieten wird. Und eben die Betonung der Nichtaufnahme dieser Beispiele verweist darauf, wie sehr die Arbeit hätte ausgeweitet werden können. Denn Praetorius stellte fest, dass die Welt, wie sie sich nach der Sintflut darbot, weit von ihrer ursprünglichen Perfektion entfernt war. Dies betraf auch den Menschen: Sicher, Paulus sprach diesem eine solche zu, meinte aber doch nur eine perfectio inchoatâ, eine unvollendete Perfektion.2 Der sich auf dem Weg zum Heilszustand befindende Mensch, so kann man hier herauslesen, ist grundsätzlich nur ein halber – insofern mochte man potenziell wohl jeden für ein Zwischenwesen halten. Und tatsächlich hatten sich seit dem 16. Jahrhundert Kontrahenten 1 2
JOHANNES PRAETORIUS, Anthropodemvs Plutonicvs, Das ist, Eine Neue Weltbeschreibung Von Allerley Wunderbahren Menschen […], T. 1, Magdeburg 1668. „Was die vollzogene Vollkommenheit belanget/ damit werden wirs wol müssen versparet seyn lassen/ zum Reiche der Herrligkeit […] O tempora (denn allhier seynd alle Tempora beysammen) O Mores! O erbärmlicher Zustand der Menschen von Anfang der Welt/ da wir der angeschaffenen Vollkommenheit/ durch den Fall Adams/ beraubet worden seyn; biß an den lieben Jüngsten Tag/ welcher ein Tag der Ergäntzung und Wiederbringung allen Verlustes seyn wird! Unterdessen bleiben wir leyder! Wohl Halbwerck/ […] Semihomines oder halbe Menschen: Wir mögen uns noch so viel einbilden […].“ Ebd., Vorrede, o. P.
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6. Das Wachs der Wissenschaften
jeglicher Couleur in einer Unzahl von Einblattdrucken und Flugschriften zu halbmenschlichen Hybriden herabgewürdigt. Adlige Richter oder Gotteslästerer wurden zu Halb-Hunden3, polnische Edelmänner zu Halb-Schweinen4 – die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen. Diese lieb gewonnene literarische Gepflogenheit konnte Praetorius, dem es in seinem Werk ja gerade um die Scheidung des normalen Menschen von solchen Wesen ging, jedoch nicht akzeptieren. Unsinnig sei es, Frauen, Deutschen, Westphälern, Mönchen, Spionen oder Rapier=Messerlosen generalisierend die volle Humanität abzusprechen.5 Die Americaner seien ohne Zweifel zu Unrecht von den Spaniern als Halbmenschen betrachtet worden, nur theologischer Übereifer unterscheide die „Species“ der „Juden“ von den „Heyden“6. Allein dumpfer Standesdünkel sehe die Bauern als „Mittel-Thiere zwischen dem Viehe und dem Menschen: Mehr ohne als bey Vernunfft: Welches die jenigen wohl wissen/ die zu ihrem Unglück mit ihnen müssen umbgehen […].“7 Über diese allegorische oder allenfalls moralische, jedenfalls aber unwesentliche Halbmenschlichkeit hinausgehend existierten zudem Arten der Defizienz, die alles bisher Angeführte in den Schatten stellten: sonderbare Wesen, die aufgrund vielfacher angeblicher Belege als existent gedacht wurden. Für Praetorius ein Unding, hielt er doch „Bergmännlein“ oder „Erd und Seemenschen“ für „eitel Phantastereyen/ lauter Teuffels=Betrug/ und hinterlistige Augen=Verblendungen […]/ drunter der tausend=künstlerische Bösewicht sein Interesse suchet/ und zum öfftern findet/ sonderlich bey denen Kindern des Unglaubens […].“8 Dem guten Christenmenschen konnte aber geholfen werden – durch die Lektüre des Anthropodemus plutonicus.
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EUGEN HOLLÄNDER, Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt, 191, 193. Ebd., 194. PRAETORIUS, Anthropodemus plutonicus, Vorrede, o. P. Die Liste ist noch weitaus länger. „So ist […] bey denen Theologis die Species der Juden von den Heyden unterschieden/ welche letztern man zum öfftern mit denen unvernünfftigen Thieren verwechselt lieset/ &c. Aber dieses ist eine greuliche Unwissenheit: Sintemahl man solches eigentlich Specie differiren heisset/ diversas essentias hat: Als ein Mensch und unvernünfftiges Thier/ &c.“ Ebd. „Ich aber habe bey meinen Reisen in der That erlernet und erfahren/ was sie vor Sitten und Gemüther führen: Die denn wie bey allen andern Ständen/ nicht einer Gattung sind, Also findet man gute und böse/ auch mittelmässige. Die erstern lobe ich/ die andern schelte ich/ die dritten lasse ich an ihrem Ort: lobe sie doch eher/ weil wir alle mehr zum loben als zum schelten sollen geneigt seyn. Confer. Tympium part. 2 Mense Theolog. Philos. Pag. 243. rusticus medius inter hominem & brutum.“ Leuchtet noch ein, dass Amerikaner oder Bauern als Halbmenschen betrachtet wurden, finden sich in der Liste doch auch Kategorien, die mehr als ein Fragezeichen hinterlassen. Was hatte es etwa mit den „Rappier=Messerlosen“ auf sich? Praetorius führt aus: „16. Es ist keine seltene Rede/ wen man zu Tische kommet/ und es fehlet etwan einer Person das Messer/ daß man sagen höret; Du bist nur ein halber Mensch/ &c. Welches etwan ein Absehen hat auff jenes alte Philosophi Sprichwort: Mann soll nicht ohne Stecken gehen &c. Aber die Juden haben vor diesem sonderlich nach dem ersten wenig gefraget/ wenn sie das Brod vielmehr gebrochen als gestochen haben.“ Ebd. Ebd.
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Um es vorwegzunehmen: Praetorius’ Programm der Entzauberung der Welt bleibt durchaus ebenso unvollständig wie die Perfektion des Menschen.9 Neben Kapiteln, in denen er die Existenz von Geistern entschieden verneint, finden sich immer wieder auch Passagen, denen eine erheblich größere Unsicherheit, mitunter auch das völlige Fehlen einer eigenen Einschätzung anzumerken ist. Wilde Männer, Satyrn oder Faune gehörten keineswegs der menschlichen Gattung an; gleichwohl existierten sie: „Dieser Teuffel wohnen etliche in den Walden und Forsten/ und thun den Jägern viel zu leyde. Etliche halten sich im weiten Felde auff/ und führen die Wandersleute bei nacht irre.“10 Kurzum: Es ist „handgreiflich genug bekannt […]/ was Waldgeister und Satyr seyn/ nemlich der böse Feind selber.“11 Diese Unsicherheit spiegelt sich auch in denjenigen Fällen, die unter dem Titel Von Thierleuten. Bestialischen/ verwilderten Kindern12 subsumiert werden. Dabei machen Berichte über verwilderte Kinder den Löwenanteil des Kapitels aus13, und die Deutung dieses Materials wird zu einem Pfeiler des religiösmoralisierenden Gesamtkonzeptes. Als Mensch-Tier-Hybriden mochte sie Praetorius, der so etwas für das Produkt antik-heidnischer Fabuliersucht hielt, nicht gelten lassen: Nicht die menschliche Substanz, sondern allenfalls accidentia hätten sich hier verändert14, die Kinder also tierische Verhaltensformen übernommen, ohne aber im eigentlichen Sinne zu Tieren geworden zu sein.15 9
10 11 12 13
14 15
ZARNCKES Befund bestätigt sich also auch hier: „Er ist ein wüthender Feind eines gewissen Kreises abergläubischer Anschauungen, wie sie das gewöhnliche, tägliche Leben zu beherrschen pflegen. […] Aber dabei steckt er selber tief im Aberglauben, sobald derselbe nur eine Art religiöses, wissenschaftliches oder gelehrtes Gewand trägt. So sind die Astrologie und die Chiromantie, die Metoposcopie, der Glaube an Hexen und die Zauberei für ihn unumstößlich sicher […].“ FRIEDRICH ZARNCKE, „Praetorius, Johannes“, in: ADB, Bd. 26, 520–529, hier 523. PRAETORIUS, Anthropodemus plutonicus, 668 f. Ebd., 670. Ebd., 630–655. Darunter etwa die von Camerarius überlieferten Fälle (ebd., 663), ein litauischer Bärenknabe (ebd., 637) und Tulps Schafsjunge. Hinzu treten aber auch Fälle, deren weitere Rezeption sich nicht nachweisen lässt, und die z. T. sehr detailliert geschildert werden: Wolfskinder, von MATTHAEUS DRESSER oder „Ludovicus Guyon Herr von Rauche“ (ebd., 648) überliefert, aber auch ein von „Weinrich. Lib De Ort. Monstr. c. 15 &c“ (ebd., 638) beschriebener Hirschknabe und ein Ziegenmensch (ebd., 638). Die Verweise wurden nicht weiter verfolgt, dürften sich aber beziehen auf: MATTHAEUS DRESSER, De disciplina nova et veteri, tam domestica, quàm scholastica; Ad consolandum erudiendumque parentes, praeceptores, ac liberos, Basileae 1577; LOUIS GUYON, Les Diverses Leçons De Loys Gvyon, Dolois, Sievr de la Nauche, Conseillier du Roy en ses finances au Lymosin: Svyvans Celles De Pierre Messie, & du Sieur de Vaupriuaz; Divisees En Cinq Livres; Contenans plusieurs Histoires, Discours, & faicts memorables, recueillis des Autheurs Grecs, Latins, François, Italiens, Espagnols, Allemans, & Arabes, Lyon 1610; MARTIN WEINRICH, De Ortu Monstrorum commentarius. In quo essentia, differentiae, causae [et] affectiones mirabilium animalium explicantur, Leipzig 1595. PRAETORIUS, Anthropodemus plutonicus, 632. „Denn es lernt mancher hincken/ aus der Gesellschaft/ wen er mit einem hinckenden umbgehet; wie denn auch diejenigen/ so von Thieren sind ernehret worden/ sich gantz Viehisch gestellet haben.“ Ebd., 633.
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6. Das Wachs der Wissenschaften
Damit konnten sich moralische Forderungen verbinden, denn aus dieser Formbarkeit war ableitbar, dass „derowegen Christliche Eltern […] ihre theure Beylage/ die Kinder/ in guter Acht haben/ und mit allem Fleiß verhüten/ daß ihnen solchen Schatz der Menschen=Dieb/ der Teuffel nicht entführe.“16 Die Gesellschaft, und insbesondere die Eltern, war zuständig für die Weitervermittlung jener Verhaltensweisen, die in ihrer Gesamtheit ein gottgefälliges Leben erst ergaben. Fundiert wird diese Vorstellung von einem der biblischen Tradition entnommenem und mit antiken Versatzstücken versehenen Menschenbild, nämlich der Depravation der Menschheit seit dem Sündenfall, deren greifbarsten Niederschlag die Kindheit bildet: Mit Verweis auf Platon und Aristoteles begreift Praetorius den jungen Knaben als „das allergrausamste unter allen Thieren […]. Mit Löwen / Beeren/ und andern wilden Thieren ist nicht überein zu kommen/ doch nit so übel/ als mit den Kindern/ denen aller Muthwille gelassen wird/ und die keine Zucht und Aufsicht haben.“17 Aus dieser Perspektive mochte es sehr wohl auskommen, dass verlorene Kinder ihre Zuflucht bei jenen Wesen suchten und fanden, die ihrem noch nicht in zivilisierte Bahnen gelenkten Naturell entsprachen. Dass die Kinder dabei nicht nur etwas verloren, sondern auch – wie viele spätere Quellen betonen – positiv hinzu gewannen, vor allem physische Stärke, ist Praetorius noch so vollkommen suspekt, dass er bald um eine angemessene Variation der Adjektive ringen muss: Der unter den Hirschen aufgewachsene Junge läuft „greulich schnell“, ein anderes Kind hat „ein runzlichtes so scheußliches Angesichte/ daß kein Thier abscheulicher zu sehen ist“18, das Füttern von Ziegenmilch führt zu „Geilheit“ und unmenschlichem Springen und Hüpfen.19 In Bezug auf eine menschliche Natur – schon gar nicht, wenn man darunter seine Bestimmung verstand – konnten diese Kinder nichts erbringen. Sie blieben eine Mahnung; Menschen zwar, aber auf Pfaden, die der große Feind in vielerlei Ausprägung bereit hielt. Sie konnten, ganz dieser Deutung gemäß, geradezu magische Qualitäten entwickeln, etwa, wenn ein in den Schoß der Gesellschaft zurückgekehrter Wolfsjunge erst ein kleines Vermögen als Hirte und Handaufleger zusammen brachte, in der Folge aber seiner Nemesis entgegensteuerte.20 16 17 18 19 20
Ebd., 635 f. Ebd., 645. Ebd., 646. Ebd., 638. Praetorius überliefert den Fall unter Berufung auf den oben erwähnten Louis Guyon; es handelt sich um einen Jungen, der als Kleinkind verloren gegangen war und bis zu seinem siebten Lebensjahr mit Wölfen gelebt hatte: „Nach dem er nun reden lernen/ zahm worden/ wie andre Kinder/ ist er vor den Sohn obgedachten Weibes erkennet worden/ die weil er an jedweder Hand sechs Finger hatte/ und sein Alter nach dem Ansehen auch mit der Zeit/ da er verlohren worden/ überein traff. Man machte ihn zu einem Hirten der Hammel und Schaffe: Welches er sieben Jahr lang übete: Und unter der Zeit haben die Wölffe niemals seine ihm anvertraute Herde/ angefallen/ ob er gleich auch großes Vieh/ als Kälber/ Kühe/ Zugviehe/ Füllen und dergleichen hütete. Dieses nahmen die Inwohner deselbigen Dorffes in acht Darumb daß auch andere Herden dieses Privilegii geniessen möchten/ brachten die Bauren und Schäffer in den Dörffern ihr Vieh zu ihm/ oder liessen ihn zu sich kommen: Und liessen ihr
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449
Praetorius’ noch ganz dem Bezugsrahmen des 17. Jahrhunderts entspringende Darstellung bildet eine brauchbare Folie, um jene Entwicklungen einzuschätzen, die sich seit Beginn des 18. Jahrhunderts ihre Bahn brachen. Bei ihm sind die Wilden Kinder noch vor allem eines: mahnendes moralisches Beispiel. Der argumentative Eigenwert der Fälle ist gering, ebenso gut hätte Praetorius biblische Beispiele und Heiligenviten heranziehen können. Doch die Geschichten, die bereits er so weit gestreut vorfand, boten einen erheblichen Vorteil: sie faszinierten, waren zeitnäher und bildeten so das Salz, das dem Leser sein Panoptikum schmackhaft machen konnte. Dass die Details variierten, stellte in diesem Konzept kein Problem dar; wichtig war nur das Faktum eines durch die Trennung von der Gesellschaft, und damit der theologischen Überlieferung, eingetretenen Abgleitens. Wenn auch theologische und sensationelle Aspekte nie ganz verschwinden sollten, durchbrachen die wissenschaftlichen Interessen des 18. Jahrhunderts diese Beschränkungen doch radikal. Da es nun gerade die Einzelheiten der Fälle waren, die zu heftigen Kontroversen führten, scheint es ratsam, einen verkürzten Blick zurück auf die Faktenbasis zu werfen. Der Überblick zeigt deutlich die Crux, mit der man sich herumschlagen musste – oder die Möglichkeit, die sich eröffnete: Die erheblichen Divergenzen und Ungenauigkeiten, das Fehlen oder die Widersprüchlichkeit harter Fakten. Von Beginn an waren Interpretationen so kaum Grenzen gesetzt, die Fälle wurden zu Wachs in den Händen derjenigen, die mit ihnen umgingen. Vieh durch seine Hände/ welche er mit seinem Speichel benetzet/ gehen. Es mochte nun seyn/ was es für Viehe wolte/ auch die Hunde selber: So berühreten es die Wölffe innerhalb 15. Tagen nicht. Durch dieses Mittel bekam er viel Geld: Denn er ließ ihm von einem jedweden Stück einen Dreyer (touble tournois) geben/ auff welches er/ wie wir gesagt/ die Hand legete: Er betastete auch ihre Ohren. Aber gleich wie alle Menschliche Dinge ihre Abwechselung haben: Also auch/ da der Knabe 14. Jahr alt worden/ verlohre sich die Krafft/ welche er hatte/ den Wölffen zu wehren/ daß sie nicht seine Herde anfielen/ und diejenigen/ welche er mit seinen Händen über den Rücken striche/ und bey den Ohren betastete. Ich halte dafür/ daß dieses daher kommen/ weil er in diesem Alter viel an seiner Complexion/ Natur und Temperament verändert/ und daß er nun eine lange Zeit andere Nahrung/ als wölfische genossen: Welches sich daran ereignete/ daß die Wölffe nicht mehr/ wie vorhin/ zu ihm sich naheten/ sondern sich vor ihm fürchteten/ und hatten nicht mehr eintzige Sympathi/ noch Empfindung der Nahrung/ die dieser Knabe/ als ein Kind bey den Thieren ihres Geschlechts genossen hatte. Dieserwegen erwarb er nichts mehr/ als ein schlechter Hirte: ward unwillig u. quittirte diese Handthierung/ zog auß/ und wolte sein Glück im Lande suchen: Ließ sich in Kriege unterhalten vor einen Droßbuben: Darnach wurd er ein braver/ küner/ starcker Soldat/ aber ein Dieb dabey/ so listig und verschlagen/ als möglich ist. Er ist niedergemacht worden im Jahr Christi 1672. [!] durch des Duc d’Alba Völcker/ als er unter den Frantzösischen Compagnien war/ welche der Herr de Gentis in Hennegau wieder die Spanier/ in Belägerung der Stadt Bergen/ führete. Man saget/ daß dieser Soldat damals sich tapffer gehalten/ und sein Leder den Feinden ziemlich theuer verkaufft haben. Ludovicus Guion, Sieur de la Nauche Tom. I l. 2. divers. Lection capite 34.“ PRAETORIUS, Anthropodemus plutonicus, 652 ff. Das angegebene Todesdatum kollidiert mit der angegeben Quelle, die bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts verfasst wurde. Wahrscheinlich liegt ein Druckfehler vor; mit dem Duc d’Alba dürfte Fernando Álvarez de Toledo (1507–1582) gemeint sein, das Todesdatum des ehemaligen Wolfsjungen sollte daher wohl 1572 lauten.
