Fragilität der Existenz: Phänomenologische Studien zur Natur des Menschen 9783495860410, 9783495484944


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Inhalt
Einleitung
I. Guy van Kerckhoven: Facetten der Existenz. Phänomenologische Mikrologien
In Verlegenheit geraten. Die Befangenheit des Menschen als existentielle Affektion
1. Hans Lipps' Frage nach dem Menschen
2. Der Zwiespalt der Verlegenheit
3. Zerbrechliche Einheit im Zwielicht. Der Ausdruck der Verlegenheit
4. Die Befangenheit des Menschen
Die Zerbrechlichkeit des Menschen. Zur Textur des Schamphänomens
1. Die Wache der Scham
2. Das Schaltbrett der Scham
3. Der existentielle Spalt
4. Auch-Sein
5. Die Grundsituation des Menschen
Grenzfälle der Schaltung. Leiblichkeit und manische »Ideenflucht«
1. Affekt-Ich und Affekt-Welt
2. Zu-Mute-Sein und Mitgenommen-Werden.
3. Die Wonne der Zerstreuung und der Raub der Angst
4. Sperrung: die Platzangst
5. Verschüttung: schematische Rudimente
6. Kurze Verbindungen und Abspältiges
Stachel des Daseins. Formen spezifischer Nichtmächtigkeit des Menschen
1. Ausbrüche der Angst: das Treibhaus der Phobien
2. Ausbiegungen der Angst: die Salvation der Pedanterie
3. Verkrüppelung des Menschen: die Wurzel des Geizes
4. Verstellte Angst: die Ausschließlichkeit der Eifersucht
Ferne und Fremde. Wandlung von Existenz
1. Im Abgründigen Stehen
2. Wandlung von Existenz.
3. Der freie Horizont
4. Schattierungen des Ungewissen
Das Gespann der Intention. Der Haß
1. Gerichtetheit und Gedanke
2. Der »typische Gang« des Hasses
3. Befeindung
4. Tinktionen
Schritte zu sich selbst. »Unverkürzte Wirklichkeit« des Menschen
1. »Ergriffenheit«: der philosophische Affekt
2. Angriffspunkte des »Bewußtseins«
3. Die Mitte der eigentlichen Situation
4. Trübung, Verlust, Verschüttung, Dämmerung und Emphase
Bibliographischer Nachweis
II. Hans Lipps: Das erste Psychologie-Manuskript: Die menschliche Natur (1938)
Lipps, Hans: Vorform MS Die menschliche Natur
1. (Verlegenheit und Haltung)
2. (Schüchternheit)
3. (Verlegenheit durch das Verhalten der Andern)
4. (Scham)
5. (Maske)
6. (Blöße)
7. (Nacktheit)
8. (Schamlosigkeit, Prüderie)
9. (m. Bleist.) Tabu
10. (Selbstbewußtsein)
11. (Unterbewußtsein)
12. (Reflexivität des Bewußtseins)
13. (Eindruck und Empfinden)
Zusatz
14. (Modalitäten des Empfindens)
15. (Stimmung und Ideenflucht)
16. (Affekte)
17. (Haß)
18. (Angst)
a. (Platzangst)
b. (Zwangsvorstellungen)
c. (Pedanterie)
Zusatz.
d. (Geiz)
e. (Eifersucht)
19. (Erlebnis)
a. (Zeuge)
b. (»Geschichte«)
c. (Lebenserfahrung)
Zusatz.
d. (Begegnis)
e. (Abenteuer)
f. (Spieler, Sensation usw.)
(oben am Bl., m. Bleist.:)Nachträge?
(Lebendiges)
(Begreifen)
(Charakter)
(I.)
II.
Zusatz.
Reflexion
(Traum)
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Fragilität der Existenz: Phänomenologische Studien zur Natur des Menschen
 9783495860410, 9783495484944

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Guy van Kerckhoven Hans Lipps

Fragilitt der Existenz Phnomenologische Studien zur Natur des Menschen

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495860410

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B

Guy van Kerckhoven / Hans Lipps Fragilität der Existenz

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

»Es ist wie wenn man von verschiedenen Seiten in einen Heuhaufen hineinsticht.« Mit diesen Worten charakterisierte Hans Lipps seine letzte Schrift: Die menschliche Natur (1941). Noch im Jahre 1989 stellte O. F. Bollnow fest, daß »sie bisher völlig unbeachtet geblieben sei«. Wie dereinst Descartes den Versuch unternahm, »die Leidenschaften der Seele« gewissermaßen zu sezieren, so unterzog der Mediziner Lipps die menschlichen Grundsituationen – vor allem solche, die von Scham und Angst bestimmt sind – einer minutiösen »mikrologischen« Untersuchung. Weder kritisch-entlarvend wie die französischen Moralisten noch – wie Kant – »in pragmatischer Hinsicht« darauf achtend, was der Mensch als frei handelndes Wesen aus sich selbst macht, sind es die »Einstellungen, Haltungen von Existenz« in denen der Mensch Fassung gewinnt, die Lipps in konzentrierter Form analysiert. Lipps’ »Psychologie-Manuskript« (1938) wird in diesem Buch erstmals veröffentlicht.

Die Autoren Guy van Kerckhoven ist seit 1997 Professor für Philosophie an der Universität Leuven. Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. zu Wilhelm Dilthey, Edmund Husserl und Eugen Fink. Hans Lipps (1889–1941) gehörte zum Göttinger Kreis um Husserl. Nach dem Studium der Philosophie und der Medizin habilitierte er sich 1921 mit »Untersuchungen zur Philosophie der Mathematik«. 1928 wurde er Professor für Philosophie in Göttingen, 1936 in Frankfurt am Main. Als Arzt wurde er 1939 zur Wehrmacht eingezogen. 1941 fiel er in Russland.

https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Guy van Kerckhoven Hans Lipps

Fragilität der Existenz Phänomenologische Studien zur Natur des Menschen

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2011 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise GmbH, Trier ISBN (Buch) 978-3-495-48494-4 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-86041-0

https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

»Auf verschiedenen Ebenen, in verschiedener Richtung, in verschiedener Weise kommt Existenz auf sich zu.« H. Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik. Werke Bd. II. Hrsg. von Evamaria von Busse. V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1976, S. 59.

https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I.

11

Guy van Kerckhoven, Facetten der Existenz. Phänomenologische Mikrologien

In Verlegenheit geraten. Die Befangenheit des Menschen als existentielle Affektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 26

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

31 42

Die Zerbrechlichkeit des Menschen. Zur Textur des Schamphänomens . . . . . . . . . . . . . . . .

47

1. 2. 3. 4.

Hans Lipps’ Frage nach dem Menschen Der Zwiespalt der Verlegenheit . . . . Zerbrechliche Einheit im Zwielicht. Der Ausdruck der Verlegenheit . . . . Die Befangenheit des Menschen . . . .

. . . . .

47 49 54 58 65

Grenzfälle der Schaltung. Leiblichkeit und manische »Ideenflucht« . . . . . . . . . . . . .

69

Affekt-Ich und Affekt-Welt . . . . . . . . . . . . . Zu-Mute-Sein und Mitgenommen-Werden . . . . . Die Wonne der Zerstreuung und der Raub der Angst Sperrung: die Platzangst . . . . . . . . . . . . . . .

69 72 75 77

1. 2. 3. 4. 5.

1. 2. 3. 4.

Die Wache der Scham . . . . . . Das Schaltbrett der Scham . . . . Der existentielle Spalt . . . . . . Auch-Sein . . . . . . . . . . . . Die Grundsituation des Menschen

. . . . .

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7 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Inhalt

Verschüttung: schematische Rudimente . . . . . . . . . . Kurze Verbindungen und Abspältiges . . . . . . . . . . .

81 87

Stachel des Daseins. Formen spezifischer Nichtmächtigkeit des Menschen . . . . . . .

95

5. 6.

1. 2. 3. 4.

Ausbrüche der Angst: das Treibhaus der Phobien . . Ausbiegungen der Angst: die Salvation des Pedanten Verkrüppelung des Menschen: die Wurzel des Geizes Verstellte Angst: die Ausschließlichkeit der Eifersucht

Im Abgründigen Stehen . . . . Wandlung von Existenz . . . . Der freie Horizont . . . . . . . Schattierungen des Ungewissen

Das Gespann der Intention. Der Haß

. . . .

. 95 . 101 . 109 . 112

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117 123 129 134

. . . . . . . . . . . . . . 138 . . . .

138 146 159 166

Schritte zu sich selbst. »Unverkürzte Wirklichkeit« des Menschen .

170

»Ergriffenheit«: der philosophische Affekt . . . . . . . . . Angriffspunkte des »Bewußtseins« . . . . . . . . . . . . Die Mitte der eigentlichen Situation . . . . . . . . . . . . Trübung, Verlust, Verschüttung, Dämmerung und Emphase

171 173 183 193

Bibliographischer Nachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

1. 2. 3. 4.

1. 2. 3. 4.

Gerichtetheit und Gedanke . . Der »typische Gang« des Hasses Befeindung . . . . . . . . . . Tinktionen . . . . . . . . . .

. . . .

. . . .

. . . . . . . . . . . 117

Ferne und Fremde. Wandlung von Existenz 1. 2. 3. 4.

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8 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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Inhalt

II. Hans Lipps, Das erste Psychologie-Manuskript: Die menschliche Natur Verlegenheit und Haltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

201

Schüchternheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

208

Verlegenheit durch das Verhalten der Andern Scham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . . . . Blöße . . . . . . . . . . . . . Nacktheit . . . . . . . . . . . Schamlosigkeit. Prüderie . . . Tabu . . . . . . . . . . . . . Selbstbewußtsein . . . . . . . Unterbewußtsein . . . . . . . Reflexivität des Bewußtseins . Eindruck und Empfinden . . . Modalitäten des Empfindens . Stimmung und Ideenflucht . . Affekte . . . . . . . . . . . . Haß . . . . . . . . . . . . . Angst . . . . . . . . . . . . Platzangst . . . . . . . . Zwangsvorstellungen . . Pedanterie . . . . . . . . Geiz . . . . . . . . . . . Eifersucht . . . . . . . . Erlebnis . . . . . . . . . . . Zeuge . . . . . . . . . . »Geschichte« . . . . . . Lebenserfahrung . . . . Begegnis . . . . . . . . Abenteurer . . . . . . . Spieler, Sensation usw. . Maske

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208 210 213 214 219 221 224 230 237 243 245 256 258 261 264 268 268 270 271 274 276 278 279 280 281 283 286 290

9 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Inhalt

Nachträge . . . hLebendigesi hBegreifeni . hCharakteri hReflexioni . hTraumi . .

. . . . . .

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10 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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294 294 295 296 320 323

Einleitung

»Wenn ein Werck mehrere Veranlassungen, mehrere Bedeutungen, mehrfaches Interesse, mehrere Seiten überhaupt – mehrere Arten verstanden und geliebt zu werden hat, so ist es gewiß höchst interessant – ein ächter Ausfluß der Persönlichkeit.« 1

Ein solches Werk ist zweifelsohne Hans Lipps’ letzte und schönste Schrift: »Die menschliche Natur«. Sie erschien im Jahre 1941 als Band 8 der Frankfurter Wissenschaftlichen Beiträge beim Verlag V. Klostermann in Frankfurt am Main mit der lapidaren Vorbemerkung: »Kurz nach Vollendung dieses Buches, am 10. September 1941, ist Hans Lipps in Rußland gefallen«. Von Anfang an lag der Schatten eines tragischen Schicksals auf einer Schrift, die wie kaum eine andere unmittelbarer Ausfluß der unverwechselbaren philosophischen Persönlichkeit von Hans Lipps war. Daß er immer länger wurde, hat O. F. Bollnow nüchtern festgestellt: »Während Hans Lipps mit seinen Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik seit langem Beachtung gefunden hat, ist seine philosophische Anthropologie, die er in seinem letzten Buch Die menschliche Natur zusammengefaßt hat, bisher völlig unbeachtet geblieben«. 2 Das vielseitige Forschungsinteresse, das inzwischen auch der Novalis, Teplitzer Fragmente (1798), in: Schriften Bd. II. Das philosophisch-theoretische Werk. Hrsg. von H.-J. Mähl, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1999, Nr. 401, S. 399. 2 O. F. Bollnow, Hans Lipps: Die menschliche Natur, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Bd. 6 (1989), Göttingen 1989, S. 99. – Zu H. Lipps’ sprachphilosophischen Untersuchungen im Rahmen einer hermeneutischen Logik, vgl.: O. F. Bollnow, Problem der philosophischen Anthropologie. Hans Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache, in: Die Sammlung 1 (1946), S. 689–699; jetzt in: Studien zur Hermeneutik Bd. II. Freiburg/München 1983, S. 251–267; ders., Rezension von: H. Lipps, Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik, in: Die Literatur, 40 Jg. (1937/38), S. 508; ders., Zum Begriff der hermeneutischen Logik, in: Argumentationen. Festschrift für J. König. Hrsg. von H. Delius und G. Patzig, Göttingen 1964, 1

11 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Einleitung

Ethik im Werk von Hans Lipps, seiner Erkenntnisphänomenologie, seiner Auseinandersetzung mit Goethes naturwissenschaftlichen Schriften zugewandt wurde, die Klärung der inneren Bezüge, die Hans Lipps mit der Phänomenologie E. Husserls, A. Reinachs und M. Heideggers verbanden, haben ihn bis auf heute nicht zu vertreiben vermocht. 3 AuS. 20–42; jetzt in: ders., Studien zur Hermeneutik Bd. II (1983), S. 13–18 und S. 268– 286; K. H. Geissner, Der Mensch und die Sprache. Frankfurt a. M. 1955; J. Hennigfeld, Der Mensch und seine Sprache. Aspekte der Phänomenologie bei H. Lipps, in: Philosophische Rundschau Bd. 32 (1985), S. 104–111; F. Hogemann, Copula und ›sein‹ in dem sprachkritischen Ansatz von H. Lipps, in: A. Gethmann-Siefert (Hrsg.), Philosophie und Poesie. O. Pöggeler zum 60. Geburtstag. Bd. I. Stuttgart/Bad Cannstatt 1988, S. 141– 155; A. W. E. Hübner, Existenz und Sprache. Überlegungen zur hermeneutischen Sprachauffassung von M. Heidegger und H. Lipps. Berlin 2001; K. Meyer-Drawe, Das Wort als Antwort auf die Dinge. Lipps und Merleau-Ponty zur Kreativität von Sprache, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 6 (1989), S. 127–140; J. W. Owens, ›Bedeutung‹ bei Hans Lipps, München 1987; F. Rodi, Die energetische Bedeutungslehre von H. Lipps, in: Journal of the Faculty of Letters, The University of Tokyo. Aesthetics Vol. 17 (1992), S. 1–12; ders., Hermeneutische Logik im Umfeld der Phänomenologie: G. Misch, H. Lipps, G. Spet, in: ders., Erkenntnis des Erkannten. Zur Hermeneutik des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1990, S. 147–167; G. Roglev, Die hermeneutische Logik von Hans Lipps und die Begründbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis. Augsburg 1998; E. Scheiffele, Der Begriff der hermeneutischen Logik bei H. Lipps. Tübingen 1971; W. von der Weppen, Die existenzielle Situation und die Rede. Untersuchungen zur Logik und Sprache in der existentiellen Hermeneutik von H. Lipps. Würzburg/Amsterdam 1984. Weiterhin: G. Bräuer, L. Wittgenstein und H. Lipps, in: Kleine Festschrift zum 60. Geburtstag von O. F. Bollnow, Lippstadt i. W. 1963; ders., Wege in die Sprache. L. Wittgenstein und H. Lipps, in: Bildung und Erziehung. Monatsschrift f. Pädagogik 16 Jg. (1963), S. 131– 140; G. Buck, Lernen und Erfahrung. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1967, insbes. S. 122– 131. 3 Zur Ethik von Hans Lipps, vgl.: L. Mues de Schrenck, Das Problem der Ethik im Werk von H. Lipps. Tübingen 1962; – zur Erkenntnisphänomenologie, vgl.: J. König, Rezension von H. Lipps, Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis, in: Deutsche Literaturzeitung N.F. 6. Jg. (1929), S. 891–895; cfr. ders., über Hans Lipps’ Phänomenologie der Erkenntnis, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 6 (1989) S. 223–227; insbes.: M. Wewel, Die Konstitution des transzendenten Etwas im Vollzug des Sehens. Mainz 1968. – Zu H. Lipps’ philosophischem Verhältnis zu Goethes naturwissenschaftlichen Schriften, vgl. O. F. Bollnow, Hans Lipps über Goethes naturwissenschaftliche Schriften. Ins Japanische übersetzt von T. Ashizu, in: Morphologia Heft 4 (1982), S. 50–59; F. Kümmel, Zur Rezeption von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften bei G. Misch, J. König und H. Lipps, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 12 (1999/2000), S. 225–238; E. Scheiffele, »Sehen ist eine Interpretation der Dinge«. Goethes Naturwissenschaft in der Sicht von Hans Lipps, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 6 (1989), S. 141–162. – Zu H. Lipps’ vielseitigem Verhältnis zur Phänomenologie, vgl.: H.-G. Gadamer, Vorwort, in: H. Lipps, Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis. Werke Bd. I. Frankfurt a. M. 1976, S. VII-XI; W. Herbstrith, Hans Lipps im Blick E. Steins, in: Dil-

12 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Einleitung

ßer O. F. Bollnow und Evamaria von Busse kam auch J. Hennigfeld Hans Lipps’ letzter Schrift näher. 4 Doch wurde aus der Berührung keine Betroffenheit. Am hartnäckigsten rang O. F. Bollnow damit, den Verstrickungen, in denen Hans Lipps den Leser verwickelte, zu entfliehen, der Verzweiflung, »wie weit sich das von verschiedenen Seiten Angesprochene zusammenfügt«, Herr zu werden. 5 »Es ist«, gestand Hans Lipps selber, »wie wenn man von verschiedenen Seiten in einen Heuhaufen hineinsticht«. 6 Das »mosaikartige« »Nebeneinander sich nicht zusammenschließender Durchbrüche« ist ein dieser Schrift nicht abzustreifender Wesenszug. 7 Mit einem Facettenauge erblickte der Phänomenologe Lipps die menschliche Natur. Die Potenz seiner philosophischen Sprache war die eines Mikrotoms. In den nachfolgenden »Studien« wird den aufeinanderfolgenden »Einstichen« in die menschliche Natur nachgegangen. Denn es sind keine Strohhalme, die Hans Lipps zusammenband, als er die Ernte seiner Frankfurter Lehrtätigkeit einbringen wollte. Nach dem Vorbilde des verstorbenen holländischen Philosophen Cornelius Verhoeven wird einem »mikrologischen« Verfahren Vorschub geleistet, 8 auf übergreithey-Jahrbuch Bd. 6 (1989), S. 31–51; F. Hogemann, Arbeiten von H. Lipps aus der Bibliothek M. Heideggers, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 8 (1992/93), S. 382–386; G. van Kerckhoven, H. Lipps, M. Heidegger e la possibilita di une fenomenologia ermeneutica, in: Heidegger e la fenomenologia dell’esistenza. A cura di Michele Gardini. Discipline Filosofiche IX, 2 (1999), S. 135–151; L. Landgrebe, Das Problem der ursprünglichen Erfahrung im Werk von H. Lipps, in: Philosophische Rundschau 4. Jg. (1956), S. 166–182; G. Matteucci, La pregnanza del reale nella fenomenologica ›critica‹ di H. Lipps, in: Il realismo fenomenologico. Sulla filosofia della Circoli di Monaco I Gottinga. Quodlibet, Macerata 2000, S. 921–939; F. Rodi u. K. Schuhmann, Hans Lipps im Spiegel seiner Korrespondenz, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 6 (1989), S. 52–98; K. Schuhmann, Hans Lipps als Göttinger Phänomenologe, in: ebd., S. 163–181. 4 Zu Hans Lipps’ philosophischer Anthropologie, vgl.: O. F. Bollnow, Die menschliche Natur. Bemerkungen zum letzten Werk von Hans Lipps, in: Zeitschrift für deutsche Kulturphilosophie Bd. 8 (1942), S. 229–235; jetzt in: ders., Studien zur Hermeneutik Bd. II. Freiburg/München 1983, S. 240–250; ders., Hans Lipps: Die menschliche Natur, in Dilthey-Jahrbuch 6 (1989), S. 99–126; Evamaria von Busse, Philosophische Psychologie. Zu Hans Lipps’ letztem Buch ›Die menschliche Natur‹, in: Blätter für deutsche Philosophie Bd. 15 (1941/42), S. 434–443; J. Hennigfeld, Scham und Angst. Phänomenologische Existenzanalyse bei Hans Lipps (Die menschliche Natur), in: K. Held/J. Hennigfeld (Hrsg.), Kategorien der Existenz. Festschrift für Wolfgang Janke. Würzburg 1993, S. 351–364. 5 O. F. Bollnow, Hans Lipps: Die menschliche Natur, op. cit., S. 101. 6 Loc.cit. 7 Ebd.; vgl. O. F. Bollnow, Die menschliche Natur. Bemerkungen zum letzten Werk von H. Lipps, in: Studien zur Hermeneutik. Bd. II., op. cit., S. 242.

13 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Einleitung

fende Verortungen, wie O. F. Bollnow sie versuchsweise unternommen hat, ausdrücklich verzichtet. 9 Was als existentielle Affektion, als Syndrom, als Schaltsperre, als Daseinsstachel, als Horizonteinbruch, als Intentionsgespann in den Phänomenbereichen: Verlegenheit, Scham, Manie, Angst, Abenteurerlust, Haß aufgeschlüsselt wird (K.1–4; K.14–21), ist jeweils ein eigenes »differenziertes Gefüge«. Als Phänomen-»Bereiche« sind sie nicht im vorweg abgesteckt, sondern ausgesprochen »bunt«. Verschiebungen, Verstellungen, Homologien gehören mit zu ihrer Spannweite. Schüchternheit, Prüderie, Koketterie, Ekel, Frevel, Rausch, Platzangst, Zwangsvorstellungen, Pedanterie, Geiz, Neid, Eifersucht, Spielsucht, Neugier, Antipathie, Verachtung, Rache »bevölkern« diese Phänomengegenden. Lupenrein ist die menschliche Natur nicht. Das Differenzierte grenzt an Wucherndes. Mit einem E. Husserl entliehenen Begriff bezeichnen wir das gewählte mikrologische Verfahren als »situationshaft-modal«. 10 »Die eine durchgehende Frage nach der Natur des Menschen, … in der alles zusammengehalten ist«, 11 hat nichts erdrückendes und schwerfälliges an sich, was man dann geläufig als »philosophisch« plakatiert. Sie erwächst vielmehr aus den konkreten Modi der je anders erschlossenen Situation, in der ein Mensch hineinsteht. Daß es »Schritte zu sich selbst« sind, die der Mensch dabei tut, schließt nicht aus, daß er den Anderen braucht, um sich in seinem λογον διδοναι richtig stellen zu lassen. (K.5–7) Die kontourierte Gestalt, die die ineinander verschachtelten Phänomen-Analysen auf diese Weise erhalten, hebt sich gegen Hintergründiges ab, das anschwellend ihre Ränder zu verwischen droht. Der Aufmerksamkeit von O. F. Bollnow entging es nicht, daß es sich bei den C. Verhoeven, Lof van de Mikrologie. (Plato, Politeia). Baarn 1982. Vgl. O. F. Bollnow, Hans Lipps: Die menschliche Natur, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 6 (1989), op. cit. – Einzelne Phänomenanalysen von Hans Lipps hat O. F. Bollnow in seine Existenzphilosophie eingewoben; vgl.: O. F. Bollnow, Existenzphilosophie. Erstveröffentlichung in: Systematische Philosophie. Hrsg. von N. Hartmann. Stuttgart/Berlin 1942, S. 313–430; jetzt in: O. F. Bollnow, Schirften Bd. IV: Lebensphilosophie und Existenzphilosophie. Hrsg. von U. Boelhauve, G. Kühne-Bertram, H.-U. Lessing und F. Rodi. Königshausen & Neumann 2009, S. 136–255. 10 E. Fink, VI. Cartesianische Meditation. Teil 1: Die Idee einer transzendentalen Methodenlehre. Hrsg. von H. Ebeling, J. Holl und G. van Kerckhoven, in: Husserliana-Dokumente Bd. II/1. Kluwer, Dordrecht, Boston, London 1988, S. 41, Anm. 107 von E. Husserl. 11 O. F. Bollnow, Hans Lipps: Die menschliche Natur, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 6 (1989), op. cit., S. 101. 8 9

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Einleitung

Kapiteln über das Empfinden und den Eindruck (K.12–13) »keineswegs bloß um reizvolle Einzelstudien handelt, sondern daß sie in der Fortführung der früheren Studien zur Phänomenologie der Erkenntnis … das notwendige Gegenstück zu der auf die Selbstwerdung bezogenen existenziellen Psychologie bilden«. 12 Die Ausführungen über die Möglichkeit des Begreifens und die Sprache als Organon (K.9–11) rücken wiederum in die Nähe der Untersuchungen zu einer hermeneutischen Logik. Die Schlußkapitel (K.22–26) sind analytischen Bemühungen um den »Aufbau des Charakters« entnommen. Das Ergreifende der ohnehin dichten Phänomen-Analysen wird durch Eindämmung gegen solches überbordendes Flutlicht abgeschirmt. Zurückgegriffen wird deshalb auf die »Vorform«, die Hans Lipps’ Schrift über die menschliche Natur erhielt. Das als Dokument aus dem Münchener Nachlaß veröffentlichte »erste Psychologie-Manuskript« (ANA 507a Supplement) vermittelt einen probaten Einblick in die ursprüngliche Konzeption der Schrift. Über die verschiedenen Phasen ihrer Ausarbeitung hat die Herausgeberin der Werke Lipps’, Evamaria von Busse, in den Anmerkungen zum Textfragment Psychologie und Philosophie, das in Band V der Werke aufgenommen wurde, detailliert berichtet. 13 Dem Wortlaut nach halten die im folgenden akribisch nachvollzogenen Analysen sich an die ausgereifte Druckfassung. Entsprechend der Grundintention von Hans Lipps stellen sie »Wandlungen von Selbstheit« dar, 14 bei denen man sich selbst immer von neuem »betrifft«. Die vorliegende Arbeit bewegt sich umsichtig in diese sich je anders gestaltenden »Deklinationen« hinein. Sie werden als »Facetten der Existenz« angesprochen. Der entscheidende Impuls zu der vorliegenden Arbeit ging von Herrn Prof. em. Dr. F. Rodi, Direktor der Dilthey-Forschungsstelle am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum und Leiter der dort betreuten Ausgabe der Gesammelten Schriften W. Diltheys, aus. Als wissenschaftlicher Gastgeber des im Jahre 1986 erworbenen Humboldt-Stipendiums weckte er durch seine Vorlesungen und Publikationen mein Interesse für die phänomenologischen Schriften von Hans Lipps. In diesen Jahren wurde der Band 6 des Dilthey-Jahrbuchs für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften intensiv vorO. F. Bollnow, op. cit., S. 124. Siehe: H. Lipps, Die Wirklichkeit des Menschen. Werke Bd. V. Frankfurt a. M. 1977, S. 200. 14 Op. cit., S. 169. 12 13

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Einleitung

bereitet, der im Jahre 1989 aus Anlaß des 100. Geburtstages von Hans Lipps veröffentlicht wurde. Die in Verbindung mit Prof. Dr. Rodi von Prof. Dr. H.-U. Lessing und Frau Dr. G. Kühne-Bertram über viele Jahre in Bochum geführten philosophischen Untersuchungen und Editionsarbeiten zum »Göttinger Kreis« 15 schufen ein Ambiente, in dem eine nachhaltige Beschäftigung mit der anthropologischen Schrift von Hans Lipps einen fruchtbaren Boden und ein offenes Resonanzfeld finden konnte. Am Zustandekommen der vorliegenden Arbeit, die einer langen Inkubationszeit bedurfte, nahm Frau Prof. Dr. K. Meyer-Drawe der Bochumer Universität durch Gespräche, durch ihre eigenen wegweisenden Publikationen, durch Hinweise und Korrekturvorschläge lebhaften Anteil. Mit der Aufnahme in dem von Prof. em. Dr. M. Richir (Université libre de Bruxelles) gegründeten, um die Annales de Phénoménologie gruppierten Arbeitskreis der Association pour la Promotion de la Phénoménologie eröffnete sich ein neuer, weittragender phänomenologischer Horizont. Ein Teil der vorliegenden »Studien« wurde ins Französische übersetzt und an dortiger Stelle veröffentlicht. 16 Im Jahre 2008 gewährte die A. von Humboldt-Stiftung (Bonn) einen längeren Forschungsaufenthalt an der Bayerischen Staats- und Universitätsbibliothek München. Prof. em. Dr. E. Avé-Lallemant und Frau Dr. S. von Moisy waren bei der Konsultation des Nachlasses von Hans Lipps besonders behilflich. Ihnen allen wird an dieser Stelle aufrichtig gedankt. In seinem Vorwort zum ersten Band der Werke Hans Lipps’ schrieb H.-G. Gadamer mit Bezug auf Hans Lipps’ letzte Schrift, deren Erscheinen sein Autor nicht mehr erlebt hatte: »Das Buch, ›die menschliche Natur‹, durchmißt eine bunte Reihe von Phänomenen der Psychologie und der moralischen Anthropologie. Hinter den knappen Pointierungen, mit denen er die Phänomene darstellt, verrät der Verfasser, aber fast müßte man sagen: versteckt er seine ungewöhnliche Weltkenntnis und die Weite seiner Bildung«. 17 In den »Einstellungen, Haltungen von Existenz« fand Hans Lipps eine schier unausschöpfliche Auskunft über die menschliche Natur. »Man muß bei seiner Lektüre berücksichtigen«, Vgl. dazu: O. F. Bollnow, G. Misch und der Göttinger Kreis, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 34 (1980), S. 423–440; jetzt in: ders., Studien zur Hermeneutik Bd. II, op. cit., S. 19–45. 16 Siehe: »Bibliographischer Nachweis« am Schluß der Studien. 17 H.-G. Gadamer, »Vorwort«, in: Hans Lipps, Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis. Werke Bd. I, op. cit., S. X. 15

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Einleitung

merkte O. F. Bollnow dazu an, »daß Lipps das Buch unter dem Druck des ausgebrochenen Weltkriegs noch 1941 zum Abschluß gebracht hat. Er hätte es unter anderen Umständen vielleicht noch etwas weiter ausreifen lassen … ; denn es sind neben Gedanken von großer Tiefe, die wohl von keinem andern so gesehen sind, Unklarheiten zurückgeblieben, die das Verständnis erschweren«. 18 Zwischen den »Schritten zu sich selbst« und »der Kraft der Wahrheit eines aus eigenem Ursprung sich selbst immer mehr Durchsichtigwerdens« – jenem Schlußsatz, auf den Bollnow immer wieder erwartungsvoll vorausschaute –, gähnt eine tiefe Kluft. Wenn auf einer Schrift der Schatten des Unvollendeten ruht, so gibt eine liebevolle Zuwendung sich damit zufrieden, »Schatten seines Schattens« zu sein. Brüssel/Bochum

Guy van Kerckhoven

O. F. Bollnow, Hans Lipps: Die menschliche Natur, in: Dilthey-Jahrbuch Bd. 6 (1989), op. cit., S. 98. – Vgl. dazu das vierseitige Typoskript »Die menschliche Natur« im Münchener Nachlaß von H. Lipps (Signatur 507 Supplement td 11489 1–4).

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I. Guy van Kerckhoven Facetten der Existenz. Phänomenologische Mikrologien

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In Verlegenheit geraten. Die Befangenheit des Menschen als existentielle Affektion

»Die ›Befangenheit‹ des Menschen und seines Blickes bedeutet eine existenzielle Affektion.« H. Lipps, Die menschliche Natur, (43). 1

1.

Hans Lipps’ Frage nach dem Menschen

Nach »dem Menschen« fragt H. Lipps in einer Richtung, die »aus einer Beteiligtheit aufzunehmen« ist. (7) Eine solche Frage drückt kein unverbindliches »Interesse« am Menschen aus. Vielmehr ist man dabei selbst betroffen. Betroffen macht »das, worauf man nicht eingestellt war.« (56) Man wird davon vielmehr überfallen. Das Umfragte läßt sich nicht voreilig »in ein … Feld objektiver Feststellungen abdrängen«. (7) Man war auf diese Frage gar nicht erst gefaßt. »Die Wirklichkeit des Menschen kann nicht unter einem Gesichtspunkt aufgenommen und methodisch in Angriff genommen werden.« (7) Gesichtspunkte veranschlagen etwas bereits »durch eine bestimmte philosophische Position und Problematik Fixiertes«, wobei man »in Vorentscheidungen verstrickt bleibt«. (7) Daß man auf die Frage nach dem Menschen zunächst nicht gefaßt war, rührt daher, »daß man immer in sich selbst verstrickt und im Umkreisen seines Grundes verfangen bleibt«. (56) Man findet nicht heraus, »wohin man den Menschen festlegen soll«, wenngleich man »das »Wesen« des Menschen treffen« will. (7) Die Frage nach »dem« Menschen verschlägt einem die Rede über »die« Menschen. Sie macht betroffen, weil man sich daran beteiligend die »Unmöglichkeit, herauszufinden« erfährt. (56) Nach dem Menschen fragt Hans Lipps deshalb auch aus H. Lipps, Die menschliche Natur. Frankfurt a. M. 1941. Jetzt in: H. Lipps, Werke Band III. Frankfurt a. M. 1977. Im folgenden wird nach dieser Werkausgabe zitiert; die Zitatnachweise im Text stehen in Klammern. Die Hervorhebungen in den Zitaten stammen vom Verf.

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In Verlegenheit geraten

einer aporetischen Situation heraus. 2 Darin, daß die Wesensverfassung des Menschen ihm zutiefst rätselhaft bleibt, zeichnet sein anthropologischer Ansatz sich gerade als ein philosophischer aus. Wie »die« Menschen sind, kann freilich der Lebenserfahrung entnommen werden. »Lebenserfahrung rechnet mit den Menschen in der Durchschnittlichkeit ihres Verhaltens.« (7) Sie entspringt nicht aus einer Betroffenheit durch die Frage nach dem Menschen. »Die Menschen gelten ihr wie das Leben als etwas worin man sich auszukennen hat.« (7) Sie zeigt sich in Vorsicht und Klugheit. Das Sich-Auskennen rechnet insofern mit den Menschen, als es von ihnen »Bestimmtes erwartet«. (7) Und diese werden hierbei angesetzt »in der Richtung eines noch ›unbekannt, wer es ist‹«. (7) Ihre Charakterisierung geht einzig auf das, »was typisch ist für …«. Daraufhin kennt die Lebenserfahrung sich aus. In dieser Indifferenz gegenüber dem »wer es ist« zeigt sich erst, wie wenig sie im Grunde durch die Frage nach dem Menschen betroffen ist. Sie wird insofern von »dem« Menschen nicht angegangen. Das Sich-Auskennen der Lebenserfahrung ist nicht, als Erkennen, auch ein Begegnen mit dem Menschen im Sinne des »Wer« seines Seins. Hierfür unbekümmert, hat sie »es eigentlich immer nur mit sich selbst zu tun«. (7) Das Sich-Auskennen als ein Rechnen-mit ist ein erledigendes Sich-Abfinden, das mit »dem« Menschen keinen Anfang macht. Er ist nicht im Spiel; nicht einmal seine Begegnung ist hier angesagt. Anders die Menschenkenntnis, die »nicht schon mit in der Lebenserfahrung liegt«. (7) Denn sie nimmt als praktische »die Menschen als Mit- und als Gegenspieler«. (7) Das abfertigende Verrechnen, das »nur die Menschen zu nehmen versteht«, wird hier überschritten. (8) Als Mit- und Gegenspieler ist in der praktischen Menschenkenntnis der Mensch selbst – und nicht bloß »wie ›die Menschen‹ sind« – angesprochen. (7) Praktische Menschenkenntnis »beurteilt den Einzelnen«. (7) Ob man jemanden richtig eingeschätzt hat, als man ihn ein- oder ausschaltete, »zeigt sich nur im Verfolg«. (7) Darin aber, daß sie den Menschen »schaltet«, werden seine Möglichkeiten zur Erfahrung. Die praktische Menschenkenntnis »kennt den Menschen in ›seinen‹ Möglichkeiten«, insofern die Erfahrung »zeigt, wozu einer gekommen, wobei er stehen geblieben, wohin er ausgebogen ist«. (8) Anders als die Lebenserfahrung, die Bestimmtes erwartet von den Menschen, wobei Vgl. H. Lipps, Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis. Werke Bd. I. Frankfurt a. M. 1976, II. Teil, S. 13; vgl. ders., Die menschliche Natur, op. cit., S. 56.

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Hans Lipps’ Frage nach dem Menschen

noch unbekannt bleiben mag, »wer es ist«, ist die Bestimmung eines Menschen – und zwar als »seine« – das Maß der praktischen Menschenkenntnis, »das, was er … aus sich selber macht oder machen kann oder soll«. 3 (8) Die Möglichkeiten sind hier keine, mit denen »man bei den Menschen im Leben zu rechnen hat«, die man als generelle auch voraussagen könnte. (8) Als seine Möglichkeiten sind es diejenige, wozu er sich in seiner Wirklichkeit bestimmt, die in der Wirklichkeit eines Menschen allererst zur Erfahrung werden. Und insofern ist die praktische Menschenkenntnis gegenüber dem »Wer« des Menschen nicht indifferent. Der, der den Menschen in seinen Möglichkeiten kennt, und nicht nur »die Menschen zu nehmen versteht«, hat insofern Weltkenntnis, als er »sich auch frei unter ihnen bewegen, ihnen nämlich begegnen kann«. (8) In seiner Einschätzung, die sich bewähren oder enttäuscht werden kann, ist der Mensch als einzelner einbezogen. »Er wird nicht gemein mit den Menschen«. »Wie er auch Distanz zu den Dingen hat.« (8) Daraufhin wird er als »einen Mann von Welt« angesprochen. (8) Denn sein Benehmen trägt dem »Wer« eines Menschen Rechnung, rechnet nicht nur mit dem den Menschen Gemeinsamen. Doch fehlt auch dieser Menschenkenntnis noch die eigentümliche »Spannung philosophischen Fragens«. (8) Auf das »Wer« des Menschen zugeschnitten, kann sie sich auf eine Haltung versteifen, »die sich zu bestätigen und zu rechtfertigen sucht«. (8) Sie unterwandert das freie Sich-Bewegen unter den Menschen, die Begegnung mit ihnen. In der sie einschätzenden Haltung »stellt man sich selbst fest«. (8) Die Menschenkenntnis wird kritisch und insofern »entlarvend«. (8) Sie rückt den Menschen zurecht, etwa indem sie »das Arrangement seiner Gefühle durchschaut«. (8) »Sie deckt das Scheinhafte auf gegenüber der Wirklichkeit.« (8) Eine gewisse »médisance« dürfte dabei im Spiel sein, wie auch eine gewisse Billigkeit darin liegt, einen Menschen abschiebend zu erledigen. 4 Nur durch »Takt« kann man »nachempfindend auf die Spur von Zusammenhängen kommen« und interpretierend »die Mitte eines bestimmten Verhaltens« finden. (8) Weder an der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht Kants noch an der Psychologie der französischen Moralisten – deren Einschätzung des Menschen nicht von einer abschätzigen Haltung ganz freiI. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Stuttgart 1983, S. 29 [119]. Vgl. dazu die parallelen Ausführungen zu »Psychologie und Philosophie« in: H. Lipps, Die Wirklichkeit des Menschen. Werke Bd. V. Frankfurt a. M. 1977, S. 165.

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In Verlegenheit geraten

zusprechen ist – kann im Grunde die Richtung vorgeführt werden, die in Hans Lipps’ Anthropologie versucht werden soll. Wenn auch die Menschenkenntnis die Wirklichkeit eines Menschen, seine Möglichkeiten »immer schon irgendwie im Blick gehabt hat«, so war diese doch »etwas, deren Bedeutung es erst zu bestimmen gilt«. (7) Nur aus ihr wächst die eigentümliche Spannung philosophischen Fragens nach dem Menschen, die Hans Lipps bewegt. Was in der praktischen Menschenkenntnis nur Takt festhielt, soll als Verfassung des Menschen allererst durchsichtig gemacht werden. »Es gilt, in den Möglichkeiten des Menschen seine Natur und die Art seiner Existenz aufzudecken.« (8) Die Verfassung seines Wesens soll »getroffen« werden. Die Natur eines Menschen ist nichts, was der Bekanntschaft mit einem Menschen in einer bestimmten Ordnung entnommen, dann an seinem Ort auch »demonstriert« werden könnte. Sie ist als »umfragt« aufzunehmen. (9) Es gibt keinen »Standpunkt« zur Lösung der Frage nach dem Menschen. Wohin man ihn festlegen soll, was er bedeutet, dem ist nur umkreisend auf die Spur zu kommen. »Immer von neuem hat man einzusetzen, um ins Freie zu bringen, was in den verschiedenen Richtungen der Kenntnis des Menschen unter je anderen Seiten gestreift oder mit angeschnitten ist.« (9) Als umfragt aufgenommen, richtet der Blick sich auf »das Differenzierte dessen, was am Menschen Erfahrung wird«, worin die menschliche Natur erscheint. (9) Das Differenzierte ist, wie Lipps betont hervorhebt, »keine Komplikation«. Kompliziert sind z. B. Naturerscheinungen, die in ihrer äußeren Möglichkeit kausal »aus dem Zusammentreffen von Faktoren erklärt werden können« und insofern auch durchschaubar sind. (9) Was am Menschen zur Erfahrung wird, worin die menschliche Natur zur Erscheinung kommt, ist jedoch »aus seinem Ursprung zu verstehen«. (9) »Was es (innerlich) ist«, muß aufgezeigt werden.« (9) Es gilt, »sein Gezüge im Blick auf die menschliche Natur so auszulegen, daß diese in jeder dieser verschiedenen Möglichkeiten des Menschen wiedererkannt wird«. (9) Das Differenzierte, was am Menschen Erfahrung wird, ist ein je verschiedenes »Verhältnis des Ich in sich selber«, das es insofern in der Anthropologie auch zu »deklinieren« gilt. 5 (9 Anm. 1) Wohin das Ich

L. Feuerbach, Über den Anfang der Philosophie. In: L. Feuerbach. Sämtliche Werke. Neu hrsg. von W. Bolin und F. Jodl. Bd. II. Philosophische Kritiken und Grundsätze. Stuttgart/Bad Cannstatt 1959, S. 214.

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je ausgebogen ist, worin es etwa einzubiegen oder worauf es sich auch zurückzubeugen mag, ist jeweils Verschiedenes und anders zu wenden. Lipps’ Anthropologie bietet deshalb auch einen – seltsam – prismatisch gebrochenen Anblick. 6 Das betrifft nicht nur die Vielfalt menschlicher Phänomene, denen sie nachgeht in einer eigentümlichen Bewegtheit philosophischen Fragens, welche keinen anderen Fortgang als den, der »nur ›zufällig‹ sein kann«, für zulässig hält. (9) Die Brechung rührt – ursprünglicher – daher, daß das Ich in sich selber sich verhält, und nicht etwa im Bewußtsein unmittelbar bei sich ist. Gerade darin wird man z. B. »durch die Schulpsychologie enttäuscht«, für deren Interesse am Menschen dieses Bewußtsein maßgeblich ist. 7 (7) Das Beteiligtsein eines Menschen wird darin unterbunden. Aus ihm soll die Frage nach dem Menschen jedoch erstmals aufgenommen werden. Und wenn dasjenige, was am Menschen Erfahrung wird, mit demjenigen, dessen er sich unmittelbar bewußt ist, nicht so ohne weiteres zusammenfällt, dann wird auch dessen Ursprungsverständnis, »was es innerlich ›ist‹«, ebenfalls kein »psychisches« im üblichen Sinne sein. Die von der Psychologie herkömmliche Frage nach dem Menschen wird von Hans Lipps insofern unter der Hand verwandelt, als ihre Begründung – als Wissenschaft – für ihn gar nicht verbindlich wirken kann. Sie drückt nämlich ein unverbindliches Interesse am Menschen aus, das nicht durch ein zusätzliches Beispiel noch veranschaulicht werden sollte. Indem er davon abrückt, setzt Hans Lipps sich in einem philosophisch aufs Spiel. Der Einsatz seiner Anthropologie ist dieser Aufbruch, d. h. er vollzieht sich nur so. Die Stelle, an der dieser Aufbruch geschieht, an der man durch die Frage nach dem Menschen nur betroffen werden kann – soweit man Vgl. dazu O. F. Bollnow, ›Die menschliche Natur‹. Bemerkungen zum letzten Werk von H. Lipps, in: Zeitschrift f. deutsche Kulturphilosophie Bd. 8 (1942), S. 229–235; jetzt in: ders., Studien zur Hermeneutik Bd. II. Freiburg/München 1983, S. 240–250, insbes. S. 242: »Während bei Heidegger am Ende des deutenden Ganges eine bestimmte formale Grundstruktur der menschlichen Existenz steht, in der sich die verschiedenen analysierten Erscheinungen zum geschlossenen Ganzen zusammenfügen, bleibt bei Lipps das Nebeneinander sich nicht zusammenschließender Durchbrüche. Immer neu und von immer verschiedenen Seiten stößt er gegen dieselbe Mitte vor. Der in sich durchlaufende systematische Gedankenzusammenhang wird bewußt zerstört, weil Lipps überzeugt ist, daß menschliche Existenz grundsätzlich nicht in einem System zu fassen ist, sondern daß alles System dem Menschen das unmittelbare Verhältnis zur Wirklichkeit abschneidet.« 7 Zum »Schulbegriff der Psychologie« vgl. H. Lipps, Die Wirklichkeit des Menschen, op. cit., S. 167–168. 6

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In Verlegenheit geraten

nicht zuvor schon auf sie gefaßt war – ist die Verlegenheit eines Menschen. Man ist sich ihr ausgesetzt. Wie das Ich sich in sich verhält, zeigt sich darin auf besondere Weise. Es wird in der Verlegenheit zu einer bestimmten Erfahrung. Die Richtung der Frage nach dem Menschen wird dann aber suchend. In der Verlegenheit wird man in eine bestürzende Fragwürdigkeit gestoßen. Wie man in sich verstrickt ist, dem kommt man näher. Der anthropologischen »Forschung« ist die Verlegenheit nur insofern unterstellt, als diese darauf zugeschnitten ist, was sie einem »bedeutet«.

2.

Der Zwiespalt der Verlegenheit

So wenig die Wirklichkeit des Menschen unter einem Gesichtspunkt aufgenommen und methodisch in Angriff genommen werden kann, so wenig ist »der Blick auf den Menschen … unbefangen«. (10) Er steht »unbemerkt unter dem Einfluß überkommener Auffassungsweisen«. (10) Im Blick auf den Menschen droht sich »zu unkontrollierter Meinung« zu versimpeln, »was behaupteter Standpunkt war«. (10) Der Standpunkt zur Lösung der Frage nach dem Menschen, der unter der Hand und versimpelt den Gesichtspunkt bietet, an dem sich – unbemerkt – unser Blick auf den Menschen verfängt, ist der eines leib-seelischen Wesens, einer psycho-physischen Lebenseinheit. Die seelische Innerlichkeit drücke sich im Äußeren eines Menschen, in Mienen und Gebärden, in seiner Haltung, die auf dieses Innere hin zu deuten wären, aus. Gerade an der Verlegenheit und ihrem Ausdruck dürfte diese überkommene Auffassungsweise sich verheben. Der Standpunkt, dem man sich auf unkontrollierte Weise verschrieben hat: der Mensch sei im Grunde ein psycho-physisches Wesen, gerät ins Wanken. »Ist Verlegenheit z. B. überhaupt so ein ›Seelisches‹ ?« Und drückt sie sich im leiblichen Gebaren, in der äußeren Haltung eines Menschen aus? »Zeigt sie sich« etwa »nur darin?« (10) Was sie einem bedeutet, der sich in ihr befindet, sich gerade darin keine Haltung zu geben vermag, ist ausschlaggebend. Ein Standpunkt zur Lösung der Frage nach dem Menschen ist insofern in der Verlegenheit nicht zu finden. Seine Befangenheit ist im Grunde darin getroffen. Er findet nicht heraus, weshalb auch sein »Auftreten mißlingt«. (13) Die Fragwürdigheit, in der ein Mensch hineinsteht – und zwar in der Einheitlichkeit seines Wesens – rückt heraus. Um die es Hans Lipps 26 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Der Zwiespalt der Verlegenheit

hier geht. »Die ›Befangenheit‹ des Menschen und seines Blickes bedeutet eine existenzielle Affektion.« (43) Sie unbefangen zu analysieren, ist angesagt. Gegenüber einer Blickrichtung, die sie grundsätzlich verfehlt, weil sie nicht aufkommen läßt, nicht in sie sich hineinbewegt. »Die Verlegenheit, die einer empfindet, ist wesentlich zwiespältig.« (10) Man kann sie nachempfinden »im Blick auf etwas, was man sachlich erkennen, als vorliegend feststellen, was von jedem auf seinen Grund hin geprüft werden kann«. »Bestimmte Umstände, Lagen lassen verlegen werden.« (10) Die Verlegenheit, die einer empfindet, überkommt ihn. Er wird es insofern, als die Umstände, Lagen dazu veranlassen. Sofern einer Verlegenheit empfindet, »hat« er nicht diese seine Empfindung. 8 Und wenn man gerade im Blick auf etwas, was man sachlich erkennen kann, in Verlegenheit gerät, ist die »Lage«, die verlegen werden läßt, ihrerseits »nichts Sachliches«: »Sie ist nicht als ein Zueinander von diesem und jenem zu beschreiben«. (10) Sie ist ja kein objektives Verhältnis. Vielmehr: Die Lage »reflektiert sich in dem Beginnen des darin Stehenden«. (10) Sie ist darin von ihm aufgenommen worden. Sein Anwesend-Sein ist »konstitutiv« für sie: »man trifft sich bei etwas«. (29) »Der Verlegene kann unschlüssig nicht abfinden von Schwierigkeiten, die lähmend im Blick stehen.« (10) Er ist darin verfangen. Er findet sich nicht einfach in dieser schwierigen Lage, sondern befindet sich in ihr, ist – betroffen – daraufhin selbst beansprucht. Eventuell »läßt der Verlegene sich stoßen in gleichsam daneben ausbrechende und dadurch schief werdende Entscheidung«. (10) Und diese Unsicherheit »überträgt sich wohl auch auf seine äußere Haltung«. (10) Sie wirkt so. »Aber was da seinem Gebaren schon äußerlich anzusehen ist, ist das darum darin ›ausgedrückt‹ i. e. S.?« (10) Die äußere Haltung des Verlegenen ist »doch nicht in dem Sinne« Ausdruck seiner Verlegenheit, »wie eine Verzerrung des Mundes als Ausdruck, nämlich als Gestaltung des Ekels verstanden wird«? (10) Überhaupt ist die Verlegenheit, die einer »als durch seine Lage entstanden« empfindet, »gerade hierin bezeugt«. (10) Und insofern ist sie »eine, in der er sich befindet«. (10) »Also gerade nichts Inneres, wie das Seelische sein soll.« »Die mich bedrängende Wirklichkeit meldet sich im Befinden.« (10) Vgl. H. Lipps, Die menschliche Natur, op. cit., S. 45, Anm. 1: »Das Indifferente, nichts eigentlich Besagende dieses »Habens« von Empfindungen als etwas Gegebenem bringt aber zum Vorschein, wie hier schon im Ansatz die Natur des Menschen, das worin er als in Vermögen aufgeschlossen ist für das womit er ist, unterschlagen … ist.«

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In Verlegenheit geraten

Verlegenheit entsteht nicht nur »im Blick auf etwas was man sachlich erkennen kann«, sondern »auch im Auftreten vor anderen«. (10) Sie »befällt einen« im fremden Milieu. Man findet seine Gegenwart »als störend für die anderen«. (11) Man hat »z. B. Angst, von diesen vielleicht als prüde angesehen zu werden«. (11) Man weiß sich als nicht passend zu dem Kreis, »den einen gerade wie selbstverständlich als dazu gehörig zu nehmen geneigt ist«. (11) »Man liegt schief in solcher Gesellschaft.« (11) Bedrängend ist jeweils, wie man sich dabei trifft, wie man sich in der aufgenommenen Lage beansprucht findet. 9 Man ist verlegen, weil die »Teilnahme« nicht »gehalten« werden kann, man sich mit den Anderen nicht »auf einem Boden« treffen kann. (29) Für dessen Möglichkeit man dann aber vielleicht nicht allein aufzukommen hat, die wesentlich auch »zurückfällt auf die, die – jeder seinerseits – irgendwie, vielleicht führend, dafür aufzukommen haben«. (29) Man geniert sich, wenn man »die Öffentlichkeit von etwas scheut«. (11) »Schon kontrollierendes Zusehen kann einen aber genieren.« (11) »Man verliert die Unbefangenheit, die Aufmerksamkeit wird gespalten.« (11) Die Unsicherheit bezieht sich hier darauf, »daß man es vielleicht nicht richtig macht«. (11) Man geniert sich, »wenn man darin aufzufallen glaubt«. Man steht unter der Vorstellung »eines beobachtenden Zuschauers«. Und dieser wird einem »Anlaß und Maßstab der Selbstprüfung«. (11) Etwas anderes ist »die begründete Verlegenheit«. (11) Man kann sich als Fremder »nicht sicher sein bei den anderen«. (11) Man will keinen Anlaß zu Mißdeutungen geben, nicht »in falschem Lichte erscheinen«, fürchtet hier aber »nicht entsprechend bei etwas genommen zu werden«. (11) Gerade dann, wenn man »spürbar sich bei den anderen durchzusetzen scheint«, hat man »eine aufkommende Verlegenheit zu überwinden«. (11) Man fürchtet »angesichts dessen, daß das Verstehen der anderen keinen Ansatz finden kann«, ihnen »notgedrungen zum Objekt zu entgleiten«. (11) Sofern die Situation so ist, daß das Sachliche sich vordrängt, »scheut man es, in seinem Selbst übersehen zu werden«. (11) Im Nicht-Abfinden-Können von Schwierigkeiten, die lähmend im Blick stehen, im Schiefliegen in einer Gesellschaft, in der Unsicherheit, daß man es nicht richtig macht und gerade darin aufzufallen glaubt, in Vgl. H. Lipps, op. cit., S. 20: »Der Mensch ›benimmt sich‹ aber immer irgendwie, sofern er sich in Lagen auf sich selbst hin beansprucht findet.«

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Der Zwiespalt der Verlegenheit

der Befürchtung, nicht entsprechend bei etwas genommen zu werden, zeigt sich, wie man in den unterschiedlich aufgenommenen Lagen verschiedentlich beansprucht ist. Schon hier – in der zur Scheu werdenden Verlegenheit, nicht entsprechend bei etwas genommen bzw. in seinem Selbst übersehen zu werden – meldet sich »eine Zweideutigkeit des Blickes, die man als naheliegend zu vermeiden sucht«. (11) »Denn nicht ohne weiteres ist man – und zwar hier: für den anderen – eindeutig das was man ist.« (11) In der Zweideutigkeit des Blickes bricht die Befangenheit aus; man versucht, sie darin abzufangen. Denn, als »naheliegend« rückt sie einen gerade in der Richtung, in der das gelegen ist, angesichts dessen er fürchtet bzw. sich scheut. Wie wenig man für den anderen eindeutig das, was man ist, »ist«, bekommt man in dieser entgleitenden Eindeutigkeit erstmals zu erkennen. »Und während Scham eine Gefährdung ›des Menschen‹ im Blick hat, hierin nicht sicher ist, sucht der sich Genierende für sich etwas zu vermeiden.« 10(11) »Die Zweideutigkeit, die er scheut, ist nicht nur eine Mehrdeutigkeit – so wie etwa jeder je nach seinen persönlichen Verhältnissen vieldeutig ist. »Zweideutig« hat den Stachel des das Intendierte in Frage stellenden Umschlags in …« (11) Der sich Genierende verfängt sich darin, diesen Stachel nicht herausziehen zu können. Denn er steht unter der Vorstellung des ihn beobachtenden Zuschauers, die diesen »in Frage stellenden Umschlag in …« nährt. Und gerade darin, worin er die drohende Zweideutigkeit vorzubeugen, worin er sie abzufangen sucht, zieht sie ihre Spur. Wie einer sich in sich verfängt, ist ihm anzusehen. »Der Verlegene weiß nicht, wohin mit den Händen. Wohin er sich stellen, an wen er sich wenden, wohin er blicken soll.« Er kann »nicht aus sich herausgehen«. (11) Er wirkt »unfrei, gehemmt«. »Gerade daraufhin, daß er unter dem Zwang steht, irgendwie agieren, irgendeine Haltung einnehmen zu müssen.« (11) Er biegt aus. »Abwehrend lächelnd sucht er die anderen zu Distanz zu verbinden, eine Zwischenschicht des Außen herzustellen, hinter der er sich verbergen kann.« (11) Denn der Verlegene getraut sich nicht heraus aus sich selbst. »In der Angst, einen faux pas zu begehen.« (12) Daraufhin, daß er sich keine Haltung zu geben verVgl. H. Lipps, op. cit., S. 32: »Schamhaftigkeit sucht nicht eigentlich sich zu schützen vor etwas – wie der sich Genierende vorsichtig und vorsorglich etwas nur eben vermeiden will, sich hierbei mißt an etwas. Schamhaftigkeit scheut sich gerade, den Blick dahin aufzuheben, von wo ihr Gefährdung kommt.«

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mag, die er doch irgendwie einnehmen müßte, benimmt er sich. Er biegt in einem unverbindlichen Verhalten aus, worin er sich gerade den Anderen verbinden möchte. Er möchte seine Verlegenheit darin zurückgesteckt und aufgeborgen wissen. Und eben hierin »mißlingt sein Auftreten«. (13) »Er kann nicht mitspielen. Er spielt eine unglückliche Figur.« (12) Der zum Vorwand genommenen Unverbindlichkeit »fehlt die Selbstverständlichkeit, die den in der Gesellschaft Eingespielten natürlich ist«. (12) In fremdes Milieu ist er »wie ins Leere gestellt«. (12) Der Verlegene beherrscht nicht die Regeln dieses Spiels. »Gerade das – sachlich – Unverbindliche gesellschaftlicher Unterhaltung wird Anlaß zur Verlegenheit, weil man hierbei unwillkürlich nur eben selbst zur Sprache kommen kann in dem, was und wie man etwas sagt.« (12) Es gelingt ihm nicht, sich so unwillkürlich freizugeben. »Er fühlt sich gehemmt in dem, was er sagen möchte. Ihm fällt nichts ein. Er kann sich nicht dem Moment überlassen, findet nicht den richtigen Ton; nichts klingt an von dem was er sagt.« (12) Wenn man sich in seinen Äußerungen nicht richtig aufgenommen glaubt, kann man »den Ton nicht halten«. (12) Und daß man hier nicht recht nach außen gelangen kann, daß man die Worte nicht richtig herausbekommt, daß die Äußerung als Äußerung undeutlich wird, »schlägt aber auf einen selbst, auf das was man sagen wollte zurück«. (12) Der Verlegene »scheint in sich selbst undeutlich verschwimmen zu wollen«. (12) Es »steigert sich die Unsicherheit des Verlegenen«. (12) Er kann sich auf das im gesellschaftlichen Spiel bereits stillschweigend – und zwar durch ein unausgesprochen zugesichertes Verständnis für das, worin man dabei eben selbst zur Sprache kommen kann – unterfangene »Wagnis«, frei aus sich herauszugehen, nicht einlassen. In der zum Vorwand gewählten Unverbindlichkeit ist dieser Resonanzboden vorweg verbaut. Und insofern traut er sich seinen Äußerungen gar nicht erst zu, möchte – sie steuernd – es verhindern, bei der hinter diesem Vorwand versteckten Verlegenheit ertappt zu werden. Seinen Äußerungen fehlt das Lockere, Lässige, Ungezwungene gesellschaftlicher Unterhaltung, das Getönt-Sein auf das, wovon »halt« die Rede, worauf angespielt sein mag, was einem dabei so einfällt. Daß sie unter der Kontrolle innerer Beobachtung gestellt sind, unter dem Zwang stehen, dabei auf alle Fälle richtig aufgenommen werden zu wollen, ist ihnen anzuhören. Und eben darin sind sie fehl am Platze. Der Verlegene fällt darin »als nicht Zugehöriger« auf; er wird nun »zum Objekt erstaunter Betrachtung«. (12) »Sie bleibt am Äußeren hängen«, übersieht ihn »in 30 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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seinem Eigensten«. (12) Der Verlegene spürt dabei »die Nähe der Lächerlichkeit«. (12) »Er sieht sich mit den Augen der anderen.« (12) Er wird sich selbst fragwürdig. Bestürzt – nicht etwa dadurch, es vielleicht nicht richtig gemacht zu haben oder dabei nicht richtig aufgenommen worden zu sein – sondern dadurch, gerade hierin, es auf alle Fälle richtig machen zu wollen, fehlzugehen. Und diese bestürzende Fragwürdigkeit »wird ihm dann eine Störung des pathischen Sich-Einfühlens«. (12) »Eine Stimmung als die Grundlage unausdrücklichen Verstehens kann in ihm überhaupt nicht mehr aufkommen.« (12) Alles, was er sagt, seine Mimik wirkt immer unnatürlicher und gezwungener. »Er kann sich nicht finden.« (12) »Im äußerlich Gemachten, unter der Kontrolle innerer Beobachtung Stehenden seiner Bewegungen zeigt sich, wie die Verlegenheit die uns den anderen verbindende Mitte nicht finden läßt.« (12) Was störend dazwischen kommt, ist »der Wechsel in angenommene Gesichtspunkte, die Distanz heraustretenden Erkennens«. (12) Zu der »uns den anderen verbindenden Mitte« freien aus sich Herausgehen-Könnens ist dem Verlegenen der Zugang gesperrt. Die »Distanz heraustretenden Erkennens« ist in eins durch die Vormachtstellung der inneren Beobachtung und Selbstkontrolle und des rein äußerlich Angesehen-Werdens bezeugt. Der »Wechsel in angenommene Gesichtspunkte« ist dieses umkippende, wechselseitige Herauskehren von Innen- und Außenansicht. Er ist die Spalt der Entzweiung, wodurch die Verlegenheit ausgezeichnet ist. Sofern sie, als menschliches Phänomen, ja gerade nichts anderes zu bedeuten hat als dieses: die Einheitlichkeit unseres Wesens, die »Verfassung eines Menschen« aufzubrechen. – Wie denn auch, in der Falte eben dieses Bruches, sich erst die »überkommene« Sicht einnisten kann, der Mensch sei im Grunde ein leibseelisches Wesen. Sie ist eine Verlegenheit, worin unser Blick auf den Menschen sich verfangen hat, nicht aber eine Verlegenheit des Menschen. Letztere bringt uns erst auf die »Einheitlichkeit seiner Verfassung«, weil sie sich darin bricht. Was es heißt, ein Mensch zu sein, kommt in dieser Brechung »prismatisch« in Sicht.

3.

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»Verlegenheit zeigt sich im Rotwerden. Sie zeigt sich aber auch in der Haltung – und hierbei bemerkt man einen Ausdruckssinn des Anzie31 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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hens der Arme, des irrenden Blicks, der keinen Halt findet usw. Indessen – ist damit nicht mehr gemeint, als wenn man von jemandes Gedanken sagt, sie seien ihm ins Gesicht geschrieben, oder wenn man seine Miene als den verräterischen Ausdruck für Seelisches nimmt?« (12/13) Als Befinden, in dem man sich bei etwas betrifft, ist die Verlegenheit doch »gerade nichts Inneres«. Der Mensch betrifft sich bei einer ihn bedrängenden Wirklichkeit; er findet sich dabei insofern beansprucht, als diese ihn bedrängt und er von ihr nicht abfinden kann. Und weiter: »Es ist doch nicht so, daß bei der Verlegenheit ein Inneres nach außen kommt – das Auftreten mißlingt«. (13) Gerade dies, daß man sich keine Haltung zu geben vermag, die man irgendwie doch einnehmen müßte, ist bedeutsam. Denn es zeigt sich darin, wie dem Bedrängnis begegnet – und das heißt hier: aufgenommen, in sich hineingenommen – wird. Man verfängt sich hier so in sich, daß man nicht frei aus sich herausgehen kann, notgezwungen ausbiegt in einem nur scheinbar unverbindlichen Verhalten. Vergeblich sucht man, darin die Verlegenheit abzufangen. Die einem insofern zur Zerreißprobe wird. »Verlegenheit ist ihr ›Ausdruck‹.« (13) Wie ist dieser lapidare Satz von Hans Lipps zu verstehen? Und was bedeuten dabei die Anführungszeichen? Man wird darauf erst durch Vergleiche gebracht. Ohne allerdings das Verglichene darin auszugleichen. »So wie etwa auch das Lachen eine Entspannung bringt, d. i. nur insofern ›ausdrückt‹ als diese Entspannung ausschwingt, sich durchsetzt und gestaltet in dieser Gebärde.« (13) Die Verlegenheit drückt nur insofern aus, als das Auftreten mißlingt, man dabei unfrei, gehemmt »wirkt«. So wenig die Verlegenheit etwa eine Empfindung ist, die man »hat«, so wenig ist sie als ein »Gefühl« – der Unsicherheit – aufzufassen, das sich ausdrückt. 11 Der Verlegene »hat« ja nicht das Gefühl der Unsicherheit; er ist unsicher, d. h. ist sich zunehmend nicht sicher. Er wirkt so. Indem er es wird. Sofern er sich nicht aus sich heraus getraut, eine unglückliche Figur spielt, drückt er kein Gefühl der Unsicherheit aus. Gerade einen solchen »Ausdruck« möchte er auf alle Fälle vermeiden. Indem er z. B. seine Bewegungen unter der Kontrolle innerer Beobachtung stellt. Die dann aber erst als »äußerlich gemacht« erscheinen. »Zorn sucht Widerstände, um sich daran zu entladen; man ›hat sich‹ wieder, wenn man im Zorn einen Bleistift zerbrochen hat. EntspreZur Psychologie der Gefühle, vgl.: H. Lipps, op. cit., S. 41, insb. Anm. 1; – vgl. die parallele Ausführung in: ders., Die Wirklichkeit des Menschen, op. cit., S. 179.

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chend wie nur der sich beengt oder erleichtert fühlen kann, bei dem dieses ›sich‹ die Richtung auf einen Leib findet, der nicht nur die Bedingung, sondern der das getroffene Was des Empfindens hierbei ist.« (13) Im mißlingenden Auftreten, im unfreien, gehemmten Wirken findet das Sich-seiner-nicht-sicher-Sein des Verlegenen die Richtung auf den Leib. Und dieser ist das getroffene Was des Empfindens hierbei, sofern die Hemmung, die Unfreiheit ja das »Walten« in seinem Leib tangiert. Der Affekt ist mithin »nichts Inneres«, wie auch die Gebärde nichts Äußeres ist. Der Affekt schwingt in ihr aus, setzt sich darin durch, gestaltet sich darin – wie beim Lachen –; man fängt den Affekt in der Gebärde ab und »bekommt sich wieder in Griff dabei« – wie wenn man im Zorn einen Bleistift zerbricht. (16) Der Affekt »ersteigert und verdeutlicht sich in der ›Einstellung‹, die er durch die Gebärde bekommt.« (17) Im unbeholfenen Sich-Bewegen, Sich-Benehmen und Sich-Äußern des Verlegenen steigert sich seine Unsicherheit. Und er fällt darin auf. »Gedanken, Absichten usw. mögen als das Innere eines Menschen wohl insofern gelten, als man sich ihrer nur bewußt werden bzw. sie nur erraten kann.« (13/14) Wenn sie demnach nicht diese Richtung auf einen Leib finden, der dann aber auch nicht »das getroffene Was« eines Empfindens hierbei ist. »Und weil Denken ein Sich-mit-etwas-Beschäftigen bedeutet, kann es wohl auch als etwas, was ›in einem vorgeht‹, verstanden werden.« (14) Man betrifft sich hierbei ja nicht in der Richtung auf den Leib, der ebenfalls nicht als Was des Empfindens hierbei auch getroffen ist. Es bleibt bloßen »Vorgang«, den man in einem »antrifft«. »Was einer denkt, kann nur merkbar werden in seiner Miene.« (14) Sofern sein Denken es nicht vermag, sich in der Miene als ein am Leibe Empfundenes, gerade darin Getroffenes auch zu artikulieren. Bezeichnend dafür, daß der Affekt nicht etwas Inneres ist, ist Augustins Bestimmung der affectio animi als eine distentio. »Tristitia contractio est«: Trauer verschließt sich in sich selbst. (13) »Sie läßt das Herz sich zusammen krampfen.« »Laetita diffusio est.« (13) Freude ist überschäumend. »Man springt auf vor Freude; sie will sich Luft machen. Freude läßt hochgemut weiterschreiten.« (13) »Timor fuga est.« »Als fuga zeigt sich eine Furcht, die dem nicht ins Auge sieht, was herankommt, die verscheucht, sich nirgends zu stellen wagt.« 12 (13) AnVgl. dazu den Artikel »Affekt« von J. Lanz in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. von J. Ritter. Bd. 1. Basel/Stuttgart 1971, S. 89–100. Die Bestimmung der

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ders eine Furcht, die Gedanke wird, die »angesichts einer hierin erschlossenen Gefahr sich frei zu bestimmen läßt«. (13) Daß der Affekt die Richtung auf den Leib findet, der das getroffene Was des Empfindens hierbei ist, bedeutet jedoch nicht, daß man hier »denkend« auf etwas am Leibe Empfundenes, darin Getroffenes gebracht oder daran »erinnert« wird. Wie etwa »ein Schmerz als ›bohrend‹ empfunden wird, sofern das darin Erfaßte an etwas als an derselben Stelle verweilend nicht Nachlassendes ›denken‹ läßt«. »Wie auch ein Schmerz im Bauch, der als schneidend empfunden wird, nicht einfach mit der Wirkung des Messers verglichen wird, bzw. nur insofern daran erinnert, als dieser Wirkung des Messers das Schneidende wiederum anzusehen ist.« (13, Anm. 1) Als sie ihrerseits diesen Eindruck vermittelt. Wie muß dann aber die Eigenart des Affekt-»Ausdrucks« bestimmt werden? Dem ist wiederum nur umsichtig beizukommen. An Aurel Kolnais phänomenologischer Analyse des Ekels – dessen Grimasse die des Brechreizes ist – zieht Hans Lipps seinen Versuch, den Affekt-Ausdruck näher zu bestimmen, auf. 13 Gleichzeitig weist er dabei die von Ludwig Klages vertretene Ansicht, die Gebärde sei hier »Gleichnis einer Handlung«, mit Entschiedenheit zurück. 14 Zunächst einmal: »daß auch eine Nachricht ›beklommen machen‹, auch ein Mensch mir ›zum Erbrechen‹ sein kann, zeigt, wie der Mensch immer in der Einheitlichkeit seiner leiblichen Natur reagiert.« (14) Der Andrang der Wirklichkeit ist darin vorweg schon aufgenommen worden. Wenn die »Befindlichkeit« für die Frage nach dem Menschen in Anspruch genommen werden soll, dann ist ihre anthropologische Würde, was sie dabei zu bedeuten hat, wohl keine andere als diese: die Einheitlichkeit seiner leiblichen Natur, aus der heraus, als seiner »Mitte«, Freude als »Erhebung«, des Schmerzes als »Zusammenziehung« ist stoischer Herkunft. Zur Furcht, vgl. Augustin, Tractatus 46 in Ioannem, ant. fin. Tom. 9: »Fuga animi timor est.« 13 A. Kolnai, Der Ekel. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung. Hrsg. von E. Husserl. Bd. X, Halle (Saale) 1929, S. 515–569. – Für eine Aktualisierung und wesentliche Vertiefung der leibphänomenologischen Analyse des Ekels siehe: K. Meyer-Drawe, Antworten der Eingeweide: Ekel. Eine leibphänomenologische Studie, in: Handlung-Kultur-Interpretation. Zeitschrift f. Sozial- und Kulturwissenschaften 2004 (13/1), S. 9–25. 14 L. Klages, Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. In: L. Klages. Sämtliche Werke Bd. 6: Ausdruckskunde. Bonn 1964, S. 139–313; insb. K. 2: Ausdrucksbewegung und Willkürbewegung, S. 175–193; zur Gebärde als »Gleichnis einer Handlung« vgl.: ebd., S. 190 f.

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ein Mensch existiert, scharf ins Auge zu fassen. Wie gerade ein Mensch diesem Andrang begegnet, kann immer nur auf dieses im vorweg schon Aufgenommen-worden-Sein zurückkommen. An der Grimasse des Ekels, die die des Brechreizes ist, läßt sich erspüren, in welchem präzisen Sinne man hier für die Einheitlichkeit der leiblichen Natur des Menschen aufzukommen hat. Insofern der Mensch sich nämlich darin erst zu fassen bekommt. Angesichts dessen, was er »hierbei empfindet«. Das ja nur im Leibe »getroffen« wird – nicht aber als ein »Vorfindliches«, das man darin auch antreffen könnte. Denn es gilt, »in den Möglichkeiten eines Menschen seine Natur aufzudecken«, und nicht etwa: seine Möglichkeiten auf eine wie immer beschaffene leibliche »Natur« einzuschränken. »Die Grimasse des Ekels z. B. ist die des Brechreizes.« (14) Der Brechreiz löst – unwillkürlich – diese Grimasse aus, zieht sie aber nicht. Im Ekel verzieht man – unwillkürlich – sein Gesicht zu dieser Grimasse des Brechreizes. In eins mit dieser Grimasse kann aber der Ekel z. B. auch stecken bleiben – oder: »man kann sich in den Ekel z. B. willkürlich durch dessen Gebärde versetzen«. (17) Als Gebärde ist die Grimasse des Ekels – auch wenn sie unwillkürlich gezogen wird – kein bloßer Reflex des Brechreizes. Die Grimasse des Ekels aktiviert auch nicht diesen Brechreiz, läßt aber andererseits auch nicht an den durch den Brechreiz herausgelösten Vorgang »denken« oder daran »erinnern«. Was mich anekelt, ist mir jedoch »zum Erbrechen«. Die Grimasse des Ekels »stellt« den Ekel auf das Erbrechen »ein«. Sie führt aber nicht dazu, bricht darin nicht aus. Die Konvulsion, das Krampfhaft-Zuckende dabei wird durch die Grimasse ebenfalls nicht – absichtlich – »simuliert«. Das Erbrechen ist tangiert, im Hinblick auf das, was man beim Ekel »empfindet«, und zwar durch die Grimasse. Die Gebärde stellt den Affekt auf das ein, was man hierbei empfindet. Aber die Empfindungen, die mit einem herausgelösten Brechreiz verbunden sein mögen – das, was man beim Erbrechen empfindet, sind hier doch nur »gestreift«, weder vollzogen noch etwa kopiert. »Dem was mich anekelt, kann ich nichts entgegensetzen.« (14) Wie ich den Brechreiz nicht unterdrücken kann, dieser sich durchsetzt. »Wie das was einen anwidert, nur eine sich sperrende Gegenwehr erregt.« (14) Genau so, wie man das, was den Brechreiz erregt, zurückzudrängen versucht, sich sperrend dagegen wehrt, daß die Erregung sich des Brechreizes bemächtigt, ihn »ansteckt«. »Die Grimasse des Ekels drückt aus, wie man hier nur mit Gewalt etwas ›wieder los werden‹ kann.« (14) Wie die Konvulsionen beim 35 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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Erbrechen, die nicht zu bewältigenden Krämpfe, deren Gewaltsamkeit man zuckend empfindet, worin man das den Brechreiz Erregende ausstoßend los wird. »Ekel steht neben dem Überdruß, der insofern von etwas genug hat, als es zunächst aufgenommen wurde.« (14) Wie – das Erbrechen nahelegend – einer sich zunächst wohl über etwas beschwert, was ihm noch schwer im Magen liegt. Während »›Abscheu und Haß‹ als Stellung und Haltung begründet herausgefordert sind« – »je nachdem das richtige Verhalten«, das einer für richtig »hält« bzw. wozu er sich »stellt« –, ist »Ekel etwas, was einen nur eben ›ankommt‹«. (14) Einer bzw. etwas ekelt mich an. Und insofern ist der Ekel »eine Empfindung«. Im Unterschied etwa »zum Grauen und Schaudern«. »In denen etwas transparent wird in Richtung auf Abgründe, in denen dieses Abgründige also ›erlebt‹ wird.« (14) Was Ekel erregt, wird darin aber nicht auch transparent in Richtung auf etwas, das insofern auch »erlebt« werden kann. Das Ekelhafte wird in der Richtung auf etwas genommen, was man nur im Leibe »treffen« kann, insofern es an dessen Sinnlichkeit appelliert, diese beansprucht; dessen Reizbarkeit sinnliches Empfinden ja erst ermöglicht – was sich aber nicht etwa im Leibe auch befindet bzw. darin anzutreffen ist. »Man erfährt eine Anfechtung von dem her, was daraufhin gerade als ekelhaft empfunden wird.« (14) Ekelhaft ist »nicht einfach schon irgendwelcher Schmutz, dessen Nähe eine nur gelegentliche, äußere, räumliche ist«. »Schmieriges, aus Unkraft Haftendes, sich gleichsam darin Ausspielendes, insofern Aufsässiges ist ekelhaft.« (14) »Im Ekel wird etwas sinnlich gefaßt«, d. h. daraufhin angefaßt, was man hierbei sinnlich empfindet bzw. als ein Widerwärtiges dieses sinnliche Empfinden anficht. (14) »Was breit sich darbietet, erregt Ekel. Klebriges, aber auch das Gewimmel eines Raupennestes und das hemmungslos Ungenierte, Schamlose eines fetten Grinsens. In diesem Grinsen wird der Hohn erfaßt über die unabstreifbare Affinität zu dem daraufhin Ekelhaften. Das Gewöhnliche ekelt. Aber auch die fahle Blässe, das Ungestaltete, die darin sichtbare Verarmung und Niedrigkeit des Lebens parasitisch lebender Würmer z. B.« (14) »Nacktes NurLeben in seiner Ungebändigtheit« ist ekelhaft. 15 »Die sich breitmachenden Rasen einer Bakterienkultur z. B. im Unterschied zu den Bakterien unter dem Mikroskop, wo sie in ihrer differenzierten Gestalt gesehen

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Vgl. A. Kolnai, op. cit.; S. 554 und S. 556.

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werden.« (14) Das Ungestaltete, sich breit Machende, Ungebändigte, Schmierige, Klebrige »zündet« den Ekel. Aber erst die Grimasse »stellt« den Ekel auf das, was man hierbei sinnlich empfindet, »ein«, sofern der Leib nicht nur seiner Reizbarkeit wegen als Bedingung sinnlichen Empfindens im Spiel ist, sondern als Was des sinnlichen Empfindens hierbei getroffen ist. Was man im Ekel sinnlich erfaßt, erhält erst durch die Grimasse des Ekels seine bestimmte »Fassung«. Das sinnliche Empfinden hierbei »verdichtet sich«, »spitzt sich zu« – dahin, daß es im Leibe getroffen wird, nicht aber darin auch anzutreffen ist. (15/16) Und zwar durch die Grimasse des Ekels, die daraufhin auch mit dem sinnlichen Empfinden hierbei fertig wird, es dahin »feststellt«. (16) »Die zunächst unbestimmte, ihrer selbst nicht sichere Anmutung kippt hier in ›richtigen‹ Ekel ein.« (16) Wie ist diese Verdichtung, Zuspitzung genauer zu beschreiben? Die durch die Gebärde zustande kommt? Worin der Affekt »gekonnt« wird, sofern er hier »in gekonnte Bahnen kommt«, z. B. in »richtigen« Ekel einkippt? (16) Ist etwa die Gebärde eine »bildhafte Verdichtung«, die das sinnliche Empfinden hierbei veranschaulicht? (15) Bildet die Grimasse des Ekels dabei – kraft der Ähnlichkeit des Gesichtsausdrucks – etwa das krampfhaft-zuckende Erbrechen ab? Als eine Handlung, deren Sinn darin zu sehen wäre, dieses sinnliche Empfinden zum Ausdruck zu bringen, es zu veranschaulichen? Es häufen sich hier offensichtlich die Probleme. Ludwig Klages bestimmt – generell – die Gebärde als »das Gleichnis einer Handlung«. (15) Und er versteht »Gleichnis« hier: »als bildhafte Verdichtung eines zunächst und eigentlich Begreiflichen«. 16 (15) Das als »Sinn« einer Handlung zu entnehmen wäre. Zunächst einmal sind Gebärden mit »Willkürhandlungen« kaum zu vergleichen. Letztere »sehen doch anders aus«. »Sie sind nicht schon an ihrer Gestalt zu erkennen.« (15) Das Gezüge eines solchen »richtigen« oder »absichtlichen« Verhaltens ist »sachlich zu begreifen«, d. h. von der in der Vorhabe anvisierten Sache her. (15) Der Sinn dieses Gezüges »ist als Plan zu finden«. (15) Und dieser ermöglicht es, »die Bedeutung der Einzelheiten solchen Vorgehens zu verstehen«. (15) Bei den unwillkürlichen Bewegungen jedoch – etwa: »bei dem unwillkürlichen Kehrtmachen … oder bei dem Beiseitebiegen des Kopfes gelegentlich einer vorbeipfeifenden

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Vgl. L. Klages, op. cit., S. 190 f.