450
Alter bei Fund
Behaarung des Körpers
Alter bei Verschwinden
Wölfe
1344
3
7 / 12
12 / 80
ja
fraglich
ja
nein
m
Vieh
spätes 16. Jh.
k. A.
k. A.
k. A.
ja
fraglich
ja
nein
m
k. A.
vor 1643
k. A.
k. A.
k. A.
nein
ja
ja
ja
m
Schafe
nach 1641 vor 1672
ab incunabulis
16
k. A.
nein
ja
nein
nein
m
Bären
1657 1669 1694
frühe Kindheit
10 / 12 / 13
k. A.
ja
ja
nein
nein
w
k. A.
1717
fraglich
17
k. A.
nein
ja
nein
rauch
m
k. A.
1719
k. A.
k. A.
k. A.
ja
k. A.
k. A.
k. A.
m
nein / Bären
1724
fraglich
12–15
† 1785
nein
ja
kaum
nein
w
nein
1731
k. A.
12
† nach 1765
nein
nein
—
nein;
w
k. A.
um 1735
8–10
16–17
k. A.
k. A.
ja
nein
nein
m
k. A.
um 1765
k. A.
k. A.
k. A.
nein
k. A.
k. A.
ja
m
nein
Erste Sichtung 1797
k. A.
12–15
† 1828
nein
ja
nur Ansätze
nein
permanente Vierfüßigkeit fehlende Sprachfähigkeit bei Fund Wiedererwerb der Sprache
Fundjahr
m
erreichtes Alter
Tierische Zieheltern
12. Victor vom Aveyron
Geschlecht 1. Hessische(s) Wolfskind(er) / Juvenis lupinus hessensis 2. Bamberger Ochsenjunge / Juvenis Bovinus bambergensis 3. Lütticher Hans / Johannes Leodicensis 4. Irischer Schafsjunge / Juvenis Ovinus hibernus 5. Litauische Bärenkinder / Juvenis Ursinus lithuanus 6. Mädchen von Zwolle / Puella Transisalana 7. Pyrenäische Knaben / Pueri 2 Pyrenaici 8. Peter von Hameln / Juvenis Hannoveranus 9. Marie-Angélique Le Blanc / Puella Campanica 10. Pyrenäisches Mädchen 11. Wilder von Yraty
6. Das Wachs der Wissenschaften
Merkmale Wilder Kinder. Die Mehrzahl der hier erfassten Daten ist nur schwach belegt oder strittig, auf eine gesonderte Kennzeichnung wurde daher verzichtet. Grau unterlegt: Linnés Kriterien für den Homo sapiens ferus (1–9).
6. Das Wachs der Wissenschaften
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Vierfüßig, stumm und behaart sei der Homo sapiens ferus: Das hatte Linné behauptet. Wie erstaunlich diese Einsicht vor dem Hintergrund des verfügbaren Datenmaterials tatsächlich war, verdeutlicht die obenstehende Tabelle: Nicht einer der von ihm im Systema Naturae aufgeführten Fälle (1–9) weist – wohlgemerkt gemessen an den von ihm selbst zitierten Quellen – die behaupteten Kriterien auf, und nur beim Verlust der Sprache zeigt sich ein, hier jedoch deutliches, Übergewicht im Sinne Linnés. Darüber hinaus erweist sich der generalisierende Begriff des Wolfskindes als wenig glücklich, und überhaupt sind Berichte, in denen mit Bestimmtheit tierische Zieheltern postuliert werden, deutlich in der Unterzahl. Bezüglich der Präzision der Angaben erübrigt sich ein weiterer Kommentar fast: Wirklich konkrete Datierungen oder Altersangaben bleiben die Ausnahme. Leuchtet dies bezüglich des Alters bei Verschwinden noch ein, ist doch auffällig, wie kurz die Zeitspanne gewesen sein muss, in der den Kindern Interesse entgegengebracht wurde. Exemplarisch ist hier die Berichterstattung über Peter von Hameln: Dem Interesse der Jahre 1725–27 folgt ein publizistisches schwarzes Loch, der Fall erscheint erst ab der Mitte des 18. Jahrhunderts wieder zögerlich in der – nun wissenschaftlichen – Literatur, und nur dessen Inanspruchnahme durch Monboddo und Blumenbach rückt ihn wieder in den Fokus.21 Nun, im letzten Drittel des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, belegen die vorhandenen, wenn auch teils vagen Angaben bezüglich der Todesdaten ein auch den weiteren Werdegang der Fündlinge betreffendes Interesse, dessen Ursprünge weiter unten genauer diskutiert werden. Auffällig in der Unterzahl sind Berichte über Wilde Mädchen, die, bezieht man mit ein, dass es sich etwa im Fall der litauischen Bärenkinder um drei Jungen gehandelt haben mag, einen Anteil von nur etwa einem Fünftel bilden – obwohl diese, traut man den Studien, wie sie in Kapitel II.1 vorgestellt wurden, weitaus häufiger ausgesetzt worden sein müssen. Obwohl bei der vorliegenden geringen Zahl der Zufall als Faktor nicht ausscheidet, mag dies durchaus seine Gründe haben: Zieht man ins Kalkül, dass Männer generell als körperlich und geistig leistungsfähiger galten, wäre die Skepsis der Zeitgenossen durch die Behauptung, ein Mädchen habe sich über Jahre in der Wildnis am Leben erhalten, wohl weiter gestiegen. Zudem hatte schon das Mittelalter eine Unzahl von Legenden über Wilde Männer, weniger aber Wilde Frauen gekannt. Ob sich in der Folge der Effekt einstellte, dass Berichte über Wilde Mädchen – falls deren Aufkommen nicht von vornherein durch diesen Mechanismus blockiert war – mangels Glaubwürdigkeit nicht weiter überliefert, und dementsprechend auch nicht verschriftlicht wurden, muss offen bleiben. Korrespondieren würde mit dieser Feststellung jedenfalls Douthwaites These, dass die wenigen weiblichen Fallgeschichten deutliche Abweichungen vom männlichen Muster zeigen, indem sie durch die
21 Eine Ausnahme bildet allerdings England, Peters neue Heimat. Hier revitalisiert sich das Interesse an dem (ehemaligen) Wilden Kind bereits früher, nämlich um die Jahrhundertmitte. S. u., Kap. III.4.
452
6. Das Wachs der Wissenschaften
Angleichung an präexistente Rollenmuster die Erwartungshaltung der Zeitgenossen bedienten.22 Analysiert man die Altersstruktur der aufgefundenen Kinder, springt eine Häufung ins Auge: Lediglich in einem einzigen Fall – überdies dem historisch am weitesten zurückliegenden und mit widersprüchlichen Angaben versehenen – mag man tatsächlich von einem Kind unseren Verständnisses sprechen, Kleinkinder fehlen völlig. Stattdessen bewegt sich das Alter der in die Zivilisation Zurückgekehrten meist in einem relativ engen Spielraum von 12 bis 17 Jahren. Keine der in dieser Arbeit behandelten Quellen – auch nicht die kumulativen Kataloge Tafels und Raubers – erwähnt diesen Umstand. Die Propagatoren der Fälle schlussfolgerten stets auf ein vieljähriges Verharren in einem wilden Zustand; heute muss gerade dieser Umstand skeptisch stimmen. Sicher, die Nachricht vom Verschwinden eines Kindes und dessen glückliche Rückkehr nach einigen Tagen, vielleicht auch Wochen, mag nicht spektakulär genug gewesen sein, um je den lokalen Rahmen zu verlassen. Aber bereits Monate dürften doch bereits auffällig genug erschienen sein, um etwa die Zeitungsberichterstattung in Gang zu setzen – vor allem, als nach 1750 ein guter Teil der renommierten Wissenschaftler begierig auf diese Fälle wartete. Dass sich gerade hier eine Lücke findet, dass Drei- oder Vierjährige eben nicht gefunden werden23, wirft insofern ein großes Fragezeichen auf die Generalthese, dass man es hier mit Menschen zu tun habe, die über einen langen Zeitraum isoliert von Menschen gelebt hätten. Viel wahrscheinlicher mutet an, dass eher die Ansicht, die Heumann und später Blumenbach an Peter von Hameln herantrugen, zutraf: keine Wilden Kinder, vielmehr Wilde Eltern. Warum aber warteten Väter und Mütter, die gewillt waren, ihre mit geistigen oder körperlichen Behinderungen geschlagenen Kinder auszusetzen, ab, bis diese dem Kleinkindesalter entwachsen waren? Man begibt sich hier ins Reich der Spekulation: Vielleicht dauerte es einfach Jahre, bis die elterliche Frustration über die Zöglinge die notwendigen Dimensionen erreichte. Immerhin würde aber die von Bettelheim vorgeschlagene, und in letzter Zeit etwa von Collins weiter explizierte Theorie, es habe sich zumindest in einigen der Fälle – allen voran Peter von Hameln – um Autisten gehandelt, ebenfalls einiges Erklärungspotenzial bieten können. Ganz analoge Erklärungsansätze hatten dem frühen 18. Jahrhundert jedoch gar nicht so fern gelegen. Insofern hinreichend genaue Berichte vorlagen, war Skepsis eine verbreitete Haltung; dies betrifft vor allem das Mädchen von Zwolle und Peter von Hameln. Folgt man den Presseberichten, ist es gerade die bäuerli22 An dem massiven männlichen Übergewicht hat sich bis heute nichts geändert. Die von BLUMENTHAL, Kaspar Hausers Geschwister, 292 ff. ermittelten 14 Fälle, über die von 1976 bis 2002 berichtet wurde, versammeln Affenjungen, Hundejungen, ein männliches „Beinahebärenkind“ – und nicht ein Mädchen. 23 Im Gegensatz zum nach wie vor existenten männlichen Übergewicht hat sich dieser Faktor allerdings geändert. Jean, ein 1974 in Burundi gefundener Affenjunge, war beim Auffinden etwa sechs Jahre alt, der 1991 in Uganda aufgefundene John, ebenfalls angeblich von Affen aufgezogen, vier oder fünf; es finden sich noch weitere Beispiele. Vgl. ebd., 292, 300 und pass.
6. Das Wachs der Wissenschaften
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che oder stadtbürgerliche Bevölkerung, welche die Behauptung, Kinder hätten über Jahre in der Wildnis existiert und seien von dieser geformt worden, ablehnt. Noch weniger findet sich hier die Ansicht, es hätte sich bei diesen um Monster oder aus menschlich-tierischer sexueller Verbindung entsprossene Zwischenwesen gehandelt. Die Gründe für diese Ablehnung sind naheliegend und entspringen ohne Zweifel der Alltagserfahrung: Wenn auch selten offen thematisiert, war die Praxis der Kindesaussetzung noch geläufig, ja es war womöglich zu einer Verschärfung der Situation gekommen, die sich auf eine veränderte Rechtslage, vor allem aber auch auf die Ausweitung eines obrigkeitlichen Fürsorgesystems zurückführen lässt. Dass einige dieser Kinder wieder auftauchen würden, war mehr als wahrscheinlich. Gleichwohl lassen sich auch Belege für die Existenz der Mischwesen-Theorie finden: Die Deutschen Acta Eruditorum berichten, daß sich ehemals in Italien ein boßhaffter Mensch mit einer Kuhe fleischlich vermischet, welche hernach kein Kalb, sondern einen Knaben zur Welt gebracht, der getauffet worden, und eine christliche Frömmigkeit bezeugt, im übrigen von Kräutern gelebt, und auf denen Wiesen im Gras geweidet.
Ein weiteres Beispiel liefert Brasilien, wo sich ein Weibes-Bild von einem großen Affen schwängern lassen, und […] zu rechter Zeit ein vollkommenes Kind [gebahr], welches alle menschlichen Gliedmaßen hatte, außer daß solches allenthalben mit Haaren bewachsen war […].24
Und noch ALLÉON DULAC überliefert in seinen Mélanges d’histoire naturelle den Fall der litauischen Wolfskinder mit ähnlichem Zungenschlag: Il n’est ni facile ni important de rechercher par quel accident ces deux enfants se sont élevés entre les ours. Ce qui se présente comme le plus vraisemblable, c’est qu’ils furent le fruit de la violence de quelques-uns de ces animaux, qui ayant surpris quelque femme, en avoit joui. Peut-être aussi que cette femme après ce malheur ne pouvant le soustraire à la puissance de l’animal, & perdant insensiblement la crainte & l’horreur que doit inspirer un tel commerce, l’aura continué volontairement.25
Die von Alléon Dulac gleichermaßen zugegebene Variante – menschliche Eltern, die sich, vielleicht wegen eines Verbrechens verfolgt, in die Wildnis absetzten, dort zwei Kinder zeugten, um schließlich von eben den Bären, die später die Fürsorge der Kinder übernahmen, zerrissen zu werden – wird den meisten Zeitgenossen trotz der romanartigen Züge glaubhafter gewesen sein. Spekulationen um solche Vermischungen unterschiedlicher Spezies dürften dagegen generell durch die sich zunehmend durchsetzende Epigenesis-Zeugungstheorie Aufschwung erhalten haben, dabei in ihrer Glaubwürdigkeit jedoch auf jene kleine Schicht beschränkt geblieben sein, die um solcherlei wusste – gleichzeitig aber noch keinen Erfahrungsschatz wie Blumenbach zur Verfügung hatte, dem natürlich 24 Deutsche Acta Eruditorum, Oder Geschichte der Gelehrten, Welche den gegenwärtigen Zustand der Literatur in Europa begreiffen, Th. 157, Leipzig 1731, 16 ff. Den Verfasser treibt vor allem die Frage um, ob die Taufe rechtmäßig war. 25 JEAN LOUIS ALLEON DULAC, Mélanges d’histoire naturelle, 6 Bde., Lyon 1763–1765; hier Bd. 5 (1765), 29.
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bekannt war, dass sich Samenflüssigkeiten, Epigenesis hin oder her, keineswegs beliebig mischen ließen. Wie sehr solche Vorstellungen mit folkloristischen und antiken Traditionen zusammenfließen konnten, bis diese ein kaum mehr entwirrbares Konglomerat ergaben, zeigt eindrucksvoll der kursächsische Leibarzt und Naturforscher JOHANN DANIEL GEYER (1660–1735) in seiner Betrachtung Von denen Litthauischen Bärenmenschen.26 Geyer, der sich zunächst gezwungen sieht, zu versichern, dass auch in Litauen die Bären „nicht so häuffig herum laufen, als die Hörnerträger in Sachsen, sondern […] dieses Wild seine Ostampes in der tieffesten Wildniß“27 habe, kennt die beiden an die Fälle herangetragenen Lösungsmöglichkeiten: Vermischung und Entführung der Kleinkinder durch die Bären. Dass hier ein crimen Sodomiae vorliegt will er keineswegs akzeptieren28, weil „natürlich zu sprechen Conformitas ovuli & irroratio, nicht zusammen stimmet.“29 Bär und Mensch, die weit unterschiedlicheren Arten angehören als etwa Pferd und Esel, „widdern einander nicht“30; wie sollte es dann aber zu Vergewaltigungen durch lüsterne Bären kommen? Selbst gesetzt den Fall, dass dennoch eine solche Vermischung stattfände, „so wäre doch wohl nicht mehr möglich, nach allen Regeln natürlicher Belegung, als daß daraus blosse Massae würden, Informes, oder Monstra.“31 Der Bär stand aber – und hier sieht Geyer offenbar einen Faktor, der solche Geschichten doch glaubwürdig machen konnte – in dem Ruf, ohnehin nur solche Massas carniformes zu Welt zu bringen und anschließend in Form zu lecken. Eine falsche Behauptung, denn zwar sei es „wahr, daß ein neugeworffener Bär einen Bauren=Lümmel sehr gleich ist, allein ist er deswegen doch in seiner Unförmigkeit kein bloßes Stück Fleisch, sondern vollkommen in allen inn= und äusserlichen Theilen.“32 Ebenso wenig erscheint aber der „Diebstahl derer Kinder aus den Wiegen, &c.“ möglich33: Ein Bär, der „den Wald verlässt, und die Dörffer suchet, ist […] schon reissend, und würde ihm schwehr fallen, ein Kind biß in seine Ostampe unbeschädigt zu tragen.“34 Geyer unterscheidet nämlich, ganz der in Kapitel 2.3. beschriebenen ambivalenten folkloristischen Tradition entsprechend, zwei Arten von Bären: das gerade beschriebene Raubtier, dagegen aber den gutmütigen Zeidelbären. Hier fand er nun auch eine Lösung des Problems: Also […] ist diese Litthauische Bären=Nation gar leicht zu ergründen, indem es solche Menschen seyn, welche die Tummheit verirret, oder der leidige Krieg vertreibet, daß sie die Wäl26 JOHANN DANIEL GEYER, Müßiger Reise=Stunden Gute Gedancken, Von denen Litthauischen Bären=Menschen, Und dem Unterschied Des natürlichen Dissolvi, Entgegen gesetzet Dem Viehischen Mori. Sechster Discours, Dresden 1735. 27 Ebd., 4. 28 Ebd., 3. 29 Ebd., 9. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd., 10. 33 Ebd., 3. 34 Ebd., 11 f.
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der und deren Ostampes erwählen. Da ist dann die Gelegenheit recht, mit dem nach dem Honig gierigen Zaudel=Bär sich bekannt zu machen, welcher niemahls wild, und ein närrisch= trollichter Bauren=Lümmel heissen mag, mit welchem so ein Knabe gar wohl auskommen kann […].35
Mit der Verkostung „dieses Zaudels“ aber nahm nun der Mensch den magnetismum characteristicum des Bären an, „welchen, so ihn der Bär widdert, eben so zahm machet, als den beissenden Hund, wann man Strümpfe von einer Pätze anhat.“ Diese Philtratio per miasma communicati Ætheris transpirati erkläre denn auch die Vorliebe, welche die wieder eingefangenen Bärenkinder für die Bären behielten, während sie die so gleichermaßen anrüchig gewordene Gesellschaft der Menschen zu meiden suchten.36 Addierte man noch göttliche Allmacht, bekannt aus einer Unzahl von Heiligenviten, hinzu, ergab sich für Geyer ein schlüssiges Bild.37 Solche ernsthaften Bemühungen um Klärung hatten jedoch da ihre Grenzen, wo sie selbst die um kreative Konstruktionen selten verlegene Bildungsschicht massiv überforderten: Zwar berichteten die Breslauer Sammlungen im Oktober 1725 pflichtgemäß die herangetragene Meldung „Von einem Mägdlein, das auf der Erden auf einem vegetabilischen Stengel soll gewachsen seyn“38, versahen diese jedoch mit einem ironietriefenden Kommentar – was andererseits allerdings nicht ausschloss, dass man dem Thema vier Seiten nebst eines Kupfers reservierte und damit riskierte, dass die Meldung von weniger stilsicheren oder gar des 35 Ebd., 10 f. 36 Ebd., 11. Ein ähnliches Konzept machten sich auch die „Bären-Täntzer“ zunutze, die aus bestimmten Wurzeln einen Sud kochten, der eine „magnetische Würckung“ habe, „welche, so von dem Schüler als auch Lehr=Meister getruncken, eine harmonia æqualem transpirationis dysosmiam“ erwecke: „Jener Bär that niemand zerreissen, als ein geilmüffzendes Mägdchen.“ Ebd. 37 Ebd., 12. 38 „Artic. 10. Von einem Mägdlein, das auf der Erden auf einem vegetabilischen Stengel soll gewachsen seyn.“, in: Breslauer Sammlungen, XXXIV. Versuch (Oct. 1725), 455–458; hier 455. Die publizistische Halbwertzeit solcher Meldungen war, auch das lässt sich hier zeigen, kurz: Die als aktuell überlieferte Meldung kursierte bereits zu Praetorius’ Zeit in ganz ähnlicher, wenn auch noch an die Türkengefahr gemahnender Form: „Denn höre hievon an/ was die Zeitungen gaben aus Niemeck am 22. Junii 1646. Jahrs N.N. Berichtet/ nach dem er vor 8. Tagen des Pfarrherrn zu Schönewalda bey Hertzberg seine Magd grasen gangen/ findet sie ohngefehr im Graß abschneiden ein Gewächs/ das sie mit abgeschnitte/ welches im abschneiden geschriehen wie ein Mensch/ die Gestalt des Gewächses ist formieret gewesen wie die 2. Menschen/ eines wie ein Türck in aller Statur und Habit/ das andere wie ein Christ/ so für den Türcken gekniet/ und gleichsam umb Gnade gebeten; Ist vergangene Woche nach Witteberg bracht und von dar Sr. Churfl. Durchl. Zu Sachsen zugeschickt worden.“ PRAETORIUS, Anthropodemus plutonicus, 559 f. Praetorius hatte in seinem Kabinett selbst eine Wunderblume „welche natürlich ein Weibshaupt mit einer Hollsteinischen Mützen oder Hüllen abbildete/ daß man sich zum höchsten darüber mußte verwundern.“ Ebd., 561. Die Art der Darstellung legt jedoch nahe, dass er nicht von einem Hybridwesen, sondern einer Laune der Botanik ausging. Den Berichten über den Boramez (Skythisches Lamm) stand er ebenso distanziert gegenüber, fragte er sich doch aus eigener Sammlererfahrung, ob nicht ein „vernünfftiger Liebhaber der Gewächse/ wenn er ein solches Wunderkraut oder Lamm könnte bekommen/ nicht gern ein gutes Stück Geldes dafür gebe?“ Ebd.
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Lesens Unkundigen fehlinterpretiert werden mochte. Die Anekdote mahnt noch einmal zur Vorsicht vor dem Belächeln der zu gewagten Theorien und Interpretationen gelangenden Wissenschaftler und Amateure, zeigt der Text doch aufs deutlichste, wie enorm die über das Jahrhundert hereinbrechende Flut neuer Informationen war, und wie wenig man über Mechanismen verfügte, schnell und zuverlässig Wahres von Falschem, exotisches Faktum von dreist Erlogenem zu unterscheiden.39
Kupfer zu „Von einem Mägdlein, das […] auf einem vegetabilischen Stengel soll gewachsen seyn“, in: Breslauer Sammlungen, XXXIV. Versuch (October 1725), 456. Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen.
Denn was sich hier auf ein Mädchen, gewachsen auf einem Stengel, zuspitzte und schon im 18. Jahrhundert einigermaßen lächerlich anmutete, hatte seine Vorläufer, die das kaum Glaubliche mit der Realität zu verketten schienen: Berichte vom 39 Es ist zu betonen, dass nicht nur überambitionierte Amateure, sondern selbst Forscher höchster Reputation an dieser Trennung scheiterten: Linné etwa war der festen Überzeugung, dass Schwalben auf dem Grund von Seen überwinterten, während ihn ein an der Küste gefundenes Kalb zu der Vermutung brachte, es stamme aus einer Herde der Undinen. Allerdings betonte er – und hier zeigt sich dann doch der Fachmann – dass es sich um eine Frühgeburt handeln müsse, da sich die Respirationsorgane nicht für das submarine Überleben ausgebildet hätten. Vgl. BROBERG, Homo Sapiens, 177, der als Fundstellen LINNÉS Skånska resa, Stockholm 1751, 79–80 und das unter Linné von G. D. EKMARK verfasste Migrationes Avium Sistens, Upsaliae 1757 (Abdruck in Amoenitates Academiae, 5) verzeichnet.
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„Boramez, oder vegetabilischen Schafe, so in der Tartarey […] auf einem Stengel hervorwachsen soll“, oder von auf „Mutter-Bäumen“ in Schottland gewachsenen Gänsen. Beide Rätsel meinte man erst kurz zuvor als Legenden enttarnt zu haben: den Boramez als „der Zärtigkeit des Fells und Futters wegen“ aus dem Mutterleib geschnittenes Lamm, das man „theuer verkauffte“.40 Und bezüglich der Gänse hatten holländische Kauffahrer festgestellt, dass diese nur „ihre Eyer in grosser Anzahl auf den nordischen entlegenen Küsten auf die Bäume legten, und solche würcklich ausbrüteten.“41 Während Gedanken dieser Art Periodika und Monographien füllten, war sich gleichzeitig die Bevölkerung in und um Zwolle und Hameln mehr als bewusst, keineswegs winzige Zivilisationsinseln in einem wogenden Ozean der Wildnis zu bewohnen. Die sich ergebende Skepsis, die teils zum offenen Widerspruch gegen sensationell angelegte erste Berichte führt, speist sich von hier: Die Zwoller Bauern sind überzeugt, dass das Mädchen im anliegenden Waldgebiet von „nicht mehr als 4. Stunden in der Runde […] nicht allezeit hat subsistiren“ können.42 In Hameln wird von „glaubwuerdigen Persohnen des Orths“ berichtet, dass die frühen umlaufenden Nachrichten inkorrekt seien, weil eben vor Hameln kein „Wald sey, darinn der Knabe eine so lange Zeit unter den wilden Thieren haette leben koennen“.43 Für die Masse der Bevölkerung scheint das Muster damit ein ganz simples gewesen zu sein: Aussetzung, kurzer Verbleib im Wald oder sonstwo – wer hätte ausschließen können, dass das Kind etwa bei einer Bauernfamilie zeitweilig Unterschlupf gefunden hatte, ohne dass Berichte davon publik wurden? –, rasches Wiederauffinden. Ebenso spiegeln die Quellen auch, dass man dies durchaus als ein soziales Ärgernis empfand: Eltern drückten sich vor ihrer Verantwortung und bürdeten damit den betroffenen Gemeinden eine Last auf, der sich Hameln, wie oben gezeigt wurde, möglicherweise auf äußerst bauern-, oder besser bürgerschlaue Art zu entledigen suchte. Mochte das individuelle Schicksal auch noch so tragisch sein: Den „Faulteufel“ wollte man nicht unter sich haben. Dass das Vorhaben, die Fälle zu sensationalisieren, überhaupt Erfolgsaussichten hatte, ist so wohl einem in den Quellen nachvollziehbaren Auseinanderdriften mentaler Dispositionen geschuldet. Ganz offenbar war es eine relativ kleine gebildete Schicht, welche die aktuellen Ereignisse mit, wie oben beschrieben, aktuellen Entwicklungen der Wissenschaft und tradierten analogen Vorgängen in Relation setzte und daraus eine ganz eigene Bedeutsamkeit generierte: So, wenn der Autor der Breslauischen Nachrichten jenen „Catalogum von wilden Men-
40 „Von einem Mägdlein, das auf der Erden auf einem vegetabilischen Stengel soll gewachsen seyn“, in: Breslauer Sammlungen, XXXIV. Versuch (Oct. 1725), 455. Linné (Systema Naturae 1735, o. P., „Paradoxa“) verzeichnet dagegen zehn Jahre später unter Paradoxa richtig: „BOROMETZ S. AGNUS SCYTHICUS plantis accensetur, & agno adsimilatur.“ Es handelt sich tatsächlich um einen Baumfarn, der an das einer skythischen Legende entstammende Tier erinnert. 41 „Von einem Mägdlein […]“, in: Breslauer Sammlungen, XXXIV. Versuch (Oct. 1725), 455. 42 „Special-Relation“, in: Breslauer Sammlungen, XXII. Versuch (Oct. 1722), 442. 43 Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen, Bd. XII, XVII (Februar 1726), 165 f.
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schen“44 heranzog, den Tulp erstellt hatte und in den sich das Wilde Mädchen von Zwolle nahtlos einfügte. Studiert man den Bericht eingehend, wird überdies noch etwas anderes klar: Es existierte hier tatsächlich der Wunsch, dass der Fall bedeutsam sein möge, und bewusst oder unbewusst scheute man sich nicht, die bekannte Faktenlage gezielt den Erfordernissen anzupassen, auch wenn man dazu „objektiven“ Bericht durch subjektive Spekulation ersetzen musste. Ganz gemäß dieser Linien stellt sich denn auch die Entwicklung im Fall Peters von Hameln dar. Auf lokaler Ebene erregt dessen Fund 1724 zunächst keinerlei publizistische Aufmerksamkeit und man darf wohl annehmen, dass die Hamelner ganz ähnlichen Erklärungsstrategien wie die Zwoller den Vorzug gegeben haben werden. Es ist erst die Anwesenheit Georgs I. in Herrenhausen, die eine europaweite Aufmerksamkeit herstellt, und die Berichterstattung durchläuft die zu erwartenden Phasen. Spiegeln die sensationell geprägten Berichte der Monate Dezember 1725 und Januar 1726 noch die vorhandene Erwartungshaltung in ganz ähnlicher Weise wie bereits 1717, erfolgt kurz darauf ein Umschwung, der sich aus nun offenbar vor Ort erhobenen Mitteilungen der Bevölkerung speist und ein erheblich skeptischeres Bild der Angelegenheit vermittelt: eine Position, die so rational begründet schien, dass sie in Deutschland zunächst Stand der Dinge bleiben sollte. Erst die Verpflanzung Peters in ein gänzlich anderes Umfeld, nämlich das intellektuell geprägte des britischen Hofes und der Wissenschaftsund Literaturmetropole London, führt dazu, dass die kritische Betrachtung wieder in den Hintergrund gerät. Mit ambivalenten Folgen: Arbuthnots Involvierung geschieht zunächst wohl vor einem genuin wissenschaftlichen Hintergrund, nämlich Absenz oder Präsenz der idées innées zu überprüfen. Dieser Ansatz lag so nahe und Peter war ein so verlockender Untersuchungsgegenstand, dass man sich fast um ihn prügelte. Schon im Februar 1726 wandte sich etwa Zinzendorf eindringlich an die Gräfin von Schaumburg-Lippe, welche sich im unmittelbaren Umfeld Georgs I. bewegte: Er ersuchte sie um ihre Vermittlung, daß ein im Walde gefundener wilder Knabe ihm überlassen werden möchte, weil er an demselben einen Versuch anzustellen wünschte, ob es angeborene Begriffe gebe, und wie es mit deren Auswikkelung zugehe. Aus der Antwort der Gräfin d. d. S. James, Februar 12. 1726, ersehe ich, daß sie ihm gern gedienet hätte, zumalen da sie glaubte, daß es zum Besten, ja zum Seelenheil dieses jungen Menschen gereichen würde, wenn er in des Grafen Hände käme. Sie thut aber hinzu: „Es haben Ihro Majestät, der König, diesen wilden Jungen, den man in Dero Landen gefunden, an Ihro Hoheit, die Prinzeßin von Wales, verehret; welche ihn der Auffsicht eines hiesigen Philosophen übergeben, um eben das Experiment der Idées Innées (angebornen Begriffe) zu machen, wozu ihn Ew. Lbd. auch verlanget haben.“ In einem späteren Schreiben heißt es: „Ich muß Ew. Lbd. auch Nachricht von dem wilden Jungen geben, dessen Education Sie zu haben verlangten. Man hat sich alle Mühe hier gegeben, ihn ernstlich sprechen zu lehren: damit man etwas von ihm vernehmen möchte von seinem vorigen Aufenthalt und, wo möglich, von seinen Notionen. Er hat aber kaum bis dato soviel gelernet, daß er englisch das Nöthigste fordern kan. Das Gehör ist gut: die Aussprache aber mehr wie ein Bellen, als ein ordentliches Reden. Er weiß auch auf nichts zu antworten; und sein Gedächtnis ist nicht einmal so gut, als der Thiere Instinct. In
44 „Von einem vermeyntlich […]“, in: Breslauer Sammlungen, III. Versuch (Jan. 1718), 548.
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Summa: Er hat wenig menschliches oder vernünftiges an sich; ist auch keine Hoffnung, daß er jemals etwas lernen wird.“45
Ob Arbuthnot damit versagt hatte, ist eine reine Definitionsfrage. Heraus kommt zwar mitnichten eine für die Philosophical Transactions taugliche Darstellung, dafür aber eine wahre Flut satirischer Pamphlete, was den Zeitgeist des frühen 18. Jahrhunderts spiegelt: Die Befreiung von traditionell-autoritativen und religiösen Beschränkungen hat bereits stattgefunden, Neues zu denken ist en vogue. Es mangelt jedoch, insbesondere was die Anthropologie angeht, weitgehend an einer seriösen methodischen Fundamentierung, an einem Fahrplan zum Wissenserwerb – und dieser wird, betrachtet man die zunächst rein kompilatorische Vorgehensweise der Naturgeschichte, noch auf längere Sicht fehlen. Interpretiert man das Fehlen eines Berichtes aus der Hand Arbuthnots also als einen durch Überforderung hervorgerufenen wissenschaftlichen Fehlschlag, wird das Ausweichen auf das Feld der Gesellschaftssatire verständlich. Denn hier konnte man, ungehemmt von epistemologischen Grundforderungen, die seit Francis Bacon global formuliert worden waren, seinen Vorstellungen freien Lauf lassen. Einer solchermaßen freien Behandlung des Stoffes kam überdies ein nicht zu unterschätzender Umstand entgegen: die räumliche Separierung Peters, welche die nachweisbaren Einsprüche von lokaler Seite effektiv ausblendete, ja dessen Herkunft aus dem neuen und in der Regel als unzivilisiert rezipierten dominion abroad zur weiteren Erhärtung eigener Argumentationslinien nutzen konnte. Dies führte zu fraglos vor wit strotzenden Arbeiten mit sozialkritischen Momenten. Ob man dem Ziel des bald darauf von Pope so emphatisch formulierten Arbeitsauftrages – „The proper study of mankind is man“46 – jedoch näher kam, ist eine Frage der Perspektive. Ihm selbst, der in seinem Essay on man bewusst die Versform wählte, mag ein solcher Zugang, der sich künstlerische Freiheiten genehmigte, gar nicht so fremd erschienen sein. Das die Titelseite schmückende gnôthi seautón ließ aber verschiedene Lesarten zu, und ein Ideologe wie Sicard musste an der Wende zum 19. Jahrhundert die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er an die verpasste Chance für die Wissenschaft dachte. An die Stelle der Datenerhebung tritt jedoch etwas anderes. Unübersehbar wird hier, wie stark die Rezeption von bis ins Mittelalter zurückreichenden Vorgaben geprägt war – der Wilde Mann war tatsächlich, wie es Novak treffend fasste, zum Tee gekommen. So folgt vor allem die Ikonographie, welche die Pamphlete begleitet, dem schon seit Jahrhunderten geläufigen Muster. Dass hier kein Bruch zwischen Text und Bild auftrat, sondern sich beides zu einem konsistenten Gesamtbild verdichtete, verweist darauf, dass auch die literarische Verarbeitung sich nur oberflächlich von der des Mittelalters unterscheidet. Wenn etwa die Enquiry berichtet, dass sich Peter an die Unbillen des Wetters, das Leben in 45 AUGUST GOTTLIEB SPANGENBERG, Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen und Herrn von Zinzendorf und Pottendorf, 8 Bde. in 4 Bde., Barby 1773–75 [ND Hildesheim 1971]; hier Bd. 2 (1773), 380. 46 ALEXANDER POPE, An essay on man, being the first book of ethic epistles. To Henry St. John, L. Bolingbroke, London 1734, 23.