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Granate« – ist »der Ausdruck vom Sinn gar nicht zu trennen«. (15) Schon an seiner Bewegungsgestalt ist der Sinn des Gezüges dieses Verhaltens erkennbar. Er wird nicht etwa erst durch die in der Vorhabe anvisierte Sache geprägt, die vom konkreten Tun abzusondern bzw. darin »als Plan« hinterlegt wäre. Wie die Bewegung sich gestaltet, drückt den Sinn des Gezüges dieses Verhaltens aus. – »Wo liegt aber dann bei der Grimasse des Ekels – wenn überhaupt – das Gleichnishafte?« (15) Gleicht sie einer Willkürhandlung bzw. einer unwillkürlichen Bewegung – oder beiden in eins: Beabsichtigt sie, eine unwillkürliche Bewegung etwa zu doublieren? Deren Bewegungsgestalt erschließt uns aber noch keineswegs das sinnliche Empfinden hierbei. Und die Absicht, ein solches sinnliches Empfinden zu erwecken bzw. daran zu erinnern, bestimmt doch nicht den Sinn des Gezüges, wenn man die Grimasse zieht; sie ist darin nicht als Plan zu finden. Weder mit einer Willkürhandlung, noch mit einer unwillkürlichen, rückwirkenden Handlung dürfte die Gebärde zu vergleichen sein. Sie bildet keine unwillkürliche Bewegung ab, und diese Absicht, »abzubilden« haftet auch nicht dem Gezüge der Gebärde an. Als Verdichtung oder Zuspitzung ist die Gebärde gar nicht »bildhaft«. Eine als »Bild« anvisierte Sache, die außerdem die Bewegungsgestalt prägen würde, gibt es hier nämlich nicht. Denn: daß der Affekt sein »Ausdruck« ist, besagt genau genommen, daß er darin nicht etwa »abgebildet« ist. Wessen Gleichnis ist dann aber die Gebärde – wenn nicht des Empfindens, »das in der Gebärde aufgenommen, mit dem man durch die Gebärde fertig wird«? (15) Wie soll aber die Gebärde dem Empfinden gleichkommen? Wie haftet schon der Empfindung, und nicht etwa erst der Gebärde, das Gleichnis an? In der Grimasse des Ekels z. B. wird »die Anfechtung von dem her, was man daraufhin als ekelhaft empfindet«, aufgenommen. Sie wird daraufhin mit ihr fertig, als sie diese »mit Gewalt wieder los werden« will. (14) »Ebenso wie die Verachtung etwas abschüttelt, was – und wiederum schon hierin das Gleichnis – sonst an mir hängen bliebe.« (15) Die Gebärde nimmt die Empfindung somit in der Richtung auf den Leib auf, die sich in ihr schon angebahnt hat, wenn die Empfindung auch nicht in diese Bahn schon hineingekommen ist. Daß das Empfinden sich in dieser, sich anbahnenden Richtung bewegt, sich ihr »angleicht«, läßt uns gerade ihre affektive Potenz erblicken. »Das Augenschließen und abwehrende Vorstrecken der Arme beim Entsetzen … soll nicht eigentlich etwas mich Anspringendes vom Leib halten. Man kann doch hier den Anblick, bzw. ›die Sache‹ nicht ertra38 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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gen, als ob sie mich bedrängten.« 17 (15) Es zeigt sich hier, wie in der Gebärde gerade dem Gleichnishaften des Empfindens gleichgekommen bzw. diesem entsprochen wird. »Und als Ausdruck des Empfindens und Befindens werden diese Bewegungen und ebenso das Gebaren, die Haltung der Verlegenheit doch auch verstanden.« (15) Und nicht etwa als Willkürhandlungen bzw. als unwillkürliches, rückwirkendes Agieren. Denn die Gebärde stellt weder – etwa absichtlich – die Empfindung »bildhaft« dar, noch reagiert sie – unwillkürlich – auf diese Empfindung. »Und wessen Gleichnis sollte wohl auch das Lachen sein?« (15) »Man lacht bei den verschiedensten Anlässen. Nicht nur über das, was nicht ernst zu nehmen ist. Auch in der Verzweiflung z. B. Es gibt ein bitteres Lachen. Und auch das grundlose Lachen in der Verlegenheit.« (15) »Was hier überall wiederkehrt – in der Distanz des einem komisch Vorkommenden, 18 in der gewaltsamen Entspannung des Scheiterns, in dem Abstand, zu dem der Verlegene den anderen zu verbinden sucht – das ist freilich nicht als Formel herausstellbar.« (15) Wie eine jeweils unterschiedliche Empfindung hier die sich anbahnende Richtung auf den Leib findet, sich in dieser bewegt, sich ihr »angleicht«, ist unverwechselbar verschieden. Ebenso, wie von hieraus z. B. das Lachen sich auch unterschiedlich gestaltet. Was Lachen eigentlich bedeutet, ist nur dieser verschiedentlich aufgegriffenen und unterschiedlich gestalteten affektiven Potenz des Empfindens zu entnehmen. »Aus demselben Grunde, aus dem auch die Grundbedeutung eines Wortes im Durchlaufen der verschiedenen Weisen ihrer Erfüllung nur eben zu erspüren ist.« 19(15) Worauf bezieht sich wohl das »Gleichnishafte« des Empfindens? Dem durch die Gebärde bzw. die Haltung entsprochen wird? »Das Gleichnishafte des Empfindens bezieht sich darauf, wie das Verschiedenste auf denselben Nenner kommt, insofern nämlich in Vergleich zu einander steht, als der Mensch die einheitliche Mitte seines Empfindens ist.« (15/16) Die »Mitte« seines Empfindens ist der Mensch, sofern er sich bei etwas befindet, was ihn dabei betrifft bzw. was daraufhin von Vgl. dazu L. Klages, op. cit., S. 192–193. Vgl. dazu H. Lipps, Die Erlebnisweise der »Primitiven« in: Die Wirklichkeit des Menschen, op. cit., S. 37. 19 Vgl. dazu H. Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache. Werke Bd. IV. Frankfurt a. M. 1977, S. 115 f. 17 18

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In Verlegenheit geraten

ihm aufgenommen wird; insofern er sich als »befindliches« Wesen beansprucht findet. »Einheitlich« ist diese Mitte des Empfindens, sofern das Sich-bei-etwas-Befinden des Menschen die Leibhaftigkeit seines Daseins betrifft, seine »Befindlichkeit« eine leibliche ist. Denn als leibliche ist die affektive Potenz des Empfindens auch »möglich«. Was einen Menschen betrifft, ist im Hinblick auf diese Leibhaftigkeit seines Daseins faßbar, kann darin aufgenommen, festgestellt und eventuell in den Griff bekommen werden. »Der Mensch reagiert immer in der Einheitlichkeit seiner leiblichen Natur.« (14) Er kommt auf seine Befindlichkeit als eine leibliche zurück, insofern er sich daraufhin beansprucht findet; er faßt seine Betroffenheit im leiblichen Gebaren bzw. in seiner Haltung, fängt sie eventuell darin ab bzw. versucht, ihr darin auch Herr zu werden. Keineswegs ist die Leibhaftigkeit der Befindlichkeit eines Menschen, die affektive Potenz seines Empfindens als eine leibliche, eine bloße Vermöglichkeit seines Leibkörpers als eines »Organs«. Wie der Mensch im leiblichen Gebaren bzw. in seiner Haltung auf seine Befindlichkeit als eine am Leibe erfahrene, darin Empfundene zurückkommt, ist weder mit einer Reflexbewegung noch mit deren Doublure zu vergleichen. Wie »das Verschiedenste auf denselben Nenner kommt«, zeigte uns schon das Lachen. (15) Aber auch die Biegsamkeit und Modulationsfähigkeit dieses selben Nenners führte es uns vor Augen. Außerdem »verbietet die Unwillkürlichkeit der Gebärde hier von vornherein schon die Rede von einer Übertragung, die bei einem Wort bzw. bei einem Begriff zufolge von deren Verfügbarkeit und Verwendbarkeit wenigstens möglich wäre.« (16) Die affektive Potenz des Empfindens ergreift sich erst in dem, was als am Leibe empfunden aufgriffen wird. Sie steht – als solche – einem gar nicht erst zur Verfügung, kann von ihm nicht verwendet werden. In der Gebärde wird sie »gekonnt«, nicht aber »übersetzt«. Denn die Gebärde versucht, mit dem, was als am Leibe empfunden aufgegriffen wird, »hieraufhin fertig zu werden« bzw. sich »davon zu lösen«. (16) Und nicht etwa, es in ein Vergleichbares bzw. etwas, was daran erinnern könnte, zu übersetzen. Was im leiblichen Gebaren z. B. im Lachen »auf denselben Nenner kommt«, ist zugleich unverwechselbar verschieden, wie es sich darin auch je anders gestaltet. Ein als »eigentliches Lachen« auch Begreifliches, das man in das bittere Lachen der Verzweiflung oder das grundlose Lachen der Verlegenheit überführen könnte, gibt es nicht. Als »einheitliche Mitte« seines Empfindens faßt der Mensch sich in der Differenz der darin enthaltenen 40 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Zerbrechliche Einheit im Zwielicht. Der Ausdruck der Verlegenheit

affektiven Möglichkeiten. Die wohl insofern in Vergleich zu einander stehen mögen, als sie als ergreifbare Möglichkeiten leiblich vermittelt sind. Als je anders getroffen, tritt am Leibe das Differenzierte, wie ein Mensch sich dabei zu fassen bekommt, allererst heraus. Wie zerbrechlich diese einheitliche Mitte des Empfindens ist, worin ein Mensch sich zu fassen bekommt, und zwar in der Differenz der darin enthaltenen affektiven Möglichkeiten, wurde durch die Fassungslosigkeit des Verlegenen bezeugt. Die im Zwielicht seines leiblichen Sich-Benehmens ausbrach. Der Verlegene befindet sich bei etwas, mit dem er sich nicht abzufinden vermag. Es gelingt ihm nicht, in sich selbst sich zu dem zu verhalten, was ihn dabei betrifft. Das Differente der darin enthaltenen affektiven Möglichkeiten gelangt nicht zur Artikulation. Befangen durch das, was ihn insofern betrifft, verfängt er sich in sich. Woraufhin er sich dabei beansprucht findet, bleibt richtungslos. Seiner Betroffenheit fehlt die Spitze, die dem Anspruch zu bieten ist. Unbeholfen verstrickt der Verlegene sich in das Gewirr der ihn bestürzenden Empfindungen, aus denen er nicht herauszufinden vermag. Fassungslos kann er sich darin nicht finden. Beklommen verschließt er sich in sich, getraut sich nicht aus sich selbst heraus. Im Zwielicht seines leiblichen Sich-Benehmens, irgendwie agieren zu müssen, obwohl er nicht aus sich herausgehen kann, im daraufhin auch mißlingenden Auftreten, das als ungeschickt fehl am Platz ist, ist diese Fassungslosigkeit des Verlegenen zu erspüren. Weil in seinem Empfinden das Differente der darin enthaltenen affektiven Möglichkeiten nicht zur Artikulation gelangt, scheint der Verlegene undeutlich in sich selbst verschwimmen zu wollen. Ohne Spitze, richtungslos, gibt es nichts, was zu der affektiven Potenz seines Empfindens irgendwie in Vergleich stünde, was mit ihr auf denselben Nenner kommen könnte. Vergebens sucht der Verlegene am eigenen Leibe den Treffpunkt seines Empfindens. Als unartikuliert ist die affektive Potenz seines Empfindens darin gar nicht greifbar. Die Aufforderung, aus sich herauszugehen, das, woraufhin er sich beansprucht findet, auch aufzugreifen, überfordert ihn. Der Verlegene kann seine Betroffenheit nicht pointiert herausstellen; am Leibe kann nicht – als je anders getroffen – das Differenzierte, wie er sich dabei zu fassen bekommt, heraustreten. Gerade deshalb bricht seine Fassungslosigkeit im Mißtrauen gegen den verräterischen Leib aus, der ihn im Stich zu lassen scheint. Die Spalte, mit der die Verlegenheit die einheitliche Mitte des Empfindens eines Menschen zerklüftet, kann nur an der Zerrissenheit 41 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

In Verlegenheit geraten

seines leiblichen Daseins aufgewiesen werden. Wie tief sie in diese einheitliche Mitte hineindrängt, kann nur daran gemessen werden. In der Zerrissenheit seines leiblichen Daseins ist ein Mensch darum bemüht, das Verfängliche seiner Fassungslosigkeit abzufangen. Er möchte für die Einheitlichkeit seiner leiblichen Natur den Beweis führen. Als auf die Probe gestellt, geht sie ihm verlustig. Der Verlegene möchte recht nach außen gelangen, will es auf alle Fälle richtig machen. Er besteht auf dem getreuen Ausdruck, versucht sein leibliches Gebaren, die Art und Weise, wie er sich äußert, ständig zu überwachen. Weil seine Betroffenheit durch sein Gebaren, seine Äußerung keine ihr gemäße »Einstellung« bekommt, übertrifft der Verlegene sich darin, eine solche zu erstellen. Als äußerlich gemacht, fehlt dem Gebaren, der Äußerung daraufhin die Treffsicherheit und die Überzeugungskraft. Denn, unter der Kontrolle innerer Beobachtung gestellt, darin erstellt, ist darin auch die Absicht hinterlegt worden, sich selbst dabei richtig herauszubekommen bzw. dem Anderen gegenüber zurechtzulegen. Als gerade hierauf eingestellt, kommt dem Verlegenen sein Naturell abhanden. Er versteigt sich zu Posen, drückt sich gewunden aus. Und seine Fassungslosigkeit steigert sich darin, in seinem Eigensten übersehen, auf das Gekünstelte und Gewundene genommen, in die Nähe des Komischen gerückt zu werden. Die Befangenheit des Verlegenen ist eine Affektion seiner Existenz. Die, als überbeansprucht, sich nicht zu fassen bekommt, deren Fassungslosigkeit im mißlingenden Auftreten ausbricht – und nicht, wie z. B. die Anfechtung beim Ekel, sich in der Verzerrung des Mundes gestaltet. Die Befangenheit des Verlegenen umfängt den Menschen ganz. Darum, sich nicht ganz sein zu können, ist der Verlegene – verlegen. Befangen, bohrt sich in den Blick des Verlegenen die Lähmung ein, die sein Wirken gänzlich bedroht.

4.

Die Befangenheit des Menschen

»Im ›Gleichnishaften‹ der Affekte kommt nichts anderes zum Ausdruck als dies, daß das sachlich Verschiedenste als dasselbe gesehen werden kann.« (16) Was affiziert, wird nur so aufgenommen, daß es sich in ein Gleichnis hineinhält; die Potenz des Affekts ergreift sich darin, »ermächtigt« sich nur so. Dasjenige, dem der Affekt sich angleicht, wird nicht etwa durch ein anderes bildhaft dargestellt, womit er in irgendeiner Hinsicht verglichen werden könnte. Er wird auch nicht in ein 42 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Die Befangenheit des Menschen

anderes »übersetzt«, weil man sich hier in Erinnerungen einschalten würde. Das zur Angleichung Genommene bildet sich in ein anderes ein, das in keinem nachweisbaren Vergleich zu ihm steht bzw. keineswegs – wie auch immer – daran erinnert. Es vergleicht sich nicht mit dem anderen, sondern »am anderen«. Die Angleichung kommt nur dadurch auch zum Tragen. Der Affekt kann das sachlich Verschiedenste für diese Angleichung ergreifen; er läßt diese dadurch tragend werden, daß dabei an – sachlich – davon völlig Verschiedenem das zur Angleichung Genommene erst als ein »selbiges« herauskommt. Für sich jedoch ist dasjenige, woran die Angleichung sich vergleicht, nicht auf diesen Nenner zu bringen bzw. nicht als »dasselbe« zu sehen. »Daß z. B. die Sinnesart eines Menschen als ›krumm‹ beschrieben werden kann, zeigt, wie der Mensch hier ebenso von den Dingen aus gesehen, wie den Dingen in ihrem Krummsein etwas angesehen wird. Denn was ›krumm‹ meint, ist nicht durch die bloße Gestalt zu treffen. Das eine vergleicht sich am anderen, ohne daß man eine eigentliche und übertragene Bedeutung von ›krumm‹ unterscheiden könnte.« (16) Das Gleichnishafte des Affektes, das von ihm zur Angleichung Genommene liegt im Empfinden, sofern sich darin die Richtung auf den Leib anbahnt, in die der Affekt nicht schon von sich aus hineingekommen ist. Er ergreift sich, ermächtigt sich erst darin. Woran der Affekt sich vergleicht, worin das von ihm zur Angleichung Genommene als ein »selbiges« auch sichtbar wird, ist nur am Leibe getroffen, darin auf den Punkt gebracht. In der Gebärde bzw. der Haltung »spitzt zunächst unbestimmte, ihrer selbst nicht sichere Anmutung sich zu«. 20 (16) Dem Gleichnishaften des Empfindens wird darin entsprochen, und zwar so, daß das für das Sich-Befinden hierbei zur Angleichung Genommene sich an diesem am Leibe Getroffenen vergleicht, darin als ein »selbiges« herauskommt bzw. auf denselben Nenner kommt. Die affektive Potenz des Empfindens wird auf diesem Wege frei. In der Gebärde wird der Affekt »gekonnt«. »Sie bedeutet den Beginn einer Distanzierung von dem was mich bewegt.« (16) »Nicht anders, als auch das Begreifen in gekonnte Bahnen kommt.« (16) »Durch die Fassung des artikulierten Lautes ist es gelungen, sich das darin ›Aufgenommene‹ frei vorzuhalten.« (16) »Durch die Verlautung im Wort, durch dieses Umgeborenwerden des Eindrucks wird er zu sich selbst Vgl. die parallele Ausführung von H. Lipps in: Die Verbindlichkeit der Sprache, op. cit., S. 120.

20

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In Verlegenheit geraten

entbunden.« 21 »Und nur sofern man sich selbst heraushält, sich nicht mitnehmen läßt, gelingt es, den Eindruck der Flüchtigkeit zu entreißen und herauszustellen. Das Freikommen von … wird ein Freiwerden zu …« »Aus der empfindenden leiblich erwachten Tierheit löst sich der Mensch durch Befreiung des Schauens von der Herrschaft des Empfindens. (Klages).« 22 (16) Jedoch ist die Fassung, die der Affekt durch die Bewegungsartikulation der Gebärde bzw. der Haltung erfährt, von Umgeboren-Werden des Eindrucks durch seine Verlautung im Wort auch verschieden. Und das Frei-Werden des Affekts in der Gebärde bzw. der Haltung ist ein anderes als das freie Sich-Vorhalten des Eindrucks. Im Affekt befindet man sich nicht bei etwas, was, einen mitnehmend, sich im Mitgenommen-Werden verflüchtigt. Was man erst durch das Schauen herausstellen kann. Worin das Beeindruckende des Eindrucks sich erst ergreift, woraufhin er durch die Verlautung im Wort seine Fassung bekommt. Durch das Schauen befreit man sich von der Benommenheit durch den sich darin verflüchtigenden Eindruck. Man »hat« ihn darin, der daraufhin auch als »Eindruck von« gefaßt werden kann. Und zwar durch die Verlautung im Wort, wodurch man erst auf dasjenige gebracht wird, was im »Eindruck von« sich zwar angebahnt hat, aber noch nicht »zu sich selbst entbunden« worden ist. »Im Eindruck vernimmt man aber lediglich etwas – man wird nicht affiziert hierbei.« (16) Im Vernehmen kommt man auf die Benommenheit durch das einen Beeindruckende zurück; soweit man den Eindruck »hat«, vernimmt man, ist er »Eindruck von«. Das, wovon man den Eindruck hat, bekommt man in der Verlautung durch das Wort zu fassen; der »Eindruck von« entbindet sich darin zu sich selbst. Und weil im Eindruck, den man hat, man lediglich etwas »vernimmt«, »deshalb auch kann man den Eindruck – sich einschaltend in Erinnerungen – sich zu übersetzen suchen.« 23(16) Im Eindruck wird man ja nicht »befallen« von etwas, was einen insofern überkommt. Man erliegt dem Eindruck nicht etwa so, daß man nicht schalten könnte. »… während es mit dem Affekt, in den man gerät, hieraufhin fertig zu werden gilt, man sich nämlich davon zu lösen sucht.« (16) Im Vgl. dazu Lipps’ Rede vom »Zu-sich-selbst-entbunden-Werdens« des Gedankens durch den Ausdruck sowie vom »Berufen-Werden« des Eindrucks durch die Lautung eines Wortes, op. cit., S. 112 und S. 118 f. 22 Vgl. dazu insb. L. Klages, Vom Wesen des Bewußtseins. In: Sämtliche Werke Bd. 3. 23 Vgl. dazu H. Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache, op. cit., S. 119–120. 21

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Die Befangenheit des Menschen

Affekt meldet sich ein Bedrängnis und keine Benommenheit. Im Bedrängnis ist man durch das Affizierende befangen. Ein schauendes Freikommen-von ist einem dabei untersagt. Im Befallen bohrt das Affizierende sich ein, anstatt sich zu verflüchtigen. Man gerät in den Affekt, der einen überkommt, hinein. Man kann sich selbst insofern nicht heraushalten, als man das Affizierende sich nicht vorzuhalten vermag. Man erliegt dem Andrang dieses Affizierenden, der nicht geschaltet werden kann, gibt ihm nach. Und gerade daraufhin gilt es, in der Gebärde bzw. der Haltung mit dem Affekt auch »fertig zu werden«. In der Gebärde bzw. der Haltung wird der Affekt insofern gekonnt, als man sich darin von ihm »zu lösen sucht«. Die Fassung, die er durch die Bewegungsartikulation bekommt, entbindet den Affekt nicht ohne weiteres »zu sich selbst«. Nicht etwa kommt etwas, was man schauend sich vorhalten könnte, hier ins Freie – wie der Eindruck durch die Verlautung im Wort. Nachgiebig, schwingt in der Gebärde der Affekt aus, ersteigert und verdeutlicht er sich darin. Dem Andrang des Affizierenden hierbei, dem man im Affekt nachgibt, wird insofern in der Gebärde bzw. der Haltung auch nachgekommen. Man verfolgt die Richtung, in der das Affizierende sich einbohrt. »So wie man einer Empfindung nachgeht, dem Empfundenen auf der Spur zu bleiben sucht, hellhörig und -sichtig wird, so ersteigert und verdeutlicht sich der Affekt in der ›Einstellung‹, die er durch die Gebärde bekommt.« (16/17) Diese »Einstellung« bekommt der Affekt aber erst dann, wenn die Richtung des sich einbohrenden Affizierenden den Punkt erreicht, an dem es den Leib trifft, darin aufgenommen wird. Auf diesen Nenner gekommen, als ein »selbiges«, woran der Affekt sich vergleichen kann, wird das Affizierende »umgeboren«. Und zwar nicht sosehr, indem es damit zu sich selbst, sondern vielmehr, indem es dadurch von sich selbst entbunden wird. In der Bewegungsartikulation durch die Gebärde bzw. die Haltung bekommt nicht etwa der Affekt sich zu fassen; man bekommt sich angesichts dessen, was einen affiziert, zu fassen. Was einen affiziert, lichtet sich darin. »Frei« wird der Affekt insofern durch die Gebärde, als er darin ausschwingt, dieser Schwingung jedoch durch die Bewegungsartikulation ihre kompulsive Spannkraft genommen wird. In der Gebärde begegnet man dem Bedrängnis. Im Können des Affektes durch die Gebärde bzw. die Haltung stellt man sich dem entgegen, was einen nur überkommt. Das Bedrängende wird darin aufgenommen als etwas, worauf man zugehen kann. Man bekommt es zu Gesicht, wird »hellsichtig«. Daraufhin, worin der Affekt sich lichtet, wird man mit ihm fertig, 45 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

In Verlegenheit geraten

fängt man ihn ab und »bekommt sich wieder in Griff dabei«. (16) In der Grimasse, die einer zieht, sind die Züge des Ekels scharf gezogen. Die Anfechtung von dem, was man daraufhin nur mit Gewalt wieder los werden kann, ist darin auf den Punkt gebracht. In der Grimasse des Brechreizes ist der Ekel insofern auch getroffen, als es einem dabei zum Erbrechen ist. Und nur daraufhin löst man sich vom Widerwärtigen, das einen anekelt. »Nur was leiblichen Sich-Gebärdens fähig ist, kann auch Affekte haben.« (17) Es kann sich angesichts dessen, was es affiziert, habhaft werden. Dem Verlegenen gelingt es nicht. Er kann sich nicht habhaft werden, sich nicht finden. Angesichts dessen, was er dabei empfindet. Daraufhin mißlingt auch sein Auftreten. Als Befindlichkeit zeichnet die Verlegenheit sich dadurch aus. Sie ist eine Befangenheit, von der ein Mensch nicht loskommt. Die einheitliche Mitte seines Empfindens, aus der heraus er sich den anderen zu verbinden sucht, ist davon betroffen. In seinem leiblichen Gebaren bekommt der Verlegene sich nicht zu fassen; seine Fassungslosigkeit steigert sich darin, ohne eine Lösung finden zu können. Bis zur Ratlosigkeit, die sein gesamtes Wirken lähmend bedroht. Der Verlegenheit ist man ausgesetzt. Als Lage eines Menschen ist sie auswegslos. Zu dem, was verlegen macht, kann das Ich sich nicht in sich selbst verhalten. Es ist haltlos, gibt ihm keine Möglichkeit für ein Verhalten vor, die einer daraufhin auch »könnte«. Wenn es gilt, in den Möglichkeiten eines Menschen seine Natur und die Art seiner Existenz aufzudecken, so zeigt die Verlegenheit, wie in der Unmöglichkeit, Halt zu gewinnen, die Natur des Menschen, die Art seiner Existenz beschaffen ist. Wie sein fassungsloses in sich Verstrickt-Sein am Leibe ausbricht, ohne darin auch getroffen werden zu können. Die Anthropologie von Hans Lipps begann damit, im Blick auf die menschliche Natur das noch fassungslose Gezüge des Verlegenen auszulegen. Die Frage nach dem Menschen wird ja erst in der Ratlosigkeit eines Menschen, der auswegslos in sich verstrickt ist, laut. Sie ist nur von dort aufzunehmen.

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Die Zerbrechlichkeit des Menschen. Zur Textur des Schamphänomens

»Dem triumphierenden Subjekt wird nicht das vollständig zerstreute entgegengesetzt, sondern der massiven Einheit eine fragile Differenz.« K. Meyer-Drawe, Das exzentrische Selbst, in: Transitorische Identität. Der Prozeßcharakter des modernen Selbst. Hrsg. von J. Straub und J. Renn. Frankfurt a. M./New York 2002, S. 370.

1.

Die Wache der Scham

Die Scham steht Wache. Ihre Wachsamkeit ist eine angespannte, von der Wachheit des Bewußtseins verschiedene. In der Wachheit ist man »sich selbst verbunden«. (48–49) Die Wachsamkeit der Scham jedoch »bannt und unterbindet«. (32) Dem wachen Bewußtsein eignet nicht ohne weiteres die spezifische Bedachtsamkeit der Wache. »Scham wacht aber über etwas«. (31) Und während der sich Genierende für sich etwas zu vermeiden sucht, hat »Scham eine Gefährdung ›des Menschen‹ im Blick, ist hierin nicht sicher«. (11) Das Schamphänomen verweist uns an eine Fragilität und Zerbrechlichkeit menschlicher Existenz. »Schamhaftigkeit scheut sich gerade, den Blick dahin aufzuheben, von wo ihr Gefährdung kommt.« (32) Die aufgezogene Wache der Scham macht nicht etwa Front gegen eine Gefahr, die man als ins Auge gefaßte auch verorten könnte. Nur »umkreisend« bannt die wachsame Scham. Während der sich Genierende »vorsichtig und vorsorglich etwas nur eben vermeiden will, sich hierbei mißt an etwas«, (ebd.) gilt gerade dieses Sich-an-etwas-Messen der Scham als vorzubeugende Vermessenheit. »Schamhaftigkeit sucht nicht eigentlich sich zu schützen vor etwas.« (Ebd.) Bedachtsam die Wache haltend, möchte sie behüten. »Als ein Empfinden … ist Scham nicht eigentlich protentional, sondern prohibitiv.« (Ebd.) Ihre Blicke sind niedergeschlagen. Scham »unterbindet« es, 47 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Die Zerbrechlichkeit des Menschen

demjenigen was sie im Blick hat, auch »ins Gesicht zu sehen«. Weder stellt sie die Gefährdung, noch begegnet sie ihr. Die Wache der Scham schafft keine Fronten. Scham wittert eine Gefahr, die es heraufzubeschwören gilt. Sie hütet davor, daß man, den Blick erhebend, sich herauswagt. »Man senkt den Blick, verhüllt den Blick«, (27) möchte sich gerade aus ihm herausnehmen. »Das Gesicht verbirgt man in der Scham nicht wie seine natürliche Blöße.« (Ebd.) Was die Scham hütendvorbeugend heraufbeschwören möchte, hierin jedoch nicht sicher ist: die Gefährdung, die man nicht für sich vermeiden kann, vielmehr der Brisanz menschlicher Existenz überantwortet ist, ist eine »Aussetzung«. An sich ist Existenz gefährdet. Und schon die Bedachtsamkeit der Wache, die sie aufzieht, zeigt, wie Scham »am Ursprung des Sichseiner-bewußt-Seins« steht. (31) Nicht unbefangen ist man nämlich im Selbstbewußtsein – wie im wachen Bewußtsein – sich selbst verbunden. Die Bewußtheit dessen, wozu gerade die Scham durchstößt, ist »eine in der problematischen Einheit des Menschen bezeichnete Fragwürdigkeit meiner selbst«. (35) Wachsam hütet die Scham eine »Fremdheit« meiner selbst, (34) die gerade sie als »Aussetzung« erfährt, bannend umkreisen und vorbeugend unterbinden möchte. Sich seiner bewußt wird man in der Verwindung der Befangenheit, von sich selbst abfallen zu können. Indem Scham am Ursprung des Sich-seiner-bewußt-Seins steht, ist sie »insofern ein primäres Anliegen der Philosophie«. (31) Gerade dieses Sich-seiner-Bewußtseins ist die Scham nämlich nicht sicher. – Worin eben die Philosophie eine unmittelbare Gewißheit erblickt haben möchte, indem man sich in seinem Sich-Bewußtsein schon »habhaft« geworden ist, sich dabei selber »hat«. – Dieser »Selbsthabe« des Ich, hinter der die Philosophie sich verschanzen möchte, tritt eine »Selbstwerdung« des Menschen gegenüber, in der dieser sich seiner bewußt wird. »Das Bewußtwerden ist etwas, was sich von selbst macht.« (44) Und zwar gerade dann, wenn man die »Selbsthabe« des Ich aussetzt. Die Frontstellung der Philosophie wird hier verschoben. Was in den Kreis der Scham fällt, darin behutsam umrissen wird, entbehrt die Selbstgewißheit des cogito, betrifft die ungewisse Existenz des Menschen. Es gehört zur Eigenart der Analysen, die H. Lipps dem Schamphänomen gewidmet hat, sich von dieser bohrenden Ungewißheit selbst betreffen zu lassen. 1 Bedeutet die Scham eine existenzielle Fraktur, so 1

H. Lipps, Die menschliche Natur. Werke Bd. III. Frankfurt a. M. 1977, S. 29–43. – Zur

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Das Schaltbrett der Scham

liegt die Versuchung nahe, sich an sie mit dem Kitt überkommener Auffassungen über die »Geschichte« des Menschen heranzumachen, mit vorgefaßten Meinungen über deren »Endzweck« zu meißeln, bis der Riß abgedichtet ist und nur eine dünne Narbe verbleibt. An der Scham verhebt man sich ähnlich wie man sich an den raffaelischen Madonnengesichtern, denen man die Augen aufbrechen möchte, vergreift. 2 Ihre Anmut sammelten sie gerade in diesen gesunkenen Lidern. Was die Scham in ihre Obhut nimmt und verwahrt, ist eben an dieser selbst aufzuweisen. Wie das Siegel des verschlossenen Blicks »stempelt« die Tiefe der Scham die Verletzlichkeit menschlichen Daseins. Im folgenden wenden wir uns dem Beitrag von H. Lipps zu, der – anders als die Analysen von M. Scheler und J.-P. Sartre 3 – außerhalb des Lichtkegels einer »phänomenologischen Ontologie« fällt, deshalb auch keinen Markstein phänomenologischer Untersuchungen über »Scham und Schamgefühl« bildet. Er gehört in den Rahmen einer Anthropologie. Diese ist freilich keine Theorie über den Menschen: Die Fragwürdigkeit des Menschen wird darin bedachtsam aufgenommen. Schrittweise führt er uns an die in der Scham eröffnete »Grundsituation des Menschen« heran, in der ihr Bann von ihm nicht weichen will.

2.

Das Schaltbrett der Scham

Sich seiner fragwürdig ist man in einer Auslegung, die sich in einen ursprünglichen Sinnzusammenhang einfügt, dessen Motive fürs erste noch »ungehoben« sind. »Wie das Schamgefühl sich selbst bestimmt«, soll nicht »demonstriert« werden. (41) Denn gerade hierin »verdichtet sich eine bestimmte Auslegung: von woher sich der Mensch versteht, wohin und wie weit hier der Blick aufgehoben wird. Sie bestimmt, worphilosophischen Bedeutung von Lipps’ Analyse des Schamphänomens, vgl. J. Hennigfeld, Scham und Angst. Phänomenologische Existenzanalyse bei Hans Lipps (Die menschliche Natur), in: Kategorien der Existenz. Festschrift für W. Jahnke. Hrsg. von K. Held und J. Hennigfeld, Würzburg 1993, S. 351–364. 2 Man betrachte sorgfältig vergleichend die Madonna d’Orléans, die Madonna Colonna, die Madonna di Foligno und die Madonna del Cardellino. 3 M. Scheler, Über Scham und Schamgefühl. Schriften aus dem Nachlaß. Bd. I: Zur Ethik und Erkenntnislehre. Bern 1933, S. 67–154; J. P. Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie. Philosophische Schriften Bd. I. Hamburg 1994, S. 405–538.

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Die Zerbrechlichkeit des Menschen

in sich das Aufgenommene vergleicht, und damit die Richtung, in der es sich fest-stellt und erfaßt.« (Ebd.) Die Voraussetzung des Schamgefühls als etwas, »was einfach zur menschlichen Natur gehört«, (ebd., Anm. 1) täuscht darüber hinweg, daß »das Versagen der Scham – gleichgültig von welcher Seite aus – daß etwas nicht aus Scham ungeschehen blieb – ›verletzte‹ Scham dann Scham als Gefühl erst rege werden läßt«. (32) Die Voraussetzung des Schamgefühls entspringt dem gebrochenen Bannkreis der Scham, der Verzerrung dessen, was sie, ohne die Augen dahin aufzuheben, im Blick hat. Womit Scham es aufnimmt, ist eben nicht so »gehoben«, daß sie es ins Gesicht sehen könne. »Scham ist gerade darin lebendig, daß sie Bestimmtes gar nicht aufkommen läßt.« (Ebd.) Demjenigen, womit das Aufgenommene sich vergleichen ließe, damit die Richtung, in der es sich feststellt und erfaßt, bestimmt wird, entzieht sie sich. Diese Nachträglichkeit des Schamgefühls, sich selbst als deren Bestimmung vorauszusetzen, damit das ursprünglich ungehobene Sinngefüge, in dessen Umkreis sie zur Auslegung gelangt, ans Licht gerät, ist ein Fingerzeig auf die Unverschämtheit des gängigen Selbstverständnisses des Menschen. Dieses weiß im voraus, was es mit der Scham auf sich hat, indem es sich danach richtet, was das Schamgefühl »leistet«. Diese Aufsässigkeit, der gefühlten Scham als eines »inneren Erlebnisses«, als dessen Zeuge man sich selbst vorladen möchte, ein Geständnis zu entlocken, was sie dabei im Sinne hat bzw. worauf sie dabei hinauswill, differiert gegen den Grundzug der Schamtiefe, nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit uns ihr Geheimnis anzuvertrauen. Zu verstehen gibt die Scham uns nichts, womit sie als Gefühl vergleichbar wäre. Und insofern ist sie ein »Syndrom«. (41) συνδρομαϚ bedeutet: Zusammenprall. Anstößiges meiner Existenz macht die Scham rege. Daß das Schamgefühl nur unter dem Horizont von deren Versagen auftritt, deutet daraufhin, wie man »nur in Grenzen an dessen Aufnahme appellieren kann«. (41–42 Anm. 1) Wie es sich selbst bestimmt, kann man folglich nicht etwa an der »verschiedenen Ausbildung« menschlicher Natur als offenkundig »demonstrieren«. Die hierin gelegenen Differenzen sind vielmehr Verschiebungen der Grenzwerte menschlicher Existenz. Eine Epoché des gängigen Selbstverständnisses des Menschen, es nicht von vornherein mit dem Schamgefühl aufzunehmen, sondern auf die Grenzen zu achten, in denen man daran eben nur appellieren kann, steht gerade hier zu Gebote. »Es gilt, [die 50 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Das Schaltbrett der Scham

Scham] zu finden auf dem Grunde von bestimmten Verlegenheiten, Ekel usw. Auch in der Schüchternheit steckt Scham.« »Scham ist etwas, dessen Schaltung sich anzeigt in bestimmten Fällen der Verlegenheit.« (31) Differiert die Scham schon hierin gegen das Schamgefühl, daß letzteres sich im vorweg darüber hinwegsetzen, wovor erstere eben »bewahren« möchte, so ist sie als Phänomen ebenfalls ein anderes. In deren Konzeption wird nicht ein »wirkliches Vorkommnis auf den bloßen Nenner eines verstandenen Verhaltens gebracht« – etwas, was jeder schon einmal an sich selbst erfahren hat, nämlich als »Gefühl«. (Ebd.) Daß Scham nur auf dem Grunde von bestimmten Verlegenheiten, Ekel usw. zu finden ist bzw. in der Schüchternheit steckt, verweist uns nicht etwa an ein Verhalten, in dem man sich seiner nicht sicher, sich nicht selbstverständlich ist bzw. »eine Anfechtung von dem her erfährt, was daraufhin gerade als ekelhaft empfunden wird« (14) – was jeder somit an sich selbst erfahren kann, womit er hieraufhin auch fertig werden will. In der Gebärde wird das Empfundene auf einen »Nenner« gebracht. Der Affekt bekommt darin seine »Einstellung«, in der er »sich ersteigert und verdeutlicht«. (16–17) Und die Haltung »schaltet geradezu die Affekte«: »man kann die Affekte abfangen durch die Haltung«. (21) Scham ist aber nicht etwa »ein Affekt in dem Sinn, wie Verlegenheit eine Alteration ist, der man Herr zu werden sucht, gegen die man sich durch Wiedergewinn seiner Haltung durchzusetzen hat«. (31) Gerade das Empfinden eines Affektes – im Falle der Verlegenheit eine Alteration, die man durch die Gebärde auf einen Nenner zu bringen, in der Haltung abzufangen versucht – möchte die Scham nicht aufkommen lassen, »die – sofern sie selbst überhaupt kein Verhalten ist – auch gebärdenlos ist«. (Ebd.) »Sicherlich: man ›empfindet‹ Scham.« »Scham überkommt mich – so heißt es.« »Aber packt sie mich eigentlich, bzw. ›werde‹ ich hierbei etwas – so wie ich etwa verlegen ›werde‹ ?« »Was mich überkommt und rot werden läßt, ist das Schamgefühl, aber nicht die Scham selbst, die einen ja gerade hier nicht vor dem bewahrt hat, dessen man sich schämt.« »Es gibt eine Reinheit der Scham.« (Ebd.) Daß man der Scham das Schamgefühl voraufgehen lassen möchte als deren Bestimmung, worin man sie als ein wirkliches Vorkommnis an sich selbst erfahren könnte, um sie auf den bloßen Nenner eines verstandenen Verhaltens zu bringen, während man in Wirklichkeit der »verletzten« Scham nur dasjenige nachträgt, was diese in ihrer Reinheit, d. h. von sich aus, gar nicht möchte aufkommen lassen: das Empfinden eines Affektes – etwa 51 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Die Zerbrechlichkeit des Menschen

einer Alteration – zeigt erst recht, in welchem Maße das »Ungehobene« des Schamphänomens seinem Wesen nach hier verfehlt worden, wie man dessen phänomenaler Eigenart keineswegs näher gekommen ist. Scham ist etwas, dessen Schaltung in bestimmten Fällen der Verlegenheit »sich anzeigt«, nur »auf dem Grunde von bestimmten Verlegenheiten, Ekel usw. zu finden« ist, in der Schüchternheit »steckt«. (Ebd.) Sie ist nicht »etwas Typisches«, (ebd.) was man als ein wirkliches Vorkommnis schon einmal an sich erfuhr, womit man sich auskennt und deshalb auf den Nenner eines verstandenen Verhaltens bringt, weil man lediglich danach fragt, was es damit auf sich hat, worauf man dabei hinauswill. Der »Kontext« der Scham ist eben »kein herausstellbares Gefüge«. (34) Als in ihrer Reinheit »ungehoben«, und nicht etwa im Schamgefühl »aufgehoben«, errichtet die Scham der Aufnahme eines »Motivs« für die Ausmalung eines Verhaltens eine Sperre. Eine Gebärde, worin sie ausschwingen könnte, gibt es nicht. Und keine Haltung vermag die Scham zu schalten. Wie man sich demjenigen, dessen man sich schämt, nicht stellt. Scham ist darin ein Syndrom, daß es keinen Affekt der Scham gibt, der, wie im Falle der Verlegenheit, sein Ausdruck eben »ist« (13) – an dem man sieht, wie »der Mensch immer in der Einheitlichkeit seiner leiblichen Natur reagiert«. (14) Daß ich »nicht als Teilnehmer an einer Situation und überhaupt nicht durch eine Situation, sondern aus mir selbst heraus hier verlegen werde«, ist ein bestimmter Fall, in dem man der Schaltung der Scham erstmals auf die Spur kommt. (30) Scham wird nicht aus der Situation geboren, in der ich verlegen »werde«. »Es liegt ähnlich wie bei der Angst, die in mir aufsteigt«, »die zum Dasein gehört und die in der Furcht und Sorge enthalten ist«. (31) Scham er-steht auf dem Grunde einer Verlegenheit, die aus mir herauskommt – deren Boden sich somit verschoben hat. »Besonders Zweideutigkeiten machen verlegen – Anspielungen, deren Verständnis man sich –widerwillig – nicht entziehen kann. Unanständigkeiten.« (30) Dabei wurde nichts »Unmögliches« gesagt; es ist nicht das Unpassende, was hier verlegen macht, als hätte das Gefühl für die Situation gefehlt, an der man teilhat. »Die Situation selbst ist etwas, was durch Teilnahme ständig gehalten werden will, dessen Möglichkeit zurückfällt auf die, die – jeder seinerseits – irgendwie, vielleicht führend, dafür aufzukommen haben.« (29) Daß man sich mit den anderen nicht auf einem Boden treffen konnte, man sich nicht auf eine bestimmte »Lage« zu übersetzen vermocht, man sich mit ihnen nicht »auf einer bestimmten Linie« traf, (29–30) dabei vereinzelt zu werden scheint, den 52 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Das Schaltbrett der Scham

Weg zueinander nicht mehr findet – läßt einen aber hier nicht verlegen werden. »Man empfindet es als unanständig, etwas nicht beim richtigen Namen zu nennen. Warum? – Weil durch den Doppelsinn des Wortes der Sache nicht Nennbares erst angespiegelt wird. Oder das Wort deutet nur an, vorsichtig, zögernd. Dadurch rückt aber das Gemeinte in die Sphäre diskreter Vertraulichheit, deren Verhältnis zum anderen aufzunehmen ich gerade vermeiden möchte. Dieses Abirren auf etwas durch sein Nicht-berufen-Werden doch offenbar Ferngehaltenes, auf etwas, was also nicht die Sache ist, macht hier aber Scham rege.« (30) Der Boden der Verlegenheit ist in einer Richtung verschoben worden, in der man sich im vorweg nicht mit dem anderen treffen möchte. Bzw. man möchte sich nicht auf die Lage übersetzen lassen, in der man schon durch die Insinuation abzugleiten droht. Gerade die Situation, die durch Teilnahme gehalten werden will, für die mein Anwesendsein »konstitutiv« ist, (29) ist etwas, was man hier durch ihr Nicht-berufen-Werden fernhalten will – die aber durch »Anspielungen« in die Nähe rückt. »Man betrifft sich bei der – wenn auch widerwilligen – Aufnahme der in der Anspielung gewiesenen Richtung. Man wehrt sich gegen ›Eröffnungen‹. Und Scham ist hier mit Ekel verbunden. Das unverfroren Einladende zu etwas ekelt.« (30–31) Aus sich heraus wird man hier verlegen, weil man einer Situation zu verfallen droht, für die man nicht aufkommen möchte – die zu halten und mit anderen zu teilen Unmögliches bedeutet. Denn sie stößt mich aus meiner Vereinzelung heraus; man möchte sich dem anderen nicht in dieser Richtung verbinden, in die man schon durch den von ihm angeschlagenen Ton einzubiegen droht. Es ist kein Versagen »den Ansprüchen gegenüber, die von den Dingen her oder hinsichtlich des Auftretens vor anderen an einen herantreten«, (29) aus dem in diesem Falle Verlegenheit entsteht. – »Der Verlegene kan unschlüssig nicht abfinden von Schwierigkeiten, die lähmend im Blick stehen bzw. läßt sich stoßen in gleichsam daneben ausbrechende und dadurch schief werdende Entscheidung.« (10) »Verlegenheit entsteht aber auch im Auftreten vor anderen.« »Man kann als Fremder seiner nicht sicher sein bei den anderen. Man will keinen Anlaß zu Mißdeutungen geben, nicht in falschem Lichte erscheinen. Man fürchtet hier, nicht entsprechend bei etwas genommen zu werden. […] Man fürchtet angesichts dessen, daß das Verstehen der anderen keinen Ansatz finden kann, ihnen notgedrungen zum Objekt zu entgleiten. Man scheut es, in seinem Selbst übersehen zu werden, sofern 53 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Die Zerbrechlichkeit des Menschen

die Situation so ist, daß das Sachliche sich vordrängt.« (11) – Nicht die Schwierigkeit der Lage, in der man sich befindet, erzeugt aber in dem bestimmten, hier in Betracht gezogenen Fall das »Zwiespältige« der Verlegenheit. Es ist – hier – nicht so, daß man für den anderen nicht eindeutig das, was man ist, sein kann, das Auftreten aus dem Grunde mißlingt, daß das Intendierte keinen Anknüpfungspunkt für sein Verständnis findet in einer Situation, die einen im vorweg auf das Sachliche abgedrängt hat. – Eben das Abirren auf etwas, was nicht die Sache ist, macht Scham rege. »Man errötet.« (30) Unanständigkeiten machen verlegen, auf die man im vorweg nicht ansprechbar sein möchte. »Die in der Unanrührbarkeit von etwas zum Vorschein kommende Tangibilität« drängt in den Vordergrund. (41) Diese ist das Schaltbrett der Scham.

3.

Der existentielle Spalt

Auch in der Schüchternheit steckt Scham. Sie erwehrt sich »Eröffnungen«. »Der Schüchterne will sich nicht jedem öffnen; er will sich für sich bewahren, sich nicht preisgeben. Er scheut die Verlegenheit, in die er kommt, wenn er sich einem eröffnet, der ihn nicht ernst nimmt. Bzw. er getraut sich nicht, den anderen gerade hierin in Anspruch zu nehmen.« (33) Die Reserve des Schüchternen wacht über die Anmaßung unberechtigter bzw. unbedachter, unangebrachter Ansprüche. »Die Verlegenheit vor jemand ist etwas anderes als die Reserve des Schüchternen. Man ist schüchtern zu jemand.« (Ebd.) Nicht nur jedes Wort, auch jede Situation will abgewogen sein. (29) »Auch die Reserve des Schüchternen sucht sich den anderen in ihrer Richtung zu verbinden«, (32) sich hinsichtlich seiner Ansprüche zurückzustecken. »Schüchternheit gehört zur Bescheidenheit.« (34) Bedachtsam achtet sie auf die Grenzen solcher Ansprüche. Es ist hier aber nicht so, daß man den anderen gegenüber »in meinem Können begründete Ansprüche nicht geltend macht.« (34 Anm. 1) »Sofern echte Bescheidenheit aus der Scheu geboren wird, sich hinsichtlich der Zurechnung von etwas als ›seinem‹ Können zu vermessen.« (34) Auch hier zeigt sich, wie man aus sich heraus schüchtern zu jemand ist. Denn man weiß über sein Können bzw. die darin gelegenen Ansprüche nicht Bescheid, scheut, sich gerade hierin – anmaßend – zu vermessen. »Man fürchtet, sich zu vermessen in der Mitteilung dessen was unsagbar ist.« (Ebd.) Die Grenzen meines 54 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Der existentielle Spalt

Könnens, mich dem anderen zu öffnen, ihn daraufhin in Anspruch zu nehmen, sind nicht in sicheren Gewahrsam gebracht. Sie befinden sich in der Obhut reservierter Zurückhaltung. Wie die Schüchternheit »weiß Scham um Dinge, bei denen man nicht sicher sein kann des anderen«. (32) – Während verletzte Scham, »Scham, die mich als Gefühl überkommt, mich aber in den Boden sinken läßt: das Sein bei anderen wird unmöglich«. (Ebd.) – Ihr Blick fällt auf Ungeschütztes menschlicher Existenz, woraufhin sie ihn eben nicht erheben, Unanständigkeiten, auf die man im vorweg nicht angesprochen werden möchte, Anmaßungen, an denen man sich im vorweg nicht verheben möchte, Eröffnungen, gegen die man sich wehrt, derer man aber auch sich erwehrt. »Während aber der Schüchterne sich selbst im Werden seines Gesichtes zu bewahren sucht, ist Scham auf Blößen bezogen, die überhaupt nicht dem Blick des Menschen gehören.« (Ebd.) Das Gesicht bedeutet nämlich »eine Frontstellung zur Welt«, d. h. »ein freies Verhältnis zu dem, was als Welt im Ganzen erkannt wird und was sich von daher unter einem Horizont zu entscheidender Möglichkeiten zeigen kann«. »Wie einer in die Welt sieht, das macht ihn gerade zu einem Selbst.« (26) Im Gesicht wird einer erkannt, sofern man das Gesicht erkennt. (25) Die im In-die-Welt-Sehen aufgenommene Richtung, welche sich im Blick pointiert, wird darin sichtbar. »Das Gesicht, d. i. das worin jemand unverwechselbar ist.« (Ebd.) »Man meidet den in mich eindringenden, mich ausforschenden Blick des anderen.« (27) Der Schüchterne möchte sich davor bewahren, daß der Blick des anderen ihn »stellt«. Am liebsten möchte er es ungeschehen machen, daß im Werden seines Gesichts sein eigener Blick sichtbar wird, der »ein Verhältnis, eine Stellung zur Welt, eine Entschiedenheit bedeutet«. (35) »Was bedeutet [aber] Blöße, wo liegt die Verbindung zu der Zweideutigkeit, für die das Unanständige doch nur das erste Beispiel war?« (32) Für die das Anmaßende, mit Entschiedenheit in die Welt zu sehen, sich eben darin zu verheben, – weshalb der Schüchterne seinen Blick aus seinem Gesicht radieren möchte, gerade an dortiger Stelle reserviert wirkt –, ein weiteres Beispiel war. In welchem Verhältnis steht sie etwa zur Gêne, d. h. »die Öffentlichkeit von etwas scheuen«? (11) Es ist doch nicht ähnlich wie im Falle der Verlegenheit, in dem wir »die uns den anderen verbindende Mitte nicht finden« können, (12) weshalb »dem sich Genierenden das Auftreten vor anderen mißlingt«, »seine Verlegenheit sich in unsicherer Fahrigkeit zeigt«. (32) Verletzung der Scham »stellt« die Blöße, die man sich gar nicht geben möchte. Wäh55 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Die Zerbrechlichkeit des Menschen

rend der sich Genierende die Öffentlichkeit von etwas »nur eben vermeiden will«. (Ebd.) Nicht das Auftreten vor anderen mißlingt, worin sich die Verlegenheit zeigt, d. h. worin sie sichtbar wird. Das Sein bei anderen wird unmöglich: Die Bloßstellung, gegen die man sich schamhaft wehren möchte, ist bodenlos. Sie kann nicht aufgenommen und ins Freie gebracht werden. Verletzte Scham sinkt senkrecht in uns ein. Deshalb »gelingt es nicht, ein strukturelles Schema der Scham aufzustellen«. (34) Blößen, die man sich nicht geben möchte, die man aber bietet und die – verletzend – gestellt werden, treffen das Ungeschützte, eben hierin »Offene« und Fragile menschlicher Existenz. Es sind wenige Sätze aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse, die H. Lipps hier heranzieht: »Es gibt Vorgänge so zarter Art, dass man gut tut, sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen. … Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich am schlimmsten schämt. … Einem Menschen, der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten Entscheidungen auf Wegen, zu denen wenige je gelangen und um deren Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen. … Jeder tiefe Geist braucht eine Maske.« (32–33; vgl. F. Nietzsche, op. cit. Werke in drei Bänden, Bd. II. München 1966, S. 603) »Alles was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Haß auf Bild und Gleichnis.« (Ebd.) »Die Maske fixiert den anderen.« (33) Sie hat »das besondere, daß man ihren Blick nicht seinerseits aufnehmen, daß man ihm nicht eigentlich begegnen kann«. »Um nicht gemein zu werden, sucht man Masken. Eigenstes, worin man sich selbst als unbedingt erfaßt, will nicht heraus- und bloßgestellt werden.« Man möchte sich nicht verraten. »Sich verraten heißt hier: abfallen von sich selbst.« (Ebd.) Bloßstellung bedeutet einen existentiellen Spalt. Er drängt in das Dasein eines Menschen ein, betrifft nicht etwa nur eine »Befindlichkeit« desselben. Das Aufkommen einer solchen Befindlichkeit ist es, was schamhaft unterbunden werden will, während sie sich im sich Genieren zeigt. »Vielleicht kann man sich hier auch schämen; sofern man sich bloß geniert, wird aber hiervon gerade abgesehen.« (34–35) Denn: daß das Sich-Zeigen seiner Gêne eine Bloßstellung des Menschen bedeuten kann, der es schamhaft vorzubeugen gilt, ist etwas, was der »bloß« sich Genierende nicht ins Auge faßt. »Dasein« des Menschen bedeutet hier: Anwesendsein, »das sich aber gerade auf ein exzentrisches Verhalten bezieht«. (26) In seinem Blick ist ein Mensch »anwesend«. Die Richtung seines In-die-Welt-Sehens pointiert sich darin. 56 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Der existentielle Spalt

Eben im Hinblick auf diese Richtung ist der Mensch »da«. Sie wird vom anderen, der ihn auffängt, aufgenommen. Eine Offenheit bekundet sich hierin; der Blick ist »Durchbruch eines Beginnens«. (Ebd.) Und eben daraufhin gibt es eine Blöße, über die z. B. die Reserve des Schüchternen wacht. Schon durch den Umstand, daß er wie von außen gesehen, prüfend betrachtet wird, der Blick des anderen ihn nicht »kreuzt«, wird er getrübt. Die Entschiedenheit, die er bedeutet, gerät in eine »entstellende Zweideutigkeit«. (33) »Nur als Objekt, d. i. nicht bei der Begegnung von Gesicht zu Gesicht, ist man aber dem Blick ›aus-gesetzt‹.« (27) Während die Maske ihn dadurch abriegelt, daß sie den Blick des anderen fixiert, er sich hierin in seinem In-die-Welt-Sehen vorenthält. Im Anstarren der Maske entzieht sich das Gesicht. Zu ihrer Sichtbarkeit gehört wesentlich, daß ihr keine Augen »eingesetzt« sind. Was sich schon in der Anspielung auf Unanständigkeiten spürbar machte, in der schüchternen Vorbeugung sich unterschiebender, unangebrachter Ansprüche sich verdeutlichte, kehrt »in merkwürdig kaleidoskopartiger Verschiebung« auch bei Blöße, Gemeinwerden usw. wieder. (34) Das Abirren auf etwas, was nicht die Sache ist, wobei man sich aber betrifft, ist – hier – in der Richtung verschoben, in der man in der Blöße sich zu verraten, im Gemeinwerden von sich selbst abzufallen droht. »Nämlich dadurch, daß man sich – so möchte es gerade der Durchschnitt – in dem zu entdecken scheint, worum man nur selbst wissen könnte.« (33) Unverwechselbares, worin man selbst ist, rückt in die Nähe des Durchschnittlichen, worin man sich doch nicht verfangen lassen möchte, was man aber nicht von sich abschütteln kann. Entschiedenheit, die man bekundet, wird zwielichtig. Den prüfenden Blick auffangend biegt man in die von ihm gewiesene Richtung ein, in der man sich bei einer entstellenden Außenansicht betrifft, die man – entsetzt – nicht vom Leibe halten kann. In der Verzerrung seiner Eindeutigkeit wird etwas ans Licht gezerrt, was, sofern es ein falsches ist, als Zerrbild doch gerade etwas ist, worin man sich selber erscheint. »Wie seine Wahrheit und Wirklichkeit sich überhaupt nicht in den Zusammenhängen erweisen kann, die offen und demonstrabel sind: es ist ein Scheinverstehen, das sich aus der entstellenden Zweideutigkeit erzeugt, in die es durch das darauffallende fremde Licht gerät.« (33) »Die Blößen, die der sich Genierende sich zu geben fürchtet, sind Schwächen, etwas womit man nicht bestehen kann vor anderen, was man deshalb nicht merken und sehen lassen will.« (34) »Ungeschütztes läßt mich aber bei der Scham befangen werden. In bezug auf mein Nich57 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Die Zerbrechlichkeit des Menschen

mächtigsein dessen, woraufhin ich durch Blicke beansprucht werden kann, ist es eine Blöße.« (35) Scham bedeckt eine Fragilität menschlicher Existenz. Unbefangen »sich« sein zu können ist gerade dasjenige, was Scham verwahrend in Schutz nehmen möchte, worin menschliche Existenz jedoch zerbrechlich »ist«. Die Ermächtigung zu seinem Sichsein-Können ist dem Menschen nicht so ohne weiteres anheimgestellt. Die Offenheit, die sein Blick bekundet, sofern er Durchbruch eines Beginnens ist, die Entschiedenheit, die er bedeutet, indem sein In-dieWelt-Sehen sich darin pointiert, ist nicht ausschließlich in seine Gewähr gegeben. Die Befangenheit der Schamverletzung bedeutet dort eine Wehrlosigkeit, wo die Befangenheit der Gêne abwehrend ausbiegen möchte. Gerade die »Zwischenschicht des Außen«, die der sich Genierende herzustellen sucht, »hinter der er sich verbergen kann«, (11– 12) wird in der Schamverletzung niedergerissen, die eben in diesem Sinne eine »Blöße« bedeutet: Nicht-Bedecktes, hinter dem man sich nicht verbergen kann. Ungeschützt ist eben etwas, woraufhin man selbst den Blick nicht erheben kann, was sich aber den Blicken der anderen nicht entziehen läßt. Eben im Hinblick hierauf gibt es »Unanständigkeiten«, »Gemeines«, »Blößen«. Indem Scham senkrecht in uns einsinkt und nicht als Gefühl bereits verwunden wird, man sich über deren Einbruch nicht bereits mit dem Ausblick auf eine »höhere Berufung« menschlicher Natur hinwegsetzt, lüftet sie den Schleier ihres phänomenologischen Geheimnisses.

4.

Auch-Sein

Es ist nicht das Unsichere des Verhaltens, sondern das Nicht-Gesicherte des Daseins, was Scham im Blick hat. Hierin unterscheidet sie sich von der Verlegenheit, ist ihre Befangenheit eben eine andere. Die »keimende Bewußtheit seiner selbst«, (34) zu der man hierbei erwacht, bedeutet eine Aussetzung jener Selbstgewißheit des Bewußtseins, in der man sich – unmittelbar – auch habhaft wird, nicht etwa deren Verunsicherung. »Das Beunruhigend-Aufregende, sich den neuen Boden seiner Existenz erst schaffen zu müssen, drückt sich darin aus.« (Ebd.) Die Unanrührbarkeit des cogito wird hier nämlich von Ferngehaltenem betroffen, was es nicht berufen möchte, was gerade für dieses cogito »Unmögliches« bedeutet. Als »Keim« steht es dennoch an dessen Ursprung, 58 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Auch-Sein

ist dessen – eigentlicher – Anstoß. Die Selbstgewißheit des »reinen« ego gibt es nur dann, wenn man sich schon im vorweg darüber hinweghebt, was als Anstößiges, Fremdes in den Boden des Daseins einrückt. Was am Beginn dieses – philosophischen – Einspringens in das cogito steht, den Ansatz zu dessen Stoßrichtung bildet, ist eine wunde Stelle, ist Ungeschütztes. Es gibt eine philosophische Scham, die sich gegen Eröffnungen wehren möchte, welche eben für sie – als unverschämt – mit Ekel verbunden sind. Nur widerwillig möchte sie es mit der Scham selbst aufnehmen, deren »Anspielung« bereits eine – philosophische – Anfechtung bedeutet. Scham weist in einer Richtung, gegen die eine Philosophie des cogito sich sträubt. In bezug auf ihr Nicht-mächtig-Sein dessen, woraufhin sie durch dasjenige beansprucht wird, was Scham aber im Blick hat, ist es eine Blöße philosophischer Selbstgewißheit. Verletzlich, verwundbar, zerbrechlich ist hier eigentlich die »Reinheit« des cogito. Die sie ständig voraussetzte, die, ihre Scham verletzend, hier zweideutig wird. Die keimende Bewußtheit seiner selbst, zu der man schamhaft erwacht, ist hinterhältig. Wie die Scham selbst, die uns kein Schema abgibt, ist sie nur »an ihren Verknotungen zu packen«. (41) Und weil Scham etwas im Blick hat, was nicht die Sache ist, sind »die Fäden dieser Verknotungen« – ebenfalls – »kein sachlicher Text«. (34) Ihre Textur bildet »kein herausstellbares Gefüge«. Hinterhältiges kann nicht – philosophisch – geschaltet werden. »Was vor allem Scham wach werden läßt, ist die generelle Geschlechtlichkeit. Denn hierin als in etwas allgemeinem, woran man also nur eben teil hat, wird man doch gerade sich seiner bewußt.« (35) Die geschlechtliche Scham und ihre Verletzung erhalten insofern eine Vorzugsstellung, als hierin der Hinterhalt des keimenden Bewußtsein seiner selbst, seine verschiedenen Bezüge, »die freilich auf keine Formel zu bringen sind«, (41) sichtbar werden. Wofür das Unanständige zweideutiger Anspielungen, das Anmaßende unangebrachter Ansprüche doch nur erste Beispiele waren, was sich dann aber in Blöße, Gemeinwerden usw., worin man sich nicht eindeutig sein konnte bzw. von sich abzufallen schien, zunehmend verdichtete, wird hier gewissermaßen »zu sich selbst entbunden«. (16) Das Nahelegen von Ferngehaltenem, Unterschieben von Vermessenem, das im Sich-Trüben des Blickes, im Abreißen jener Zwischenschicht des Außen, mit der man – geniert – den anderen »zu Distanz zu verbinden« suchte, (11) eine gewisse »Bündigkeit« erhielt, wird faßbar. Die geschlechtliche Scham und ihre Verlet-

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Die Zerbrechlichkeit des Menschen

zung verleihen dem Syndrom der Scham seine »Prägnanz«. Anstößiges meiner Existenz gewinnt hier an Profil. Generelle Geschlechtlichkeit ist in sich selbst gespalten. Daß man – hier – sich an etwas beteiligt, woran man eben nur teil hat, zeigt erst recht, auf welche Weise menschliche Existenz hierin »außer sich« existiert. »Generell« ist die Geschlechtlichkeit im Hinblick auf dieses Außer-sich-Sein seines Daseins. Nicht unbefangen sich selbst sein zu können bzw. von sich selbst abzufallen bekommt hier eine spezifische Pointe. Denn die Befangenheit des Menschen ist hier aufgenommen worden. Und eben hierin ist generelle Geschlechtlichkeit »ohne Scham«. Daß aber generelle Geschlechtlichkeit »vor allem Scham wach werden läßt« (35) bekommt nun eine besondere Bedeutung dadurch, daß die Bedachtsamkeit der Schamwache sich darin pointiert. Deshalb wird man in der generellen Geschlechtlichkeit »doch gerade sich seiner bewußt« in dem spezifischen Sinne, daß die Bedachtsamkeit der Schamwache – hier – »zu sich selbst« erwacht. Die Gefährung »des Menschen«, die sie im Blick hat, wird – hier – selbst sichtbar. »Sehend geworden heißt hier: nicht mehr unbefangen sein«, (ebd.) und zwar darin, daß man hier außer sich »ist«, sich von sich selbst abspaltet. »Nur wenn der Blick des anderen im Sich-lenken auf diese in der problematischen Einheit des Menschen bezeichnete Fragwürdigkeit meiner selbst zweideutig wird, kann Nacktheit Anlaß der Scham werden.« (Ebd.) Denn in die generelle Geschlechtlichkeit ist sie fraglos eingeschaltet. »Man schämt sich hier nicht eigentlich ›seiner‹ […], sondern in bezug auf sich in seiner Nacktheit. Man schämt sich, sofern man um eine Zweideutigkeit als unter den Verhältnissen Naheliegendes weiß, bzw. nicht sicher ist des Verhältnisses, in dem man zum anderen steht.« (Ebd.) Gerade die Schamlosigkeit der Nacktheit ist es, welche hier tangiert wird, worüber geschlechtliche Scham eben wachen möchte. Was hier nicht die Sache ist, worauf man abzuirren droht, ist die Scham selbst. »Der sachlich untersuchende Blick des Arztes z. B. läßt Scham nicht aufkommen.« (Ebd.) Die geschlechtliche Scham regt sich nicht. Die Schamlosigkeit der Nacktheit wird nicht »beschämt«. Sachlich untersuchend ist der Blick des Arztes daraufhin, daß er generell ist, nicht in der Richtung, in der der Patient außer sich existiert, ihn dahingehend auch zu sich selbst verbindet. In dieser Richtung ist der Patient eben nicht unbefangen, sondern – schamhaft – wachsam, den Blick des Arztes sorgfältig prüfend. Das Aufkommen der Scham möchte er fernhalten. Zweideutigkeit bedeutet – hier – nicht generell genommen, dessen, 60 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Auch-Sein

woran man nur teil hat, teilhaftig, d. h. dafür selbst haftbar gemacht zu werden. »Auch eine Divergenz in der wechselseitigen Einstellung hinsichtlich dessen, was der eine dem anderen entgegenbringt, kann aber als Zweideutigkeit des gegenseitigen Verhältnisses – meist nur dem einen fühlbar – empfunden werden; gerade eine mir entgegengebrachte Sachlichkeit kann dann z. B. Scham rege werden lassen.« (Ebd.) In dem Falle z. B. indem der Patient – nicht unzweideutig – sich in seiner Nacktheit zeigt, eben hieraufhin – sachlich – zurückgewiesen wird; oder wenn der Blick des Arztes – nicht unzweideutig – auf seiner Nacktheit ruht, der Patient durch die Strenge seines Blickes den Arzt zur Sachlichkeit verpflichten möchte. »Indessen – ist es eigentlich die Nacktheit, deren man sich schämt?« (Ebd.) Schon der Tatbestand, daß man sich hier nicht »seiner«, sondern in bezug auf sich in seiner Nacktheit schämt, sofern in diesem Bezug die Schamlosigkeit der Nacktheit das eigentlich Betroffene ist bzw. man sich dabei betrifft, sich hierin nicht sicher zu wissen, des anderen nicht sicher sein zu können, weist daraufhin, daß geschlechtliche Scham die Scham selbst im Blick hat, sie fernhalten möchte. »Nackt meint unbekleidet. Tiere sind nicht nackt.« (Ebd.) Sie können sich so nicht geben, sich nicht entkleiden, um ihre Nacktheit preiszugeben. Sie sind nicht so darin, daß man sie dort auch antreffen, eventuell sie dabei – im Hinblick darauf – betreffen könnte. Es gibt keine Nacktheit, in der sie sich freigeben, selbst ins Freie kommen. Auch der Blick der Tiere ist nicht frei. Ihre Augen sind »sozusagen ›nur zum Sehen‹ da«; (25) der Blick kann nicht selbst heraustreten. »An den gestielten Augen mancher Tiere, der Tiefseefische z. B., die wie Taster vorgeschickt werden, wird es nur auch sinnenfällig, wie das Tier sich dem zu verhaften sucht, was es ›sieht‹.« »Tieren ist ihr Artcharakter ins Gesicht geschrieben; etwas Allgemeines kommt darin zu je wechselnder Darstellung. Bzw. das hier als Gesicht zu sehen Versuchte ist nur als physische Bildung festzuhalten.« (25–26) Die Züge können nicht daraufhin auch »verstanden« werden, daß sich hierin ein Gesicht auszeichnet, worin ein In-die-Welt-Sehen zum Durchbruch kommt. »Das Tier ist nicht anwesend in seinem Blick.« (26) Es gibt sich darin kein freies Verhältnis zu seinem Sehen, das daraufhin auch »stumm« ist. »Der Blick des Hundes ist ›stumm‹ ; er sagt mir nichts darin, es fehlt der Durchbruch hierzu.« (Ebd.) »Hände und Gesicht können ebenso wenig nackt wie bekleidet sein.« (36) Es gibt kein Kleid, das sie kleiden könnte, das sie eventuell 61 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Die Zerbrechlichkeit des Menschen

ablegen würden. Während Tiere keine Kleider haben, können Hände und Gesicht sich nicht in etwas kleiden, was, abgezogen, sie in ihrer Nacktheit zeigen würde. Tiere können ihre Nacktheit nicht preisgeben; Hände und Gesicht können sich in ihrer Nacktheit nicht geben. »›Nackt‹ in bezug auf ein Gesicht gesagt meint fleischliche Fülle, durch die das Geistige, die Züge des Gesichts überdrängt werden.« (Ebd.) Denn ein Gesicht »spricht«. (37) »Und ebensowenig macht die Hand, in der sich die Geistigkeit eines Menschen ausdrückt, den Eindruck des Nackten. Der Handschuh verbirgt sie nur.« (36) – Wie der Schleier das Gesicht verhüllt. In der Handbewegung als »Geste« z. B. wird etwas »figuriert«. (22) Sie formt den Raum aus, den der andere etwa zugewiesen bekommt; seine jeweilige Stellung wird darin bedeutet. »Nur die Haltung ist es hier, was spricht.« (Ebd.) Daß man z. B. »die Hand über jemanden hält«, ihn schützend zu sich hin nimmt, insofern dem anderen wehrt. (23) Wie die Züge des Gesichts »nichts Natürlich-Morphologisches, sondern etwas Geistiges« sind, irgendeine Spannung für sie »konstitutiv« ist, (25) so »zeigt jeder in Gang, Tritt, Handbewegung, im Pendeln der Arme eine nur ihm eigentümliche Haltung«, die sie »modelliert«. (18 u. 20) »Das Durchgebildete, der Stil dieser Züge macht, daß der Mensch ›selbst‹ bis in die Spitzen seines Geistes hinauf darin sichtbar wird.« (18) Wie auch das Gesicht dasjenige ist, »worin jemand unverwechselbar ist«. (25) Weil Gesicht und Hände die Art und Weise des Indie-Welt-Sehens und Handhabens der Dinge bedeuten, die einen zu einem »selbst« machen, gehören sie nicht so zu ihm wie sein Körper (27) – den er kleiden kann. »Der Körper ist nicht ›man selbst‹ bzw. dies nur im Unterschied zu meinem Anzug etwa. Er gehört zu mir.« (Ebd.) Auch er »wird unter dem Horizont einer Welt gesehen«, die »meine« ist, in der ich auf mich selbst hin angesprochen werde. (46) »Man selbst« ist der Körper daraufhin, daß man – hier – nicht in seinem Anzug sich »als der und der« mit dem anderen begegnet. (36) In meinem Körper bin ich allerdings auf mich selbst hin beansprucht. »Am Arm nicht anders als an seinem Ärmel gepackt kann aber einer ›gestellt‹ werden.« (27) »Angezogen zu sein gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich vor jedem sehen zu lassen; die Kleidung schafft ›reine Verhältnisse‹.« (36) Man gewinnt dadurch die Ebene der Öffentlichkeit. »Man kann sich begegnen lassen.« »Man ist nicht einfach ›da‹ voreinander – wie das z. B. Liebende können.« (Ebd.) – Die sich daraufhin in ihrer Nacktheit auch schlicht geben. – Man »trifft hier bzw. verbindet einander in etwas«, was »dann auch 62 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Auch-Sein

im Blick, durch die Gesten meiner Hand usw. bestimmt und gestaltet wird«. (Ebd.) »Nur der Mensch trifft und begegnet einander in etwas«, (46) was als Gesichts- und Standpunkte geteilt werden kann. Gekleidet »begegnet man aber einander als der und der. Mein Kleid – und auch die Tätowierung des Wilden ist Kleid – ist der Charakter, der einem als Mann zukommt oder der einem als Zeichen der Altersklasse gegeben ist usw. … Wobei ›Mann‹ nichts allgemeines ist, woraufhin einer begriffen würde, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe der Gemeinschaft bedeutet.« (36) In der Geschlechtlichkeit begegnet man einander nicht in etwas, was man, als etwas Gemeinsames, miteinander teilen könnte als »der und der«, woraufhin man auch – in seiner jeweils spezifischen Zugehörigkeit – verstanden werden könnte. Und eben auch nicht als »Mann« und »Weib« – als allgemeine Geschlechtsmerkmale auf dem Grunde der als verschieden erkannten Geschlechtsorgane, an denen man sich gegenseitig beteiligen würde. Die Geschlechtlichkeit scheut gerade die Ebene der Öffentlichkeit. Man kommt hier nicht frei in Gesichts- oder Standpunkte (Meinungen), die man vertritt. Man wird hier nicht – intellektualistisch – auf den bloßen Generalnenner des »sinnlichsten Liebesgenusses (Buhlschaft)« gebracht, nicht so »begriffen«. Als ob man sich – hier – der »Lusterreger« gegenseitig bediente. An einer bedeutenden Stelle 4 weist G. Misch daraufhin, wie die hier in Frage kommende Teilhabe der Teilung zwischen »Meinung« und »Sinnesgenuß« zuvorkommt. Die Sprache hat ihre Spur in dem Wort »Minne« aufbewahrt, das »bekanntlich in der Blütezeit unserer mittelalterlichen Dichtung die hohe Minne, das höchste geistige Trachten, den platonischen εροϚ bedeutet« – »geistiges Trachten mit Sinnen und Seele zugleich, Sehnsucht«. Eine eigentümliche Spannung bekundet sich darin, daß Minne »liebende Vereinigung, aber nicht Einigung« bedeutet. Worin sie sich verwirkliche, worin die Sehnsucht sich erfülle, ist in der Sprache ebenfalls hinterlegt worden. »Das Wort für Erkenntnis – […] in dem Griechischen γνωναι, bei uns Überzeugung, im A.T.: ›er erkannte sie‹ – ist so in allen Sprachen vom Zeugungsvorgang genommen.« (Ebd.) Während man den nackten Körper in etwas kleidet, »wollen BlöG. Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Hrsg. von G. KühneBertram und F. Rodi. Freiburg/München 1994, S. 321–322.

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Die Zerbrechlichkeit des Menschen

ßen«, die man sich geben, die man jemandem bieten könnte, »aber bedeckt sein«. (36) »Nacktheit ist also […] nicht gleichbedeutend damit.« »Angezogen, d. i. nicht nackt zu sein, läßt Blößen gar nicht aufkommen.« Denn man verbindet hier einander in etwas, worin man sich auch begegnen lassen kann. »Nacktheit ist also […] nur die Bedingung des Zum-Vorschein-Kommens der Blöße.« »Und zweitens: die Blöße bezieht sich nur auf bestimmte Teile des nackten Körpers.« (Ebd.) Worin man sich nicht begegnen lassen kann, einander nicht verbinden möchte. Woraufhin man – schon durch die Einstellung des Blickes des anderen hierauf – beansprucht werden kann. »Blöße bezieht sich auf etwas, was der Mensch ›auch ist‹, – wobei sowohl das ›auch‹ als auch das ›ist‹ betont werden muß. Nicht einfach die Zufälle meiner Natur sind gemeint – wie meine Statur z. B. – die nur eben störend oder günstig hereinspielen im menschlichen Leben. Daß man etwas ›auch‹ ist, drückt aus, wie etwas als Grundlage bestimmend hineinragt im menschlichen Leben, und wie in der Gegenrichtung Natur hier vom Menschen her bestimmt ist.« (Ebd.) Nicht-bedeckt ist der nackte Körper daraufhin, daß menschliche Existenz sich hierin entdeckt findet. Eine »natürliche Blöße« meines nackten Körpers gibt es insofern nicht »an sich«, als er ja zu mir gehört. Im Hinblick auf diese seine Zugehörigkeit kann man sich hierin eine Blöße geben bzw. sie jemandem bieten. Denn nur auf ihrem Grunde findet man sich in seiner Existenz durch etwas bestimmt, worin man auf sich selbst hin beansprucht wird. »Auch die Blöße meines Körpers ist etwas, was nicht ›für sich‹ und d. h. hier: in die vor Augen ausbreitbare Wirklichkeit gezerrt aufkommen kann für das, dessen natürliche Grundlage sie doch nur ist. Ich selbst bin der Schutz meiner Blöße.« (Ebd.) In verkürzter Form zitiert H. Lipps an dieser Stelle den Aphorismus 142 aus Nietzsches Jenseits von Gut und Böse: »C’est l’âme qui enveloppe le corps.« (36) 5 »Mein Gesicht bedeutet keine [– ›natürliche‹ –] Blöße, denn ›es spricht‹.« Man ist darin unverwechselbar bzw. kann es deshalb auch nur »verlieren«. – »Und mein Arm, Rücken usw. wiederum deshalb nicht, weil sie nicht eigentlich grundlegend sind für ein Leben, das geführt werden will. Sie haben nicht die Nähe zu dem Personalen, dessen Integrität verletzt werden könnte.« (37) Die Unversehrtheit der Existenz wird darin nicht tangiert.

F. Nietzsche, op. cit., S. 635; vgl. dazu M. Scheler, op. cit., S. 87 sowie die textkritischen Anmerkungen, S. 522.

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Die Grundsituation des Menschen

5.