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der Wildnis und eine vegetabile Ernährung anpasste47, wenn The most wonderful wonder oder Vivitur ingenio moralisierende Betrachtungen über den Zustand der Gesellschaft und die Vorzüge des natürlichen Lebens nachschoben, dann rekurrierten die Autoren auf Topoi, die den Lesern geläufig waren – ganz besonders in England, das dem Wilden Mann, erst im volkstümlichen, dann aber auch im hochliterarischen Bereich, einen Sonderplatz zugestand. Das Wilde Kind bleibt wie der Wilde Mann vor allem Allegorie, wenn auch nun vor einem säkularisierten Bezugsrahmen. Beide erfüllen analoge Funktionen: Warnung vor dem Verlassen der Gesellschaft, auf der anderen Seite aber auch Kritik derselben. Hier liegt der Schwerpunkt der Darstellungen, wenn auch Defoe, rezentere Entwicklungen aufgreifend, bereits die Genese von Vernunft und Sprache zu seinem Thema macht. Aber nicht nur in England sind die Parallelen greifbar: Allein das Kupfer der Zuverlässigen Nachricht spricht Bände, scheint es doch nicht mehr als eine Variation hochmittelalterlicher Stereotype zu sein. Insbesondere der hohle Baum, die mutmaßliche Behausung, ist tatsächlich der Kulminationspunkt aller die Wahrnehmung der Wilden Kinder überlagernden Traditionen: der gedachte Aufenthaltsort nicht nur des Wilden Mannes, sondern auch der Wölfe und Bären. Er kann stellvertretend stehen für jenen mentalen Projektionsraum, den der Wald, die Bühne fast aller Berichte, abgab. Das beizeiten fast panische Verhalten der Bevölkerung, wie es uns bei Johannes von Lüttich oder beim Mädchen von Zwolle entgegentritt, mag sich ebenfalls zumindest zum Teil aus dieser Erwartungshaltung erklären – eine von den meisten sicherlich schon lange als fiktional gedachte Figur schien in die Realität zurückzukehren. Gerade im Detail finden sich weitere Spuren, die aus der Neuzeit heraus verweisen. Während insbesondere für Peter von Hameln in Deutschland früh Vermutungen über tierische Zieheltern abgelehnt werden, kommt es in England zu einer Wiedergeburt dieses bis in die Antike zurückverfolgbaren Topos. Grundlage dafür sind aber wiederum keineswegs neue, empirisch abgesicherte ethologische Befunde. Vielmehr erfolgt ein Rückgriff auf mythische Qualitäten der Tiere, seien es nun Bären oder Wölfe, die solche Behauptungen, wenn nicht absicherten, so doch davor bewahrten, als nicht nachvollziehbare Hirngespinste abgetan zu werden. Sie teilten sich mit dem Wilden Mann einen guten Teil der zugeschriebenen Attribute, vor allem auch dessen moralische Ambivalenz. Peters Verbringung in das von großen Raubtieren seit langem freie England war so tatsächlich folgenreich.48 Hier boten vor allem die Bären genau den Spielraum, welchen die zwischen 47 Vgl. Enquiry, 3. 48 Vgl. KEITH THOMAS, Man and the Natural World, 273: „Already at the beginning of the early modern period England was distinctive among European countries because she had no wolves. […] In England, […] wolves receded into legend, along with the loathly ‚worms‘ and ‚serpents‘ slain by twelfth-century Northcountrymen, and the ‚very many‘ lions which the Elizabethan William Harrison believed had once stalked Scotland […].“ Letzte Reste der englischen Wolfspopulation verschwanden wohl bereits im späten 15. Jahrhundert, nur für Schottland finden sich bis ins 16. Jahrhunderte, mit erheblichen Zweifeln bis 1740, letzte Berichte über erlegte Wölfe; ebd.
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Gedankenspiel, Träumerei und Faktenwiedergabe pendelnden Pamphlete benötigten. Begabte man sie, wie im Most Wonderful Wonder, zudem mit Sprachfähigkeit, lieferten sie ein vortreffliches Sprungbrett für eine Gesellschaftskritik von außen – womit sie sich funktional kaum noch von sonst für diese Zwecke gerne herangezogenen Indianern oder Persern unterschieden. Peter von Hameln war zumindest in England zu einer real existierenden Kunstfigur geworden. Aus dieser Perspektive betrachtet war es für die Pamphletisten ein Glücksfall, dass eine wissenschaftlichen Kriterien Rechnung tragende Auswertung des Falles nicht erfolgte. Und da diese – gerade auch Arbuthnot – häufig in Personalunion die wissenschaftlich-intellektuelle Elite mitverkörperten, darf man wohl durchaus in Frage stellen, ob eine solche Motivation dann überhaupt bestand. Obwohl dem gleichen zeitlichen und räumlichen Kontext entwachsen, weicht Defoes Verarbeitung des Falles Peter stark von diesem Muster ab. Zwar finden sich auch in Mere Nature Delineated satirische Elemente, aber weit darüber hinaus fokussierte er seine Überlegungen auf eben die Gegenstandsbereiche, die der philosophischen Diskussion der Zeit entsprachen und deren Bearbeitung man von Arbuthnot erwartet, aber nicht eingelöst gefunden hatte: Gab es idées innées? Welche Rolle spielte die Sprache für die Ausbildung der menschlichen Vernunft? Was war der Naturzustand des Menschen? Defoe bemüht sich mit sichtbarem Aufwand, aus den einlaufenden Meldungen einen Wahrheitskern herauszuarbeiten. Die hier entstehenden erheblichen Probleme zeugen darüber hinaus von seinem Unwillen, den common sense abzuschalten – womit Defoe, betrachtet man die englische, aber um die Jahrhundertmitte auch französische und deutsche Rezeption des Falles, allein auf weiter Flur steht. Stattdessen bewegt er sich im Gleichschritt mit skeptisch-kritischen Positionen, die zur Mitte der 1720er Jahre auch in der deutschen Presse nachweisbar sind, dann jedoch verloren gehen. Wenn auch eine Rezeption seines Werkes durch den französischen Sensualismus nicht nachweisbar ist, finden sich hier Ansätze, die Condillac mehr als 20 Jahre später neu aufnahm, nicht nur skizziert, sondern zum Teil sogar überlegen formuliert: zu denken ist etwa an die Heranrückung Peters an die Taubstummen. Bezugsrahmen Defoes bleibt dabei Locke, er erreicht aber in seiner Diskussion der Seelenvermögen, und der sich daraus ergebenden Abgrenzungsfrage zwischen Tier und Mensch, eine originelle Position, die tradierte aristotelische Vorstellungen aufnimmt und umformt. In der Breite seiner Befunde, vor allem aber der klaren Formulierung der Erkenntnisgrenzen, hätte Mere Nature Delineated so auch die naturhistorische Diskussion ab den 1750er Jahren nicht nur befruchten, sondern das repetitive Durchlaufen der immer gleichen Sackgassen potenziell verhindern können. Zwischen der hier skizzierten Rezeption bis etwa Mitte der 1720er Jahre und der Folgezeit klafft aber eine deutliche Lücke. Die Gründe für diesen Bruch sind nur zu erahnen: Zwar entwickelte sich unter den französischen philosophes das Selbstverständnis, eine weitgehend originäre wissenschaftliche Avantgarde zu bilden, aber die britische Frühaufklärung, und vor allem Locke, blieb doch ein positiv besetzter Ankerpunkt. Möglicherweise aber war Defoe, der trotz seiner vielfältigen Interessen spätestens seit Robinson Crusoe zuvörderst als Literat galt,
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der falsche Autor, den man übersah oder auf den man nur ungern Rekurs nahm. Man kann nur spekulieren, was geschehen wäre, hätte tatsächlich Arbuthnot statt satirischer Pamphlete einen umfassenden Bericht verfasst. So aber dienten der sich mit dem Aufstieg der Naturgeschichte stetig nach Frankreich, etwas später auch Deutschland verlagernden Diskussion um die Wilden Kinder Arbuthnot, Defoe oder Swift in geradezu auffälliger Form nicht als Arbeitsgrundlage; ebenso wenig übrigens werden hier zunächst die vorhandenen deutschen Quellen rezipiert.49 Für letztere mag man neben dem Sprachproblem immerhin noch anführen können, dass Deutschland zumindest in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht eben dafür bekannt war, eine Vorreiterrolle im Aufklärungsprozess zu spielen. Insofern kann man tatsächlich von der Neuaufnahme eines, wenn nicht gerissenen, so doch stark zerfaserten Überlieferungsfadens um 1750 sprechen. Dabei koinzidieren zwei Ereignisse: Erstens die durch Condillac vorgenommene Transformation des Lockeschen Sensualismus, an den sich sprach- und vernunfttheoretische Überlegungen sowie eine, vor allem durch La Mettrie initiierte, strikt materialistische Linie anketten. In beiden bleibt die Nutzung der Fälle den gleichen Paradigmen unterworfen: Sie dienten als Spitze gegen rationalistische Auffassungen und, auf sozial-politischer Ebene, der Propagierung egalitären Gedankenguts. Die immense nachrevolutionäre Erwartungshaltung bezüglich Victors hat hier ihre Wurzeln. Zweitens, in unmittelbarer zeitlicher Folge, der Aufstieg der Naturgeschichte, welche die Suche nach der Natur des Menschen mit einer ganz eigenen Epistemologie und Methodik betrieb. Buffon und Rousseau greifen auf die von Condillac popularisierten Beispiele Connors, also vor allem die litauischen Bärenkinder, zurück, erweitern diesen Kanon jedoch bereits50 – ohne allerdings wirklich umfängliche Recherchen anzustellen. Ausgedehnt wird vor allem aber auch das an die Wilden Kinder herangetragene Erkenntnisinteresse. Ging es Condillac im näheren Kontext der Sprache um den Nachweis der Korrektheit seiner Erkenntnistheorie, bildete die Frage nach der Erkenntnisfähigkeit des Menschen für Buffon wie Rousseau nur noch einen Aspekt ihres weitaus generelleren Fragekomplexes: Wie war es um die Natur des Menschen bestellt? Ließen sich an den Kindern tatsächlich wesentliche Hinweise für dessen Naturgeschichte finden? Konnte man die Genese der Gesellschaft im Kleinen nachvollziehen? Während Rousseau, auf dem Boden einer relativ konsistenten Argumentation, im Discours sur l’inégalité zu einer klar verneinenden Antwort gelangt, wirft Buffons Verarbeitungsversuch eine Reihe von Fragen auf. Sie spiegeln die generelle Zerrissenheit der Histoire Naturelle in anthropologischen Fragen. Während 1749 noch die Prämisse der gradations inconnues auf49 In größerem Umfang werden diese erst von dem in enger Verbindung mit Großbritannien arbeitenden Blumenbach wieder beachtet. Eine Ausnahme bildet allerdings die Erwähnung Wolffs durch Condillac. 50 Hinzu treten bei BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. III, 492 f. Marie-Angélique und Peter, bei Rousseau, Discours sur l’inégalité, 279 ff. neben letzterem das Hessische Wolfskind von 1344 und die hier erstmals verbürgten Pyrenäischen Knaben von 1719.
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recht erhalten wird51 und die Kinder ein „spectacle curieux pour un philosophe“ abgeben52, sieht er diese bereits 1758 lediglich als bedauerliche Unfälle, die den Status des Menschen als roi de la Terre nicht in Frage stellen können. Dementsprechend unternimmt Buffon auch keinerlei Versuch, das empirisch Naheliegende zu tun, nämlich die Faktenbasis auszuweiten. Stattdessen weicht er in eine Hypothetizität aus, die es ihm erlaubt, in einem Zug die Genese der Gesellschaft über die vermittelnde Instanz der Familie zu rekonstruieren und aus dem Beispiel der Wilden Kinder eine quasi-naturgesetzliche Gravitation des Menschen hin zur Soziabilität zu konstruieren. Damit entwirft Buffon eine Teleologie, die nun keineswegs mehr die Verbindung des Menschen zur Natur, sondern dessen metaphysisch begründete Sonderstellung als weltlich-außerweltliches Zwischenwesen, und damit dessen Dualität, betont.53 Es ist genau diese Linie, die 1766 schließlich in der Nomenclature des Singes ausgebaut und abgeschlossen wird.54 Körperlich kaum von den Menschenaffen zu unterscheiden verfügt der Mensch über jenen nicht quantifizierbaren göttlichen Hauch, der die Kluft zwischen ihm und den Tieren unüberwindlich macht.55 Auch Linné versuchte sich, obwohl ihm dies immer wieder vorgeworfen wurde, keineswegs daran, den Menschen als Ganzes zu naturalisieren. Dies wäre letztlich nur auf konsequent materialistischer Basis möglich gewesen, was den gläubigen Naturalisten entsetzen musste. Der Kritik liegt also ein Missverständnis zugrunde, das von der gewählten Form der Darstellung, die mit den taxonomischen Zielen Linnés korrespondierte, gespeist wurde. Während der große Stilistiker Buffon es verstand, seinen Gedanken bezüglich der metaphysischen Bestimmung des Menschen angemessen Emphase zu verleihen, klammerte Linné dies im Systema Naturae scheinbar aus. Es konnte, wenn es auch den Anspruch stellte, die Ordnung der göttlichen Schöpfung nachzuvollziehen, als materialistischer Angriff auf die Sonderstellung des Menschen begriffen werden. Tatsächlich weigerte sich Linné in seinem Selbstverständnis als Naturforscher einfach zu erfassen, was einer schlüssigen Taxonomie nicht zugänglich war – ohne daran zu zweifeln, dass solche metaphysische Kriterien dennoch existierten. Insofern versucht sich das Systema Naturae also gar nicht an einer Definition des Menschen, sondern rekurriert ausschließlich auf dessen körperliche Verfasstheit. Anders gesagt: Linné versuchte, empirisch Nachweisbares sauber von Spekulation und Glauben zu trennen, vor allem zu verhindern, dass aus einer so fundierten 51 52 53 54 55
BUFFON, Histoire Naturelle, Bd. I, 13. Ebd., Bd. III, 492 f. Ebd., Bd. VII, 29 ff. Ebd., Bd. XIV, 32. „Je l’avoue, si l’on ne devoit juger que par la forme, l’espèce du singe pourroit être prise pour une variété dans l’espèce humaine: le Créateur n’a pas voulu faire pour le corps de l’homme un modèle absolument différent de celui de l’animal; il a compris sa forme, comme celle de tous les animaux, dans un plan général; mais en même temps qu’il lui a départi cette forme matérielle semblable à celle du singe, il a pénétré ce corps animal de son souffle divin; s’il eût fait la même faveur, je ne dis pas au singe, mais à l’espèce la plus vile, à l’animal qui nous paroît le plus mal organisé, cette espèce seroit bien-tôt devenue la rivale de l’homme […].“ Ebd., Bd. XIII, 32.
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metaphysischen Sonderstellung des Menschen auch auf eine körperliche geschlossen wurde. Die Wilden Kinder übernehmen in diesem Kontext eine nicht zu unterschätzende Funktion, denn über sie schien ein geeigneter Nachweis führbar zu werden. Folgerichtig beschränkt sich Linné nicht auf die geringe Zahl an Beispielen, die Buffon genügte. Wollte man zeigen, dass der Mensch, physisch betrachtet, nicht nur nah am Tier stand, sondern tatsächlich ein solches war, funktionierte dies ohne Frage am besten, wenn es gelang, die von der Tradition geheiligten Merkmale zu falsifizieren – sie also taxonomisch unbrauchbar zu machen, weil sie zu einer klaren Scheidung nicht taugten. Nur vor diesem Hintergrund lässt sich Linnés Umgang mit den Fällen verstehen. Als Prämisse musste zunächst gesetzt werden, dass Wilde Kinder wirklich Menschen waren – ein Faktum, dem spätestens nach Peter und Marie-Angélique niemand ernsthaft widersprechen konnte. Linné dürfte auch bewusst gewesen sein, dass keineswegs alle seiner Beispiele die von ihm geforderten Eigenschaften – tetrapus, mutus, hirsutus – besaßen und seine Einrichtung einer eigenen Varietät, eben des Homo sapiens ferus, damit auf mehr als tönernen Füßen stand. Nur: Um diese ging es Linné wohl letztlich nicht. Stattdessen erfüllten die Wilden Kinder in der vorliegenden Kumulation sehr wohl ihren Zweck: Sie wiesen nach, dass der physische Mensch weder über seine Bipedität, noch über die Sprache oder das Fehlen eines Fells hinreichend zu kategorisieren war, sehr wohl aber über die von Linné vorgeschlagenen Taxa. An die Stelle der aus einer metaphysischen Tradition geborenen Merkmale traten nun die ganz unspektakulären Zahnformationen. Ob Linné bewusst war, dass die Attribute des Homo sapiens ferus gleichzeitig exakt die des mittelalterlichen Wilden Mannes waren, kann nicht geklärt werden.56 Jedenfalls ließ sich aus der Beschreibung auch ein Weiteres herauslesen: Zivilisation konnte keineswegs ein Trennkriterium sein. Buffon, Rousseau und Linné – sie spannen ohne Frage den Bezugsrahmen auf, in dem sich die Auseinandersetzung deutscher Autoren mit dem Phänomen der Wilden Kinder vollzieht. Sie ist von Beginn an erstaunlich diversifiziert – und gewinnt im Verlauf der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine so starke Eigenständigkeit, dass es schließlich Autoren wie Zimmermann und Schreber sind, die ihrerseits den Gang der europäischen Diskussion beeinflussen. Zunächst jedoch mischen sich Originalität und Hilflosigkeit. Halles Naturgeschichte der Thiere in Sistematischer Ordnung von 1757 etwa beruft sich offen auf Rousseau und hängt sich in seiner Gliederung an Linnés Systema Naturae an, versucht aber genau die Passagen zu glätten, die zu heftigen Kontroversen geführt hatten – und den bis heute fortdauernden Ruf und Einfluss der Werke begründeten. Die Vehemenz, mit der Rousseau wie Linné neue Perspektiven auf den Menschen eröffneten scheint geradezu einschüchternd gewesen zu sein. Noch Johann 56 Die Wahl kann durchaus anders beeinflusst worden sein: Die Taubstummen standen ohnehin spätestens seit Condillac in der Diskussion. Zu denken wäre auch an Haarmenschen wie Arrigo Gonzalez, während die mögliche Vierfüßigkeit des Menschen kurz zuvor durch Rousseau wieder in den Blickpunkt des Interesses gerückt war. Zur „Haarfamilie“ Gonzalez vgl. generell ROBERTO ZAPPERI, Der Wilde Mann von Teneriffa. Die wundersame Geschichte des Pedro Gonzalez und seiner Kinder, München 2004.
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Gottlieb Steebs Kritik der Halleschen Darstellung, fast 30 Jahre später verfasst, verlegt sich weniger auf deren sachlich-logische Mängel, als auf vermeintliche Fehler in der Deutung der göttlichen Interventionsmaßnahmen. Dabei ist besonders auf argumentativer Ebene deutlich ablesbar, dass hier Neuland, und häufig genug morastiger Untergrund, betreten wurde. Wo Rousseau hypothetisierte, dies aber, wenn auch methodisch an vielen Stellen fragwürdig, durch empirisches Material abzusichern versuchte, und Linné seinen Fokus gezielt auf die physische Natur des Menschen begrenzte, verstrickte sich Halle in dem Bemühen, Hypothesen mit Hypothesen zu beweisen. Ihm hier individuelle Fehler vorzuwerfen, greift jedoch zu kurz: Er bewegte sich bereits in jenem epistemologischen Rahmen der Naturgeschichte, der nicht zuletzt von Buffon mitgezimmert worden war und in dem empirische Verfahrensweisen, ebenso gut aber auch fragwürdige Hypothesen- und Analogiebildung ihren Platz hatten, ja die wahrgenommene Qualität und Originalität der Ausführungen bestimmten. Damit kam die Naturgeschichte der Thiere in Sistematischer Ordnung bezüglich der Evidenz der Fälle zu einer Um- und Aufwertung: Rousseau hatte sie als schlüssige Nachweise einer ursprünglich quadrupeden Fortbewegung abgelehnt; ohnehin verließ er sich lieber auf den reichhaltigeren Materialfundus, den die Reiseberichte über Menschenaffen lieferten. Linné benötigte die Kinder ab 1758, um seiner Taxonomie Nachdruck zu verleihen und damit den Menschen – oder besser: alle Menschen – physisch dem Tierreich einzuverleiben. Für Halle bildeten sie jedoch eine Möglichkeit, einen originellen Ansatz zu zeigen und gleichzeitig zumindest einen Teil der Schärfe aus Linnés Grundkonzeption wieder zu entfernen: Die Kinder bilden für ihn tatsächlich ein fast autonomes Bindeglied zwischen Mensch und Tierreich, sie sind Beispiele für einen Thiermenschen. Den jedoch kannte das Systema Naturae nicht: Der Mensch an sich, und nicht nur einzelne Individuen ganz besonderer Prägung, gehörte zum Tierreich. Halle eröffnete darüber hinaus eine weitere Perspektive, indem er weit expliziter als seine Ideengeber physiologische Faktoren beleuchtete und damit früh versuchte, eine ursprünglich quadrupede Fortbewegung des Menschen zu beweisen. Das Thema sollte, vor allem nach Beckmanns Übersetzung von Moscatis Delle corpore differenze essenziali, im Gespräch bleiben. Ob Moscati seine Ausführungen tatsächlich ernst meinte oder nach Art eines wissenschaftlichen Spiels des Witzes zu provozieren und amüsieren versuchte, wie Blumenbach meinte, lässt sich kaum klären. Die Detailliertheit und der beträchtliche Aufwand, den er in Kauf zu nehmen gewillt war, um auf physiologisch-anatomischer Ebene die ursprüngliche Quadrupedität des Menschen nachzuweisen, sprechen vielleicht eher für ersteres. Ohnehin stand er bereits, wie das Beispiel Halle zeigt, durchaus nicht allein mit seiner Meinung. Im Gegensatz zu diesem bleibt er jedoch stringent einer medizinischen Argumentationslinie verhaftet, versucht nicht, Zergliederungskunst und naturhistorisches Vorgehen zu verschmelzen. Die Bedeutung der Wilden Kinder wird bei ihm daher wieder zurechtgestutzt: Sie scheinen „wegen ihrer Seltenheit zu schwach zum Beweise […]“57. Gleichzeitig gerät bei ihm 57 MOSCATI, Von dem körperlichen wesentlichen Unterscheide, 18 f.
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die naturhistorische Tendenz, den physischen Menschen zur Krönung der Schöpfung zu stilisieren, und daraus eine kosmische Sonderstellung zugleich ableiten und belegen zu wollen, unter Beschuss. Ganz mit Linné, ohne jedoch dessen Beurteilung der Wilden Kinder zu teilen, ist der Mensch, körperlich betrachtet, ganz in die Natur integriert. Seine Heilsfähigkeit erwächst weder aus der Bipedität, noch ist die Fähigkeit, sich „einige Handbreit mehr […] über den Boden erhoben zu haben“58 ein sinnfälliger Spiegel derselben. Denn dies zu fordern, hieße Gottes Allmacht unzulässig zu beschränken, gleichzeitig aber die gerade erst mühsam erarbeitete Eigengesetzlichkeit von Metaphysik und Naturkunde wieder in Frage zu stellen. Wühlten die Naturhistoriker wieder auf theologischem Terrain, hätte der Theologe einen ähnlichen Anspruch wohl bald auch wieder in weltlichen Belangen geltend machen können. Das deutsche Echo auf die These Moscatis war fast unisono ablehnend. Zu unterscheiden sind dabei zwei Argumentationslinien: So macht sich Zimmermann in seiner Geographischen Geschichte zunächst an eine minutiöse Widerlegung der von Moscati behaupteten anatomischen Merkmale, womit dessen argumentatives Gerüst akzeptiert wird. Bereits Zimmermann, mehr noch Johann Samuel Ith gelangen aber dann auf eine andere Kritikebene: Moscati simplifiziere unzulässig, wenn er ein so komplexes Wesen wie den Menschen nur als Summe seiner anatomischen Eigenschaften begreife und dessen Bestimmung, die im Gesamtwesen ablesbar sei, negiere. Eine solche Position ließ sich auch durch die von Kant vorgenommene Redefinition des Naturzustandes stützen, der nun nicht als historischer Ausgangspunkt, sondern als teleologischer Endzustand des Menschengeschlechtes verstanden werden wollte. Andererseits dürfte es gerade die von Moscati durchgehaltene strikte Trennung von säkularisierter Wissenschaftlichkeit und Metaphysik gewesen sein, die Kant zu einer wohlwollenden Rezension brachte, wenn er auch dessen Ansicht bezüglich der Vierfüßigkeit nicht teilte. Als anregendes Gedankenexperiment erfüllte Von dem körperlichen Unterscheide seinen Zweck, weil Moscati bei seinen Leisten als „scharfsinniger Zergliederer“59 blieb. Dies mag auch ein gewichtiger Aspekt zum Verständnis der nachgerade allergischen Reaktion Kants auf die Ideen zu einer Philosophie der Geschichte der Menschheit seines ehemaligen Eleven Herder sein: Hier hing nun wieder Wohl und Wehe der Menschheit, die Entwicklung von Sprache, Gesellschaft und Vernunft, von einem einzigen physischen Faktor ab, der sich nur auf Intervention von außen zurückführen ließ. Gott hatte dem von ihm bevorzugten Geschöpf auf die Beine geholfen. Jegliche andere Entwicklung ekelte Herder als „abscheuliches Bild“, ja als „häßliche Unnatur“.60 Und: Das „Verhältnis des Geschöpfes zur horizontalen und perpendikularen Kopfstellung und Bildung“61, ein an Campers Gesichtswinkel-Theorie angelehntes Konzept, konnte benutzt werden, um der metaphysisch herausgeho58 59 60 61
Ebd., 49. KANT, Rezension Moscati, 423. HERDER, Ideen, Erster Theil, Drittes Buch, 112. Ebd., 135.
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benen Position des Menschen einen anatomisch fundierten, quantitativen Ausdruck zu verleihen. Zudem, und nun erhielten die Wilden Kinder wieder ihren Platz, war der erreichte Zustand der Menschheit überaus labil und bedurfte der ständigen, nun gesellschaftlichen, Stütze. Peter, Marie und ihre Gefährten zeigten überdeutlich, wie schnell ein Degradationsprozess Fuß fassen konnte, aus dem ein eigenständiges Entrinnen schier unmöglich war. Hier wird nun auch deutlich, wie Herder den Begriff der Natur konzipierte: Das dem Menschen Eigentümliche war seine Verbindung zu Höherem, das Entarten in den bei den Wilden Kindern vorfindlichen Zustand dementsprechend Unnatur. Eine Anthropologie, die auf naturhistorischem Boden, also im Vergleich mit dem Tierreich, gewonnen wurde, musste damit für Herder nicht nur unzufriedenstellend sein; sie konterkarierte die eigentliche Natur des Menschen, die sich aus seiner metaphysischen Bestimmung ergab. Kant räumte die Relevanz der Metaphysik durchaus ein, und seine Naturzustands-Vorstellung zeigt Parallelen zur Herderschen. Keineswegs war er jedoch gewillt, Herder den Punkt zuzugestehen, dass der Nachweis dafür nun doch wieder auf der Basis vergleichender Anatomie, eben der Schädelstellung, zu finden sein sollte. Hier sah er einen fundamentalen Analogiefehler Herders, der postulierte, dass die „sehr verschiedenen Wesen“ Geist und Materie doch demselben Regelkanon gehorchten.62 Herder unterläuft damit aus Kants Perspektive eben der Fehler, den wir schon für Halles Fortführungsversuch Rousseauschen Gedankenguts beobachten konnten: Er versucht, „das, was man nicht begreift, aus demjenigen erklären zu wollen, was man noch weniger begreift […]“.63 Bei Halle und Herder werden exemplarisch die vielfältigen Fallstricke sichtbar, die sich aus der naturhistorischen Vereinnahmung der Wilden Kinder, insbesondere in Hinsicht auf die Frage der natürlichen Fortbewegungsart des Menschen, entwickelten. Nachweislich seit den 1770er Jahren verfestigte sich aber auch eine abwägend-kritische Haltung, die bis ins 19. Jahrhundert hinein an Überzeugungskraft gewann. Sie schlägt sich vor allem in den Arbeiten Schrebers, Zimmermanns und Blumenbachs nieder und spiegelt jene wachsende Emanzipation von naturhistorischem Gedankengut der Jahrhundertmitte, die deutschen Autoren schließlich eine zentrale Position im europäischen Wissenschaftsgetriebe verschaffte. Zwar sind die Einflüsse Buffons in Schrebers Die Säugthiere in Abbildungen nach der Natur spürbar; dies bezieht sich jedoch eher auf die Form der literarischen Darstellung, während strukturell Linnés Klassifikationsbestreben umgesetzt wird. Die Seelenvermögen des Menschen mögen zwar zu einem „unendlichen Abstande“ zum Tierreich führen, interessieren Schreber jedoch in der Folge nicht. Physisch betrachtet ist es aber fatal, ihn „mit einigen Zoologen […] von den Thieren absondern zu wollen.“64 Ebenso erscheint es Schreber unmöglich, zu einer verlässlichen Unterteilung der Gattung Mensch zu gelangen. Dabei zeigen seine Bedenken ein hohes Maß an Reflektion der Erkenntnismög62 KANT, Rezension Herder (Erster Theil), 50. 63 Ebd., 53. 64 SCHREBER, Säugthiere, 5.
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lichkeiten und -grenzen seiner Disziplin. Denn mochte man zwischen den Menschen auch deutliche Unterschiede in Hautfarbe oder Körpergröße wahrnehmen, konnte man doch nicht sicher sein, dass dies durch naturgeschichtliche Faktoren begründet worden war. Auch die „Geschichte der Völker“ und ihre „freywilligen oder gezwungenen Wanderungen, […] ihre Sprache, Religion, Sitten und Gewohnheiten“ spielten eine potenziell beträchtliche Rolle, was die Fragestellung „aus dem Gesichtskreis des Naturforschers“ entriss.65 Solcherlei Bedenken waren Buffon noch weitgehend fremd gewesen. Sicher war sich Schreber, dass die Menschheit einen gemeinsamen Ausgangspunkt haben musste; ebenso war er sich bewusst, dass die Wilden Kinder zur Rekonstruktion dieses Zustandes mittlerweile fast reflexartig herangezogen wurden. Aber er zeigte, und das ist nun eine geradezu revolutionäre Neuerung im Umgang mit den Lieblingsexempeln, keinerlei Neigung, in der gewohnten Art und Weise zu verfahren: nämlich die löchrige Faktenbasis als Freifahrtschein zur Untermauerung eigener Hypothesen zu nutzen. Stattdessen begibt sich Schreber – so weit ich sehe, als Erster – an eine wissenschaftlich-hermeneutischen Ansprüchen genügende Katalogisierung und Analyse des verfügbaren Quellenmaterials. Er sieht bereits mit großer Klarheit, was auch die vorangestellte Tabelle augenfällig macht, nämlich dass an diesen Verwilderten keineswegs alle Stücke, die den vorgeblich natürlichen Zustand des Menschen bezeichnen sollen, wahrzunehmen gewesen sind. Sie sind nicht auf allen Vieren gegangen […]. Sie waren nicht haariger als gewöhnlich […]. Schärfere Sinne, und größere Leibeskräfte und Behendigkeit waren nicht an allen anzutreffen […]. Was ihnen insgesammt zu mangeln schien, war die Vernunft nebst der Sprache. Dieser Mangel war aber augenscheinlich eine Folge der Einsamkeit […]. Durch diese Beyspiele ist also die ursprüngliche Unvollkommenheit des Menschen […] noch lange nicht bewiesen.66
Man darf diese Leistung keinesfalls unterschätzen. Schreber stellte sich nicht nur gegen die von ihm ohnehin eher missliebig beäugten naturhistorischen Ansätze Buffons, sondern unterzog auch die prinzipiell für tragfähig gehaltene Taxonomie seines Lehrers Linné an diesem Punkt einer so weit als möglich objektivierten Kritik. Die wissenschaftliche Integrität, die hier zum Ausdruck kommt, erklärt sich wohl aus einem gestiegenen Selbstbewusstsein und der Einsicht, dass das von Linné erstellte System unter solcherlei Einwänden keinesfalls kollabieren, sondern im Gegenteil an Stärke gewinnen würde. Es schien Schreber ganz offensichtlich mittlerweile so abgesichert, dass die Beseitigung alter Stützen, die 1758 noch notwendig gewesen sein mochten, nun unternommen werden konnte. Dies bedeutete eine radikale Abwertung der naturkundlichen Relevanz der Wilden Kinder; gleichzeitig leistete Schreber jedoch ganz entscheidende Vorarbeiten dafür, diese als Phänomene eigenen Werts wahrnehmen und beurteilen zu können. Der Fort-