Die Grundsituation des Menschen

»Jemanden charakterisiert noch nicht die Scham, sondern ›seine‹ Schamhaftigkeit, d. i. die Art wie er eintritt in die in der Scham eröffnete Grundsituation des Menschen; […] erst in der Bedeutung, die der [in der Scham] widerwillig begangene Weg bekommt, wieweit er verfängt, wie weit er verfangen kann bei jemand – darin erst zeigt sich seine Natur.« (109) »Die Scham ist etwas, woran der Mensch selbst gemessen wird.« (37) Nicht unvermittelt bin ich derjenige, der ich bin. Die Mitte, worin der Mensch sich entdeckt findet, in der er sich nicht selbst begegnen lassen bzw. die anderen nicht zu sich verbinden kann, ist verfänglich. Man »verstrickt sich« hier »in sich selbst«; man verfängt sich »im Umkreisen seines Grundes«. (56) Er kann nicht bannend umrissen werden; es ist »etwas Unmögliches«, worin man – hier – versinkt. »Die ›Befangenheit‹ des Menschen und seines Blickes bedeutete eine existenzielle Affektion.« (43) An »der Verlegenheit und ihrem Ausdruck« (10 ff.) wurde sie als eine Befindlichkeit des Menschen aufgewiesen und in ihrem Zwiespalt aufgestochen. 6 Das Verfängliche der in der Scham eröffneten Grundsituation des Menschen bedeutet jedoch ein existentielles Syndrom. Am »Schamgefühl« wurde es nur nachgespürt, sofern in ihrer Verletzung Scham einen eben als Gefühl »überkommt«. Es stellt aber keine Befindlichkeit des Menschen dar, sondern gehört, wie die Angst, die in einem aufsteigt, »zum Dasein« selbst. Und wie ein Syndrom – bekanntlich – ein Krankheitsbild darstellt, das sich erst aus dem Zusammentreffen verschiedener charakteristischer Symptome ergibt, so entfaltet sich die Grundsituation, in die ein Mensch schamhaftig eintritt, in ihren verschiedenen Bezügen, die »freilich auf keine Formel zu bringen« sind. (41) Das Verfängliche ist an den Verknotungen zu pakken, worin man sich hier in sich selbst verstrickt. Denn die keimende Bewußtheit seiner selbst, zu der man schamhaft erwacht, hält sich hinter dem Rücken des »reinen« Bewußtseins auf. Im Hinblick auf diese hinterhältige Bewußtheit seiner selbst verfängt man sich. Wieweit sie verfangen kann, wird nun erst meßbar. Sie kann nicht geschaltet werden. Das Anmaßende unangebrachter Ansprüche, das Unanständige nahegelegter Anspielungen, das Gemeinwerden, in dem man sich verVgl. die vorangegangenen Ausführungen über »die Verlegenheit als existenzielle Affektion«.

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Die Grundsituation des Menschen

raten, die Blöße, in der man sich entdeckt findet: Sie bildeten alle den Hinterhalt des keimenden Selbstbewußtseins. Verfänglich war er deshalb, weil man sich dazu nicht auch wirklich verhalten konnte. Denn er bedeutete etwas, wobei man sich eben nicht selbst sein konnte. »Dann bemerkt man aber, wie dieses Syndrom: die Grenzen, deren man sich bewußt wird, die gerade in der Unanrührbarkeit von etwas zum Vorschein kommende Tangibilität, die Zweideutigkeit, das Nicht-aufkommen-Können usw., wie das alles – verzerrt – wiederkehrt auch in den Konzeptionen des Tabu und des Frevels. Derselbe ›Grundtypus‹ steht dahinter.« (41) An der »Homologie«, die »zwischen dem Schamgefühl und der Scheu vor dem Frevel besteht«, (ebd.) kann das Verfängliche der Grundsituation, in die der Mensch in der Scham eintritt, erhellt werden. »Nur die ›Mitten‹ sind verschieden, auf die beide bezogen sind.« (Ebd.) Denn im Frevel »verwirkt man […], was man berufen sich aufgeladen hat, dessen Sitz man wird«. (43) »Die für die Blöße konstitutive Wendung, daß man etwas ›auch ist‹«, wobei man sich nicht selbst sein kann, bedeutete aber keine »Besessenheit des Menschen«, sondern eine erschütternde Entdeckung. »Scham ist aber gerade eine Weise des Selbstbewußtseins.« (Ebd.) »Tabu ist den Polynesiern etwas, woran zu rühren man sich scheut, sofern hierbei etwas verwirkt würde.« (42) – Was, wenn angerührt, »über« einen kommen würde. Die Berührung riefe es in seiner Wirksamkeit hervor, die von einem Besitz ergreifen würde. »Die in der Unanrührbarkeit von etwas zum Vorschein kommende Tangibilität« bedeutet diese Möglichkeit, etwas durch die Berührung zu berufen, worin man sich nicht selbst ergreifen kann, was – ergreifend – man sich auflädt. Die Tangibilität, die hier zum Vorschein kommt, ist »eine besondere Anfälligkeit durch die Dinge« (Ebd.). »Was tabu ist, gilt es nicht wegen seiner Bedrohlichkeit zu meiden.« »Nichts verbietet, nichts hindert gerade an das zu rühren, was tabu ist.« (Ebd.) Man erkennt hier nicht etwas als eine Gefahr. »Die Scheu vor den Dingen, die tabu sind, ist keine Furcht.« Man rechnet hier nicht mit etwas, was man in seiner Bedeutung verstanden hätte, wogegen man sich dieses oder jenes zur Verfügung halten würde. »Gerade diese Freiheit zu den Dingen fehlt, die sie an ihrer Stelle erkennen […] läßt.« (Ebd.) Die besondere Anfälligkeit durch die Dinge, die hier hervortritt, bedeutet ein »Nicht-freikommen-Können von«, sofern das in den Dingen, die tabu sind, »Wirksame« in ihnen – unverfügbar – hinterlegt ist. »Es gehört zum Begriff des tabu ›ansteckend‹ zu sein: Sich-anstek66 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Die Grundsituation des Menschen

ken bedeutet, daß die Initiative bei mir liegt, – ohne daß ich indessen frei dazu wäre.« (42–43) Gerade das Freisein-zu ist unmöglich. Die Wirkung, die im Sich-anstecken »zu sich selbst entbunden wird«, kann nicht umrissen, bannend umkreist werden. Sie kommt »über« einen. Was man berufen sich aufgeladen hat, dem »kann man nicht frei begegnen«. »Der Beginn einer Distanzierung« (16) fehlt: Man wird dessen Sitz. »Die Dinge werden hier nicht auf Eigenschaften hin erkannt und sachlich verstanden als dies und jenes, sondern sie gelten als der ›Sitz‹ von Kräften, die man sich aneignen kann.« (43 Anm. 1) »Sich-aneignen« bedeutet hier: sie berufend über sich bringen. »In der Besessenheit ist dem Menschen ›etwas geschehen‹, er findet sich hier überhaupt als an die Dinge begeben, erschließt sie nicht durch Einbezug in den Sinnkreis seines Lebens, ist nicht ihr Prinzip. Man erfährt hier eine Nichtmächtigkeit.« (43) »Daran zu rühren ist nur ähnlich unmöglich, wie etwa der ›etwas Unmögliches‹ tut, der Scham oder Takt vermissen läßt. Man vermißt sich in bezug auf die dem Menschen gezogenen Grenzen, wenn man daran rührt.« (42) »Der Frevler verfällt dem, woran er rührte. So wie auch der Blick sich nicht freihalten konnte von dem, was er aufdeckt und profaniert. Bzw. wie das Sehendgewordensein eine Befangenheit bedeutete.« (Ebd.) Es ist hier nicht so, daß man seine Fähigkeiten falsch einschätzte. »Gerade das fehlt.« (Ebd.) Das Berufen, worin man etwas über sich bringt, ist keine »Fehlleistung« einer Fähigkeit, worüber man verfügte. Das Sehendgewordensein, worin man sich entdeckt findet, läßt den Blick nicht frei heraustreten. Gerade die Freiheit, in die Welt zu sehen, ist im niedergeschlagenen Blick nicht verfügbar – und nicht etwa nur verfehlt. »Man täuscht sich über etwas anderes hinweg. Darüber, daß man dessen, was man tut, darum nicht auch schon mächtig ist.« (Ebd.) Im Frevel wie in der Schamverletzung vermißt man sich daran, sich zu etwas zu ermächtigen, worüber man nicht verfügt. »Nicht mächtig« bedeutet »nicht nur ein Nicht-in-der-Gewalt-Haben«, (ebd.) weil man über die Folgen seines Tuns nicht verfügt – »etwa so wie etwas einmal in Gang gebracht nicht mehr zurückgeholt, daher nur in Grenzen sich selbst überlassen, bzw. in seiner Auswirkung vorgesehen werden kann«. (Ebd.) »Nicht mächtig« bezieht sich vielmehr auf das Prinzip seines Tuns, worüber man hier nicht frei verfügt. »›Nicht mächtig‹ meint […], daß etwas überhaupt nicht bei mir steht, daß man nicht selbst ›ist‹, was man tut, daß man hierbei sich seiner begeben hat, so daß man nicht frei dafür aufkommen kann.« (Ebd.) Die Wirkung, die ent67 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Die Grundsituation des Menschen

facht, zu sich selbst entbunden wird, bindet einen in sie ein. »Die Nichtmächtigkeit zeigt sich im Fortgang: denn nicht ein Erfolg des Frevels bringt die Nemesis. Als ein eitles Beginnen zeigt er sich.« (Ebd.) Der Bannfluch trifft die Eitelkeit des Menschen; nicht unentwegt steht der Durchbruch seines Beginnens bei ihm. Die für die Blöße »konstitutive Wendung«, daß man etwas »auch ist«, zeigt sich hier – im Frevel – »dahin verschoben, daß man in seinem Beginnen dem Lauf der Dinge geschickhaft verbunden ist«. (43) In der Scham wird man aber geschickhaft vor sich selbst gebracht. Sie steht am Beginn eines Durchbruchs. Nicht unentwegt bin ich derjenige, der ich bin. Die verwirrende Frage, die sich in der Scham erhebt, betrifft den Grund der Bestimmung des Menschen. Wer bin ich dann eigentlich? (109)

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Grenzfälle der Schaltung. Leiblichkeit und manische »Ideenflucht«

»Der Mensch ist nicht zu etwas, sondern zu sich bestimmt.« (S. 103, Anm. 1)

1.

Affekt-Ich und Affekt-Welt

Es ist der Versuch, der imaginativen und affektiven Dimension der Phänomene Rechnung zu tragen, welcher innerhalb der phänomenologischen Architektonik M. Richirs dazu geführt hat, den Bereich einer phänomenologischen Anthropologie abzustecken und das »oft vermessene Maß« des Menschen, wie es die Psychopathologien an den Tag ziehen, zu messen. 1 Auf diesem Weg ist ihr die »Daseinserkenntnis« L. Binswangers begegnet, die Diltheys Strukturpsychologie einer grundsätzlichen Reform unterzog. Ihre Fundamente hat Binswanger in seinem Hauptwerk »Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins« (1942) exponiert; ihre analytische Praxis wurde bereits in »Über Ideenflucht« (1933) probeweise zur Anwendung gebracht. 2 Die Veröffentlichung der französischen Übersetzung von »Über Ideenflucht« und »Wahn. Beiträge zu seiner phänomenologischen und daseinsanalytischen Erforschung« (1965) in der Reihe Krisis bestätigt im übrigen das besondere Interesse, das die phänomenologische Anthropologie der Daseinsanalytik Binswangers inzwischen entgegengebracht hat. 3 Es soll deshalb nicht wundern, daß H. Lipps in einem Kapitel mit M. Richir, Phantasia, imagination, affectivité. Millon, Grenoble 2004, S. 5. L. Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins. Hrsg. von M. Herzog und H.-J. Braun, Ausgewählte Werke Bd. 2, Asanger, Heidelberg 1993; L. Binswanger, Über Ideenflucht, in: Formen mißglückten Daseins. Hrsg. von M. Herzog, Ausgewählte Werke Bd. 1, Asanger, Heidelberg 1992, S. 2–231. 3 L. Binswanger, Sur la fuite des idées. Traduit de l’allemand par M. Dupuis, Millon, Grenoble 2000; L. Binswanger, Délire. Contributions à son étude phénoménologique et 1 2

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Grenzfälle der Schaltung

der Überschrift: »Stimmungen« einige Bemerkungen zu Binswangers Studie »Über Ideenflucht« gemacht hat, die nach seinem Tode in seiner letzten Schrift: »Die menschliche Natur« (1941) veröffentlicht wurden – ein Jahr vor dem Erscheinen der »Grundformen«. 4 Sofern nämlich »die Stimmung in dem Sinn einer bestimmten Weise des Seins bei den Dingen« genommen wird, im Sinne eines Zu-mute-seins, »zeigt [sie] sich auch in der manischen Ideenflucht«. (99) »Indessen, wir unterscheiden gerade den Zustand des Manischen von einer bloßen Stimmung. Wir erkennen ihn als einen Fall von Ideenflucht. Das Freie und Gelöste einer Stimmung macht es, daß einen ›seinen‹ Geist zeigen und spielen lassen kann. Der Manische kann sich aber nicht zurückholen aus einer Flucht von Einfällen, von denen er wie besessen ist.« (100) Für Binswanger bedeutet diese Unfähigkeit, sich aus einer Flucht von Einfällen zurückzuholen, allerdings nicht, daß der Kranke in keinem Fall auf einen Erlebnisgehalt »zurückkommen« könnte, den er »dans la plénitude d’une sincérité profonde« empfangen hätte. 5 Gerade die Analyse der »thematischen Struktur« der Gesamtheit ihrer Manifestationen und Bekundungen erlaubt es Binswanger, die zutiefst »antinomische Sinngestalt« der Manie an den Tag zu fordern. 6 Dem einzigen Hinweis von H. Lipps auf die Arbeiten Binswangers »Über Ideenflucht« ist zu entnehmen, daß er nur die in den Bänden XXVII und XXVIII des »Schweizer Archivs für Neurologie und Psychiatrie« veröffentlichten Studien in Betracht gezogen und nicht bis zum Schluß der Analysen Binswangers vorgestoßen ist. 7 Binswangers Interesse für Lipps’ »Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis« wird wiederum erst im zweiten Kapitel des ersten Teils der »Grundformen« spürbar, insbesondere in den dem »Nehmen-bei-etwas« gewidmeten Analysen. 8 daseinsanalytique. Traduit de l’allemand par J.-M. Azorin et Y. Totoyan, Millon, Grenoble 1993. 4 H. Lipps, Die menschliche Natur. Werke Bd. III, V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1977, S. 97–104. 5 L. Binswanger, Über Ideenflucht, op. cit., S. 185 f.; über das »Sich-zurückholen-können«, S. 191; zu Binswangers Zitat der Studie von E. Pichon, Essai d’étude convergente des problèmes du temps, Journal de Psychologie 1931, Bd. 28, Nr. 1–2: siehe S. 177 und S. 185. 6 L. Binswanger, op. cit., S. 148 f. 7 H. Lipps, op. cit., S. 99, Anm. 1. 8 L. Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, op. cit., S. 293. – H. Lipps, Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis, Werke Bd. I, V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1976.

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Affekt-Ich und Affekt-Welt

Für H. Lipps kam diese Resonanz seiner Arbeiten aus den Jahren 1927– 28 allerdings zu spät. Zweifelsohne war es die Tatsache, daß Binswanger seine dichte Beschreibung der »Ideenflucht« nicht auf den »tatsächlichen Ablauf« der psychischen Zustände, die zu diesem Syndrom gehören, beschränkte, die Lipps besondere phänomenologische Aufmerksamkeit geweckt hat. 9 Gegenüber dem klinischen Bild, das die Psychopathologie von der Manie entwirft, stellt Binswanger die »Form des Menschseins«, »die anthropologische Struktur«, die in der Ideenflucht erstmals sichtbar wird. 10 Diese anthropologische Ganzheitsstruktur ist eben die Welt, wie der Kranke sie erlebt. Und diese Welt erschließt sich allererst in der »Gestimmtheit« seines Daseins, in der die besondere Weise seines Seins bei den Dingen »inmitten des Seienden im Ganzen« sich enthüllt. 11 Diese vom Affekt geprägte »Gestimmtheit des Daseins« bildet tatsächlich den Schwerpunkt der ersten »Studie«. Binswanger bestätigt im übrigen, daß seine Studie als einen Beitrag zur Analyse der »AffektWelt«, »der Welt, in der wir im Affekt leben«, und des »Affekt-Ich«, »das wir im Affekt sind«, betrachtet werden muß. 12 Bereits in den vorangegangenen Analysen der Verlegenheit als einer »existentiellen Affektion« und in der dichten Beschreibung der »Textur der Scham« als Marke einer »existentiellen Fraktur« hat Lipps eine »Deklination der verschiedenen Verhältnisse des Ich in sich selber« unternommen. (9 Anm. 1) 13 Am Faden dieser Deklination entfalten sich schrittweise seine anthropologischen Unterschungen zur »menschlichen Natur«. Das »Sich Befinden« in einer Stimmung ist eine Deklinationsform, die sich seiner spezifisch phänomenologischen Betrachtungsweise keineswegs entzieht. Denn man findet sich darin nicht etwa wie in der Verlegenheit oder wenn man sich schämt – die ja keine Stimmungen sind. Die Verlegenheit spannt ein Netz, in dem man sich verstrickt. »Scham, die mich als Gefühl überkommt, läßt mich aber in den Boden sinken.« (32) Man empfindet die Verlegenheit »als durch seine Lage entstanden.« (10) In der Scham wird aber »das Sein bei anderen unmöglich.« (32) Was fühle ich in einer Stimmung? Wie finde ich mich darin? WelL. Binswanger, Über Ideenflucht, op. cit., S. 22. Ebda. 11 Ebd., S. 44. 12 Ebd., S. 31–32, Anm. 9. 13 Vgl. die beiden diesem Beitrag vorangehenden Ausführungen. 9

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Grenzfälle der Schaltung

cher Natur ist ihre Befindlichkeit? Wie dekliniert sich in der Stimmung das Verhältnis des Ich in sich selber? Dem Verlegenen mißlingt das Auftreten vor anderen. »Er getraut sich nicht heraus aus sich selbst. In der Angst, einen faux pas zu begehen.« (12) In der Scham scheint man »sich zu verraten, von sich selbst abzufallen«. (33) Vergebens sucht man Masken, die man vorbinden könnte: Man ist heraus- und bloßgestellt. Die Blöße bezieht sich auf etwas, was der Mensch »auch ist«, was er aber nicht wahrhaben möchte. Dem Verlegenen mißlingt »die Schaltung« seiner Haltung. (21) In der Scham gibt es jedoch keine Schaltung der »Haltung«, die – unhaltbar – auch »gebärdenlos« ist. (31) Sicherlich: »man errötet«. Aber durch das Rotwerden kann man die Scham nicht etwa auch »abfangen«. (21) Es gibt keine »Modellierung« der Scham, die gerade hierin bodenlos ist. (20) Wie steht es mit der »Befindlichkeit« der Stimmung? Welches Verhältnis des Ich in sich selber bezeichnet jener rätselhafte Ausdruck, den Lipps O. F. Bollnow entliehen hat: »Zu-mute-sein«? 14

2.

Zu-Mute-Sein und Mitgenommen-Werden

O. F. Bollnow bezeichnet die »Stimmung« als eine »Grundbefindlichkeit« des menschlichen Daseins. »Die Stimmungen gehören zu der Schicht des tragenden Lebensuntergrundes.« 15 Heidegger spricht, wie Lipps bemerkt, von Stimmungen als den »ursprünglichsten Weisen zu sein«, (98) als der »ursprünglichsten Seinsart des Daseins«. 16 »Die Stimmung macht offenbar, wie einem ist und wird.« Sie weist auf eine originäre Seinsweise oder einen ursprünglichen Existenzboden hin, den Bollnow als »Lebensuntergrund«, Heidegger als »Sein in seinem Da« bestimmt. 17 Wie gestaltet sich dieser Hinweis meines Selbst auf den Boden meiner Existenz, auf mein »Sein in seinem Da«? »Wie einem O. F. Bollnow, Das Wesen der Stimmungen, V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1941, S. 18. – Neu hrsg. von U. Boelhauve, G. Kühne-Bertram, H.-U. Lessing und F. Rodi in: O. F. Bollnow, Schriften. Studienausgabe in 12 Bänden. Bd. 1: Das Wesen der Stimmungen. Würzburg 2009. 15 Ebd., S. 18 und S. 20. 16 M. Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte, in: Jahrbuch f. Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. VIII, Niemeyer, Halle a. d. S. 1935, S. 136; vgl. H. Lipps, op. cit., S. 98. 17 Ebd., S. 134. 14

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Zu-Mute-Sein und Mitgenommen-Werden

ist und wird«, »wie mir zu-mute-ist«: »Man fühlt, be-findet ›sich‹ darin. ›Ist‹ es also – ohne freilich sich darin zu vollziehen wie im Denken, das ein existenzieller Schritt ist.« (105) »Eine Bindung bzw. Lösung oder Entspannung meiner Vitalität ist in Depression und Freude bezeichnet.« (105) »Tristitia contractio est«, »laetitia diffusio est«: »Trauer läßt das Herz sich zusammen krampfen«; »Freude ist überschäumend. Man strahlt sie aus«. (13) »All diese Affekte«, in denen man sich fühlt, befindet, »sind nichts ›Inneres‹.« (13) »Von Augustin wird die affectio animi als eine distentio bestimmt.« (13) Daß die affectio der Trauer z. B. eine distentio ist, »bedeutet ein Sich-auslegen darin«. (105) »Während ich durch einen Affekt i. e. S. unvermittelt mitgenommen werde, z. B. in Wut gerate, und dabei mich wieder zu fassen und zu halten suche, bin ich z. B. in der Trauer selbst geschaltet.« (105) Aber diese Affektionen »sind nicht Stimmungen im engeren Sinn wie Langeweile, Verstimmtheit usw. – die an einem bemerkt werden, in denen man aber nicht eigentlich geschaltet ist«. (105) »Langeweile, die einen überkommt, wenn man nichts zu tun hat, hat ihren Grund in meinem Dasein. Auch Angst ist etwas was aus mir kommt. Ohne daß ich eigentlich mich darin zeigte.« (105) Das Sich-Befinden, Sich-Fühlen in der Stimmung ist dadurch gekennzeichnet, daß man darin »nicht eigentlich geschaltet« ist. »Die Haltung schaltet geradezu die Affekte.« (21) »Ganz traurig kann man nur dann sein, wenn man sich dieser Trauer auch haltungsmäßig hingibt.« (21) Die »sogenannten Affekte« des Menschen »bedeuten etwas anderes als das nur eben ›Mitgenommen‹-werden des Tieres.« (20) »Nur der Mensch kann – bei Entsetzen und Schreck – ›außer sich‹ geraten.« (20) »Als bloße Gefühle, ohne ihren Haltungssinn betrachtet, scheinen Wut und Zorn einander verwandt zu sein. Wut ist aber gesteigert ein Ärger über etwas, und im Ärger ist eine Verstimmung aufgenommen. Wut läßt man lediglich aus an jemand, sie richtet sich aber nicht gegen ihn. Sie trifft ihn nicht wie der sich gegen den anderen auslegende Zorn, der nicht mehr hinwegsehen will über die Nichterfüllung dessen, was man vom anderen erwarten kann. Im Zorn faßt man etwas. Während der Wütende die Haltung verliert, sich selbst hierbei entgleitet, legt man sich geradezu hinein in den Zorn. Er wird mächtig in einem. Im Zorn zeigt sich einer. Wut kennzeichnet ihn nur.« (21) »Eine legere Haltung – das Sitzen auf dem Stuhl z. B. – bremst schon den Zorn: man kann die Affekte abfangen durch die Haltung. Sich hinreißen lassen zu etwas ist das Gegenteil hierzu.« (21) Das Mitgenom73 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Grenzfälle der Schaltung

men-Werden des Menschen zeigt, wie er »sich in Lagen auf sich selbst hin beansprucht findet«. (20) Es gibt eine »Schaltung« der Scham. (31) »Was mich überkommt und rot werden läßt, ist [jedoch] das Schamgefühl, aber nicht die Scham selbst, die einen ja gerade hier nicht vor dem bewahrt hat, dessen man sich schämt.« (31) »Scham wacht aber über etwas.« »Scham überkommt mich – so heißt es.« (31) »Es liegt ähnlich wie bei der Angst, die in mir aufsteigt.« (31) »Denn Angst ist nicht Furchtsamkeit. Man kann sie nicht so ›verstehen‹, wie man jemandes Furcht und darin ihn versteht. Angst befällt mich anders als Furcht, von der ich mich distanzieren, zu der ich das freie Verhältnis des Gedankens gewinnen kann. Nichts ›wirkt‹ beengend bei der Angst, die mir in Anfechtungen als der Stachel des Daseins aufsässig ist. Während Sorge und Furcht auf mir lasten, insofern mich hemmen und lähmen können, läßt Angst mich nicht zu mir ›selbst‹ kommen.« (105) »Man biegt ab in Zwangsvorstellungen, verliert sich dabei. Angst sperrt meine Schaltung. Sie bedeutet ein Vor-sich-selbst-gezwungen-werden und Sich-festgehalten-finden im Durchbruch einer Ohnmacht, die eine solche meiner selbst ist. Sie hat kein Maß, wie das die Furcht an der Gefahr findet.« (105) »Angst ist etwas, was – niedergehalten durch die Sorgen des Lebens – doch immer wieder herausbricht bei, bzw. hineintreibt in das, wohinter sie als Stachel steht: Zwangsvorstellungen, Pedanterie usw. Der Versuch sich seine Freiheit, sich selbst darin zu beweisen kommt hier an kein Ende, findet keinen Halt an den Dingen. Nur der Mensch, für den das: nicht von sich aus das sein können, was er doch gerade ›selbst‹ zu sein hat, eine spezifische Nichtmächtigkeit bedeutet, kann Angst haben.« (105–106) Im In-den-Boden-Sinken der Scham entdeckt man sich gerade darin, etwas, was man nicht wahrhaben will, »auch zu sein«. (36) Man wird sich seiner bewußt« – ohne seines Zutuns und widerwillig. (31,43, 44) »Scham ist gerade eine Weise des Selbstbewußtseins«, eines widerwärtigen, »mit Ekel verbundenen«. (31) Die würgende Angst bedeutet aber keine Blöße. Nicht »mein Sein bei anderen« wird hier unmöglich. Daß Angst meine Schaltung »sperrt«, bedeutet etwas anderes. Tangiert ist meine Freiheit – wie ich sie ausübe. Ihr Rückhalt wird strittig.

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Zu-Mute-Sein und Mitgenommen-Werden

3.

Die Wonne der Zerstreuung und der Raub der Angst

Bereits mein Blick zeugt davon, wie ich meine Freiheit ausübe. Er bedeutet »eine Frontstellung zur Welt«. (26) »Der Blick des Menschen ist frei. Er trifft die Dinge.« (25) Sein Auge ist nicht etwa »nur zum Sehen da«. Er sucht nicht »sich dem, was er ›sieht‹, zu verhaften«. (25) Im Blick eines Menschen pointiert sich die Richtung seines »in die Welt Sehens«. (25) »Diese Richtung ist aber keine sachlich zu bestimmende und anzugebende Perspektive.« (25) Der Mensch ist ›anwesend‹ in seinem Blick. Er »stellt« das Gesehene. Die Welt zeigt sich darin »unter einem Horizont zu entscheidender Möglichkeiten«. (26) »Provisorisch wird im Sehen das Vorfeld von Aktionen erschlossen und dieses Sichten weist zurück auf die Maßgeblichkeit freier Entscheidung hierbei.« (31) Aber: »das die Dinge bezielende Sehen hat schon immer die Freiheit aufgenommen, die ihm in der Helle des Tages geworden ist.« (97) »Aus dem Dunklen werden die Dinge ins Licht gebracht.« »Die Dinge sind in Stufen da.« (93) »Es gibt eine ›Kraft‹ der Erscheinung.« (83) Die Dinge werden »in ihrer erscheinungsmäßigen Manifestation« gesehen. (ebda) »Dunkelheit behindert das Sehen – was etwas anderes heißt, als daß einem nur die Gelegenheit fehlt, eine Sache selber zu ›erfahren‹.« (83) »Die Welt zeitigt sich in der Erscheinung ebenso wie im Begriff. Im Sehen erschließt, interpretiert man die Dinge.« (83) In der Helle des Tages »›hat‹ man sich in bestimmter Weise – anders z. B. als beim Gehen durch den dunklen Keller, wo man sich in seine leibliche Sphäre zurückverlegt findet, wo man, statt, ein Ziel im Auge, frei ausschreiten zu können, darauf bedacht sein muß, keinen Fehltritt zu machen. Man bestimmt, begrenzt sich hierbei verschieden.« (97) Was sich ändert ist die Art und Weise, wie man sich »hält«, sich in dieser Haltung »hat«. Man »benimmt sich« anders. In diesen unterschiedlichen Weisen des Sich-Haltens und Sich-Benehmens ist das zu den verschiedenen Modi unseres Seins bei den Dingen jeweils gehörige »Empfinden« anders »eingeschaltet«. »Das wohin das an sich intermodale Empfinden geschaltet wird wechselt.« (97) In der Dunkelheit sind meine Schritte unsicher; es gelingt mir nicht, meine Leiblichkeit über den Eigenraum meines Leibkörpers hinaus zu erweitern. Allerdings: »Beide […] – Helle und Dunkelheit – werden hierbei nur als zufälliger Umstand und nicht in der Richtung einer Stimmung empfunden.« (97) Demgegenüber: »Wie sich ein Stimmungshaftes etwa aufdrängt am Abend, dessen die Dinge zurücknehmende Dämmerung entspannt, 75 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Grenzfälle der Schaltung

dessen letzte Sorge schon dem andern Tag gilt, zu dem frei man sich findet. Oder wie auch der Morgen ›gestimmt‹ ist. Es gibt eine Stimmung des Sonntags; seine Stille, in der angehalten ist, was sonst die Straßen erfüllt, ist etwas was sich lähmend auf einen legen kann. Die Trübe eines Regentages legt sich mir auf die Seele.« Als Stimmung »kommt hier etwas über mich, worin ich mich auf mich selbst in bestimmter Richtung angesprochen finde: die Welt zeigt sich darin verschieden, mein hierin Zu›mute‹-sein wechselt«. (97) »Ich muß mich zurücknehmen aus den Gewißheiten feststellbarer und als dies und jenes bestimmbarer Wirklichkeit, um mich dem hinzugeben, was unnennbar im Gegenwärtigen als Stimmung liegt. Oder auch über einem Bilde. Und durch Melodien wird man gestimmt. Beide Male – was bedeutet hier die ›Wirklichkeit‹ ? Es ist als ob sie sich bei Farbe und Ton mit der Greifbarkeit überhaupt entzöge. Der Schwärmerische überläßt sich der Stimmung. Er lockert an seinen Bindungen, um im Gefühl ertrinken zu können. Er möchte sich wiederfinden in der Natur – was kein Erleben, was nicht das Schicksal einer Begegnung ist.« (97) Daß man in der »Befindlichkeit« einer Stimmung »nicht eigentlich geschaltet ist«, wird endlich tastbar. Die Wirklichkeit weicht zurück. Ihre Bestimmbarkeit und Greifbarkeit sind es, die sich hier zurückziehen. Sie stellt keinen »Umstand« meiner »Lage« dar, worin ich mich auskenne. Etwas unnennbares, nicht-bestimmbares ist darin hinterlegt worden, was ich nicht zu fassen bekomme, was sich vielmehr meiner bemächtigt, was mich überkommt, dem ich mich hingebe. Dasjenige, wohin das intermodale Empfinden geschaltet wird: das Sich-Einstellen-auf, (78) das eine »Antizipation«, einen »Zugriff« bedeutet, in welchem ich es mit den Dingen dieser Welt aufnehme und mich mit ihnen auseinandersetze, hat eine Alteration erfahren. 18 Die Hingabe des Schwärmerischen ruft uns die »Rêveries d’un promeneur solitaire« in die Erinnerung zurück: »Je sens des extases, des ravissements inexprimables à me fondre pour ainsi dire dans le système des êtres, à m’identifier avec la nature entière.« »Durant ces égarements mon âme erre et plane dans l’univers sur les ailes de l’imaginaZu den »Antizipationen der Einstellung« vgl.: H. Lipps, Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis, op. cit., I. S. 49 f.; II. S. 10 f.; vgl. dazu: G. van Kerckhoven, Intentionalität und Lebensbezug. Die Phänomenologie E. Husserls in der hermeneutischen Forschungsperspektive, in: Proceedings of the Third International Meeting for Husserl Studies in Japan, November 23–24 2003, Kyoto University, Kyoto 2003, S. 43– 56.

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Sperrung: die Platzangst

tion dans des extases qui passent toute autre jouissance.« »Mon imagination qui se refuse aux objets de peine laissait mes sens se livrer aux impressions légères mais douces des objets environnants.« Oder diesen Satz, der die »morale sensitive« der »Rêveries« zum Ausdruck bringt: »Mon âme expansive s’étendait sur d’autres objets et toujours attiré loin de moi par des goûts de mille espèces, par des attachements aimables qui sans cesse occupaient mon coeur, je m’oubliais en quelque façon moi-même, j’étais tout entier à ce qui m’était étranger et j’éprouvais dans la continuelle agitation de mon coeur toute la vicissitude des choses humaines.« 19 Dem »freien Lauf« der Einbildungskraft in den »Rêveries«, der Wonne ihrer »Zerstreuung« 20 stellen sich die »Zwangsvorstellungen« gegenüber, (105) in denen der Raub der Angst »sich verliert«: Sie sperrt seine Schaltung. Auch der Manische »hält nicht die Front«. (93) Er ist wie besessen von einer Flucht von Einfällen, aus denen er sich angeblich nicht zurückzuholen vermag. »Der Manische verhebt sich […] an den Dingen«. Insofern »ihm die Mitte einer Situation fehlt«, er nicht zu »loten« vermag, (99) scheitert eben sein Schalten.

4.

Sperrung: die Platzangst

Nicht nur Atmosphären rufen die Stimmung wach. »Durch die Stimmung der anderen, ihre Heiterkeit und Ausgelassenheit, kann man angesteckt werden.« (98) »In Stimmung kann man aber auch gebracht werden. Überredung sucht umzustimmen: es wird einem Lust zu etwas gemacht, was man nicht von sich aus getan hätte.« (98) »Heidegger nennt als Beispiele der Stimmung: Langeweile, Unlustigkeit, Lust zu etwas. Das Unerfüllte bzw. zur Not Ausgefüllte meiner Zeit läßt mich Langeweile empfinden. Nicht in Stimmung bzw. verstimmt sein heißt: zu nichts aufgelegt sein – was zumeist eine bestimmte Anfälligkeit, Gereiztheit, Unberechenbarkeit bedeutet: launisch unkontrollierten Einfällen zu folgen. Irgend etwas langweilt mich. Die Stimmung mag einen Anlaß haben; aber der erklärt sie nicht.« (98) Für Heidegger »entdeckt sich aber in dieser Grundlosigkeit der StimJ.-J. Rousseau, Les Rêveries du promeneur solitaire. Préface, Commentaires et Notes de B. Gagnebin, Le Livre de Poche, 1983, S. 107, 109 und S. 125. 20 Ebd., S. 109. 19

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Grenzfälle der Schaltung

mung ein ontologischer ›Grund‹«. (98) »Die Last des Daseins ist es eigentlich, was in der Verstimmung ebenso wie in dem Gelösten des In-Stimmung-seins zum Vorschein kommt. Der Verstimmte kann ›nichts mit sich anfangen‹. Das Tier kennt keine Langeweile: es steht nicht unter dem Druck, etwas beginnen zu müssen.« (98) Tatsächlich beschreibt Heidegger die Stimmung als eine »An- und Abkehr«, die sich dem »Lastcharakter des Daseins« zuwendet oder sich von ihm abwendet – der sich in dieser doppelten »Wendung« erschließt. Zumeist kehrt sie sich nicht an ihn. Das gestimmte Sich-Befinden, in dem das Dasein sich immer schon gefunden hat, »flieht« vor der Last. In der gehobenen Stimmung enthebt es sich ihrer. Durch die »oft anhaltende, ebenmäßige und fahle Ungestimmtheit« wird das Dasein »ihm selbst überdrüßig«. »Das Sein ist als Last offenbar geworden.« Im Gegensatz zu der Flüchtigkeit und Leichtfüßigkeit der Stimmung ist es die Trägheit, Beharrlichkeit und Bläße dieses lethargischen Zustandes, in dem die Stimmung keine bestimmte Tönung des Gemüts aufweist: die Ungestimmtheit, in welcher sich die Ankehr vollzieht. 21 Nicht diese dem Dasein innewohnende »Schwere« – sich ohne Stütze zu ertragen – ist es jedoch, was Lipps zunächst und zuerst anspricht. Vielmehr hebt er die Eilfertigkeit, »etwas beginnen zu müssen«, (98) die »Rastlosigkeit« des menschlichen Daseins hervor. Schon der Blick eines Menschen ist »Durchbruch eines Beginnens«. (26) »Es ist eine Entschiedenheit darin bedeutet.« (35) »Im Blick stellt man« z. B. »den anderen«. (26) »Als angelegt in der Verfassung des Menschen ist die Stimmung etwas was ›aus mir‹ kommt. Ohne daß ich ›selbst‹ darin wäre, wie in Trauer und Freude, oder wie sich meine Natur in meinen Neigungen zeigt.« (98) Sie ist keine affectio im Sinne einer distentio; sie ist ursprünglicher. Man ist in ihr nicht eigentlich geschaltet; man legt sich darin nicht aus. »Gegen Stimmungen möchte man sich schon als solche wehren. Denn sie verhindern es, sich einzuschalten und durchzusetzen. Man kann sie nur zu verscheuchen suchen, aber nicht abfangen wie einen Affekt, der mich ergreift, nicht eben nur befällt wie Langeweile.« (98) »Eine Stimmung ist auch die Depression z. B. Der Niedergeschlagene verzagt vor dem Sinn seines Tuns. Seine Haltung ist verändert. Der Boden schwankt ihm unter den Füßen. Er wird in sich selbst unsicher, weil ihm weggeschlagen wurde woran er glaubte. Er findet sich 21

M. Heidegger, op. cit., S. 134–136.

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Sperrung: die Platzangst

nicht frei für Entscheidungen. Er tritt ins Leere und kann nicht weiterschreiten. Er hat nicht mehr das in sich selbst was nötig ist, um dem Boden Festigkeit im Sinn eines Sich-zu-etwas-freigegeben-findens anempfinden zu können. Er hat Halt und Maß verloren. Er hält das Unmöglichste für möglich. Unsicher neigt er zu Übersteigerung. Er erliegt Eindrücken. Die Weite des Treppenhauses, die Länge der Gänge, die Stille, das Förmliche der ihm Begegnenden – alles mögliche will ihm auffällig erscheinen. Unheimlich scheint es ihm etwas zu bedeuten in der Richtung von Veränderungen, die er dahinter zu erfassen ahnt. Es ist, als ob er vereinzelt wäre.« (98–99) Der Unterdruck der Langeweile, die Zerschlagenheit der Depression hemmen lediglich die Schaltung. Angst dagegen »sperrt« meine Schaltung. Es ist nicht etwa so, daß man sich – hier – nur hinschleppen oder auch ins Leere treten würde. Vielmehr: »Schwindel ergreift einen« dabei. (106) H. Lipps wählt als Beispiel die »Platzangst«. Der Rückhalt meiner Freiheit gibt nach und läßt das »Nichts« ein. Man steht hier nicht müßig herum oder ist in sich selber unsicher geworden; vielmehr: Man findet sich hier an etwas »ausgeliefert«. (106) »Man findet sich hier ausgeliefert an die Leere beim Stehen auf weiten Freitreppen, beim Gehen durch Straßenfluchten, deren geschlossene Häuserreihen dem Blick keinen Halt geben. Schwindel ergreift einen. Wie etwa Strindberg beim Überschreiten der Place de la Concorde sich an den Laternenpfahl klammerte, um sich gegen sich selbst zu sichern, sofern er einer Versuchung nichts eigentlich aus sich selbst entgegenzustellen hatte. Das Versucherische des Leeren hat nicht das Verlockende des Unbekannten. Schwindel ist viel kernnäher angelegt in der Natur des Menschen. In jedem ist Angst auf dem Sprung. Vom Schwindel wird man übermannt. Es ist nicht irgendwelche Furcht, was einen hier anwandelt, was als unbegründet auszureden wäre. Dem Platzangstkranken scheint kein Weg mehr gangbar zu sein. Er findet keinen Stand mehr im Raum. Und während man der Verlockung des Unbekannten folgend verwegen sich vorwagt, nämlich in Schritten, bedeutet hier das Der-Versuchung-erliegen ein Sich-fallen-lassen. Die Gefährdung liegt hier in einem selbst.« (106) 22 Daß einem die Fähigkeit, sich im Raume aufzuhalten, abhanden kommt durch etwas, was unwiderstehlich in ihm aufsteigt und geradezu Zum »Abenteuer« vgl. die Ausführungen weiter unten: »Ferne und Fremde. Wandlung von Existenz«.

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Grenzfälle der Schaltung

die Anziehungskraft des Leeren bildet, zeigt erst recht, welcher Kernbestand der menschlichen Natur durch den Schwindel berührt wird. Es handelt sich um den Boden ihrer Räumlichkeit. »Beides – das Versuchende des Abgründigen und das Verlockende des Unbekannten ist von dem Eindruck, unter dem Platzangst steht, darin unterschieden, daß hier schlechthin im Menschen etwas dem Abgründigen entgegenkommt.« »Das wovon er beeindruckt wird ist nicht der in seiner Endlosigkeit doch ›gerichtete‹ Raum unseres Daseins, in dem man Orte bestimmen und sich irgendwo aufhalten kann.« »Der Platzangstkranke schreckt zurück vor die Weite des sich selbst ins Unendliche gleichsam fliehenden Raumes.« (106) »In der Angst wird lebendig was einem in einem selbst zunächst verborgen ist. Man kann der Versuchung als einer Anfechtung nichts entgegensetzen.« (ebd.) Der Boden der Räumlichkeit der menschlichen Natur, den man in der Platzangst erstmals zu verspüren bekommt: der sich selbst ins Unendliche gleichsam fliehende Raum, wie er vom Schwindel entfacht wird, ist stricto sensu: »nichts«. »Wovor einen schwindelt, ist eigentlich ›nichts‹.« (106) »Das Seiende im Ganzen scheint wegzurücken. Man ist verloren darin und daran. Und man entgleitet sich hier selbst mit, wenn man – in sich selbst keinen Halt findend – sich an den Arm des Begleiters klammert.« »Objektiv ist keine Gefahr da.« »Denn das Geländer schützt mich ja.« »Man vermeidet den Blick in die Tiefe, den aufzunehmen man doch immer wieder versucht wird. Auch hier: nicht die Tiefe als solche macht Schwindel. Er fehlt ja z. B. im Flugzeug. Aber dies, daß man bei dem die Wand entlang Hinuntersehen keinen Halt finden kann, will einen fallen lassen. Man findet sich hier als seiner nicht mächtig, sofern man nicht aus sich selbst heraus stehen kann.« (106– 107) »Die Haltung schaltet geradezu die Affekte.« (21) »Es bedarf fühlbarer Anstrengung, dem gegenüber, was mich überwältigen will, ›seine‹ Haltung, oder eine andere gespielte durchzusetzen. Denn Haltungen können echt oder unecht, gespielt oder gemacht sein.« »Haltungen können aber auch ›eingenommen‹ werden. Ich habe Einfluß auf meine Haltung.« »Und nicht nur den anderen, sich selbst kann man durch das Spielen einer Haltung darüber hinwegtäuschen, wie einem ›eigentlich‹ zu Mute ist – sofern man ja doch auch die gespielte Haltung irgendwie ›ist‹, nämlich darin steckt, sich hineinstreckt.« (21–22) Daß im Falle der Platzangst die Schaltung »gesperrt« ist, hat eine spezifische Bedeutung. Man ist diesem Können beraubt, sofern man in sich selbst keinen Halt 80 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Verschüttung: schematische Rudimente

mehr findet. »Im Schwindel tut sich auf eine prinzipielle Ohnmächtigkeit, und dies gerade hinsichtlich des Haltes, der ja selber auch ›nichts‹ ist.« (107) Nicht die Leere als solche versetzt einen in Schrecken. »Die Leere des Raumes wird transparent auf die Welt hin, der man ausgeliefert ist.« (107) Sofern mit »Welt« eben der Rückhalt meiner Freiheit gemeint ist, in mich selbst Halt zu finden, ist es ihr Boden, der nachgibt. – Der an sich selbst »nichts« ist. »Dasein ängstet sich um sich selbst als Dasein. Und daß es eigentlich ›nichts‹ ist, bedeutet kein totales Nichts, sondern nur: es ist nicht dies und auch nicht jenes, nichts von alldem …« »Angst ist einem aufsässig. Man erfährt sich darin als in seinem Gehaltensein in das Nichts.« (107) »So ist es auch Angst, was manche überkommt, wenn sie bei der Fahrt durch einen Tunnel eine Kerze bereit halten, um dem Dunkel des Tunnels zuvorzukommen. Das plötzliche Dunkel, das der Blick nicht durchdringen kann, steigert den Eindruck des Beengenden, Auswegslosen, den schon das geschlossene Abteil macht. Töricht wird nur der Versuch, durch Erklärungen über Eventualitäten so etwas wie eine Zweckmäßigkeit dieser Maßnahme plausibel machen zu wollen. Der Phobiker kann sich nicht verteidigen gegen den Gesunden, der aus der Ordnung seiner Welt heraus nur begründete Furcht anerkennen kann. Deshalb versucht er notwendig aus der Angst in eine sachliche, begründete (bzw. gerade nicht begründete) Furcht zu entfliehen, bei der er sich aufhalten, mit der er sich beschäftigen kann.« (107) Von der Angst beschlichen und befallen, biegt man in Zwangsvorstellungen ein.

5.

Verschüttung: schematische Rudimente

Nicht im Schwindel, sondern im Wirbel erblickt L. Binswanger »die existenziale Heimat der manischen Existenzform«. 23 Diese Form der Bewegtheit prägt nach Heidegger das »Verfallen«. Insbesondere bezieht sie sich auf den Zeitigungsmodus desselben: auf die »Schrumpfung« der ekstatischen Struktur der Zeitigung »im Sinne der Einengung derselben auf das bloße Gegenwärtigen«. 24 Der existentielle Modus der Verwirrtheit des ideenflüchtigen Menschen wird aber als solcher nicht aus23 24

L. Binswanger, Über Ideenflucht, op. cit., S. 183. Ebd., S. 185; vgl. S. 218.

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Grenzfälle der Schaltung

schließlich durch den Wirbel bestimmt. Das »Springen, Taumeln, Schwimmen oder Gleiten« sind unterschiedliche Bewegungsformen, in welchen der Kranke sich innerhalb der fundamental-ontologischen Daseinsbewegtheit des Wirbels aufhält. 25 Obwohl er unaufhaltsam, »immer wieder« auf »den schönsten Augenblick seines Lebens zurückkommt«, den er »dans la plénitude d’une sincérité profonde« empfangen hat, gelingt es ihm nicht, bei diesem Erlebnisgehalt »kontinuierlich und ruhig« zu verweilen. 26 Er ist zwar nicht »in das Nichts gehalten«. Aber das Zentrum der Schwerkraft seiner Existenz hat sich verlagert. Die Spitze des Kreisels zeichnet merkwürdige Figuren. H. Lipps hat seine Lektüre nicht bis zum Schluß der dritten Studie Binswangers vorangetrieben. Deshalb richtet er seinen Augenmerk nicht auf das »Verfallen« und das »Man selbst«, wie die existentialontologische Analytik Heideggers sie zuerst an den Tag gezogen, das existentiell-anthropologische Verfahren Binswangers sie daraufhin zum Leitfaden einer Beschreibung der Manie gewählt hat, deren Mittelpunkt die »Individualität« des Kranken, d. h. »das was ihre Welt als die ihre ist«, bildet. 27 Lipps spricht von einer »Verschüttung«, einer fortschreitenden Versprengung und Versperrung menschlicher Existenz. (100) Bereits der Blick des Menschen bedeutet eine »Frontstellung zur Welt«. »Jemand ein Gesicht zusprechen heißt: ihm ein freies Verhältnis zuerkennen zu dem, was als Welt im Ganzen erfaßt wird und was sich von daher unter einem Horizont zu entscheidender Möglichkeiten zeigen kann.« (26) »Den Blick bricht die Krankheit.« »Wie auch in dem Müden, Schwunglosen, Läppischen der Demenz sich einer nur wie verwischt noch zeigen kann. Oder wie in der umständlichen, gespreizten Feierlichkeit des Epileptischen nicht eigentlich der Mensch anschaulich wird, wie ihre Hohlheit sie vielmehr als ein Zeichen für etwas auffallen läßt, für offenbare Hemmungen, Störungen.« »Das stumpfe Vegetieren, die Verblödung bei Paralyse oder Katatonie demonstrieren eine fortscheitende Verschüttung.« »Sofern aber der Mensch zunächst in Verhältnisse geschaltet ist, kann im Beginn einer solchen Erkrankung schlechthin ›Menschliches‹ zu sich entbunden werden, durch die Lösung von der Wirklichkeit, in die es zunächst verfangen war.« (100) »Dadurch daß der Rahmen des Lebens gesprengt wird, kann der 25 26 27

Ebd., S. 219. Ebd. S. 185–186; vgl. S. 177, Anm. 172. Ebd. S. 58–59.

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Verschüttung: schematische Rudimente

Mensch – in kurzen Strecken noch – gerade frei werden zu einer Wahrheit, die nicht mehr sachlich gebrochen ist.« (ebd.) Die zunehmende Verschüttung eröffnet ein kleines Fenster. Es geht auf eine Existenz hinaus, die nicht mehr in objektiven Verhältnissen eingeschaltet ist. D. h. in Verhältnissen zu einer Wirklichkeit, deren Strahlenbrechung sich im Brennpunkt seiner Objektive vollzieht. Nicht auf die »Haltung«, sondern auf den »Griff« bezieht sich diesmal die von H. Lipps geübte phänomenologische Deklination. Binswanger widmet sich diesem Thema erst ein Jahr nach dem Erscheinen der »Menschlichen Natur« in seinen »Grundformen«. 28 Es besteht nicht der geringste Zweifel darüber, daß es wieder einmal Heidegger war, der Binswanger seine Analyse des »greifenden Nehmens-bei-etwas« an die Hand gegeben hat. Lipps dagegen geht es um dasjenige, was zu einer ergreifenden Wirklichkeit in dem Moment werden kann, in dem man losläßt. Bereits das rätselhafte, von Geheimnissen umrankte Gemälde verzauberte das Herz; eine beschwingte Melodie beflügelte und durchstimmte das Gemüt. Die Wirklichkeit wich zurück und gab nach; zurückgesetzt wurde ihre Bestimmbarkeit und Greifbarkeit. Etwas unnennbares lag im Gegenwärtigen; es legte sich ans Herz. Die Anmutung war nicht die eines Affekts, der »sich in Gebärde oder Haltung zuspitzt«. (16) »Er schwingt aus in der Gebärde, man fängt ihn darin ab und bekommt sich wieder in den Griff dabei.« (16) – Sie war eine Grazie. Für den einsamen Wanderer war sie ein »Akkord«: »Plus un contemplateur a l’âme sensible, plus il se livre aux extases qu’excite en lui cet accord.« 29 »Eine Stimmung […] zeigt sich auch in der manischen Ideenflucht.« Sofern sie »in dem Sinn einer bestimmten Weise des Seins bei den Dingen« genommen wird. (99) Man wird getroffen durch ihren Mißklang, der keine »Verstimmung« im Sinne Heideggers ist: »das Übergleiten von dem ungestörten Gleichmut in den gehemmten Mißmut und umgekehrt«. 30 Am Anfang der zweiten Studie beschreibt L. Binswanger mit großer Sorgfalt die manische Verstimmung, die zwischen »reiner Daseinsfreude« und »melancholischer Verzweiflung« oszilliert, in der sich die »gebrochene Lebensform« des ideenflüchtigen L. Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, op. cit., S. 253 f. und S. 267. 29 J.-J. Rousseau, op. cit., S. 108. 30 M. Heidegger, op. cit., S. 134. 28

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Grenzfälle der Schaltung

Menschen bekundet. 31 Nicht diese Schwankung als solche zieht Lipps’ Aufmerksamkeit auf sich; vielmehr ist es die Art und Weise, wie der Manische in ihr eingeschaltet ist. Auch in den Träumereien gibt es ein Rutschen und Schlittern, das aber keine Antwort auf Umstände bedeutet. »Das Freie und Gelöste einer Stimmung macht es, daß einer ›seinen‹ Geist zeigen und spielen lassen kann.« (100) »La chaîne des idées accessoires flatte davantage l’imagination.« 32 Kein »objet de peine« behindert den Aufschwung des Geistes. 33 »Indessen, wir unterscheiden gerade den Zustand des Manischen von einer bloßen Stimmung. Wir erkennen ihn als einen Fall von Ideenflucht.« (ebd.) »Was als irgendwie ›ausgefallen‹ verstanden wird, wird als Fall behandelt.« 34 Gerade das Freie und Gelöste einer Stimmung fehlt. Die Zerstreuung hat keine Anziehungskraft, die Flucht von Einfällen ist keineswegs »schmeichelnd«. »Man sagt wohl, [die manische Ideenflucht] könne das Assoziieren veranschaulichen. Nur Ähnlichkeit vermittelt hier etwas. Die wir als gesucht empfinden, aber nicht der Manische, dem diese Beziehungen bei der Hand sind. Es ist wie beim Witz: man zeigt Geist darin, Entferntes in Parallelen zu bringen.« (99) Die Großmäuligkeit des Kranken ist aber nicht witzsprühend: Sie bedeutet geradezu eine »Nivellierung der Bedeutungsakzente«. 35 Im Laufe der dritten Studie weist Binswanger daraufhin, daß das hier in Frage kommende »Prinzip der Ähnlichkeit« »nicht auf sinnhafte Gegenstände, auf Bedeutungen also, angewandt wird, sondern auf ›reale‹ Gegenstände und zwar solche ›aus dem Material‹ der Laute und Lautkomplexionen«. Es handelt sich also um eine ›Hantierung‹ mit einem Zeug, dem »Sprechzeug«, dessen der Kranke sich bedient. 36 – »Ideen›flucht‹ : der Manische hält nicht die Front. Bleuler spricht hier von einem Wegfall der Zielvorstellungen. 37 Womit wohl die Großzügigkeit gemeint ist, mit der die Dinge hierbei – im Doppelsinn des Wortes – ›übersehen‹ werden.« (99) Flüchtig ist die Art und Weise, wie die Dinge durch die Sichten umgriffen werden. Die Sicht greift nicht: Der Umriß ist roh, unausgebildet. Es fehlen die Nuancen. L. Binswanger, Über Ideenflucht, op. cit., S. 54 f. J.-J. Rousseau, op. cit., S. 122. 33 Ebd., S. 109. 34 H. Lipps, Die Verbindlichkeit der Sprache, Werke Bd. IV, V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1977, S. 49. 35 L. Binswanger, Über Ideenflucht, op. cit., S. 31 f. 36 Ebd., S. 125. 37 Vgl. L. Binswanger, op. cit., S. 36 f. 31 32

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Verschüttung: schematische Rudimente

Wie die zuspitzende »Verdichtung« der Bedeutung durch den artikulierten Wortlaut, so ist es der Biß des Blickes, dem die Apperzeption ihre Prägnanz verdankt, welcher – hier – eine Alteration erfährt. Was in den Träumereien die »Reinheit« der »bloßen« Stimmung bildete: der glückliche Fund eines gemeinsamen Nenners, auf den das Verschiedenste gebracht werden konnte, dessen flüchtiges Gestreiftwerden schon anzieherisch wirkte, die Gewandtheit, durch eine Flucht von Einfällen die Einbildungskraft zu schmeicheln, die sich in ihr nicht »blind« einschaltete, sondern geradezu »sehend« wurde, indem sie den springenden Punkt traf, die strahlende Spitze des Geistes fand – sie wurde schon durch den »Zustand« des Manischen angegriffen. Der Kranke rutscht aus; das Schwanken seiner Gefühle ist erzwungen, kompulsiv. Der gemeinsame Nenner des Verschiedensten ist grob, ungeschliffen. Er neigt zum Schimpfen. Der »Fall« der Ideenflucht zeigt vor allem, wie der Geist seiner Feinsinnigkeit verlustig geht. Es sind »schematische Rudimente«, die sich breit machen. Man bemerkt den Beginn einer Abstumpfung. Ein Mann von Welt hat einen leichten Gang; mit unnachahmbarer Eleganz schreitet er voran. Die Leichtfertigkeiten des Kranken sind anmaßend. Seine Redeweise ist oftmals »burschikos«; 38 seine Worte sind wie aus der Pistole geschossen. »Der Normale wirkt schwerfällig gegenüber dem Manischen. Sofern er nämlich trägt an dem Gewicht des verantwortend Aufgenommenen.« Er wiegt seine Worte. »Der Manische verhebt sich aber an den Dingen. Er sieht gar nicht die Schwierigkeiten. Sein Raum ist schattenlos, weil ohne Relief.« (99) In diesen knappen Sätzen verweist H. Lipps uns an Binswanger ausführliche Darstellung, in seiner zweiten Studie, des »Sich Verhebens« und der »Nivellierung der Räumlichkeitsbedeutung«, welche sich im »Stimmungsoptimismus« des ideenflüchtigen Menschen bekunden. 39 Schließlich wendet Lipps sich der »durchgängigen Helligkeit, unerschöpflichen Wirksamkeit und unendlichen Gelichtetheit« zu, durch welche nach Binswanger der Moment »der Volatilität oder Flüchtigkeit«, der zur Welt des Stimmungsoptimismus gehört, charakterisiert wird. 40 Genau an diesem Punkt berührt er die Strahlenbrechung der Ebd., S. 25. Ebd.; über das »Sich Verheben« S. 64 f., S. 68, Anm. 33 und S. 87; über die »Räumlichkeitsbedeutung« S. 78, Anm. 56. 40 Ebd., S. 87; vgl. ebenfalls S. 69 f. 38 39

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Grenzfälle der Schaltung

Wirklichkeit, wie sie sich im Brennpunkt der Objektive vollzieht. Diesen Brennpunkt sprengt die manische Erkrankung. »[Dem Manischen] fehlt das Lichte erschlossener Bedeutung.« (99) Die Bedeutungserschließung »lichtet«: Sie erhebt und erfüllt den Anspruch, die Dinge in der Begegnung zu gewichten. Und sie »lichtet«, indem sie den Dingen Maß nimmt, sie daraufhin auch zuschneidet. »Gleichmäßig heitere Helle verhindert Perspektiven.« (99) Die Welt des Stimmungsoptimismus gleicht einer überbelichteten Welt. Es geht nicht darum, was der Kranke zur Hand hat, sondern was ihm »unter der Hand« passiert, wenn sein Griff nachgibt und losläßt. »Nicht eigentlich, als ob der Manische die Dinge leichter nimmt als sie sind. Aber unter der Hand wechselt er heraus aus den Dingen, kommt abseits davon. Der Manische lotet nicht. Ihm fehlt die Mitte einer Situation. Weshalb es ihm auch gar nicht in den Sinn kommt, daran zu zweifeln, die Mitwelt sympathisiere mit ihm.« (99) 41 »Ideenflucht zeigt sich vorzüglich in der Rede. Denn das Wort ist schon flüchtig, seine Bindung Freigabe. Das Kurzschlüssige der Gedanken des Manischen fällt auf. Die kurzen Verbindungen, sein ›ohne Umwege‹.« 42 »Der Manische kann sich aber nicht zurückholen aus einer Flucht von Einfällen, von denen er wie besessen ist. Es ist nicht eigentlich ›er‹, der darin spricht. Es charakterisiert den Manischen, aber nicht ›ihn‹, mit jedem sofort gut Freund zu sein. Auch wenn man ihn nicht von früher her kennte – diesem Sympathisieren fehlt der seelische Untergrund.« (100) Der Manische schaltet zwar, aber schnurgerade. Die »Sprengung« des Brennpunkts seiner Objektive vollzieht sich geradezu als »Schrumpfung« seiner Welt zu einer Kette sich aneinanderreihender »reiner« Gegenwarten. Der Kranke »ist« zwar in dieser Gegenwartsreihe; nicht etwa »wie verwischt« zeigt er sich darin, ähnlich wie im Falle der Demenz. Angegriffen ist jedoch genau genommen die Ausmalung seiner Verhältnisse zur Welt. Und darin »ist« er nicht mehr eigentlich. Zum Griff gehört wesentlich die Zügigkeit der ausführenden Geste. Gesten »schaffen, figurieren etwas«. (22) Sie durchziehen den Raum. »In all diesen Gesten, schon in jeder Gebärde, wird Raum ausgeformt« bzw. »artikuliert«. (23) Im Hinblick auf diese Artikulation eines figurierten Raumes legt man die Hand an etwas. In seiner Analyse des »greifenden Nehmens-bei-etwas« weist Binswanger ebenfalls auf 41 42

Ebd., S. 82; vgl. S. 29 und S. 47. Ebd., S. 30 f.

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Kurze Verbindungen und Abspältiges

die »Artikulation« und »Gestaltung« einer »bestimmten Weise der Transzendenz« in diesem Vorgang hin, der ja nach ihm eine bestimmte Weise des »Weltentwurfs« darstellt. 43 Er geht allerdings nicht eigens auf den Prozeß der Raumfiguration ein, wie sie durch die Bewegung der Geste, die den Raum durchquert und in ihm ihre Fahrlinie zieht, hervorgerufen wird. Lipps gibt dazu ein konkretes Beispiel, das er aus der Studie von E. Straus: »Die Formen des Räumlichen« entnommen hat. 44 »Die durch Rhythmen induzierte Marschbewegung artikuliert allererst Raum, gliedert [ihn] nämlich anders als die zielgerichtete Bewegung, in der Entfernungen durchmessen werden und der Raum auch erschlossen und erkannt […] wird.« (23) »Durch Marschieren im Takt kann Müdigkeit überwunden werden. Der Haltungswechsel entspannt wenn man statt Schritt für Schritt ein im Auge gehabtes Ziel erreichen zu müssen sich einem durch den Takt induzierten geschlossenen Kreis disziplinierter Bewegungen überläßt, deren jede die folgende gibt.« (23 Anm. 1) Diese Beobachtung ist nicht ohne Gewicht für seine Analyse der inneren Versprengung der Weltverhältnisse des Kranken, deren Verkettung eben keine durch Takt induzierte rhythmisch gegliederte Bewegungsform bildet, sondern in eine Existenzform mündet, die als solche »eine bestimmte Art des Springens selbst darstellt«. 45 Indem er seine Beschreibungen immer feiner abstimmt, dringt auch Binswanger seinerseits am Schluß der dritten Studie zum Thema des »Tempos« des Erlebnisstromes des Kranken vor, des »Fortgezogenwerdens« desselben innerhalb der »inneren Lebensgeschichte« und deren Bruchstellen. 46

6.

Kurze Verbindungen und Abspältiges

Die überschwengliche Gemütslage der Manie ist nicht die »gehobene« Stimmung des Rausches. (100) In seiner anspruchsvollen Studie über L. Binswanger, Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins, op. cit., S. 249– 250, S. 251, S. 259. 44 E. Straus, Die Formen des Räumlichen, in: Nervenarzt 1930, S. 633 f. 45 L. Binswanger, Über Ideenflucht, op. cit., S. 27. 46 Ebd., S. 177; vgl. ebenfalls S. 206 f.; über das »Fortgezogenwerden« vgl. die detaillierten Analysen von G. Misch in: Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Hrsg. von G. Kühne-Bertram und F. Rodi, Alber, Freiburg 1994: »Das Mitgehen oder Fortgezogenwerden im Nexus der Lebensbezüge«, S. 194 f. 43

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Grenzfälle der Schaltung

die Stimmungen zieht O. F. Bollnow die berauschenden Glücksgefühle, den dionysischen Rausch und die »krankhaften«, durch Meskalin und Haschisch erzeugten Rauschzustände in Betracht. 47 Schon Dilthey zeigte in seiner empirischen bzw. strukturalen Psychologie ein ausgesprochenes Interesse für jene psychischen Zustände, die »von der Norm des wachen Lebens abweichen«: für die Illusionen und Halluzinationen. 48 Im Zuge seiner Reflexionen zum Stimmungsoptimismus wendet auch H. Lipps sich dem Rausch als einer »Wirkung des Alkohols« zu. (ebd.) »Betrunken ist man nicht mehr ›klar‹, und jeder nähert sich dabei – hierin das Undifferenzierte – dem anderen.« »Denn was beim Rausch gelähmt bzw. enthemmt wird, steht nicht außer Verhältnis zum Geist. Denn was in mir lebendig ist, wird Gedanke, und Prägung bekommt er erst durch die Artikulation, also in Sprachgebärden und Gesten. Es gibt kein σωμα-freies Denken.« (100) »Daß damit nicht auf die unverstandene Banalität sogenannter ›Gehirnvorgänge‹ angespielt werden soll, braucht in diesem Zusammenhang wohl nicht erst bemerkt zu werden. (100 Anm. 2) »Daß die Intoxikation geradezu Ursache von meinem Verkennen der Dinge ist, bedeutet nicht etwa, daß mit mir als Objekt etwas geschieht.« (101 Anm. 1) »An sich selbst, in Wortverwechselungen z. B., bemerkt man die Wirkung des Alkohols.« (101) »Daß mein Verkennen der Dinge seinen Grund in einer Intoxikation hat, bedeutet keinen Einbruch in etwas, was ›eigentlich‹ aus sich selbst zu verstehen ist.« (101–102) Was »eigentlich aus sich selbst zu verstehen ist«, verstehe ich von mir aus und bedarf keiner Erklärung. Und an sich erklärt die Intoxikation gar nichts. An meinem Verkennen der Dinge, das seinerseits in das, was eigentlich aus sich selbst zu verstehen ist, einbricht, bemerke ich eben die Wirkung des Alkohols. Dieses Bemerken ist eine Auslegung dessen, was mir passiert ist. Sofern ich sie zur »Erklärung« heranziehe, ist sie gar nicht aus sich selbst zu verstehen. »So wie etwa auch eine Zerstreutheit, die nicht i. e. S. zu ›verstehen‹ ist, etwa von daher, daß einer mit etwas beschäftigt nicht frei ist für anderes, durch eine allgemeine körperliche Müdigkeit ›erklärt‹ werden kann.« Was mir unter der Hand passiert, ist nicht etwa dasjenige, was mit mir als Objekt geschieht. Man ist hier nicht frei für das, was durch die O. F. Bollnow, op. cit., S. 54 f. und S. 131 f. W. Dilthey, Psychologie als Erfahrungswissenschaft. II. Teil: Manuskripte zur Genese der deskriptiven Psychologie (1860–1894). Ges. Schr. Bd. XXII. Hrsg. von G. van Kerckhoven und H.-U. Lessing, Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 2005, S. 207 f.

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Kurze Verbindungen und Abspältiges

Gebärde, die Geste oder durch den Griff allererst modelliert und artikuliert werden kann: was nicht außer Verhältnis zur Seele – wie im Falle des Affekts – oder zum Geist steht. Denn man stiftet und hält eben darin den »Kontakt mit den Dingen«. (103) Im Ausgang von der »Allgemeinen Ästhetik« und der Ontologie P. Häberlins stellt L. Binswanger erstmals die Frage nach dem »Kontakt«, nicht nur mit den Dingen und den Mitmenschen, sondern mit dem »Weltgeschehen im Ganzen«, wie die manische Existenzform ihn herstellt und gestaltet. 49 Unter der Hand vollziehen sich nämlich die Kurzschlüsse der Gedanken des Manischen in »Beziehungen«, die ihm »bei der Hand sind«: in »kurzen Verbindungen«, »ohne Umwege«. (99) Indem sein Griff nachgibt, zeigt sich ein Kontakt mit dem Weltgeschehen, der insofern nicht mehr durch ein artikuliertes Verhalten gehalten wird, als die Ausmalung desselben nicht durch sich hierin erstmals anbahnende Gedanken geprägt ist. Die plötzlichen »Einfälle« schießen ihm durch den Kopf. Die Vollzugsform dieser Existenz ist die des »Springens«. »Etwas anderes ist das Kurzschlüssige des Schizophrenen, der – darin das Abspältige – sich nicht einschaltet.« (99 Anm. 2) Während Binswanger erst im Nachtrag zur dritten Studie und nachdem der Patient eine zweite Psychose durchmachte, die »mit Halluzinationen, schweren Beeinflußungsgefühlen und Erregungszuständen« begleitet war, zu dem Ergebnis kommt, daß es sich in diesem Fall möglicherweise »nach der Bleuler’schen Rede um eine Schizophrenie handelt«, 50 wendet H. Lipps sich unmittelbar der »Psychologie der Schizophrenie« von Berze und Gruhle zu, um herauszufinden, worin die »kurze Verbindung« der Schaltung des Manischen sich vom »Abspältigen« des Schizophrenen, der sich nicht einschaltet, genau unterscheidet. (101 Anm. 2) 51 »Eine bestimmte, überallhin gleichsam abfärbende Gefühlslage eint z. B. auch die verschiedenen Symptome der Schizophrenie.« (101) Es handelt sich hier nicht um irgendeine Stimmung bzw. Beschwingtheit des Geistes, sondern vielmehr um seine Erstarrung. »Der SchizoL. Binswanger, Über Ideenflucht, op. cit., S. 46. Ebd., S. 209. 51 J. Berze und H. W. Gruhle, Psychologie der Schizophrenie, J. Springer, Berlin 1929. In seiner Analyse der »Verschrobenheit« in: Drei Formen mißglückten Daseins aus dem Jahre 1956 zieht L. Binswanger die Ergebnisse der psychologischen Analysen von Berze und Gruhle ebenfalls in Betracht. Vgl. L. Binswanger, Formen mißglückten Daseins, op. cit., S. 255 f. 49 50

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Grenzfälle der Schaltung

phrene hört Stimmen nicht in dem Sinn dessen, was man unter Halluzinationen gemeinhin verstehen möchte. Sie werden schief aufgefaßt als ›Wahrnehmungstäuschungen‹. Sofern darin etwas angespielt wird, woran diese Stimmen gar nicht zu messen sind.« (101) Die optischen Täuschungen sind mit den Stimmen, die er hört, gar nicht zu vergleichen. Man verfehlt schon das Register, das hier in Frage kommt. »Der Schizophrene ist sich selbst fremd in diesen Stimmen, denen er nichts entgegenzusetzen, denen gegenüber er sich selbst nicht durchsetzen kann. Daß er den Boden der Wirklichkeit verloren hat, meint nicht nur eine feststellbare Tatsache, es ist der Ausdruck dessen, daß er sich überhaupt nicht mehr finden kann in der Wirklichkeit, auf die bezogen man die Dinge dies oder jenes sein läßt.« (101) Seine Befindlichkeit ist angegriffen, sofern diese eine bestimmte Weise des Seins bei den Dingen bedeutet. »Erkennen bedeutet erledigende, d. i. mich freigebende Beiseitestellung. Sich selbst verbindet man sich in dieser Auseinandersetzung der Dinge.« (101) »Und der Schizophrene ergreift sich nicht in dieser Freiheit. Er kann nicht ›hineingehen‹ in die Dinge, die – entfremdet – ihm alles mögliche zu künden, ein Geheimnis zu birgen scheinen. Er findet etwas in den Dingen. ›Die Tramwagen leuchten seltsam gelb‹ – was so erschütternd ist, ist nicht aufzeigbar. Es ist zwischen und hinter den Dingen. ›Wie wenn das Gorgonenhaupt nicht jeden, der es anblickt, in Stein verwandle, sondern nur den Wissenden.‹« (101) Der Schizophrene »findet sich ›angefochten‹«. »Es kommt aus ihm, sich einer Wirklichkeit zu öffnen, die sich in auf sie hin transparenten Zügen lediglich künden, die sich aber nicht zeigen kann als das was sie ist. Denn ich muß in Freiheit zu den Dingen stehen, wenn sie mir ›selbst‹, d. i. als das was sie in ›Wirklichkeit‹ sind, erscheinen sollen.« (101–102) »Die Wahrnehmung ist ein Schritt, zu dem man sich frei ›haben‹ muß durch einen Boden der fest ist.« (102 Anm. 1) In der Schizophrenie ist dieser Boden der Wirklichkeit, gegen den die Dinge sich abzeichnen, hohl. Darin, daß die Wirklichkeit sich einem lediglich »kündet«, sich aber nicht selbst zeigt, ist die »Hörigkeit« angezeigt, in der er sich hierbei hält. (102) Er verläßt sich auf dasjenige, was er lediglich vernimmt. Er verfügt nicht mehr über »freigewählte Gesichtspunkte«, um »den Dingen Seiten abzugewinnen«, »sie auf etwas hin anzusehen«. Denn nur unter solchen Gesichtspunkten können sie »in ihrem Was erkannt, in ihrer sachlichen Bedeutung verstanden werden«. (102) »Es ist bezeichnend, wie die Halluzinationen des Alkoholikers und 90 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Kurze Verbindungen und Abspältiges

die des Schizophrenen in verschiedenen Sinnessphären auftreten. Die trügerische Aktivität des Alkoholikers läßt ihn alles mögliche sehen. Im Rausch findet man sich dessen enthoben, das Gesehene untereinander ins Reine bringen zu müssen. Es geschieht darin ein Einbruch in bezug auf die Welt in ihrer sachlichen Richtigkeit. Im Schwanken der Dinge spiegelt sich eigene Unsicherheit. Das intermodale Empfinden erweist eine gleichsam induzierende Kraft darin, wie die Intention des Sehens an ihrer Durchsetzung gehindert, wie sie gebrochen, wie sie aber auch geradezu – das zeigen die Selbstschilderungen von Meskalin-Berauschten – gebogen werden kann.« (102) Die Halluzinationen des Schizophrenen liegen aber gerade nicht im Bereich des Gesichts, sondern in dem des Gehörs und des Haptischen. »Denn während die Dinge mit dem Auge aufgesucht und betrachtet, im Abstand zu mir gesehen werden, wird das Ohr seinerseits erreicht durch den Ton, der den Abstand zu mir schon überwunden hat, wenn ich ihn höre.« (102) »Aus seiner vitalen Gebundenheit wird der Kranke ebenso zu Gehörseinbildungen gedrängt, wie er sich seinen Verfolgern schon ausgeliefert fühlt. Dieselbe Grundstörung drückt sich aber darin aus, daß ihm das Aussehen der Dinge in der Richtung auf Fremdheit verwandelt ist. Denn es bedeutet, daß er sich die Dinge nicht freigeben kann auf erkannte Möglichkeiten.« (102) »Und während der Berauschte ›in Stimmung kommt‹ und ›redet‹, kommt in dem Unsicher-Gleichnishaften der Worte des Schizophrenen zum Ausdruck, wie er um die Nichtmitteilbarkeit dessen weiß, was sich ihm offenbart.« (102–103) Der Rausch wirkt »ansteckend«; man wird durch ihn in gute Laune versetzt; sie läßt sich gewinnen; man kann sie evt. an jemandem auslassen. Dem Schizophrenen ist das Sich-Freigeben-Können-auf gesperrt. Demjenigen, was ihn bedrängt, fühlt er sich ausgeliefert. Andererseits: die Überwölbung seiner Hörigkeit wird in seinem Verhalten spürbar. »Der Verlust eines mit den Dingen gehaltenen Kontaktes zeigt sich in dem nicht Entsprechenden seines wie versprengt einzeln bleibenden Verhaltens.« (103) Was dem Manischen »unter der Hand« passierte, ihm geradezu durch den Kopf schoß, dem fehlte jene sich langsam anbahnende Artikulation, in welcher die Prägung durch den Gedanken zustande kommt. Man wurde auf die Kurzschlüsse aufmerksam gemacht, auf die kurzen, blitzartig eintretenden Verbindungen, auf die burschikosen Redeweisen, die schußbereiten Schimpfworte. »Der Schizophrene hat das Maß der Dinge verloren. Wenn er sich selbst z. B. ein Auge ausschießt, um den anderen mit dem er einen Streit hatte 91 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Grenzfälle der Schaltung

vor eine ärgerliche Tatsache zu stellen.« (103) Nicht die Mitte einer Situation, auf die bezogen man eine Stellung einnimmt, fehlt ihm. Vielmehr: »Es fehlt ihm die Mitte, auf die bezogen ein Gedanke als abwegig empfunden wird.« (103) »Wenn ein Kranker z. B. auf die Aufforderung ›Geben Sie mir die Hand‹ erwidert: ›Das könnte Ihnen gerade passen, daß ich Ihnen meine Hand gebe und ohne Hand herumlaufe‹.« (103 Anm. 2) Dem Manischen waren die Sprachgebärden lediglich »Sprechzeug«, dessen er sich bediente: gerade »das Lichte erschlossener Bedeutung«, mit der man die Dinge gewichtet, ihnen das Maß nimmt, fehlte. Im Falle der Schizophrenie liegt es anders. 52 »Dieses Abseits empfindet er im Beginn des Prozesses noch selbst als eine Leere und Kälte, nichts klingt in ihm wider. Der Schizophrene ›vernimmt‹ nicht eigentlich den anderen und bleibt im Wortverständnis hängen.« (103) Die sich einschleichenden Sprachrudimente des Manischen waren bloße Schemata der zügigen Sprachgebärden, in denen der Gedanke sich anbahnt. Denn nur sie »leiten« die Helle der Bedeutungserschließung, die sich einzig nur in ihnen verbreitet. Vom Manischen wurden diese Leitungen »kurz geschlossen«. Die Worte des Schizophrenen sind dagegen »umständlich-verschroben«, peinlich »exakt«. Es »erklärt sich daraus, daß er ihr Verständnis nicht vereindeutigen kann aus dem, was sonst der tragende Grund der Rede ist. Der Schizophrene spricht ›seine‹ Sprache – das zeigen die manirierten Absonderlichkeiten und das oft Verspielte seiner Ausdrücke. Ungezügelt werden Beziehungen hergestellt.« (103) Z. B.: »Nun sind alle Hindernisse meines Denkens weggeräumt, die einengende Kuppel ist weg.« (103 Anm. 3) »Die Gedanken scheinen ihm, sofern nichts eigentlich darin aufgenommen ist, wie gemacht zu sein.« (103) Sie schießen ihm nicht

An dieser Stellte trifft die anthropologische Deklination und Artikulation ihrer unterschiedlichen »Wendungen« genau mit demjenigen, was sich durch phänomenologische Transposition in das Register einer phänomenologischen Lektüre und Analyse der Manie, wie M. Richir sie durchgeführt hat, einschreibt, zusammen: op. cit., »Excursus sur la manie: un autre type de psychose«, S. 397: »On pourrait dire, […], que c’est la fluidité temporelle perceptive des gesticulations et vociférations, avec l’énigme qu’elles portent du clignotement du sens en elles mais par morceaux et par instants, énigme sans cesse à reprendre précisément parce qu’elle y vacille fantomatiquement, qui ›sauve‹ le maniaque de la schizophrénie, tout comme on pourrait dire, à l’inverse, que le maniaque ne reste à distance de la schizophrénie que parce qu’il lui reste quelque chose de la Leiblichkeit, précisément dans sa fuite, qui est in-finie, et qui lui garde encore une sorte de dynamisme«. 52

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Kurze Verbindungen und Abspältiges

durch den Kopf, sondern über ihn hinweg. »Und sofern sie nichts eigentlich verbunden sind, überstürzen sie sich ihm.« (103–104) Z. B.: »Ich muß mich damit beeilen, sonst fangen sie mir den Gedanken noch früher weg.« (104) Die Ideenflucht hat sich von dem, was ihm durch den Kopf geht, abgespalten. Sie wird durch die Aussage parabolisch beschrieben. Als ein Merkmal der Schizophrenie darf man die Inkohärenz bzw. die Zerfahrenheit nicht betrachten – als ob es sich hier lediglich um eine »Denkstörung« handele. Das Maß, an dem die Schizophrenie demonstriert werden soll, ist nicht in Leistungen des »Normalen« zu suchen. »Zerfahren ist […] einer, der sich nicht auf Aufgaben konzentrieren kann.« »Was hier als ›Fähigkeiten‹« – über die man gegebenenfalls nicht mehr verfügt – »verkannt wird, sind aber Möglichkeiten des Menschen: der Mensch ist nicht zu etwas, sondern zu sich bestimmt.« (103 Anm. 1) In der Schizophrenie bestimmt der Mensch sich nicht mehr auf dem Boden einer Wirklichkeit in Gedanken, die ihr, sei es auch nur teilweise, noch entsprechen könnten. Die Welt des Schizophrenen ist insofern »bodenlos«, als nicht einmal »ein bloßer Gedanke« mehr ihre Mitte bildet. Eben darin unterscheidet nach Lipps die Schizophrenie sich von der Paranoia im Kräpelinschen Sinn: »Die Wahnbildung des Paranoikers ist anders. Er findet sich nicht – wie der Schizophrene – ausgeliefert an die Dinge, sondern gleichsam als bezielt von allem. Er verkennt was ihm vorkommt. Sofern er Beziehungen sich zurechtmacht und den Dingen eine sachliche Bedeutung gibt, die ihnen – betrachtet man sie nur unvoreingenommen und nicht in der Absicht eines Beweises für etwas – gar nicht zukommt. Immerhin – hier ist alles konsequent und bündig, nur der Einsatz appelliert vergebens. Das Maß der Dinge geht dem Paranoiker insofern verloren, als für ihn, der verschlossen gegen die anderen ist, ein bloßer Gedanke die Mitte wird.« (103 Anm. 3) »Es ist ein anderes Sich-zurecht-machen, wenn ein Schizophrener aus der Annonce ›Steigerwald und Kaiser‹ durch Lautverschiebung macht: ›Steig er bald zum Kaiser‹, wobei dann der Sinn dieser Annonce, weil Kaiser von cadere käme, wird: Steig hinauf und stürze dich hinunter, woraufhin der Schizophrene eine Leiter besteigt, um sich hinunterzustürzen. Hier hat die Annonce – verrätselt – eine geheime, nur ihm sich erschließende Bedeutung; gerade ihre Gleichgültigkeit als Zeitungs-Annonce will ihm auffällig erscheinen.« (103–104 Anm. 3) »Das Verrückte der Paranoia kann noch als Steigerung sich abseits haltender 93 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Grenzfälle der Schaltung

Unvernunft in etwas verstanden werden. Der Schizophrene wird aber nicht zunehmend von einem Gedanken übermächtigt, er erliegt ›Gesichten‹, wenn er sich nicht frei findet für die Dinge.« (Ebd.) »Während sonst in unserem Verhalten Schemata sich durchsetzen, sich verschieden erfüllen in concreto, nämlich in den wechselnden Zügen der Wirklichkeit, während hier alles ›entsprechend‹ vollzogen wird« – in diesem Gewand dem Gesicht der Welt begegnet wird – »kommt es – sofern der Schizophrene sich nicht hält in den Dingen – zu schablonenhafter Erstarrung, zu Stereotypien und Automatismen. Es ist kein πραττειν, kein durch die Dinge geleitetes Sich-an-den-Dingen-zu-schaffen-machen. Die Sperrung, die langsame Umständlichkeit fällt auf, wenn kein Griff mehr den anderen gibt.« (104) Im Grenzfall der Schaltung zerfasert das Sinngewebe der Welt, das mit zarter Hand gewandt und fein gesponnen wurde.