65 Ebd., 31. 66 Ebd., 36 f.
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schritt der Wissenschaft über behutsame Falsifikation: Er wird hier deutlich greifbar.67 Dass Schrebers Vorgehen in seiner Art die Zeitgenossen einerseits überzeugte, andererseits fast überforderte, belegt Zimmermanns weit verbreitete Geographische Geschichte des Menschen, auf die auch Kant gern zurückgriff. Denn Zimmermann, viel stärker den Ideen und methodischen Ansätzen Buffons verhaftet, übernahm Schrebers Sichtweise schon wenige Jahre später unkommentiert, ohne jedoch dessen Anliegen wirklich verstanden zu haben: Peter, MarieAngélique „und andere ähnliche verwahrlosete Menschen […] sind, wie auch Herr Schreber richtig bemerkt, ganz und gar nicht passende Beispiele, uns den natürlichen Zustand des Menschengeschlechts zu lehren. Es hieße eben so viel, als wenn man an dem gefährlichsten Kranken die Physiologie studiren wollte.“68 Was oberflächlich wie eine Übernahme der Schreberschen Position wirkt, ist bei genauerem Lesen eigentlich ein Rückfall in alte Muster, denn Schreber hatte gar nicht beweisen wollen, dass die Wilden Kinder „ganz und gar nicht passende Beispiele“ für den Naturzustand des Menschen wären. Er hatte aus der Quellensituation gefolgert, dass an ihnen keinerlei Rückschlüsse, also weder pro noch contra, gewonnen werden konnten. Zimmermannn weist den Kindern nun doch wieder Aussagekraft zu: Nur eben ex negativo. Darüber hinaus, nämlich in der Analogisierung der Kinder mit „dem gefährlichsten Kranken“, deutet Zimmermann aber auch bereits in die Zukunft – und dies gleich in mehrerer Hinsicht. Blumenbach scheint seine Einstellung im zweiten Band der Beyträge zur Naturgeschichte nicht mehr als zu wiederholen, wenn er die Wilden Kinder als „klägliche sittliche Monster, die man ebenso wenig als die Cretins oder andre durch Krankheit und Zufall entstellte Menschen, zum Muster des Meisterstücks der Schöpfung anführen“69 dürfe, beschreibt. Tatsächlich aber steuert Blumenbach wieder den von Schreber angelegten Kurs: Die Wilden Kinder belegen nichts, sie taugen weder als Nachweise eines goldenen Standes der Natur, noch als Negativfolie. Blumenbach, so muss zugegeben werden, konnte eine solche Einsicht jedoch auch deutlich leichter fallen als Zimmermann: Einerseits verfügte er über gute Verbindungen nach England und ins Umland Göttingens70, was ihm für seine Abhandlung über Peter ein einzigartiges Gerüst an Informationen verschaffte. Andererseits war für ihn die gesamte Naturzustandsdiskussion längst überkommen, der Mensch ein „Hausthier“ mit der 67 Schreber konnte hier bereits Rekurs auf Einwände bzgl. des Umganges mit empirischem Material nehmen, wie sie etwa Wieland in seinen Beyträgen zur geheimen Geschichte der Menschheit 1770 gegen Rousseau formuliert hatte. S. o., Kap. IV.1. 68 ZIMMERMANN, Geographische Geschichte, 122. 69 BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 64. 70 Diese Verbindungen waren teils persönlicher, teils aber auch institutioneller Natur. In Folge der Thronbesteigung des Hauses Hannover war der englische König seit Einrichtung der Georgia Augusta auch deren Rektor. Seitdem zog die Göttinger Universität „immer wieder verhältnismäßig viele englische Studenten“ an. Vgl. FRANK WILLIAM PETER DOUGHERTY, Die „Carlyon-Parry-Greenation“. Dokumente einer Harzreise im Jahre 1799, in: DERS., Gesammelte Aufsätze, 251–291; hier 251.
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einzigartigen Potenz, sich selbst zu zivilisieren. Genau diese Fähigkeit fehlte aber den Wilden Kindern. Zudem existierte in Blumenbachs Systematik nicht nur kein Platz für ein dem Linnéschen Homo sapiens ferus entsprechendes Wesen; es hätte diese an entscheidender Stelle, nämlich der Abtrennung des Menschen vom Rest des Tierreiches auf Ordnungsebene, höchst unbequem und unnötig in Frage gestellt und Gradationsvorstellungen, derer sich Blumenbach entledigen wollte, wieder in die Diskussion gebracht. Blumenbachs Feldzug hatte jedenfalls Erfolg: Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein blieb sein Standpunkt der allgemein akzeptierte. Wenn auch Blumenbachs Einfluss schwer zu überschätzen ist, sekundierte doch bei der Durchsetzung dieses skeptischen Standpunktes eine weitere, neue Wissenschaftsdisziplin. Ausgehend von der Phrenologie Galls und Spurzheims und einer auf craniometrische Befunde gestützten Psychologie – die sich beide, obwohl dies heftig bestritten wurde, wiederum Denkansätze der Physiognomie einverleibt hatten – vollzog sich ein Prozess, der sich am leichtesten als Pathologisierung der Wilden Kinder beschrieben lässt. Diese wurden nun, durchaus im Sinne Blumenbachs, zu Standardbeispielen für Imbezile oder Idioten. Insbesondere der gut dokumentierte Fall Victors hatte gezeigt, dass die geschilderten Vorkommnisse wohl nicht als reine Phantasieprodukte abgetan werden konnten. Dies konnte man nun jedoch ohne Weiteres zugestehen, hatte man sich doch übergreifend verständigt: Weder spiegele sich in den Kindern ein Naturzustand – dieses Konzept gehörte ohnehin mittlerweile einer der Hypothese und dem Gedankenspiel zugetanen und insofern verwerflichen wissenschaftlichen Epoche an, von der man sich abzusetzen trachtete – noch ließe sich aus den Kindern der Einfluss der Natur, oder, im Umkehrschluss, der Gesellschaft entnehmen. Stattdessen entstand ein neues Standardmuster: Ausgehend von Victor und dem an ihm verzweifelnden Itard glaubte man nun verallgemeinern zu können, dass die Kinder, und zwar alle, bereits vor ihrer Aussetzung schwere kongenitale geistige Schäden aufgewiesen hatten. Eine durchaus bedenkenswerte Hypothese, nur: Die Quellen gaben bezüglich dieser Frage wirklich kaum etwas her. Forscher vom Range eines Esquirol hielt dies keineswegs davon ab, allgemeingültige Befunde zu deduzieren und die Wilden Kinder, von denen meist nicht einmal Abbildungen, geschweige denn verlässliche Messdaten existierten, als Nachweis für die Korrektheit von Schädelvermessungen zu führen. Auch wenn es der Zeit anders erschien, hatte sich, abgesehen davon, dass nun Zahlen und Werte den style ersetzten, im Umgang mit den Beweisobjekten herzlich wenig getan. Lediglich das wissenschaftliche Paradigma hatte sich verändert: An die Stelle der Naturhistorie und der ihr eigentümlichen Epistemologie und Methodik war jetzt eine Anthropologie neuen Zuschnitts getreten. Als zuständig für das Phänomen der Wilden Kinder empfand sich nun insbesondere wieder die Medizin, und innerhalb dieser die Physiologie und komparative Anatomie, die ihre Methoden denn auch konsequent anwandte. Dem entspricht, dass sich die Zahl der Referenzobjekte wieder deutlich beschränkte: Lieferte Schreber noch einen langen Katalog an Fällen, reduzierte man nun wieder, und oft auf einen einzigen Fall: Victor. Die anderen Kinder verlieren in diesem Prozess noch mehr als im 18. Jahrhundert jegliche Individualität: Ihre
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Namen werden kaum noch genannt, es sind „hommes dépourvus d’intelligence“71 oder „des imbéciles“72, und ihre Schädelform, das einzige, was von wissenschaftlichem Interesse ist, zeigt „beaucoup d’analogie avec celui d’orang.“73 Aufgehoben wird diese unidimensionale Sicht – Zufall oder Muster? – wiederum in Deutschland. Pierer etwa macht in seinem Medizinischen Realwörterbuch doch wieder die Gesellschaft zur „Bestimmung“ des Menschen. Sie bildet diesen auch intellektuell, und der Beleg findet sich in der „Geschichte einzelner unglücklicher Wesen, welche in frühester Kindheit in der Wildniß, von Menschen verlassen, einzig ihrem guten Glück ihre Selbsterhaltung zu danken hatten […].“74 Wohl ein Fortschritt in medizinisch-psychologischer Sicht, aber was die Debatte und den mühevollen Erkenntniszuwachs um die Wilden Kinder anging, war man wieder im Jahr 1750 gelandet. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass die Rezeption der Wilden Kinder im 20. und bis ins 21. Jahrhundert ganz anders verlaufen wäre, hätte nicht das 19. Jahrhundert die Tradierung der Fälle ganz eigentümlich gefärbt. Tinlands bahnbrechendes L’Homme sauvage korrespondiert in seiner Anlage ganz mit den Vorarbeiten vor allem Schrebers. Denn dessen Erkenntnis, dass der Materialfundus zur Generierung wissenschaftlicher Theorien eigentlich nicht hinreichte, bildet den Ausgangspunkt für die Frage, welchen Sinn die Wissenschaften dann in der Verarbeitung der Fälle sahen. Diese Arbeit lässt allerdings bis 1968 auf sich warten: Erst der von Foucault 1966 mit Les mots et les choses abgesteckte diskurstheoretische Pfad, dem Tinland ein gutes Stück folgt, scheint zu einer nachhaltigen Befreiung von Prämissen des 18. und 19. Jahrhunderts geführt zu haben, in denen sich noch Malson bewegte. Zu diesem Zeitpunkt war seit fast anderthalb Jahrhunderten kaum mehr danach gefragt worden, ob die Wilden Kinder überhaupt Nachweischarakter beanspruchen konnten – und dies wohlgemerkt in einer Zeit, in der die Formen der historischen Texthermeneutik in kaum zu überschätzender Weise verwissenschaftlicht worden waren. Erklärlich wird dies zum einen natürlich aus der Randständigkeit des Themas, dem sich lange kein seriöser Historiker nähern wollte oder konnte. Zum anderen aber, und weitaus spezifischer, hatten die umfangreichen Arbeiten Tafels und Raubers ihre Spuren hinterlassen. Bilden der Theologe und der Biologe zunächst ein ungleiches Paar, und hatten sie fundamental differierende Wertvorstellungen und Interessen, die sie an ihren Gegenstand herantrugen, so einte sie doch eines: Im Rahmen der von ihnen verfolgten Argumentationen besetzten die Wilden Kinder eine so prominente Stelle, dass zu starkes Rütteln an der Verlässlichkeit der Quellen zum Zusammenbruch der Konzeptionen geführt und das argumentative Ziel in Frage gestellt hätte. Für den Swedenborgianer Tafel bedeutete das ein, wenn auch an vielen Punkten heftig modifiziertes, Wiederaufgreifen der von Herder mit Inbrunst vertrete71 72 73 74
ESQUIROL, Des maladies mentales, Bd. 2, 376. GALL & SPURZHEIM, Anatomie et physiologie, Bd. 2, 43. LARREY, Mémoires, Bd. IV, 17. PIERER, Medizinisches Realwörterbuch, Bd. 8, 558.
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nen These, dass die Menschheit ohne göttliche Intervention nicht zu Vernunft und Sitte gelangt sein konnte, und dass die solchermaßen mit einer klaren Teleologie versehene Gesellschaft diesen einmal gegebenen Anstoß nun – normativ gefasst – weiter zu vermitteln hatte. Die Funktion der Wilden Kinder wird von diesem Ansatz prädefiniert: Sie können notwendigerweise nur das sein, was der sozial lebende, gläubige Mensch nicht sein muss, nämlich bar aller Vernunft und ohne Zugriff auf göttliche Weisheit – wobei in der rationalistisch orientierten swedenborgianischen Theologie Vernunft und Gott zu nahezu austauschbaren Begriffen werden. Dies schmälert jedoch nicht die Bedeutung Tafels in Hinsicht auf die Ausweitung der Quellenbasis: Die Arbeiten von Zingg bis Douthwaite, und nicht zuletzt auch die vorliegende, hätten ohne seine Kompilationsleistung kaum verfasst werden können. Strukturell unterscheiden sich Tafels und Raubers Bemühungen kaum: Auch letzterer funktionalisiert die Wilden Kinder, nun aber nicht in dem Bezugsrahmen des auf philosophische Abwege geratenen Tübinger Theologen, sondern unter einem monistisch-biologistischen Paradigma Haeckelscher Prägung. Ein omnipotenter, zellorganischer Staat ersetzt hier die metaphysisch legitimierte Gesellschaft Tafels – und Rauber substituiert damit, trotz aller anti-religiösen Polemik, Religion durch Quasi-Religion. Die unterstellten Folgen für die Wilden Kinder sind eher noch drastischer als bei Tafel: Sie sind lediglich humaner „Rohwert“75, an der nur im Staat denkbaren kulturellen Entwicklung – und erst diese war das eigentlich Menschliche – können sie keinen Anteil haben. Sie sind stumme Zeugen einer abgrundtiefen Depravation, nun endgültig bis unter das Tier. Gestützt wurden die Thesen nun auch seitens der Paläoanthropologie, deren Befunde eine grundsätzliche Neubewertung der Fälle legitimieren sollten. Schreber wie Blumenbach – dessen Autoritätshauch Rauber noch immer ins Gesicht bläst – hätten die Fälle nur aus einem Grund abgelehnt, nämlich weil sie zu ihrer Zeit als Beleg für die Existenz eines erratisch konzipierten Naturzustandes missbraucht worden seien, der nun, dank Darwin und Haeckel, gar nicht mehr zur Debatte stehe. Der Zweck dieses Manövers ist recht offensichtlich, denn beide waren wichtige Zulieferer von Daten, hatten aber selbst skeptische Standpunkte bezogen. Zumindest Schreber, mit Einschränkungen aber ebenso Blumenbach, werden jedoch zu Unrecht vereinnahmt: Beiden ging es um die unzureichende Quellenbasis, was der über weite Strecken ohnehin von Tafel kopierende Rauber nicht sah. Stattdessen muss man diesem eben den Vorwurf machen, den er an das 18. Jahrhundert richtete: Instrumentalisierung unter gezielter Ausnutzung der Überlieferungslücken. Anders als im Jahrhundert der Aufklärung standen aber hier nun Zwecke im Vordergrund, die bereits an die ebenso unheilvolle wie inhumane Ideologisierung und Totalisierung des Staates im 20. Jahrhundert gemahnen.
75 RAUBER, Homo sapiens ferus, 68.
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„Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“76 Der Wahlspruch der Aufklärung, den Kant 1784 in der Berlinischen Monatsschrift formulierte, schien nicht nur den Zeitgenossen den Kern der Sache zu treffen. Betrachtet man den Umgang der Aufklärungswissenschaften mit den Wilden Kindern, wird jedoch deutlich, wie hochgesteckt dieses Ziel eigentlich war – was Kants Formulierung weniger zu einer bereits rückblickenden Erklärung, als zu einem in die Zukunft gewandten Postulat macht. Denn die praktische Umsetzung einer solchen Vorgabe stellte die Wissenschaften geradezu vor einen Berg von Problemen, die als solche selten genug erkannt wurden und insbesondere die Naturgeschichte prägten. Betrachtet man den Fall Peters von Hameln, ist man gar geneigt zu denken, dass der Anspruch zu einem zeitweiligen Totalverlust an gesundem Menschenverstand führte – womit unklar wird, an wen Kant seinen Appell überhaupt hätte richten müssen: die angeblich „unaufgeklärte“ Volksmasse oder die Bildungselite. Vergleicht man den Umgang mit den Fällen der Wilden Kinder, wie er sich in der populären deutschsprachigen Presse, aber auch einigen der englischen Pamphlete des ersten Drittels des 18. Jahrhunderts vollzieht, mit der wissenschaftlichen Aufarbeitung und theoretischen Verarbeitung der Jahrhundertmitte, glaubt man sich in eine verkehrte Welt versetzt. Denn die skeptischen Standpunkte, die bereits in den 1720er Jahren erreicht worden waren, verlieren sich seit etwa 1750 wieder in dem wissenschaftlichen Bestreben, eine neue, nun endlich empirisch korrekte Sicht auf die Natur und die Rolle des Menschen innerhalb derselben zu entwickeln. In den großen theoretischen Entwürfen der Zeit erschienen die Wilden Kinder nutzbar, und sie wurden konsequent instrumentalisiert. Fraglich ist, ob die Zeitgenossen diesen Mechanismus erkannten, und damit vorsätzlich handelten, oder ob sich ihre Wahrnehmung schlicht den Erwartungen angepasst hatte. So verfällt das 1763 anonym erschienene Philosophical survey of nature einer ganz eigenen Logik: In dem Bestreben, nachzuweisen, dass der Mensch in wildem, unkultivierten Zustand „scarcely superior to the Orangoutang“ sei, wird in einer ausgedehnten Fußnote Peter als Beispiel angeführt. Dieser, in England nach wie vor von einiger Prominenz, zeige eindringlich, wie wichtig die Kultivierung unserer in die Wiege gelegten Anlagen sei. Dann jedoch wird fortgefahren: This story is indeed in a good measure discredited by an anecdote of a gentleman of veracity in an ingenious controversial piece […]. ‘I have some reason, says he, to suspect that the story of Peter’s being found in a wood was an idle tale; a German gentleman, with whom I was well acquainted at Paris, assured me he was nothing more than a poor peasant’s child, born an ideot [!]; and that the marvellous part of the story was invented over a bottle, for a jocular purpose, at the palace of H.’77 76 IMMANUEL KANT, Was ist Aufklärung? [1784], in: DERS., Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hg. v. WILHELM WEISCHEDEL, Frankfurt a. M. 1968, 53–61; hier 53. 77 A philosphical survey of nature: in which the long agitated question concerning human liberty and necessity, is endeavoured to be fully determined From Incontestable Phaenomena, London 1763, 69.