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Stachel des Daseins. Formen spezifischer Nichtmächtigkeit des Menschen

1.

Ausbrüche der Angst: das Treibhaus der Phobien

In der Angst wird man »vor-sich-selbst-gezwungen«. (105) Gerade darin ist sie einem »aufsässig«: »Angst läßt mich nicht zu mir ›selbst‹ kommen.« (Ebd.) »Man findet sich festgehalten im Durchbruch einer Ohnmacht, die eine solche meiner selbst ist.« (Ebd.) »Nur der Mensch, für den das: nicht von sich aus das sein können, was er doch gerade ›selbst‹ zu sein hat, eine spezifische Nichtmächtigkeit bedeutet, kann Angst haben.« (105–106) In »Anfechtungen« ist sie »mir als der Stachel des Daseins aufsässig« – die einen vor sich selbst zwingen, ohne darin zu sich selbst kommen zu können. Man findet sich festgehalten in »Zwangsvorstellungen, Pedanterie usw.« (105), hinter der die Angst »als Stachel steht«. »Man biegt ab in den Zwangsvorstellungen, verliert sich dabei.« (Ebd.) Sie zwingen einen vor sich selbst, ohne darin zu sich selbst kommen zu können. In sie hineingehalten, findet man sich in etwas festgehalten, wobei man sich verliert. Was einem hierbei im vorweg verlustig gegangen, ist irgendein Anhaltspunkt dafür, sich selbst einschalten zu können. »Angst sperrt meine Schaltung.« (Ebd.) Man unterliegt insofern einer »Ohnmacht seiner selbst«. »Während Sorge und Furcht auf mir lasten, insofern mich hemmen und lähmen können« (ebd.), ist die Angst, die »mich befällt« und meine Schaltung »sperrt«, in Anfechtungen aufsässig, die als »Versuchungen« (106) geradezu »bestechend« sind, hinter die sie eben als Stachel des Daseins »steht«. Die Sperrung meiner Schaltung, der Durchbruch einer Ohnmacht meiner selbst, bedeutet keine »Ausschaltung« meines Daseins, das in blankem Entsetzen vor Angst wie gelähmt wäre. »Niedergehalten durch die Sorgen des Lebens ist Angst etwas, was doch immer wieder herausbricht bei, bzw. hineintreibt in das, wohinter sie als Stachel steht.« (105) Die Ausbrüche der Angst im Treibhaus der »Phobien« (108) sind vom »unvermittelten Mitgenommenwerden durch einen Affekt i. e. S.« 95 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Stachel des Daseins

(105), »z. B. wenn ich in Wut gerate und dabei mich wieder zu fassen und zu halten suche« (ebd.) eben durch ihren unaufhaltsam »bohrenden« Charakter verschieden. »Angst ist einem aufsässig« (107) in Anfechtungen, denen man als Versuchungen »nichts entgegensetzen kann«. (106) Daß der Platzangstkranke der Versuchung erliegt, sich fallen zu lassen, zeigte bereits, wie »hier schlechthin im Menschen etwas dem Abgründigen entgegenkommt«, »die Gefährdung hier in einem selbst liegt«. (106) »Im Schwindel tut sich auf eine prinzipielle Ohnmächtigkeit, und dies gerade hinsichtlich des Haltes.« (107) »Man findet sich hier als seiner nicht mächtig, sofern man nicht aus sich selbst heraus stehen kann.« (Ebd.) Gerade, daß man bei dem die Wand entlang Hinuntersehen keinen Halt finden kann, »will einen fallen lassen«. (Ebd.) »Die Leere des Raumes wird transparent auf die Welt hin, der man ausgeliefert ist.« (Ebd.) »Der Platzangstkranke schreckt zurück vor der Weite des sich selbst ins Unendliche gleichsam fliehenden Raumes.« (106) »Man erfährt sich darin als in seinem Gehaltensein in das Nichts«, daß dem »Nichts« des auf die Welt hin transparenten Raumes im Menschen schlechthin die spezifische Nichtmächtigkeit hinsichtlich seines »Haltes« entgegenkommt, »der ja selber auch ›nichts‹ ist«. (107) Das »als« des sich hierin Erfahrens hat eben einen besonderen Charakter. Denn: »Dasein ängstet sich um sich selbst als Dasein«. »Dasein« wird hier so vor sich selbst gezwungen, findet sich hierin gerade so festgehalten, ohne zu sich selbst kommen zu können, daß es »sich als in seinem Gehaltensein in das Nichts erfährt«. Auf die besondere Qualifikation dieses »Nichts« ist H. Lipps’ phänomenologische Aufmerksamkeit eingeschärft. »Daß es eigentlich ›nichts‹ ist, bedeutet kein totales Nichts, sondern nur: es ist nicht dies und auch nicht jenes, nichts von alldem …«. (107) Die »Kernnähe« des Schwindels zur »Natur des Menschen« wird hierin offenbar, daß im Zurückschrecken »vor der Weite des sich selbst ins Unendliche gleichsam fliehenden Raumes« der Platzangstkranke von demjenigen »beeindruckt wird«, was in ihm selber ihr entgegenkommt. Gerade darin »ist Angst in jedem auf dem Sprung«, wird der Platzangstkranke »vom Schwindel übermannt«, daß »nicht irgendwelche Furcht ihn anwandelt, was als unbegründet auszureden wäre«. (106) »Nichts ›wirkt‹ beengend bei der Angst« (105), die sich hier an der »Leere des Raumes« entzündet. Die Auswegslosigkeit treibt nicht in die Enge. Daß ihm »kein Weg mehr gangbar zu sein scheint« bezieht sich gerade darauf, daß der Platz96 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ausbrüche der Angst: das Treibhaus der Phobien

angstkranke keinen Stand mehr im Raum findet. (106) Ihm entgleitet »der in seiner Endlosigkeit doch ›gerichtete‹ Raum unseres Daseins, in dem man Orte bestimmen und sich irgendwo aufhalten kann«. (Ebd.) Eben darin ist seine »Freiheit« tangiert, bricht eine spezifische Ohnmacht durch: »eine prinzipielle Ohnmächtigkeit hinsichtlich des Haltes«. (107) Der Versuchung erliegen bedeutet hier deshalb: ein SichFallen-Lassen. Man »entgleitet sich hier selbst mit«, wenn »das Seiende im Ganzen wegzurücken scheint« und wenn man »in sich selbst keinen Halt findend – sich gerade an den Arm des Begleiters klammert«. (106) »Wovor einen schwindelt, ist eigentlich ›nichts‹. Denn das Geländer schützt mich ja. Objektiv ist keine Gefahr da.« (Ebd.) Gerade »die Transparenz der Leere des Raumes auf die Welt hin, der man ausgeliefert ist«, hat »kein Maß, wie das die Furcht an der Gefahr findet«. (105) »Nicht die Tiefe als solche macht Schwindel« (107), in die man »den Blick vermeidet, den aufzunehmen man doch immer wieder versucht wird«. (106–107) »Aber dies: daß man bei dem die Wand entlang Hinuntersehen keinen Halt finden kann, will einen fallen lassen.« (107) »In der Angst wird lebendig was einem in einem selbst zunächst verborgen ist.« (106) »Der Versuchung, der hier nichts entgegengesetzt werden kann, entspricht das Zwangsvorstellungshafte anderer Phobien.« (108) Was einer geradezu »selbst zu sein hat« (106): »aus sich selbst heraus zu stehen« (107), konnte der Platzangstkranke, vom Schwindel übermannt, »nicht von sich aus sein«. Der Versuchung, sich fallen zu lassen, konnte er »nichts« entgegensetzen; vergeblich klammerte er sich an den Arm des Begleiters. Objektiv war keine Gefahr da. Die Transparenz der Leere des Raumes auf die Welt hin hatte »kein Maß, wie das die Furcht an der Gefahr findet«. (105) »Die in der Zwangsvorstellung durchbrechende Angst bezieht sich auf eine Furcht, die zwar als sachlich unbegründet abzuweisen, der aber gerade dadurch nicht der darin verborgene Stachel zu nehmen ist.« (108) »Beispiele: beim Rezept sich in den Dezimalstellen versehen und eine tödliche Dosis verschrieben zu haben; beim Verlassen der Wohnung das Gas nicht ausgedreht zu haben; mit dem rückwärts gehaltenen Spazierstock andere ins Auge gestoßen zu haben.« (Ebd.) »Auch dem Zwang kann man hier insofern nichts entgegensetzen, als aus einem selbst die Versuchung kommt, immer wieder daran zu denken, Folgen sich auszumalen. Es gelingt nicht, davon wegzureden.« (Ebd.) Gerade »das freie Verhältnis des Gedankens« zu gewinnen, »sich« zu »distanzieren«, (105) ist einem dabei untersagt. 97 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Stachel des Daseins

Das Zwangsmäßige ist keine »unwiderstehliche Neigung«, (108) der man nachgibt. Das Aufsässige der Obsession bezieht sich darauf, daß »die Versuchung aus einem selbst kommt«: »nur zu dem was man von sich aus tut, kann man sich gezwungen finden«. (108) Nicht die Triebhaftigkeit, sondern die Freiheit des Menschen ist tangiert. Es gelingt – hier – nicht, im Denken »einen existenziellen Schritt«, »sich« darin zu vollziehen. (105) »Es ist auch nicht nur übertriebene Furchtsamkeit, die das Unmöglichste für möglich hält, die sich auch noch nicht zufrieden gibt, wenn etwas sachlich erledigt ist, die dann vielleicht nur neue Schwierigkeiten entdeckt.« (108) Die »sachliche begründete Furcht« (107) wird nicht um unbegründete Befürchtungen vermehrt. »Denn man steht doch hier im Bann, immer wieder dasselbe nachprüfen zu müssen – allen Feststellungen zum Trotz, wider bessere Einsicht.« (108) Das Aufsässige der Obsession ist keine Übertreibung sachlich begründeter Furcht. Neue Schwierigkeiten werden nicht entdeckt; der Bann zwangsmäßiger Nachprüfungen will von einem nicht weichen, dessen Befürchtungen immer wieder um dasselbe kreisen. Allen Feststellungen zum Trotz gelingt es ihm nicht, sich das sachlich Unbegründete seiner Befürchtungen zu erweisen: daß sie »gegenstandslos« seien. »Gerade daß ich um das Unbegründete meiner Sorge weiß, zwingt in die Angst zurück.« (108) »Das Verrückte dieser Angst bedeutet keine Fassungslosigkeit. Umgekehrt: planmäßig geht man hier zu Werke. Wendet skrupelhaft alles hin und her. Und immer von neuem erliegt man der Versuchung, sich mit ›nichts‹ zu beschäftigen, sich klarzumachen, daß es ›nichts‹ ist, ohne doch etwas dagegen zu können, daß Angst immer von neuem aus einem vorbricht«. (Ebd.) »Man erfährt sich darin als in seinem Gehaltensein in das Nichts«, das »kein totales Nichts« ist, (107) sondern: »nicht dies und auch nicht jenes, nichts von alldem …«, was durch Feststellungen bzw. durch bessere Einsicht als »gegenstandslos« herausgestellt werden könnte. Das Planmäßige des Verfahrens, das Skrupelhafte der Nachprüfungen »bezieht sich ja gerade darauf, daß das alles doch nur ›tatsächliche‹ Sicherheiten sind, an die man sich halten muß, die man aber nicht ›selbst‹ ist«. (108) Die Gegenstandslosigkeit seiner Befürchtungen ist dem Menschen der Stachel seiner Angst. »Dasein« wird hier vor sich selbst gezwungen, ohne von sich aus das sein zu können, was es doch gerade »selbst« zu sein hat. Die tatsächlichen Sicherheiten, an die man sich halten muß, die man aber nicht »selbst« ist, an die Dasein sich klammert, in denen es jedoch sich seiner nicht mächtig findet, sind nicht etwa dasjenige, worin 98 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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Angst »steckt«, sondern dasjenige, worin sie »sticht«. Objektiv ist keine Gefahr da, an der Furcht ein Maß findet – sondern: der Versuchung kann »nichts« entgegengesetzt werden, wobei, als einer Anfechtung, Angst gerade »herausbricht« bzw. worin sie »hineintreibt«. »Angst ›lokalisiert‹ sich hier auf das Rezept usw. Sie treibt zu sachlichen Feststellungen, wirkt sich darin aus, braucht gleichsam immer neue sachliche Erledigung.« (108–109) Als »Gegenstandslosigkeit« meiner Befürchtungen, als das »Unbegründete meiner Sorge, um die ich weiß«, sticht Angst in die tatsächlichen Sicherheiten, an die man sich halten muß, die man aber nicht »selbst« ist, hinein (108): »Angst setzt sich gerade eigentlich erst durch in dem Versuch ihrer Abkehrung.« Die tatsächlichen Sicherheiten, an die man sich halten muß, die man aber nicht »selbst« ist, sind: Zwangsvorstellungen, in denen man gerade vor sich selbst gezwungen wird, ohne darin zu sich selbst kommen zu können. (105) Was »vorstellig« wird, ist die Tangente meiner im Zwangsvorstellungshaften gerade angeschnittenen Freiheit. Die »spezifische« Nichtmächtigkeit eines Menschen prägt sich darin aus, daß »der Versuch sich seine Freiheit, sich selbst darin zu beweisen, hier an kein Ende kommt, keinen Halt an den Dingen findet.« (105) Sie ersteigert sich im Planmäßigen, Skrupelhaften, mit dem man »den ›tatsächlichen‹ Sicherheiten« nachgeht, die man nicht »selbst« sein kann. Gerade die Selbstgewißheit hinsichtlich dieser »tatsächlichen Sicherheiten« ist einem im vorweg abhanden gekommen, weshalb die »Beweisführung« hier an kein Ende kommt. »Angst erfährt eine Aufstufung darin.« (109) »Sie liegt in dem qualvoll Zwangsmäßigen, Verrückten dieser Nachprüfungen, um deren Ergebnis man von vornherein schon irgendwie weiß.« (Ebd.) Die Schnittstelle der tangierten Freiheit wird in den Zwangsvorstellungen erstmals offenbar. Man wußte im voraus schon um das »Gegenstandslose« seiner Befürchtungen, möchte sich trotzdem klarmachen, daß es »nichts« ist, ohne etwas dagegen zu können, daß man sich immer von neuem der tatsächlichen Sicherheiten nicht selbst gewiß sein kann. Weshalb man gerade im Wissen um das Unbegründete seiner Sorge in die Angst zurückgezwungen wird, die sich im Qualvollen der planmäßigen, skrupelhaften Nachprüfungen ersteigert. »ταραχη bedeutet hier weder Gescheucht-werden, noch unentschlossene Kopflosigkeit.« (109) Denn: man malt sich qualvoll Folgen aus, prüft immer wieder skrupelhaft dasselbe nach. Das Qualvolle der Ausmalungen, das Skrupelhafte der Nachprüfungen ist nicht etwas, was »gegen den Willen und unwillkürlich geschieht«: »Gegen den Wil99 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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len und unwillkürlich geschieht es […] z. B., daß man auf die Bahn eines möglichen Gedankens gebracht, nicht wieder davon abkommen kann und das sagt, was zu sagen man gerade vermeiden wollte – wie man etwa auf der Straße auch das nicht fixieren darf, dem man ausweichen will.« (109, Anm. 1) Der in der Zwangsvorstellung »widerwillig begangene Weg« (109) ist nicht der, auf dem man unwillkürlich etwas fixiert, von dem man dann nicht abkommen, dem man darauf nicht mehr auszuweichen vermag. Gerade umgekehrt: »willentlich« versucht man, demjenigen herbeizukommen, was man gerade nicht fixieren kann, wohinter der Stachel steht, der unwillkürlich in etwas treibt, dem man erliegt: eine Weiche seiner selbst, und nicht ein Hindernis. Man ist – hier – nicht etwa zufällig »auf die Bahn eines möglichen Gedankens gebracht«, ohne »wieder davon abkommen zu können«. (109) Vielmehr: man ist »im Bann eines Gedankens« »wider bessere Einsicht«. (108) »Es gelingt nicht, davon wegzureden.« (Ebd.) Als »Anfechtung« kann er gerade nicht »fixiert« und daraufhin »abgefangen« werden. Man erliegt der Versuchung, der man als Anfechtung nichts entgegensetzen kann – man gibt nicht einer Tendenz nach, die einen zu etwas verführt, was daraufhin als etwas Anstößiges nicht mehr zu vermeiden ist. Gerade in der Anfechtung steckt der Stachel, der in der Verführung nicht anzutreffen ist. Einer Versuchung erliegen bedeutet keine Nachgiebigkeit. »Man wehrt sich dagegen als gegen etwas, was wohl aus einem selbst kommt, worin man aber nicht ernst genommen werden will und kann.« (109) »Von vornherein weiß man schon irgendwie« um das Ergebnis seiner Nachprüfungen: »daß es ›nichts‹ ist«. (108) »Man ist sich der Zwangsvorstellungen als einer ›allgemeinen‹ Anfechtung bewußt.« (109) Erst in dem Versuch ihrer Abkehrung erfährt sie eine Aufstufung. Im skrupelhaften Hin- und Herwenden, in der Planmäßigkeit, mit der man – hier – zu Werke geht, im qualvoll Zwangsmäßigen, Verrückten der Nachprüfungen wird diese erstmals offenbar. »Erst in der Bedeutung, die der in der Zwangsvorstellung widerwillig begangene Weg bekommt, wie weit er verfängt, wie weit er verfangen kann bei jemand – darin erst zeigt sich seine Natur.« (109) Die in der Zwangsvorstellung »eröffnete Grundsituation des Menschen« betrifft seine Freiheit. »So steht man wohl auch unter dem Zwang, z. B. jeden zweiten Stein überspringen zu müssen. Denn so sinnlos das ist, so sehr es einen stört – man beweist sich darin eine Freiheit dazu. Aber wie wenig – ›bin‹ ich eigentlich diese Freiheit, wenn ich mich ihrer auf so absurde Weise versichern muß?« In den Grund der Menschennatur 100 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ausbiegungen der Angst: die Salvation der Pedanterie

hinein verweist uns die Tangente seiner in dieser Situation angeschnittenen Freiheit. Die »Weite« ihrer Verfänglichkeit wird an dieser Schnittstelle meßbar. »Nicht von sich aus das sein können, was er doch gerade ›selbst‹ zu sein hat« (106) bezieht sich genau genommen auf seine »Freiheit zu etwas«. Die spezifische Nichtmächtigkeit gilt dem »Freisein-zu«, das hier nicht »gekonnt« wird. Die »Habe« dieses Freiseins-zu-etwas, als von sich aus je schon aufgenommene, ist das »im allgemeinen« Angefochtene. Man verfängt sich eben darin, daß sie »nichts« ist, dessen man sich »versichern« könnte. Worum man, sei es nur vage, weiß. »Absurd«, »sinnlos« ist der angesichts ihrer erhobene Anspruch auf »Eigentlichkeit«. Man erliegt der Versuchung, diese ursprüngliche Habe »vor sich zu bringen«, worin sich gerade das Erzwungene, Festgehaltene als bloße Tangente des »Gekonnten« erweisen. Wie wenig sie es ist: Ihre Inkongruenz wird offenbar. Ex negativo ist ihr Beweis ebenfalls nicht zu erbringen. »Angst steht auch hinter der Versuchung, im Examen das Verkehrte oder in Gesellschaft Unpassendes zu sagen, es gleichsam zu probieren, ob man sich vor sich selbst auch verleugnen kann.« Die Verfänglichkeit ersteigert sich zu einer Verstrickung in Widersprüchen: »Aber wer ist man dann eigentlich, bzw. wann bin ich eigentlich ›ich selbst‹ ?« (109) – wenn ich die Selbstverleugnung meiner selbst zur Probe meiner Freiheit mache, im Widersprechen meiner Eigentlichkeit den Anspruch auf ihr hinterlege?

2.

Ausbiegungen der Angst: die Salvation der Pedanterie

Während Angst in den Zwangsvorstellungen immer wieder »herausbricht« (105), »sich gerade eigentlich erst durchsetzt in dem Versuch ihrer Abkehrung« (109), im qualvoll Zwangsmäßigen obsessioneller Nachprüfungen »sich aufstuft« (ebd.), ist sie »in ihrer Niedergehaltenheit […] auch der verborgene Stachel der Betriebsamkeit«. (110) Angst ist »niedergehalten durch die Sorgen des Lebens«. (105) Als Stachel steht sie hinter der »Betriebsamkeit«, in die sie hineintreibt, vor allem: »hinter dem unpersönlichen Schein-Pathos wissenschaftlicher Sachlichkeit und beweisbarer Wahrheit«. (110) »Denn die Wissenschaft ist etwas, worin man sich ebenso leidenschaftlich selbst finden wie aber auch von sich selbst dispensieren kann.« (Ebd.) »Man klammert sich dann daran, Material aufzuarbeiten, ohne zu wissen worum es ›im 101 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Stachel des Daseins

Grunde‹ geht.« (Ebd.) Man biegt aus in einem unpersönlichen Scheinverhalten zu der Sache, um die es »wirklich« geht: Ohne sie sich ausdrücklich anzueignen, hält man sich an »Äußerlichkeiten«, die deren »Sinn« nicht betreffen. Erst im »Perashaften« einer »Entscheidung«, die hinter der Selbstvergessenheit gegenständlicher Hingabe steht, tritt man zu ihm in ein persönliches Verhältnis – dem man sich in »Fachkenntnissen« entbindet. Wie einer es in seinem Umtreiben umgehen möchte, dem »Schwerpunkt der Dinge« (110, Anm. 1) zu begegnen, so schützt man sich – hier – in seinem »Fach« dagegegen ab, den Sachen auf den Grund zu gehen. »Wie beim Spiel gewinnt man in seinem Fach eine private Welt.« (110) »Privat« meint nicht, daß man diese Welt »nicht gerade auch gemeinsam mit anderen haben könnte«, (ebd.) sie nicht mit anderen »teilen« könnte. »Das ›Private‹ dieser Welt trifft vielmehr nur deren Abseitigkeit. Die Welt mit ihren Ansprüchen usw. bleibt draußen.« (Ebd.) Im Mitteilen von Fachkenntnissen zeigt sich erst recht, wie einer nur »›für sich‹ dabei ist«, ohne sich den anderen darin zu verbinden, der Sache auf den Grund zu kommen. »Das einsinnige interne Verhältnis, in das es hier zu dem Fach zu gelangen gilt, ersetzt das ursprüngliche, in sich vielfältige, in dem man zu den Dingen steht.« (110, Anm. 1) Die Aufgeschlossenheit für die Vielfalt der Ansprüche tritt zurück. »Das Interesse an der Wissenschaft wird hierbei weniger durch die Sache als durch die das Fach als Disziplin einigende Methodik erweckt, sofern dadurch Fähigkeiten entbunden werden, eine Geschicklichkeit dazu entdeckt wird.« (Ebd.) Wie der Sammler »widmet [man] sich einer festumgrenzten Aufgabe, die systematisch in Angriff zu nehmen ist«: »Die Friktionen fallen weg«. (Ebd.) Die Reibungsfläche »rückhaltsloser Begegnung« (123) wird durch die Glätte reibungsloser, geschicklicher fachmäßiger Anwendung von Kunstgriffen ersetzt, mit der man sich der schicksalhaften Auseinandersetzung mit den Dingen verschließt. »Wie auch einer, der Abend für Abend Patiencen legt, darin einen abgeschlossenen Spielraum bloßer Betätigung findet, die beliebig wiederholbar ist: es geht alles auf hierbei.« (Ebd.) Man »verbilligt sich etwas« (123) hierbei, »man verbindet sich nicht selbst« (111) demjenigen, was man in »bloßer«, beliebig wiederholbarer Betätigung tut. »– Auch das ›Steckenpferd‹ gehört hierher. Während die überwertige Idee im Mittelpunkt steht, der Komplex störend dazwischen kommt, ›kapriziert‹ man sich auf etwas als auf sein Steckenpferd. Man hält darin das Maß bzw. die Parallele zu allem möglichen bereit. Nur das 102 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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wird gesehen, worauf diese sich anwenden können. Man bleibt bei sich dabei, ohne – in oft nur gespielter Naivität – sich von dem Schwerpunkt der Dinge etwas erahnen lassen zu wollen.« (110, Anm. 1) In der Betriebsamkeit, im wissenschaftlichen Schein-Pathos der Materialsammlung, in den Kapricen, zeigt sich eine Beliebigkeit, die von dem Qualvollen und Skrupelhaften der Nachprüfungen, mit denen einer seinen Zwangsvorstellungen nachgeht, grundverschieden ist. Man geht hier nicht etwas nach, worin man »vor sich selbst gezwungen« bzw. worin man »sich festgehalten« findet. (105) Gerade das Peinsame qualvoller Nachprüfungen fehlt bei der »systematischen Inangriffnahme festumgrenzter Aufgaben«, die ins »Abseits« führen. – Aber auch die »Unerbittlichkeit«, mit der man einer Sache auf den Grund geht, sich selbst »leidenschaftlich« in der Wissenschaft findet. (110) Daß man hier lediglich »›für sich‹ dabei ist«, bedeutet: »ein sich von sich selbst dispensieren«. Die bloße Betätigung, bei der alles das, was den Anspruch schicksalhafter, schwerpunktmäßiger Begegnung erheben könnte, in »beliebiger Wiederholbarkeit« aufgeht, zwingt nicht in die Angst zurück, sondern flieht vor ihr. »Der verborgene Stachel der Betriebsamkeit« ist Angst »in ihrer Niedergehaltenheit« durch die Sorgen des Lebens (105), denen man die Spitze nimmt, einen vor sich selbst zu zwingen, sich darin festgehalten zu finden. Die Tangente der hierin angeschnittenen Freiheit ist eine Fluchtlinie. Nicht kompulsiv, sondern beliebig ist die Wiederholung, die sich im Abseits aufhält, irgendeiner »Anfechtung« im vorweg fernbleiben möchte. »Angst steht auch hinter der Pedanterie. Der Pedant sucht sich zu salvieren, Verantwortung abzuschieben, wenn er sich an Vorschriften und Schablonen hält.« (110) »Er biegt der Angst aus.« (Ebd.) Wie Angst »in das hineintreibt, wohinter sie als Stachel steht: […] Pedanterie usw.« (105), der verborgene Stachel i. c. der Pedanterie ist, ist der spezifischen Form der »Ausbiegung« zu entnehmen, in der die Fluchtlinie der hier tangierten Freiheit, als eine gebogene, eine Kurve zeichnet – die vom Bannkreis der Zwangsvorstellungen verschieden ist. Gerade in der nur vorgemachten Geradlinigkeit seines Verhaltens krümmt der Pedant sich an demjenigen vorbei, worin er nicht vor sich gezwungen, sich nicht festgehalten finden möchte: einer »direkten« Verantwortung: »Er entstellt und deformiert so seine Verantwortung«, (110–111), daß er »sich an Vorschriften und Schablonen hält«, »seinen Ernst an Nichtigkeiten verschwendet, und sich aus der Sache herauszieht, für die er verantwortlich steht«. (110) Gerade das verantwortliche Stehen für eine 103 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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Sache, in die man selbst engagiert ist, wird »abgeschoben«. »Pedanterie ist verstellter Ernst«, (111) der sich hier »an Nichtigkeiten verschwendet«, worin man sich nicht selbst verbindet – »weniger um anderen keine Angriffsflächen zu bieten als um sich selbst Skrupel abzuschneiden«. (110–111) »Der Ernstfall stellt mich.« (112) Verstellter Ernst vorgemachter Geradlinigkeit entstellt unmittelbare Verantwortung: »Denn Verantwortung will Entscheidung als einen Schritt zu eigensten Möglichkeiten.« (111) Indem er sich an Vorschriften und Schablonen hält, schiebt der Pedant seine Verantwortung ab. »Der Subalterne neigt zur Pedanterie. Er hält Prinzipien hoch. Sie ersetzen ihm die Linie, die ihm fehlt.« (111) Die Prinzipienreiterei des Subalternen ist durch keinen Takt eigener Schritte rhythmiert. Wie auch derjenige, der auf seinem »Steckenpferd« herumreitet, »zu allem möglichen Parallele bereit hält«, (110) in seinem »Kaprizieren« wie versprengt wirkt. »Der Pedant, Prinzipienmensch usw. […] ist nicht eigentlich sich selbst verbunden in schrittweiser Wahrwerdung. Er läßt sich regeln durch Prinzipien, die wohl insofern sich erfüllen als nach ihnen verfahren wird, die aber nicht eigentlich wahr werden können.« (112) Wahrwerdung bedeutet hier eine »Auseinandersetzung auf ›meinem‹ Wege«. (Ebd.) Diese aber fehlt in der Geradlinigkeit seines Verfahrens. Der Subalterne ist ein engstirniger Nachzügler seiner Vorgesetzten. »Das Enge, Horizontlose und das insofern Vermessene dabei fällt auf.« (111) »Prinzipien, insofern sie als richtig erkannt werden können, d. i. doch gerade Allgemeingültigkeit beanspruchen, brauchen mich gar nicht. Der Pedant wird lächerlich, wenn er sich wichtigtuerisch zu ihrem Zeugen aufspielt, als ob sie durch ihn allererst wahr würden, er gewissermaßen ihr Ort wäre.« (Ebd.) Die Insistenz, mit der er auf ihrer Handhabung besteht, sie »hoch hält«, zeigt erst recht, wie wenig die Anerkennung ihrer Richtigkeit auf eigenem Wege erfolgt, wie die Linie seines »geradlinigen Verfahrens« eine bloß nachgezogene ist. »Er wirkt unfrei. Alles bleibt hier isoliert gegeneinander. Die ›Welt‹ fehlt ihm. Seine Unbestechlichkeit, sein ›ohne Wanken‹ drückt nur aus, daß er nicht um das im Grunde Bodenlose seiner Entscheidungen weiß.« (Ebd.) – Die nicht »in schrittweiser Wahrwerdung« als »Schritte zu eigensten Möglichkeiten« gefällt, sondern als vereinzelte »Unabdingbarkeiten« »poniert« werden. Die ihm fehlende »Welt« ist als Ganzes ein Horizont forscher Schritte. Seine Unbestechlichkeit ist durch Wichtigtuerei angestochen, sein »ohne Wanken« wirkt kleinkariert. »Z. B. Robespierre: sein Tugendidealismus verhob sich an der 104 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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Wirklichkeit. ›Dieser Mensch glaubt alles, was er sagt.‹ Damit traf Mirabeau das Schulmeisterhafte in Robespierre.« (111) »Sein Glauben war überzeugtes Für-richtig-halten – etwas, was man auch anderen beibringen kann. Was aber Verrat wirklichen Glaubens ist, der immer ein Wagen ist und um sein Scheitern-können weiß, der gerade solche durch keine Zweifel angefochtene Lehrhaftigkeit nicht vertragen kann.« (Ebd.) Gerade die reformatorische Kraft der Tugendideale wurde nicht erprobt, sondern gegen bloß belehrende Glaubenssätze erschwindelt. Robespierres »überzeugtes Für-richtig-halten« seiner Tugendideale war keine »wirkliche« Überzeugung, »die auf dem Wege zu sich bleibt«, (111) sondern »doktrinär«. Als ob diese in seinem Ponieren »wahr« würden, indem er sich selbst zu ihrem Kronzeugen aufspielte. Solcher Wichtigtuerei fehlt das »originale Wahrheitsgefühl«, (ebd.) das sich nur im Wagen »als ein Wissen um das eigene Scheitern-können« offenbart. »Wirkliche« Überzeugung kann sich darin »›ihres‹ Falles immer gewiß sein«, (ebd.) daß sie zutrifft und nicht bloß »überredet«. Schrittweise Wahrwerdung stemmt sich gegen Behauptungen. Die »Lächerlichkeit« des Pedanten in seiner Wichtigtuerei verhehlt es nicht, daß er »keinen Spaß versteht, empfindlich ist« – während »wirkliche« Überzeugung, die nicht doktrinär ist, »die Freiheit des Lachens nicht verloren hat«. (111) »Ebenso wie der starre Ernst des Fanatikers« verdeckt die Empfindlichkeit des Pedanten gegen Verstöße »nur eine Unsicherheit«. (Ebd.) Ihm fehlt das originale Wahrheitsgefühl, das keine Verletzung irgendwelcher »Prinzipien« zu befürchten hat, die bloß für richtig gehalten werden – in Behauptungen, in denen kein Schritt zu ihrer Wahrwerdung vollzogen wird. Als richtig erkannte Prinzipien brauchen es nicht, in Behauptungen »hochgehalten« zu werden. Im Schritt zu ihrer Wahrwerdung weiß einer genau, wo er sich selbst verbunden ist bzw. »wo sein Ernst liegt«. (112) Weshalb er auch »die Freiheit des Lachens« nicht verliert. (111) Im Treibhaus der Zwangsvorstellungen wehrt man sich gegen das Verrückte seiner Nachprüfungen, das »wohl aus einem selbst kommt, worin man aber nicht ernst genommen werden will und kann«. (109) Der Pedant hingegen »verschwendet seinen Ernst an Nichtigkeiten«, (110) die »keinen Schritt zu eigensten Möglichkeiten« (111) bedeuten. Er hält sich doktrinär an Vorschriften und Schablonen; sein überzeugtes Für-richtig-Halten ist ohne originales Wahrheitsgefühl. Während es dem Phobiker wiederum nicht gelingt, seine tatsächlichen Sicherheiten selbst sein zu können. 105 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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»Pedanterie ist verstellter Ernst.« (111) »Nicht im Ernst etwas behaupten heißt, daß man es nur wie im Spiel tut, d. i. daß man sich nicht selbst dem verbindet, was man sagt.« (111–112) »Der Ernstfall stellt mich, ist die Probe auf mein Können z. B. Und als Ernst des Lebens gelten dessen Ansprüche und Forderungen, denen man gewachsen zu sein hat.« (112) Der Pedant »behauptet« seinen Ernst, verstellt aber den Fall, der ihn »stellen« könnte. Sein Ernst ist kein gespielter. Was er sagt, soll gerade als »verbindlich« gelten. Dem Fall, der ihn in seinem behaupteten Ernst stellt: die Probe auf die erhobenen Geltungsansprüche selbst zu machen, ist er – überfordert – nicht gewachsen. Sein Ernst ist ein vor-gemachter. Der Pedant macht nicht selbst Ernst mit der Sache, deren »Geltung« er gerade im allgemeinen behauptet. Die »Nichtigkeiten«, an die er seinen Ernst verschwendet, sind Vorschriften und Schablonen, an die er sich hält – aus »prinzipiellen Gründen«, die zu hoch gegriffen, die darin »bodenlos« (111) sind, daß das Prinzip, sich zu ihnen zu entscheiden, nicht bei ihm selbst liegt »als Schritt zu eigensten Möglichkeiten«. (Ebd.) Hingegen: »In ›seinem‹ Ernst betroffen werden heißt: selbst insofern dabei eingesetzt sein, als die Auseinandersetzung damit auf ›meinem Wege‹ nicht zu umgehen ist.« (112) »Nicht ausweichen heißt hier: sich selbst nicht untreu werden. Denn es geht hier um mich als den Träger eines Glaubens. Sofern man sich selbst ›verbunden‹ ist, unter dem Appell seiner selbst steht, gibt es Ernstfälle. Was zunächst nur Versprechen, Verheißung, Bekenntnis, Glaube war, gilt es wahrzumachen.« (112) Von »prinzipiellen Gründen«, an die der Pedant seine Verantwortung abschiebt, ist eben nicht die Rede. »Unter dem Appell seiner selbst stehen« bedeutet: die Antwort aus sich selbst hervorbringen zu müssen. Man spielt sich nicht zum Zeugen allgemeingültiger Wahrheiten auf, als ob sie dadurch allererst »wahr« würden, daß man gewissermaßen ihr »Ort« wäre. Woran man selbst glaubt, wozu man sich bekennt, was man sich dabei selbst verspricht, dafür soll man nun selbst aufkommen und mit sich selbst einstehen. »Das ›ich selbst‹, zu dem ich hier stehe, ist aber auf keine Formel zu bringen. Es ist nicht fertig.« (112) »Es bekundet sich lediglich in meinem Wege – nicht anders, aber ebenso deutlich wie ›meine‹ gegenüber ›fremder‹ Art zu sein.« (Ebd.) Man bezeugt sich selbst »auf seinem Wege«. »Das ›ich selbst‹ wird hierbei als unbedingt erfaßt, sofern es das Existieren unter Bedingungen stellt.« (Ebd.) In seiner Unbedingtheit ist es aber partikular, »sich selbst verbunden in schrittweiser Wahrwerdung« – und nicht in der aufgespielten Zeugenschaft allgemeingültiger Prinzipien von sich 106 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ausbiegungen der Angst: die Salvation der Pedanterie

selbst dispensiert. »Der Pedant, Prinzipienmensch usw. verschiebt aber diesen Ernst«, in dem man – als ›seinem‹ – betroffen wird; er übertrumpft ihn mit seiner Berufung auf Prinzipien, nach denen »verfahren« werden soll, »die aber nicht eigentlich wahr werden können« (112): deren Allgemeingültigkeit dem partikularen Einsatz meiner selbst nicht bedarf. »Man lächelt über den Pedanten, der alles ernst oder zu ernst nimmt. Man fühlt sich bedrückt durch den Fanatiker, der von lauter Ernst nicht lachen kann« 1 – dessen Ernst »starr« ist. (111) Was heißt es dann aber, in »seinem« Ernst betroffen zu werden, eigentlich sich selbst verbunden zu sein in schrittweiser Wahrwerdung, die nicht »eng und horizontlos«, nicht »doktrinär« ist? (111) – Die deshalb auch die Freiheit des Lachens nicht verloren hat? (Ebd.) »Wie ist das zu verstehen, wenn doch nur im Ernst der Mensch er selbst ist«, »kurz also: als Selbst im strengen Sinn des Wortes angesprochen wird« bzw. »im Ernst […] aus dem Mittelpunkt seines Selbst spricht«? 2 – Ein Selbst, das zwar »als unbedingt erfaßt«, dennoch »nicht fertig«, »auf keine Formel zu bringen« (112), lediglich »auf seinem Wege« zu finden ist? »Das ist nun mein Weg – wo ist der eure? So antworte ich denen, welche mich ›nach dem Wege‹ fragten. Den Weg nämlich – den gibt es nicht!« 3 »Der Horizont eines Menschen zeigt sich darin, worüber und wie er noch über etwas lachen kann.« (112) »Wie einer lacht, das verrät ihn, d. i. was sich hier bei ihm einmischt. Worüber einer aber lacht, das charakterisiert ihn. Die Grenzen des Spaßes, den einer versteht, sind bezeichnend dafür, wo sein Ernst liegt, wo er sich selbst verbunden ist.« (Ebd.) »Bzw. wo er glaubt, sich selbst verbunden zu sein. Denn der Ernst der meisten ist ja doch nur ein verstellter Ernst, sofern sie ausweichen vor sich selbst.« (Ebd.) »Dumme Leute pflegen wenig Spaß zu verstehen.« (Ebd.) Dem Pedanten geht jeder Spaß »zu weit« bzw. er kann ihn als unangebracht gar nicht billigen. Dem Fanatiker ist dasjenige, womit andere gerade leichtes Spiel haben möchten, »blutiger« Ernst. Seine Verbissenheit verbietet es einem, sich einen Spaß daraus zu maCfr. O. F. Bollnow, Einfache Sittlichkeit, in: ders., Schriften. Studienausgabe in 12 Bänden. Hrsg. von U. Boelhauve, G. Kühne-Bertram, H.-U. Lessing und F. Rodi. Bd. III. Würzburg 2009, S. 63. 2 Ebd., S. 62–63. 3 F. Nietzsche, »Vom Geist der Schwere«, in: Also sprach Zarathustra. Dritter Teil. Werke in drei Bänden. Hrsg. von K. Schlechta, Bd. II. C. Hanser, München 1966, S. 443. 1

107 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Stachel des Daseins

chen, was gerade ihm »bitterer« Ernst ist. Daraufhin ist der Pedant »engstirnig« bzw. der Fanatiker »rücksichtslos«. Sein blutiger Ernst zeigt, wie »blind« sein Glauben ist – während die Wichtigtuerei des Pedanten eine »Vermessenheit« bedeutet. Man versteht einen Spaß bzw. »etwas im Lachen«. (112) »Denn es gibt einen Grund des Lachens, von dem her es sich gerade ausweist.« (Ebd.) »Man ist zum Mitlachen aufgefordert.« »Man versteht z. B. eine Anspielung.« »Bzw. es entdeckt sich einem das ungerufen Mit-dabei-, Mit-im-Spiele-sein dessen, wovon der Ernst sich gerade absetzen, wovor er als etwas ihm nur als nichtig Geltendem sich verschließen möchte. Die Pointe zündet und läßt überspringen.« (Ebd.) Daß der Pedant keinen Spaß versteht, die Riemen desselben eng geschnallt sind, zeigt, wie wenig er in seinem aufgeblasenen Ernst »Grund zum Lachen« hat – wie »lächerlich« gerade sein blasiertes Benehmen ist. »Nichts ist an sich lächerlich. Man muß das bestimmte, bei den verschiedenen Völkern verschiedene Verhältnis zur Welt teilen bzw. zum mindesten irgendwie noch nachempfinden können, um die Komik in einer Situation finden, um über einen Witz mitlachen zu können.« (112–113) Gerade der verstellte Ernst des Pedanten ist Grund zum Lachen in einer Situation, in der einer am Vermessenen seiner Blasiertheit die Pointe seines Witzes schleift. »Humor, Witz, Groteske sind verschiedene Arten, diese Freiheit zu sich selbst zu finden« (113) – die der Pedant sich in seinem verstellten Ernst verbaut hat, die die Pointe des Witzes »überspringen läßt«. »Denn über das, was einem anderen passiert ist, lacht man nicht anders als wie man über sich selbst dabei lachen würde.« (Ebd.) »Immer ist der Mensch lächerlich, aber nicht die Person« (ebd.) – i. c. das Vermessene seines blasierten Verhaltens in einer Situation, in der seine Wichtigtuerei Grund zum Lachen ist, in der sie einem die Pointe eines »guten« Witzes schenkt. »Sofern einer, über dessen Hinfallen man lacht, dabei selbst übersehen wird, ist er empfindlich, und das Herabsetzende und Verletzende von Spott und Hohn liegt in der Absicht dieses Übersehens.« (Ebd.) Die Person des Pedanten ist gerade darin ernst zu nehmen, daß er in der Verstellung seines Ernstes sich die Freiheit zu sich verbaut hat, den Grund zum Lachen zu finden – der ihm im »guten« Witz herangereicht wird, in dem er – im Mitlachen z. B. – zu sich selbst zurückfinden könnte. »Im Unernst heiterer, ausgelassener Stimmung findet man sich aber von ›sich selbst‹, so wie man als unter seinem Gesicht bekannt ist, suspendiert – wenn man im allgemeinen Trubel aufgeht und unter der 108 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Verkrüppelung des Menschen: die Wurzel des Geizes

Maske Anonymität genießt.« (Ebd.) In seinem verstellten Ernst suchte der Pedant sich zu salvieren, sich von seiner Verantwortung zu dispensieren. Einzig nur die Heiterkeit hält ihm einen Ausweg offen.

3.

Verkrüppelung des Menschen: die Wurzel des Geizes

»Das ursprüngliche, in sich vielfältige Verhältnis, in dem man zu den Dingen steht« (110, Anm. 1) bzw. »sich von dem Schwerpunkt der Dinge etwas erahnen läßt«, (ebd.) in dem man der Welt mit ihren Ansprüchen und Friktionen begegnet, entschwindet in den Engpässen, in die Angst den Menschen hineintreibt, in denen sie in ihrer Niedergehaltenheit »steckt«. »Das einsinnige interne Verhältnis«, welches das ursprüngliche ersetzt, zeigt, wie ein Mensch hier nicht aus sich selbst heraus in Freiheit zu sich steht, wie er durch etwas überholt wird, was in ihm selbst zunächst verborgen, in der Angst lebendig wird, die ihn in die Enge treibt. Im »Horizontlosen« (111) seines Verhaltens steckt der Stachel der eben darin niedergehaltenen Angst. »Der Geiz hat dieselbe Wurzel.« (114) »Geizig ist nicht der, der – engherzig – nichts hergibt. Auch nicht der vorsichtig Sparsame.« (Ebd.) »Auch Habsucht ist etwas anderes. Denn der Habsüchtige will für sich besitzen. Er will den anderen ausschließen von der Sache. Er gönnt sie ihm nicht. Weniger die Sache als ihr Besitz reizt ihn. Habsucht wird rege schon im Blick auf nur mögliche Habe.« »Das Sammeln von Dingen, deren Betrachtung Freude macht, deren Beschäftigung vielleicht besondere Fähigkeiten entbindet, kann zur Sucht entarten. Wenn nämlich Besitz als Zuständlichkeit gesucht, der ›Reiz‹ des Seltenen genossen und überdies dabei auf eine zumeist doch nur eingebildete Konkurrenz reflektiert wird.« (114, Anm. 1) Der Geizige »hütet« nicht sparsam einen Besitz, den er engherzig anderen nicht schenken bzw. ihnen vielleicht abluchsen möchte. »Geizig ist aber, wer sich selbst das entzieht, was er hat.« (114) Nicht die »Sucht« des Habens oder die »Freude« des Besitzes treibt den Geizigen. »Der Geizige stemmt sich gegen den Verbrauch von etwas.« (Ebd.) »Gegenstand des Geizes ist vor allem das Geld. Geizig ist es aber auch, z. B. Bindfäden zu sammeln und zu bündeln, ihre Verwendung aber sich dann selbst zu hintertreiben.« (Ebd.) »Geld hat aber nur als Mittel Wert.« (Ebd.) Dieses zu verwenden, worin es ja seinen Wert erweist – dagegen stemmt sich der Geizige. »Darin, daß er im Zustand der Möglichkeit zu verharren strebt, liegt das Ver109 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Stachel des Daseins

rückte des Geizes. Er bleibt stehen in der Betrachtung dessen, was er sich für das Geld alles leisten könnte – im Vergessen um die Disjunktion dieser Dinge.« (114) »Er will das Geld in dem Sinn für sich behalten, daß er es seiner Bestimmung entzieht.« (115) Er geizt mit dem Geld, wie einer mit der Zeit »geizt«: »im Überschlagen dessen, was man alles in dieser Zeit machen und erledigen könnte«. (114) Die – unteilbare – »Summe« seines aufgespeicherten Geldes ist es, woran er festhält, indem er sich vor Augen führt, was er sich dafür alles im einzelnen leisten könnte. »Geiz kratzt Geld zusammen, ohne es zu etwas aufzunehmen.« (114) »Geiz bezieht sich auf quantenhafte Anhäufung. Reichtum bedeutet hier keine echte Fülle mehr. Das Geld in der Matratze ist auch nicht mein ›Vermögen‹ wie das auf der Bank, das auf meinem Namen steht. Die beiseite geschafften Goldstücke verlieren die eigentliche Bedeutung des Geldes, das ja doch Geld als ausgeformtes Mittel zu etwas ist. Der Geizige stemmt sich aber gegen die Ausgabe des Geldes. Er hält nicht etwa an einem Besitz fest, er will Möglichkeiten als Möglichkeiten festhalten.« (114–115) Im Aufnehmen-zu-etwas liegt aber eine Entscheidung, wie im Verwenden eine Disjunktion des Ganzen zu Gunsten eines Einzelnen. Das beiseite Geschaffte kann nicht »disjungiert« werden, wie es in der Ausgabe, z. B. einer Aushändigung geschieht. Auch hier trifft das »Private« des dem Verbrauch Entzogenen im Grunde seine »Abseitigkeit«. (110) Gerade aus dem »Verkehr« des Geldes zieht der Geizige sich selbst heraus. »Aufspeicherung bedeutet dem Geizigen nicht Vorsorge. Er versteckt sein Geld vor anderen. Er hat Freude am heimlichen Überzählen seines Geldes. Er will nicht ›angesprochen‹ werden auf das, was er hat. Er hütet es vor den Blicken der anderen, als ob schon darin ein Anspruch läge, es als Mittel freizugeben: er ›sitzt‹ darauf. Das Heimliche seines Gebarens fällt auf.« (115) »Er will [das Geld] nicht als Vermögen wahrhaben lassen, nach dem er eingeschätzt, an dem sein Auftreten, seine Potenz gemessen werden könnte.« (Ebd.) »Überhaupt nicht nur so wie der Sonderling oder der Menschenfeind meidet [er] den Verkehr mit der Mitwelt.« (Ebd.) »Geld kann nicht abgenutzt werden; unterschiedslos steht es jedem zu Diensten, alles mögliche ist damit erkaufbar. Geld obligiert nicht seinen Besitzer.« (114) Zur »Erfindung dieses Mittels« bemerkt Kant, daß es »sonst keine Brauchbarkeit hat (wenigstens nicht haben darf) als bloß zum Verkehr des Fleißes der Menschen, hiemit aber auch alles 110 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Verkrüppelung des Menschen: die Wurzel des Geizes

Physisch-Guten unter ihnen zu dienen, vornehmlich nachdem es durch Metalle repräsentiert wird«. 4 Auch H. Lipps betont, daß »Geld ausgeformtes Mittel zu etwas ist«. (115) »Unverwendet ist es ›Dreck‹.« (114) »Worauf sich das ›Schmutzige‹ des Geizes bezieht: Geiz ist schmutzig durch das Geld, das der Geizige durch die Finger zählt.« Er klebt an seinem Geld, das er nicht »fließen« läßt. Die Goldstücke »rollen« nicht über den Tisch. »Geiz krazt Geld zusammen«. (Ebd.) »Geizige sind meist auch schmutzig an ihrem Körper. Denn Sauberkeit ist Ausdruck einer Selbstachtung. Man verabscheut den Geizigen.« (115) Mit Bezug auf eine »Habsucht […] ohne Genuß in dem bloßen Besitze, selbst mit Verzichttuung (des Geizigen) auf allen Gebrauch« 5 redet Kant gerade von einer »Verachtung im moralischen Sinne«. Worauf beruht sie? »Der Geizige verleugnet schon in sich selbst den Menschen, zieht sich insofern heraus aus der Welt.« (115) »Gerade ›psychologisch‹ kann Geiz nur als Laster demonstriert werden – wie denn z. B. Kants Anthropologie den Menschen ›in pragmatischer Hinsicht‹ behandelt, d. i. hinsichtlich dessen, was er als freihandelndes Wesen aus sich selbst macht.« 6 Indem er »Möglichkeiten als Möglichkeiten festhalten will«, »sich gegen die Ausgabe des Geldes stemmt«, »es nicht als Vermögen wahrhaben lassen« will, (115) sich im heimlichen »Überschlagen dessen, was er sich für das Geld alles leisten« könnte, (114) aus der Welt zieht, – in der bloßen Vorstellung der Potenz seines »Vermögens« verharrt, ohne es durch die anderen ermessen zu lassen –, indem er nicht einmal auf das, was er hat, »angesprochen« werden will, nachdem er es »sich selbst entzogen hat«, verleugnet der Geizige die Freiheit, in der der Mensch handelnd aus sich selbst etwas macht. Gerade die Tatsache, daß, wenn aufgetreten, Geiz »keine Abänderung verstattet«, macht den Geizigen in Kants Augen »verachtet«. 7 Geiz wuchert mit dem Geld, ohne es freizugeben. Die Disjunktion des »Handels«, mit der ein Mensch aus sich heraus in die Welt tritt, mit den anderen »verkehrt«, d. h. etwas herauskehrt, was ihn nicht selbst obligiert, ist im Geiz gesperrt. Geiz schafft keine »sauberen«, d. h. hier aber keine »aufrichtigen« Verhältnisse. »Geiz bedeutet eine Verkrüppelung des Menschen.« (115) 4 5 6 7

I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Stuttgart 1983, S. 220 [273–274]. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd., S. 220 [273–274].

111 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Stachel des Daseins

4.

Verstellte Angst: die Ausschließlichkeit der Eifersucht

Nicht die dispensatio, die suspensio oder die disiunctio, sondern die exclusio prägt zu innerst die Eifersucht. Während »sich zu ereifern immer Zeichen eines seiner selbst nicht sicheren Glaubens« ist, man »sich hier zu etwas überredet« (116) – »wacht der Eifersüchtige über etwas«. (Ebd.) Hinter der Eifersucht steht »eine verstellte Angst« (117), und kein »seiner selbst nicht sicherer Glauben«, »der mehr durch das Abattieren gedachter Gegner zu gewinnen hofft, als daß er sich selbst schon gefunden hätte«. (116) »Mißtrauen und Verdacht kommen aber dem Eifersüchtigen aus einer Unsicherheit, die letztlich« – als verstellte Angst – »auch wirklich begründet ist« (117), die nicht durch exstirpatio zu gewinnen hofft, vielmehr: in der exclusio um die »Unkraft« und das »eigene Unvermögen« als Quellfluß und Nährboden weiß. In den Vordergrund rückt die spezifische Nichtmächtigkeit des Menschen, der in »echter Verzweiflung« »aus sich selbst«, »aus seinem Glauben geschlagen wird«. (117) Dessen Zeichen gerade »das Wahnhaft-Verrückte« (ebd.) der Eifersucht ist, das »Verblendung« (ebd.) und nicht etwa »Überredung« bedeutet. Wie die Scham »wacht« die Eifersucht »über etwas«, »hütet es vor den Blicken der anderen, um es nicht gemein werden zu lassen«. (116; vgl. 31–33) »Darin liegt der Unterschied der Eifersucht dem Neide gegenüber. Denn Neid bezieht sich auf etwas, was – so möchte er es gerade – doch jeder haben könnte. Er nimmt also als gemein bzw. macht gemein das, worum der andere beneidet wird.« (116) »Eifersucht aber sorgt sich gerade, etwas in der Richtung zu verlieren, daß es vielleicht auch ein anderer haben könnte.« (117) Wie die Scham bannt und unterbindet die Eifersucht, aber in einer Ausschließlichkeit einzigartigen Ranges. Während »Neid immer nur das Haben, nie das Sein trifft« (116) fürchtet Eifersucht »nicht um den Besitz, sondern um das was man besitzt«. (117) In der Richtung, daß es vielleicht auch ein anderer haben könnte, ist der Eifersüchtige seiner selbst nicht sicher. Worum der andere beneidet wird, betrifft aber nicht die Selbstsicherheit des Neidischen, die – hier – nicht tangiert wird. Indessen – »was ich tatsächlich auch haben könnte, was ich nur zufällig nicht bekommen habe, macht noch nicht neidisch. Ebensowenig als es schon Neid ist, auch das haben zu wollen, was der andere hat, d. i. erst durch den Vergleich mit den anderen seine Zufriedenheit gewinnen zu können. Vielmehr: der anscheinende Vorzug des anderen macht nei112 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Verstellte Angst: die Ausschließlichkeit der Eifersucht

disch.« (116) »Der Neid ist auf das ›Glück‹ eingestellt, das man selber nicht und das der andere hat.« (Ebd.) Dem anderen wird sein Glück nicht gegönnt. »Wie Resignation möchte Neid eine Unkraft herauskehren, das sein zu müssen, was man ist. Neid ist nachtragend, weil er immer daran denken muß, daß der andere etwas hat, was – so überredet er sich mehr, als daß er davon überzeugt sein kann – ich doch auch haben könnte. Er möchte die Berechtigung des Vorzuges bezweifeln. Widerwillig, wie fasziniert durch das Glück des anderen, verweilt er nachbohrend bei ihm.« (Ebd.) Eben darin macht er das, worum der andere beneidet wird, gemein. »Der Neidische sucht letztlich sich selbst in der Hassenswürdigkeit des andern zu beweisen, um sich nicht als bloß neidisch wissen zu müssen.« Neid erfährt hier eine Ersteigerung, in der »das Gemeine sich gleichsam nicht entfliehen kann«; »man erkennt es an Verschiebungen, Verdrängungen«. (Ebd.) »Schon daß der andere seinen Vorzug einfach als gegeben hinzunehmen scheint, diese Art an ihm ärgert mich.« (Ebd.) Im Ressentiment wirft man ihm vor, sich nicht »seines Vorzugs zu begeben und auf meinem Niveau zu starten«, was man für »wirkliche Größe« ausgibt. (116–117) »Im Geheimen wünscht man etwas zu entdecken, was den Vorzug des anderen in einem anderen Lichte erscheinen läßt. Hämisch kehrt man die Schattenseiten heraus. Ein bestimmter Gesichtswinkel, eine bestimmte Denkrichtung ist im Neidischsein bezeichnet.« (117) Neid rückt nachbohrend das Glück des anderen in zwielichtige Verhältnisse hinein, macht es verdächtig. Dem Beneideten trägt der Neidische in seinem Ressentiment eine Hassenswürdigkeit nach, in der er »letztlich sich selbst beweisen« möchte. (116) Während Neid die »Unkraft« herauskehrt, »das sein zu müssen, was man ist«, (ebd.) ist das »Unvermögen«, aus dem Eifersucht – »die Sucht, den anderen zu kontrollieren« – entspringt, ein anderes: »nämlich dem Freund oder der Frau so verbunden zu sein, daß nicht …«. (117) Denn »tatsächlich kann man es nicht voraussetzen, daß nicht …«. (Ebd.) »Der Eifersüchtige will nicht herausgedrängt werden aus einem Verhältnis, dem er sich nicht gewachsen fühlt. Dessen Einzigartigkeit er deshalb – und darin verrät er schon den Geliebten – als Ausschließlichkeit verstehen möchte.« (Ebd.) »Das Maßlose der Eifersucht fällt auf, die alle Kraft in ihr Rasen sammelt. Eifersucht ist zu allem fähig. Das Wahnhaft-Verblendete liegt darin, einen Scheinbesitz hüten zu wollen. Der Eifersüchtige wehrt sich dagegen, etwas zu verlieren, was im Fall des Verlustes die Sorge darum ja gar nicht wert gewesen wäre.« (Ebd.) Er vermag es nicht, sich dem anderen »auf Treu und Glauben« zu ver113 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Stachel des Daseins

binden. Verzweifelt setzt er auf die Ausschließlichkeit eines Scheinbesitzes ein, verrät in seinem Exklusivitätsanspruch die einzigartige »Voraussetzungslosigkeit« der Liebe. Denn: »Liebende können einfach voreinander ›da‹ sein.« (36) Vorbehaltlos und ohne Besitzergreifung. »Die Sucht, in allem etwas zu ›finden‹, entlastet den Eifersüchtigen von dem, worum er als um ein Ungenügen in sich selbst doch irgendwie weiß.« (118) Indem seine Unsicherheit in Mißtrauen und Verdacht ausbricht – er sich dem Wahn eines Verlustes seines Scheinbesitzes hingibt – blendet der Eifersüchtige »das Bewußtsein seiner Unkraft« ab, dem vinculum fidei et amoris selbst gewachsen zu sein. »In der Sucht […] entgleitet man sich gerade.« (118) »Die Eifer›sucht‹ ist aber keine Leidenschaft.« (Ebd.) »Es gibt z. B. das Pathos der Wissenschaft, leidenschaftlicher Haß und Liebe. Leidenschaftlicher ist nicht einfach ersteigerter Haß. So als ob er einen nur ›aus‹füllte, neben ihm nichts anders sein könnte. Vielmehr – sofern einen der Haß erfüllt, man sich selbst darin ersteigert, sich darin findet, ist es leidenschaftlicher Haß. Daß er unzugänglich ist vernünftigen Erwägungen, bedeutet, daß man sich als unbedingt darin erfaßt – so wie in seiner Überzeugung. Vernünftig ist aber ein Verhalten, das sich im Verhältnis zur Vernunft – also bedingt – vollzieht.« (118) »Sicherlich – das Leidenschaftliche ermangelt des distanzierten Verhältnisses zu den Dingen, wo einer frei sich bestimmen läßt, frei sich begründet in seinem Verhalten. Aber das bedeutet hier doch nur dessen Sachlichkeit. Leidenschaftlich ist vorbehaltlos.« (Ebd.) Gerade das Blendwerk der Eifersucht supponiert aber alles Mögliche, das es auszuschließen gilt. »Nicht jeder ist fähig der Leidenschaft, hat die Größe dazu.« (Ebd.) Eifersucht bringt aber jede Kleinigkeit in den Verdacht der Untreue. Im dritten Buche seiner Anthropologie: »Vom Begehrungsvermögen« 8 unterscheidet Kant die Affekte von den Leidenschaften (passio animi). »Die durch die Vernunft des Subjekts schwer oder gar nicht bezwingliche Neigung ist Leidenschaft. Dagegen ist das Gefühl einer Lust oder Unlust im gegenwärtigen Zustande, welches im Subjekt die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt, der Affekt.« 9 »Der Affekt tut einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft 8 9

I. Kant, op. cit., S. 210 [265–266]. Ebd., S. 192 [251].

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Verstellte Angst: die Ausschließlichkeit der Eifersucht

über sich selbst. Die Leidenschaft gibt sie auf und findet ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn.« 10 Wenn der Affekt ein »Rausch« ist, so sei die Leidenschaft eine »Krankheit«, welche mit dem Worte »Sucht« benannt wird. 11 Als Beispiele wählt Kant Ehrsucht, Rachsucht, Herrschsucht u.dgl. Demgegenüber möchte H. Lipps sorgfältiger die »Leidenschaft« von der »Sucht« trennen, den »Sklavensinn«, an dem nach Kant Leidenschaft ihre Befriedigung findet, hinterfragen. »Kant hatte nicht echte Leidenschaften im Blick, wenn er die Vernunft ›in den Ketten‹ der Leidenschaft liegen läßt. 12 Denn er nennt als Beispiele: Habsucht, Rachsucht usw. 13 Also etwas, worin der Mensch sich etwas ›verschaffen‹ will. So wie er auch der Narr seiner Klugheit wird.« (118, Anm. 1) Diese »Neigungen« gehen laut Kant »bloß auf den Besitz der Mittel, um alle Neigungen, welche unmittelbar den Zweck betreffen, zu befriedigen. […] Der Besitz der Mittel zu beliebigen Absichten reicht allerdings viel weiter, als die auf eine einzelne Neigung und deren Befriedigung gerichtete Neigung. – Sie können auch daher Neigungen des Wahnes genannt werden, welcher darin besteht: die bloße Meinung anderer vom Werte der Dinge dem wirklichen Werte gleich zu schätzen.« 14 – In der »Sucht« »entgleitet man sich gerade«. (118) In der Leidenschaft jedoch »ersteigert man sich selbst, findet sich darin«, »erfaßt sich als unbedingt darin«. (Ebd.) Zu Kants Ansicht, daß die Leidenschaft die Freiheit und Herrschaft über sich selbst aufgibt, »ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn findet«, während der Affekt bloß »einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit tut«, – weshalb der Affekt als »Rausch«, die Leidenschaft als »Krankheit« bezeichnet werden kann – bemerkt H. Lipps: »Indessen – ich selbst setze mich in der Haltung durch, die den Affekt abfängt.« (118, Anm. 1) Nicht nur »ersteigert und verdeutlicht sich der Affekt in der ›Einstellung‹, die er durch die Gebärde bekommt«. (17) »Die Haltung schaltet geradezu die Affekte.« »Man kann die Affekte abfangen durch die Haltung.« (21) Das Vorbehaltlose des Leidenschaftlichen ist allerdings keineswegs »haltlos«. Die »Ketten«, in denen die Leidenschaft die Vernunft liegen läßt, betreffen lediglich ihre –mangelnde – 10 11 12 13 14

Ebd., S. 212 [267]. Ebd., S. 210 [265–266]. Cfr. op. cit., S. 212 [267]. Vgl. op. cit., S. 213 [267–268]. Ebd., S. 215 [269–270].

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Stachel des Daseins

»sachliche Einstellung«. In die Leidenschaft »legt man sich gerade hinein«; man »zeigt sich darin«. (Vgl. 21) »Leidenschaften sind Wege menschlicher Existenz, die nur im Blick auf deren Schicksalhaftigkeit zu verstehen sind.« (123)

116 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ferne und Fremde. Wandlung von Existenz

»Der Mensch selbst wird charakterisiert durch die Enge und Weite ›seines‹ Horizontes.« (S. 123)

1.

Im Abgründigen Stehen

»Beides – das Versuchende des Abgründigen und das Verlockende des Unbekannten ist von dem Eindruck, unter dem Platzangst steht, darin unterschieden, daß hier schlechthin im Menschen etwas dem Abgründigen entgegenkommt.« (106) »Und während man der Verlockung des Unbekannten folgend verwegen sich vorwagt, nämlich in Schritten, bedeutet hier das Der-Versuchung-erliegen ein Sich-fallen-lassen.« (Ebd.) »Der Abenteuer wird verlockt […]. Verwegen wagt er sich vor ins Unbekannte.« (120–121) »Er unterliegt der Versuchung, den abgesteckten Bereich von Sicherheiten preiszugeben.« (Ebd.) »Er hat ein Gefühl dafür, wie die Sicherheit des Bürgers doch nur eine solche ist, die er flüchtig durch den Halt an den Dingen findet, daß er aber nicht eigentlich ›steht‹ im Abgründigen.« (119) Von einer »prinzipiellen Ohnmächtigkeit, und dies gerade hinsichtlich des Haltes« (107) – »nicht aus sich selbst heraus stehen« zu können (ebd.), ist hier nicht die Rede. Sich verwegen in Schritten Vorwagen ist eben gerade kein Sich-fallen-lassen. Die »flüchtige Sicherheit«, die der Bürger durch den Halt an den Dingen findet, als einen abgesteckten Bereich, in dem er sich aufhält, »will« die Abenteurerlust preisgeben. Wie der Mensch aus sich selbst heraus steht, unterliegt hier einem tiefgreifenden Wandel: einem Wandel hinsichtlich ›seines‹ Horizontes. Von den Engpässen der Angst ist er grundverschieden. An der Stelle einer Ohnmächtigkeit, die schlechthin im Menschen dem Abgründigen entgegenkommt, tritt eine »Sehnsucht«. »Eine Sehnsucht lebt im Abenteurer.« (119) »Der Abenteurer sehnt sich, zum Elementaren, d. i. aus sich herauszukom117 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ferne und Fremde

men.« (119–120) Während dem Platzangstkranken »das Seiende im Ganzen wegzurücken scheint«, (106) »er sich darin erfährt als in seinem Gehaltensein in das Nichts«, (107) »hält es den Abenteurer nirgends«. (120) Das Elementare, das »sich ihm ent-deckt, nämlich im Durchbruch dazu«, (120) in der Wandlung seines Horizontes, ist etwas, »was ihm gerade aufbricht im Grunde des Daseins«. (120) Als abgründig ist das »Elementare« keine »Leere des Raumes«, die »transparent wird auf die Welt hin, der man ausgeliefert ist« (107) – »wovor der Platzangstkranke schwindelt«. (106) »Dem Platzangstkranken scheint kein Weg mehr gangbar zu sein«; (106) der Abenteurer »wagt sich verwegen vor ins Unbekannte«, (121) »wirft sich ins Unbekannte, läßt es darauf ankommen«. (Ebd.) »Das Versucherische des Leeren hat nicht das Verlockende des Unbekannten.« (106) Als »Eindruck« (106) ist das Abgründige, in dem der Abenteurer »eigentlich ›steht‹«, (119) vom »schwindelerregenden« Abgrund des Platzangstkranken grundverschieden. »Der Welt« ist er nicht ausgeliefert. »Der Abenteurer vertraut sich […] dem Zufall an.« (121) – Das aber stellt den Abenteurer in Vergleich zum Spieler. Wie umgekehrt die Tatsache, daß es eine »Spielleidenschaft« gibt, »das Spiel als Leidenschaft gilt«, »im Spiel eine Erfüllung gesucht wird«, (119) »den Spieler in Vergleich zum Abenteurer stellt«. (Ebd.) Denn auch »der Abenteurer sucht eine Erfüllung«. (121) Während »man sich in der Sucht gerade entgleitet«, (118) »ersteigert man sich selbst«, »findet man sich« in der Leidenschaft. (Ebd.) »Nicht loszukommen von dieser ›Leidenschaft‹, der man verfallen ist«, – z. B. »daß der Spieler nicht halten kann« – bedeutet »eine Sucht«. (122) Was bedeutet es aber, daß »eine Sehnsucht lebt im Abenteurer«? (119) – »Den es nirgends hält«? (120) »Sehnsucht ist kein bloßes Verlangen nach etwas oder Begierde. Denn das Verlangen bezieht sich auf Erreichbares. Und gierig ist man, sich etwas nehmen zu können. Verlangen werden erfüllt, sofern ihnen entsprochen wird; Begierden werden gestillt.« (119) Die »Richtung« des Verlangens und Gierens ist durch Erreich- und Greifbarkeit, die »Richtung« der Begierde durch »Stillung« geprägt. »Die Richtung der Sehnsucht ist die entgegengesetzte des Verlangens und Gierens.« (119) In der Sehnsucht richtet man sich nicht nach demjenigen, was man erreichen bzw. sich nehmen, was eventuell »gestillt« werden könnte. »Der Sehnsüchtige greift aus in die Ferne seiner selbst.« (119) Er richtet sich nach Unerreichbarem, Ungreifbarem, nach nicht zu Stillendem. Während Verlangen erfüllt 118 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Im Abgründigen Stehen

werden, sofern ihnen entsprochen wird, entspricht der Sehnsuchts nichts Erfüllbares. Z. B. »Eine Sehnsucht nach dem anderen entspringt […] der Einsamkeit. Und sie ist unbedingt.« (119) Das Verlangen nach der Gegenwart eines Menschen hingegen ist »immer bedingt«; »der andere wird hierbei in etwas beansprucht«, (119) dem entsprochen werden soll. »Man sehnt sich nach dem anderen, sofern man nur bei ihm und mit ihm ›sein‹ kann was man ist.« (Ebd.) Ein unerfüllbarer Anspruch erhebt sich darin. In der unverbrüchlichen Treue des anderen möchte man die eigene Existenz gründen. »Sehnsucht sucht durch etwas zu sich selbst zu kommen«, (119) was als »Unerfüllbares« zugleich den Charakter des Unbedingten hat. »In der Stabilisierung des Lebens der Alltäglichkeit z. B., wo einem alles abgenommen, weitgehend erledigt ist, spürt sie das Verbautsein des Ursprünglichen.« (Ebd.) Der gesättigten Lebenshaltung ist die Sehnsucht geradezu überdrüssig. »Sich nach etwas sehnen heißt: von sich in seiner Unerfülltheit weg zu einem anderen kommen wollen«, (Ebd.) das über die zum Überdruß gewordene Lebenssättigung un-bedingt und un-erfüllbar hinausragt. »Das Unerfüllte, aus dem heraus der Abenteurer sich sehnt, bedeutet nicht etwa ein bloßes Nichtausgefülltsein – so wie bei einem, der in Anspruch genommen zu werden verlangt, dessen Fähigkeiten sonst brach liegen oder der gar nur die Zeit auszufüllen sucht. Der Abenteurer ist angewidert von dem Leben der Mittelmäßigkeit, in dem Arbeit und Vergnügen reguliert sind, das auf kurze Sicht gelebt wird – schicksallos, nur auf Glück und Zufall abgestellt. Das hier Erreichbare scheint ihm seinen Lohn schon dahin zu haben.« (119) Wenn er sich dem Zufall anvertraut, so »entschlägt er sich aller Sorge und Vorsicht«. (121) Das umsichtige Besorgen, das vor dem Schicksal ausweichend das kleine Glück begehrt, das vorsichtig jede Vermessenheit scheut, welche das Geschick herausfordern könnte, das gemessenen Schrittes auf geebneten Wegen voranschreitend nur den Taglohn begehrt, ist ihm zuwider. Im vorweg ist ihm das Leben der Mittelmäßigkeit anspruchslos, kein »volles« Leben, weil es sich mit Erreichbarem abfindet, sich im Beschaffen des »nächst« Zuhandenen absichert. In der Sicherheit, die der Bürger »flüchtig durch den Halt an den Dingen findet«, spürt der Abenteurer das »Verbaute« eines Lebens, das »nicht eigentlich ›steht‹ im Abgründigen« (119): Nur »im Durchschlagen der Sicherungen, die der Mensch der Alltäglichkeit schützend zwischen sich und seinen Ursprung geschoben hat« (120) blitzt ihm das Elemen119 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ferne und Fremde

tare auf, zu dem er selbst »aufbrechen« möchte. »Im Gegensatz zum Sensitiven, der [es] in der Natur sucht und also in sich finden kann, sofern er Teil ist der Natur«, sehnt der Abenteurer sich danach, »aus sich heraus zu kommen«. (120) Ihm entdeckt sich das Elementare »im Durchbruch dazu«. (Ebd.) »Der Abenteurer stellt in Frage, was dem Menschen der Alltäglichkeit nur allzuschnell als der Sinn seines Lebens für schon entschieden gilt. D. i. woran er doch eigentlich nur eben ›glaubt‹ – in dem entschwerten und uneigentlichen Sinn, daß er es für richtig hält, – was aber nicht aus eigenem Ursprung vollzogen ist.« (Ebd.) Was dem Menschen in der Stabilisierung des Lebens der Alltäglichkeit »abgenommen«, was darin »weitgehend erledigt« ist, (119) – soweit es ihm ein Leben der Mittelmäßigkeit bedeutet, »in dem Arbeit und Vergnügen reguliert sind, das auf kurze Sicht gelebt wird – schicksallos, nur auf Glück und Zufall abgestellt« (119) – ist der Vollzug einer Entscheidung »aus eigenem Ursprung« über dessen Sinnhaftigkeit. Eine solche Entscheidung liegt nicht in der Richtung dessen, was er »für richtig hält«: einer flüchtigen Sicherheit, die ihm durch den Halt an den Dingen geboten wird, an der doch nur eben »glaubt« »in einem entschwerten und uneigentlichen Sinn«. (120) Denn ein »wirklicher Glaube [ist] immer ein Wagen und weiß um sein Scheitern-können«. (111) Gerade im Durchbrechen dieser Sicherheit des Bürgers, für den es mit dem flüchtigen Halt an den Dingen sein Bewenden haben mag, – dessen Sicherheit deshalb nur eine durchzuschlagende »Sicherung« ist, die sich »schützend zwischen ihn und seinen Ursprung geschoben hat« (120) – entdeckt sich dem Abenteurer das »Elementare«. Es ist ihm »eine prinzipielle« bzw. »eigentliche Unsicherheit« – (120) hinsichtlich des Sinnes des Lebens, zu dem er selbst, aus eigenem Ursprung sich zu entscheiden hat, dem aber kein Ding dieser Welt auch nur kurzen Halt zu gebieten vermag. »Den Abenteurer hält es nirgends.« (120) Sein Leben ist nicht, wie das des Bürgers, »schicksallos, nur auf Glück und Zufall abgestellt«. (119) Der Abenteurer »wittert eine prinzipielle Unsicherheit«, (120) wenn er sich »dem Zufall anvertraut«. (121) Sie ist keine, die, wie im Falle des Bürgers, durch Sorge und Vorsicht verbaut ist. Sie ist ebenfalls keine, die, wie im Falle des Spielers, nur als »Spannung von Beglückung und Vernichtung« gesucht wird. (121) Das Elementare, das dem Abenteurer sich eben im Durchschlagen der schützenden Sicherungen des Alltags entdeckt, ist schließlich nicht etwas, was er – wie der Sensitive – in sich als Teil der Natur »finden« könnte. Seine Sehnsucht ist kein 120 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Im Abgründigen Stehen

amor fati, dessen Schicksalsgefährte eine Natur wäre, die ihn »immer zulächelte«. 1 »Nur mühsam verdeckt die Betriebsamkeit die Angst [des Bürgers] vor der gänzlichen Sinnlosigkeit« seiner Alltagsexistenz. In seiner Verdächtigung der ihm durch den Abenteurer gestellten Frage »drückt sich ja die Witterung um den Verlust von Sicherungen aus«, dem er vorbeugen möchte. (120) »Sicherlich – der Abenteurer kann scheitern, nämlich er selbst und nicht nur sein Beginnen. Aber der Bürger ist doch nur klüger als er, wenn er sich vorbeischleichen will an den Gefahren, von denen das Dasein umstanden ist.« (Ebd.) Der Abenteurer ist »aufs Scheitern gefaßt«. (121) »Es sind nicht tatsächliche Gefahren, mit denen er rechnet, denen man auch nur umsichtig begegnen könnte. Gefahr in diesem Sinn ist gar nicht eingebaut in sein Beginnen, er ist gleichgültig dagegen.« (Ebd.) »Verwegenheit bedeutet anderes als Mut und Kühnheit, in denen das Maß eines Menschen, in denen Tugenden bezeichnet sind.« (Ebd.) Die Mittelmäßigkeit des Bürgers ist keine Tugend in diesem Sinne: seine »Klugheit« mißt sich nicht an der Gefahr in der Richtung einer Auseinandersetzung mit ihr. In seinem Beginnen ist der Abenteurer nicht auf Gefahr, sondern auf sein Scheiternkönnen gefaßt. Er setzt sich selbst aufs Spiel – was dem Bürger abhold ist, der sich, gerade darin ist er ein »Bürger«, selbst aus der Gefahr herausnehmen möchte. »Die Unsicherheit des bürgerlichen Raumes, die immer nur mehr oder weniger groß und die immer eine sachlich bestimmte ist«, »ist privativ zu verstehen« – »die Unsicherheit, die der Abenteurer wittert, ist« dagegen »eine prinzipielle«. (120) »Eigentliche Unsicherheit ist […] gerade das Primäre gegenüber jeder Sicherheit, in der diese Unsicherheit nur beschwörend aufgenommen, bannend zu umkreisen gesucht wird«, (ebd.) – wie im bürgerlichen Raume. »Der Abenteurer durchschaut das Kulissenhafte des Raumes, der den Blick auf die Szene des sogenannten ›Lebens‹ zu ziehen sucht, er durchschaut das Spiel, das hinwegbringen soll über das, was ihm gerade aufbricht im Grunde des Daseins.« (Ebd.) Nicht wird etwa »die Leere des Raumes transparent auf die Welt hin, der man ausgeliefert ist« (107) – sondern: »das Kulissenhafte des Raumes«, der den Blick auf die Bühne des Alltagslebens zieht, wird J.-J. Rousseau, Les rêveries du promeneur solitaire. Librairie générale française, Paris 1983, Neuvième Promenade, S. 150: »Faut-il s’étonner si j’aime la solitude? Je ne vois qu’animosité sur les visages des hommes, et la nature me rit toujours.«

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121 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ferne und Fremde

transparent auf Abgründiges, in dem »Existenz eigentlich ›steht‹«. (119) Der Abenteurer fühlt sich im bürgerlichen Raum »um die eigensten Möglichkeiten betrogen«. (120) »Sofern diese sich ihm verkehren in ihm nur eben vorenthaltene Möglichkeiten, d. i. in solche, die man sich nehmen kann, sofern er mit Gewalt Chancen durchsetzen will, wird er eine gebrochene Existenz.« (Ebd.) Was ihm gerade im Grunde des Daseins aufbricht, ist »verwegen«. Während »dem Platzangstkranken kein Weg mehr gangbar zu sein scheint«, (106) wagt der Abenteurer »verwegen sich vor, nämlich in Schritten«. (Ebd.) »Verwegen wagt er sich vor ins Unbekannte« (121) – dem man nicht »umsichtig begegnen kann«. Was in diesen Schritten existentiell »gebrochen« wird, bezieht sich auf den »Horizont«, in dem Existenz in der Alltäglichkeit gebannt ist. Es sind Freiheitsschläge, die den Bannkreis des Alltags zerschmettern. »Die Söldner z. B. waren Abenteurer. Für geringen Sold schlugen sie ihr Leben in die Schanze, durch diesen Kauf ausdrückend, daß sie freikommen wollten von denen, die ihnen sonst etwas schuldig geblieben wären.« 2 (120) Durch den Sold erlösten sie sich selbst aus jedem Schuldverhältnis. Gering war ihnen die Schuldigkeit, aus der sie sich freikauften. Das Lösegeld war ihnen eine Sprungschanze, die große Weiten zuließ. »Der Abenteurer wird verlockt; er unterliegt der Versuchung, den abgesteckten Bereich von Sicherheiten preiszugeben.« (120–121) Er erliegt Lockungen. »Er sucht nicht etwa die Gefahr. So wie sie wohl einer suchen mag, um sich daran zu messen, sich in seiner Stärke beweisen zu lassen. ›Selbsterfahrung‹ würde hier bedeuten: sich seiner in seinem Können und daraufhin auch sich seiner Berufung bewußt werden. Und es erfüllte sich ihm insofern sein Leben, als seine Stärke, als die in der Kühnheit bezeichnete Kraft sonst brach liegen würde.« (121) Eine solche Selbsterfahrung zu machen ist nicht dasjenige, wonach der Abenteurer sich sehnt. »Gefahr in diesem Sinn ist gar nicht eingebaut in sein Beginnen, er ist gleichgültig dagegen.« (Ebd.) »Verwegenheit bedeutet etwas anderes als Mut und Kühnheit.« (Ebd.) Der Abenteurer sehnt sich danach, »aus sich heraus zu kommen«. (120) Das Elementare, das sich ihm ent-deckt, nämlich im Durchbruch dazu, liegt nicht in der Richtung einer Selbsterfahrung – als Herausforderung eigener Vgl. dazu H. Lipps, »Die Wandlung des Soldaten« (1939), in: Die Wirklichkeit des Menschen, Werke Bd. V, V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1977, S. 97–98.