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Die Legende von „Peter the wild boy“ wurde also in feuchtfröhlicher Runde am Hofe Georgs I. zur Belustigung erdacht. Das Wilde Kind, berichtet der Informant im Akkord mit der deutschen Presseberichterstattung, sei nur entlaufener Idiot gewesen. Und so müsste – sollte man denken – die Angelegenheit beendet sein. Von einem solchen Schritt ist der Autor jedoch meilenweit entfernt. Vollkommen bruchlos hebt stattdessen der nächste Satz an: This is perhaps the most probable account of him, but as the generally received relation may be true, the following reasoning deduced from it, will not be the less valid, should even the premises be false.78
Was dann auf fast zwei Seiten folgt, ist das volle Programm: Peter erklettert eichhörnchengleich die Bäume, ist schon in frühester Kindheit in den Busch geraten und so weiter. Folge und Fazit: „he continues to this day a meer orangoutang.“79 Was zu beweisen war. Wie hier mit einem incontestable phenomenon Evidenz erzeugt werden soll, dessen entscheidende Prämisse, nämlich lange Isolation in der Wildnis, vorher explizit als falsch herausgestellt wurde, beeindruckt. Einmalig ist aber nur, wie offen diese Form des Betrugs oder der Selbsttäuschung dargeboten wird – in der Essenz dagegen war das Vorgehen verbreitet. Nur JAMES BOSWELL, Bekannter Dr. Johnsons wie Monboddos, erwähnt ein weiteres, eher methodisches Problem. Erkannt hatte dieses – wieder recht bezeichnend – nicht etwa ein Wissenschaftler, sondern Monboddos langjähriger Page Robertson. Bezüglich Marie-Angélique Le Blancs, die der Lord 1765 in Paris getroffen hatte, findet sich im Journal of a tour to the Hebrides: Robertson said, he did not believe so much as his lordship did; that it was plain to him, the girl confounded what she imagined with what she remembered: that, besides, she perceived Condamine and Lord Monboddo forming theories, and she adapted her story to them.80
Insofern die Wilden Kinder also überhaupt direkt Auskunft geben konnten – und dies ist eigentlich nur bei Marie-Angélique in erwähnenswerter Weise der Fall – konnte man zusätzlich den Fallstricken des observer’s paradox erliegen: Monboddo und Condamine bekamen von ihrem Wilden Mädchen genau das, was sie bekommen wollten. Wo Gespräche nicht möglich waren, also in der überwältigenden Mehrzahl der Fälle, blieb nur allzu oft jegliche Quellenkritik auf der Strecke. Vielmehr bildeten die Fälle in ihrer überaus zerrissenen Gesamtheit einen Fundus, aus dem sich Wissenschaftler und Literaten jeglicher Couleur bedienen konnten: Ein Gemischtwarenladen, den man aufsuchen mochte, um – ganz nach Geschmack – Zuckerstangen oder saure Gurken zu erwerben und von dem man anschließend behauptete, das gesamte Sortiment bestehe nur aus Süßwaren oder Eingelegtem. Dieses Vorgehen konterkariert ohne Frage das eigentlich Angestrebte, nämlich eine objektive Bestandsaufnahme der Realität zu leisten. Spätestens ab 1750 verfestigte sich darüber hinaus wieder eine wissenschaftliche Gepflogenheit, die 78 Ebd., 69 f. 79 Ebd., 70 f. 80 JAMES BOSWELL, The journal of a tour to the Hebrides, with Samuel Johnson, LL.D., Dublin 1785, 117.
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man eigentlich hatte ablegen wollen: Autoritätsglaube. Was Buffon, Rousseau oder Linné vorgedacht hatten, entwickelte schnell eine massive Persistenz. Diese lässt sich – neben der intellektuellen Strahlkraft dieser Figuren – wohl auch dadurch erklären, dass ein guter Teil der Forscher Befürchtungen trug, Detailkritik würde die mühevoll gewonnene wissenschaftliche Neuausrichtung generell in Frage stellen. Erst zögerlich, und mit der erleichternden Erkenntnis, dass etwa Linnés Taxonomie generell tragfähig war und auch nach Korrekturen bleiben würde, wird in den 1770er und 1780er Jahren eine nun aus Differenzierung geborene, abwägende Skepsis wiedergewonnen. Um 1800, zusammenfallend mit dem Ende der Naturgeschichte, wird dieser Gang erneut nachvollzogen: Im Bestreben, eine sich neuerlich im Umbruch befindliche Wissenschaft zu fundamentieren, macht sich wiederum eine Generalisierung der Fälle breit – wobei deren angeblicher Faktengehalt nun auf eine gegenteilige Position gedreht wird. Diese Entwicklung in den Wissenschaften, die den Kindern ein originäres Interesse entgegen brachten, wirkte dann massiv auf andere Sektoren. BOUDIER DE VILLEMERT konnte Damen der Gesellschaft, denen ihr Hang zum Luxus vorgehalten wurde, ein gutes Argument an die Hand geben. Dieser gehöre eben zu echter Weiblichkeit, wie nicht nur die athenischen Frauen und die Wilden Kanadas zeigten: „Paris has seen, under the name of the Little Le Blanc, a savage girl, who, in her fifteenth year, was found in the woods of Canada, to which she had fled on killing another girl, in a quarrel about a necklace.“81 Condamines ohnehin abenteuerliche Interpretation des Falles findet hier eine völlig abstruse Neufassung, ohne dass Villemert dies überhaupt aufzufallen scheint. Im Canto I. des Versepos Hudibras hatte SAMUEL BUTLER gereimt: „For some philosophers of late here / Write men have four legs by nature.“ Die beigegebenen Notes der Ausgabe von 1793 verzeichnen als Erklärung: „Sir Kenelm Digby, in his book of bodies, has the well known story of the wild German boy, who went upon all four, was over grown with hair, and lived among the wild beasts, the credibility and truth of which he endeavours to establish. […] Some modern writers are said to have the same conceit.“82 Digby hatte jedoch keineswegs die Geschichte Peters von Hameln, die im englischen Raum mit der „well known story“ nur gemeint sein konnte, überliefert, sondern die des Lütticher Hans. An keinen der beiden Fälle war jemals herangetragen worden, dass Wölfe eine Rolle gespielt hätten, Körperbehaarung war von Hans, keinesfalls aber Peter überliefert. SUE LAVATER kennt die Schilderungen ihres literarischen Vorbildes Buffon, ergänzt aber: „Bernard Connor, in his Evangelium Medici, has given us the history of a child bread with wolves“ – tatsächlich waren es Bären.83 Aus distinkten Einzelfällen ist spätestens hier ein nicht mehr trennbares Amalgam beachtlicher Härte geworden. So sind die Wilden Kinder einerseits eine Fahne, die sich im Wind der wissenschaftlichen Entwicklung dreht. Andererseits sind sie in vielem jedoch auch, 81 PIERRE-JOSEPH BOUDIER DE VILLEMERT, The ladies friend, from the French of Monsieur de Gravines, London 1766, 83. 82 SAMUEL BUTLER, Hudibras, 3 Bde., London 1793; hier Bd. 3, 192 f. 83 SUE LAVATER & CO., Lavater’s looking-glass; or, essays on the face of animated nature, from man to plants, London 1800, 54.
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und von den Zeitgenossen häufig unbemerkt, erstaunlich statische Phänomene, an denen man geradezu eine longue durée bis ins Mittelalter verweisender Vorstellungsmuster nachweisen kann. Noch Blumenbach sträubten sich die Haare, betrachtete er die „irrigen Sagen“84, die er – nun säuberlich als „Fakten“ gesichert – in den ihm vorliegenden Berichten über Peter wiederfand, etwa dass man den Baum, in dessen Gipfel er gehauset, abhauen müssen um seiner habhaft zu werden; dass er am Leibe rauh behaart gewesen; auf allen Vieren geloffen; auf den Bäumen herumgesprungen wie ein Eichhörnchen; mit vieler Vorsicht die Lockspeise aus den Wolfsfallen zu mausen verstanden habe; in einem eisernen Käfig nach England transportiert worden; binnen neun Monaten am Hofe der Königin habe sprechen gelernt; bey Dr Arbuthnot getauft worden; aber bald darauf gestorben sey u. s. w.85
Die eigentümlich ambivalente Haltung zum Wald und zu den ihn bewohnenden Tieren, die an den Wilden Mann gemahnende Behaarung, die Quadrupedie, die Übernahme tierischen Verhaltens: All das waren Leitmotive, die weit vor die Aufklärung zurückwiesen. Massive Einwände gegen diese geradewegs aus einem anderen Zeitalter zu stammen scheinenden Deutungsfragmente, die der Wissenschaftsbetrieb erst nach 1770 wirklich wieder zu fassen bekam, waren bereits um 1720 formuliert worden – und oft von eben jenen Schichten, die man der besonderen Fürsorge der Aufklärung für bedürftig hielt.86 Die spezifische Methodik und Epistemologie der Naturhistorie, selbst ein Produkt der Aufklärung, beförderte und erhielt, so scheint es, längs durch das 18. Jahrhundert eben das, was sie aufheben wollte, nämlich vormoderne, ja mythische Denk- und Rezeptionsmuster.
84 So der Titel des Kapitels; BLUMENBACH, Beyträge, Zweyter Theil, 27. 85 Ebd., 28. 86 Tatsächlich finden sich die Bedenken Blumenbachs bereits in einer ganzen Reihe von Pressemitteilungen, den längeren Druckschriften und, abgesehen von einigen Rückschlägen wie der Enquiry, selbst den englischen Pamphleten vorformuliert.
EPILOG: WE MAY NEVER SEE IT AGAIN Der Blick auf den Naturzustand des Menschen ist rar, faszinierend, von den unterschiedlichsten Prämissen überformt – und gerade darum vielleicht viel adäquater für Geschichten als für Geschichte.87 So sind die Wilden Kinder ein Forschungsobjekt, das Demut lehrt, denn ihre Nutzung ist so verzweigt, dass man sich wünschte, mit universalgenialischen Fähigkeiten gesegnet zu sein. Vieles in dieser Arbeit musste daher Fragment bleiben. Dies betrifft zum einen die verwertete Datenbasis: Während sich aus der hier vorgenommenen Analyse der Pressequellen bereits ein recht konsistentes Bild ergibt, trifft dies auf die naturhistorische Nutzung der Fälle im deutschen Sprachraum nur sehr begrenzt zu. So schält sich zwar ein ungefährer Verlauf der Entwicklungslinie heraus; es ist jedoch mehr als wahrscheinlich, dass die Auswertung weiterer naturhistorischer Werke eine Revision der Befunde notwendig machen wird. Ohnehin wurde die Untersuchung stark auf die Debatte um den physischen Naturzustand des Menschen fokussiert. Fraglos gleichrangige Aspekte – sei es im pädagogischen, sei es im linguistischen Raum – mussten zur Seite treten. In diesem Sinne blieben auch naturrechtliche Implikationen weitgehend unbeachtet. Noch stärker trifft diese Einsicht auf das 19. Jahrhundert zu, eine bisher praktisch unbeachtete Epoche der Übermittlung und Prägung unseres Bildes von den Wilden Kindern. Denn natürlich überlebten diese nicht nur in Tafels und Raubers Arbeiten; ebenso konnte etwa Zingg auf Wertungen zugreifen, die der britischen Anthropologie des fin de siècle entstammten: Inwiefern sich hier Stränge verflochten, die seit der Entwicklung der Evolutionstheorie von Rauber und Haeckel weiterverfolgt wurden, wie sich das Bild von den Wilden Kindern vor der Folie der Temporalisierung der Menschheitsgeschichte wandelte, bleibt ein Forschungsdesiderat. Gleiches gilt auch für die Frage, ob und welchem der vorgestellten Rezeptionsmuster die Wissenschaften heute folgen. Denn das, was schon Rousseau, Halle, Moscati und Herder umtrieb, nämlich die mögliche Quadrupedität des Menschen, erhielt erst kurz vor Fertigstellung der Arbeit wieder ungeahnte Aktua87 Das Leben Peters bildete tatsächlich schon den Stoff für einen Roman: C. M. TENNANT, Peter the Wild Boy, New York; London 1939. Victor war bereits weit früher zu zweifelhaften Ehren in einem Rührstück gelangt; der einleitende Monolog vermittelt einen ungefähren Eindruck (Victor spricht von sich in der dritten Person): „...toi, malheureux enfant, trouvé dans une forêt; toi, sans parens, sans amis, sans appui sur la terre, tu deviendrois le gendre de l’un des plus riches seigneurs d’Allemagne! ... Non, non Victor, cesse t’abuser; ce bonheur n’est pas fait pour toi. Fuis, malheureux!… fuis des lieux que ta présence ne tarderoit point à troubler.“ R. C. GUILBERT PIXERECOURT, Victor, ou l’enfant de la forêt, drame, en trois actes, en prose et a grand spectacle. [...] Représenté, pour la première fois, sur le théâtre de l’AmbiguComique, le 22 Prairial, an 6, Paris 1798, 4.
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Epilog: We may never see it again
lität – und wurde in einer Form präsentiert, welche die mittlerweile vergangenen Jahrhunderte auf Minuten zu reduzieren scheint. So berichtete die Times unter der Überschrift Both nature und nurture are at work here…we may never see this again über eine türkische Familie, deren Kinder sich – wohl aufgrund eines Gendefektes – vierfüßig fortbewegten. Sie wurden bald zu „‚living fossils’, flesh-andblood genetic throwbacks to an ancestral creature that, millions of years ago, roamed the Earth on all fours, later pulled itself upright and evolved into us.“ Fast schon erwartungsgemäß wurde gleichzeitig auf „rare and controversial reports of babies born with small tails […], and children with excessively hairy faces […]“ verwiesen, während die von der Vierfüßigkeit Betroffenen natürlich auch Sprachschwierigkeiten zeigten und sich in „their own ‚primitive language‘“ verständigten.88 Tetrapus, mutus, hirsutus – Linnés Homo sapiens ferus scheint alle Paradigmenwechsel zu überstehen. So blieb nicht nur die medial verbreitete wissenschaftliche Euphorie kein Jota hinter der des 18. Jahrhunderts zurück; bis in die Wendungen hinein schien sich Bekanntes zu wiederholen. Peters Erscheinung sei „more extraordinary, I think, than the new planet, or than if we were to discover 30,000 more fixed stars“, hatte Monboddo gegen Ende des 18. Jahrhunderts formuliert; 2006 kommt der Evolutionspsychologe NICHOLAS HUMPHREY zu der Feststellung, man sehe hier eine „one in a billion chance […]. It’s not surprising we’ve never seen it before. We may never see it again.“89
88 ANJANA AHUJA, Both nature and nurture are at work here…we may never see this again, in: The Times Online (10. März 2006), URL: http://www.timesonline.co.uk/article/0,,72077727,00.html. 89 Ebd.
7. BIBLIOGRAPHIE 7.1. PRIMÄRQUELLEN 7.1.1. Periodika Erfasst wurden hier nur die als Primärquelle genutzten Periodika des 18. Jahrhunderts. Die Bibliographie ist chronologisch nach den erfassten Fällen, dann alphabetisch nach Zeitschriftentitel und schließlich wieder in chronologischer Folge der Artikel geordnet.
Wildes Mädchen von Zwolle „Breslauer Sammlungen“ (eigentl.: Sammlung von Natur= und Medicin- Wie auch hierzu gehörigen Kunst= und Literatur-Geschichten so sich [...] in Schlesien und andern Ländern begeben; fortges. als Miscellanea physico-medico-mathematica: oder angenehme, curieuse und nützliche Nachrichten von Physical- u. Medicinischen, auch dahin gehörigen Kunst- und LiteraturGeschichten, welche in Teutschland und andern Reichen sich zugetragen haben oder bekannt worden sind) „Artic. III. Von einem vermeyntlich wilden Mägdlein in Holland“, in: Breslauer Sammlungen, III. Versuch (Jan. 1718), 546–550 „Artic. 14. Von einem Weibs=Bilde, so man betrüglicher Weise für ein wildes [!] Mensch ausgegeben, in: Breslauer Sammlungen, XXI. Versuch (August 1722), 209–210 „Artic. 10. Special-Relation von dem vermeynten wilden Mägdlein in Holland“, in: Breslauer Sammlungen, XXII. Versuch (Oct. 1722), 437–444
Peter von Hameln „Breslauer Sammlungen“ „7. Wilder Knabe.“, in: Breslauer Sammlungen, XXXVI. Versuch (Aprilis 1726), 506–507 „5. Von dem Hamelischen wilden Jungen“, in: Breslauer Sammlungen, XXXVIII. Versuch (December 1726), 689 „6. Wilder Junge.“, in: Breslauer Sammlungen, XL. Versuch (Junius 1727), 373 „Artic. 10. Ausführliche Nachricht von dem Hamelischen wilden Jungen.“, in: Breslauer Sammlungen, vierdtes Supplement, Erfurt 1729, 69–78 Europäische Zeitung (Graz) „Ein anders auß Hamburg / von dem 25. December“, in: Europäische Zeitung, 5 (15. Jan. 1726), o. P. „Auß Hanover / vom 31. December“, in: Europäische Zeitung, 9 (29. Jan. 1726), o. P. „Auß Hamburg vom 12. Januarii“, in: Europäische Zeitung, 11 (5. Febr. 1726), o. P. „Auß Hannover von dem 14. April“, in: Europäische Zeitung, 36 (4. Maj 1726), o. P. „Auß Londen vom 9. Julij“, in: Europäische Zeitung, 64 (10. Aug. 1726), o. P.