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Wandlung von Existenz

Kraft. Im Gegenteil: »Der Abenteurer wirft sich ins Unbekannte, läßt es darauf ankommen.« 3 (121) »In die Ferne seiner selbst« ausgreifend, setzt er sich einer Fremderfahrung aus. Nicht darauf ist er gefaßt, »sich in seiner Stärke beweisen zu lassen«, sondern: »aufs Scheitern«. Die Herausforderung der Gefahr ist etwas anderes als die Verlockung des Unbekannten. »Der Abenteurer setzt sein Leben, das untergehen kann, ab gegen ein auf den Tod ausgerichtetes Leben, dem es im Sorgen um sich selbst geht.« (121) »Der abgesteckte Bereich von Sicherheiten«, den er preisgeben möchte, ist durch diese existentielle Grundausrichtung geprägt. Gegen die Todesgewißheit sich auflehnend legt er sein Leben auf die Waage des Zufalls. »Das Bindungslose seines Beginnens benimmt aber auch den Herumgetriebenen der Freiheit, sich Endgültiges in Erfahrungen und Begegnungen bedeuten zu lassen.« (121) Gleichgültig gegen Gefahr, die in sein Beginnen »gar nicht eingebaut ist«, (ebd.) ist »dem Beginnen des Abenteurers die Herausforderung des Geschicks ebenso beiläufig wie es ihm die Gestaltung der Dinge ist«. (122) »Den Abenteurer hält es nirgends«. (120)

2.

Wandlung von Existenz »Wie ferne mag solches ›Ferne‹ sein?« 4 – Seine Ferne, nach der der Abenteurer sich sehnt? (124) »Wenn ich dem Meere hold bin und allem, was Meeres-Art ist, und am holdesten noch, wenn es mir zornig widerspricht: Wenn jene suchende Lust in mir ist, die nach Unentdecktem die Segel treibt, wenn eine Seefahrer-Lust in meiner Lust ist: Wenn je mein Frohlocken rief: ›die Küste schwand – nun fiel mir die letzte Kette ab – – das Grenzenlose braust um mich, weit hinaus glänzt mir Raum und Zeit …‹.« 5

Auch der Abenteurer »sucht eine Erfüllung« (121) – wie der Spieler. »Im Spiel wird eine Erfüllung gesucht.« (119) Das »Leidenschaftliche« Vgl. op. cit.: »Gefahr bedeutet ihm weniger so etwas wie Selbsterfahrung und Bewährung als vielmehr den Repräsentanten des Ungewissen.« 4 F. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Das Hönig-Opfer. Werke in drei Bänden. Zweiter Band, K. Schlechta, C. Hanser Verlag, München 1966, S. 480. 5 Op. cit., Die sieben Siegel, S. 475. 3

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des Spieles (121) ist aber von der »Sehnsucht« verschieden, »die im Abenteurer lebt«. (119) »Das immer wieder erneut ›Leidenschaftliche‹ des Spieles zeigt aber gerade, wie es als Erfüllung genommen und verstanden wird. So daß im Rückblick auch das Unerfüllte unter seiner Perspektive tritt.« (121) Was in der Sehnsucht des Abenteurers als Erfüllung »genommen« bzw. »verstanden« wird, damit im Rückblick auch das Unerfüllte unter seiner Perspektive tritt – wonach er sich sehnt, welche »Sucht« ihn dabei zu treiben vermag – dürfte zutiefst fragwürdig sein. Denn schon sein Beginnen ist »bindungslos«. Das »Unbändige« der Spielsucht zeigt aber gerade, wie man hierin selbst »an etwas verfällt«, (122) von dem man nicht mehr wegkommt. »Sich nach etwas sehnen« bedeutet dagegen: »von sich weg […] zu einem anderen kommen wollen«. (119) Das »Süchtige« jenes Sich-Sehnens-nach, das im Abenteurer lebt, bezieht sich eben nicht auf eine »Lust«, an der der leidenschaftliche Spieler z. B. wohl verfallen mag. Eine »suchende Lust« einzigartigen Ranges lebt im Abenteurer. »Der Spieler, dem das Leben schal geworden ist, der es einfach überdrüssig ist, sucht nur vorübergehendes Vergessen. Die Sicherheit, die er eintauscht gegen eine Unsicherheit, die doch nur die des Zufalls ist, wird von ihm nicht als Abdeckung erkannt.« (121) Er rüstet nicht zum Aufbruch blitzartig aufleuchtender prinzipieller Unsicherheit. Die Unsicherheit, die »nur die des Zufalls ist«, wird als Spannung gesucht. (Ebd.) Die »Herausforderung des Geschicks« soll dem Spieler sein fades Leben zeitweilig vergessen lassen. »Der Spieler sucht eine Spannung, die als Zuständlichkeit wiederholbar ist. Er lebt im Aufs-Spiel-Setzen dessen was er hat und braucht. Und die Spannung von Beglückung und Vernichtung trifft ihn dabei in einer Wirklichkeit, die er gar nicht verlassen hat.« (Ebd.) »Der Spieler bleibt passiv, wenn er sein Glück versucht.« (122) »Es geschieht hier keine Wandlung von Existenz – nur die eine Wand der Sicherheit wird hier niedergerissen,« (121) die eben darin »von ihm nicht als Abdeckung« prinzipieller Unsicherheit erkannt wird. Das Glücksspiel, das lediglich auf die Unsicherheit des »Zufalls« setzt, das Geschick herausfordert, um in den Genuß von einer Spannung zu kommen, die »zwar vorübergeht«, aber »als Zuständlichkeit beliebig wiederholbar ist«, (121–122) hebt den Menschen nur kurzfristig über die Sorgen des Alltags hinweg. »Beim Spiel gewinnt man […] eine private Welt. Das ›Private‹ dieser Welt trifft […] nur deren Abseitigkeit.« (110) Man findet »einen abgeschlossenen Spielraum« bloßer Betätigung« (110, Anm. 1) – z. B. des Roulette im Kasino, der einen am 124 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Wandlung von Existenz

Abend die geistlose Langeweile des Tages vergessen läßt. Die »Oase« des immer wieder versuchten Glücks, in der man, selber passiv bleibend, nur die Würfel rollen läßt, ist ein existentielles Intermezzo. Der Spieler reißt nur die eine Wand der Sicherheit nieder, die »Sorge und Vorsicht« mühsam errichtet haben und krampfhaft aufrecht erhalten möchten. »Der Spieler steht nicht eigentlich in Opposition zu der Welt des Bürgers; er ist nur raffinierter als dieser. Sicherlich – auch er hat ein Gefühl für das Scheinhafte und nur Vorgemachte des bürgerlichen Lebens. Dafür, daß all die Dinge, denen hier nachgegangen wird, gar nicht den Ernst vertragen, mit dem sie behandelt werden. Aber sofern er in diese Welt nur eben eine neue Spannung hineinbringt, damit daß er nur ihre Reizlosigkeit empfindet, verstärkt er gerade die Einrichtung dieses Raumes und erschwert die Abkehr davon.« (122) Sein Leichtsinn sucht lediglich »die Last des Daseins abzusetzen, wie sie als Langeweile und im Überdruß spürbar wird«. (Ebd.) Von einem Aufbruch »im Grunde des Daseins« (120) ist nicht die Rede. Der Leichtsinn des Spielers ist keine Verwegenheit. »Verwegenheit ist etwas anderes.« (122) Das »Leidenschaftliche« des Spiels – daß man »sich selbst darin ersteigert«, »sich darin findet«, daß man sich »vorbehaltlos« dem Spiel hingibt, (118) kann zur »Sucht« entarten. »In der Sucht entgleitet man sich gerade.« (Ebd.) »Daß der Spieler nicht halten kann, bedeutet eine Sucht zu spielen, d. i. nicht loszukommen von dieser ›Leidenschaft‹, der man verfallen ist, wenn man die Spannung des Spiels nur einmal kennengelernt hat.« »Das Süchtige besteht gerade darin, an etwas zu verfallen, was man sich als Reiz verschaffen kann, eine bloße Zuständlichkeit zu genießen, die zwar vorübergehend, aber beliebig wiederholbar ist.« (122) Der Spielsüchtige verfällt dem Erhaschen immer neuer Spannung, die er als bloße Zuständlichkeit genießen möchte. Leichtfüßig zu Beginn, hartnäckig jedoch in der Verfolgung seines Glücks, sucht er der Last des Daseins zu entfliehen. Er »entgleitet sich« (123) darin, dem Glücksspiel zu verfallen, dessen Spannung ihm erlaubt, »sich von ›sich selbst‹ zu lösen«. (122) »Die Suchten z. B. liegen verschieden. Das Spielen z. B. – gerade sofern es als Leidenschaft erscheinen kann – bedeutet doch nicht ein Verkommen – wie z. B. beim Rauschgiftsüchtigen. Dessen Euphorie ein Vergessen ist, dem durch die Zustände, in die er absinkt, eine Unterbrechung gelingt.« (123) Während der Rauschgiftsüchtige in seine Lethargie versinkt, berauscht der vom Spielteufel Besessene sich an der »Spannung von Beglückung und Vernichtung«. (121) 125 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ferne und Fremde

»Nur der Mensch sucht Reize, weil nur für ihn die Zuständlichkeit als solche ein Mittel werden kann, sich von ›sich selbst‹ zu lösen.« (122) »Es gibt keine elementaren ›Triebe‹ des Menschen. Sie sind vielmehr als Deklination seiner unteilbaren Natur zu begreifen.« (Ebd.) D. h. als Deklination des Ich in sich selber. (9, Anm. 1) In sich selbst verhält der Mensch sich je verschieden zu den Zuständen, in die ihn seine Reize versetzen. Sie sind insofern in die Zuständigkeit seines Daseins gebracht, als darin ein Selbstverhältnis des Menschen dekliniert wird, das als solches »unteilbar« ist. In den unterschiedlichen »Wendungen« zeigt sich erst recht, wie er darin je anders auf sich selbst hin beansprucht ist. An der »Beliebigkeit der Wiederholung« z. B. wird spürbar, wie ein Mensch im bloßen Genuß der Spannung, die ihm sein Spiel verschafft, »sich von ›sich selbst‹ zu lösen«, eben darin »vorübergehendes Vergessen« zu üben vermag – wie er die Last des Daseins darin »absetzen« kann. (122) Das Ergebnis seines Glücksspiels hat für ihn eben keine ausschlaggebende Bedeutung. Der Spieler versucht sein Glück bzw. verfällt der Spielsucht, wenn er davon nicht loszukommen vermag. (122) »Nur der Mensch hat die Möglichkeit solcher Unfreiheit; das Tier wird nicht eigentlich ›getrieben‹, wenn es sucht was es braucht.« (Ebd.) Weil es in seinem »Treiben« sich nicht ver-sucht, ist dem Tier daraufhin die Trieberfüllung ebenfalls keine Versuchung, der es etwa als einer »Sucht« selbst verfallen kann. Sein Treiben ist eben in dieser Hinsicht »elementar«, d. h. hier: nicht deklinierbar auf dem Boden eines Selbstverhältnisses, das es sich darin selbst geben würde. Im Rückblick darauf gewinnt die Freiheit des Menschen bestimmtere Züge. »Die Freiheit ist kein zur Anwendung freigegebener Begriff, inbezug auf den nur zu fragen wäre, ›worin‹ Freiheit am Menschen zu finden sei.« (122) Die Vernunftüberlegung im Sinne Kants trifft nicht ohne weiteres schon den Boden des Selbstverhältnisses, das der Mensch sich in seinen Zuständen selbst gibt. Sie ist insofern »abstrakt«, als darin bloß »die Vorstellung, ob man sich einem gegenwärtigen Zustande«, der »das Gefühl einer Lust oder Unlust« hervorruft, »überläßt oder weigert« in den Blick genommen wird. 6 Aber ebenfalls nicht »der Wille«. »Man nennt dann wohl den ›Willen‹, Aber was meint man damit? Wo man sich mit diesem Wort doch zunächst bezieht auf das Angespannte der Einstellung, wenn man etwas als Ziel ins Auge gefaßt, d. i. 6

Vgl. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Reclam, Stuttgart 1983, S. 192.

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Wandlung von Existenz

sich zu etwas entschieden hat. Der Wille bzw. seine Kraft zeigt sich hier in der Aus- und Durchführung von etwas. Neben diesem Sich-auf-etwas-eingestellt-haben steht dann das Verlangen als ein Haben-›wollen‹ ; man ›will‹ aber auch das, was man vom anderen erwartet usw. Man bemerkt, wie in der Richtung, in der all das hierbei an einander verglichen wird, gerade das nicht mit gefaßt werden kann, was – wie die Entscheidung – gerade am Ursprung menschlicher Freiheit steht.« (122, Anm. 1) Weder die angespannte Einstellung auf ein Ziel noch der energische Erwerb des Angezielten treffen im Grunde die spezifische Wendung des »Auf-sich-selbst-hin-beansprucht-werdens« eines Menschen in seinen Zuständen, in der er sich ein Selbstverhältnis gibt, sein Ich in sich selber dekliniert. Die Freiheit des Menschen »ist vielmehr erst aus seinem ganzen Wesen zu begreifen.« (122) Weder die vernünftige Überlegung noch die Willenseinstellung oder der tätige Erwerb des Angestrebten fassen das »Ergreifende« menschlicher Freiheit aus dem »ganzen Wesen« des Menschen. Was »entscheidend« »gerade am Ursprung menschlicher Freiheit steht« (122, Anm. 1) ist eben an erster Stelle: »Versuch«. Daraufhin ist menschliche Existenz ein »Beginnen«, daß sie sich im »Auf-sich-selbst-beansprucht-werden« selber dazu anschickt – was ihr dabei widerfährt, ist niemals »bloßes Geschick«. Wofür gerade das Glücksspiel ein beredtes und untrügliches Zeugnis ist. Nur der Mensch »setzt« was er hat aufs Spiel bzw. lebt »im Aufs-Spiel-Setzen dessen was er hat und braucht« sich aus, (121) indem er eben darin sein Glück versucht, »die Unsicherheit, die doch nur die des Zufalls ist«, (121) als befreiend genießt. »Ebenso wie auch nur von daher, durch den Unterschied seines Wesens vom Tier, die Sinnlichkeit des Menschen als Sinnlichkeit zu bestimmen ist.« (122– 123) Der sinnliche Genuß der Spannung »wirkt« befreiend. Diese Befreiung ist das im Spiel eigentlich »Gesuchte«, was »versucherisch« in der Beliebigkeit der Wiederholung des Glücksspieles »liegt«, eben darin »süchtig« werden kann, wenn man davon nicht loskommt. »Leidenschaften sind Wege menschlicher Existenz, die nur im Blick auf deren Schicksalhaftigkeit zu verstehen sind.« (123) Im »Leidenschaftlichen« des Spieles ersteigert sich der Spieler; er »legt sich darin«. Er erhascht das befreiende Glück, »die Last des Daseins abzusetzen«. (122) Er schickt sich dazu an, in dessen Genuß zu kommen, indem er »auf die Unsicherheit, die nur die des Zufalls ist«, setzt. – Der ihm deshalb auch nie bloßes Geschick ist, den er vielmehr für den einzigen Gewinn, sich von »sich selbst« zu lösen, haftbar macht. Nur im Blick darauf, daß die 127 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ferne und Fremde

Herausforderung des Geschicks dem Spieler ein »Freikommen« von der Last des Daseins bedeutet, ist seine Leidenschaft »verständlich«. »Verwegenheit ist etwas anderes« als das Wagen des Spielers, der sein Glück versucht. (122) »Die Herausforderung des Geschicks ist dem Beginnen des Abenteurers ebenso beiläufig wie es ihm die Gestaltung der Dinge ist.« (Ebd.) Das Beginnen des Abenteurers ist »bindungslos«, (121) während der Spieler, »gerade sofern er nur das was er hat aufs Spiel setzt, dem verhaftet bleibt, was jener hinter sich läßt«. (123) »Beim Spieler liegt schon eine Entstellung, ein Sich-entgleiten vor gegenüber dem Abenteurer. […] Der Spieler verstellt sich, worum er als um die elementare Möglichkeit des Menschen doch irgendwie noch weiß. Er biegt aber aus vor einer rückhaltslosen Begegnung damit. Er verbilligt sich etwas. Solche Verbilligungen sind aber die gewöhnliche Wirklichkeit.« (Ebd.) Der Spieler setzt Hab und Gut aufs Spiel; dem Abenteurer »fällt«, sobald »die Küste schwindet«, »die letzte Kette ab«. »Er entschlägt sich aller Sorge und Vorsicht«, »wenn er sich dem Zufall anvertraut«, (121) der hier nicht länger dafür haftbar gemacht wird, die Last des Daseins abzusetzen, wie sie »als Langeweile und im Überdruß spürbar wird«. (122) Der Abenteurer wirft sich ins Unbekannte, läßt es darauf ankommen«, während der Wurf des Spielers lediglich ein »Versuch« ist, der zwar »beliebig wiederholbar« ist, (122) dem aber das Schlagartige des »Ausbruchs« fehlt. Womit – als mit einer »elementaren Möglichkeit« des Menschen – der Abenteurer eine »schicksalhafte Begegnung« eingeht, die der Spieler – als die »gewöhnliche« Wirklichkeit – »sich verbilligt«, (123) ist »Unwiderrufliches« und »Unwiederbringliches«. Es geschieht eine »Wandlung von Existenz«, wenn »der Abenteurer sein Leben, das untergehen kann, absetzt gegen ein auf den Tod ausgerichtetes Leben, dem es im Sorgen um sich selbst geht.« (121) Sein amor fati ist Entgegnung der Todesgewißheit, von der er sich absetzt, anstatt ihr in äußerster Bedrängnis existentieller »Entschlossenheit« zu begegnen. Die zweite Wand der Sicherheit, die »eigentliche«, »primäre«, »prinzipielle« Unsicherheit bedeutet, wird niedergerissen. Die Schicksalsgefährte des Abenteurers heißt: Untergang. Sie trifft ihn nicht länger »in einer Wirklichkeit, die er gar nicht verlassen hat«. (121) »Für seine Ferne«, nach der er sich sehnt, »steht ihm die Fremde«. (124)

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Der freie Horizont

3.

Der freie Horizont

In seiner Anthropologie versuchte Kant, die Sehnsucht von der Begierde (appetitio) her zu bestimmen: »Das Begehren ohne Kraftanwendung zu Hervorbringung des Objekts ist der Wunsch. Dieser kann auf Gegenstände gerichtet sein, zu deren Herbeischaffung das Subjekt sich selbst unvermögend fühlt, und ist dann ein leerer (müßiger) Wunsch. Der leere Wunsch, die Zeit zwischen dem Begehren und Erwerben des Begehrten vernichten zu können, ist Sehnsucht.« 7 Von diesem Müßiggang, der lediglich einem Gefühl des Unvermögens entspringt, Zeit vernichten zu können, dürfte die Sehnsucht, die im Abenteurer »lebt«, (119) nach H. Lipps doch grundsätzlich verschieden sein. Während der Spieler sich mit dem Glücksspiel die Zeit »vertreibt«, die rückhaltslose Begegnung mit ihr »sich verbilligt«, (123) sofern sich darin etwas Unwiederbringliches und Unwiderrufliches je ereignet – während er in der beliebig wiederholbaren Herausforderung des Geschicks sein Glück versucht um den Preis einer »Vernichtung«, die ihn in einer Wirklichkeit trifft, die er gar nicht verlassen hat –, rückt der Abenteurer in eine »unwiederholbare« (123) Erlebniswirklichkeit vor, die sich mit dem »Ereignis« der Zeit befaßt, die deren vernichtender Kraft inne wird, die ihr ohrenbetäubendes »Brausen« – wie das geheimnisvolle »Glänzen« des Raumes – kennt. Im Angesicht des Todes, des gewissen Todes, auf den das Leben »ausgerichtet« ist, (121) dessen Sicherheit – der Richtung nach – prinzipielle Unsicherheit der Existenz bedeutet, die keinen Widerruf duldet und keine Wiederkunft verstattet, die nicht in einer verläßlichen Wirklichkeit, welche »Vernichtung« gegen »Beglückung« einwechselt, verbilligt werden kann – wird er von einer unstillbaren Sehnsucht ergriffen. »Sein Leben, das untergehen kann« (121) setzt der Abenteurer ab »gegen ein Leben, […] dem es im Sorgen um sich selbst geht«. (Ebd.) Um das »Können« dieses Untergangs geht es ihm, der hier gerade nicht als »Schicksalhaftigkeit« des Todes verstanden werden kann, welche eben »Gegenstand« des Sorgens um sich selbst ist, das ihn »bannend zu umkreisen« und »heraufzubeschwören« versucht. (120) Das eitle »Spiel« vor der letzten Kulisse des Lebens, das das sichere Todesgeschick dafür haftbar zu machen versucht, um sich über die prinzipielle Unsicherheit der Existenz, die gerade im Grunde des Daseins »abgründig« aufbricht, in äußerster Notlage existentieller Be7

Op. cit., S. 192.

129 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ferne und Fremde

drängnis zu ereifern, ist dem Abenteurer abhold. Sein »im Abgründigen Stehen« wird nicht durch das Sein zum Tode geprägt, dem – als einem etwa in der Angst offenbar gewordenen Seinsmodus – in existentieller »Entschlossenheit« begegnet wird, der in ihr »sichergestellt« wird. Seine Verwegenheit wählt nicht die Auswegslosigkeit. Sie kennt keine Angst. Sie sucht keine Todesgefahr, damit sie darin die Selbstsorge bis zur äußersten Bekümmertheit aufheizt. »Fur seine Ferne, nach der er sich sehnt, steht ihm die Fremde«, (124) die »lockt«. (123) »Daß die Fremde, wie sie in Ländern, Landschaften, Völkern ›erlebt‹ wird, lockt, bedeutet z. B. etwas anderes als den Reiz des Neuen.« (123) »Die Begegnung mit dem Fremden bedeutet ein Frei- und Durchbrochenwerden des Horizontes.« (Ebd.) Dem »Haschen nach dem Neuen« (124) als etwas Aufregendem – in der Neugierde z. B. – fehlt die lockende Ferne eines »freien«, d. h. durchbrochenen Horizontes. Kurzatmig sucht die Neugierde »nicht lange vorhaltende, weil abstumpfende ›Befriedigung‹«. (124) Der »Weg zur Erfüllung«, den der Abenteurer in seiner Sehnsucht geht, gibt sich damit nicht zufrieden, die »Langeweile des Gewohnten« (124) gegen das Kurzfristige des aufregend Neuen einzutauschen. Was er sich vorhält, ist lange genug, damit dessen Spitze nicht gebrochen, nicht stumpf werden kann. Die Weile seiner Zeit ist nicht auf kurze Augenblicke befristet. Was das Sehnen des Abenteurers in Atem hält, das gierige Verschlingen augenblicklicher Aufregung auszusetzen, ist eine Lockung, die sich jedem Augenblick entzieht, – die eben darin nicht in den Blick genommen werden kann und insofern aus dem »Gesichtskreis« entschwindet, den die Neugierde gerade im unaufhörlichen Haschen nach Neuigkeiten bannend umkreisen will. Das Unwiederbringliche, Unwiderrufliche des Augenblicks wird dem Abenteurer zum »Torweg« einer »langen Gasse« 8 – in der ihm gerade nichts »Neues« begegnet, das er mit den Augen verschlingen könnte, sondern: »Fremdes«, das jedoch nicht in dem Kreis neuer Gesichter gebannt werden kann und deshalb auch »die Fremde« heißt. Denn es handelt sich hier um einen Horizontbruch bzw. um dessen »Freiwerden« selber. »Wie alle entscheidenden Begegnungen ist das Erlebnis der Tropen z. B. unwiederholbar; man ist leicht enttäuscht, wenn man wieder hinkommt, weil die Wandlung des Horizontes sich nicht wieder vollziehen

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F. Nietzsche, op. cit., Vom Gesicht und Rätsel, S. 408 f.

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Der freie Horizont

kann.« (123) Sie ist einmalig. Was einem darin anwandelt, ist nicht »nur ein Bekanntwerden mit bisher Unbekanntem«, (ebd., Anm. 1) z. B. mit neuen Verhältnissen, »die man bis dahin noch nicht gekannt hat, in bezug auf die man sich umorientieren muß«. (124) »›Neu‹ bedeutet ein sachliches ›fremd‹, aber ein existentielles Verhältnis.« (Ebd.) »Der Ausdruck ›existenzielles Verhalten‹ bezeichnet hier freilich nichts, worin in einer schicksalhaften Wendung des Lebens einen ›Grund‹ aufbricht, aus dem heraus etwas (›hellsichtig‹) entschieden wird, – vielmehr ist es hier gerade das alltägliche Verständnis der Dinge, das – fürs erste freilich verdeckte – ›Motive‹ enthält.« 9 »Auf je einem bestimmte Sinn hin werden die Dinge verstanden. Die Kategorien stehen unter dem Horizont einer bestimmten Auslegung des Daseins selbst.« 10 »Dem Reiz des Neuen erliegt man. Man verlangt, giert nach dem Neuen.« »Man braucht das Neue als stimulans, wenn man satt und überdrüssig ist. Man sucht hier Zerstreuung, sofern man mit sich selbst nichts anfangen kann. Neugierde heißt: sich einmischen, kümmern um etwas, was nicht meine Sache ist, bei dem ich nicht der Berufene bin. Man hascht nach Neuigkeiten als dem Stoff unverbindlicher Beschäftigung, sofern man sich aus ihm wegen seiner offenen Vieldeutigkeit alles mögliche zurecht machen kann. Man überläßt sich hier dem, bei dem man unverweilend von einem zum anderen springt. Dieses Haschen nach dem Neuen ist etwas anderes als das Getriebene des Abenteurers.« (124) – Der »sich ins Unbekannte wirft, es darauf ankommen läßt«, (121) – als seine Sache, bei der er der Berufene ist. Der Abenteurer folgt dem verlockenden Ruf der Fremde, deren Begegnung ihm eine »schicksalhafte Wendung« seines Lebens bedeutet, die »unwiederholbar« den Horizont seines »existenziellen Verhaltens«, der darin enthaltenen »Auslegung seines Daseins selbst« sprengt. Die darum – als »fremd« – kein sachliches »fremd« ist, dem er sich nicht selbst verbindet, sondern vielmehr: »die Fremde«, der er sich unbedingt verbunden weiß, sofern er nur bei und mit ihr »sein« kann, was er ist, d. h. sofern er als Abenteurer nur durch sie »zu sich selbst kommen« kann. (119) Nur die Fremde ermöglicht ihm das »Bindungslose« seines »herumtreibenden« Beginnens, (121) das Hab und Gut hinter sich läßt; (123) sie benimmt ihm aber zugleich »der Freiheit, sich Endgültiges in Erfahrungen und Begegnungen bedeuten zu lassen«. (121) 9 10

H. Lipps, »Die Erlebnisweise der ›Primitiven‹« (1929), in: Werke Bd. V, op. cit., S. 26. Loc.cit.

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Ferne und Fremde

Während die Neugierde wie versprengt wirkt, das unaufhörlich erhaschte Neue ihr aber nur kurze Befriedigung schenkt, ist das bindungslose Herumtreiben des Abenteurers der Fremde unbedingt verbunden, als deren Berufener er sich weiß. Nur sie entzieht ihm die Chance, Frieden im eigenen Herzen zu finden – gewährt ihm aber zugleich das berauschende Glück, eben darin seine »Ankunft« feiern zu können. Die Konturen des erlebten »Horizontbruches«, der in seiner Einmaligkeit eine unwiederholbare »Wandlung von Existenz« bedeutet, die gar nicht in einem existentiellen Verhältnis im gewöhnlichen Sinne eingefangen werden kann, werden schärfer. Die Fremde steht hier nicht etwa für Neues im Verhältnis zu Gewohntem, sondern für Außerordentliches, das schicksalhaft in das Leben hineinragt. »Horizont im üblichen Sinn meint die Grenze des in die Welt eindringenden und den Dingen entgegendrängenden Blickes. Er ist eine Grenze, die dieser Blick nicht als Widerstand irgendwo findet. Denn nur für den freien, nämlich unverstellten Blick kann sich etwas als Horizont zeigen, als die Grenze, bis wohin der Blick in dem Sinn reicht, daß er unter dem Horizont sich die Dinge einräumt. Eine dem Raum immanente, aber keine fest gegebene Grenze ist darin bezeichnet. Die Transzendenz des Daseins wird Erfahrung im Horizont. Das Abgründige unseres Daseins ist darin aufgenommen. Es zeigt sich in der ›Unbestimmtheit‹ des Horizontes, die ein Sich-Offenhalten ist. Denn der Horizont ist keine Grenze in dem Sinn, wie der Gesichtskreis das außerhalb seiner Liegende von demjenigen trennt, was in ihn fällt. Die Erweiterung des Horizontes bedeutet etwas anderes als die Erweiterung des Gesichtskreises eines Menschen. Denn hier gilt es nur von dessen Zufälligkeiten frei zu werden. Die Erweiterung des Horizontes bedeutet aber nicht nur ein Bekanntwerden mit bisher Unbekanntem. Der Mensch selber wandelt sich dabei. Er selbst wird charakterisiert durch die Enge und Weite ›seines‹ Horizontes.« (123, Anm. 1) Der Horizont ist kein Trennstrich zwischen zufällig Sichtbarem und Unsichtbarem bzw. zwischen dem, was in und außerhalb des Gesichtskreises »fällt«. Er steckt nicht etwa das Gesichtsfeld als eine fest gegebene Grenze ab, die der Sehkraft faktisch auferlegt ist und nur durch Eigenbewegung ver-legt werden kann. »Nichts« kommt uns am Horizont entgegen, was daraufhin erlauben würde, einen solchen Trennstrich zu ziehen. Den Horizont gibt es nicht so, wie es eine Grenze des Gesichtsfeldes gibt, an der die Sehkraft Widerstand »findet«, wo ihr das Eindringen und Entgegendrängen untersagt ist. Undurchdring132 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Der freie Horizont

liches und Unaufschiebbares »markieren« die Grenze des Gesichtsfeldes, die nicht nur eine dem Raum immanente, sondern eine durch dessen Besetzung unterstrichene ist. Nur für den freien, d. h. un-verstellten Blick kann sich etwas als Horizont zeigen; ihm ist nichts entgegengestellt, was als »Widerständiges« daraufhin auch im Raum »gefunden«, d. h. lokalisiert werden kann. Widerstandslos »weicht« der Horizont zurück, gibt dem Eindringen und Entgegendrängen nach; was unter ihm eingeräumt wird, hat nicht den bestimmten »Stellenwert«, an dem das Sehen sich ermißt, sondern ist unbestimmt-offen. Der Horizont »stellt« nicht den Blick, dessen In-den-Raum-Hineindrängen in dieser Hinsicht »frei« ist, d. h. nicht durch das Gesehene selbst beansprucht bzw. beschnitten wird. Daß im Horizont die Transzendenz des Daseins »Erfahrung« wird, das Abgründige unseres Daseins »darin aufgenommen« ist, hat einen spezifischen Sinn. Das Perashafte der Entscheidung, was in und außerhalb des Gesichtsfeldes »tritt«, bezieht sich auf eine der Sehkraft äußerlich auferlegte Grenze, die zwar verlegt, die aber nicht als solche aufgehoben werden kann. Eine derartige »Grenze« liegt jedoch nicht etwa auch dem Horizont zugrunde, dem die Weichen nicht »perashaft« »gestellt« sind, der vielmehr »unbestimmt-offen« ist. Das »Durchbrochenbzw. Freiwerden« des Horizontes (123) ist nicht in dem Sinne eine »Erweiterung« wie das Verschieben einer Scheidewand, das sich im Raume vollzieht. Daß der Horizont »in die Weite zieht«, drückt nur aus, wie die unbestimmte Offenheit wächst, der im Raum kein bestimmter Stellenwert beigemessen werden kann, an dem die Sehkraft sich selbst ermißt. Was im »Horizontbruch« fällig wird ist nicht dasjenige, was in den Gesichtskreis tritt, »von dessen Zufälligkeiten« es in seiner Erweiterung »frei zu werden gilt«. (123, Anm. 1) Es ist nichts Perashaftes, worüber man in einer Entscheidung »verfügt«. Daß im Horizont die Transzendenz des Daseins »Erfahrung« wird, das Abgründige unseres Daseins darin »aufgenommen« ist, (ebd.) deutet nicht auf ein »existenzielles Verhältnis« hin, das gerade hier transzendiert wird. Im Horizont ist das Abgründige unseres Daseins als ein Apeiron aufgenommen, das gerade kein »Unsichtbares« ist, welches sichtbar »gemacht« werden könnte. Was als Transzendenz des Daseins im Horizont »Erfahrung« wird, ist ein prinzipiell Unsichtbares, dessen »Freiwerden« kein »Freiwerden von Zufälligkeiten« bedeutet. Der freie Horizont ist nicht etwas, worüber Existenz in ihrem Verhalten verfügt. Indem »den Abenteurer es nirgends hält«, (120) besteht er gerade auf dem freien Horizont. 133 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ferne und Fremde

Angesichts der Ordnung des Sichtbarmachens in der Eigenbewegung ist letzterer ein Außerordentliches – worauf eben der Abenteurer »es ankommen läßt«, indem er sich der Verlockung hingibt. Dem Abenteurer ist Sicherheit zwar »beengende Grenze«, (124) die Weite des freien Horizontes jedoch nicht bloß »Unsicheres« – wie die Reiselust etwa die Unsicherheit der Weite als Aufregung genießt, »neue Gesichter« zu entdecken, um darin von der »Langeweile des Gewohnten« freizukommen. Nicht Ungewöhnliches, sondern Außergewöhnliches bedeutet ihm »die Fremde«. Sie zeigt ihm keine wechselnden Gesichter; sie ist ihm vielmehr »Rätsel«. Sie zeigt »das Gesicht des Einsamsten«. 11 »Und nun frißt ein Durst an mir, eine Sehnsucht, die nimmer stille wird.« 12

4.

Schattierungen des Ungewissen

»Man möchte etwas erhaschen von dem, wohinein der Abenteurer vorstößt«, (124) vom dem Schauer, der ihm dabei über den Rücken rieselt. Z. B. »man sucht den Kitzel der Gefahr und genießt diese Zuständlichkeit einer spielhaften Spannung, die es nicht ernst werden läßt.« (Ebd.) Auch im Zirkus sucht man, dessen Schauer nahezukommen – »soweit er einen in der nie verlassenen Sicherheit seiner selbst, auf die der Zuschauer reflektiert, nur ›überläuft‹«. (Ebd.) »Das ausgeklügelte Raffinement dieser Waghalsigkeit fällt auf«, (ebd.) die den Zuschauer besticht. »Auch das Gruseln streift so nur eben das Grauen.« (Ebd.) »Grauen ist abgedrungenes Haltmachen.« (Ebd.) Vor »Dunkelheit« – aber auch »vor menschlicher Verworfenheit« z. B. (124) graut es einen; »man begegnet in der Verworfenheit menschlichen Möglichkeiten, an die man nie geglaubt hätte. Undurchdringliche Dunkelheit scheint das Sehen als eine bei mir stehende Möglichkeit in Frage zu stellen.« (Ebd.) »Grauen ist ein vom Abgründigen-fixiert-sein und Flucht in den Wechsel von Ausdeutungen; Phantasie dichtet aus, wo Leere und Dunkel kein Maß geben können.« (Ebd.) »Von daher begründet sich auch das Raffinement, das zur Grausamkeit gehört, die nichts so Einfach-Natürliches ist wie stumpfe Brutalität.« (124–125) Etwas anderes ist das Staunen,

11 12

F. Nietzsche, op. cit., Vom Gesicht und Rätsel, S. 406. Ebd., S. 410.

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Der freie Horizont

das »den Atem verschlägt«. »Als elementar bekundet sich darin etwas, was nicht begreifend beiseite zu bringen ist: man wird zum Schweigen gebracht.« (Ebd., Anm. 1) »Das Gruseln kann man aber lernen wollen. Man verfügt hier spielerisch über Rückzugsmöglichkeiten, sagt sich vor, daß es eigentlich nichts ist. Im Gruseln durchkostet man nur das Grauen«, (125) das deshalb kein »blankes« Entsetzen ist. »Sensationslust, Gruseln, aber auch schon das Spiel – die Verbiegung liegt hier überall darin, daß man sich etwas nehmen will.« (125) Kitzel der Gefahr, ausgeklügelte Waghalsigkeiten, Gruseln, das mit dem Grausamen kokettiert – all das stellt doch nur den Schauer des Abenteurers nach, ohne ihn in diesen Schattierungen des Ungewissen einzufangen. Herausgekehrt werden Rückendeckungen im spielerischen Umgang mit Risikos, die man eingeht. Die Rückhaltslosigkeit, mit der der Abenteurer sich der Begegnung mit der Fremde aussetzt, verspottet solche »Rückzugsmöglichkeiten«, auf die man kleinlich setzt. Das Abenteuer ist kein Spiel mit Risikos, aus denen man sich rechtzeitig herausziehen kann. »Etwas zu berufen ist als abergläubisch, aber nicht als sich vermessender Frevel verpönt. Aberglaube weiß sich als Aberglaube.« (125) »Der Frevler hat etwas berufen. Was man beruft, kommt ›über‹ einen.« (42) Im Frevel »vermißt man sich in bezug auf die dem Menschen gezogenen Grenzen, wenn man daran rührt«. (Ebd.) »Man täuscht sich darüber, daß man dessen, was man tut, darum nicht auch schon mächtig ist.« (Ebd.) »›Nicht mächtig‹ meint, […] daß etwas überhaupt nicht bei mir steht«; »die Nichtmächtigkeit zeigt sich im Fortgang: denn nicht ein Erfolg des Frevels bringt die Nemesis. Als ein eitles Beginnen zeigt er sich. Der Frevler verfällt dem, woran er rührte.« (Ebd.) »Aberglaube ist superstitio«, (125) aber keine Vermessenheit. »Der Abergläubische respektiert Grenzen, die er irgendwie ›will‹ ; er spielt an was dahinter ist.« (Ebd.) Aberglaube täuscht sich nicht darüber, daß man dessen, was man tut, darum nicht auch schon mächtig ist. »Es gibt ein Verlocktwerden zum Aberglauben bzw. einen spielerischen Kitzel in der abergläubischen Scheu.« (125) Aberglaube ist aber kein »eitles Beginnen«, dessen Überheblichkeit die Nemesis nach sich zieht. Während der Frevler »etwas berufen hat«, (42) nimmt der Abergläubische sich von diesem Perfekt zurück. Er macht nur eine Anspielung auf etwas, was er nicht »berufen haben« möchte in dem Sinne, daß es »über ihn kommen« würde. »Weniger auf den Mangel an Aufklärung als auf diese Entstellung bezieht sich der Vorwurf des Aberglaubens«, (125) 135 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Ferne und Fremde

das Berufen von etwas nicht ernst werden zu lassen. Es gibt einen spielerischen Unernst im Aberglauben, nicht aber, wie im Frevel, eine sich verfangende Eitelkeit. »Spielerischer Unernst drückt sich aus in der Willentlichkeit, sich nicht über sein besseres Wissen hinwegzusetzen, sondern einen Glauben, dessen tragender Grund verloren ist, auf praktisches Rechnen abzusetzen.« (125) Der Verlust des Bodens seines Glaubens ist dem Abergläubigen nicht Anlaß zum Unglauben, sondern zu einem herantastenden Rechnen damit, »daß vielleicht doch …«. »Der Abergläubische will z. B. zu dem Mißlingen von etwas hinterher in irgend etwas Gleichgültigem die nicht erkannte Warnung entdecken. Vorbereitungen zu etwas werden etwa hinausgeschoben, um nicht durch eine den Tatsachen vorauseilende und zur Schau getragene Sicherheit das Schicksal herauszufordern. Durch das An-den-Tisch-klopfen salviert man sich.« (125) Die salvatio ist nicht die des Pedanten, der »Verantwortung abzuschieben sucht, wenn er sich an Vorschriften und Schablonen hält«, darin »der Angst ausbiegt«. (110) Der Abergläubische sucht dem Ernstfall, »über sein besseres Wissen hinweg« an etwas gerührt zu haben, was ihn daraufhin vielleicht als Schicksal ereilen könnte, vorzubeugen. Es könnte vielleicht das Schicksal vor der Tür stehen und anklopfen. Es ist ein Aber dabei, wenn er abklopft. Er biegt nicht der Angst, sondern dem unbedenklichen Glauben-Schenken aus, wenn er sich an Superstitionen hält. »Herausfordernder Aberwitz, der etwas zum Vorzeichen nimmt, kann aber z. B. gerade Ausdruck einer in sich gefundenen Sicherheit sein, wie man dem Prekären einer Lage zum Trotz selbst über deren Schlüssel verfügt, – wenn es nur mutiger Entschlossenheit gelingt, die Umstände auf seine Seite zu bringen.« (125, Anm. 1) Die wahnwitzige Haltung des superators ist nicht die kalkülierende des superstes. »Im Aberglauben fällt hier gleichsam nach außen eine Haltung der Art wie: ›Mich trifft keine Kugel‹. Und dies meint, es gibt keine bloßen Zufälle mehr für den, dessen Los schon in ihm selbst gefallen ist. Der Geschick als sein Schicksal versteht. Der von daher weiß, wie alle Vorsicht zu kurz trägt.« (Ebd.) Wahnwitz ist unverfroren. Das Herz des Abenteurers wandert jedoch sehnlich in die Ferne. »Und was mir nun auch noch als Schicksal und Erlebnis komme – ein Wandern wird darin sein […]: man erlebt endlich nur noch sich selber. Die Zeit ist abgeflossen, wo mir noch Zufälle begegnen durften; und was könnte jetzt noch zu mir fallen, was nicht schon mein Eigen wäre! 136 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Der freie Horizont

Es kehrt nur zurück, es kommt mir endlich heim – mein eigen Selbst, und was von ihm lange in der Fremde war und zerstreut unter alle Dinge und Zufälle.« 13

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F. Nietzsche, op. cit., Der Wanderer, S. 403.

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Das Gespann der Intention. Der Haß

»… es ist Haß, dessen man hier bei sich inne wird – als einer Intention, in der man lebt […]« »Haß ist nichts qualitativ Letztes, sondern eine Intention, in die sich – in einem typischen Gang der Selbst-Interpretation – das Verschiedenste hinein zuspitzt.« (S. 130)

1.

Gerichtetheit und Gedanke

Während »im Spiel eine Erfüllung gesucht wird« (119) und auch »der Abenteurer eine Erfüllung sucht« (121) – seiner Sehnsucht, die »in die Ferne seiner selbst ausgreift« (119) – ist Haß »eine Intention, in der man lebt« (130) – der man »bei sich inne wird«. »Das immer wieder erneut ›Leidenschaftliche‹ des Spieles zeigt […] gerade, wie es als Erfüllung genommen und verstanden wird«. (121) »Die Spannung von Beglückung und Vernichtung« (121), in der der Spieler »lebt«, ist »ein Mittel, sich von ›sich selbst‹ zu lösen, d. i. die Last des Daseins abzusetzen, wie sie als Langeweile und im Überdruß spürbar wird«. (122) »Das Getriebene des Abenteurers«, »dessen Weg zur Erfüllung« (124) ist etwas anderes: Er sehnt sich »nach seiner Ferne, für die [ihm] die Fremde steht«. (124) Es geschieht hier »eine Wandlung von Existenz« (121): »die Begegung mit dem Fremden bedeutet ein Frei- und Durchbrochenwerden des Horizontes« (123) – seines Horizontes; denn »der Mensch selber wandelt sich dabei« (123 Anm. 1), »indem er zum Elementaren, d. i. aus sich heraus kommt«. Das Bei-sich-Innewerden des Hasses als einer »Intention, in der man lebt«, ist vom »Suchen einer Erfüllung«, in dem das »Leidenschaftliche« des Spieles bzw. das »Süchtige« des »SichSehnens-nach« jeweils andere »Wege menschlicher Existenz« anbahnen, verschieden. »Haß ist nichts qualitativ Letztes.« (130) Wenn »das 138 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Gerichtetheit und Gedanke

Bindungslose seines Beginnens« den Herumgetriebenen zwar »der Freiheit benimmt, sich Endgültiges in Erfahrungen und Begegnungen bedeuten zu lassen«, (121) so ist »seine Ferne, für die [ihm] die Fremde steht« (124) immerhin »rätselhaft«. Der Spieler hingegen, »dem das Leben schal geworden, der es einfach überdrüssig ist, sucht nur vorübergehendes Vergessen«. (121) »Die Spannung von Beglückung und Vernichtung trifft ihn dabei in einer Wirklichkeit, die er gar nicht verlassen hat.« (121) Das Spiel ist ein existentielles Intermezzo, das »sich etwas verbilligt«. (123) Was sich »in einem typischen Gang der SelbstInterpretation« jedoch in die Intention des Hasses »hinein zuspitzt«, (130) ist weder »rätselhaft« anziehendes Treiben noch billiger Vertrieb. »Die Wurzeln sind verschieden, von denen der Haß sich nährt, die für seine Stärke und Dauer bestimmend sind.« (129) Wenn »Leidenschaften Wege menschlicher Existenz sind, die nur im Blick auf deren Schicksalhaftigkeit zu verstehen sind«, (123) so ist »der typische Gang der Selbst-Interpretation«, der »die Intention« des Hasses auf die Spitze treibt, nicht im vorweg schon durch diese Blickrichtung geprägt. »Es gibt leidenschaftlichen Haß. Aber der Haß ist nicht als solcher schon Leidenschaft.« (126) »Angesichts der offensichtlichen Niedrigkeit des Hasses eines anderen kann man an sich selbst in ›seinem‹ Haß beinahe irre werden.« (130) Es gibt aber auch »hellsichtig aggressiven Haß«. (129) Haß sucht nicht »von sich […] weg zu einem anderen kommen [zu] wollen« – wie die Sehnsucht. (119) Er sucht ebenfalls nicht – wie der Spieler – »eine Spannung, die als Zuständlichkeit wiederholbar ist«. (121) Das »Gespann« der Intention, in der man lebt, wenn man des Hasses »hier bei sich inne wird«, (130) ist kein Sehnen danach, »aus sich heraus zu kommen«; (120) es wird ebenfalls keine »neue Spannung in diese Welt hineingebracht«, um »sich von ›sich selbst‹ zu lösen«. (122) Das »hier bei sich« des Innewerdens, das »verschieden tingiert sein [mag]«, (129) enthüllt das Leben in der Intention des Hasses, »in die sich das Verschiedenste hinein zuspitzt«, (130) als eine »Ersteigerung« seiner selbst, in der man »sich als unbedingt erfaßt – so wie in seiner Überzeugung«. (118) »Sofern einen der Haß erfüllt, man sich selbst darin ersteigert, sich darin findet, ist es leidenschaftlicher Haß.« (118) Haß sucht aber keine Erfüllung – »ist nicht als solcher schon Leidenschaft«, (126) deren Ersteigerung eine »Ausfüllung« bedeutete – »so als ob neben ihm nichts anders sein könnte«. (118) »Das Spiel gilt als Leidenschaft«, (119) von der man »nicht loskommt, […] der man verfällt wenn man die Span139 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Das Gespann der Intention

nung des Spiels nur einmal kennengelernt hat«. (122) Was in die Intention des Hasses hinein sich zuspitzt, gehört in »einen typischen Gang der Selbst-Interpretation« dessen hinein, was einen dabei erfaßt. Das »hier bei sich« des Innewerdens, in dem die Intention des Hasses auf die Spitze getrieben wird, tritt »der Ferne seiner selbst« einer Sehnsucht gegenüber, welche von sich weg – »unbedingt« – zu einem anderen kommen will. (119) In der Sehnsucht erfaßt man nicht etwa sich selbst, sondern gerade die Ferne seiner selbst als unbedingt. Sehnsucht bedeutet ein »Verlocktwerden« (120) bzw. ein »der Versuchung Unterliegen«. (121) Daß man »an sich selbst ›in seinem Haß‹ beinahe irre werden kann« (130) bedeutet keine Irrfahrt eines Herumgetriebenen, dem es nicht gelingt, »sich Endgültiges in Erfahrungen und Begegnungen bedeuten zu lassen«. (121) An sich selbst in ›seinem‹ Haß wird man beinahe irre – wie man sich selbst darin als »unbedingt« erfaßt: wie angesichts der »offensichtlichen Niedrigkeit des Hasses eines anderen« (130) die Fülle ›seines‹ Hasses sich ins Maßlose übersteigert. Die Sehnsucht entspringt einer »Unerfülltheit seiner Selbst«, die als unbedingt erfaßt wird. Leidenschaftlicher Haß – »sofern einen der Haß erfüllt«, (118) »man sich als unbedingt darin erfaßt«, (118) macht einen an sich selbst »in ›seinem‹ Haß« (130) irre. »Man stellt den Haß zu Antipathie, Verachtung usw. und seine Stelle in dieser Reihe scheint ihm durch den Gegensatz zur Liebe bestimmt zu sein. Das Gegenteil der Liebe ist aber nicht Haß, sondern Lieblosigkeit.« (126) In der Reihe der sogen. »Gefühle«, der »Mitgefühle«, der moralischen Gefühle – denn »ebenso wie die Achtung ist die Verachtung ein moralisches Gefühl« (127) – möchte die Liebe an führender Stelle stehen. Dennoch: »ist in der Liebe Sehnsucht verborgen. 1 Die Liebe ist kein Habenwollen. Bzw. der Besitz des Geliebten ist nur eine Bedingung der Erfüllung der Liebe.« (126, Anm. 1) Bereits die Eifersucht, die die Einzigartigkeit des Liebesverhältnisses »als Ausschließlichkeit verstehen möchte«, »verriet darin schon den Geliebten«. (117) Liebende »können einfach voreinander ›da‹ sein.« (36) Daß in der Liebe »Sehnsucht verborgen ist«, (126, Anm. 1) bedeutet, daß man »nur bei und mit« dem Geliebten »›sein‹ kann was man ist«. (119) Bereits M. Schelers »Phänomenologie von Liebe und Haß« unterscheidet Liebe und Haß als »Gemütsbewegungen« von den »Gefühlen, Affekten« und insbes. vom »Mitfühlen« – vgl. M. Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, F. Cohen, Bonn 1926, S. 165 f. sowie S. 169.

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Gerichtetheit und Gedanke

Man beansprucht den Anderen nicht etwa nur in etwas, dem als Bedingung »entsprochen« werden soll. (119) In der »Besitzergreifung« des Geliebten erfüllt die Liebe sich nicht. Als Sehnsucht ist sie »unbedingt«. (119) Das »Einfach-voreinander-Dasein« der Geliebten ist jedoch nicht etwa »selbstlos«. »Selbstlos bzw. egoistisch ist man […] bei etwas. Sofern man nämlich an sich dabei denkt oder hin- und rücksichtlich der anderen etwas tut.« (126, Anm. 1) Als Sehnsucht ist die Liebe nicht »rücksichtsvoll« in gewisser Hinsicht – hinsichtlich dessen, was der Geliebte »will«. Das »Einfach-voreinander-Dasein« der Liebenden ist »fraglos«: die Liebe hinterfragt den Anderen nicht. »Das Gegenteil der Liebe ist aber nicht Haß, sondern Lieblosigkeit.« (126) Daß Liebe in Haß »umschlagen« kann, darin bekundet sich kein gegenteiliges Verhältnis, d. h. ein Gegenstoß gegen die einzigartige »Beteiligung« an der Liebesbeziehung. Was »ins Gegenteil« umschlagen kann ist die Fraglosigkeit des »Liebhabens«, das eben »kein Habenwollen« ist. (126) »Lieblosigkeit« ist insofern das Gegenteil der Liebe als die in ihr verborgene Sehnsucht hieraus gewichen ist: »man kann« nicht mehr »bei und mit« dem Geliebten »›sein‹ was man ist«. (119) Man ist »bei etwas«, bei dem man »an sich denkt« bzw. worauf man im Hinblick auf den Anderen »Rücksicht nimmt«. Das »Umschlagen« der Liebe in Haß ist dagegen ein »Umsetzen« ihrer Sehnsucht, die »unbedingt« ist. »Leidenschaftlicher Haß«, der »vernünftigen Erwägungen unzugänglich ist«, bedeutet, »daß man sich als unbedingt darin erfaßt – so wie in seiner Überzeugung«. (118) »Leidenschaftlich ist vorbehaltlos.« (Ebd.) »Glühender Haß« (130) und glühende Liebe sind unabdingbar. Lediglich in ihrem Umsatz – der Blindheit gegenüber Bedingungen – treffen Haß und Liebe sich. Diese liegen aber im Haß und Liebe jeweils anders. 2 »Die Gerichtetheit und daß er Gedanke ist, unterscheidet […] den Haß von der Antipathie.« (126) »Denn daß man diese jemand entgegenbringt, meint nur, daß sie ihren Grund in mir hat.« (Ebd.) »Sympathischsein ist ein Angetanwerden von … Der Eindruck, den einer auf mich macht, wie einer auf mich wirkt, ist sympathisch. Und Antipathie bedeutet ein Abgestoßenwerden. Sympathie und Antipathie sind Weisen des Aufeinander-Gestimmtseins.« (Ebd.) »Antipathie gegen jemand läßt ihn meiden. Man hält sich zurück. Schon der Gedanke an den anderen irritiert. Man wird einer spezifischen Schutzlosigkeit inne gegenZur jeweils spezifischen »Blindheit« von Liebe und Haß vgl. die phänomenologischen Ausführungen weiter unten.

2

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Das Gespann der Intention

über einem ›solchen‹ Menschen. Auch im Gespräch sucht man auszuweichen, wenn die Rede auf ihn kommt.« (Ebd.) Antipathie »zielt« nicht auf den Anderen. Schon »eine bestimmte Weise des Seins bei« (99) dem Anderen möchte sie zurückdrängen. »Schon im unausdrückbaren ersten Eindruck wirkt ein Mensch auf einem andern sympathisch oder unsympathisch. Er übt eine Anziehung oder eine Abstoßung aus. Die Abneigung bedingt so, daß ich mich von dem betreffenden Menschen fernhalte, ihn zu vermeiden suche. Selbst in meinen Gedanken vermeide ich es, mich mit einem unsympathischen Menschen zu beschäftigen.« 3 »Ganz anders aber ist der Haß.« (Ebd.) »Im Haß richtet man sich aber gerade auf den anderen.« (126) »Man verfolgt ihn geradezu in Gedanken und kann nicht loskommen. Antipathie kann z. B. umschlagen in Haß. Nämlich dann, wenn man durch Umstände und Lebensverhältnisse gezwungen ist, in der Nähe des anderen auszuhalten. Notgedrungen beschäftigt man sich dann mit ihm.« (Ebd.) Nach F. Kluges Etymologischem Wörterbuch der deutschen Sprache hat das althochdeutsche Wort: hazzên, hazzôn die Bedeutung: »verfolgen« – das altsächsische hâton bedeutet: »nachstellen«. 4 Auf diese Grundbedeutung weist namentlich auch O. F. Bollnow hin. 5 Daß Antipathie in Haß umschlägt, bedeutet nicht nur, daß sie »hier aufgenommen wird« (ebd.) – man sich selbst darin legt – während das »Gestimmtsein« zwar »aus mir kommt«, aber »ohne daß ich ›selbst‹ darin wäre, wie in Trauer oder Freude, oder wie sich meine Natur in meinen Neigungen zeigt«. (98) »Als Gedanke wird hier die Antipathie aufgenommen« (126) – und nicht als eine »Abneigung« bzw. als ein »Abgestoßenwerden«, das seiner Richtung nach »umgebogen« wird: »Umschlag« bedeutet hier etwas anderes als eine »Biegung« des Meidens in der Drehbewegung eines gezwungenen »Ausharrens bei«. »Haß verantwortet [Antipathie]. Man sucht es sich zu beweisen, daß der andere hassenswert ist.« (126) Das »Gestimmtsein« kippt in »einem Sinnen und Denken« aus: »Haß ist […] ein Sinnen und Denken«. (127) »Haß will gerecht sein. Er genießt und durchkostet die Dummheit, die ihn bestätigt. Haß steigert sich so. Und man placiert sich darin.« (126) O. F. Bollnow, Einfache Sittlichkeit, in: ders., Schriften. Studienausgabe in 12 Bänden. Hrsg. von U. Boelhauve, G. Kühne-Bertram, H.-U. Lessing und F. Rodi. Bd. III, Königshausen & Neumann, Würzburg 2009, S. 78. 4 K. J. Trübner, Straßburg 1894, S. 157. 5 O. F. Bollnow, op. cit., S. 79. 3

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Gerichtetheit und Gedanke

Angesichts der eigentümlichen Gerichtetheit emotionaler »Akte« wie Liebe und Haß weist M. Scheler einerseits daraufhin, daß sie im Wechsel der Gefühlszustände »wie ruhige, feste Strahlen auf ihrem Gegenstande verharren«, 6 lenkt aber andererseits die Aufmerksamkeit auf den Tatbestand, daß »Liebe und Haß eben notwendig auf einen individuellen Kern der Dinge, einen Wertkern – wenn ich so sagen darf – gehen, der sich nie in beurteilbare Werte, ja nicht einmal in gesondert fühlbare vollständig auflösen läßt«. 7 »Sie sind ganz ursprüngliche und unmittelbare Weisen des emotionalen Verhaltens zum Wertgehalt selbst, so daß nicht einmal eine Funktion des Aufnehmens des Wertes (z. B. des Fühlens, Vorziehens) dabei phänomenologisch gegeben ist; am wenigsten aber eine Wert-Beurteilung.« 8 »Nichts bezeugt diesen Tatbestand so sehr, als die ungemeine Hilflosigkeit, in die wir Menschen geraten sehen, wenn man die Forderung an sie stellt, ihre Liebe und ihren Haß zu ›begründen‹. Gerade da zeigt sich, wie diese ›Gründe‹ immer erst nachträglich gesucht werden und wie sie in ihrer Gesamtheit nie Art und Maß genau dessen decken, was da ›begründet‹ werden soll.« 9 Es fragt sich aber, ob eine solche »aktintentionale« Beschreibung emotionaler Phänomene wie Liebe und Haß – aus H. Lipps’ Sicht – so ohne weiteres zutrifft, d. h. ob sie das Gespann der Intention, in der man lebt, wenn man »des Hasses hier bei sich inne wird«, schon in seinem innersten Kern erfaßt. Das »Verharren« »ruhiger, fester Strahlen« auf einem Gegenstande, der einen »Wertkern« darstellt, dessen »unmittelbar« oder »ursprünglich« erschlossener »Gehalt« phänomenologisch weder durch eine Funktion des Aufnehmens »gegeben« ist, noch einer »Beurteilung« entstammt – dessen »Begründung« immer nur nachträglich erfolgt und sich mit den inneren Gründen, aus denen er schöpft, keineswegs »deckt« – trifft vielleicht noch nicht voll auf das »Richten« des Hasses, das »Gerichtetheit und Gedanke«, »Sinnen und Denken« in einem ist. Das »Zielen« des Hasses ist nämlich nicht ohne weiteres ein Verharren ruhiger, fester Strahlen auf einem Gegenstand – sondern durchaus ein »Verfolgen« und »Nachstellen«. Dem entspricht auch kein unmittelbar und ursprünglich erschlossener gehaltvoller Wertkern. Das 6 7 8 9

M. Scheler, op. cit., S. 169. M. Scheler, op. cit., S. 172. M. Scheler, op. cit., S. 171. M. Scheler, op. cit., S. 171–172.

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Das Gespann der Intention

Verfolgen und Nachstellen ist vielmehr ein »Sinnen auf« in Gedanken, ohne allerdings loszukommen. (126) »Der Haß verbeißt sich gerade in seinen Gegenstand.« (127) Haß »brütet«. »Haß verzehrt, man gibt sich darin aus. Sofern er nämlich – oft wahnhaft – alles in seinen Kreis zu ziehen suchen kann. Die größte Kraft sammelt sich darin.« (126–127) Während »Antipathie Zugänge sperrt«, »verblendet Haß geradezu«. (127) »Antipathie hindert einen an etwas, man sucht sie zu überwinden oder wenigstens sich darüber hinwegzusetzen. Sicherlich – ›man kann nichts gegen seine Natur‹. Das bedeutet hier aber lediglich, daß die Antipathie eine Affektion ist. […] Jemandes Haß trägt im Unterschied zur Antipathie, die jemandes Natur charakterisiert, schon das Gepräge seines Geistes.« (127) Daß Liebe eine Bewegung ist, »in der jeder konkrete individuelle Gegenstand, der Werte trägt, zu den für ihn und nach seiner idealen Bestimmung möglichen höchsten Werten gelangt; oder in der er sein ideales Wertwesen, das ihm eigentümlich ist, erreicht; Haß aber die entgegengesetzte Bewegung ist« 10, die »mit einem positiven Hinblicken auf den möglichen niedrigeren Wert verknüpft ist« 11, darin prägt sich für Scheler der jeweils »schöpferische« oder »vernichtende« Charakter dieser emotionalen Akte aus. Erneut muß danach gefragt werden, ob das Bild einer aufwärts oder abwärts führenden Steigerungsleiter – auch wenn es sich dabei im Grunde um eine der Bewegung selbst immanente Entfaltung eines eben darin erfaßten Wertgehaltes handelt – uns schon ein treffende Beschreibung an die Hand gibt. Wie schon das Verharren fester, ruhiger Strahlen doch nur für den »hellsichtigen«, »scharf zupackenden« Haß, nicht aber für einen »verbohrten«, »ätzend fressenden« Haß einigermaßen zutreffen mag, (129–130) verstellt die »mit einem positiven Hinblicken auf den möglichen niedrigeren Wert verknüpfte Bewegung« des Hasses wiederum den Tatbestand, daß Haß »weniger sieht als daß er, sich ein- und nachdrängend, die Dinge verzerrt«. (128) Wie »in der Liebe Sehnsucht verborgen ist«, (126, Anm. 1) so »sinnt der Haß auf Nichtung«. (128–129) Liebe schmachtet und seufzt; Haß brütet und zehrt. Was einer unbefangenen Beschreibung in den Weg tritt ist die von Scheler vertretene Ansicht, nach der »wir in den Akten von Liebe und Haß solche Akte sehen, die wesensgesetzlich überhaupt […] durch Werte auf Gegenstände gehen«, und zwar 10 11

M. Scheler, op. cit., S. 187. M. Scheler, op. cit., S. 176.

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Gerichtetheit und Gedanke

»in einer intentionalen Bewegung«, in der sich – im Falle der Liebe – »von einem gegebenen Werte A eines Gegenstandes her die Erscheinung seines höheren Wertes realisiert«. 12 Auch wenn die »intentionale Bewegung« nach Scheler bedeutet, daß zu dem »›als real‹ bereits gegebenen Werte« etwas hinzutritt, was als »noch mögliche ›höhere‹ Werte« keineswegs auch schon »als positive Qualitäten gegeben« – was vielmehr lediglich »als mögliche ›Fundamente‹ einer Ganzheits- und Gestaltstruktur mitintendiert« ist – 13, so bleibt immer noch die Frage, welcher Herkunft die »integrative« Ganzheits- bzw. Gestaltstruktur der betreffenden »Wertgegenstände« 14 sei. Was Haß sinnend »in seinen Kreis ziehen« will, was Sinnen und Trachten der Liebe hegt: an ihn kann man nicht durch eine »intentionale Bewegung« herankommen wollen, die »durch Werte auf Gegenstände geht«, an diesen »die Erscheinung niederer oder höherer Werte realisiert«, die zwar nicht »real gegeben«, dennoch als »mögliche Fundamente einer Ganzheitsstruktur« »mitintendiert« sind. Der »Zerrspiegel« des Hasses zeigt ebensowenig wie der verschonende »Minnedienst« Schattierungen von »Wertgegenständen« auf der Skala vom höheren zum niederen (und umgekehrt) im Ausgang von einem »als real bereits gegebenen« Wert. 15 Die wahnhafte »Verblendung« des nachstellenden Hasses sucht vielmehr – anders als das verschonende »Übersehen« des Minnedienstes, »der etwas für nichts achtet« –, (128) das Verschiedenste in ihren eigentümlichen Kreis zu ziehen. Was sich in jeweils unterschiedlicher Art und Weise im »Gang der Selbst-Interpretation« oder in »hingebender Bewegtheit« verdichtet, in »nicht loskommenden Gedanken«, (127) die »nach Gründen für … spähen« (129) bzw. in einem »Sehen lehren«, das »Einwände übersehen läßt«, bedarf der eingehenden Betrachtung. In Frage steht dabei die »Realisierung der Erscheinung eines Wertgehaltes«: des »Hassens-« oder »Liebenswerten«, von der M. Scheler ja selbst behauptet, daß sie weder »einer Funktion des Aufnehmens des Wertes« noch einer »Wert-Beurteilung« entstammt, 16 und daß sie gegen die beiden Fälle des »Existierens« bzw. des »Nicht-Existierens« des betreffenden Wertgehaltes sogar »indiffe-

12 13 14 15 16

M. Scheler, op. cit., S. 178 und S. 177. M. Scheler, op. cit., S. 177. M. Scheler, op. cit., S. 181. M. Scheler, op. cit., S. 177. M. Scheler, op. cit., S. 171.

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Das Gespann der Intention

rent« sei. 17 Daß der Haß »auf Nichtung sinnt«, (127–128) sich darin »bestärkt« – die Minne dadurch »sehen lehrt«, daß sie »übersehen läßt«, »für nichts achten« möchte, (ebd.) was ihr Liebäugeln trüben könnte –, daraus geht hervor, daß das Gespann der Intention des »nachbohrenden« Hasses (128) und der leichtfüßigen Minne schon als Intention ein jeweils verschiedenes ist. Nicht von einem Absinken bzw. Emporsteigen auf einer Werteleiter im Ausgang von einem als real gegebenen Wert dürfte hier die Rede sein, sehr wohl aber von der »zuspitzenden Verdichtung« einer »Affektion«, die eben im Gespann einer Intention »umgeboren« wird, (vgl. 16) dessen »Sinnen und Denken« im Falle des nachstellenden Hasses, dessen »Sinnen und Trachten« im Falle der liebäugelnden Minne ein eigenes »geistiges Gepräge« bildet. Denn daß der Haß nicht »loskommen« kann von demjenigen, an dem er »nachbohrend verweilt«, (128) während Liebe »übersehen läßt«, was die Minne liebäugelnd nur so eben »streifen« möchte – dieser Tatbestand verbietet es uns, ihr jeweils unterschiedliches »Gespann« und »Gehege« auf das vereinheitlichende »Grundgerüst« eines »intentionalen Wertverhaltens« zurückzuführen, i. c. eines Verhaltens zu nichtgegebenen, aber mit einem real gegebenen Wert »mitintendierten« niederen resp. höheren Werten, deren »Erscheinung« in der intentionalen Bewegung »realisiert« werden soll, und zwar im Hinblick darauf, »als mögliche Fundamente einer Ganzheits- oder Gestaltstruktur« in »Betracht« gezogen zu werden.

2.

Der »typische Gang« des Hasses

»Im Unterschied zur Antipathie, die jemandes Natur charakterisiert, trägt jemandes Haß schon das Gepräge seines Geistes.« (127) »Meine Antipathie ist etwas, wozu und wogegen ich nichts kann. Denn sie überwinden heißt nicht sie beseitigen.« (136) »Die Geistigkeit eines Menschen, wofür er hellsichtig aufgeschlossen ist, kann darin sich zeigen, wo im Haß der Feind erkannt wird. Jeder Haß ist aber ein Zeichen der Denkungsart.« (132) Mit »Denkungsart« bezeichnet Kant zunächst eine vom Menschen »selbst geöffnete Quelle seines Verhaltens«. 18 Aber M. Scheler, op. cit., S. 181. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Reclam, Stuttgart 1983, S. 243 [293].

17 18

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Der »typische Gang« des Hasses

»jemandes Denkungsart ist nicht einfach seine Gesinnung. Sie zeigt sich an in dem, was einer im Sinn hat gegen die anderen bzw. womit er sich als irgendwelchen Absichten trägt«. (132, Anm. 2) Die Denkungsart eines Menschen »ist unter anderem auch [an seinem Haß] zu fassen«. (132) »Während man sich in einem bestimmten Geist treffen, einander sachlich verstehen kann, gibt es die Gleichstimmung, das Sympathisieren in der Denkungsart. Wie man zu dem anderen und zu sich selbst, wie man zum Leben steht, darin zeigt sich, wie einer ist: wovon er sich schamhaft fern hält, wovor er prüde zurückschreckt; wie einer neidisch und nachtragend ist, wie er feige den anderen vorzuschieben sucht; wie er die Rede des anderen aufnimmt – allgemein: wozu ihm etwas Anlaß wird.« (132) »Haß hat aber die verschiedensten Motive und charakterisiert nicht als solcher schon den Menschen.« (129) »Die Denkungsart ist noch nicht der ›Charakter, den sich der Mensch selbst gibt‹ (Kant)«. (148) Der »Charakter« besteht nach Kant »eben in der Originalität der Denkungsart«. 19 Was am Gang der Selbst-Interpretation, in dem sich »das Verschiedenste in die Intention des Hasses hinein zuspitzt«, (130) als »typisch« erfaßt wird, sind insofern keine »Charakterzüge«. Die »Denkungsart«, die »Geistigkeit« eines Menschen zeigt sich im Haß, (130) – also etwas, was als »Gepräge« nicht – wie die Antipathie – »jemandes Natur charakterisiert«. (127) »Immerhin – die Natur ist mir nicht einfach so mitgegeben wie meine Begabung z. B. die man an sich entdeckt, – also etwas wozu man in dem freien Verhältnis des Besitzes steht, was man ausbilden und anwenden, aber auch brach liegen lassen kann.« (136) Daß die Antipathie »jemandes Natur charakterisiert«, (127) zeigt sich eben darin, daß, indem er sie zu überwinden sucht, er es gerade darin nicht vermag, sie zu beseitigen. Sie kann nur »gewendet«, nicht aber »verwunden« werden. Sie kommt nicht frei zur Anwendung. »Jemandes Natur wird aber als ›seine‹ und nicht als eine spezifische, an ihm nur eben zu findende Natur verstanden. Jemandes Antipathie steht nicht so als der natürliche Grund von etwas im Blick, wie etwa die Balgerei von Hund und Katze etwas Natürliches ist. In seiner Natur ist man ›sich selbst‹ gegeben; sich folgt man darin.« (136) Als »Affektion« (127) »bedeutet Antipathie ein Abgestoßenwerden«, (126) »das man jemand entgegenbringt«, d. h. das seinen Grund insofern in mir hat, als Antipathie eine »Weise des Auf-ihn-Gestimmtseins« ist, welche mich den Anderen 19

I. Kant, op. cit., S. 243 [293]; vgl. H. Lipps, Die menschliche Natur, op. cit., S. 150.

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Das Gespann der Intention

meiden läßt. Man folgt sich darin bzw. man ist darin »sich selbst gegeben«, daß man »sich zurückhält« (126) bzw. schon den Gedanken an den Anderen nicht aufkommen lassen möchte. »Antipathie sperrt Zugänge.« (127) »Die Haltung schaltet geradezu die Affekte.« (21) »Auch im Gespräch sucht man auszuweichen, wenn die Rede auf ihn kommt.« (126) Im Haß wird aber die Antipathie gerade als Gedanke aufgenommen. (126) Das aber deutet auf ein »Umgeborenwerden« der Affektion in der Intention des Hasses hin, in der man nicht »sich selbst gegeben« ist, »sich darin folgt« – sondern den Anderen »geradezu in Gedanken verfolgt und nicht loskommen kann«, (126) ihn »nachstellt«. »In den Intentionen tritt gerade die Transzendenz des Menschen zu Tage […].« (133) Wie sie auf die Denkungsart eines Menschen zugeschnitten ist und nicht als »seine« Natur verstanden werden kann, ist nunmehr dem für den Haß »typischen« Gang der Selbst-Interpretation zu entnehmen. (130) Denn »man placiert sich darin, […] man gibt sich darin aus«, (126) daß man im Haß den Anderen in Gedanken nachstellt, von denen man nicht loskommt. Wie wenig man darin »sich selbst gegeben« ist, »sich darin folgt«, zeigt nicht erst der verbohrte Haß, »aus dem einer nicht mehr herausfindet, in den er sich verliert«, (130) sondern schon »der dumpf schwelende Haß«. (Ebd.) Und »angesichts der offensichtlichen Niedrigkeit des Hasses eines anderen kann man an sich selbst in ›seinem Haß‹ beinahe irre werden.« (Ebd.) Gerade die Hellsichtigkeit ›seines‹ Hasses macht einen hier verrückt. »Haß hat nicht die Souveränität der Verachtung z. B. Mit Verachtung straft man einen. In der Verachtung wird – im Unterschied zur Achtung, die ebenso wie sie ein moralisches Gefühl ist 20 – das Urteil über einen gesprochen. Achtung gebührt einfach als Haltung. 21 VerZur »Achtung« vgl. I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Meiner, Hamburg 1974, S. 88 f. [133 f.], insbesondere Kants Bezugnahme auf Fontenelle (op. cit., S. 90 [136 f.]), in der er die Achtung ein »Sich Bücken des Geistes« nennt. 21 Anders wiederum M. Scheler: »Es mag emotionale Akte geben, für die der Vollzug eines Urteils (oder besser einer Beurteilung) die Voraussetzung ist. Ein solcher scheint mir z. B. ›die Achtung‹ zu sein; sie setzt jene ursprüngliche Distanz zum Gegenstande voraus, die vor dem Eintritt des emotionalen Aktes eine Wertbeurteilung allein möglich macht. Auch muß sie den Wert des Gegenstandes, auf den hin sie erfolgt, in einer besonderen Intention gegenwärtig haben. […] bei der Achtung ist der betreffende Wert in einer besonderen Intention vorher gegeben.« (op. cit., S. 171) – Nach Kant jedoch könne man »dieses sonderbare Gefühl, welches mit keinem pathologischen in Vergleichung gezogen werden darf«, mit keinem Namen »schicklicher belegen« als mit dem des »moralischen Gefühls«. (I. Kant, op. cit., S. 89 [135]) »Achtung […] ist ein Gefühl, welches 20

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Der »typische Gang« des Hasses

achtung dagegen bedarf der Begründung und Rechtfertigung. Nämlich dies, daß man den anderen nicht mehr achten kann. Es gibt einen Anspruch auf Achtung, den man dem anderen hier nicht mehr zuerkennt. Nichtachtung heißt: es fehlen lassen an Achtung. Nämlich in Haltung und Einstellung. Verachtung ist aber mehr. Denn sie trifft den Menschen.« (127) »Verachtung setzt sich über den anderen hinweg, wendet sich von ihm ab und trifft ihn gerade dadurch, daß sie ihn übersieht.« (127) Getroffen wird hier »die Person«. – »Sofern einer […] selbst übersehen wird, ist er empfindlich, und das Herabsetzende und Verletzende von Spott und Hohn liegt in der Absicht dieses Übersehens.« (113) »Jemanden mit Verachtung ›strafen‹ heißt aber: ihn diese Verachtung als Folge tragen zu lassen. Darin liegt, daß er nicht bloß Objekt dieser Verachtung ist und dieser Verachtung als einem ›Geschick‹ nur eben nicht entgehen kann. ›Tragen‹ ist etwas Aktives. Es steht in der Spannung gegen Wider- und Gegenständiges. Sofern man etwas trägt, wird man fertig damit. Tragen ist eine Leistung. Wer etwas trägt, weicht insofern nicht. Und insofern man etwas als Folge trägt, entgleitet man sich gerade nicht zum bloßen Objekt der Strafe. Wie dann, wenn man in Selbsttäuschung über das, was diese Verachtung hier tatsächlich ›trifft‹, d. i. durch einen intellektuellen Grund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das einzige, welches wir völlig apriori erkennen, und dessen Notwendigkeit wir einsehen können. (op. cit., S. 86 [130]) »Dieses Gefühl (unter dem Namen des Moralischen) ist also lediglich durch Vernunft bewirkt. Es dient nicht zur Beurteilung der Handlungen oder wohl gar zur Gründung des objektiven Sittengesetzes selbst, sondern bloß zur Triebfeder, um dieses in sich zur Maxime zu machen.« (op. cit., S. 89 [135]) »Achtung ist ein Tribut, den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfalls äußerlich damit zurückhalten, so können wir doch nicht verhüten, sie innerlich zu empfinden.« (op. cit., S. 90 [137]) – Als unterschiedlich erscheint hier die »Hellsichtigkeit« der »Würdigung«, die M. Scheler in einer wertintentionalen »Einschätzung«, welche einem darauffolgenden emotionalen Akt das »Motiv« vorgibt, gründet, I. Kant als ein »Herabstimmen des Eigendünkels«, als ein »Niederschlagen meines Stolzes«, als ein »in reinerem Lichte Erscheinen« der daraufhin auch beispielhaft »vorgehaltenen« inneren Gesetzlichkeit eines Menschen beschreibt – damit ich die Tunlichkeit ihrer Befolgung »durch die Tat bewiesen vor mir sehe«. (I. Kant, op. cit., S. 90–91 [136–138]) Denn nach Kant liegt »die Ursache der Bestimmung der Empfindung, die wir Achtung nennen, in der reinen praktischen Vernunft, und diese Empfindung kann daher ihres Ursprunges wegen nicht pathologisch, sondern muß praktisch gewirkt heißen«. (op. cit., S. 88–89 [134]) Erneut zeigt sich hier, wie gerade die »Intentionalität« des »einschätzenden« Verhaltens zu – personalen – »Wertgegenständen« die Momente des »Herabstimmens« der »Selbstliebe« und des »Eigendünkels« bzw. des »beispielhaften Sich-Vorhaltens« der inneren Gesetzlichkeit eines Menschen übersieht, die der mora-

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Das Gespann der Intention

worauf sie zurück- und zukommt, sich lediglich mit dieser Verachtung abfinden wollte. Darin, daß man das Subjekt der Strafe ist und nicht deren Objekt, liegt auch schon der Unterschied der Strafe gegenüber der Vergeltung. Sofern man die Strafe als Folge trägt, wird man darin vor sich selbst gebracht. Dieses Zurückkommen auf sich wird im Akt des Bestrafens inauguriert. Vergeltung macht aber lediglich, daß einer ›wieder daran denkt‹, sofern er es z. B. schon wieder vergessen hatte.« 22 Daß Verachtung den Anderen »gerade dadurch trifft, daß sie ihn übersieht«, (127) ist keineswegs bloß ihre »Absicht« – die darin wiederum, wie die Achtung, ein »moralisches Gefühl« ist. Im Übersehen wird hier nämlich »ein Urteil über einen gesprochen«, das »den Anspruch auf Achtung« des Anderen trifft, (127) den die Verachtung ihm – und darin gerade »strafend« – verweigert. Nicht »das Herabsetzende und Verletzende von Spott und Hohn liegt in der Absicht dieses Übersehens« – wie wenn man z. B. »über das Hinfallen eines Menschen lacht«, ihn daraufhin nicht als Person betrachtet, daß ihm etwas »passiert« ist. (113) Das »Übersehen« der Verachtung ist insofern »begründet« und »gerechtfertigt«, als sein »Sich-Vergehen« an jemanden durch eigene Tat »die Restitution jedes Verhältnisses zu ihm« unmöglich macht, (127) das ihn nicht nur etwa lediglich als Person »betrachtet«, sondern ihn so »würdigt«. Ein absichtliches Übersehen, wie in Spott und Hohn, ist keineswegs schon ein »begründetes«, wie das der tadelnden Verachtung. Nicht eine »verletzende Herabsetzung« – seiner Person – wird zusehends in die Lächerlichkeit eines Menschen hineingetragen, sondern nachträgerisch wird ein »allzu menschliches« Vergehen getadelt, das – ansehnlich – gerade ein »tiefes« Versagen seiner Würde als Person heraushebt. Der spöttische Blick verfolgt mit mißfälliger Häme, was einem Menschen »unversehens« passiert ist. »›Passiert‹ – darin betont sich lässiges Nachgeben, dies, daß man etwas nicht über sich gebracht hat«. (40) Aber: »Durch Schicksal fällt man in Schuld.« (Ebd.) »Wir unterscheiden das Geschick als etwas dem Menschen lediglich Zufallendes, das es zu meiden bzw. zu wenden, wovon es sich zu lösen gilt, von dem Schicksal, das man als ›seines‹ zu ›sein‹, das man zu übernehmen hat. Daß meinem Schicksal ›aus mir‹ etwas entgegenkommt, ist etwas anderes, als daß in meiner Natur die Gründe dafür liegen mögen, daß ich von etwas als einem für mich typischen Mißgeschick verfolgt werH. Lipps, »Verantwortung, Zurechnung, Strafe (1937)«, in: Die Wirklichkeit des Menschen. Werke Bd. V, Klostermann, Frankfurt a. M. 1977, S. 80–81.

22

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Der »typische Gang« des Hasses

de.« (139) Der verachtende Blick zwängt durch seine unerbittliche Strenge einen Menschen zurück auf seine »ver-gangene« Schuldigkeit. »Ver-gangene Schuldigkeit« bezieht sich auf eine »be-gangene Tat«, für die einer mit sich selbst einzustehen hat – nicht auf einen »typischen«, in seiner Natur begründeten Fehltritt, für den einer sich gerade »ent-schuldigen« kann. »Gerade das Gewöhnliche, Gemeine gilt – entschuldigend – als ›menschlich‹. Auf eine in dieser Richtung verstandene menschliche Natur wird man z. B. auch durch die Dummheit verwiesen. Denn was ist Dummheit? Nicht einfach Mangel an Begabung. Verstockte Unfreiheit, selbstzufriedene Borniertheit, gutmütige Blindheit heißt Dummheit. Sie ist etwas Moralisches.« (40) Selbstverschuldete Dummheit ist nicht etwa »der bloße Mangel der Urteilskraft ohne Witz (stupiditas)« – wie »derselbe Mangel aber mit Witz Albernheit ist«. 23 Sie ist, als »allzu menschlich«, gerade unverzeihbar. – »Bei der Blamage wird […] etwas als bloßer Schein enthüllt. Bei der Blamage bleibt man zurück hinter Erwartungen, die man entweder selbst erweckt hat oder zu denen man berechtigte. Man bleibt zurück hinter dem Anschein, den man sich gab. Die Blamage ist Folge einer Überheblichkeit. Blamiert ist man lächerlich geworden. Man kann nicht jemanden so blamieren, wie man ihn beschämen und bloßstellen kann; man ihn nur sich blamieren lassen. Nämlich verleiten dazu. Blamagen sind in einem trivialen Sinn vermeidbar. In der Blamage kommt keine Blöße zum Vorschein: es ist die Irrealität eines Scheines, aber nicht der Mangel einer Blöße, was dabei zutage tritt.« (39–40) »Denn dadurch, daß man ›gefehlt‹ hat, wird man nicht eigentlich Lügen gestraft. Als ob man nur etwas vorgemacht hätte. Denn ich selbst bleibe ja hier gerade – in dem zweideutigen Licht, in dem ich erscheine – das Maß meiner Verfehlungen.« (40) ›Meine‹ Fehleinschätzung war »echt«. Der Mangel der Blöße ist aber ein »Sich Verraten«, d. h. »ein Abfallen von sich selbst«. (33) »Blamiert zu werden ist ein Geschick, das einem widerfährt. Es gibt kein Wort für den Affekt, in den man dadurch versetzt wird. Die Anschaulichkeit der Blamage macht es hinwiederum, daß mein Zumutesein bei anderen Gelegenheiten als ein ›sich wie blamiert vorkommen‹ verdeutlicht werden kann.« (40, Anm. 1) Man kann »sich selbst blamiert nur mit den Augen des anderen vorkommen«, während man »sich ebenso ursprünglich vor sich selbst wie vor dem anderen schämen kann«. (40) »Man sieht sich ja 23

I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, op. cit., S. 134 [203–204].

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Das Gespann der Intention

doch hier in der Situation der Blamage. Blamiert ist man nur, wenn etwas herausgekommen ist.« (Ebd.) Man schämt sich aber »auch dann, wenn niemand das sieht, wenn niemand von dem etwas weiß, dessen man daraufhin, daß es mir nicht zugetraut wird, gerade doppelt schämt.« (Ebd.) Die Blamage betrifft »Verfehlungen« in der »Einschätzung« seiner selbst; die Verachtung gilt einem Sich-Vergehen an den Anderen. Von einer immerhin »echten« Fehleinschätzung ist nicht die Rede. Durch Scham kann sie nicht behoben werden; denn sie bezieht sich nicht auf den Mangel einer Blöße: auf ein Von-sich-selbst-Abfallen. Verachtet wird nicht, wer – sich selbst verratend – sich schämen sollte. Verachtung ist ein moralisches Gefühl. Sie verweigert einem daraufhin den Anspruch auf Achtung, daß er – gerade im Hinblick darauf – sich an einen Anderen vergangen hat. In dieser Hinsicht ist die Verachtung durchaus »gerecht«. Denn sie »richtet« ihn kraft der Allgemeingültigkeit dieses Anspruchs als innerer Gesetzlichkeit eines jeden moralischen Handelns, gegen die jemand durch die begangene Tat verstoßen hat. Im Hinblick auf diesen Rechtsgrund ist Verachtung eben »souverän«, (127) d. h. unumschränkt. »Haß und Verachtung schließen einander aus«. 24 (127) Haß übersieht nicht, sondern »verbeißt sich gerade in seinen Gegenstand«. (127) »Und gegenüber der Verachtung, die schlechthin den Menschen trifft, kann alles mögliche gehaßt werden: nicht nur bestimmte Menschen, – auch so etwas wie Schulmeisterei, Umständlichkeit, eine bestimmte Art von Zwang usw.« (127) »Den Menschen schlechthin« – das bedeutet hier nicht »den Menschen im allgemeinen« – ebensowenig wie mit »bestimmten Menschen« einen besonderen Menschen gemeint ist. »Man haß immer ›diese Art …‹. Also zum Teil Dinge, zu denen der, an dem sie zum Vorschein kommen, gar nichts eigentlich kann. Die nur durch die Umstände kommen. Weil Haß ein Denken ist, haßt man ›diese Art‹ an einem Menschen, also ein allgemeines.« (127) Verachtung, als ein moralisches Gefühl trifft den Menschen schlechthin, d. h. aber diesen besonderen Menschen, zu dem »die Restitution jedes Verhältnisses abgeschnitten« ist. (127) Während jeder Umstand »diese Art …« an einem Menschen hervorrufen kann, in die Haß sich verbeißt. Vgl. A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. II. Zweiter Teilband. Diogenes, Zürich 1977, § 324, S. 642: »Haß und Verachtung stehn in entschiedenem Antagonismus und schließen einander aus.«

24

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Der »typische Gang« des Hasses

»Umgekehrt liebt man etwas am anderen nur deshalb, weil man ihn selbst liebt; von ihm her sieht man es dann in einem besonderen Lichte.« (127) Liebe ist nicht – wie Haß – ein Denken. »Liebe lehrt sehen«. (128) Sie übersieht den besonderen Menschen nicht daraufhin, »jedes Verhältnis zu ihm abzuschneiden«. (127) Sie verbeißt sich nicht »in diese Art« an einem Menschen, die z. T. durch die besonderen Umstände hervorgerufen sein mag. Was an einem anderen Menschen geliebt wird, erscheint von ihm selbst her. »Besonderes« ist hier das Licht, das von ihm ausstrahlt. Das Sehen der Liebe ist daraufhin erschlossen, daß ihr die Helle vom Geliebten selbst her geworden ist. Aus ihr hat sie die Freiheit aufgenommen, die »sachliche Einwände übersehen läßt«. (128) »Ihre Blindheit gegen Schwächen des anderen heißt: sie für nichts achten.« (Ebd.) Liebe ist daraufhin »unbedingt«, (128) daß sie die Freiheit des Sehens in jener Helle aufgenommen hat, die ihr vom Geliebten selbst her geworden ist. »Denn geliebt wird schlechthin der andere« – (128) und nicht etwa »schlechthin der Mensch«. (127) Verachtung verweigert dem besonderen Menschen den Anspruch auf Achtung; Liebe »achtet für nichts«, was das besondere Licht, in dem der Andere erscheint, trüben könnte. Schon die besonderen Umstände bedingen es jedoch z. T., daß man »diese Art« an einem Menschen haßt, »also ein allgemeines«. (127) »Man kann auch sich selbst, nämlich etwas an sich hassen: gerade die Stärke eines Hasses ist Symptom, daß man hier etwas in sich selbst als einem aufsässig, aber am anderen haßt. Worauf sich der Haß bezieht, ist nicht der, den er trifft.« (127) Haß zieht »das Verschiedenste« in seinen Kreis. (129; vgl. 126) Das aber wirft wiederum ein Licht auf die Art und Weise, wie die Affektion der Antipathie in der Intention des Hasses »umgeboren« wird, wie sie hier »als Gedanke« aufgenommen wird. (126) Was sich im Haß »zuspitzend verdichtet«, darin einkippt und daraufhin »zu sich selbst entbunden« wird, (130; vgl. 16–17) ist nicht als ein »Gleichnis« zu verstehen, d. h. »als bildhafte Verdichtung eines zunächst und allein eigentlich Begreiflichen«. (14) Haß ist ein Sinnen und Denken, das »geradezu verblendet«, (127) d. h. »im den anderen verfolgenden Spähen nach Gründen für …« (129) »die Dinge verzerrt«. (128) »Man sucht es sich zu beweisen, daß der andere hassenswert ist«, (126) wobei »das Verschiedenste sich als Haß festlegt«. (129) Es gibt aber keine Gleichnisse zu irgendetwas, was im vorweg als Haß eigentlich »begriffen« wird – worin Haß sich etwa »bildhaft verdichtet« – und ebensowenig »Vergleichsakte« an irgendeinem

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Das Gespann der Intention

Wertgegenstand, der als »Träger« von »Unwerten« oder »negativen Werten« bildmäßig vorgezeichnet werden könnte. 25 Wir berühren damit »den allerschwierigsten Punkt der Frage« nach der »Gegebenheit der Wertgegenstände in der Liebe und im Haß«, wie M. Scheler sie in völliger Parallelisierung der beiden »emotionalen Grundphänomene« stellt. 26 »Liebe ist« nach ihm »die Bewegung in der Richtung niederer Wert ! höherer Wert«, 27 Haß aber die entgegengesetzte Bewegung; 28 »gemeinhin ist uns der niedrigere Wert« resp. der höhere »gegeben«. »Im Falle der Liebe zu einer Person« wird nach Scheler »in der Bewegung selbst ein ›ideales Wertbild von ihr gleichsam vorgezeichnet‹, das nicht ›entnommen‹ ist aus ihren empirischen Werten, die gefühlt sind, aber doch auf diese gefühlten Werte aufbaut«. 29 Haß dagegen sei »im strengsten Wortsinn ›vernichtend‹«, 30 weil er nicht, wie die Liebe, »schöpferisch« »völlig neue und höhere Werte ins Dasein treten läßt«, sondern – zerstörerisch – »faktisch die höheren Werte vernichtet«. 31 Was Scheler mit »mitintendierten möglichen Fundamenten einer Ganzheits- und Gestaltstruktur« 32 ins Auge faßt, ist im Hinblick auf ein solches »gleichsam vorgezeichnetes« »ideales« resp. »negatives« Wertbild gedacht. Trotzdem muß Scheler selber eingestehen, daß nicht nur »dieses ›Höhersein‹ und ›Niedrigersein‹ von Werten […] prinzipiell ohne einen Vergleichsakt der Werte, wie er z. B. im ›Vorziehen‹ immer enthalten ist, gegeben ist«, 33 sondern außerdem, daß bei der Liebe »keine Scheidung vorliegt zwischen dem, was ich ›empirisches Wertfaktum‹ und ›ideales Wertbild‹ im obigen Falle nannte« – und korrelativ beim Haß keine Scheidung zwischen den gefühlten empirischen Werten und dem »negativen Wertbild«. 34 »Die Liebe selber ist es, die im Gegenstande nun den je höheren Wert ganz kontinuierlich, und zwar im Laufe ihrer Bewegung zum Auftauchen bringt – gleich als ob er aus dem geliebten Gegenstand selbst […] ›von selbst‹ herausströme.« 35 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35

M. Scheler, op. cit., S. 176. M. Scheler, op. cit., S. 182. M. Scheler, op. cit., S. 181. M. Scheler, op. cit., S. 187. M. Scheler, op. cit., S. 181. M. Scheler, op. cit., S. 178. M. Scheler, op. cit., S. 178. M. Scheler, op. cit., S. 177. M. Scheler, op. cit., S. 176. M. Scheler, op. cit., S. 182. Ebd.

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Der »typische Gang« des Hasses

»[…] Man darf sagen: echte Liebe öffne die geistigen Augen für immer höhere Werte des geliebten Gegenstandes; sie macht sie sehen […].« 36 Haß sei deshalb »im strengsten Wortsinn« vernichtend, weil er »als Folge die Augen des kognitiven Vorziehens und Fühlens [für die höheren Werte] stumpf und blind macht. Weil er sie vernichtet [für diese Sphären], darum erst werden sie unfühlbar«. 37 Mit diesem doppelten Eingeständnis entzieht Scheler aber selbst seiner aktintentionalen Analyse von »Wertgegenständen« der Liebe und des Hasses den Boden. Was einer unbefangeneren Analyse der genannten emotionalen Grundphänomene in den Weg tritt, ist Schelers eigene Ausgangsposition, nach der »wir in den Akten von Liebe und Haß solche Akte sehen, die wesensgesetzlich überhaupt […] durch Werte auf Gegenstände gehen«. 38 Wie Liebe »sinnt und trachtet«, Haß aber »sinnt und denkt«, ist jedoch schon als Gespann der Intention grundverschieden. Das »verbietet es aber, [den Haß] als das negative Gegenstück zur Liebe aufzufassen«. (128) Der Boden des Erscheinens des Hassens- resp. Liebenswerten ist jeweils ein unterschiedlicher. Im Hinblick auf diese jeweils unterschiedlichen Fundamente im Erscheinungsgeschehen selbst verhebt eine »aktintentionale« Analyse von »Wertgegenständen« der Liebe bzw. des Hasses sich an der phänomenologischen Qualität der jeweils in Frage kommenden »Wertgehalte« bzw. »Wertkerne« selbst, 39 indem sie diese als »höhere« resp. »niedere« auf ein gleichsam vorgezeichnetes »ideales Wertbild« bzw. dessen »unwertiges« Gegenstück hin entwirft. Die Bewegung der Liebe bzw. des Hasses ist nicht einfach ein »Augenöffnen« bzw. ein diese »stumpf und blind Machen«. 40 Denn zum »Sehen-lehren« der Liebe gehört ebensosehr eine für sie spezifische »Blindheit«, wie zum Haß einen für ihn spezifischen »Sehkreis« gehört, in dem er die Dinge verzerrt. (128) Was sich zuspitzend in die Intention des Hasses hineinlegt, die Sinnen und Denken in einem ist, ist als »Figuration« keineswegs auf irgendein »negatives Wertbild« hin vor-entworfen. Die in der Liebe »verborgene« Sehnsucht ist ebenfalls nicht auf ein »ideales Wertbild« hin projiziert. Ein solches vermeintliches Entwerfen oder Projizieren von »Wertbildern« – als Ausdruck 36 37 38 39 40

Ebd. M. Scheler, op. cit., S. 178. Ebd. M. Scheler, op. cit., S. 171–172. M. Scheler, op. cit., S. 183 und S. 178.

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Das Gespann der Intention

eines »intentionalen Verhaltens zu Wertgegenständen« – faßt die Liebe bzw. Haß innewohnende »Bewegung« als »Realisierung« 41 »höherer« resp. »niedrigerer« Werte an einem und eben demselben – personalen – Gegenstand, der durch unterschiedliche »Bilder« als jeweils eigentümliche »Wertwesen« »repräsentiert« wird. 42 Dieses Wahrzeichen der »Intentionalität« ist es nun aber, was einer genuin phänomenologischen Analyse einen Riegel vorschiebt. Daß in der Liebe höhere Werte an einem Gegenstand gleichsam »aufblitzen«, während sie im Haß geradezu »unfühlbar« werden, 43 da sein »geistiges Auge« für sie gleichsam »stumpf« geworden sei, bestätigt noch einmal, daß die korrelativen Modi des »Erschließens« unter das Okular der Intentionalität gestellt worden sind, das es im vorweg auf »Wertwesen« abgesehen hat, die jeweils als »positive« oder »negative« bestimmt werden. Ein Aufblitzen resp. Abstumpfen von »Werten« auf einem Leitungsnetz, das durch einen positiven resp. negativen Endpunkt gleichsam »polarisiert« ist, die die jeweiligen Wert-»ströme« in der Liebe und im Haß »regulieren«, ist ebensowenig wie die Substruktion einer »Leiter« dazu geeignet, den für den Haß »typischen« Gang resp. die Liebe auszeichnende Bewegtheit »phänomenologisch« zu erfassen. Schließlich gesteht Scheler ja selbst, daß dies »alles ganz rohe und unzureichende Bestimmungen sind, die gerade das Grundphänomen verstecken«. 44 Schon die Tatsache, daß man »des Hasses bei sich innewird«, (130) der gerade einen Anderen trifft, und man eben die »Aufsässigkeit« seines Hasses hassen kann, (127) während man sich in der Liebe nach dem Anderen sehnt, »sofern man nur bei und mit ihm ›sein‹ kann was man ist« (119) – »weshalb man auch nicht sich selbst lieben kann«, (128) es vielmehr »Liebeskummer« gibt –, muß uns darauf gefaßt machen, daß Haß und Liebe als Grundphänomene verschieden, und nicht als »emotionale Akte« »Intentionalitäten« mit unterschiedlichen Bewegungsabläufen bzw. Bewegungsrichtungen sind. »[…] Geliebt wird schlechthin der andere.« (128) Aber: »Man kann auch sich selbst, nämlich etwas an sich hassen.« (127) Als »Gedanke« ist die Intention des Hasses »allgemeiner« als das »Trachten« der Liebe, das es nicht – eifersüchtig – auf Ausschließlichkeit, sondern auf »Einzigartigkeit« abgesehen hat, (117) 41 42 43 44

M. Scheler, op. cit., S. 177. M. Scheler, op. cit., S. 187. M. Scheler, op. cit., S. 176 und S. 178. M. Scheler, op. cit., S. 182.

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Der »typische Gang« des Hasses

und sehnsüchtig »der Einsamkeit entspringt«. (119) Während es im Haß gerade Eifersucht gibt: »Auch im Hasse gibt es Eifersucht; wir wollen unseren Feind für uns allein haben.« (130) »Im Haß richtet man sich aber gerade auf den anderen«, (126) wenn er »das Verschiedenste« in seinen Kreis zieht. (129) D. h. aber: das Spinngewebe des Hasses bannt in einer Ausschließlichkeit; es sucht den Anderen zu isolieren. Die Intention der Liebe ist ihrerseits keineswegs »gradlinig«, wenn sie die Einzigartigkeit des Anderen »sehen lehrt«, »die Schwächen des anderen für nichts achtet«. (128) Liebe zieht nicht etwa das Verschiedenste in einen Bannkreis. Sie verwirft alles das, was den Geliebten zwar umkranzt, aber den Glanz seiner Einzigartigkeit verdunkelt – was er nicht »schlechthin« ist. Liebe »läßt sachliche Einwände übersehen«. (128) Als Sehnsucht »trifft« sie aber nicht den anderen »ins Ziel«, d. h. in etwas, was als »diese Art an einem Menschen« (127) etwa »liebenswürdig« sei. Der Geliebte ist kein »netter Mensch«. »Die Wurzeln sind verschieden, von denen der Haß sich nährt, die für seine Stärke und Dauer bestimmend sind.« (129) »Worauf sich der Haß bezieht, ist nicht der, den er trifft.« (127) In der durch die negative Copula ausgedrückten Differenz liegt es, daß das Verschiedenste sich in die Intention des Hasses hinein zuspitzt, damit sie erst ins Treffen gelangt. »Das Verhältnis des Sohnes zum Vater, die Stellung des Sklaven kann der gegebene Boden sein, um Haß entstehen zu lassen. Es gibt Rassen- und Klassenhaß. Goethe haßte Experimente, wie Newton sie anstellte. 45 Denn das ist das Besondere unseres Hasses: sich zu entwikkeln und auszubauen und begründend festzulegen. Er sucht Ansatzstellen, an denen er nachbohrend verweilt.« (128) Das »Abgestoßenwerden« der Antipathie (126) wird hierin »als Gedanke aufgenommen«, (ebd.) die Affektion der Antipathie in diesem »Sinnen und Denken« (127) umgeboren, das sich in seinen Gegenstand »verbeißt«. (Ebd.) »Haß steigert sich so. Und man placiert sich darin.« »Man sucht es sich zu beweisen, daß der andere hassenswert ist.« (126) Von »ausschlaggebender« Bedeutung ist hier weder – wie Scheler meint – ein »mitintendierter« niederer Wert noch die Projektionsfläche eines »negativen Wertbildes«, sondern die Steigerung in der Beweisführung, in der man sich plaziert, d. h. aber in der man sich auf dasjenige »einstellt«, (vgl. Vgl. dazu: H. Lipps, »Goethes Farbenlehre«, in: Die Wirklichkeit des Menschen. Werke Bd. V, Klostermann, Frankfurt a. M. 1977, S. 108 und S. 123–124; vgl. ebenfalls: »Zur Morphologie der Naturwissenschaft«, in: op. cit., S. 18 f.

45

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Das Gespann der Intention

16–17) worin die Affektion sich zuspitzend so verdichtet, daß der Haß sich darin erstmals »zu sich selbst entbindet«. »Schon diese sachliche Gegründetheit des Hasses verbietet es aber, ihn als das negative Gegenstück zur Liebe aufzufassen.« (128) An seinen Ansatzstellen nachbohrend »späht der Haß nach Gründen für …«. (129) Bezeichnend ist, daß es hier eine Leerstelle anstatt eines Akkusativs gibt. Denn daran liegt es, daß Haß sich nicht als intentionaler Akt vermittels eines »Wertes« auf irgendeinen vorhandenen »Gegenstand« bezieht. Ein dem Haß korrespondierender »Wertgegenstand« – so als ob der Haß sich in seiner Richtung »bewegen« würde – ist nicht aufzufinden. Man unterschlägt den für den Haß »typischen Gang«, d. h. aber hier: die spezifische Figuration seiner Intention. »Führend« in der Beweisführung des Hasses ist seine Selbststeigerung, d. h.: die Entfesselung seiner Kraft. Die sachliche Gegründetheit des Hasses ist keineswegs »objektiv« bzw. »schlüssig« in ihren »Folgerungen«. Haß »verfolgt [den anderen] geradezu in Gedanken und kann nicht loskommen.« (126) Als »Denken« ist der Haß gerade kein »existenzieller Schritt« zu sich, (105) sondern: ein »Ein- und Nachdrängen«, das »die Dinge verzerrt«. (128) »Haß entdeckt eigentlich nichts, sondern er findet, was er zu seiner Begründung sucht. Haß ist maßlos. Das Hängenbleiben an … läßt ihn oft kleinlich erscheinen.« (128) Als »Begründung und Rechtfertigung« (127) ist Haß nicht – wie die Verachtung – »gerecht«: im Zu-sich-selbst-Entbinden des Hasses zeigt sich keine »Souveränität« – wie in der Verachtung, »die das Urteil über einen spricht«. (127) »Haß sinnt auf Nichtung«. (128–129) Er »vernichtet« aber nicht etwa in seiner Beweisführung »höhere Werte« dadurch, daß er sie ins Negative verkehrt bzw. auf niedrigere hin umdeutet. Haß vernichtet keine Werte an irgendeinem »Gegenstand«. »Er verzerrt die Dinge.« (128) Diese sind aber keine »Wertgegenstände«, sondern Ansatzstellen seines »Ein- und Nachdrängens«, in denen die Affektion des »Abgestoßenwerdens« auskippt – d. h. aber: darin so umgeboren wird, daß sie sich »ent-fesselt«. Gerade das »Gestimmtsein« der Antipathie, das eine »Befindlichkeit« ist, kippt in »nicht loskommenden Gedanken« aus. Das »Abgestoßenwerden« steigert sich zu einem »Sichabsetzen vom anderen«, (130) ohne allerdings von ihm »freizukommen«. (Vgl. 16) Diese »Steigerungsreihe« ist aber weder eine absteigende Werte-»Leiter« noch ein »Leitungsnetz« negativ polarisierter Wert-»Ströme«. »Schon diese sachliche Gegründetheit des Hasses verbietet es aber, ihn als das negative Gegenstück zur Liebe aufzufassen.« (128) »Liebe ist 158 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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blind, sofern ihre Unbedingtheit sachliche Einwände übersehen läßt.« (128) Die Unbedingtheit des Hasses ist eine andere: »Haß will töten, um zu vernichten.« (128) »Er sinnt auf Nichtung.« (128–129) Nur der – wahnhaft in seinen Kreis gezogene – Tod des Anderen scheint ihm die Fesseln seiner von ihm nicht loskommenden Gedanken endgültig zu zerschneiden. Haß »blendet« eben darin das »Freiwerden zum« Anderen ab. (Vgl. 16)

3.

Befeindung

Nach Scheler sind Liebe und Haß »primär auf Werte und auf Gegenstände (durch die Werte, die sie tragen, transparent hindurch) orientiert, wobei es prinzipiell gleichgültig ist, ob ›ich‹ oder ein ›Anderer‹ die betreffenden Werte hat«. 46 »Für das Stattfinden von Liebe und Haß ist also die Richtung des Aktes auf einen ›Anderen‹, sowie irgendeine bewußte Verknüpftheit der Menschen durchaus nicht notwendige Voraussetzung.« 47 Liebe und Haß sind in diesem Sinne »durchaus nicht wesenhaft ›altruistische‹ Akte«. 48 »Der Fremdliebe steht also die Selbstliebe, dem Fremdhaß der Selbsthaß gleich ursprünglich gegenüber.« 49 »Es gibt also ebenso ursprünglich eine ›Selbstliebe‹ und einen ›Selbsthaß‹, wie es eine ›Fremdliebe‹ und einen ›Fremdhaß‹ gibt.« 50 Die »Funktionen des Mit-fühlens« sind dagegen nach Scheler durchaus »wesentlich soziale Verhaltungsweisen«. 51 »Man kann z. B. ›sich selbst lieben und hassen‹ ; nicht aber kann man mit sich mit-fühlen. Denn wenn man sagt, ein ›Mensch bemitleide sich selber‹, oder er habe z. B. ›Freude daran, daß er sich heute so freuen kann‹ […], so zeigt eine genauere Analyse doch immer, daß hier ein Phantasieinhalt vorliegt, in dem der betreffende Mensch ›als sei er ein Anderer‹ sich selbst gleichsam zuschaut und ›als dieser (fiktive) Andere‹ seine eigenen Gefühle mitfühlt. So kann ich mich phantasiemäßig in die Lage versetzen, als ginge ich selber in meinem eigenen Leichenzug usw. Phänomenologisch bleibt

46 47 48 49 50 51

M. Scheler, op. cit., S. 174. M. Scheler, op. cit., S. 173. M. Scheler, op. cit., S. 174. Ebd. M. Scheler, op. cit., S. 175. M. Scheler, op. cit., S. 173.

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Das Gespann der Intention

aber auch dann das Mitgefühl ein sozialer Akt. Diese Art Illusion ist bei der Selbstliebe und dem Selbsthasse nicht notwendig.« 52 Im übrigen sind nach Scheler Liebe und Haß nicht nur keine sozialen Akte, sondern ebenfalls keine »Gemeinschaftsakte« bzw. »Akte der sozialen Gesinnung«. 53 Zu diesen rechnet Scheler auch den »Egoismus«, der gerade »nicht ›Selbstliebe‹ ist«. 54 »Denn im ›Egoismus‹ ist mir nicht mein individuelles Selbst als Gegenstand der Liebe gegeben, herausgelöst aus den sozialen Beziehungen und nur als Träger jener höchsten Wertarten gefaßt, die z. B. im Begriffe des ›Heiles‹ ihren Ausdruck finden, sondern ich bin mir im Streben gegeben als nur ›Einer unter Anderen‹, der dann nur die Werte Anderer einfach ›nicht berücksichtigt‹.« 55 »›Egoismus‹ ist nicht ein Verhalten ›als wäre man allein auf der Welt‹ ; im Gegenteil, er setzt die Gegebenheit des Einzelnen als Glied der Gesellschaft voraus. Gerade der Egoist ist ganz von seinem ›sozialen Ich‹ eingenommen, das ihm sein individuelles intimes Selbst verdeckt! Und er hat auch dieses soziale Ich nicht zum Gegenstand eines Liebesaktes, sondern ist nur ›eingenommen‹ davon, d. h. lebt in ihm.« 56 Als Beispiel eines »ursprünglichen« Selbsthasses nennt Scheler schließlich: »Abwendung von sich selbst, nicht bei ›sich‹ bleiben können (ein Typus ist z. B. der ›Vereinsmeier‹)«. 57 Was Scheler danach »bisher als die Akte von Liebe und Haß aufgewiesen« zu haben meint, sind nach ihm »nur jene letzten identischen Aktwesenheiten, die in allen Differenzen, die diese Akte aufweisen, dieselben sind«. 58 Korrelat dieser »identischen Aktwesenheiten« ist nach Scheler »ein Gegenstand des gesamten Wertreiches«, 59 an dem »schöpferisch« höhere Werte hervorgebracht bzw. »vernichtet«, »unfühlbar« gemacht werden. Daß »Selbstliebe« keinen Egoismus oder gar Selbstgefälligkeit bedeute, darauf weist auch H. Lipps hin: »Mit Selbst-›Liebe‹ glaubt man entweder ›Egoismus‹ übersetzen zu können oder es meint eine hingebende Beschäftigung mit sich selbst. Wie überhaupt jemand ›lieben‹ 52 53 54 55 56 57 58 59

M. Scheler, op. cit., S. 173. M. Scheler, op. cit., S. 174–175. M. Scheler, op. cit., S. 175. Ebd. Ebd. M. Scheler, op. cit., S. 174. M. Scheler, op. cit., S. 194. M. Scheler, op. cit., S. 187.

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meist nur eben dies meint, daß man ihn gern (um sich) hat, seine Begegnung sucht, – nämlich sympathisierend mit ihm und insofern gelöst werdend, aber ohne eigentlich dabei allererst zu sich selbst erschlossen zu werden.« (128, Anm. 1) Dennoch meint Lipps nicht etwa, daß man in der Selbstliebe mit sich selber »mitfühlen« würde. Und andererseits hält er es nicht für möglich, daß man etwa sich durch sich selbst »zu sich selbst erschließen« würde. »Daß aber so etwas vorkommt wie Mitleid mit sich selbst, zeigt gerade nur, wie überhaupt das Mitleid niemals jemanden in seinem Selbst, sondern nur als ›einen, der‹ betrifft, – in dem man dann freilich auch gerade sich ›selbst‹ übersehen kann.« (Ebd.) »Man kann auch nicht sich selbst lieben.« (128) »Als ›einen, der‹ : darin liegt nicht etwa, daß man im Mitleid mit sich selbst sich selbst gleichsam zuschaut als sei man ein Anderer und dann als dieser (fiktive) Andere seine eigenen Gefühle mitfühlt – wie Scheler behauptet. So wenig wie man in der Selbstliebe etwa sich selbst »schlechthin der [geliebte] Andere« (128) wäre. Im Mitleid mit sich selbst »schont« man seine eigenen Gefühle, während gerade die Selbstliebe »illusorisch« ist. Denn die Sehnsucht der Liebe, die durch den Anderen »zu sich selbst zu kommen« sucht – worin man zu sich selbst erschlossen wird – ist in der Selbstliebe »heillos«. Und »fiktiv« ist hier nicht etwa »schlechthin der [geliebte] Andere«, sondern geradezu das gesuchte eigene Selbst. Der ›Selbsthaß‹ des Vereinsmeiers wiederum ist etwas, dessen er bei sich innewird, der ihn aber gerade aus der Geselligkeit zurückruft, in die er beim Betreten des Vereinslokals eintauchen möchte. Er haßt die »Aufsässigkeit« seines immer nur Bei-sich-Bleibens, haßt es aber am Verein, dessen Geselligkeit ihm nicht den »Unernst heiterer, ausgelassener Stimmung« beschert, in dem man »sich von ›sich selbst‹ suspendiert findet«. (Vgl. 113) »Abwendung von sich, nicht bei ›sich‹ bleiben können« hat nicht etwa – wie Scheler meint – »nichts mit Liebe«, 60 sondern vielmehr nichts mit Haß zu tun. »In der Liebe ist Sehnsucht verborgen.« (126, Anm. 1) »Sich nach etwas sehnen heißt: von sich seiner Unerfülltheit weg zu einem anderen kommen wollen«. (119) Der Vereinsmeier sucht nicht etwa zu einem Anderen zu kommen: er möchte sich von sich selbst suspendiert finden. So wenig Haß und Liebe letzte identischen Aktwesenheiten sind, die an einem Gegenstand des gesamten Wertreiches Werte vernichten bzw. hervorbringen, ebensowenig kann nun aber behauptet werden, 60

M. Scheler, op. cit., S. 174.

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Das Gespann der Intention

daß es »für Liebe und Haß prinzipiell gleichgültig« sei, ob der jeweils korrespondierende »Wertträger« ein »ich« oder ein »Anderer« sei, weshalb man sie – so Scheler – »wesenhaft« nicht als »altruistische« Akte in Betracht ziehen sollte. Selbstliebe und Selbsthaß z. B. sind nicht ebenso ursprünglich »gegeben«. »Ich« und »Anderer« sind nämlich keine gleichgültigen »Beziehungspunkte«, auf die Liebe und Haß etwa »nicht ›relativ‹ sind«. 61 »Worauf sich der Haß bezieht, ist nicht der, den er trifft.« (127) Geliebt wird aber »schlechthin der Andere«. (128) Das »Treffen« des Hasses ist ebensowenig wie das »Schlechthinnige« der Liebesgabe eine sozial »indifferente« »intentionale Wertbeziehung« auf einen durch sie hindurch »transparenten« Gegenstand: 62 d. h., »wobei es prinzipiell gleichgültig [sei], ob ›ich‹ oder ein ›Anderer‹ die betreffenden Werte hat«. 63 »[Im Haß] sucht man es sich zu beweisen, daß der andere hassenswert ist.« (126) »Man haßt etwas in sich selbst als einem aufsässig, aber am anderen.« (127) Die Unbedingtheit der Liebe läßt die Schwächen des Anderen übersehen. Selbstliebe ist aber eine Sehschwäche, die der Illusion entspringt, daß man unbedingt zu sich selbst erschlossen werde, wofür – vergebens – die verschiedensten Phantasieinhalte eingesetzt werden. Denn man »übersieht« darin, daß man sich niemals der »schlechthin Selbst-Gegebene« ist. Im »Treffen des Hasses« ist nicht etwa das ›Ich‹ führend bei der »negativen« Wertbestimmung des Anderen, während in der schlechthinnigen Hingabe der Liebe der ›Andere‹ die »positive« Wertbestimmung an sich selbst hervorzaubert. »Haß will töten, um zu vernichten. Dieses Pathos unterscheidet den Haß von Antipathie und Ekel, denen lediglich an der Entfernung ihres Gegenstandes gelegen ist. Und nicht dies wünscht der Hassende, daß es dem anderen schlecht geht. Wie Neid und Rache solche Genugtuung suchen. Bloßstellung durch Lächerlichkeit will, auf Nichtung sinnt der Haß.« (128–129) Daß die Antipathie »als Gedanke aufgenommen« wird, ohne »loszukommen«, (126) bedeutet keine »Anfechtung«. Das »Abgestoßenwerden« wird im Haß nicht etwa »sinnlich erfaßt«. (14) »Gegenüber Abscheu und Haß, die je nachdem das richtige Verhalten, die als Stellung und Haltung begründet herausgefordert sind, ist der Ekel etwas, was einen nur eben ›ankommt‹.« (14) »Haß verantwortet« aber die Antipathie. (126) »Haß will 61 62 63

M. Scheler, op. cit., S. 173. M. Scheler, op. cit., S. 174. Ebd.

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Befeindung

gerecht sein«. (Ebd.) »… je nachdem das richtige Verhalten«: das drückt eben das jemanden in Gedanken »Richten« des Hasses aus. Und dieses ist eben kein »Wünschen, daß es dem anderen schlecht geht«, – (128) sondern ein »Hinrichten«. Das »Gestimmtsein« der Antipathie versteigt sich in diesem »Pathos« des Hasses, entfesselt sich gerade darin. Haß »sinnt auf Nichtung«. (128–129) »Der Neidische sucht letztlich sich selbst in der Hassenswürdigkeit des anderen zu beweisen, um sich nicht als bloß neidisch wissen zu müssen.« (116) Indem er »hämisch die Schattenseiten« des »anscheinenden Vorzugs« (116) des Anderen »herauskehrt«, (117) dessen Glück anzweifelt, sucht der Neidische sich die »Genugtuung« zu verschaffen, daß im Grunde nur er der »Berechtigte« des Vorzugs, den der Andere »einfach als gegeben hinzunehmen scheint«, (116) – des ihn so fraglos zufallenden Glücks sei. Wegen der mangelnden »sachlichen Gegründetheit« seines Neides biegt er in der Hassenswürdigkeit des Anderen aus, die ihm den »Grund« zu dieser Berechtigung auch zu bieten scheint: den nicht etwa nur »zureichenden«, sondern über allem Ankreiden »erhabenen«. Und so wie beim Neid, gibt es auch »keine ›gerechte‹ Rache«. »Der andere wird lediglich Opfer« (128, Anm. 2) der Rachsucht. »Das Süchtige besteht gerade darin, an etwas zu verfallen, was man sich als Reiz verschaffen kann, eine bloße Zuständlichkeit zu genießen, die zwar vorübergehend, aber beliebig wiederholbar ist.« (122) »In der Sucht […] entgleitet man sich gerade.« (118) »Sofern einen der Haß erfüllt, man sich selbst darin ersteigert, sich darin findet, ist es leidenschaftlicher Haß. Daß er unzugänglich ist vernünftigen Erwägungen, bedeutet, daß man sich als unbedingt darin erfaßt […].« (118) Während »der anscheinende Vorzug des Anderen neidisch macht«, (116) »rächt man sich aber an jemand – wie bei der Blutrache jemand aus meiner an der anderen Sippe gerächt, ihm Sühne verschafft wird. Und daß man – statt den anderen wegen der Billigkeit seines Triumphes zu verachten – es ihm doch zeigen will, daß …, daß man ihn also darin doch irgendwie wieder ernst nimmt, das ist das Kleine bei der Rache. Dies daß man glaubt, sich hier schadlos halten zu müssen. Man rächt sich z. B. für Beleidigungen. Denn diese können nicht vergolten werden. Aus einer bestimmten Richtung und Art von Empfindlichkeit entsteht allererst die Möglichkeit einer – meist gar nicht gewollten – Beleidigung. Es ist jemandes Stellung, die durch Unterordnung gegebene Unsicherheit, was ihm die Freiheit zu einer entsprechenden Antwort nimmt. Aus Ohnmacht zur Vergeltung entsteht hier der Wunsch sich zu rächen, d. i. sich irgendwie einen Ersatz 163 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Das Gespann der Intention

für diese ihm vorenthaltene Möglichkeit und dadurch Genugtuung zu verschaffen. Rachsüchtig ist einer, der Erlittenes nicht vergessen kann. Der dabei verweilt, als ob es nicht längst vorbei wäre. Der sein Vorbeisein nicht einfach als geschehen nehmen möchte, sondern der es von einem Ausgleich abhängig machen will. Als ob ›er‹ zu ›seiner‹ Wiederherstellung aufgerufen wäre. Gemessen an ihrer Ambition erscheint Rachsucht als der Wunsch einer in sich verfangenen ›kleinen‹ Seele.« (128–129, Anm. 2) Während Neid die »Berechtigung« des anscheinenden Vorzugs des Anderen »bezweifelt«, (116) sinnt die Rache auf »Vergeltung«, die sie – ohnmächtig – nicht selbst herbeizuschaffen vermag und eben gerade deshalb eben am Anderen gerächt wird. Neid tifft das »Haben«, das dem Anderen so selbstverständlich ist; gerade diese »Art an ihm«, sein »Gehabe« »ärgert mich«. (116) Die nachbohrend darin erspürte Anmaßung beschwingt das Neidischsein. »Erlittenes«, das »man nicht vergessen kann«, ruft aber Rachsucht hervor. Man verweilt nicht nachbohrend beim Anderen – »wie fasziniert durch das Glück des anderen« – (116) das gerade in der Fraglosigkeit seines Gehabens einem wie »aufgespielt« vorkommt. Man verweilt bei sich, weil einem die Möglichkeit vorenthalten scheint, auf Erlittenes, das einen selbst getroffen hat, die »entsprechende« Antwort zu finden. Nachbohrend sucht man in sich selber einen Ersatz, der einem »Genugtuung« verschaffen würde. Rachsucht sinnt darauf, es einem Anderen zu vergelten, sich selbst aber dabei schadlos zu halten. Sie verfängt sich darin in sich selbst, das »Kleinste« schon als Berechtigung zu einem erforderten »Ausgleich« anzusehen, sich an ihrem Schadensersatz selbst zu vermessen. Ihre Ambition ersteigert sich darin ins Maßlose, daß die Rache – ohnmächtig – mit den Antworten, die sie in sich findet, keinen Schritt halten kann. Sie ist nicht »frei« zu diesem selbstgenährten Anspruch auf Vergeltung, den sie am Anderen »üben« möchte. Wie fasziniert durch das »Opfer« des Anderen, das sie »vollbringen« möchte, spielt die Rache – eben darin »süchtig« geworden – alles das aus, was die ihr vorenthaltenen Ausgleichsmöglichkeiten nur irgendwie ersetzen könnte. Das Töten der Rachsucht ist keine Hinrichtung. Sie vergreift sich darin am Opfer ihrer Vergeltung, daß sogar seine Vernichtung ihren Hunger nicht »stillt«. In dieser Hinsicht gibt es »keine ›gerechte‹ Rache«. Die Vergeltung, die sie an jemandem übt, ist »richtungslos«. »Im Haß richtet man sich aber gerade auf den anderen.« (126) »Haß will töten, um zu vernichten.« (128) »Bloßstellung durch Lächerlichkeit will, auf Nichtung sinnt der 164 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Befeindung

Haß.« (128–129) »Eigenstes, worin man sich selbst als unbedingt erfaßt, will nicht heraus- und bloßgestellt werden. Es will sich nicht verfangen lassen in ein Denken und Verstehen, in dem von einem selbst abstrahiert würde. Es will nicht beurteilt werden.« (33) Daß Haß auf Nichtung sinnt, bedeutet aber gerade kein »Urteil«. »Im Haß befeindet man etwas.« (129) »Die gedankenlose Unbekümmertheit, mit der einer sich breitmacht, als ob er dazu gehörte, plumpe Vertraulichkeit, die Selbstsicherheit eines Menschen, in nichts gegründeter Optimismus, pharisäerhafter Cant sollen in ihre Schranken gewiesen werden.« (129) »Man haßt ›diese Art‹ an einem Menschen, also ein allgemeines«, – (127) und nicht etwa »Eigenstes, worin heineri sich selbst als unbedingt erfaßt«. (33) »Das Hängenbleiben an …« diesen Vorwürfen, die man den Anderen nachträgt, läßt Haß »oft als kleinlich erscheinen«, (128) wie auch Rachsucht »als der Wunsch einer in sich verfangenen ›kleinen‹ Seele erscheint«. (128–129, Anm. 2) Das »Kleine« bei der Rache liegt aber darin, daß man »es einem doch zeigen will, daß …«, (ebd.) – und nicht, wie in der Verachtung, »ihn gerade dadurch trifft, daß man ihn übersieht«. (127) Rachsucht glaubt, sich »schadlos halten zu müssen«, (ebd.) während Verachtung »die Restitution jedes Verhältnisses zu ihm abschneidet«. (Ebd.) »In der Verachtung wird […] das Urteil über einen gesprochen.« (127) »Die sachliche Gegründetheit des Hasses« (128) ist jedoch nicht »schlüssig«. Indem Haß in Gedanken verfolgt, indem er »findet«, was er zu seiner sachlichen Begründung sucht, kann er dennoch nicht »loskommen«. (126) Haß ist »nichts qualitativ Letztes«. (130) Die Spitze seiner Intention, in die sich – in einem typischen Gang der Selbst-Interpretation – »das Verschiedenste hineinlegt«, (ebd.) ist keine »Schlußfolgerung«. Im Zerrspiegel seiner Intention erscheinen die herangeführten sachlichen Gründe nicht als denknotwendige Schritte. Sie bieten ebenfalls keinen Ersatz für vorenthaltene Ausgleichsmöglichkeiten. Die »Interpretation« des Hasses hat es weder auf »Allgemeingültigkeit«, noch auf »Sühne« abgesehen. Wie man sich im Haß – »typisch« – plaziert, (126) wird nunmehr deutlich. Der »typische Gang« des Hasses ist: Befeindung. »›Feind‹ ist nicht Gegner. Man mißt sich nicht mit dem anderen. Solche Auseinandersetzung ist ja gerade unmöglich gemacht durch die Sicherheit, durch die sich aller Fraglichkeit überhoben wähnende Art des anderen: daraufhin haßt man ihn gerade doch. Vorzüglich NichtEbenbürtiges wird Gegenstand des Hasses. Also das, dem gegenüber man sich gleichsam verheben würde, wollte man sich kämpfend dage165 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Das Gespann der Intention

gen einsetzen. Man kann nicht gegen Dummheit kämpfen.« (129) Während »jemandes Stellung, die durch Unterordnung gegebene Unsicherheit« ihm die Freiheit nimmt, auf eine Beleidigung die »entsprechende Antwort« zu finden, (128, Anm. 2) ist es die »sich aller Fraglichkeit überhoben wähnende Sicherheit«, »diese Art am anderen«, die eine Auseinandersetzung mit ihm geradezu unmöglich macht. Keinesfalls möchte man sich auf jenes »Niveau« herablassen, wozu die Arroganz seines Benehmens geradezu einzuladen scheint, die in ihre Schranken gewiesen werden soll. Die »Nichtung«, auf die Haß sinnt, ist eine Derogation dieses allzu Selbstgefälligen, das – seiner Art nach – aber »gemein« ist, von dem Haß »sich absetzen« möchte. (130) Während »im Ekel etwas sinnlich erfaßt« wird: was breit sich darbietet – man eine Anfechtung »vom dem her erfährt, was daraufhin […] als ekelhaft empfunden wird« –, (14) wird im Haß etwas gedanklich erfaßt, was sich »breitmacht«. Als gehässig wird etwas empfunden, was durch seine Gemeinheit anfeindet. »Jemandes Haß […] trägt schon das Gepräge seines Geistes.« (127) »Im Haß zeigt sich die Geistigkeit eines Menschen. Das wogegen er empfindlich, wofür sein Blick geschärft ist, was er durchspürt in seinen Verkleidungen.« (130) Was man – als ein »allgemeines« – haßt, ist »allzu gemein« an einem besonderen Menschen, aber keineswegs in seiner »Gültigkeit« auch schon erwiesen. Haß sucht es eben »begründend festzulegen«. (128) Daraufhin ist Haß eben »nichts qualitativ Letztes«. (130)

4.

Tinktionen

»Haß hat aber die verschiedensten Motive und charakterisiert nicht als solcher schon den Menschen.« (129) »Nicht nur Antipathie, die einem aufsässig ist, schlägt in Haß um. Auch Ohnmacht z. B. kann Haß entstehen lassen. ›Es gibt in der Welt keinen größeren Haß als den der Unwissenheit gegen das Wissen‹ (Galileï); im Haß staut sich das Verlangen, abzufinden von einem Vergleich, zu dessen Aufnahme sie sich – widerwillig – immer wieder herausgefordert findet.« (129) Nicht etwa ein »Feindbild« wird im Haß »entworfen«. Wie die »Befeindung« sich entwickelt, sich ausbaut und sich begründend festzulegen versucht, wird an der »Umschlagstelle« faßbar, an der die Affektion – deren Wurzeln verschieden sein mögen – (129) in der »Intention« des Hasses auskippt – die weder als »teuflisch«, noch als »böse« oder »schlecht« »ein166 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Tinktionen

zustufen« ist. 64 Denn obwohl keineswegs ein qualitativ Letztes, (130) will Haß immerhin »gerecht« sein. (126) Was »Gegenstand des Hasses wird« (129) ist nicht etwas, dem im Haß be-gegnet wird – in dem Sinne, daß Haß daraufhin mit ihm als »Gegner« in einer Auseinandersetzung fertig wird. (Ebd.) Das »SichStauen« der Affektion, der, als einer distentio, (13) es nicht gelingt, ihre Spannkraft als »Meiden-von« bzw. »Sich-Abfinden-mit« zu entfalten, weil die Umstände und die Lebensverhältnisse dazu zwingen, in der Nähe dessen, was sie hervorrief, »auszuhalten«, schlägt in der Intention des Hasses um, in der die Affektion erstmals »zu sich selbst entbunden« wird, (16) d. h. aber hier: in einem in Gedanken »Sich-Absetzen-von« sich entfesselt, ohne allerdings loszukommen. »Man erwacht zu sich selbst in diesem Sich-absetzen vom anderen, dessen Gegensatz zu einem im Haß dann bestimmt wird.« (130) Als »Gegensatz« ist er dem Haß keineswegs im vorweg objektiv »gegeben«. Gerade die auszuhaltende Nähe verhindert es, daß eine objektive Vorgabe dieses Gegensatzes sich in einer »Entladung« der Affektion im vorweg anbahnt. Die »Ansatzstellen« (128) zu einem Gegensatz werden im Haß allererst ausgebaut. Im Zerrspiegel seiner Intention »reflektiert« der Haß – darin »Gedanke« – die zunehmend aufgestaute Affektion auf die Schwellenwerte des Staubruches hin. Sein »Blendwerk« gleicht darin keineswegs der »Projektion« irgendeines Bildes. Man »haßt immer ›diese Art‹ an einem Menschen«, (127) die aber kein ins Negative verkehrtes »Projektionsbild« desselben »darstellt« – und ihn ebensowenig »schon als Menschen charakterisiert«. (129) »Diese Art an ihm«, darin verdichtet sich zuspitzend die Affektion, wie sie in der Intention des Hasses »umgeboren«, d. h. aber hier, im Hinblick auf einen Durchbruch der Anstauung »reflektiert« wird, indem sie bis zu einem Schwellenwert angekurbelt wird. In dieser Ankurbelung kommt die Intention – als Gedanke – gar nicht los von der darin aufgenommenen Affektion: sie heitzt sich vielmehr bis zur Entfesselung dessen auf, was sie bis dahin gezwungenermaßen »auszuhalten« hatte. Angesichts des Erreichens dieses Schwellenwertes ist die Intention des Hasses geradezu »suchend«. Als Intention hat Haß nichts »Schlagartiges«; »nachbohrend verweilt« sie an den Ansatzstellen, die sie sucht. (128) »Diese Art an einem Menschen« – darin wird ein Mensch im Haß erstmals urtümlich angebohrt, und nicht etwa durch irgendein generelles Bild »repräsen64

M. Scheler, op. cit., S. 196.

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Das Gespann der Intention

tiert« oder gar als solcher – im Hinblick auf seine »ganze Art« – (143) »charakterisiert«. Weder »teuflisch«, noch »böse« oder »schlecht«, liegt in der Feindseligkeit des Hasses nicht etwas, was irgendeinem generellen Feindbild entspräche, und ebenfalls nicht etwas, worin »die einzelnen Züge des Auftretens und Verhaltens eines Menschen« untereinander schon »zur Deckung gekommen« seien. (Vgl. 143) Haß ist eben »nichts qualitativ Letztes«. (130) Die »Spitze« seiner Intention ist nicht als »bildhafte Verdichtung« etwa ein »Gleichnis« zu irgendeinem »zunächst und eigentlich Begreiflichen«. (15) Das Verschiedenste, das sich in die Intention des Hasses hinein zuspitzt, wird keineswegs als gehässiges auch »begriffen«, d. h. darin »sachlich erkannt und beurteilt«. (130) »So wie das Verschiedenste in derselben Gebärde des Lachens ausschwingt, so legt sich auch als Haß […] das Verschiedenste fest. […] Und wie das Lachen verschieden klingt, so kann auch der Haß verschieden tingiert sein: es gibt hellsichtig aggressiven, aber auch verbohrten Haß, aus dem einer nicht mehr herausfindet, in den er sich verliert. Haß kann scharf zupacken oder ätzend fressend sein; dem glühenden Haß steht der dumpf schwelende Haß gegenüber.« (129–130) Was sich hier jeweils als Haß festlegt, ist nicht »als Formel herausstellbar«. (15) Wie einer im Haß zu sich selbst erwacht, sich darin ergreift bzw. sich im leidenschaftlichen Haß ersteigert, sich daraufhin verzehrt – sind unterschiedliche »Färbungen« des »Lebens« in der Intention des Hasses. »Der Haß verhindert es zu erlahmen in der Feindschaft.« (129) Sein Anbohren ist urtümliche »Befeindung« – nicht die »Anerkennung« eines sachlich als »feindlich« bereits Bestimmten und Beurteilten. »Enttäuschte Liebe schlägt – gerade je tiefer man sich dem anderen verbunden hatte – in Haß um; Haß beweist sich die Notwendigkeit einer Lösung. Neben dem Haß des Ressentiment als einer kleinlichen Gesinnung steht der Haß Goethes gegen Newton.« (129) An der Umschlagstelle geschieht es, daß der Haß einen »erfüllt«, d. h. daß die Enttäuschung seiner Liebe ihn nunmehr dazu nötigt, das vinculum fidei et amoris zu sprengen, hellsichtig werdender Haß die Täuschungen entlang sich entzündet: als ein zweites Auge, das gerade an den Stellen, wo die Blindheit der Liebe »übersehen« ließ, sehend werdend in der Grube des »Verrates« seinen Sprengstoff einbohrt. Kleinlich fordert Ressentiment einen dazu auf, auf ›seinem‹ Niveau zu starten und sich des Vorzugs zu begeben, was er für »wirkliche Größe« ausgibt. (116–117) Die Größe des Hasses Goethes drängt nachbohrend in das feinste Gefilde 168 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Tinktionen

des Felsenblocks Newtons ein. »Wo im Haß der Feind erkannt wird« – »darin kann sich die Geistigkeit eines Menschen zeigen«, d. h. »dasjenige, wofür er hellsichtig aufgeschlossen ist«. (132) »Jeder Haß ist aber ein Zeichen der Denkungsart.« (132) »Jemandes Denkungsart ist nicht einfach seine Gesinnung. Sie zeigt sich an in dem, was einer im Sinn hat gegen die anderen bzw. womit er sich als irgendwelchen Absichten trägt.« (132, Anm. 2) Zur »Denkungsart« gehört die Entschiedenheit ausgesprochener Meinung. Die »Erfüllung« der Minne ist als γνωσϑαι ursprüngliches »Erkannt-Werden«. 65 Die »Stärke« des Hasses ist jedoch Anzeige der »Denkungsart« eines Menschen, d. h. der Gründung seines Charakters. »Man kann auch annehmen, daß die Gründung desselben gleich einer Art der Wiedergeburt, eine gewisse Feierlichkeit der Angelobung, die [der Mensch] sich tut, sie und den Zeitpunkt, da diese Umwandlung in ihm vorging, gleich einer neuen Epoche ihm unvergeßlich mache.« 66 »Jemandes Haß trägt […] schon das Gepräge seines Geistes.« (127) Das »innere Prinzip des Lebenswandels« eines Menschen bahnt sich in der »Fülle« seines Hasses an. 67 »Einem positiven Hinblicken auf den möglichen niedrigeren Wert eines Gegenstandes« 68 bleibt dieses innere Kraftwerk des Hasses, auf die »Festigkeit und Beharrlichkeit« eines Grundsatzes erstmals hinzuwirken, 69 wohl auf immer verborgen.

G. Misch, Der Aufbau der Logik auf dem Boden der Philosophie des Lebens. Göttinger Vorlesungen über Logik und Einleitung in die Theorie des Wissens. Hrsg. von G. KühneBertram und F. Rodi. Alber, Freiburg/München 1994, S. 322. 66 I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, op. cit., S. 244–245 [293–294]. 67 I. Kant, op. cit., S. 245 [294–295]. 68 M. Scheler, op. cit., S. 176. 69 I. Kant, op. cit., S. 245 [294–295]. 65

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Schritte zu sich selbst. »Unverkürzte Wirklichkeit« des Menschen

»Und sofern hier Pedanterie, Schamgefühl usw. als existentielle Möglichkeiten dargestellt werden, kippt Psychologie immer um in Philosophie. Psychologie legt nur die Ebene fest, an der Philosophie als existenziale Analytik einsetzen kann.« (H. Lipps, Die Wirklichkeit des Menschen. Werke Bd. V. Frankfurt a. M. 1977, S. 165–166) »Denn was ist Gegenstand der Psychologie? Die Einstellungen, Haltungen usw. von Existenz. Was soll es heißen, das Lachen z. B. ›etwas Psychisches‹ zu nennen, oder die Affekte, die von ihrem leiblichen Ausdruck nicht zu trennen sind? Psychologie gehört mit Völkerkunde, Anthropologie, Soziologie, Geographie zur Weltkenntnis. Wobei Welt das ist, worin man sich bewegt, in der sich das mit anderen gelebte Leben abspielt […].« (Ebd., S. 168) »In Geiz, Verschwendung, Habsucht ›geschieht‹ Existenz. Sie tut darin Schritte zu sich selbst, wobei sie sich in ihrer Eigentlichkeit gewinnen und sich in ihrer Uneigentlichkeit verlieren kann. Geiz, Pedanterie usw. sind Schicksale. Möglichkeit und Wirklichkeit des Menschen sind nur als Wandlungen von Selbstheit darzustellen, denn Existenz hat ihre Vergangenheit nicht hinter sich. Sie ist nicht gestreut in einen Kontext der Wirklichkeit. Ihre Vergangenheit ist als Schicksal an ihr selbst zu finden.« (Ebd., S. 169) »Auch die Wirklichkeit kann gegenüber dem, wie sie sich oberflächlich zeigt, durch Tieferliegendes erklärt werden. Aber diese Wirklichkeit bzw. ihr Kontext ist hier etwas, was, sich selbst genügend, mit sich selbst ins reine gebracht werden kann. Man durchschaut hier die Erscheinungen in ihrer unverstehbaren Äußerlichkeit. Die Wirklichkeit des Menschen ist aber Indikator für existentielle Möglichkeiten.« (Ebd., S. 163)

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»Ergriffenheit«: der philosophische Affekt

»Verstehen [ist] immer auf [dem] Weg zu innerer Möglichkeit.« (Ebd., Anm. S. 201) »Wirklichkeit = factum im Sinne von Kant[s Frage] quid facti.« (Ebd.)

1.

»Ergriffenheit«: der philosophische Affekt

»Die philosophischen Probleme verstehen sich nicht ohne weiteres. In die Philosophie kann man nur versetzt werden. Es ist kein natürlicher Affekt, in dem die Philosophie sich selbst einleitet.« (Wirklichkeit des Menschen S. 161) In die existentiale Analytik wird man mit H. Lipps insofern versetzt, als – nicht so ohne weiteres verständlich – eine »Psychologie des Menschen« hierin einkippt. »Man kann nicht damit rechnen, daß aus einem natürlichen Affekt dort Aufgaben als etwas sachlich gegebenes [aufgenommen werden]« (Ebd.) – in dem die Philosophie sich dann selbst so einleitet, daß sie diesen nach- bzw. auf den Grund geht. »Ein philosophisches Beginnen, sofern hier auf die Existenz des Menschen reflektiert wird«, verleiht einer Psychologie »wesentliche Spannung«, (ebd.) deren »Gegenstand« die »Einstellungen, Haltungen usw. von Existenz« sind, (ebd., S. 168) die aber grundsätzlich zur »Weltkenntnis des Menschen« gehört – als Spielraum seiner existentiellen Möglichkeiten. Menschenkenntnis, die »den Menschen in ›seinen‹ Möglichkeiten kennt«, (Menschliche Natur, S. 8) hat als solche »noch nicht die Spannung philosophischen Fragens«: »Es gilt, in den Möglichkeiten des Menschen seine Natur und die Art seiner Existenz aufzudecken« – deren »Verfassung« durchsichtig zu machen. (Ebd., S. 8) Z. B. »den Geiz aus seinem Ursprung zu verstehen, was er (innerlich) ›ist‹ aufzuzeigen und sein Gezüge im Blick auf die menschliche Natur so auszulegen, daß diese in jeder dieser verschiedenen Möglichkeiten des Menschen wiedererkannt wird«. (Ebd., S. 9) »In Geiz, Habsucht ›geschieht‹ Existenz. Sie tut darin Schritte zu sich selbst […]. Geiz, Pedanterie usw. sind Schicksale.« (Wirklichkeit des Menschen, S. 169) »Eine Psychologie, die stillschweigend durch ein tieferes Verlangen nach Menschenkenntnis dirigiert ist«, (Wirklichkeit des Menschen, S. 162) stellt H. Lipps einer »Schulpsychologie« gegenüber, (Menschliche Natur, S. 7) »die etwas so durch eine bestimmte philosophische 171 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Schritte zu sich selbst

Position und Problematik Fixiertes wie das ›Bewußtsein‹ in Ansatz zu bringen« versucht. (Ebd., S. 7) »Psychologie ist aber nun geradezu verstrickt in philosophische Vorentscheidungen. Sie will die ›Bewußtseinserscheinungen‹ als das ›unmittelbar Gegebene‹ untersuchen, wobei sie abhängig geblieben ist von den entscheidenden Positionen des Descartes, die sie ungeprüft übernommen hat. ›Erkenntnistheorie‹ hat sie infiziert.« (Wirklichkeit des Menschen, S. 166–167) »Des näheren […] ist der Schulbegriff der Psychologie durch die Dogmatik bestimmt, in die die Position des Descartes abgeglitten ist. Die Psychologie wird angebaut als Einzelwissenschaft, die die Bewußtseinserscheinungen untersucht; ihre Erweiterung durch das Unbewußte betont gerade, wie sie im Bewußtsein ihren Einsatz findet.« (Ebd.) Eine »Weltkenntnis des Menschen«, die sich in den Einstellungen, Haltungen usw. von Existenz knüpft, um diese – darin erst spannungsvoll – aus ihrem Ursprung heraus zu verstehen, d. h. aus deren »inneren« Möglichkeit, soweit Existenz hierin Schritte zu sich selbst tut, in denen sie sich in ihrer Eigentlichkeit gewinnen oder in ihrer Uneigentlichkeit verlieren kann, ist des näheren keine »Bewußtseinstheorie«, die H. Lipps geradezu als »ideologisch« kennzeichnet. »Etwas als ideologisch kennzeichnen bedeutet die Spannung aufzeigen, in der es zu der unverkürzten Wirklichkeit steht.« (Wirklichkeit des Menschen, S. 168) »Das in Schultraditionen sich fortpflanzende Denken ist ideologisch, sofern es in sich verfangen bleibt.« (Ebd.) Die Einstellungen, Haltungen usw. von Existenz sind keine unmittelbar gegebenen Bewußtseinserscheinungen. Das Verfängliche der Schulpsychologie erblickt H. Lipps gerade darin, daß im Zuge einer sich ins Dogmatische entgleitenden Betrachtung der Position Descartes’ »das cogito zu einem ›gegeben‹ Bewußtseinsinhalt wird«. (Ebd., S. 168) »Und von daher nimmt die Psychologie dieses Cogito auf als Bewußtseinserscheinungen, die im Bewußtsein als vorliegendem Felde der Wirklichkeit auftreten und als ›das Psychische‹ beobachtet, klassifiziert, erklärt werden. Wobei der Mensch nur eben der Schauplatz dieser Erscheinungen ist.« (Ebd., S. 168) Daß dennoch in den Einstellungen, Haltungen usw. von Existenz eine Weltkenntnis des Menschen sich anbahnt, die aber nicht auf cogitationes im Sinne von »Bewußtseinserscheinungen« aufruht, bekommt nunmehr entscheidendes Gewicht. An Stelle des »zur Schau Stellens« der »psychischen« tritt eine »unverkürzte Wirklichkeit«. »Die Möglichkeit und Wirklichkeit des Menschen ist etwas anderes als die Wirklichkeit, die sich in Erscheinungen ausbreitet, in Situationen pas172 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Angriffspunkte des »Bewußtseins«

siert wird, mit der es fertig zu werden, die es einfach zu begreifen gilt. Diese Wirklichkeit spricht nicht zu mir. Ich erschließe sie mir lediglich, aber sie erschließt nicht sich mir, wie gerade die Wirklichkeit des Menschen sich mir erschließen kann.« (Wirklichkeit des Menschen, S. 169) Dem Ansatz gegebener Bewußtseinserscheinungen tritt der Anspruch sich mir erschließender Existenz gegenüber. In einer Psychologie des Menschen, die von vornherein anthropologisch konzipiert ist, sofern »die Wirklichkeit des Menschen von vornherein anthropologisch verstanden ist, wenn sie in Spannung steht zu den Ansprüchen des ›Lebens‹, das geführt wird«, (Wirklichkeit des Menschen, S. 164) muß dem cogito eine neue Bedeutung zuwachsen. Diese ist freilich nicht leicht zu gewinnen. Es ist bemerkenswert, daß die zu interpretierende Mitte des Textes von H. Lipps: Die menschliche Natur, eben dieser Frage gewidmet ist. Daß man »durch Psychologie enttäuscht, aber auch ergriffen werden kann«, (Wirklichkeit des Menschen, S. 162) ist kein »natürlicher Affekt« – in dem aber die existentiale Analytik »sich selbst einleitet«. (Wirklichkeit des Menschen, S. 161)

2.

Angriffspunkte des »Bewußtseins« »La conscience est un élément de l’être sournois et patient.« P. Magnan, Un monstre sacré. Ed. Denoël 2004, S. 112

Die Scham galt insofern als »ein primäres Anliegen« der Philosophie, als gerade sie »am Ursprung des Sich-seiner-bewußtseins« steht. (Menschliche Natur, S. 31) »Scham überkommt einen in der Erkenntnis von etwas. Man wird sich seiner oder des Heiklen einer Situation bewußt.« (Ebd., S. 44) Erkenntnis bedeutet hier – gerade – keine »Theorie«. Wie auch dasjenige, dessen man sich hier bewußt wird: »die gerade in der Unanrührbarkeit von etwas zum Vorschein kommende Tangibilität«, (ebd., S. 41) das »Heikle« dieser Situation, sich der »gegenständlichen Bestimmung« geradezu entzieht. Daß hinter der Konzeption der Scham wie der des Tabu und des Frevels »derselbe Grundtypus steht«: daß z. B. »eine Homologie zwischen dem Schamgefühl und der Scheu vor dem Frevel besteht«, (ebd., S. 41) zeigte erst recht, wie in ihr »nicht […] wirkliche Vorkommnisse auf den bloßen Nenner eines verstandenen Verhaltens gebracht werden«. (Ebd., S. 31) Nur »in Grenzen« konnte man an dasjenige »appellieren«, was hier – im Schamgefühl – 173 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Schritte zu sich selbst

aufgenommen wurde, (ebd., S. 41–42, Anm. 1) das »jeder schon einmal an sich selbst erfahren hat« – »dessen Begriff deshalb auch in der Psychologie vorausgesetzt werden kann«. (Ebd., S. 31) In der jeweils unterschiedlichen Konzeption von Scham, Tabu und Frevel z. B. werden aber »Differenzen der Lebenshorizonte merkbar«. (Ebd., S. 41–42, Anm. 1) Enttäuscht wird man durch eine Psychologie, welche »die Gefühle [zwar] unterscheidet, aber sie nicht bestimmt. Sie nicht interpretiert. Nicht demonstriert, wie [i. c.] das Schamgefühl sich selbst bestimmt.« Wie »eine bestimmte Auslegung sich darin verdichtet«. (Ebd., S. 41) Gegenüber der französischen Psychologie des achtzehnten Jahrhunderts, die kritisch-entlarvend »das Scheinhafte gegenüber der Wirklichkeit« aufzeigen, (Wirklichkeit des Menschen, S. 165) »das Arrangement der Gefühle durchschauen« möchte, (Menschliche Natur, S. 8) »will philosophische Destruktion demonstrieren, was Geiz z. B. ›eigentlich‹ ist, nämlich seiner inneren Möglichkeit nach« – »Pedanterie, Schamgefühl usw. als existenzielle Möglichkeiten darstellen«. (Wirklichkeit des Menschen, S. 165) Allerdings: »Die Natur des Menschen ist nichts, was – hat man sich nur mit diesem und jenem in gehöriger Ordnung bekanntgemacht – dann an seinem Ort demonstriert werden könnte.« (Menschliche Natur, S. 9) Nur »in Grenzen« kann man an dasjenige »appellieren«, was sich im Schamgefühl z. B. »verdichtet« – welcher »Lebenshorizont« hier gerade »merkbar wird«. Wie hier von »Erkenntnis« und »Sich-seiner-bewußwerden« gesprochen wird, bezieht sich auf »intrikate Bestimmungen« (vgl. Menschliche Natur, S. 57) – d. h. auf »Verstrickungen« des Menschen »in sich selbst«, (ebd., S. 56) innerhalb seiner »Auslegung«: »von woher sich der Mensch versteht, wohin und wie weit hier der Blick aufgenommen wird«. (Ebd., S. 41) Psychologische »Demonstration« »bestimmt, worin sich das [i. c. im Schamgefühl] Aufgenommene vergleicht«, »und damit die Richtung, in der es sich fest-stellt und erfaßt«. (Ebd., S. 41) Was als Lebenshorizont hier merkbar wird, ist nichts Eindeutiges – etwas, was man »auf eine Formel bringen« könnte. (Ebd., S. 41) Nur an seinen »Verknotungen« sind die »verschiedenen Bezüge«, die sich im Schamgefühl z. B. »erfüllen«, (ebd., S. 41) zu »packen«. »Auch in der Furcht z. B. wird wohl etwas erkannt, und das bedeutet hier, daß der Raum sachlicher Verhältnisse darin gesichtet wird.« (Ebd., S. 44) Furcht »findet an der Gefahr ein Maß«. (Ebd., S. 105) »Man kann jemandes Furcht und darin ihn verstehen.« (Ebd.) »Von der Furcht kann ich mich auch selbst distanzieren«, zu ihr »das freie 174 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Angriffspunkte des »Bewußtseins«

Verhältnis des Gedankens gewinnen«. (Ebd.) »Erkenntnis bedeutet hier ein Beginnen, bei dem man sich auseinandersetzt mit den Dingen.« (Ebd., S. 44) Andererseits: »›Timor fuga est‹ : nicht die Furcht, die Gedanke wird, die angesichts einer hierin erschlossenen Gefahr sich frei zu etwas bestimmen läßt, ist hier gemeint. Als fuga zeigt sich eine Furcht, die dem nicht ins Auge sieht, was herankommt, die verscheucht, sich nirgends zu stellen wagt, die aufgibt, was dort Vorsicht zu schützen sucht.« (Ebd., S. 13) »Während der Vollzug meiner selbst in der Bündigkeit meiner umsichtig begründeten, dies und jenes aufnehmenden Furcht z. B. zum Vorschein kommt, darin daß sie sich zuspitzt auf etwas – ist das Bewußtsein regressiv.« (Ebd., S. 55–56) Im Vergleich zur Erkenntnis, die den Beginn einer Auseinandersetzung mit den Dingen bedeutet, »ist es etwas anderes, sich seiner oder einer Sache bewußt zu werden. Denn hier wird man vor sich selbst zurückgebracht, bzw. es ›wird‹ einem hier etwas bewußt. Das Bewußtsein ist etwas, was sich von selbst macht. Und während im einen Fall mir Vorenthaltenes erschlossen, hierin eingegriffen wird, erkennen hier ein verwahrend beiseite bringen ist, ist das, dessen man sich bewußt wird, als ›noch nicht bewußt‹ schon gleichsam angelegt auf das Bewußtsein.« (Ebd., S. 44) Aber: »Was heißt es überhaupt: ›Gegenstand‹ meines Bewußtseins zu sein?« (Ebd., S. 44) Was verfestigt sich darin? »Daß man sich einer Sache bewußt ist, bedeutet« – zunächst – »daß sie als richtunggebend mit eingestellt ist in meinem Entschluß, bzw. daß man sich darüber klar ist«. »Das sich-darüber-klar-sein als ein status meiner selbst fällt nicht zusammen mit der es vielleicht vermittelnden Orientierung, die man von einem Gesichts- oder Standpunkte aus bekommt, an der man als etwas jedem Gegebenen nur eben ›teil hat‹. Auch Wissen ist etwas anderes. Denn man besitzt es, man steht dazu oder gewinnt ein Verhältnis dazu. Wissen gibt es als etwas jedem Verbindliches. Es ist ein sachlicher Bestand, der vermehrbar, mitteilbar, anwendbar ist. Wissen ist nicht daraufhin wirklich, daß es von mir gehabt wird, sondern daraufhin, daß es tatsächliches Wissen und kein Irrtum ist.« (Ebd., S. 44) Worüber man sich klar ist, erscheint noch nicht im Lichte einer übergreifenden, mit Anderen geteilten Orientierung bzw. hat noch keinen »Bestand« im Sinne eines jedem »verbindlich« Gegebenen. »Das als richtunggebend im meinen Entschluß mit Eingestellte«, worüber »man sich klar ist«, hat ebenfalls keine ausschlaggebende Bedeutung im Sinne einer entschiedenen »Ausrichtung«. Als »mit eingestellt« ist es »seitlings«. »Die Sprache unterschei175 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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det das irgendwo Mitgetane, dessen man sich bewußt sein kann oder nicht, von dem Unbewußten als etwas unter der Hand Getanem.« (Ebd., S. 44) Aber: »Darin, daß man sich einer Sache bewußt ist, ist man noch nicht in ein Verhältnis zu ihr getreten, derart etwa wie die Wahrnehmung es aufnimmt mit den Dingen, sich ihrer Wirklichkeit versichert.« »Das, dessen ich mir bewußt bin, wird hierbei weder bezielt noch affiziert es mich. Sondern es bestimmt mich: ich lasse mich nämlich dadurch bestimmen.« (Ebd.) »Man ist sich z. B. […] seiner Lage bewußt«, (ebd.) in der man sich befindet; man ist sich darüber im klaren, daß sie einen bestimmt. »Nur dessen wobei man sich findet kann man sich bewußt werden.« (Ebd., S. 56) »Gerade in der Überdeutung des Bewußseins von … zu einer Intentionalität des Bewußtseins wird ein solches Verhältnis zu … ausgedrückt.« (Ebd., S. 45, Anm. 1) Das Genitivobjekt (dessen man sich bewußt »ist«) verschiebt sich, wenn es in einem Dativobjekt (von dem man Bewußtsein »hat«) verwandelt wird. Das seitlings mit Eingestellte wird zurechtgerückt, wenn es als »richtunggebend« im Hinblick auf ein »Auftreten« des Bewußtseins gedeutet wird, das es damit überdeutlich »meint«, d. h. zur »Mitte« seines entschiedenen es-damit-Aufnehmens wählt. »Cogitationis nomine illa omnia intelligo quae nobis consciis in nobis fiunt« – heißt es bei Descartes. 1 Der Ansatz eines ›Bewußtseins‹ bedeutet dem gegenüber eine Verschiebung. Denn das, ›wovon‹ es hier Bewußsein ist, ist der darin sich ausweisende Gegenstand. Die Dinge werden umgemünzt zu Objekten. Sie sind als ›gesetzt‹ im Bewußtsein. Die Vorstellung wird zum Prototyp des Bewußseins-›inhaltes‹.« (Ebd., S. 58, Anm. 1) Das Wahrnehmungsbewußtsein wird als ein doxischthetisches, d. h. als ein in seinem gegenständlichen »Vermeinen« positionales aufgefaßt. »Die in ›bewußt‹ bezeichnete Ausgerichtetheit auf … wird hierbei gleichsam vom anderen Ende aufgenommen. In der Form der Bewußtheit ist der Gegenstand nachzuzeichnen.« (Ebd.) Das Sich-Ausweisen des Gegenstandes ist der »intuitiven Erfüllung« im Oeuvres de Descartes publiées par Charles Adam & Paul Tannery VIII-1. Principia Philosophiae. Vrin, Paris 1964, S. 7 [IX]. Quid sit cogitatio. »Cogitationis nomine, intelligo illa omnia, quae nobis consciis in nobis fiunt, quatenus eorum in nobis conscientia est.« – Vgl. R. Descartes, Méditations métaphysiques. Objections et réponses suivies de quatre Lettres. Flammarion, Tours 1979, Définitions, S. 259 resp. Oeuvres de Descartes publiées par Charles Adam & Paul Tannery VII. Meditationes de prima philosophia. Vrin, Paris 1964, S. 160 [217]. Definitiones. »Cogitationis nomine complector illud omne quod sic in nobis est, ut ejus immediate conscii simus.«

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Wahrnehmungsverlauf anheimgestellt, der als eine »synthetische Leistung« des Bewußtseins auf die Identifikation des vermeinten Gegenstandes ausgerichtet ist. Mit der Fülle des leibhaftig Selbstgegebenen tritt er in die Spuren seiner »Vor-gegebenheit«. »Daß sich das Subjekt des Seienden ›bewußt‹ ist, bedeutet andererseits gerade, daß es sich zum Ausweis des Seienden als Gegenstand auf sich selbst verwiesen findet.« (Ebd., S. 45, Anm. 1) »Dies Bewußtsein hat sein Subjekt aber allererst zu suchen, bzw. es hat in mir nur eben sein gelegentliches Subjekt – ich finde mich hier – reflexiv – mit darin.« (Ebd., S. 58, Anm. 1) In der gegenständlichen Ausgerichtetheit des Wahrnehmungsbewußtseins ist das Subjekt – sich selbst vorweg – dem vorgegebenen Gegenstand in seinen Vorstellungen »hingegeben«, in seiner synthetischen Identifikationsleistung einbegriffen. Es bedarf der immanenten Reflexion, um es – als solches – in seiner Tätigkeit erstmals aufzudecken. »Gelegentlich« meint hier: »aus Anlaß« des Wahrnehmungsgeschehens, in dem es im vorweg verwickelt und passend eingebunden ist, in dem es sich erst immanent reflektierend selbst »findet« als darin schon aufgenommen – als bereits »mit darin«. Diese ursprüngliche Nachträglichkeit des Wahrnehmungsbewußtseins, sich selbst in gegenständlicher Hingegebenheit vorweg zu sein und nur in der immanenten Reflexion sich »unmittelbar« – in einer apodiktischen Gewißheit, die aber keinesweges eine adäquate Gegebenheit bedeutet – zu »finden«, ist nicht ohne Folge für die Natur seines »synthetischen Leistens«. »Es empfindet nicht eigentlich, sondern ›hat‹ Empfindungen. Das Indifferente, nichts eigentlich Besagende dieses ›Habens‹ von Empfindungen als etwas Gegebenem bringt aber zum Vorschein, wie hier schon im Ansatz die Natur des Menschen, das worin er als Vermögen aufgeschlossen ist für das womit er ist, unterschlagen, wie das Sehen, Hören usw. unbegriffen ist.« (Ebd., S. 45, Anm. 1) Die gegenständliche »Ausgerichtetheit« des Wahrnehmungsbewußtseins als ein »intentionales Vermeinen« bzw. als eine »intuitive Erfüllung« im Sich-Ausweisen des Vermeinten verstellt die ursprüngliche Begegnung mit den Dingen. Denn diese sind keineswegs etwa »vorgegeben«. In der Hingegebenheit des Wahrnehmungsbewußtseins wird nicht eigentlich »empfunden«, d. h. eingefunden in demjenigen, wofür die menschliche Natur in leiblichen Vermögen spezifisch aufgeschlossen ist – in demjenigen, »womit« der Mensch in den »verschiedenen Modalitäten seines Empfindens« ist. (Ebd., S. 81) Das das Wahrnehmungssubjekt Affizierende wird lediglich als ein Empfindungsdatum 177 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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betrachtet, das der noetischen Beseelung unterstellt wird, sofern diese das Empfundene als in der gegenständlichen Richtung »darstellend« auffaßt. Das Empfundene wird als »Gegebenheit« auf seine Darstellungsfunktion für das Gegenstand-vorstellende Bewußtsein eingeschränkt. Was im »Emp-finden« eigentlich angesagt ist: die leibliche »Berührung« im »Sein-bei« den Dingen, wird in der generellen »Habe« von gegebenen Empfindungen durch Vermittlung des Körpers als »Schauplatz daran auftretender Empfindungen« unterschlagen – ohne daß das Wahrnehmungssubjekt diesen Körper »als den ›seinen‹ eigentlich ›haben‹ könnte«, (ebd., S. 81) d. h. aber darin als in seiner Leiblichkeit »ist«. »Die Modalitäten des Empfindens werden übersehen, wenn der Gesichtspunkt maßgebend wird, durch Empfindungen etwas in Erfahrung bringen zu wollen. Als ob etwas ›an‹ den Dingen empfunden, daran gleichsam aufgelesen würde. In dem ›Gegebenen‹ der Empfindung drückt sich dann das Unbeteiligte, Extramundane dieses wie mit sich allein seienden Subjekts aus, bzw. dies daß es nicht eigentlich selbst sondern nur durch Vermittlung eines Körpers […] mit den Dingen in Berührung kommt.« (Ebd., S. 81) »Man ist nie im Leeren, sondern immer ›mit‹ den Dingen.« (Ebd., S. 78) »Die Sinne verkörpern verschiedene Modalitäten des Empfindens.« »Mein leibliches Verhältnis zu den Dingen ändert sich hier immer: die Umstände strecken sich verschieden; die Weite der Welt wechselt.« (Ebd., S. 81) Daraufhin ist beispielsweise das Sehen oder das Hören zu betrachten, bei dem man je »anders dabei ist«, (ebd., S. 80) bzw. auch das Riechen und Schmecken, worin man »lediglich auf der Spur der Dinge gebracht wird«, ohne daß sie darin schon »unter einem Horizont« freigekommen wären. (Ebd., S. 81) Die Auffassung von Empfindungsdaten in ihrer Darstellungsfunktion zeigt das synthetische Leisten des Wahrnehmungsbewußtseins in ihrer »noetischen Animation«, d. h. in ihrer vernünftigen Bewegtheit. Diese hat es auf die Synthesis der Identifikation des im Wahrnehmungsablauf gemeinten, intendierten Gegenstandes abgesehen. ›Erkennen‹ bedeutet hier ein ›Sicherstellen‹ dessen, was der gemeinte ›Vorstellungs‹-Gegenstand »in Wirklichkeit« ist. Das Verwahrend-beiseiteBringen von Vorenthaltenem kippt hier in bewährendem Zur-SchauStellen von Vorausgegebenem um. Was zunächst einmal als richtunggebend in meinem Entschluß eingestellt war, soll als gerade (linea recta) intendiert nunmehr überdeutlich ausgemacht werden, damit es entschieden ist. »Bewußt« – das bezieht sich hier nicht mehr auf dasjenige, 178 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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»wobei man sich findet«, (ebd., S. 56) sondern auf dasjenige, worauf man selbst »setzt«. Sich einer Sache bewußt zu sein bedeutet: sich darüber klar zu sein, daß sie mich bestimmt. »Weshalb das ›sich nicht dessen bewußt zu sein, daß …‹ einen Mangel in der Richtung von Blindheit, Gedanken- und Gewissenlosigkeit erweisen kann, und das ›ohne ein Bewußtsein davon zu haben, was man tut‹, eine Störung im Ganzen bedeutet.« (Ebd., S. 45) »Dieses Unklar-Verwirrte des ›ohne Bewußtsein …‹ ist etwas anderes als Unbesonnenheit. Unbesonnen geschieht etwas, sofern es voreilig und ohne Überlegung geschieht. ›Unbesonnen‹ charakterisiert ein innerweltliches Verhalten, das insofern nicht richtig ist. (›Ohne Besinnen‹ würde dagegen meinen: ohne erst zu überlegen, ohne weiteres – was gerade das Richtige sein kann.) Man bringt jemand zur Besinnung, sofern er herumgetrieben nicht auf sich selbst sich stellen kann. Besinnung steht als Sammlung der Zerfahrenheit gegenüber. Einer, der durch Einfälle gepeinigt und verfolgt wird, kommt nicht zur Besinnung. ›Unbedacht‹ heißt: ohne an die sachlichen Folgen zu denken, ›unbesonnen‹ dagegen: sich über die eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten hinweg täuschen. ›Nicht bei Sinnen sein‹ bedeutet ungezügelte Direktionslosigkeit.« (Ebd., S. 45, Anm. 2) In der »Bestimmung« ist die Bewegtheit dessen angezeigt, wobei man ist resp. sich insofern findet, als man sich dadurch bestimmen läßt. »Wobei Bewegtheit […] natürlich nicht Bewegtheit eines ›Vorhandenen‹ bedeutet.« 2 Das als richtunggebend in meinem Entschluß mit Eingestellte ist etwas mich »Beanspruchendes«, und nicht etwa ein bloß mich »Affizierendes«. Gerade »die in der Unanrührbarkeit von etwas zum Vorschein kommende Tangibilität« z. B., die die Scham »bannend« umkreisen und »unterbinden« möchte, (ebd., S. 32) zeigt erst recht, worin das mich in Anspruch Nehmende der »Empfindsamkeit« vom »mich Affizierenden« der »sinnlichen Empfindung« spezifisch differiert. »Scham ist gerade darin lebendig, daß sie Bestimmtes gar nicht aufkommen läßt (ebd., S. 32) – »das bestimmend hineinragt im menschlichen Leben«, (ebd., S. 36) d. h. aber als »Grundlage« –, worin »sich das Beunruhigend-Aufregende ausdrückt, sich den neuen Boden seiner Existenz erst schaffen zu müssen«. (Ebd., S. 34) »Richtunggebend« ist Vgl. L. Binswanger, Drei Formen mißglückten Daseins. (1956) In: Ausgewählte Werke Bd. 1: Formen mißglückten Daseins. Hrsg. von M. Herzog. Asanger Verlag, Heidelberg 1992, S. 238.