480
7. Bibliographie
Extract derer Nouvellen über das Jahr [...] O. T. („Die neuesten Briefe aus Londen sind vom 16. dieses [...]“), in: Extract derer Nouvellen über das Jahr 1726, o. Nr. (26. April 1726), 66 O. T. („Ubrigens wird auch noch aus Londen gemeldet [...]“), in: Extract derer Nouvellen über das Jahr 1726, o. Nr. (3. Maji 1726), 70–71 O. T. („Wie die neuesten Nachrichten aus Londen geben [...]“), in: Extract derer Nouvellen über das Jahr 1726, o. Nr. (19. Julii 1726), 114 Hamburgischer Correspondent (auch u. d. T. Hamburgischer unpartheyischer Correspondent / Staats= u. Gelehrte Zeitung Des Hollsteinischen Correspondenten) „Hannover, den 24. Dec.“, in: Hamburgischer Correspondent, I. Stück (1726), o. P. „Hannover, den 12. Jan.“, in: Hamburgischer Correspondent, XII. Stück (1726), o. P. „Göttingen, den 28. Febr.”, in: Hamburgischer Correspondent, XL. Stück (1726), o. P. „Hannover, den 4. April.“, in: Hamburgischer Correspondent, LVIII. Stück (1726), o. P. „Verfolg der am Mittwochen abgebrochenen Beschreibung des bey Hameln gefundenen wilden Knabens“, in: Hamburgischer Correspondent, LIX. Stück (1726), o. P. „Verfolg der am Mittwochen abgebrochenen Beschreibung des bey Hameln gefundenen wilden Knabens“, in: Hamburgischer Correspondent, LX. Stück (1726), o. P. Hamburgische Addreß=Comtoir=Nachrichten „Auszug aus einer Nachricht von dem bey Hameln gefundnen wilden Knaben“, in: Hamburgische Addreß=Comtoir=Nachrichten, 9. Stück (31. Januar 1767), 65–66 Hildesheimer Relations Courier, Sambstagische „Londen, vom 29. Julii“, in: Hildesheimer Relations Courier, 31 (10. August 1726), 243–244 „Londen, vom 13. Junii“, in: Hildesheimer Relations Courier, 24 (21. Juni 1727), o. P. Historischer Kern, oder sogenandter kurtzen Chronica Sechsten Theils, Zweites Stück. Worinnen alle Staats=, Kriegs= und Friedens=Geschichte, wie auch andere sonderbahre und merckwürdige Begebenheiten, welche sich von Ao. 1725. bis 1729. inclusive, und also in 5 nacheinander folgenden Jahren, in allen Theilen der Welt, vornehmlich aber in Europa zugetragen haben, kurtz, doch deutlich, vorgestellet werden. Die nöthigen Dokumenten und Beylagen erläutert, imgleichen mit Kupferstichen gezierte, und mit einem Alphabetischen Register versehen, Hamburg 1730 „Historischer Kern, oder kurtze Chronica derer merckwürdigen Begebenheiten des Jahrs 1726: Januarius“, in: Historischer Kern [...], 40–46 Leipziger Zeitungen (Neue Zeitungen von gelehrten Sachen: auf das Jahr [...], Leipzig) „Hannover.“, in: Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen, Bd. XI, CIV (Dezember 1725), 1014 „Goettingen.“, in: Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen, Bd. XII, XVII (Februar 1726), 165– 66 „Londen.“, in: Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen, Bd. VII, LXI (August 1726), 601 „Londen.“, in: Leipziger Zeitungen von gelehrten Sachen, Bd. XII, LXXXVIII (November 1726), 872–873
7.1. Primärquellen
481
Neu=eröffnetes Welt= und Staats=Theatrum, Welches Die in allen Theilen der Welt, sonderlich aber in Evropa vorfallende Staats=, Kriegs= und Friedens=Affairen, wie auch andere merckwürdige Begebenheiten, in einem deutlichen Auszuge vorstellet, Und zugleich Dieselben mit gehörigen Dokumenten und beygefügten Anmerckungen aus der Historie, Genealogie, Geographie, u. d. gl. hinlänglich erläutert „Copia, eines von einer glaubwürdigen Person aus Hameln an einen guten Freund abgefasseten Schreibens und dazu gehörigen zuverlässigen Nachricht, Von dem bey Hameln in dem Felde gefundenen Wilden Knaben, dessen eigentliche Gestalt, Beschaffenheit, Aufführung und andere bey seiner Arrestirung merckwürdige Umstände betreffend“, in: Neu=eröffnetes Welt und Staats=Theatrum […], Siebzehende Eröffnung, Erfurt 1726, 285–299 Relation curieuse Des choses les plus remarquables, arrivés en Europe depuis le […] „Homme Sauvage pris dans la forêt de Hamelen.“, in: Relation curieuse Des choses les plus remarquables [...] depuis le Mois de Septembre 1725. jusque à présent, Vingtième Suite (1725), 105 „Mort d’un Garçon sauvage.“, in: Relation curieuse Des choses les plus remarquables [...] depuis le Mois de Septembre 1726. jusque à présent, Vingt-unième Suite (1726), 215 Schlesischer Nouvellen Courier „Ausm [!] Holsteinischen den 4. Januarii“, in: Schlesischer Nouvellen Courier, 7 (17. Januar 1726), o. P. „Aus Groß=Britannien“, in: Schlesischer Nouvellen Courier, 70 (2. Mai 1726), o. P. „Aus Groß=Britannien“, in: Schlesischer Nouvellen Courier, 118 (25. Julii 1726), o. P. Der Teutsche Merkur „IV. Von Peter dem Wilden Knaben. Auszug aus dem Kirchenbuch von North=Church, in der Grafschaft Hertford“, in: Der teutsche Merkur, Erstes Vierteljahr (1786), 82–85 Vossische Zeitung „Hannover, den 15. Decembr.“, in: Vossische Zeitung, o. Nr. (29. Dezember 1725), o. P. „Londen, vom 16. Januar“, in: Vossische Zeitung, 16 (1767), zit. n.: KLAUS VÖLKER (Hrsg.), Werwölfe und andere Tiermenschen, Frankfurt 1994, 353 Wienerisches Diarium „Hamburg 25. December.“, in: Wienerisches Diarium, 2 (5. Januar 1726), o. P. „Göttingen / eine Chur=Hannoverische Stadt zu 27. Februarii.“, in: Wienerisches Diarium, 23 (20. März 1726), o. P. „Hanover 31. December.“, in: Wienerisches Diarium, 6 (19. Januar 1726), o. P. „Hamburg 12. Januarii.“, in: Wienerisches Diarium, 8 (26. Januar 1726), o. P. Wöchentliche Relation „Groß=Britannien“, in: Wöchentliche Relation, XXXII (9. August 1727), 128
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7. Bibliographie
Wildes Mädchen von Songi Frankfurter Oberpostamts Zeitung „Paris, vom 12. Oct.“, in: Frankfurter Oberpostamts Zeitung, o. Nr. (20. November 1731), o.P. „Paris, vom 3. Dec.“, in: Frankfurter Oberpostamts Zeitung, o. Nr. (14. Dezember 1731), o. P. Europäische Zeitung (Graz) „Auß Paris / vom 4. November“, in: Europäische Zeitung, 96 (1. Dez. 1731), o. P. „Auß Paris / vom 19. November“, in: Europäische Zeitung, 100 (15. Dez. 1731), o. P. „Auß Paris / vom 23. November“, in: Europäische Zeitung, 102 (22. Dez. 1731), o. P. Kurtz gefaßte Historische Nachrichten „IV. Naturalia“, in: Kurtz gefaßte Historische Nachrichten, 47. Stück (1731), 750–751 „IV. Naturalia“, in: Kurtz gefaßte Historische Nachrichten, 50. Stück (1731), 798–799 Wöchentliche Relation „Franckreich“, in: Wöchentliche Relation, XLIX (8. Dez. 1731), 155–156
Sonstiges „Breslauer Sammlungen“ „Von der Wölffe Grausamkeit, und von Lycanthropis, Wahr= oder Bär=Wölffen, zugleich von Nattern in Wolfes=Hertzen“, in: Breslauer Sammlungen, XVIII. Versuch (October 1721), 390–397 „Artic. 10. Von einem Mägdlein, das auf der Erden auf einem vegetabilischen Stengel soll gewachsen seyn.“, in: Breslauer Sammlungen, XXXIV. Versuch (October 1725), 455–458 Die vernünfftigen Tadlerinnen „Den 15 Merz 1726.“, in: Die vernünfftigen Tadlerinnen, Zehntes Stück (1726), 92–94 Deutsche Acta Eruditorum Oder Geschichte der Gelehrten, Welche den gegenwärtigen Zustand der Literatur in Europa begreiffen O. T. („Der Herr Verfasser führet beyläuffig an, daß sich ehemals ein Italien ein boßhafter Mensch mit einer Kuh vermischet [...]“), in: Deutsche Acta Eruditorum, Th. 157, Leipzig 1731, 16–18
7.1.2. Archivalia Stadtkämmerei Hameln, Ausgaben Inßgemein, 1724–1725, StA Hameln HEINRICH REDECKER, Historische Collectanea von der Königl.n und Churfürstl.n Residentz-Stadt Hannover/ auch umher liegenden ur-alten Grafschaften Lauenrode, Wunsdorff und Burgwedel. am 8. Julii, An. 1723 angefangen, StA Hannover, NAB Nr 8287 / 8288
7.1. Primärquellen
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7.1.3. Sonstige Druckquellen ALLÉON DULAC, JEAN LOUIS, Mélanges d’histoire naturelle, 6 Bde., Lyon 1763–1765 Allgemeine Historie der Reisen zu Wasser und Lande: oder Sammlung aller Reisebeschreibungen, welche bis itzo in verschiedenen Sprachen von allen Völkern herausgegeben worden [...] u. [...] aus dem Englischen übersetzt, 21 Bde., Leipzig 1748–1774 AQUINO, THOMAS V., Thomae Aquinatis Summa Theologiae. Cura et studio Sac. Petrus Caramello. Cum textu ex recensione Leonina, Pars Prima Secundae, Taurini u. a. 1952 ARBUTHNOT, JOHN u. a., Memoirs of the extraordinary life, works, and discoveries of Martinus Scriblerus/ written in collaboration by the members of the Scriblerus Club [1741], hrsg. v. CHARLES KERBY-MILLER, New York; Oxford 1988 ARISTOTELES, Wesens-Erkundung, in: DERS., Kleine Schriften zur Naturgeschichte, Paderborn 1961, 82–108 ARMSTRONG, MOSTYN JOHN, History and antiquities of the county of Norfolk, Vol. 10, Norwich 1781 Atlas geographus: or, a compleat system of geography, ancient and modern. Containing what is of most use in Bleau, Verenius, Cellarius, Cluverius, Baudrand, Brietius, Sanson, &c. With the discoveries and improvements of the best modern authors to this time [...], 5 Bde., [London] 1711–1717 At Mrs. Salmon’s Royal Wax-Work, (No. 189, in Fleet-Street), London [1763] AUE, HARTMANN V., Iwein, aus dem Mittelhochdeutschen übertragen von MAX WEHRLI, zweisprachige Ausgabe, Zürich 1988 Ausführliches Leben und besondere Schiksale eines wilden Knaben von zwölf Jahren der zu Barra einer Schottländischen Insel von zweyen berühmten Aerzten gefangen und auferzogen worden, Frankfurt; Leipzig 1759 BASEDOW, JOHANN BERNHARD, Philalethie. Neue Aussichten in die Wahrheiten und Religion der Vernunft bis in die Gränzen der glaubwürdigen Offenbarung dem denkenden Publico eröffnet [...], 2 Bde., Altona 1764 BICKHAM, GEORGE, Deliciæ Britannicæ; or, the curiosities of Kensington, Hampton Court, and Windsor Castle, delineated [...], London 21755 BLUMENBACH, JOHANN FRIEDRICH, De generis hvmani varietate nativa liber [1775], Goettingae 1776 —, Ueber den Bildungstrieb (Nisus formativus) und seinen Einfluß auf die Generation und Reproduction, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, 1. Jg., 5.St. (1780), 247–266 —, Handbuch der Naturgeschichte, Göttingen 1779 —, Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte, Göttingen 1781 —, Einige zerstreute Bemerkungen über die Fähigkeiten und Sitten der Wilden, in: Göttingisches Magazin der Wissenschaften und Litteratur, 2. Jg., 6. St. (1782), 409–425 —, Über Menschen-Racen und Schweine-Racen, in: Magazin für das Neueste aus der Physik und Naturgeschichte, 6. Bd., 1. St. (1789), 1–13 —, Über Künsteleyen oder zufällige Verstümmelungen am thierischen Körper, die mit der Zeit zum erblichen Schlag ausgeartet, in: Magazin für das Neueste aus Physik und Naturgeschichte, 6. Bd., 1. St. (1789), 13–23 —, Beyträge zur Naturgeschichte, 2 Bde., Göttingen 1790–1811 —, Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte, übers. v. JOHANN G. GRUBER nach der 3. Ausgabe von 1795, Leipzig 1798 —, Beyträge zur Naturgeschichte, Zweyter Theil: Vom HOMO sapiens ferus LINN. und namentlich vom Hamelschen wilden Peter, Göttingen 21811 [tatsächl. wahrsch. 1. Auflage] —, Handbuch der Naturgeschichte, Göttingen 121830
484
7. Bibliographie
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7.1. Primärquellen
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Aloys Winterling
Historische Anthropologie Immer mehr menschliche Gegebenheiten, die lange Zeit für „natürlich“ und invariant gehalten wurden, haben sich in den letzten Jahrzehnten als kontingent, als so und auch anders möglich herausgestellt. Man denke nur an den Wandel von Geschlechterrollen oder an die medizinischen Möglichkeiten, den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens zu beeinflussen. Historische Anthropologie interessiert sich in dieser Situation für die Menschen vergangener Zeiten – für Basistexte Geschichte – Band 1 301 Seiten. Kart. ¤ 28,– ISBN 978-3-515-08905-0
ihre Körperlichkeit, ihre Psyche, ihre gesellschaftlichen Beziehungen, ihren Alltag und die kulturellen Muster, mit denen sie ihre Zeit deuteten. Die vorliegende Auswahl von Basistexten zur Historischen Anthropologie dient drei Zielen: Sie stellt die unterschiedlichen begrifflichen und theoretischen Prämissen der wichtigsten Konzeptionen von Historischer Anthropologie vor. Sie schafft dadurch größere Klarheit für künftige Forschung. Sie bietet eine praktische Zusammenstellung zentraler Texte für die akademische Lehre.
Franz Steiner Verlag
Geschichte Postfach 101061, 70009 Stuttgart www.steiner-verlag.de [email protected]
Dirk Preuß / Uwe Hoßfeld / Olaf Breidbach (Hg.)
Anthropologie nach Haeckel
Wissenschaftskultur um 1900 – Band 3 256 Seiten mit 50 Abbildungen. Kart. ¤ 46,– ISBN 978-3-515-08902-9
Der Jenaer Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919) hat mit seinem wissenschaftlichen Werk nicht nur für die Biologieund Universitätsgeschichte, sondern auch für die Geschichte der Anthropologie des 19. und 20. Jahrhunderts zentrale Bedeutung erlangt. Mit Haeckel konstituiert sich eine evolutionär verstandene biologische Anthropologie, die in ihrer Konzeption dann auch weltanschaulich ausholt. Diesen Ansatz einer gegen die philosophische Tradition formulierten biologischen Anthropologie führt sich bis ins 20. Jahrhundert fort, wird im Kontext der „Deutschen Biologie“ nach 1933 vollends ideologisiert und führt nach 1945 zur Marginalisierung des Faches. Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes beleuchten exemplarisch wesentliche Stadien dieser Geschichte der Anthropologie nach Haeckel.
Franz Steiner Verlag
Wissenschaftsgeschichte Postfach 101061, 70009 Stuttgart www.steiner-verlag.de [email protected]
Uwe Hoßfeld
Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland Von den Anfängen bis in die Nachkriegszeit
Wissenschaftskultur um 1900 – Band 2 504 Seiten mit 31 Abbildungen. Kart. E 58,– ISBN 3-515-08563-7
Es wird erstmals die Geschichte der biologischen Anthropologie in Deutschland beschrieben. Der zeitliche Rahmen ist vom ersten Treffen deutscher Anthropologen 1861 in Göttingen bis in die Nachkriegszeit gesteckt. Neben einer Gesamtperspektive wird ebenso aufgezeigt, in welcher Weise dabei die Universität Jena über den Zoologen E. Haeckel hinaus für die Etablierung des Faches im deutschen Sprachraum unter verschiedenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bedeutsam war und inwieweit sich in der Konturierung der biologischen Anthropologie nach 1900 bereits die weitere Entwicklung des Faches im Dritten Reich abzeichnete. Das Buch führt im Schlußkapitel über den Nationalsozialismus hinaus bis hin zur Darstellung der Rezeption der so genannten „zweiten darwinschen Revolution“ (Synthetischer Darwinismus).
Franz Steiner Verlag
Wissenschaftsgeschichte Postfach 101061, 70009 Stuttgart www.steiner-verlag.de [email protected]