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– hier – das mit Eingestellte insofern, als es gerade in der Richtung vordrängt, in der ich bloßgestellt werde, d. h. aber in der Richtung auf »Eigenstes, worin man sich als unbedingt erfaßt« (ebd., S. 33) – auf dasjenige, was eine »Nähe zum Personalen besitzt, dessen Integrität verletzt werden könnte«. (Ebd. S. 37) Am »prohibitiven«, »verwahrendem beiseite Bringen« des mich Tangierenden wird ersichtlich, »wie in der Gegenrichtung Natur hier vom Menschen her bestimmt ist«. (Ebd., S. 36) »Ich selbst bin der Schutz meiner Blöße: C’est l’âme qui enveloppe le corps.« 3 (Ebd.) »Die Blöße meines Körpers ist etwas, was nicht ›für sich‹ und d. h. hier: in die vor Augen ausbreitbare Wirklichkeit gezerrt aufkommen kann für das, dessen natürliche Grundlage sie doch nur ist.« (Ebd.) Das sichtbar Unbedeckte meines Körpers in seiner natürlichen Gegebenheit kann nur in Grenzen die Tangibilität hervorrufen, die an meine Verletztlichkeit verweist: wenn es über diese schlichte natürliche Gegebenheit »hinausgezogen« an »eigentlich Grundlegendes für ein Leben, das geführt werden will« appelliert (ebd., S. 37) – bzw. daran »rührt«. Wie sehr die »Empfindsamkeit« vom sinnlichen Empfinden tatsächlich differiert, zeigt sich hierin, daß man geradezu durch den Blick »angetastet wird«, der »auf bestimmte Teile des nacken Körpers« ruht. Das Angetastetwerden bedeutet eine »Befangenheit« im Hinblick auf »Ungeschütztes« meiner selbst, (ebd., S. 35) keinesfalls eine sinnliche »Berührung«, die der betrachtende, im Sehen aber »freischwebende« Blick an der betreffenden Stelle meines Körpers ohnehin nicht hervozubringen vermag. Daß die Befangenheit sich dennoch gleichsam am Tastsinn orientiert, als fahre der schamlose Blick tastend stückweise entlang an den zunehmend fragwürdig werdenden Teilen meines Körpers, bezieht sich auf seine besondere Bedeutung als einen sogenannten »Nahsinn«. Tastend bleibt man den Dingen auf der Spur; »die Fährte des Getasteten«, der zeitweilig andauernde Kontakt erschließt das »in Strecken seiner Ausdehnung Erfahrene«, (ebd., S. 80) das aber »isoliert«, »gegeneinander getrennt« bleibt. Die »Erstreckung« kommt nicht als solche »frei« in Verhältnissen »des Zu- und Gegeneinanderliegens der Dinge«, (ebd.) wozu es gerade hier »der Übersicht« fehlt. (Ebd., S. 79) »Sicherlich – man ist im Raum hierbei – aber doch wie verloren an das, was darin angetroffen wird. Sicherlich – etwas erVgl. F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. In: Werke in drei Bänden. Hrsg. von K. Schlechta. Bd. II. C. Hanser, München 1966, S. 635, S. 142: »Das züchtigste Wort, das ich gehört habe: ›Dans le véritable amour c’est l’âme, qui enveloppe le corps.‹«

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streckt sich hier von da bis dort, so wie sich auch mein Arm in bestimmter Richtung erstreckt. Aber weder ist diese Richtung eine eigentlich räumliche, noch wird von der Schnecke ein Stück des Raumes zurückgelegt.« (Ebd., S. 79–80) »Auch die Körperstellen [bleiben getrennt gegeneinander], die zwar alle auf mich bezogen sind, deren Nähe doch aber schon keine räumliche ist.« (Ebd., S. 80) »Erst wenn aus dem Kreis des Empfindens i. e. S. zum Horizont einer Welt durchgebrochen wird, kann das ›Hier‹ als ein Ort im Raume bestimmt werden.« Dieser Durchbruch leistet aber das Sehen. »Der gesehene ist ein wahrgenommener Raum.« (Ebd., S. 90) »Existenz entschlägt sich beim Sehen ausdrücklich des unartikulierbaren spezifischen Seinssinnes der Dinge, wie er nur im nachspürenden Empfinden gefunden werden kann.« (Ebd., S. 83) – Wie »wenn man aus dem Finsteren ins Helle kommt, wenn man sich aus der unsicheren Mitte eines überallhin anzustoßen Gewärtigseins wieder in den Nullpunkt der Orientierung verlegt.« (Ebd., S. 80) Gerade an dieses »Aufsitzen«, das dem haptischen Nahraum als Kontaktraum eignet, in dem die erspürte räumliche Erstreckung nicht in einem Orientierungsfeld, das Übersicht gestattet, ins Freie kommt, sondern »vereinzelt« bleibt, »richtet sich« die Befangenheit, die der schamlos »aufsässige«, nachspürende Blick hervorruft. Die Klarheit darüber, was mich bestimmt, ist keine clara et distincta perceptio im Sinne unmittelbarer Gewißheit – einer »unmittelbaren Erkenntnis« 4 –, sondern entfaltet sich in der Richtung eines »Hellsichtig-Werdens«, eines »sich in Gedanken damit Tragens« bzw. einer »Gewissenhaftigkeit«. Z. B. »Scham weiß um Dinge, bei denen man nicht sicher sein kann des Anderen.« (Ebd., S. 32) »Sehend geworden sein« heißt hier gerade: »nicht mehr unbefangen zu sein«. (Ebd., S. 35) Ein Bezug auf »mein Nichtmächtigsein dessen, woraufhin ich durch Blicke beansprucht werden kann« (ebd.) ist in diesem SehendWerden hergestellt. Daraufhin ist man in der Scham seiner selbst »fragwürdig« geworden: im Hinblick auf die zusehends »problematisch« gewordene »Einheitlichkeit seiner leiblichen Natur, in der der Mensch immer reagiert«. (Ebd., S. 35 – vgl. S. 14) Scham trägt sich mit dieser »beunruhigend-aufregenden« Fragwürdigkeit seiner selbst – die eben »die Tiefe der Scham« bildet. (Ebd., S. 32–33) In den Grund des leiblichen Verhaltens des Menschen ragt etwas hinein, was seine »Natürlichkeit« spaltet. Es ist vor allem die »generelle Geschlechtlich4

R. Descartes, op. cit., S. 259: »que nous en sommes immédiatement connaissants«.

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keit«, die Scham wach werden läßt. (Ebd., S. 35) »Denn hierin als in etwas allgemeinem, woran man also nur eben teil hat, wird man doch gerade sich seiner bewußt.« (Ebd.) D. h. aber: »in etwas was der Mensch ›auch ist‹ – wobei sowohl das ›auch‹ als auch das ›ist‹ betont werden muß« (ebd., S. 36) – was sich der Gewißheit seiner selbst grundsätzlich entzieht. »Bewußtsein ist immer insofern Selbstbewußtsein, als man sich und auch seiner in etwas bewußt ist.« (Ebd., S. 45) »Man ist sich z. B. seiner Schuld bewußt.« (Ebd., S. 44) »Man wird sich z. B. ›seiner‹ in seiner Schuld oder in seinen Absichten bewußt. Man identifiziert sich hier aber nicht mit einem – als ob man sich darin nur wiedererkennte. Sich seiner Schuld bewußt werden bedeutet ein sich-dazu-bekennen, sich-darin-übernehmen.« (Ebd., S. 45) Man wird hier insofern »vor sich selbst zurückgebracht«, (ebd., S. 44) als das einen in Anspruch Nehmende sich zuspitzend in der Richtung auf einen selbst verdichtet, der sich nicht etwa in der Einheitlichkeit seiner leiblichen Natur fragwürdig geworden, eben darin sich »spaltet«, 5 sondern der über das, »was [er] getan hat«, (Wirklichkeit des Menschen, S. 77) hellsichtig geworden, zu seiner Verantwortung durchfinden muß. »Man hat Verantwortung, sofern man auf etwas hin ›beansprucht‹ wird. Menschliche Existenz ist an sich verantwortlich. Es ist dies der Ausdruck ihrer Zeitlichkeit. Selbstsein vollzieht sich darin, daß Existenz verantwortlich auf sich hin- und zurückkommt, d. i. daß sie sich hierin übernimmt als die, die sie in Schicksal und Schuld ›ist‹. Existenz geschieht in solchen Schritten zu sich selbst. Sie steht zu ihrem Schicksal, das nichts Fertiges, sondern etwas ist, mit dem es ›fertig zu werden‹ gilt. Und das Perfekte der Schuld kommt darin zum Vorschein, daß man sich nur in der ›Übernahme‹ ihrer dazu verhalten kann. Denn was man getan hat, dessen ist man nicht in dem Sinn enthoben, daß man es hinter sich lassen könnte. In 5 Die Spaltung »trifft« das leibliche Verhalten, d. h. das darin selbst aus sich Heraus- und vor Anderen Auftreten-Können, demnach die »leibliche Natur«, sofern sie in Einstellung und Haltung aufgenommen ist. Bezeichnend sind der schweifende Blick, der sich nicht zu erheben wagt sowie die zögernde Gebärde, die »Gestik« »taktvoller Reserve«, (vgl. Menschliche Natur, S. 32–33) worin gerade die »Tangibilität« sich verdichtet. Eine eigentümliche Wendung vollzieht sich darin, daß in der Regel Takt »das Empfinden des anderen schont«, »insofern verhältnismäßig und ein reaktives Verhalten ist«, (ebd., S. 32) im Blick »ein Verhältnis, eine Stellung zur Welt – […] eine Entschiedenheit bedeutet ist«. (Ebd., S. 35) Die Regression »keimender Bewußtheit seiner selbst« (ebd., S. 34) wird hierin: in der Biegung des »exzentrischen Verhaltens« des Menschen, das »etwas Geistiges ist«, (ebd., S. 26) faßbar.

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der Schuld bleibt man ihm verbunden. Sicherlich – es kann nicht verändert, es kann aber ›aufgenommen‹, und es kann darauf zugekommen werden.« (Ebd., S. 77) Während »sich-seiner-in-seiner-Schuld-Bewußtsein« bedeutet, daß man so vor sich selbst zurückgebracht wird, daß man sich selbst – verantwortend – verbunden bleibt, »heißt schlechthin ›bei Bewußtsein‹ sein aber: bei-sich-sein«. »Es ist eine Grundweise und das Maß menschlicher Existenz darin bezeichnet.« (Menschliche Natur, S. 45) »Der Wachseiende ist bei sich.« (Ebd.) »Die Wachenden haben eine gemeinsame Welt, doch im Schlaf wendet sich jeder von dieser ab in seine eigene.« 6 »Warum ist einer dann gerade nicht bei sich, wenn er sich in seine eigene Welt zurückzieht?« (Ebd.) Bei-sich-Sein differiert offensichtlich vom ιδιον κοσμοϚ des Eigensinnes. Aufschlußreich ist diese Transgression des Eigendünkels, die eben im Bewußtsein wach»gehalten« wird.

3.

Die Mitte der eigentlichen Situation

»Man erwacht zu sich selbst am Morgen. Daß man sich dabei der Wirklichkeit des Nächstliegenden, Greifbaren versichert, daß man nur weiß, daß man nicht träumt, läßt einen noch nicht zu sich selbst kommen. Sondern dies, daß man – zurückfindend aus der vielleicht ungewohnten Umgebung – sich wieder ergreift in seiner Lage. Dadurch daß man darüber mit sich selbst ins Reine kommt. Sicherlich – man genügt sich hierbei selbst. Aber doch deshalb, weil man sich selbst der andere sein kann. Der eine braucht den anderen, um sich in seinem λογον διδοναι richtig stellen zu lassen.« (Menschliche Natur, S. 46) Die Wachheit des Bewußtseins ist etwas, was »gehalten« werden muß. Die handgreifliche Versicherung des Nächstliegenden – und auch das Sehen hat »eine Stelle in dem Hantieren mit den Dingen« 7 – beim Aufwachen und die Augen Öffnen – dies, daß man sich umschaut – ist 6 Heraklit, Fragment 89: ο Η. φησι τοιϚ εγρηγοροσιν ενα και κοινον κοσμον ειναι, των δε κοιμωμενων εκαστον ειϚ ιδιον αποστρεφεσϑαι. H. Diels: »Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab in seine eigene.« – Vgl. Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und

H. Lipps, Untersuchungen zur Phänomenologie der Erkenntnis. Werke Bd. I, V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1976, I. S. 79.

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Schritte zu sich selbst

als solche noch kein »Schritt zu sich selbst«. Erst daraufhin befragt, wobei man sich findet, kommt man – vielleicht aus der ungewohnten Umgebung zurückfindend – zu sich. Man ergreift sich wieder in seiner Lage, die – hier – »gerückt« wird. Sofern sie mich zunächst verwirrte, kommt man »darüber mit sich selbst ins Reine«, d. h. schafft man sich dazu ein »reines« Verhältnis. Genau genommen ist es ihre »Ausrichtung«, die mich betrifft: Aus seiner »Verstrickung« muß man sich herausfindig machen, sofern diese einen nämlich anwandelt. Zu sich selbst erwacht man erst, indem man sich dabei selbst verwandelt. Daß man – auf sich selbst verwiesen – hier die richtige »Einstellung« allererst gewinnen muß, bedeutet, daß man, daraufhin selbst beansprucht, zu seiner Verantwortung durchfinden muß. Es gilt auf das mich hierbei Anwandelnde eine Antwort zu finden. »Dem Auf-sich-selbst-hin- beansprucht-sein […] entspricht die Verantwortung: λογον διδοναι.« (Ebd., S. 59) Das ist jedoch in der Gegenrichtung wiederum für den Traum bedeutsam, der hier nicht als unwirklicher, mich täuschender Schein – dessen ich mir nicht sicher »bin« – verstanden werden kann. »Die Unwirklichkeit des Traumes liegt darin, daß man hier sich selbst entrückt ist.« (Ebd., S. 48) Daß »die Möglichkeit, erwachen und frei zu sich selbst werden zu können«, (ebd., S. 49) bei einem selbst liegt – man »sich hierbei selbst genügt«, weil man »sich selbst der andere sein kann«: (ebd., S. 46) »der eine braucht den anderen um sich in seinem λογον διδοναι richtig stellen zu lassen« – (ebd.) daß man demnach sich hier vor sich selbst verantwortet, »Selbstsein« hier »geschaltet wird«, (ebd., S. 47) ist aber das Entscheidende. Aus dem Unklar-Verwirrten sich herausfindend, ist die »Wirklichkeit von etwas« dem Anspruch nach etwas, wofür man selbst »aufzukommen«, zu dem man selbst »zu stehen« hat. »Z. B. dadurch, daß man es zurechtrückend wieder ins reine bringt.« (Wirklichkeit des Menschen, S. 78) Daß man sich hierbei vor sich selbst verantwortet, seinen »Selbst-Stand« in der eben daraufhin richtig gestellten Wirklichkeit so begründet, als sei man sich dabei selbst der Andere – bedeutet zunächst einmal, daß man sich hierbei nicht der unmittelbar Selbstgegebene ist. »Im Nachtrag stützender Gründe« versucht man, nach Lage die Dinge so einzurichten, daß den Ansprüchen eines freien Standes zu ihnen soweit als möglich entsprochen worden ist. (Vgl. Wirklichkeit des Menschen, S. 78) »Im Traum aber entgleitet man sich. Der Wirklichkeit ist man hier entrückt. Wenn man seinen Gesichten sich überläßt, ist man nicht in der Wahrheit.« (Menschliche Natur, S. 47–48) »Träumend ist man hingegeben den Ge184 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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sichten, nimmt sich nicht wie in der Auseinandersetzung der Dinge auf sich selbst zurück, man hat nicht das freie Verhältnis zu den Dingen.« (Ebd., S. 48) Was heißt es dann aber konkret, daß man in dieser Zurücknahme auf sich selbst »sich selbst der Andere sein kann« – daß man gerade im »Sich-selbst-Verbundensein«, in dem sich »eine Einheit der transzendentalen Apperzeption durchsetzt«, aus dem ιδιον κοσμοϚ – fürs erste dies, daß »sich eines dem anderen unvermittelt überschiebt« – entweicht? (Ebd., S. 48) »Der andere wird als ›meinesgleichen‹ verstanden. Als meinesgleichen gilt der, der in derselben Weise da ist wie ich, mit dem ich mich auf derselben Basis treffe – nämlich für ein Sein, dessen Subjekt ich bin.« (Ebd., S. 46) »So wie ich« – darin treffe ich mich mit dem Anderen nicht lediglich in einer Situation, in der ich mich – wie er – antreffe, sondern darin, wie er auf etwas »angesprochen« zu sein, das mich – wie ihn – in irgendeiner Weise selbst »betrifft«. »Auf derselben Basis … für ein Sein, dessen Subjekt ich bin« – darin wird nicht etwa die gemeinsame Situation ausgedrückt als vielmehr dieses: in gleicher Weise je »auf sich selbst hin« beansprucht zu sein. D. h. aber in der »Richtung«, in der man sich nicht etwa lediglich »befindet«, sondern in der dasjenige, bei dem man sich findet, woraufhin man selbst in Anspruch genommen ist, sich auszeichnet. »Denn während die Dinge über ihr Sein hinweg nur in ihrem Was verstanden werden, – so daß dieses ihr gar nicht erfragtes, unter der Hand mit in Ansatz gebrachtes Sein geradezu als bloßes Komplement ihres Begriffes aufgefaßt werden kann – wird der Mensch auf sich selbst hin, auf das was er von sich aus ›ist‹ und ›hat‹ angesprochen.« (Ebd., S. 46) »›Du bist …‹ – hierin wird nicht nur die Situation erfaßt, sondern ein Angesprochener gestellt auf etwas hin, dem er sich als dem ›Seinen‹ verbunden findet.« (Ebd.) »›Du hast …‹«, »›du besitzt …‹« sind je andere Modi des »Vollzugs seiner selbst«. (Ebd., S. 47) »Die Sterblichkeit z. B. ist dem Menschen als Schicksal ›Bestimmung‹. Der Mensch ›hat‹ – im eigentlichen Sinn dieses Wortes – Begabungen, er ›besitzt‹ Kenntnisse usw.« (Ebd., S. 46) Die hierin gelegene Verbindlichkeit ist eine sich je anders gestaltende. »Existenz steht zu ihrem Schicksal, das nichts Fertiges, sondern etwas ist, mit dem es ›fertig zu werden‹ gilt.« (Wirklichkeit des Menschen, S. 77) »Geiz, Pedanterie usw. sind Schicksale.« (Ebd., S. 169) Im eigentlichen Sinne des Wortes ›hat‹ der Mensch Begabungen, sofern er sich selbst darin be-gibt. Auf seinen Kenntnissen sitzt der Mensch auf, sofern er »darin auf Grund gerät. »In bezug auf den Menschen ›wird‹ […] etwas Erfahrung, dessen 185 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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Ort in der ›Natur‹, d. h. in der Verfassung des Menschen als eines freien und geschichtlichen Wesens liegt.« (Ebd., S. 163) »Die Wirklichkeit des Menschen ist […] Indikator für existenzielle Möglichkeiten.« (Ebd.) »Sich etwas als dem ›Seinen‹ verbunden finden« – woraufhin man, als darin eben selbst angesprochen, vom Anderen auch gestellt werden kann – darin »betont sich, wie ich demjenigen verbunden bin, was – verantwortet – eine auseinandersetzende Auszeichnung erfährt. Und die ›Freiheit‹ von Existenz besteht gerade darin, sich frei bestimmen zu lassen, begründen zu können im Hinblick auf … ›Frei‹ ist aber der Gegenzug von ›eigenwillig‹. Denn in meinem ›Können‹ begründe ich mich ja.« (Ebd., S. 79) »Sich frei begründen zu können im Hinblick auf …« – darin geschieht es, daß man sich selbst der Andere sein kann. (Vgl. Menschliche Natur, S. 46) Denn die Auszeichnung dessen, bei dem man sich findet – woraufhin man selbst beansprucht wird, sofern man sich diesem als dem »Seinen« verbunden findet – erfährt hierin eine »Auseinandersetzung«. Der Gegenzug zum »eigenwilligen Selbstvollzug« vollzieht sich im λογον διδοναι, d. h. in der verantwortenden Grundlegung vermöge des »Hinblicks auf …«, der ein spezifisches Können bedeutet: »Standpunkte [zu] haben und Gesichtspunkte [zu] wählen«. (Ebd., S. 46) Denn darin liegt, daß »sich eines dem anderen« nicht »unvermittelt überschiebt«, sondern daß »die Mitte einer eigentlichen Situation« sich mir er-schließt. (Ebd., S. 48) Zu ihr gehören aber wesentlich seitliche, d. h. laterale Bezüge. »Nur der Mensch, der sich aufhält bei den Dingen – aber nicht das Tier, das sich nicht verhält zu dem Element, in das es hinein gegeben ist – kann Standpunkte haben und Gesichtspunkte wählen. Nur weil die Welt, in der ich lebe, die meine ist – und auch die Natur wird unter dem Horizont einer Welt gesehen –, kann ich mich darin teilen mit anderen, kann sie mir mit ihnen gemeinsam sein. Nur der Mensch trifft und begegnet einander in etwas.« (Ebd., S. 46) Das »Interessengesicht der Welt« 8 zeichnet sich hier ab – der Dinge, mit denen der Mensch, der »›zwischen‹ den Dingen ist«, »eigentlich umgeht«, (ebd., S. 65) d. h. sich auseinandersetzt, während das Tier »jeweils an einem Ort ›ist‹«. (Ebd., S. 64) »Der sympathische Kontakt, in dem das Tier zu seinen ArtVgl. Husserls Notizen zu G. Misch, Lebensphilosophie und Phänomenologie in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Geisteswissenschaften, Bd. 12/ 1999–2000, Vandenhoeck u. Ruprecht, Göttingen 2000, Beiblatt S. 162.

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genossen steht, bedeutet noch keine Gemeinschaft; das Tier kann sich nicht einsam fühlen. Denn Einsamkeit bedeutet eine Privation von Existenz: der Einsame kann sich mit niemand teilen in das was er fühlt, wovon er bewegt wird. Er kann sich niemand öffnen.« (Ebd., S. 46) »Eine Sehnsucht nach dem anderen entspringt aber der Einsamkeit.« »Man sehnt sich nach dem anderen, sofern man nur bei ihm und mit ihm ›sein‹ kann was man ist. Sehnsucht sucht durch etwas zu sich selbst zu kommen.« (Ebd., S. 119) Dem »Mitgefühl« fehlt aber diese Be-teiligung des Anderen an demjenigen, worin man gerade sich selbst verbunden ist. »Nur in der Begegnung mit anderen entfaltet man sich aber – entdeckt man sich z. B. in Seiten, die vielleicht nur einer an mir erschließen kann. ›Einer hat immer Unrecht, mit Zweien beginnt die Wahrheit.‹ Nur dadurch, daß man sich selbst zurückbekommt vom anderen, dadurch, daß der eine die Auslegung des anderen seinerseits aufnimmt, zeigt sich die Sache auch von der anderen Seite und kommt ins Freie.« (Ebd., S. 46– 47) Richtig »gestellt« wird man in seinem λογον διδοναι durch die Rückblende des gewählten Standpunktes bzw. durch Rückwendung des Standpunktes, auf dem man beharrt, den man sich nicht ›klar‹ gemacht hat. »Nur das, dem man im Vollzug seiner selbst verbunden ist, kann gemeinsam sein – also die Welt, sofern jeder Schritt, den Existenz zu sich selbst tut, unter ihrem Horizont geschieht, also so wie sie sich einem als gesehene zeigt.« (Ebd., S. 47) Als gesehene zeigt sich die Welt unter dem Horizont von Gesichts- und Standpunkten, in denen man sich selbst verbunden ›ist‹, d. h. aber als Vollzugsmodi von Existenz, die eben hierin Schritte zu sich selbst tut – sich selbst deshalb auch vom Anderen zurückbekommen kann, um sich angesichts der getroffenen Wahl und des Standpunktes, auf den man sich gestellt hat, richtig stellen zu lassen. »Und auch die Natur wird unter dem Horizont einer Welt gesehen«, (ebd., S. 46) in der man sich als Beteiligter mit Anderen zusammentreffen kann. »(Es gibt aber keine eigentliche Gemeinschaft in bezug auf die physikalische Natur. Denn sie ist nur an Apparaten demonstrierbar, d. i. objektiv im Sinn von intersubjektiv, nämlich gleichsam ›zwischen‹ den Subjekten. Bzw. das, worein man sich hier teilen kann, ist eine Sache bzw. der Besitz einer Sache: es gibt ein physikalisches ›Bild‹ von der Welt als Universum. Man steht aber nicht in dieser Welt. Es gibt keine ›Ansicht‹ davon.)« (Ebd., S. 47) Was objektiv an den Apparaten als an seinem Ort demonstriert wird, ist Projektionsfläche physikalischer Hypothesen zu einer hierin auf ihre sachliche Be187 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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sitznahme hin verhandelten Natur. Man findet sich darin nicht auf sich selbst hin beansprucht bzw. bekommt sich selbst hierin nicht vom Anderen zurück, trifft einander im Projektionsfeld herauszubildender Universalitätsansprüche, in denen gerade vom einen und anderen abstrahiert wird. »Unsere Welt ist eine bezeugte Welt. Man spielt die Rolle eines Zeugen, wird zitiert als das. Was man selbst gesehen hat, steht im Gegensatz zu dem, was man sich durch andere verbürgen lassen muß. Das Dabeigewesensein des Zeugen besagt mehr als etwa die Gegenwart eines kontrollierenden Beobachters beim Experiment. Denn dieser wäre hierbei nur Sachwalter. Nur sofern aber Selbstsein geschaltet ist, kann sich etwas als die ›Wirklichkeit‹ von etwas zeigen. Auf das Mitdaringestandenhaben hin gibt es z. B. auch die Zeugen einer Zeit, des letzten Krieges etwa. Sie geben Kunde davon, sofern sie selbst durch den Krieg geschaltet, nämlich gerade durch ihn gezeichnet worden sind. Die Wirklichkeit von etwas kann überhaupt nur bezeugt, sie kann aber nicht objektiv demonstriert werden. (Wie andererseits das cartesianische cogito nur für die Objektivität von etwas aufkommen, nämliche seine Setzung begründen kann.)« (Ebd., S. 47) Mit sich selbst steht man für das, was man selbst gesehen hat, ein; auf das Dabeigewesensein hin wird die Wirklichkeit von etwas verstanden, die sich in demjenigen, was man selbst gesehen hat, »zeigt«. Was man dabei »erlebt« hat, bezieht sich auf »Mitgemachtes«. »Erlebnisse sind als das, was man mitgemacht hat, was man, sofern man selbst dabei gewesen ist, schildern kann, nichts ›Psychisches‹. Spricht man von Gefühlen als von ›inneren Erlebnissen‹, so hat man sich gleichsam als Zeugen seiner selbst in seinen Gefühlen verstanden.« (Ebd., S. 47, Anm. 2) Mitgemachtes bedeutet: im Vollzug seiner selbst Verbundenes. »Verbürgt« durch Andere wird dasjenige, bei dem man nicht selbst »da« gewesen ist, dessen Gegenwart sich mir entzog – für die ich nicht mit mir selbst einstehen kann als »mit eigenen Augen« gesehene – d. h. sofern in meinem Sehen mein Selbstsein »geschaltet« wurde. Daß man »die Rolle des Zeugen spielt, als das zitiert wird«, (ebd., S. 47) bedeutet, daß man im verantwortenden Rechenschaftsgeben auf das Selbst-Dabeigewesensein hin angesprochen bzw. daraufhin vom Anderen herangezogen wird. »Zeuge einer Zeit« ist man im Hinblick auf das »Mit-darin-gestanden-Haben« – etwa »im letzten Krieg«. (Ebd.) »Denn hier geschah eine radikale Veränderung des Verhältnisses zur Welt.« (Wirklichkeit des Menschen, S. 90) »Der Soldat des letzten Krieges wußte um sich als den eigentlichen Träger

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seiner Zeit. Daß seine Existenzform zu dem Krieg gehörte, der ihn zu sich selbst geprägt und als Typus bezeichnet hatte.« (Ebd., S. 96) Etwas zeigt sich als die »Wirklichkeit von etwas« nur sofern Selbstsein geschaltet ist, man sich hierin zu sich selbst verbunden hat – i. c. im Selbstvollzug seines Sehens, wofür man mit sich selbst einsteht resp. im »Tragen« seiner Zeit, »unter deren Prinzip« man steht. (Ebd., S. 90) »Objektiv demonstriert« wird nicht die Wirklichkeit von etwas, so wie sie sich mir zeigt, als deren Zeuge ich zitiert werde, sofern ich auf das Selbst-Gesehenhaben hin beansprucht werde – sondern die physikalische Natur von etwas »durch methodische Eingriffe«, in denen »erst dasjenige definiert, nämlich herausgestellt wird, wovon die Physik handelt«. (Menschliche Natur, S. 69) Daß das cartesianische cogito »nur für die Objektivität von etwas aufkommen, nämlich seine Setzung begründen kann«, das weder in seiner physikalischen Natur an seinem Ort demonstriert wird, noch als »Wirklichkeit« von etwas sich im Selbstvollzug des Sehens zeigt, bezieht sich darauf, daß es »sich im Zweifel erfaßt«. (Ebd., S. 57) »Nämlich in dem darin bezeichneten Unterschied gegen das durch die Sinne Vermittelte.« (Ebd.) Denn daß die Sinnesapparate täuschen können, bedeutet, daß nur für die Objektivität desjenigen aufgekommen, nur die Setzung desjenigen begründet werden kann, was in der Zweifelsbetrachtung als zu der unmittelbarer Selbstgewißheit des cogito gehörig erfaßt werden muß: d. h. aber die Vorstellung eines Denk-»Gegenstandes«. »Wahrhaft wirklich ist für Descartes, was er in der Einheit mit sich selbst erkennen, wofür er aufkommen, d. i. was er sich aus eigenen Mitteln aufbauen kann, was ihn nicht entfremdet von sich selbst. Man vollzieht sich im Denken, ist sich selbst verbunden darin. Das Verhältnis zur Welt, das es dann zu gewinnen gilt, kann nur das einer orientierenden Überschau sein: die ›Vorstellung‹ ist etwas, was als Mittel bei mir steht. Sie macht mich frei vom Augenschein; sie ist eine nachträgliche Rechenschaft.« (Ebd., S. 57) Während etwas sich als die Wirklichkeit von etwas nur zeigen kann, sofern Selbstsein geschaltet ist – man sich selbst in seinem Sehen vollzieht, dem Gesehenen im Vollzug seiner selbst verbunden ist, dafür mit sich selbst einsteht –, »entgleitet man sich aber im Traum«. »Der Wirklichkeit ist man hier entrückt. Wenn man seinen Gesichten sich überläßt, ist man nicht in der Wahrheit. Nicht als ob man im Traum halluzinierte. Seine Unwirklichkeit ist eine andere als die bloßen Scheines. Die Unwirklichkeit des Traumes liegt darin, daß man hier sich selbst entrückt ist. Daß man sich zur Schau gestellt findet, alles mit sich 189 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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geschehen läßt, nichts eigentlich ›kann‹, darin wird Erfahrung, daß man der Wirklichkeit nur insofern entrückt wird, als man zunächst sich selbst entglitten ist. Man ›hat‹ sich nicht im Traum: Man kann sich nicht zum Laufen bringen, wenn man fliehen möchte. Man kann – ohne eigentlich behindert zu sein – nicht festhalten, was man behalten will. Und das Quälende des Angsttraumes bezieht sich gerade darauf, wie hier immer das erlösende Wort fehlt. Man steht wie unter einer unerklärlichen Macht, die einen nicht frei ausschreiten läßt. Nicht als wäre man zum bloßen Objekt des Geschehens entglitten wie dann, wenn man fällt – denn man bewegt sich ja doch. Träumend ist man hingegeben den Gesichten, nimmt sich nicht wie in der Auseinandersetzung der Dinge auf sich selbst zurück, man hat nicht das freie Verhältnis zu den Dingen. Das Unverbindliche der Dinge, dies, daß sich eines dem anderen unvermittelt überschiebt, bedeutet im Grunde ein Nicht-sichselbst-verbundensein.« (Ebd., S. 48) »[…] Ich muß in Freiheit zu den Dingen stehen, wenn sie mir ›selbst‹, d. i. als das was sie in ›Wirklichkeit‹ sind erscheinen sollen. Wenn sie in ihrem Was erkannt, in ihrer sachlichen Bedeutung verstanden werden sollen. Wenn ich unter freigewählten Gesichtspunkten ihnen Seiten abgewinnen, wenn ich sie auf etwas hin ansehen will.« (Ebd., S. 102) »Daß die Wahrnehmung ein Schritt ist, zu dem man sich frei ›haben‹ muß durch einen Boden der fest ist, den man nur findet in einer Wirklichkeit, in der man sich trifft min dem anderen (wobei der andere ebenso ich selbst sein kann, wie er mir auch z. B. in einer Sprache begegnet) – das hat wohl Jaspers im Blick, wenn er in bezug auf die Entfremdung der Wahrnehmungswelt sagt, es ›müsse bei der normalen Wahrnehmung außer dem Gegenstandsmoment der Leibhaftigkeit noch etwas anderes geben, was wir nicht bemerken würden, wenn diese Kranken nicht ihre eigentümlichen Klagen vorbrächten‹.« 9 (Ebd., S. 102, Anm. 1) In der Wahrnehmung tritt man in ein Verhältnis zu den Dingen »derart etwa wie die Wahrnehmung es aufnimmt mit den Dingen, sich ihrer Wirklichkeit versichert«. (Ebd., S. 44–45) »Die Wahrnehmung hält sich im Licht eines Entwurfes vom Seienden. Man versichert sich hier der Wirklichkeit, die immer irgendwie liegt. Nicht gleichsam von selbst zeigt sie sich aber, sondern von etwas her, was als Gedanke aufgenommen und als Gesichtspunkt festgehalten werden kann.« (Ebd., S. 67) »In den Hin- und Rücksichten, die konstitutiv sind 9

K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Springer, Heidelberg 1953, S. 53–54.

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für das Was der Dinge, drückt sich je ein bestimmtes Selbstverständnis aus. Der Mensch zeigt sich darin als das Prinzip der Wirklichkeit. Man bestimmt sich selbst in deren Auseinandersetzung.« (Ebd., S. 67) Daß man in dieser Selbstbestimmung sich frei haben muß auf einem Boden, der fest ist – man »nicht wie unter einer unerklärlichen Macht steht, die einen nicht frei ausschreiten läßt« (ebd., S. 48) –, diesen Boden wiederum nur findet in einer Wirklichkeit, in der man sich trifft mit den Anderen, »wobei der andere ebenso ich selbst sein kann, wie er mir auch z. B. in einer Sprache begegnet« (ebd. S. 102, Anm. 1), ist von besonderem Gewicht. Das »Träumerisch-Entrückte« des Traumes ist keine Halluzination, wie z. B. die des Alkoholikers. »Die trügerische Aktivität des Alkoholikers läßt ihn alles mögliche sehen. Im Rausch findet man sich dessen enthoben, das Gesehene untereinander ins Reine bringen zu müssen. Es geschieht darin ein Einbruch in bezug auf die Welt in ihrer sachlichen Richtigkeit. Im Schwanken der Dinge spiegelt sich eigene Unsicherheit. Das intermodale Befinden erweist eine gleichsam induzierende Kraft darin, wie die Intention des Sehens an ihrer Durchsetzung gehindert, wie sie gebrochen, wie sie aber auch geradezu – das zeigen die Selbstschilderungen des Meskalin-Berauschten – gebogen werden kann.« (Ebd., S. 102) Anders »das Unverbindliche« der Dinge im Traum – »dies, daß man Gesichten hingegeben ist«, »daß sich eines dem anderen unvermittelt überschiebt«. (Ebd., S. 48) Man vollzieht sich nicht selbst in seinem Sehen, so daß man für das Gesehene nicht mit sich selbst einstehen kann. Nicht etwa wird die Intention des Sehens an ihrer Durchsetzung gehindert, gebrochen und gebogen. Während sich in der Wahrnehmung Intentionen erfüllen, »die sich erst festlegen im Gang der Betrachtung«, (ebd., S. 66) findet man sich im Traum selbst »zur Schau gestellt«, ohne dabei sich selbst der andere sein zu können. Das Aussehen der Dinge ist in der Richtung auf Fremdheit verwandelt, daß »Gesichte« auftauchen; es gelingt nicht, sich in ihnen auf sich selbst zurückzunehmen, d. h. aber: die sich im Gang der Betrachtung festlegenden Intentionen selbst aufzunehmen, die einem hierbei völlig äußerlich bleibt. »Völlig äußerlich« heißt: daß man sich selbst hier nicht mit den Augen eines Anderen sehen kann – »wie wenn ich dort wäre«. »Das Träumerisch-Entrückte kehrt wieder im Schweifend-Ungebundenen der Phantasie, deren Gegenstand zu fern ist, um in übersehbarem Zusammenhang zu dem Jetzt zu stehen. Man dispensiert sich in Wünschen von schrittweise planender Sorge. Dieses Entrückte der Ferne, wo 191 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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man sich der Phantasie überlassen, von ihr mitnehmen lassen kann, ist aber nur eine verhältnismäßige Ungebundenheit: Die Phantasie eilt zwar den Tatsachen voraus, bleibt aber doch in Verbindung zu ihnen.« (Ebd., S. 48, Anm. 1) Der versprechenden Ferne sorglos voreilender Phantasie entspricht im Traum nicht etwa, »daß die Dinge nicht halten was sie versprechen – gerade der Ernst eines solchen Versprechens fehlt im Traume. Im Fragmenthaften des Traumes zeigt sich, wie eine ›Einheit der transzendentalen Apperzeption‹ sich nicht mehr durchsetzen kann. Sich entrückt zu sein heißt hier: nicht mehr ›stehen und bleiben‹ zu können. Gerade bei dem Versuch einer Versachlichung – wenn man beschreiben will, was man träumte – verflüchtigt sich der Traum. Es ist, als ob man durchgreifend die Gesichte beiseite schöbe.« (Ebd., S. 48) Die Einheit einer Wunschvorstellung z. B., auch wenn sie nicht mehr in übersehbarem Zusammenhang mit dem Jetzt stünde, gelangt im Traum nicht zu ihrer Entfaltung. »Weil im Traum die Mitte einer eigentlichen Situation fehlt, ist man versucht, enträtselnd nach einer solchen Mitte zu suchen. Wie auch das Fragmenthafte des Geträumten – weil sich hier nichts in einen Kontext hinein verstreut – zur Verdichtung drängt. Und von Traum›bildern‹ spricht man auf das Auftauchen und Verschwinden desjenigen hin, was ohne Zusammenhang miteinander gleichsam nur in je seinem Rahmen genommen werden kann. Auch auf das Gedichtete hin.« (Ebd., S. 49) »Als nicht sich selbst verbunden wird man im Traum – hellsichtig – frei von dem, worin man sonst sich verfangen, worin man hängen zu bleiben geneigt ist. Das Treffende fällt auf, wenn man jemand im Traum charakterisiert, etwa durch Worte, die man ihn sprechen läßt. Man erfindet anekdotische Einzelheiten, auf die man bei wachem Bemühen nie gekommen wäre. Man erliegt nicht dem Verführerischen der Erfahrung, bei ihr stehen zu bleiben und etwas im äußerlichen Verständnis beiseite zu legen.« (Ebd., S. 49) »Weniger eine Kraft freilich als eine Möglichkeit des Traumes liegt in der Entbindung des Unbewußten bzw. im Wegfall der Abdrängung ins Unterbewußtsein. Das quälend Unerfüllte, Fremdartige des Traumes zeigt aber, wie dieses sich selbst und der Wirklichkeit Entrückt-sein als ein Nicht-mehr bzw. Noch-nicht bestimmt ist: Zu Schlaf und Traum gehört wesentlich die Möglichkeit, erwachen und frei zu sich selbst werden zu können.« (Ebd., S. 49) Im Wachsein als »schlechthin ›bei Bewußtsein‹«, d. h. »Bei-sich-Sein«, (ebd., S. 45) ist »eine Grundweise und das Maß menschlicher Existenz

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Trübung, Verlust, Verschüttung, Dämmerung und Emphase

bezeichnet«. (Ebd.) »Existenz geschieht in dem, was Kant Synthesis nannte.« (Ebd., S. 57) Sie bestimmt sich hierin. (Ebd.)

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Trübung, Verlust, Verschüttung, Dämmerung und Emphase

»Fieberkranke sind ›unklar‹, haben ein ›getrübtes‹, sind nicht ›ganz‹ bei Bewußtsein. Sie verkennen Personen, ziehen die Figuren des Tapetenmusters an der Wand in den Raum ihres Zimmers usw. Das Bindungsfreie dieser Verdeutungen fällt auf – wie auch im Traum nichts eigentlich verantwortet wird.« (Ebd., S. 49) »Das Bewußtsein verlieren heißt: nichts mehr ›aufnehmen‹ können – als Folge einer in Schlaf übergehenden Ermüdung bzw. Lähmung des Empfindens. Wo – bei der Narkose z. B. – dieser vitale Bezug zu den Dingen nach und nach schwindet: man in einem gewissen Augenblick genau noch die Lage des Schnittes, aber keinen Schmerz mehr empfindet, dann immer mehr absinkt, wie in eine Verschüttung, bis jegliches Empfinden gelöscht ist.« (Ebd.) »Wer nicht bei (vollem) Bewußtsein ist, gilt als nur beschränkt bzw. als überhaupt nicht zurechnungsfähig. Sofern er nicht oder nur in Grenzen über sich Rechenschaft zu geben vermag.« (Ebd.) »Bei Kurzschlußhandlungen dagegen steht Zurechnungsmöglichkeit in Frage, sofern hier durch den Affekt die Einschaltung des Täters verhindert ist. Die Tat charakterisiert nicht ihn, sondern einen Typ psychopathischer Veranlagung, für den sie symptomatisch ist.« (Ebd., S. 49, Anm. 1) »Und im (epileptischen) Dämmerzustand ist es die Reichweite des Bewußtseins seiner als dessen, der gestern, der erst kürzlich …, was eingeschränkt ist.« (Ebd., S. 49–50) »Was hat man aber im Blick, wenn ausdrücklich von einem ›Selbstbewußtsein‹ die Rede ist? Man geht z. B. selbstbewußt an etwas heran, trägt Selbstbewußtsein zur Schau. Beide Male ist man sich im Selbstbewußtsein seines Könnens bewußt. Mein Können ist aber ebenso durch meine Fähigkeiten wie durch das Können der anderen bestimmt. Ich bin nicht immer der zu etwas Berufene. Zu großes Selbstbewußtsein bezieht sich gerade auf eine Überhebung hinsichtlich der Rolle, die einem zukommt. Das, worauf ich im Selbstbewußtsein ausgerichtet bin, sind aber die zu überwindenden Schwierigkeiten, an denen sich mein Können zuerst bestimmt und bemißt. ›Ohne Selbstbewußtsein‹ ist der, der sich nichts zutraut.« (Ebd., S. 50) Nicht ganz bei Bewußtsein sein, das Bewußtsein verlieren, nicht 193 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Schritte zu sich selbst

bei vollem Bewußtsein sein, das Einbrechen der Bewußtseinsdämmerung, »selbstbewußt« an etwas herangehen, sich darin hinsichtlich seiner Rolle zu überheben – in jeder dieser Wendungen zeigt sich, wie das Bewußtsein nicht etwas so »unmittelbar Gegebenes« ist – wie in den »intrikaten« Bestimmungen, die hierin zum Vorschein kommen, jeweils unterschiedliche Modi des Selbstvollzugs, als welchen Existenz hier »geschieht«, tangiert sind. Wie – korrelativ – die Wirklichkeit, die immer »irgendwie liegt«, »nicht gleichsam von selbst sich zeigt, sondern von etwas her, was als Gedanke aufgenommen und als Gesichtspunkt festgehalten werden kann«, (ebd., S. 67) bzw. sich dagegen sträubt. Die Aufschließung des ιδιον κοσμοϚ zu einer gemeinsamen Welt darf nicht kurzgeschlossen werden im Hinblick auf einen status conscientiae, der so ohne weiteres als unverrückbar »gilt«. »Das dessen ich mir überhaupt nur bewußt werden kann, ist kein ›intentionaler Gegenstand‹ des Bewußtseins.« (Ebd., S. 58, Anm. 1) Die »unverkürzte Wirklichkeit« des Menschen ist nicht etwas, was als in den »Erscheinungen des Bewußtseins« Gelegenes, sich so unmittelbar »selbst« gibt. »Eine ausdrückliche Aneignung seiner selbst in dem, was man ist oder will, ist in ›bewußt‹ bezeichnet.« (Ebd., S. 58, Anm. 1) »Aus der Verstrickung der Dinge, wo man in seinem Selbst verborgen blieb«, wird man hierzu frei. (Vgl. ebd., S. 67)

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Bibliographischer Nachweis

1.

In Verlegenheit geraten. Die Befangenheit des Menschen als existentielle Affektion

Zuerst veröffentlicht mit dem Titel: In Verlegenheit geraten. Die Befangenheit des Menschen als anthropologischer Leitfaden in H. Lipps’ »Die menschliche Natur«, in: Revista de Filosofia XIV (26). Ed. Complutense, Madrid 2001, S. 55–84; jetzt in: Ereignis und Affektivität. Zur Phänomenologie des sich bildenden Sinnes. Hrsg. von M. Staudigl und J. Trinks. Mesotes, Turia + Kant, Wien 2006, S. 259–283; franz.: La gêne comme affection existentielle (H. Lipps), in: Annales de Phénoménologie (5), Paris 2006, S. 99–122.

2.

Die Zerbrechlichkeit des Menschen. Zur Textur des Schamphänomens

Zuerst veröffentlicht mit dem Titel: Die Zerbrechlichkeit des Menschen. Zur Textur des Schamphänomens in der existenzialen Anthropologie, in: Bildung im technischen Zeitalter. Sein, Mensch und Welt nach Eugen Fink. Hrsg. von A. Hilt und C. Nielsen. Alber Verlag, Freiburg/ München 2005, S. 315–339.

3.

Grenzfälle der Schaltung. Leiblichkeit und manische »Ideenflucht«

Franz. Erstveröffentlichung: Aux confins de la »Schaltung«. Quelques notes sur »la fuite des idées« dans l’anthropologie de H. Lipps, in: L’oeuvre du phénomène. Mélanges de philosophie offerts à Marc Richir.

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Bibliographischer Nachweis

Sous la direction de P. Kerszberg, A. Mazzù, A. Schnell. Ousia, Bruxelles/Paris 2009, S. 279–307

4.

Stachel des Daseins. Formen spezifischer Nichtmächtigkeit des Menschen

Franz. Erstveröffentlichung: Epines du Dasein. Formes d’impuissance spécifique de l’homme, in: Annales de Phénoménologie (9), Paris 2010, S. 63–81

5.

Ferne und Fremde. Wandlung von Existenz

Franz.: Le lointain et l’étranger. Changement d’existence, in: Faire monde. Essais phénoménologiques. Ed. M. Foessel, J.-C. Gens, P. Rodrigo. Mimesis. L’oeil et l’esprit. Milano 2011, S. 125–144.

7.

Schritte zu sich selbst. »Unverkürzte Wirklichkeit« des Menschen

Franz. Erstveröffentlichung: Des pas vers soi. La réalité pleine de l’existence humaine, in: Annales de Phénoménologie (10), Paris 2011, S. 143–162.

196 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

II. Hans Lipps Das erste Psychologie-Manuskript: Die menschliche Natur (1938)

Mit Genehmigung der Bayerischen Staats- und Universitätsbibliothek aus dem Münchener Nachlaß von H. Lipps (Ana 507) veröffentlicht. Die Marginalien geben zum einen die Archivpaginierung der Bayerischen Staats- und Universitätsbibliothek (h001i bis h00142i), zum anderen die Originalpaginierungen von Hans Lipps (hS.i 1–126) wieder.

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hArchivpag.i | hm. Bleist.:i

h001i

Lipps, Hans 1 Typoskript

Vorform MS Die menschliche Natur Hans Lipps (Ana 507) Suppl./ | hm. Bleist.:i Eigentum vhoni Bhussei vermutlich Vorform Ms. Die menschliche Natur E. Ahvé-Lallemanti/

h002i

| hStempel:i Prof. Lipps Bad Homburg Promenade 199/

h003i

199 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

h004i

|hoben links m. Bleist.:i Erstes ψ MS.

hOriginalpag.i

. . . . . . . . . . . 2. Schüchternheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Verlegenheit durch das Verhalten der Andern. . 4. Scham. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Maske. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Blöße. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7. Nacktheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Schamlosigkeit, Prüderie. . . . . . . . . . . . . 9. Tabu. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Selbstbewußtsein. . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Unterbewußtsein. . . . . . . . . . . . . . . . . 12. Reflexivität des Bewußtseins. . . . . . . . . . . 13. Eindruck und Empfinden. . . . . . . . . . . . . 14. Modalitäten des Empfindens. . . . . . . . . . . 15. Stimmung und Ideenflucht. . . . . . . . . . . . 16. Affekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17. Haß. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18. Angst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Platzangst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwangsvorstellungen. . . . . . . . . . . . . . . Pedanterie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Geiz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eifersucht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19. Erlebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zeuge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Geschichte«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lebenserfahrung. . . . . . . . . . . . . . . . . Begegnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abenteurer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Spieler, Sensation usw. . . . . . . . . . . . . . hm. Tinte:i Nachträge! . . . . . . . . . . . . . . . . .

1.

Verlegenheit und Haltung.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . 1 . . 8 . . 9 . 10 . 14 . 15 . 19 . 21 . 24 . 29 . 37 . 43 . 45 . 54 . 56 . 58 . 62 . 65 . 66 . 67 . 69 . 72 . 73 . 74 . 75 . 76 . 77 . 79 . 81 . 86 . 90

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201 208 208 210 213 214 219 221 224 230 237 243 245 256 258 261 264 268 268 270 271 274 276 278 279 280 281 283 286 290 294

MS Die menschliche Natur

| Psychologie gilt die Scham – wie selbstverständlich – als ein Gefühl, h005i d. i. als etwas, dessen Begriff jedem geläufig ist, dessen Unterschied zu hS.i 1 andern Affekten durch Gegenstand, Grund und Anlaß entwickelt werden kann. Scham scheint dann z. B. mit der Verlegenheit einfach in Vergleich gebracht werden zu können. Man bemerkt aber die Verengerung der Bedeutung von »Scham«, wenn sie hier dem Schamg e f ü h l gleichgesetzt wird. Und so sicher bei diesem eine sachliche Bestimmung gelingt, gerade in der Aufnahme und Verfolgung der hier leitenden Hinsichten wird man von dem abgedrängt, was Scham »selber« und »eigentlich« ist. Denn auch in der Schüchternheit »steckt« Scham, Verlegenheit kann »Ausdruck« von Schamhaftigkeit sein usw. Gleichheit der Gebärde bezeugt nicht auch die Einheitlichkeit dessen, was als ursprünglich darin rege sich nur vereindeutigend zuspitzt in dieser Richtung affektiven Verhaltens. Was deshalb schlechthin und unter Abstreifung originärer Unterschiede hm.Tinte:i z. B. als Verlegenheit gilt, ist deshalb der gegebene Rahmen, innerhalb dessen die Scham zu bestimmen ist.

1.

hVerlegenheit und Haltungi

Die »V e r l e g e n h e i t«, in der sich einer befindet, ist wesentlich doppeldeutig. Es meint sowohl das, was man nachempfinden als auch etwas, was man sachlich erkennen, d. i. was jeder als vorliegend feststellen bezw. auf seine Tatsächlichkeit hin prüfen kann. Bezw.: die Verlegenheit, die ich empfinde, in die ich angesichts bestimmter Umstände gerate, ist so sehr hieraufhin begründet, daß sie geradezu als sachliche Lage zu beschreiben ist. Eine Erkenntnis der Lage zeigt sich im Gefühl der Verlegenheit – nicht anders, als etwa in den »Dingen« die Angriffspunkte einer Situation erkannt werden. »Verlegenheit« ist zunächst eine bestimmte, weil sachlich begründete Verlegenheit, über die man nachdenken, die man ebenso aber auch vorsehen kann, aus der es sachlich herauszukommen gilt. Man ist hier verlegen »um« etwas: unh006i schlüssig. | Sofern man nicht weiß, wie man dem begegnen soll, was zu fürch- hS.i 2 ten man in dieser Lage bei diesem Beginnen allen Grund hat. S o r g e steht hinter dieser Verlegenheit. Bei diesem Verlegen-sein liegt die Unsicherheit in der Unberechenbarkeit der Situation. Sie ist es, was lähmend im Blick steht. 201 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

MS Die menschliche Natur

Man findet nicht ab davon. Anders liegt es bei der Verlegenheit v o r a n d e r e n : man wird hier s e l b s t unsicher. Verlegenheit entsteht im Auftreten vor …, d. i. in dem hierin bezeichneten »Hineinhandeln« in Sichtbarkeit. In einem fremden Milieu fühlt man sich verlegen werden, vorzüglich gerade dann, wenn man sich selbst als nicht passend weiß zu dem Kreis, der einen wie selbstverständlich als dazugehörig gerade nimmt. Man liegt schief in solcher Gesellschaft. Wenn man seine Gegenwart als störend für die Anderen empfindet, z. B. Angst hat von diesen vielleicht als prüde angesehen zu werden. Indessen – man »g e n i e r t s i c h« hier meist, – was nicht einfach dasselbe ist wie Verlegenheit. Man geniert sich etwas zu tun, wenn man es unterläßt, etwa um nicht in einem falschen oder unerwünschten Licht zu erscheinen. Man geniert sich, wenn man zögernd etwas tut, was man eigentlich nicht öffentlich tut. Kontrollierendes Zusehen kann einen genieren; man verliert die Unbefangenheit, die Aufmerksamkeit wird gespalten. Die Unsicherheit bezieht sich hier immer darauf, daß man sich vielleicht nicht richtig benimmt. Man geniert sich, wenn man darin aufzufallen g l a u b t . Der Sich-Genierende steht unter der Vorstellung eines beobachtenden Zuschauers, der ihm Anlaß und Maßstab der Selbstprüfung wird. Und immer f ü r c h t e t man hier etwas, und zwar etwas B e s t i m m t e s – gegenüber der Verlegenheit, die mich b e f ä l l t und bei der mein Auftreten ü b e r h a u p t befangen wird. So geniert man sich z. B. auch in der Vorwegnahme der Vorstellung seiner Verlegenheit. Der Verlegene weiß nicht, wohin mit den Händen. Wohin er sich stellen, an wen er sich wenden, wohin er blicken soll. Er kann nicht aus sich herausgehen. Er wirkt unfrei, gehemmt, gerade daraufhin, daß er h007i unter | dem Zwang steht, irgendwie agieren, irgendeine Haltung einhS.i 3 nehmen zu müssen. Abwehrend lächelnd sucht er die anderen zu Distanz zu verbinden. hm. Rotst.: +i 1 Er getraut sich nicht heraus aus sich selbst. In der Angst einen faux pas zu begehen. Er kann nicht mitspielen. Er spielt eine unglückliche »Figur«. Seinem Auftreten fehlt die 1 hUnten am Bl. geklebt:i +) Er sucht abwehrend eine Zwischenschicht des »außen« herzustellen, hinter der er sich verbergen kann. Nicht anders als auch das k o n v e n t i o n e l l e Lächeln undurchdringlich ist, einen Abstand herstellt, unverbindlich ist. Gesellschaftliche Unterhaltung ist unernst. Vortastend werden hier nur ungefährdete Fühler ausgestreckt. Jeder wagt sich nur soweit heraus, daß er sich immer wieder zurückziehen kann. Keiner gelangt hier eigentlich nach draußen. Dieses Lächeln ist trotz seiner Unverbindlichkeit im Sinne des Unernstes v e r b i n d l i c h wiederum, sofern es einladend dem Anderen »auf halbem Wege« entgegenkommt.

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Verlegenheit und Haltung

Selbstverständlichkeit, die den in der Gesellschaft Eingespielten natürlich ist. In fremdes Milieu ist er wie ins Leere gestellt. Er beherrscht nicht die Regeln dieses Spiels. Er fühlt sich gehemmt in dem, was er sagen möchte. Ihm fällt nichts ein. Er kann sich nicht dem Moment überlassen, findet nicht den richtigen Ton; nichts klingt an von dem, was er sagt. Und seine Unsicherheit steigert sich. Weil er nicht als Zugehöriger auffällt, wird er – in seinem Eigensten übersehen – zum O b j e k t erstaunter Betrachtung. Sie bleibt am Äußeren hängen. Sein Erscheinungsrelief verengt sich. Er sieht sich mit den Augen der Anderen. Er wird sich selbst fragwürdig. Und das bedeutet ihm eine Störung des pathischen Sich-einfühlens. Eine Stimmung als die Grundlage unausdrücklichen Verstehens kann ihm überhaupt nicht mehr aufkommen. Er kann sich nicht »finden«. Alles, was er sagt, seine Mimik wirkt immer unnatürlicher und gezwungener. Im äußerlich Gemachten, unter der Kontrolle innerer Beobachtung Stehenden seiner Bewegungen zeigt sich, wie Verlegenheit die uns den Anderen verbindende Mitte nicht finden läßt. Zufolgedessen, daß der Wechsel in angenommene Gesichtspunkte, die Distanz heraustretenden Erkennens störend dazwischen kommt. Verlegenheit »zeigt sich« in der Haltung – so sagt man. Man bemerkt dabei den »Ausdrucks s i n n« des Anziehens der Arme, des irrenden Blicks, der keinen Halt findet usw. Indessen – ist damit nicht mehr gemeint, als wenn man von jemandes Gedanken sagt, sie seien ihm ins Gesicht geschrieben oder wenn man seine Miene als den verräterischen »Ausdruck« für Seelisches nimmt? So als ob Verlegenheit eigentlich auch etwas Seelisches sei, das sich in der Gebärde nur anzeigte, wie als ob darin Inneres nur nach außen käme. Man wird doch nur darum ver-| h008i legen, nimmt überhaupt nur deshalb eine Haltung ein, weil man unter hS.i 4 dem Zwang steht, irgendwie agieren zu müssen. Das »Auftreten« mißlingt. Verlegenheit »i s t« ihr hAnführungszeichen m. Tintei »Ausdruck«. Entsprechend wie nur der sich beengt oder erleichtert fühlen kann, bei dem dieses »sich« die Richtung auf einen Leib haben kann, der nicht nur die Bedingung, sondern das getroffene Was solcher Empfindung ist. Sicherlich – auch eine Nachricht kann »beklommen machen«. So wie etwa auch ein Mensch mir »zum Erbrechen« sein kann. Für K l a g e s sind solche Gebärden – als sachlich unbegreiflich – Gleichnisse von Handlungen. Indessen: Willkürhandlungen – auch wenn, wie bei Klages, damit nur richtiges Verhalten gemeint ist – sehen doch anders aus. Bezw. baut sich das Gezüge eines solchen Verhaltens, so wie es gesehen 203 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

MS Die menschliche Natur

wird, auf seiner sachlichen Bedeutung, d. i. auf der darin erkannten Umsicht und Vorsicht auf. Es fehlt ihm eine umgreifende Gestalt, der es ohne weiteres anzusehen wäre, daß hm. Tinte:i es z. B. ein planmäßiger Ortswechsel ist, aus Furcht, daß … Bei dem unwillkürlichen Kehrtmachen oder bei dem Beiseitebiegen des Kopfes gelegentlich einer vorbeipfeifenden Granate dagegen ist der Ausdruck vom »Sinn« gar nicht zu trennen. Wo liegt hier – wenn überhaupt – das Gleichnishafte? Doch schon im E m p f i n d e n . Beim Ekel z. B., sofern breit sich Darbietendes »aufgenommen« wird. Ebenso wie die Verachtung etwas abschüttelt, was – und wiederum: s c h o n h i e r i n das Gleichnis +) 2 – sonst an mir hängen bliebe. Das Augenschließen und abwehrende Vorstrecken der h009i Hände beim Entsetzen | (Klages’ Beispiel) sollen nicht eigentlich etwas hS.i 5 mich Anspringendes vom Leib halten – man kann doch hier den A n b l i c k bezw. »die Sache« nicht ertragen, »als ob« s i e mich bedrängten. Und als Ausdruck des E m p f i n d e n s werden diese Bewegungen und die Haltung der Verlegenheit doch auch verstanden. +) 3 Zunächst unbestimmte, ihrer selbst nicht sichere Anmutung spitzt sich zu in Gebärde und Haltung, kippt ein in »richtigen« Ekel, stellt sich dahin fest. Nicht anders als auch das Begreifen in gekonnte Bahnen kommt. So wie man einer Empfindung nachgeht, dem Empfundenen auf der Spur zu bleiben sucht, hellhörig und – sichtig hierdurch wird, so ersteigert und verdeutlicht sich der Affekt in der »Einstellung«, die er durch die Gebärde bekommt. So daß z. B. auch in eins mit der Gebärde notwendig der Affekt stecken bleibt. Nur was des Sich-Gebärdens fähig ist, kann auch Affekte haben. +) Anm. Im »Gleichnishaften« der Affekte kommt dasselbe zum Ausdruck wie darin, daß das sachlich Verschiedenste hinsichtlich des Eindrucks h,i den es auf mich macht, an einander erinnern kann. Z. B. empfinden wir nicht nur eine Tischkante, sondern auch einen Menschen oder ein Gesetz als »hart«. Wobei keine äußere, d. i. keine übertragbare Ähnlichkeit richtunggebend ist. Die U n w i l l k ü r l i c h k e i t der Gebärde verbietet aber schon von vornherein die Rede von einer Übertragung, die bei einem Wo r t wie »hart« zufolge von dessen Verfügbarkeit und Verwendbarkeit wenigstens m ö g l i c h wäre. 3 +) Anm. In all diesen Ausdrucksbewegungen wird hUnterstr. m. Rotst.: i Raum »ausgeformt«, – so wie durch Rhythmen induzierte Marschbewegung Raum allererst artikuliert, nämlich a n d e r s gliedert als die zielgerichtete Bewegung, in der Entfernungen durchmessen, der Raum darin auch erschlossen und erkannt, nämlich einbezogen wird in die als »Erkenntnis« bezeichnete umsichtig auslegende Auseinandersetzung mit den Dingen. Das Ziehen von Geraden usw. ist die Neutralisierung hierzu. Allererst zu Strekken entweltlichte Wege »sind« etwas, aber nicht »der Raum«, in dessen Konzeptionen 2

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Verlegenheit und Haltung

Verlegenheit läßt die H a l t u n g verlieren. Jeder zeigt im Gang, Tritt, Handbewegung eine nur ihm eigentümliche Haltung. In jeder Bewegung stecken Ausdruckszüge. hEinf. m. Tinte:i Man hört schon am Schritt, wer die Treppe heraufkommt. Wobei der Ausdruckswert verschieden ist: die Hände haben größeren als die Beine. hEinf. m. Tinte:i Die Sprache führt in der Haltung. hEinf. m. Tinte: i Sie liegt auch im Ton, in dem man zu jemand spricht; und auch in der Mundart drückt sich eine bestimmte »Haltung« aus. Natur und Temperament zeigen sich darin. Man erkennt jemanden an seiner Haltung. Selbstsicherheit, Arroganz, Stolz, Aufrichtigkeit, Gemessenheit und Schroffheit sind Haltungen. Niedergeschlagenheit zeigt sich darin, und Verlegenheit alteriert sie. Aber so sicher als man seine Haltung »ist« – man identifiziert sich nicht so damit wie mit dem Gedanken, in dem man sich »v o l l z i e h t«. Oder wie jemandes Gesinnung »er selbst«, d. i. »sein« Charakter ist. Während Gedanken immer j e e i n e s Gedanken sind, d. i. etwas sind, dem man | sich nur als E x i s t e n z verbinden kann, ist die H a l t u n g nur h0010i i n d i v i d u e l l verschieden. Die N a t u r eines Menschen zeigt sich le- hS.i 6 diglich darin. Andererseits: der Mensch hat nicht das ungebrochene Verhältnis zu seiner Natur, wie sie das Tier hat. Gerade deshalb fehlt aber wiederum dem Tier die Haltung. Die Bewegungen eines Eichhörnchens sind die »des« Eichhörnchens, – so sehr als sie normal, durchschnittlich, oder typisch sein können wie sonst sein »Ausfall« als Eichhörnchen. D. i. die A r t wird hier überall als Maß hineingesehen. Der Mensch »ist« aber seine Natur verschieden, nämlich in i n d i v i d u e l h0011i l e r Weise. hm. Rot- und Blaust. und Tinte: i Anm. S. 6 a!| +) Anm. Daß aber jeder »sein Gesicht« hat, meint nicht nur so etwas wie dessen einmalige, unverwechselbare Artung. Denn a m Gang, hm. Rotst.:i ) 4 aber i m Gesicht, sofern man nämlich »d a s Gesicht erkennt«, erkennt man jemanden. »Gesicht« hat die Doppelbedeutung: in die Welt sehen und gerade in der hierbei aufgenommenen Richtung sichtbar werden. Diese »Richtung« ist aber keine sachlich zu bestimmende und anzugebende Perspektive. Sie pointiert sich vielmehr im »Blick« eines Menschen. Darin »wie« er z. B. einen ansieht. Irgendwelche Spannung ist konstitutiv für die Züge eines Gesichts, die nichts natürlich Morphologisches, sondern etwas Geistiges sind. hEinf. unten am Bl.:i Das Gesicht, d. i. das, worin jemand unverwechselbar ist, bestimmt erst physiognomisch die Nase usw., die bloß als ä u ß e r l i c h so und so gestaltete Nase von vielen gehabt werden 4 ham Bl. geklebt:i »Am Gang« erkennt man jemanden, nämlich wie man ihn sieht oder auch auf der Treppe hUnterstr. m. Tintei hört. Was man sieht, d e c k t sich mit dem, was man hört. D. i. der Eindruck, der einem durch verschiedene Sinne vermittelt wird, ist derselbe, – und nicht nur etwas Gegenständliches, was auf Grund verschiedner Sinnesempfindungen angesetzt würde. h/i

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hS.i 6a

MS Die menschliche Natur kann. Das Tier ist Z e n t r u m seiner Umwelt, sein Blick haftet am Nächstliegenden. Sein Sehen ist auf nacktes Leben bezogen. hEinf. am oberen Blattrand:i Das Tier ist nicht optisch eingestellt. Tieren ist ihr Artcharakter ins »Gesicht« geschrieben; etwas »Allgemeines« kommt darin zu je wechselnder Darstellung. Die »Menschlichkeit« von Zügen weist aber auf einen kategorialen Unterschied: Die Züge des Kindes werden als unentwickelt, sein Blick wird als »einfach« verstanden. Daraufhin nämlich, daß »Gesicht« eine Frontstellung zur Welt bedeutet. Jemandem ein Gesicht zusprechen heisst: ihm ein freies Verhältnis zuerkennen zu dem, was als Welt im Ganzen umfaßt wird und was sich von da her unter einem Horizont zu entscheidender Möglichkeiten zeigen kann. Wie einer in die Welt sieht, das macht ihn gerade zu einem »s e l b s t«. Die vorgebundene Maske verleiht Anonymität und suspendiert ihren Träger gleichsam von sich selbst. |

h0010 Forts.i hS.i 6 Die Haltung, aber nicht die Affekte sind charakteristisch für jemand. hForts.i

Man »findet« sich nicht so in den Affekten, – d. i. in der hierin bezeichneten Wirkung von etwas auf mich – wie in seiner Haltung. Bezw. wenn schon eine affektive Gebärde jemanden erkennen läßt, so ist es tatsächlich die Haltung, durch die das Lachen z. B. modelliert wird. Oder: daß jemand in einen Affekt gerät, d. i. daß er bei bestimmten Anlässen die Haltung verliert, charakterisiert ihn. Der Spielraum meiner Gebärden ist durch die Haltung bestimmt, die meist meiner Affektlage entspricht, von der als G e s a m t haltung her die einzelnen Gebärden auch erst ihren Ausdruckssinn bekommen. hM. Rotst.: x xi 5 Die Haltung schaltet geradezu die Affekte. Stolz hm. Rotst.: xi 6 läßt bestimmte Affekte gar nicht aufkommen; der Ausdruckssinn dieser Haltung liegt gerade darin, hinwegsehen zu können über … Eine legere Haltung – das Sitzen auf dem Stuhle z. B. – bremst schon die Wut. Man kann die Affekte abfangen durch die Haltung. Sich-hinreißen-zu-lassen zu etwas, Überwältigt-werden durch etwas, drückt das Gegenteil hierzu aus. Es bedarf fühlbarer Anstrengung, »seine« Haltung oder eine andere, gespielte Haltung dagegen durchzusetzen. Denn Haltungen können echt oder h0012i unecht, gespielt hEinf.: +i 7 | oder gemacht sein. Sie können aber auch hS.i 7 »eingenommen« werden. Ich habe Einfluß auf meine Haltung. Durch 5 hUnten am Bl. geklebt:i x x Und sofern meine Haltung immer einheitlich ist, nehme ich z. B. am Telefon, wenn ich mit meinem Kommandeur spreche, auch körperlich eine stramme Haltung an. 6 hUnten am Bl. geklebt: i x Während Stolz eine Haltung »i s t«, ist der Hochmut etwas, was sich nur unwillkürlich z e i g t in Gebärden und Auftreten; Hochmut trägt die Nase hoch, sieht herab auf …, dünkt sich etwas: Hochmut ist etwas Geistiges. 7 + Anm. Gesinnungen dagegen, d. i. wie man zum Andern ist, was man im Sinn hat gegen ihn, kann man nicht spielen, sondern nur vorspiegeln, und dies gerade durch die entsprechende Haltung.

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Verlegenheit und Haltung

die Haltung, zu der ich mich zwinge, kann ich auf mich selbst einwirken: der Unentschlossene bringt sich zur Entschlossenheit dadurch, daß er zunächst einmal deren Haltung einnimmt, durch festes Auftreten z. B. Und nicht nur der Andere, sich selbst kann man durch das Spielen einer Haltung darüber hinwegtäuschen, wie einem »eigentlich« zumute ist – sofern man ja doch auch die gespielte Haltung irgendwie »ist«, nämlich darin steckt, sich hineinstreckt. hM. Rotst.: x i 8 Die »Freiheit« eines Menschen zeigt sich im Ungezwungenen der Haltung mit der er auftritt, und insofern auch das hAnführungszeichen m. Tintei »Maß«, das er gegen die Anderen beansprucht. Es gibt »große« Gesten. Es sind die, durch die man etwas geschehen läßt, die den andern zu etwas verbinden, die Abstand schaffen und beiseite schieben, in denen den Anderen gleichsam ihr Raum zugewiesen wird. Nur die Haltung ist es hier, was spricht. Und »Haltung haben« bedeutet weniger Disziplin als überlegene Distanz. Die Unsicherheit des Verlegenen betrifft nicht nur die Grenzen, innerhalb deren er sich, ohne anzustoßen, bewegen kann, sie bezieht sich gerade auf den »Raum«, den er sich selbst nicht zu schaffen vermag. Es gibt die Haltung des »Mannes von Welt« bezw. die sich hierin verhebende, nicht ganz gekonnte des »kleinen Mannes«. Haltungen können »anspruchsvoll« sein. Wie daraufhin, daß solche Ansprüche nicht zu halten sind, man z. B. auch jemandes Rede hAnführungszeichen m. Tinte:i »großspurig« sein läßt. Die Pose ist eine zur Schau getragene große Haltung. Und daß eine Haltung »nur posiert« ist, meint, daß sie leer, nämlich hohl ist, daß der, der sie spielt, sie a u c h i m S p i e l – als Schauspieler z. B. – nicht »ausfüllen« kann. Eitle »Gespreizt«-heit zeigt sich in der Pose. Man hAnführungszeichen m. Tinte:i »setzt sich in Positur«, wenn man sich wichtig nimmt bei etwas. »Eingenommene« Haltungen sind aber die gesellschaftlichen Formen, die es einfach zu lernen und zu können gilt, in denen sich der Stil dieses Verkehrs zeigt. Sicherlich – die von mir eingenommene und vielleicht zur »zweiten« Natur gewordene Haltung ist nicht meine natürliche | Haltung. Es ist aber auch keine gespielte Haltung, sofern sie ja h0013i doch überhaupt nur e i n g e n o m m e n werden kann. Konventionelle hS.i 8 ist keine geheuchelte Freundlichkeit. Als Takt- und geschmacklos, als Anmaßung, gilt hier der Anspruch h,i für mehr als für eine Figur genommen werden zu wollen. hUnten am Bl. geklebt:i x »Ganz« traurig kann man nur dann sein, wenn man sich dieser Trauer auch haltungsmäßig hingibt.

8

207 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

MS Die menschliche Natur

2.

hSchüchternheiti

Sich zu genieren, verlegen zu werden vor anderen, ist etwas anderes als S c h ü c h t e r n h e i t . Denn man »i s t« schüchtern, »wird« es aber nicht, – etwa aus Furcht, sich eine Blöße zu geben. Der Schüchterne will sich nicht jedem öffnen, er will sich für sich bewahren, sich nicht preisgeben. Er scheut die Verlegenheit, in die er kommt, wenn er sich einem eröffnet, der ihn nicht ernst nimmt. Bezw. getraut er sich nicht, den Anderen gerade hierin in Anspruch zu nehmen. Schüchternheit steht schon der Schamhaftigkeit nahe. Die Unsicherheit und Verlegenheit mit Rücksicht auf die anderen, v o r den anderen ist etwas anderes als die Reserve des Schüchternen: man ist schüchtern z u jemandem. Schnell verlegen zu werden charakterisiert einen bestimmten Menschentypus. Eine spezifische Unsicherheit zeigt sich darin, sich als den zu nehmen, der man bei anderen, der man in ihren Augen ist. Die Existenz, deren Zugeständnis einem verweigert zu werden scheint, wenn man im beobachtenden Blick der anderen sich und ihnen zum Objekt zu entgleiten droht, ist hier etwas, was von vornherein durch die anderen bezw. durch deren Anerkennung gehalten wird. Schüchternheit gehört aber zur Bescheidenheit. Sofern echte Bescheidenheit +) 9 aus der Scheu geboren wird, sich hinsichtlich der Zurechnung von etwas als »seinem« Können vermessen zu können. Man fürchtet, sich zu vermessen in der Mitteilung dessen, was u n s a g b a r ist. Ein bestimmtes Alter neigt zur Schüchternheit. Nämlich das der keimenden Bewußtheit seiner selbst. h0014i Als ob | man hier auch bei dem andern die Fremdheit dessen voraushS.i 9 setzte, wozu man selbst erst durchstoßen muß. Das beunruhigend-Aufregende, sich den neuen Boden seiner Existenz erst schaffen zu müssen, drückt sich darin aus.

3.

hVerlegenheit durch das Verhalten der Anderni

Es war der einfachere, bis jetzt betrachtete Fall, daß Verlegenheit aus einem Versagen den Ansprüchen gegenüber besteht, die von den Din+) Anm. Der Sprachgebrauch hat die Bedeutung von »Bescheidenheit« verschoben. Sie gilt da als Prädikat eines hUnterstr. m. Tinte:i Verhaltens gegen andere. Wenn nämlich die in meinem Können begründeten Ansprüche nicht g e l t e n d hUnterstr. m. Tinte:i gemacht werden. Und »falsche« Bescheidenheit ist es dann, wenn aus Unsicherheit über die Grenzen solcher Ansprüche diese selbst schon verleugnet werden. 9

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Verlegenheit durch das Verhalten der Andern

gen her oder hinsichtlich des Auftretens vor Anderen an einen herantreten. Aber auch die Taktlosigkeit des A n d e r e n macht verlegen, und s e i n Sich-gehen-lassen kann man als »genant« empfinden. Und wenn es hier hAnführungzeichen m. Tinte:i »die Situation« ist, aus der heraus eine dann »allgemeine« Verlegenheit entsteht, so bedeutet das weder Situation in dem praktischen Sinn innerweltlicher Lage, noch ist es überhaupt »meine« Situation. Vielmehr: m e i n hUnterstr. m. Tinte:i Anwesendsein ist konstitutiv für »diese« Situation, die aus zufälligen Begegnungen entsteht, daraus, daß man sich bei etwas trifft. »Sich konstituiert« – darin zeigt sich eine reflektierte Objektivität im Unterschied zu d e r Situation, in der ich »m i c h« finde, in der die Transcendenz des Daseins Erfahrung wird. Die Situation »retten« bedeutet hier nicht: durch Wiederherstellung der Lage dem hierin reflektierten Beginnen freie Hand – und Raum h–i zu schaffen, es drückt – in einem wörtlicheren Sinn – gerade aus h,i wie diese »Situation« s e l b s t etwas ist, was durch Teilnahme ständig gehalten werden will, dessen Möglichkeit zurückfällt auf die, die jeder ihrerseits irgendwie – vielleicht führend – dafür aufzukommen haben. Wie es schon auf den Partnern eines Gesprächs geradezu »lasten« kann, das Gespräch flott zu erhalten und nicht stranden zu lassen. Man trifft sich hier auf einem Boden, der neutral ist gegenüber dem, was sonst als Sympathie oder Antipathie unausgesprochen zwischen den Teilnehmern stehen mag. Durch den Ton, auf den dieses Zusammensein gestimmt ist, bestimmen sich die Grenzen einer solchen Situation. Es ist eine bestimmte »Lage«, auf | die sich hier jeder zu übersetzen h0015i hat. Jedes Wort will abgewogen sein. Auf einer bestimmten »Linie« hS.i 10 trifft man sich hier. Entsteht hier aber eine »Verlegenheit«, so bedeutet dies weniger mein hUnterstr. m. Tinte:i Versagen als vielmehr die »Unmöglichkeit« der Situation selbst. Das Wort erstirbt einem, wenn einer durch Brüskierung des anderen aus der Rolle fällt, sich im Ton vergreift, einen Mißklang hervorruft. Wenn Unpassendes gesagt wird usw. Jeder scheint dann vereinzelt zu werden. Man findet nicht mehr den Weg zu einander. Und die Verlegenheit steigert sich im Mitfühlen der Verlegenheit auch der Anderen; man meidet es, ihrem Blick zu begegnen. Verlegen zu werden heißt hier gerade, daß man Gefühl für die Situation hat. Um Antwort verlegen zu sein ist etwas anderes als die Pein des über der Situation hierbei lastenden Schweigens. Je deutlicher man die Situation erkennt bezw. herankommen sieht, was anderen vielleicht noch verborgen ist bezw. was sie überhört haben, umso stärker ist 209 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

MS Die menschliche Natur

die Verlegenheit. Die hUnterstr. m. Tinte:i Teilnahme an der Situation läßt mich verlegen werden, und ebenso auch erleichtert aufatmen, wenn es einem andern vielleicht gelingt, den Einklang wieder herzustellen.

4.

hSchami

Besonders Zweideutigkeiten machen verlegen, Anspielungen, deren Verständnis man sich – widerwillig – nicht entziehen kann. Unanständigkeiten. Wobei es nicht das »Unpassende« hierbei ist: es ist nicht »die Situation«, wofür hier das Gefühl fehlte. Es wird nichts »Unmögliches« gesagt. Nicht als Teilnehmer an einer Situation, und überhaupt nicht durch eine Situation, sondern aus m i r s e l b s t heraus werde ich hier verlegen. Man hm.Tinte:i empfindet es als »unanständig«h,i etwas nicht beim richtigen Namen zu nennen. Warum? – Das Wort wird dadurch zweideutig, bekommt gleichsam Doppelsinn. Auch bezw. gerade wenn die Sache dem andern eindeutig präsent ist. Oder das Wort deutet nur an, vorsichtig zögernd. Dadurch rückt aber das Gemeinte in die Sphäre diskreter Vertraulichkeit, deren Verhältnis zum Anderen aufzunehmen h0016i ich gerade vermeiden möchte. Als ob S a c h e n überhaupt zweideutig hS.i 11 sein könnten. Dieses Abirren auf etwas durch sein | Nicht-berufen-werden doch offenbar hUnterstr. m. Tinte:i Ferngehaltenes, auf etwas, was also n i c h t die Sache ist, macht hier aber hUnterstr. m. Tinte:i Scham rege. Man errötet. Sofern man sich betrifft bei der – wenn auch widerwilligen – Aufnahme der in der Anspielung gewiesenen Richtung. Man wehrt sich gegen »Eröffnungen«. Und Scham ist hier mit Ekel verbunden. Das Unverfroren-Einladende zu etwas ekelt. Scham überkommt mich. Sie ist kein Affekt in dem Sinn wie Verlegenheit eine Alteration ist, der man Herr zu werden sucht, gegen die man sich durch Wiedergewinn seiner Haltung durchzusetzen hat. Sicherlich – man »empfindet« Scham. Aber »packt« sie mich eigentlich, bezw. »w e r d e« ich hierbei etwas – wie ich etwa verlegen hAnführungszeichen m. Tinte:i »werden« oder schüchtern »sein« kann? Es liegt ähnlich wie bei der Angst, die in mir aufsteigt. Wie nur F u r c h t mich befallen kann, aber nicht die Angst, die zum Dasein gehört und die in der Furcht und Sorge »enthalten« ist, – ebenso ist Scham etwas, dessen »S c h a l t u n g« sich anzeigt in der Verlegenheit. Sie überkommt mich 210 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Scham

in den Affekten, in die ich gerate, die mich als Verlegenheit usw. rot werden lassen. Was sich in der brennenden Röte ausdrückt, ist also die Verlegenheit, aber nicht die Scham, die, sofern sie selbst überhaupt kein Verhalten ist, auch gebärdenlos ist. Scham läutert sich heraus aus Verlegenheit, Ekel usw. Es gibt eine »Reinheit« der Scham, aber keine solche von Furcht usw. Denn Furcht ist immer bestimmt als hUnterstr. m. Tinte:i die Furcht, daß (nicht) … – im Gegensatz zu der Angst. Furcht ist lediglich etwas Typisches, und ebenso auch die Verlegenheit. »Reine« Furcht gibt es nur im Sinn des »reinen Falls« eines Begriffs. Anders die Angst und die Scham, in deren Konzeptionen nicht wie bei der Verlegenheit, dem Sich-genieren usw. wirkliche Vorkommnisse auf den bloßen Nenner eines verstandenen Verhaltens gebracht werden. Schamhaftigkeit gilt – wie etwa auch das Gewissen – als ein Konstitutivum des Menschen. Ängstlichkeit ist in verschiedenen Graden zu finden, Furcht etwas, was einer überhaupt nicht zu kennen braucht; ein bestimmtes Alter neigt zur Schüchternheit, Verlegenheit ist durch Si- h0017i tuati-|onen begründet: all das hUnterstr. m. Tinte:i erfährt man einmal, hS.i 12 bezw. ist es etwas, was jeder schon einmal »an sich« erfahren hat. Demgegenüber: man »weiß«, was Scham ist – nämlich wie man auch und gerade in der Abkehr von sich selbst um sich weiß; Scham ist Weise des Selbstbewußtseins. Sie ist wie die Angst keine Auslegung, kein Sichverstehen auf die Dinge; das Dasein wird darin nicht aufgenommen. Scham ist – weil sachlich nicht zu begründen – nie »je eines« Scham, sondern Scham schlechthin – wie etwa auch das Grauen. Deshalb kann man auch die Schamregung des Anderen nicht »teilen«, wie man seine Sorgen im weitesten Sinne, z. B. seine Furcht und Trauer, teilen kann. Ich kann Scham auch nicht eigentlich n a c h empfinden, wie etwa die Verlegenheit des Anderen – was dann soviel bedeutet wie: sie begreiflich finden. Man kann Scham seinerseits nur a u c h empfinden. Man schämt sich z. B. einen Andern um etwas zu bitten, weil er es eigentlich von selbst tun müßte. Man schämt sich hier f ü r den Anderen. Nicht daß man »selber« sich hier schäme, wie man wohl angesichts der unmöglichen Situation, in die sich einer gebracht hat, selber verlegen wird – man schämt sich »in die Seele des Anderen hinein«. Nämlich daraufhin gerade, daß e r sich n i c h t schämt. Sofern ja doch das, dessen er sich schämen müßte, nicht seine Schuld, sondern etwas ist, woran ich als Mensch ebenso teil habe. Wie ich auch s t a t t seiner mich schämen kann. Meine Natur zeigt sich in meinen Affekten, d. i. in dem, was auf 211 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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h0018i hS.i 13

h0019i hS.i 14

mich wirkt, wogegen ich empfindlich bin. Aber so etwas wie eine hUnterstr. m. Rotst.:i »Verfassung« des Menschen kommt zum Vorschein in der »Art«, d. i. in der inneren Möglichkeit bestimmter Affekte, z. B. von Furcht und Verlegenheit. E x i s t e n z ist schamhaft. Mich überkommende Scham bringt mir mich zum Bewußtsein in dem, was ich bin und zu sein habe. Und die Unmächtigkeit, deren man sich in der Scham bewußt wird, ist eine besondere. Sie meint nicht nur dies, daß man sich in der einem mitgegebenen ererbten Natur nicht erspart werden kann. Denn dies hieße gerade: damit irgendwie fertigzuwerden. Gerade das, aber, daß man d a s hier nicht kann, ist | der Stachel der Scham, in der man sich bei etwas betrifft, zu dem man sich nur schlicht zu bekennen hat. Scham, Angst, Grauen sind nicht irgendwie qualifizierte Gefühle, d. i. flüchtige Begleiterscheinungen hm. Tinte: i dessen, was hUnterstr. m. Rotst.:i Philosophie eigentlich betrachtet, natürliche Vorkommnisse, über die nichts eigentlich weiter gesagt werden könnte. Sie sind gerade das primäre Anliegen der Philosophie. Denn ich werde darin vor mich selbst gebracht. Nicht in dem trivialen Sinn, daß ich mich hier je nach den Umständen verschieden erfahre, in dem, was ich je bin, bezw. als was ich mich empfinde. Vielmehr: man findet sich hier entdeckt in dem »S e i n«, das ich je selbst bin. Schamhaftigkeit sucht nicht eigentlich sich zu »schützen« gegen etwas. Weil Schutz Vorkehrungen bedeutet, Gefahren darin vorsichtig vorgebaut wird. Scham »gewärtigt« aber nichts, ist nicht in d i e s e m Sinn protentional, als ob ein »Raum« hier umsichtig erschließend gekannt würde. Es steht ja auch keine Erfahrung hinter der Scham. Schamhaftigkeit scheut sich gerade, den Blick dahin aufzuheben, von wo »ihr« Gefährdung kommt. Scham sucht – wie auch die Reserve des Schüchternen – sich den andern in ihrer Richtung zu verbinden. Man »achtet« die Scham. Während aber der Schüchterne »sich selbst« im Werden seines Gesichtes zu bewahren sucht, ist Scham auf etwas bezogen, was als »Blöße« überhaupt nicht dem Blick des Menschen gehört. Scham bannt und unterbindet, läßt nicht aufkommen. Nicht als ob ein »Sonst-sich-schämen-müssen« hierbei »in der Vorstellung« vorweggenommen würde – w i r k l i c h e Scham ist gerade darin lebendig, daß sie Bestimmtes gar nicht in Betracht kommen, gar nicht aufkommen läßt. Das Versagen der Scham – gleichgültig, von welcher Seite aus – daß etwas nicht »aus Scham« ungeschehen blieb, läßt dann Scham a l s G e f ü h l erst rege werden. |

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Maske

5.

hMaskei

Was bedeutet aber »B l ö ß e«, und was heißt es, daß Bestimmtes »nicht dem Blick des Menschen gehört«? Wo liegt die Verbindung zu der Zweideutigkeit, für die das »Unanständige« doch nur das erste Beispiel war? »Es gibt Vorgänge so zarter Art, daß man gut tut, sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen … Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich am schlimmsten schämt … Einem Menschen, der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten Entscheidungen auf Wegen, zu denen Wenige je gelangen, und um deren Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen. … Jeder tiefe Geist braucht eine Maske.« (Nietzsche VII 60) I – Die Maske fixiert den Anderen. Man bestimmt als wer man genommen sein will in einem Rahmen von Rollen, der auch dem anderen verbindlich ist. So wie man auch in der Ironie sich in seinem Ernst dem andern vorenthält. Denn nicht erst das M i ß verständnis »empfindet« man hier schon als Vergreifen. Sich nicht »verraten« wollen, bedeutet hier nicht nur die Verhinderung einer an sich möglichen Erkenntnis. Sich-verraten heißt hier: abfallen von sich selbst. Um nicht »gemein« zu werden, sucht man Masken. Eigenstes will nicht bloß-, d. i. herausgestellt, hAnführungszeichen m. Tinte:i »objektiv« h,i d. i. unter ihm äußeren und fremden Maßstab betrachtet werden. Da seine Wahrheit und Wirklichkeit in den Zusammenhängen sich nicht erweisen kann, die offen demonstrabel sind: es ist ein Scheinverstehen, das sich aus der entstellenden Zweideutigkeit erzeugt, in die es durch das darauffallende schiefe Licht gerät. (Vergl. Kierkegaard VII 21) II Es ist auch Scham, was uns davon zurückhält, zarte Regungen, keimende Gedanken vor die Öffentlichkeit unseres Bewußtseins zu zerren oder sie gerade begreifend beiseite zu bringen, durch Fest-stellung erstarren zu lassen. So schämt man sich auch, sich als Gegenstand des Mitleids zu wissen und vorzüglich in dem bemitleidet zu werden, was als unser eigenstes Leid überhaupt nicht »gewußt«, dessen Wirklichkeit von einem Andern überhaupt nicht bezeugt werden kann. hM. Rotst.: xi 10 Man sträubt sich, mit einem Andern verglichen, d. i. von die- | h0020i hS.i 15

hUnten am Bl. gekl.:i +) »Der wahre Schmerz ist schamhaft«. (Hebbel IV. 5831) – Seelischer Schmerz verträgt überhaupt kein Mitleid. Mitleid mit jemand kann man nur dann haben, wenn man seinen Schmerz nicht mitempfinden oder teilen kann. Denn wie Gedanken peinigen und quälen einen seelische Schmerzen. Mitleid zeigt sich aber in Hilfe

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MS Die menschliche Natur

sem her auf etwas hin betrachtet zu werden und so durch den fremden Gesichtspunkt in ein zweideutiges Licht zu geraten.

6.

hBlößei

Zweideutigkeiten, Blöße, Gemeinwerden usw. – all dies kehrt in merkwürdig kaleidoskopartiger Verschiebung wieder. Denn die Fäden dieser Verknotungen sind kein sachlicher Text. Es gelingt nicht, ein strukturelles Schema der Scham aufzustellen. Man kann nur die Verweisung des einen zum andern bemerken – wie ja auch der Kontext der Wirklichkeit nur eben »aufgenommen« wird in den Dingen, aber kein herausstellbares Gefüge ist – im entscheidenden Gegensatz zu den Abhängigkeiten als B e z i e h u n g e n des hUnterstr. m. Rotst.:i Kalkülls z. B., die es aber wiederum verlangen, daß das Bezogene = X bleibt. Die »Blößen« die der sich Genierende sich zu geben fürchtet, sind S c h w ä c h e n , d. i. etwas, womit man nicht bestehen kann vor anderen, was man deshalb nicht merken und sehen lassen will. +) 11 Vielleicht kann man sich hier a u c h schämen; aber sofern man sich »bloß« geniert, wird hiervon gerade abgesehen. Die Blöße der S c h a m hAnführungszeichen m. Tinte:i »g i b t« m a n s i c h aber n i c h t . »Blöße« hat hier und Zuspruch, – aber auch in dem Bedauern, nichts tun zu können. Mitleid erfaßt im Schmerz und im Leid nur das hUnterstr. m. Tinte:i Befinden des Anderen. [Friedrich Hebbels Tagebücher. Mit einem Vorwort herausgegeben von Felix Bamberg. G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1887, Zweiter Band. Sechstes Tagebuch angefangen den 24 Novbr. 1859. Gmunden, den 2. August 1860, S. 487.] 11 +) Auch Blamagen lassen verlegen werden. Man bleibt hier zurück hinter den Erwartungen, die man entweder selbst erweckt hat oder zu denen man berechtigte. Blamiert wird man nicht eigentlich »erkannt als …«, sondern lediglich dies kommt dabei zum Vorschein, daß man Bestimmtes n i c h t ist oder kann. Die Blamage ist Folge einer Überheblichkeit. Blamiert ist man lächerlich geworden. Wenn man sich vor sich selbst blamiert »vorkommt«, hatte man »sich selbst etwas vorgemacht«. Darin, daß man sich hier blamiert »vorkommt«, ist das lockere, distanzierte Verhältnis bezeichnet, in dem man zu sich selbst hierbei steht. Man kann nicht jemanden so blamieren, wie man ihn beschämen und bloßstellen kann. Man kann ihn nur sich blamieren l a s s e n . Nämlich verleiten dazu. Blamagen sind in in einem trivialen Sinn vermeidbar. In der Blamage kommt auch keine »Blöße« zum Vorschein. Es ist die I r r e a l i t ä t eines Scheines, aber nicht der Mangel einer Blöße, was dabei zutage tritt. Blamiert zu werden ist ein Geschick, das einem widerfährt – Es gibt kein Wort für den Affekt, in den man dadurch versetzt wird. Die Anschaulichkeit der Blamage macht es wiederum, daß mein Zumute-sein bei anderen Gelegenheiten als ein »Sich-wie-blamiert-vorkommen« verdeutlicht werden kann.

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Blöße

auch keine nur relative Bedeutung. Als Blöße empfindet man hier etwas – das zeigten die bisherigen Beispiele – dessen man schlechthin nicht mächtig ist: man kann es | nicht davor schützen, »erkannt« auch zwei- h0021i deutig zu werden. D i e s e s Nichtmächtig-sein, worum man weiß in der hS.i 16 Scham, ist aber nicht das »Nicht-über-sich-hinaus-können«, das der Grund des Schamg e f ü h l s meistens ist. »Blöße« meint hier dann etwas anderes, komplexeres: Man schützt sich hier v o r jemandem. Man kann ihm nicht hEinf. m. Tinte:i frei unter die Augen treten, ins Auge sehen. hM. Rot- und Blaust.: xi Das ist etwas anderes als: »den Blick« des Anderen zu vermeiden, wenn man sich geniert. Bei einer Lüge ertappt zu werden, kann Anlaß zu Beidem sein: sich zu schämen und bloß verlegen zu werden. Während aber das Letztere sich lediglich auf die peinliche Lage bezieht, in die man dadurch kommt – vielleicht gerade inbezug auf das beim Lügen bewiesene Ungeschick, sofern man diese Situation nicht vorgesehen hat, – wird man sich in der Scham s e i n e r s e l b s t , d. i. nicht hinsichtlich dessen, als der man »dasteht vor« anderen, bewußt. In der Verlegenheit fühlt man sich dem Blick des Anderen ausgeliefert und sucht ihm zu entgehen. Hier ist es der Blick des F r e m d e n , den man deshalb scheut, weil er vielleicht herauskriegt, daß … Man geniert sich in der Öffentlichkeit. hM. Rot- und Blaust.: xi 12 Man hUnterstr. m. Tinte:i schämt sich aber, wenn man z. B. vom Anderen vorgenommen und hm. Tinte:i von ihm vor sich selbst gebracht wird. Wobei er wohl an das Vertrauen appelliert, das er einem geschenkt hat. Gerade auf dieses dem anderen Verbunden-sein hin kann man ihm hier nicht unter die Augen treten. Man schämt sich nicht vor dem Fremden, sondern gerade vor dem, der einem nahesteht. Man schämt sich, weil man sein Vertrauen getäuscht hat. Das Verbindliche des Vertrauens macht es, daß man sich z. B. vor seinen Kindern schämen kann. Denn dieses Vertrauen ist hier nicht sachlich begründet, – als ob die vermeintliche K e n n t n i s meiner eine Täuschung des Anderen gewesen wäre, als ob ich einen sachlichen »Schein« erweckt hätte. Vielmehr: Sofern er mir Vertrauen e n t g e g e n b r a c h t e , hat er sich in mir getäuscht. Man schämt sich dessen, wobei man als bei etwas von einem nicht Erwartetem betroffen wird. Die Blöße ist hier keine Angriffsfläche, die der durchdringende h0022i Blick des |

hS.i 16a

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hUnten am Bl. m. Tinte:i x Anm. 1 S. 16a! x Anm. 2 S. 16a!

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MS Die menschliche Natur +) Anm. 1. Man senkt den Blick, verhüllt das Gesicht, weil man d e m A n d e r e n nicht ins Gesicht sehen kann. Denn im Blick begegnet man ihm, – so wie er m i c h darin »trifft«. Denn Blick und Gesicht können nicht so wie Dinge gesehen, nicht von außen prüfend hEinf. m. Tinte:i schlicht betrachtet werden. Wobei die Richtung, unter der ein Ding gesehen wird, vom Standpunt abhinge und dieser – als sachlich günstig – durch Umstände bedingt wäre. Das Gerichtete des Blickes macht aber, daß er nur insofern sich zeigt, als er m i c h ansieht. Blicke treffen und kreuzen sich; sie können »getauscht« werden. Man meidet den in »mich« eindringenden, mich ausforschenden Blick des anderen. (Nur als Objekt, d. i. nicht bei der Begegnung von Gesicht zu Gesicht ist man aber dem Blick »ausgesetzt«. Aber auch hier »trifft« mich der Blick: man merkt es z. B., wenn auf der Straße einer der Vorübergehenden sich nach einem umsieht.) Diese notwendige Gegenseitigkeit, bei dem »dem Andern ins Gesicht sehen«, daß dies nämlich nur »Gesicht zu Gesicht« möglich ist, ist also nicht durch die Situation bedingt, so wie die Sichtbarkeit eines Dinges die Erfüllung bestimmter Bedingungen – Licht usw. – voraussetzt. Umgekehrt: Kommunikation gehört hier so zum Wesen des Ins-Gesicht-sehens, daß man auf Mittel bedacht werden kann, beim Ansehen des Anderen sich vor dessen Blick zu schützen, – etwa dadurch, daß man selbst im Dunkeln bleibt. Sich-selbst-erblicken hieße: sich selbst ins Gesicht, d. i. ins Auge sehen. Was »irgendwie« unmöglich ist. Man kommt sich merkwürdig »fremd« vor im Spiegel; hUnterstr. m. Rotst.:i Primitive oder Affen erkennen sich nicht darin. Optik zwingt hier den Blick gleichsam ins Leere vorzustoßen, sofern der – formal – »Andere« nur seine gleichsinnige Verdoppelung ist, dem Blick mit dem Gegenblick auch der Gegen-»stand« versagt bleibt. hMit Rotst.: xi hUnten am Bl. geklebt, Fortsetz.: xi »Fremd« wirkt das eigne Gesicht im Spiegel. Nicht als ob es noch nicht bezw. nicht mehr bekannt wäre. Es bleibt w e s e n t l i c h unbekannt, sofern es überhaupt nicht als Physiognomie gesehen werden kann. Denn es liegt im Begriff einer Physio-gnomie, daß man interpretierend auf etwas hierin S t a n d h a l t e n d e s zukommen kann. Und entsprechend »fremd« klingt die eigne Stimme aus dem Grammophon. In der Stimme erkennt man jemanden: die Stimme kennt man geradezu als die Stimme von … Man »vernimmt« jemanden darin. Aber kann man »sich selbst« vernehmen? Daß man nicht nur mit sich selbst sprechen, sondern daß man auch die »Stimme« »seines« Gewissens hören kann, darf hier nicht irre machen. Denn im einen Falle bin ich mir nur der andere, und die Stimme meines Gewissens ist doch die des mahnenden oder warnenden Gewissens. Aber doch nicht »meine« Stimme, die wesentlich nur auf einen, der nicht ich selbst bin, so wirken kann, daß in dem Eindruck, den sie macht, dies und jenes »liegt«. Man kann nicht »berührt« werden von sich selbst. (Wiederum – daß so etwas vorkommt wie Mitleid mit sich selbst, zeigt gerade nur, wie ü b e r h a u p t das Mitleid niemals jemanden »s e l b s t«, sondern nur »einen, der …« betrifft. – In dem man freilich dann auch sich selbst übersehen kann!) Das Prinzip eines Charakters, sofern er ein physiognomisches Gezüge ist, liegt im anderen. hM. Tinte: Anm.i hForts. unten am Bl.:i Anm. Man kann nicht sich selbst lieben, man kann nur »sich selbst« – nämlich hier: »diese Art« an sich hassen. Im Blick s t e l l t man den Anderen. Wenn es heißt, daß der Blick eines Menschen es einem »verraten« kann, was er denkt und will, so heißt der Blick hierbei nicht daraufhin verräterisch, daß er als ein unwillkürlicher Ausdruck etwas kündet, sondern weil er der erste ungewollte Durchbruch eines Beginnens ist. Ähnlich wie die Wendung daß »jemand Miene macht, zu …« soviel heißt wie: »er ist s c h o n d a b e i , zu …«. Denn was man will »bestimmt« sich allererst im »Verfolg« eines Beginnens. Wobei aber nun im

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Blöße B l i c k , den man auffängt, sogleich ein freies Verhältnis von Mensch zu Mensch sich herstellt. ++) Anm. h2.i. Eine andere Störung des Verhältnisses zur Öffentlichkeit bedeutet das »S e i n - G e s i c h t - v e r l i e r e n«. Man kann niemand mehr begegnen. Weil man nicht mehr der ist, als der man genommen und angesprochen wird. Denn unter bezw. in seinem Gesicht ist man bekannt, d. i. da für die Anderen. Sicherlich, das, dessen man sich zu schämen hat, läßt auch das Gesicht verlieren. Aber das Letztere bedeutet, daß man sich nicht mehr zeigen kann in der Ö f f e n t l i c h k e i t . Auch hier aber eine Zweideutigkeit, sofern man im doppelten Lichte dasteht. Um der Unsicherheit wegen meidet man dann Begegnungen – denn w o r i n d a r f man dem Andern noch begegnen, bezw. worin will er »mich« treffen? – »Sein Gesicht wahren« heißt sich zeigen können. Als Ausdruck der Makellosigkeit z. B. Oder daß einem etwas nichts anhaben, nicht aus der Fassung bringen kann; in der Todesverachtung z. B. »wahrt« man sein Gesicht. Es erprobt einem vor sich selbst. Bezw. bestätigt man sich vor sich selbst darin, daß man nicht eigentlich den »Blick« der Anderen, sondern ihre Z e u g e n s c h a f t nicht zu scheuen braucht. |

Anderen entdeckt. Und es wird hier auch nicht als irrealer Schein enthüllt. +) 13 Gegenüber dem Verlegenwerden vor anderen schämt man sich »vor sich selbst«. Nämlich daraufhin, daß man »so einer« ist. Und gegenüber der Schuld kann »so einer« jeder sein. Man schämt sich z. B. seiner Feigheit. Man schämt sich gerade vor den anderen so, wie man z u n ä c h s t vor sich selbst sich schämt. Während man umgekehrt sich vor sich selbst blamiert nur so vorkommen kann, wie man auch den anderen als blamiert vorkommt; blamiert sieht man sich »mit den Augen des Anderen«. Und blamiert ist man nur, wenn etwas herausgekommen ist. Man schämt sich aber auch dann, wenn niemand das sieht, wenn niemand von dem etwas weiß, dessen man sich daraufhin – daß nämlich die anderen von mir immer noch etwas anderes »erwarten« – gerade doppelt schämt. Man schämt sich dessen, bei dem man betroffen wird. Man schämt sich einer Lüge z. B. oder daß man nackt ist. Diese Zusammenstellung zeigt aber, daß man auch bei der Lüge sich nicht des G e t a n e n schämt. Der Bereich der Scham ist ein anderer als der des Gewissens bezw. der Reue über ein Unrecht oder eine Schuld. Durch Schicksal fällt man in Schuld. Dadurch daß man in der Entscheidung zu Möglichkeiten andere +) Ich »e n t s p r e c h e« aber Erwartungen oder nicht. Es wird von mir nicht nur so wie von dem Wetter etwas erwartet. Denn bei dem Wetter r e c h n e t man lediglich mit … Von mir kann aber etwas g e w o l l t werden. Worin mehr als »bloße« Erwartung bezeichnet ist. Denn sofern ich jemandes Erwartungen »entspreche« bei etwas, hUnterstr. m. Tinte:i verhalte ich mich zu ihm.

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h0023i hS.i 17

MS Die menschliche Natur

zunichten gemacht hat. Schuld ist immer meine persönliche Schuld. Etwas, zu dem ich zu stehen habe. Daß ich mich von meiner Schuld nicht lösen, sondern sie verantwortlich zu übernehmen habe, weist hier gerade auf die darin geschehende Wandlung von Existenz. Sofern Schicksal und Schuld nie »fertig« sind, man damit vielmehr immer »fertig zu w e r d e n« hat, sind beide etwas, worauf Existenz in Schritten – h0024i sie gleichsam aus-zeichnend – | zukommt. Sicherlich: man schämt sich, hS.i 18 daß man so gewesen ist bezw. daß man sich so benommen hat. Dabei bezieht man sich aber nicht auf Möglichkeiten, zu denen man sich als zu den »seinen« e n t s c h i e d e n hat. Man kann sich nur dessen schämen, was einem »p a s s i e r t« ist bezw. was jedem passieren, was sich deshalb auch immer wiederholen kann. »Passiert« – darin betont sich lässiges Nachgeben, hm.Tinte: i dies, daß man inbezug auf seine Natur etwas nicht über sich gebracht hat. hM. Blau- und Rotstift: xi 14 Man schämt sich z. B. seiner Feigheit. Ein Tier kann nicht feige sein. Es ist aber auch anders mutig. Bei dem Löwen z. B. bedeutet Mut eine ihrer selbst bewußte natürliche Stärke, die den Gegner annimmt. Der Mensch aber »stellt sich« der Gefahr bezw. dem Gegner. Er findet sich hierbei etwa als »Mann« beansprucht. Gefahr wird hier »für nichts geachtet«. Der Mut des Menschen steht immer in Spannung gegen das, dem er als seiner Natur zu erliegen geneigt ist. Inbezug auf das, dessen man sich schämt, kann es lediglich eine Besserung im Sinn des Gelingens eines Fertigwerdens mit seiner Natur geben. Ich kann beschämt werden durch das, was ein anderer über sich gewinnt. Dadurch, daß er mir die Möglichkeit dessen vorführt, vor dem ich verzagend zurückschreckte, werde ich bloßgestellt. Die »Grenzen« deren ich mir hier bewußt werde, bedeuten aber zweierlei: Einmal die Grenzen im Sinne eines Mangels meiner Natur, sofern sich nämlich in diesen »Grenzen« die Spannung Ansprüchen gegenüber ausdrückt. Man schämt sich dann dessen, wozu man als Mensch n e i g t , nämlich nur eben »neigen« kann, sofern der Mensch nicht n u r Natur ist. Man schämt sich des nur eben Menschlichen, Gewöhnlichen, Gemeinen. Und in der »Blöße« ist dann ein Durchbrochen-sein der personalen Integrität bezeichnet. Für Zweite aber wird man in der Scham »s e i n e r« als dessen bewußt, hm. Tinte:i was man nicht eigentlich »selbst«, was man nur eben »auch« ist. Man 14 hUnten am Bl. geklebt:i x Anm. +) Auf ein solches Sich-gehen-lassen hin spricht man auch inbezug auf äußeres Auftreten von »sich nicht s c h ä m e n …«, bezw. sich eines anderen »schämen« müssen, wenn er …

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Nacktheit

erkennt sich in dem, woran man als Mensch nur eben t e i l hat. Als »Blöße« tritt etwas zutage, was man selber »ist«, aber ohne dessen m ä c h t i g zu sein. Es ist allen Begründungen und Rechtfertigungen entzogen. Die Scham ist das abgedrungene Bekennt-|nis dazu. Ohn- h0025i macht will nicht an sich rühren lassen. Etwas als dem Blick zu Entzie- hS.i 19 hendes zeigt sich, falls nicht entzogen, als eine »Blöße«. Es sind die Triebe, Neigungen, vorzüglich aber die generelle Geschlechtlichkeit, was Anlaß werden kann zur Scham. Gerade in der Geschlechtlichkeit wird man sich seiner selbst bewußt. Hier liegt die natürliche und existenzielle Bedeutung der Entwicklungsjahre. Gerade durch die Überwindung wird einem hier etwas wieder bewußt. Es ist die Zweideutigkeit der menschlichen Natur, woraufhin man sich schämen kann. Zufolge ihrer a n t h r o p o l o g i s c h e n Bedeutung sind die natürlichen Neigungen etwas, dessen man sich b e w u ß t wird. Und man »ist« sich nicht eigentlich, sondern w i r d sich ihrer bewußt. Darin drückt sich aber nichts anderes als die grundsätzliche Zwiespältigkeit der »menschlichen Natur« aus. Gemessen an wesentlichen Ansprüchen des Menschen erscheint hier etwas zunächst als »unbewußt«, dessen man sich als des vitalen u n p e r s ö n l i c h e n Grundes nur immer w i e d e r b e w u ß t werden kann. Das Schamgefühl ist ein spezifisch menschlicher Affekt, die »Lage« des Menschen kommt darin zum Vorschein. Scham entsteht nicht wie die Verlegenheit aus, sondern nur gelegentlich von Situationen. Auf dem Grunde seiner Existenz schämt man sich. Das Verwundert-Verwirrende des Schamgefühls entsteht aus der »problematischen Einheit« des Menschen.

7.

hNacktheiti

Nur wenn der Blick des Anderen im Sich-lenken auf diese in der problematischen Einheit des Menschen bezeichnete Fragwürdigkeit meiner selbst fragwürdig wird, kann Nacktheit Anlaß der Scham werden. Der sachlich untersuchende Blick des Arztes z. B. läßt Scham nicht aufkommen. Auch eine Divergenz in der wechselseitigen Einstellung, hinsichtlich dessen, was der eine dem andern »entgegenbringt«, kann aber als Zweideutigkeit des gegenseitigen Verhältnisses – meist nur dem einen fühlbar – empfunden werden. Gerade hm. Tinte:i eine mir entgegenh0026i gebrachte Sachlichkeit z. B. kann dann Scham rege werden lassen. | Indessen – ist es eigentlich die N a c k t h e i t , deren man sich hS.i 20 219 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

MS Die menschliche Natur

schämt? »Nackt« meint unbekleidet. Tiere sind nicht nackt. Und Hände und Gesicht können ebensowenig nackt als bekleidet sein. »Nackt« inbezug auf ein Gesicht gesagt, meint fleischliche Fülle, durch die das Geistige, die Züge des Gesichts, überdrängt werden. Und ebensowenig macht die Hand, in der sich die Geistigkeit eines Menschen ausdrückt, den Eindruck des Nackten. Der Handschuh »verbirgt« sie nur. Angezogen zu sein gibt dem Menschen die Möglichkeit, sich vor jedem sehen zu lassen. Die Kleidung schafft »reine Verhältnisse«. Man gewinnt dadurch die Ebene der »Öffentlichkeit«. Man kann sich begegnen lassen. Wie diese Begegnung mit dem Anderen dann auch im Blick, durch die Gesten meiner Hand usw. bestimmt gestaltet wird. Man trifft sich hier bezw. verbindet einander in etwas. Man ist nicht einfach »d a« voreinander. (Wie das z. B. Liebende können). Es wäre z. B. unverschämt, wenn ein Diener seiner Herrin nicht nur in der seiner Stellung entsprechenden Weise b e g e g n e n wollte. Man begegnet aber einander als der und der. Mein Kleid – und auch die Tätowierung der Wilden ist Kleid – ist der Charakter, der einem als Mann zukommt oder der mir als Zeichen meiner Altersklasse gegeben ist usw. Wobei »Mann« nichts Allgemeines ist, woraufhin einer »begriffen« würde, sondern die Zugehörigkeit zu einer Gruppe der Gemeinschaft bedeutet. »B l ö ß e n« wollen aber »bedeckt« sein. Angezogen, d. i. nicht nackt zu sein, läßt Blößen gar nicht aufkommen. Nacktheit ist also – sofern sie lediglich die Bedingung des Zum-Vorschein-kommens der Blöße ist, nicht gleichbedeutend damit. Und zweitens: die Blöße bezieht sich nur auf bestimmte Teile des nackten Körpers. Sie bezieht sich auf etwas, was der Mensch »auch« »ist« – wobei sowohl das »auch« als auch das »ist« betont werden muß. Nicht einfach die Zufälle meiner Natur sind gemeint, wie meine Statur z. B., die nur eben störend oder günstig hereinspielen in menschliches Leben. Daß man etwas »auch ist«, drückt h0027i aus, wie etwas als Grundlage b e s t i m m e n d h i n e i n r a g t | in hS.i 21 menschliches Leben, und wie in der Gegenrichtung Natur hier als Vitalität, d. i. anthropologisch bestimmt ist. Auch die Blöße meines Körpers ist etwas, was nicht »für sich« und d. h. hier in die vor Augen ausbreitbare Wirklichkeit gezerrt aufkommen kann für das, dessen natürliche G r u n d l a g e sie doch nur »ist«. I c h s e l b s t bin der Schutz meiner Blösse: c’est l’âme qui enveloppe le corps. (Nietzsche, VII 142) III Mein Gesicht bedeutet keine Blöße, denn es »spricht«. Und mein Arm, Rükken usw. wiederum deshalb nicht, weil sie nicht eigentlich grundlegend

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Schamlosigkeit, Prüderie

sind für ein »Leben«, das geführt werden will. Sie haben nicht die Nähe zu dem Personalen, dessen Integrität verletzt werden könnte.

8.

hSchamlosigkeit, Prüderiei

Schamgefühl ist etwas anderes als Takt. Takt ist das richtige Empfinden für das, was sich hier und jetzt in dieser b e s o n d e r e n Situation gehört. Und Taktlosigkeit kennzeichnet lediglich eine L ä s s i g k e i t : Man denkt nicht daran, daß … Takt erweist sich vorzüglich im »richtigen Ton«, den man trifft. Der Ton bestimmt, wie weit man mit etwas gehen darf, wo die Grenzen liegen, was hier noch gesagt werden kann. Die hUnterstr. m. Tinte:i Scham vermissen lassen wird dagegen von vornherein dem Anderen als ein D e f e k t angerechnet. Schamlosigkeit wirkt ekelhaft. Ekel über- 15|kommt einen z. B. angesichts des hem- h0028i mungslos Ungenierten, Schamlosen eines fetten Grinsens. Ekel ist nicht hS.i 22 zu begründen wie Abscheu oder Verachtung. In diesem Grinsen wird hier der Hohn erfaßt über die unabstreifbare Affinität zu dem daraufhin Ekelhaften. Nacktes Nur-Leben in seiner Ungebändigtheit ist ekelhaft. Wobei diese Ungebändigtheit gerade in der Aufdringlichkeit seiner Darbietung liegt. Ekel drückt sich als Wieder-loswerden-wollen von etwas aus. Man erfährt hm.Tinte:i hier eine Anfechtung von dem her, was daraufhin hm. Tinte:i hier gerade als »ekelhaft« empfunden wird. h0029i hM. Tinte:i Zusatz 22a| Dem, was mich e k e l t , kann ich nichts entgegensetzen. Nicht als ob ich hier so angefochten würde wie bei der Angst, die aus mir kommt. Das Wovor des Ekels ist ja doch anzugeben: Verwesendes, Spinnen, Federn, das fette Grinsen eines Menschen. Aber Ekel ist etwas anderes, als wenn man bloß angewidert wird. Was mich »irritiert«, erregt sich hUnten am Bl., nicht dem Text zugeordnet:i +) Anm. I. Sich zu g e n i e r e n ist aber etwas, was man überwinden soll. »Er hat sich nicht einmal geniert …« ist nur insofern ein Vorwurf, als in dem Sich-nicht-genieren eine Gleichgültigkeit gegenüber der Meinung der Anderen zum Ausdruck kommen kann; es liegt eine Nichtachtung darin. So als ob die anderen überhaupt nicht da, oder zu dumm wären um … ++) Anm. II. Als U n v e r s c h ä m t h e i t gilt aber schon ein bedenkenloses Sich-hinwegsetzen über schuldige Rücksichten; sie wird als aufreizend empfunden. Man bezeichnet als »unverschämt« ein V e r h a l t e n , das durch das Wo r t in Gegensatz gebracht wird zu einer Zurückhaltung, die Ausdruck sein hUnterstr. m. Tinte:i kann von »Verschämtheit«, d. i. dessen, daß man sich nicht »vergeben« will an Andere, daß man deren distanzierte Achtung beansprucht.

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hS.i 22a

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hForts. S.i 22

sperrende Gegenwehr. Die Grimasse des Ekels ist aber die des Brechreizes. Sie drückt aus, wie man hier nur m i t G e w a l t etwas hUnterstr. m. Tinte:i wieder loswerden kann. Ekel steht neben dem Überdruß, der insofern von etwas »genug hat«, als es zunächst aufgenommen wurde. Im Ekel wird etwas »erfaßt«. Es ist ein Sinneseindruck. Am meisten ekelt man sich vor Gerüchen, weil hier der Kontakt am engsten ist. Das Gehör vermittelt keinen Ekel, weil Geräusche lediglich herkommen von …, aber keine Beschaffenheiten der Dinge selbst sind. Das Gesicht deshalb, weil es die Dinge in all ihren Einzelheiten erkennt. Und gegenüber dem Haß, der Verachtung usw., die je nach dem das richtige Verhalten, die als Stellung und Haltung herausgefordert sind, ist der Ekel etwas, was »einen« nur eben ankommt. In Abscheu und Verachtung wird der Mensch im Ganzen erledigend beiseite geschoben. Man ekelt sich aber immer vor etwas a n ihm, und wenn »der ganze Mensch« einen ekelt, so ist es eben a l l e s an ihm. … Ekel ist eine E m p f i n d u n g im Unterschied zum Grauen und Schaudern, bei denen etwas transparent wird in Richtung auf Abgründe, in denen dieses Abgründige also »erlebt« wird. Was breit sich darbietet, erregt Ekel. Die überbetonte Fülle in eins mit der Verarmung des Lebens bei dem Gewimmel eines Raupennestes. Fäulnis ist gerade mit Lebenssteigerung verbunden. Man erfaßt aber darin ein Ausbrechen aus dem Gesamtgefüge gestalteten und differenzierten Lebens. Man ekelt sich vor der Hemmungslosigkeit des niederen Lebens – niederes Leben so durchschnittlich verstanden, wie es jedem geläufig ist. Vor dem verschwenderischen Sich-ausgeben des Wuchernden, das nicht eigentlich totzukriegen ist. Was man nur b e s e i t i g e n kann, aber nicht zerstören, da es selbst schon auf dem Wege der Auflösung ist. Das spannungslos Ungebändigte, hemmungslos Ungestaltete erregt Ekel. Z. B. eine Bakterienkultur, im Unterschied zu den Bakterien unter dem Mikroskop, wo sie in ihrer differenzierten Gestalt gesehen werden. Man will das Ekelhafte nicht anfassen – nicht etwa einfach, um nicht schmutzig zu werden. Denn Schmutz bleibt nur äußerlich an mir hängen; man kann ihn abwaschen. Man flieht nicht das Ekelhafte, sondern d i e N ä h e des Ekelhaften. Das Ekelhafte wirkt aufdringlich. Im Höhnischen des fetten Grinsens z. B. zeigt sich, wie man in diesem Grinsen geradezu irgendwie hAnführungszeichen m. Tinte:i »beansprucht« wird. Deshalb: es ekelt »m i c h« vor etwas. Man sagt wohl, mich ekelt »richtig«. Vage unbestimmtes Angemutet-sein wird fest-gestellt in der Aufnahme bestimmter Affekte. Es gibt eine Bahnung von Affekten, daraufhin eine Morphologie der Affekte. Etwas »wird« geradezu zum Ekel, kippt gleichsam darein ein. Es liegt bei den Affekten nicht anders als beim Begreifen, was sich in überkommenen Richtungen fest-stellt. Ebenso aber, wie keine Konzeption einzeln bleibt, wie jedes Wort zu einer bestimmten Sprache gehört, ist auch jeder Affekt zugehörig zu einer bestimmt gerichteten Affektivität im Ganzen. Es gibt sicherlich Grundstrukturen in der Verfassung menschlicher Existenz, aber keine »a l l g e m e i n« menschliche Psychologie. Denn »allgemein« hKorr. m. Tinte: i kann nur etwas sein, was allgemein vorkommt. |

Es gibt eine »f a l s c h e« Scham. Wenn z. B. jemand glaubt, etwas nicht annehmen zu können, wenn jemand sich nicht entkleiden will vor dem Arzt usw. Im Vorwiegen der Verlegenheit hierbei verrät sich schon das seiner-selbst-nicht-Sichere dieses Gefühls. Es fehlt das rechte Verhältnis zur Scham. Man weiß nicht, was »eigentlich«h,i nämlich i m 222 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Schamlosigkeit, Prüderie

G r u n d e Scham ist, sofern man bis zu diesem Grund nicht durchgestoßen ist. Nicht, daß man hier etwas, was in einem rege ist, eigentlich verwechselte mit der Scham. Man glaubt ja doch hm. Tinte:i überhaupt nur zu einem »V e r h a l t e n« als dem hier gehörigen verbunden zu sein. Es gibt a n e r z o g e n e Gefühle. Sie werden rege in der Nacha h m u n g (was etwas anderes ist als nachm a c h e n ) von Haltungen und Gebärden als deren Innenseite. +) 16 »Falsche« Scham ist es auf das Scheinhafte, nicht Echte, weil Grundlose, dieses Gefühls hin. Und zweitens, weil es ein »verkehrtes« Gefühl ist; man liegt schief bei diesem Verhalten. »Falsch« meint aber wohl auch: nicht angebracht. Also eine nicht nötige und insofern auch nicht angebrachte Scham, als Scham h0030i b e g r ü n d e t sein muß. | P r ü d e r i e aber ist kein seiner nicht sicheres Gefühl. Sie verstellt hS.i 23 wohl die Scham, aber sie ist keine verstellte Scham. Es gehört zum guten Ton, bestimmte Dinge nicht zu nennen, bezw. ihre Erörterung brüsk abzulehnen. Shocking ist das, was man nicht erwähnen darf. Als ob es damit getan ware, daß Bestimmtes nur nicht b e r u f e n wird. Als ob man dann frei davon ware. Als ob man sich überhaupt davon freihalten könnte und nur die Ansteckung damit zu fürchten hätte. Prüderie ist hUnterstr. m. Tinte:i eine zur Schau getragene Empfindlichkeit gegen bestimmte Dinge. Nämlich gegen die, deren Zweideutigkeit der Gesellschaft für entschieden gilt. Prüderie verrät deshalb gerade einen tatsächlichen M a n g e l an Scham, für die sie sich andererseits ausgeben, wohin sie sich verstehen will. hM. Rotst.: xi 17 »Verstellt« ist echte Scham hier, sofern sie verbaut, ihr Gegenstand in das Nichtpassende, Nichtgehörige versetzt worden ist. Das befangen Unfreie, die unsichere Ängstlichkeit des Prüden zeigt, daß er nicht fertiggeworden ist mit dem, zu dessen Bewußtheit gerade die Scham durchstößt. Eine Verstellung vor sich selbst bedeutet diese verdrängte Scham. Prüderie ist nicht in 16 hUnten am Bl.: i +) Sie sind t a t s ä c h l i c h Beispiele für die James-Lange’sche Gefühlstheorie. Man bemerkt aber gerade am Zutreffen dieser Theorie für d i e s e Fälle das Versagen ihrer Erklärung bei »gegründeten«, d. i. »ursprünglichen« Gefühlen. 17 hUnten am Bl. geklebt:i ++) Der Prüde »ziert sich«. Darin der Koketterie verwandt. Man kokettiert z. B. mit einer Unbildung. Koketterie spielt zwischen Zeigen und Vorenthalten. Es wird hier lediglich eine Schicht des »Außen« hergestellt. Der Andere wird gefesselt, genarrt, sofern er seinerseits herausgefordert wird – z. B. sich als Bildungsphilister zur Schau zu stellen. Koketterie hat verschiedene Motive. Z. B. auch dies, den Anderen nicht an sich herankommen zu lassen, oder tatsächliche Mängel zu verdecken, exhibitionistisch gegen etwas zu protestieren usw.

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dem Sinn verstellte Scham wie Pedanterie und Ängstlichkeit verstellte Angst insofern sind, als diese Angst doch darin lebendig ist. Es liegt bei der Prüderie vielmehr dieselbe Täuschungsrichtung vor wie bei dem, was zumeist als Bescheidenheit gilt. Vorbildern konform zu sein gilt hier als Forderung. Man will sich entsprechend gemessen wissen. Man will bestehen im Vergleich zu den anderen, entsprechendes Ansehen gewinnen. Prüderie will etwas darstellen. Der Z y n i k e r nennt gerade die Dinge »beim Namen« und wendet sich damit gegen die Prüderie, die ihn geradezu herausfordern kann. Schon durch diesen inneren Bezug auf einen Gegner unterscheidet sich der Zynismus von der Schamlosigkeit. Zynismus ist eine Haltung, die etwas zurechtstellen will. Der Zyniker weiß um die Blöße als Blöße. Er zerreißt gerade die Zweideutigkeiten, in denen bezielt wird, wobei der Schamlose in sattem Behagen verweilen möchte, – als ob nur ein verh0031i hüllender Schein über diese Dinge gebreitet werden könnte. | hS.i 24

9.

hm. Bleist.i Tabu

Dieses »Sich-zurückgebracht-finden auf sich selbst«, dies in den »Grenzen« einer Natur bezeichnete Nichtmächtig-sein dessen, was man »ist« bezw. »tut«, diese gerade in der »Unanrührbarkeit« von etwas zum Vorschein kommende Tangibilität, das Moment der »Bloßstellung«, das in all diesem gezeichnete Syndrom kehrt – merkwürdig verschoben – wieder in den Konzeptionen des Tabu und des Frevels. hM. Rotst.: xi 18 Tabu ist den Polynesiern etwas, woran zu rühren man sich scheut, sofern hierbei etwas »verwirkt« würde. Die Scheu vor den Dingen, die tabu sind, ist keine f ü r c h t e n d e Scheu. Was tabu ist, gilt es nicht wegen seiner Bedrohlichkeit zu meiden. Man »rechnet« ja doch hier mit nichts. Als ob etwas in seiner »Bedeutung« hAnführungszeichen m. Tinte:i »verstanden« worden wäre. Gerade diese Freiheit zu den Dingen fehlt, die sie an ihrer Stelle erkennen und dies oder jenes sich gegen Gefahren zur Verfügung halten läßt. Nichts verbietet, nichts hindert h Unten am Bl. gekl.:i x Es gibt eine Homologie der Affekte. Als homolog werden in der vergleichenden Anatomie die morphologisch gleichartigen Organe den nur analogen Bildungen gegenübergestellt. So sind etwa Kiefer und Füße des Krebses Abwandlungen eines Grundtypus. Entsprechend weist aber gerade die Homologie zwischen dem Schamgefühl und dem Tabu auf etwas Durchgehendes in der Verfassung der menschlichen Natur.

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Tabu

gerade, an das zu rühren, was tabu ist. In der Scheu vor dem tabu drückt sich die Anfechtung des Verlockenden aus. Was tabu ist, ist keineswegs meinem Zu- und Eingriff entzogen. Daran zu rühren ist nur ähnlich unmöglich, wie auch derjenige »etwas Unmögliches tut«, der Scham oder Takt vermissen läßt. Man »v e r m i ß t« sich aber, sofern man daran rührt. Und wiederum nicht in dem Sinn, als ob man hier etwa seine Fähigkeiten überschätzte, sich einfach »falsch einschätzte«. Gerade das fehlt. Man täuscht sich über etwas anderes hinweg: darüber, daß man dessen, was man tut, darum nicht auch schon »mächtig« 1) 19 ist. Was nicht nur ein Nicht-in-der-Gewalt-haben bedeutet. So wie etwas einmal in Gang gebracht nicht mehr zurückgeholt, daher nur in Grenzen sich nicht selbst überlassen bezw. in seiner Auswirkung vorgesehen werden kann. »Nicht-mächtig« meint aber, daß man hierbei sich seiner begeben hat, so daß man nicht frei dafür aufkommen kann. Die Nichtmächtigkeit zeigt sich im Fortgang: | es ist nicht etwa so etwas wie ein E r f o l g des h0032i Frevels, was den Frevler durch die Nemesis ereilen läßt. Die Nemesis ist hS.i 25 keine bloße Vergeltung. Denn vergolten – das gilt besonders von der Rache – könnte nur das werden, was einem als tatsächlich von einem getan zugerechnet wird; in der Rache z. B. rechnet man ab mit … Gerade diese Verrechnung bleibt aber ohne Sinn im Fall eines bloßen B e g i n n e n s , wie es der Frevel ist. Das Beginnen selbst führt aber im Gefolge seiner selbst zur Bloßstellung seiner als eines in sich eitlen Unterfangens. Der Frevler ist dem verfallen, woran er rührte. Er hat sein Geschick selbst heraufbeschworen. Das Wort »etwas verwirkt haben« drückt das gerade aus. Es bleibt bei dem Versuch, der sich als Versuchung erweist. Man u n t e r l i e g t ihr. Das meint nicht nur, daß man sich selbst – in dem wozu man neigt usw. – nachgibt, d. i. sich nicht überwindet, sondern daß man demjenigen »verfällt«, woran man rührt und mit dem in eins man s i c h versucht. Die P r o f a n i e r u n g 1) 20 19 hUnten:i 1) Denn »Macht« ist mehr als »etwas tun können«. Macht hat gerade der, der o h n e e t w a s z u t u n etwas geschehen lassen kann. Darin daß man hier etwas nur geschehen l a s s e n kann, drückt sich aus, wie dieses Nichtmächtig-sein kein ungebrochen Ausgeliefert-sein bedeutet, sondern daß es etwas ist, z u dem man zu sein hat. 20 hUnten:i 1) Ein Vergleich mit der F r i v o l i t ä t liegt nahe. Frivolität bedeutet aber etwas anderes als Vermessenheit. Sie ist Mangel an Ehrfurcht. Die nicht einfach die richtige, nämlich gebotene Haltung ist – Frivolität hat keine Nemesis zu fürchten –, sondern etwas, was man f r e i von sich aus e n t g e g e n b r i n g t nicht faßbarem Geheimnis. Frivolität ist Ausnützung dieser Freiheit. Nämlich eine Verkennung des Verbinden-

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dessen, woran im Frevel gerührt wird, entspricht der Bloßstellung bei der Scham. Der Frevler hat etwas berufen. Was man beruft, kommt aber »über« einen. Man kann ihm nicht frei begegnen. Eine andere G r u n d a r t zu »sein«, eine spezifische Affektivität durch die Dinge tritt darin zutage. Man wird gepackt, »besessen« durch … Es gehört zur Konzeption des tabu, »ansteckend« zu sein: S i c h -anstecken bedeutet, daß die Initiative bei mir liegt – ohne daß ich indessen frei dazu wäre. Man wird hier nicht einfach als Natur getroffen von etwas, so wie etwa die Kälte lediglich eben auf mich wirkt. Vielmehr: man »verh0033i wirkt« hier, | was man berufen sich aufgeladen hat. Die »Wirklichkeit« hS.i 26 ist hier anders gelagert. Für uns ist sie ein Kontext, in dem jedes an seiner Stelle das ist, als was es in der daraufhin »natürlichen« Bewandtnis, die es mit ihm hat, v e r s t a n d e n wird. Die Dinge werden hier »begriffen«, d. i. in Verwahrung genommen; begreifen heißt: sich etwas verfügbar machen. In ihrer Umgänglichkeit werden sie hier genommen. Sie »sind« das, was sie mir unter der Richtung meines Vorhabens bedeuten. Sie sind eingestellt in Entscheidungen. Werden beiseite gebracht dadurch. Sie werden einbezogen in den Sinnkreis des Lebens. Ihr »Prinzip« liegt bei mir. Es ist eine andere »Welt«, was im Begriff des tabu zum Vorschein kommt. Das Eigentümliche der in dem tabu sich ausdrückenden Affektivität, das so Andersartige der Weise, in der Existenz sich hier findet inmitten des Seienden, demonstriert z. B. der Gebrauch der Tierm a s k e n . Er drückt aus, wie hm. Bleist.:i hier der Mensch in der Ausdeutung seiner Existenz sich nicht aus sich selbst, sondern von anderem her versteht, wie er sich deshalb – im Totem – auch als Tieren verwandt erfahren kann. Wobei dem Menschen genommen, was der Natur gegeben wird. Die Maske wiederholt die »Züge« von etwas. Morphologisches wird hier geistig verdeutet. So, daß in diesen Zügen ein »Wesen« dargestellt und zwar nicht nur im Sinne eines Bildes, sondern »a n s i c h« »dargestellt«, nämlich durch Vorzeichnen, wie etwa auch der Regen im Regenzauber – »gemacht« worden ist. Das »Äußere« eines Wesens gilt hier als ein Charakter, zu dem es sich entschieden hat. Bezw. als etwas, was es »an hat«, womit es »ausgerüstet« ist. hEinf. m. Bleist.:i Bezw. was den, das als Kehrseite zu dieser Freiheit gehört. Leichtfertigkeit wird dann »geradezu frivol« genannt, wenn weniger die Schwierigkeiten eines Beginnens unterschätzt werden, als wenn der Ernst der Verantwortung zu leicht genommen wird.

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Tabu

es durch irgendwelche Zufälle bekommen hat. 2) 21 Diese Züge der Maske 1) 22 bedeuten | in der Verkürzung auf Wesentliches eine Ersteige- h0034i rung. Für den Primitiven »ist« ein Tier sein Äußeres in anderer Weise, hS.i 27 als wenn wir es im Sinn einer äußeren »Erscheinung« nicht nur als die Manifestation einer bestimmten Natur, sondern auch in der Bedeutung seiner Einzelheiten verstehen. Wir erkennen am Äußeren ein Was, das von uns gestiftet wurde – d i e s heißt es doch: »erkennen«, nämlich Bescheid wissen. Wenn – wie vielfach bei den Naturvölkern – das Bild für die Sache genommen wird, der Traum gleichviel wiegt wie die Wirklichkeit, so bedeutet das keinen Mangel an kritischem Unterscheidungsvermögen, als ob etwa das Bild mit der Sache selbst verwechselt würde. Es bedeutet vielmehr eine Entwirklichung der Erscheinung, so-

hUnten m. Bleist.:i 2) Daß es Wesen sind … »Der Rabe …« [Vgl. H. Lipps, »Maske«, in: Die Wirklichkeit des Menschen. Werke Bd. V. Frankfurt a. M. 1977, S. 177–178: Daß es »Wesen« sind, die hier hereinspielen, die an ihrem Äußeren nur wie unter einem Zeichen erkannt werden, verschlägt doch wiederum nichts dem anderen, daß man sich dieses Äußere auch zu erklären sucht: Der Rabe ist Schwarz, weil er sich beim Feuerholen die Federn versengt hat. Die Schildkröte ist platt, weil sie sich bei einer Wette mit dem Geier aus beträchtlicher Höhe auf die Erde fallen ließ; usw. Und solchen Ursachen steht die Verurteilung der Schlange zum kriechenden Sicht-fortbewegen gegenüber. Also weil einmal …, darum … : Mythisch ist eine Geschichte, die sich nur in Zeichen künden, in die man aber nicht forschend eindringen kann. Wobei »der Rabe«, der einmal …, in Analogie zu dem bestimmten Einzelraben genommen wird, der die wahrnehmbaren Spuren der Verbrennung trägt. Denn Wahrnehmungen bedeuten hier noch ein nur gelegentliches Fuß-fassen, ohne daß der Boden eigentlicher Erfahrung schon gewonnen wäre. Sie bleiben einzeln. Sie haben nicht als Weg und Verfahren beispielhafte Bedeutung. Nur in durchschauter, noch nicht sachlich verstandener Bündigkeit, d. i. nur als erkannter Z u s a m m e n h a n g werden sie maßgebend. »Der Rabe« ist hier bestimmt durch die Rolle, die er in der Tierwelt und insofern als unter »S e i n e s g l e i c h e n« spielt. Die Krähe z. B. gehört hier als seine Verwandte in den weiteren Kreis seiner Familie. (Wie ja auch bei uns die Art und nicht das einzelne Tier als Rabe bestimmt und irgendwo gesehen wird.) »Ein« Rabe – dies ist überhaupt erst aus dem Zusammenhang festzulegen.] 22 hUnten:i 1) Die Maske im engeren Sinn hat g e s i c h t h a f t e Züge. Aber auch hier ist ein Blick gefaßt, der in seiner starren Unbeweglichkeit und ohne Tiefe das »einen Anblikken« eines »Wesens« ist. Das »Abwesend-Entrückte« dieses Blickes steigert die bannende Wirkung seiner unvermittelt hereinstehenden Gegenwart. Das Unkörperliche, Unwirkliche und Unverrückbare der Maske fällt auf. Sie braucht keine Rückseite. Der Anblick der Maske bedeutet eine Begegnung, bei der ich nur das Objekt bin. Ich finde mich ihrem Blick ausgeliefert, ohne ihn hgestr. m. Bleist.: meinerseitsi aufnehmen und durchschauen, d. i. ohne ihm meinerseits begegnen zu können. 21

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fern sie lediglich als G e s i c h t genommen wird, in dem sich mir etwas k ü n d e n kann. (S. 54!) hm. Bleist.: = hS.i 55?i Auch im Wort wird etwas berufen. Namen können tabu sein. Wobei dies etwas-Herbeirufen ein sich ihm Anbefehlen ist. Wie überhaupt das Besitzverhältnis auf der Kippe steht, unversehens sein Subjekt mit dem Objekt zu vertauschen. Der Vollzug des Wortes ist hier in die Macht des Wortes selbst gestellt. Was aber zunächst – vom logos semantikos her – so aussieht, als wäre das Wort hierbei mit einer okkulten unbegreiflichen Kraft begabt, unter Verkennung der Grenzen und der eigentlichen Leistung des Wortes – ist gerade vom selben Stamm. Man versteht gerade die erschließende, begriffliche Kraft der Sprache, wenn man einen anscheinend so fern liegenden Wortgebrauch heranzieht, wie es der Fluch ist. Denn man v e r n i m m t ja doch etwas im Wort. Es klingt wieder in mir, sofern es in mir erweckt, sofern berufen wird, was im Wort verlautet worden ist. Die Wortbedeutung, die wie selbstverständlich im Mittelpunkt der Sprachphilosophie steht, hm.Bleist.:i die zu isolieren, bezw. nur assoziativ dem Wort zu verbinden man immer der Versuchung unterliegen will, die wohl gar oft mit dem Begriff verwechselt wurde – diese Bedeutung des Wortes entspringt doch einer Potenz, die das Wort als umbildend artikulierende Versinnlichung hat. Denn sein Ursprung liegt im Vermögen der Einbildungskraft. Aber nicht schon an sich, sondern erst in seiner Wendung zum logos semantikos, erst im Sinn der mitteilenden Rede ist das Wort ein Existenzial im Sinne von Heidegger. Und wie das Zeichen immer ist, wofür es sich einsetzt, wie es die Mitte ist zwischen dem, was noch nicht ist, und dem, was nicht bloßes Vorzeichen sein will – so ist von hier aus auch der Regenzauber zu verstehen, oder etwa auch die Vorkehrungen, die man in Neuguinea h0035i und bei den Bergdamaras trifft, um die Geburt zu erleich-|tern: daß hS.i 27a man Fenster und Türen, Schränke aufmacht, die Sehne vom Bogen löst usw. Durch Vorzeichnung wird hier die Manifestation eines Geschehens erzwungen, das als in sich bündig, nur mächtig zu werden braucht. Praxis bedeutet hier kein sachkundiges, umsichtig und verständiges ZuWerke-gehen. So wie auch die Dinge hier nicht als Zeug in einer verstehbaren Eignung zu etwas, sondern als »Sitz« von Kräften zu erlangen gesucht werden. Schon bloßes Sich-denken bedeutet hier eine Vorbildung, durch die ein Geschehen auf die Bahn gebracht wird. Und durch diese Vorzeichnung wird den Dingen ebenso Macht über mich selbst gegeben, wie man sich selbst als »Sitz« einer kosmischen Wirk228 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Tabu

samkeit weiß. Als begeben an die Dinge erfährt man sich hier – in der geraden Umkehrung dessen, was die Rede von einem »Antropomorphismus« meint. Etwas zu berufen gilt als a b e r g l ä u b i s c h . Es ist aber nicht als sich vermessender Frevel verpönt. Aberglaube w e i ß hUnterstr. m. Tinte:i sich als Aberglaube. Spielerischer Unernst drückt sich aus in der Willentlichkeit, sich nicht nur über sein besseres Wissen hinwegzusetzen, sondern | einen Glauben, dessen tragender Grund verloren ist, h0036i auf praktisches Rechnen abzustellen. Auf diese Entstellung – und weni- hS.i 28 ger auf den Mangel an Aufklärung – bezieht sich gerade der Vo r w u r f des Aberglaubens. Aberglaube ist superstitio. Der Abergläubische will z. B. zu dem Mißlingen von etwas hinterher in irgend etwas Gleichgültigem die nicht erkannte Warnung entdecken. Vorbereitungen zu etwas werden etwa hinausgeschoben, um nicht durch eine den Tatsachen vorauseilende und zur Schau getragene Sicherheit das Schicksal »herauszufordern«. Man gibt der verkürzten Bildlichkeit merkwürdiger Vorstellungen nach, usw. Das ist keine Furcht vor möglichen hm. Tinte:i Zufällen, die als unbegründet ausgeredet werden könnten, sondern verstellte Ängstlichkeit. Durch das An-den-Tisch-klopfen »salviert« man sich – nicht anders als auch der Pedant sich seinen Ernst an Nichtigkeiten beweist. Der Abergläubische respektiert Grenzen, die er irgendwie will oder braucht. Es gibt ein Verlocktwerden zum Aberglauben bezw. einen spielerischen »Kitzel« in der abergläubischen Furcht. 1) 23 Im Sinnkreis des tabu geschieht die Erkenntnis einer Nichtmächtigkeit als E r f a h r u n g . An sich selbst erfahrene Nemesis bringt mich auf meine Grenzen zurück. Aber ich erkenne mich nicht eigentlich »selbst« darin, wie dann, wenn ich – b e t r o f f e n bei etwas – mich schäme. Die für die Blöße konstitutive Wendung, daß man etwas »auch« ist, zeigt sich vielmehr hier verschoben als Einsicht in das Ganze einer Natur, als deren Teil man sich findet. Scham »ist« aber gerade eine h0037i Weise des »S e l b s t -bewußtseins«. | hS.i 29

hUnten:i 1) Herausfordernder Aberwitz, der etwas zum Vorzeichen nimmt, kann z. B. gerade Ausdruck einer in sich gefundenen Sicherheit sein, wie man dem Prekären einer Lage zum Trotz s e l b s t über deren Schlüssel verfügt, – wenn es nur mutiger Entschlossenheit gelingt, die Umstände auf seine Seite zu bringen. Im Aberglauben fällt hier gleichsam nach außen eine Haltung der Art etwa wie: »Mich trifft keine Kugel«. Und dies meint, es gibt keine bloßen Zufälle mehr für den, dessen Los schon in ihm selbst gefallen ist. Der Geschick als sein S c h i c k s a l versteht. Der von daher weiß, wie alle »Vorsicht« zu kurz trägt. 23

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Und dieses Sich-b e w u ß t -sein hm.Tinte:i oder -werden ist kein bloßes darum-wissen oder Erkennen. Denn man betrifft sich bei etwas, was vorher u n b e w u ß t , aber nicht nur verborgen war. Das Schamgefühl kann zum Einsatz genommen werden gerade für das »Problematische« des Bewußtseins. Immerhin – man e r k e n n t »sich« doch und weiß um sich in der Scham – nur daß die Bedeutung dieser Wörter in einer anderen als der sonst bevorzugten Richtung liegt. Was bedeutet aber dieser Vorzug? Man kann an seine Begreiflichkeit nicht in der Weise appellieren, wie man etwa den Vorzug mathematischer Erkenntnis ohne weiteres einsieht. Begreiflich-machen heißt hier, daß es die T a t s a c h e dieses Vorzugs zu e r k l ä r e n gilt.

10. hSelbstbewußtseini Ein Sich-seiner-bewußt-werden geschieht z. B. auch im Philosophieren. Sofern es hier darauf ankommt, sich in seinen Ursprüngen ausdrücklich hEinf. m. Bleist.:i sich anzueignen. Was aber nun nicht dahin verbilligt werden darf, es käme darauf an, mit »dem Bewußtsein« bezw. mit den darin bezeichneten »unmittelbaren Gegebenheiten« anzufangen. Denn d i e s e s »Bewußtsein« ist ein Schulbegriff, die »unmittelbaren Gegebenheiten« ein vorschneller Ansatz, und ihr Begriff der Ausdruck standpunktverhafteter Vormeinungen. Die Phänomenologie z. B. beginnt mit der εποχη als mit dem Haltmachen im Vollzug von etwas. Es wird hier etwas bewußt gemacht, nämlich ausdrücklich herausgestellt. Das, wobei man sich betrifft, ist etwas, was man »unter der Hand gehabt«, »von selbst« getan hat. »Von selbst getan« heißt nicht: ohne es erst zu überlegen. Das Unvermittelte, rückwärts nicht Gestützte eines Beginnens ist nicht gemeint. Man betrifft sich vielmehr bei etwas, was durch sein Faktum sein Infrage-gestellt-werden überholt hat. Denn Philosophie kommt es hier nicht auf eine neue Grundlegung an. Rechtes Verständnis des philosophisch Reh0038i levan-|ten bekundet sich hier gerade darin, daß man sich »hält« in hS.i 30 einem Vorverständnis, im Einsatz an Beispielen, sofern man nur durch deren Konkretion in den Vollzug dieses Selbstverständnisses versetzt werden kann. »Unbewußt« drückt das nicht-Ausdrückliche, als überholt Verschüttete dessen aus, was als Vorhabe vorläufig gerade richtunggebend ist für das hierbei s i c h auf etwas hin auslegende Dasein. Darin, daß man nicht über seinen Anfang verfügt, daß man sich hier 230 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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lediglich betreffen kann bei einer Grundlegung, die als vorgängig geschehen ist, liegt das Aporetische der Philosophie. Es zeigt sich als die Unmöglichkeit herauszufinden, – darin daß man immer in sich selbst verstrickt und im Umkreisen seines Grundes verfangen bleibt. Das Sich-betreffen-bei … ist keine bloße Zurückwendung auf sich selbst. Das, worauf man nicht eingestellt war, m a c h t betroffen. Und sofern die Vorgriffe, unter deren Leitung ich mich mit den Dingen auseinandersetze, etwas w e s e n t l i c h Vo r g ä n g i g e s , d. i. nur in N a c h t r a g Bewußt-zu-machendes sind, bedeutet ihre Herausstellung eine εποχη. Die Weise, in der der Philosophierende existiert, sich vor sich selbst bringt in der Bewegtheit der Einstellung – aber kein Gegenstand – bestimmt hier Philosophie. Dieses Betroffen-werden bei … bedeutet also keine »Überführung«. Denn überführt wird man des irgendwobei Erschlichenen, bezw. dessen, was einem – wie etwa eine irgendwobei gemachte Voraussetzung – verborgen geblieben war. Jemanden dieser Voraussetzung überführen, meint eine kritisch-z u r e c h t s t e l l e n d e Destruktion. Denn die »Verstecktheit« ist dieser Voraussetzung nicht w e s e n t l i c h . Und h i e r bei etwas betroffen zu werden, würde nur eine Verlegenheit schaffen. In dem »Gegebenen« drückt sich also nicht das gelegen-Kommende, hm. Tinte:i das der Untersuchung Offenliegende eines Bewußtseins, sondern eine intrikate Bestimmung des philosophischen Einsatzes aus: Philosophie kann nur in der Weise eines bestimmten Selbstbewußtseins, in der »Wiederho-|lung« sein. Sie bedeutet einen Schritt. Sie h0039i kommt verantwortend auf für ein Geschehen, dessen Wurzel ebenso hS.i 31 wie die ihre das Seiner-nicht-mächtige des Daseins ist. Die von Husserl selbst gegebenen Erklärungen gehen freilich in anderer Richtung. »Bewußtsein« ist bei Husserl das Residuum einer Destruktion der Wirklichkeit. hEinf. m. Tinte:i εποχη bedeutet hier die Ausschaltung von etwas, sofern es nicht mit in Ansatz gebracht wird. Der Zweifel kann dem nichts anhaben, was hiervon im Bewußtsein »gegeben ist«. +) 24 Die perspektivische Darstellung des Gegenstandes +) Descartes aber erfaßt s i c h im Zweifel, d. i. in dem darin bezeichneten Unterschied gegen die Sinnlichkeit. Der Zweifel f i n d e t hier nicht eine Grenze, sondern er g i b t sie im Sinne einer Bestimmung: Descartes bestimmt im Cogito sein »Sein« als prinzipiell anderer Art als das der Dinge. Wahrhaft wirklich ist Dhescartesi, was er in Einheit mit sich selbst erkennen, d. i. sich aus eignen Mitteln aufbauen kann, was ihn nicht entfremdet von sich selbst. Das Verhältnis zur Welt, das es dann zu gewinnen gilt, kann nur das

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führt auf »sein«, nämlich des Gegenstandes »bewußt-sein«, wobei die in meinem Bewußtsein bezeichnete Ausgerichtetheit auf … vom anderen Ende her gleichsam genommen wird. In der Form der Bewußtheit ist der Gegenstand mitteilbar. Dies Bewußtsein hat sein Subjekt aber allererst zu suchen bezw. es findet in mir nur eben sein »g e l e g e n t l i h0040i c h e s« Subjekt. | hS.i 32 Wenn aber so das Bewußtsein als der Ort einer Ausweisung von »Gegenständen« angesetzt wird und in der Vorstellung als Prototyp des Bewußtseins-»Inhalts« Leibniz’ Monade bestimmend bleibt, dann kann Selbstbewußtsein nur reflexiv verstanden werden. Der P o t e n t i a nach ist hier jedes Bewußtsein reflexiv, sofern seine Intention auf das Subjekt zurückgewendet werden kann. Wobei dann aber dieses Subjekt nur eben sich m i t f i n d e t in diesem Bewußtsein. hEinf. m. Blau- und Rotst.: xi Und auch die Identität dieses Subjekts ist dann wie die des Gegenstandes einfach festzustellen bezw. in erkenntniskritischer Absicht als notwendig zu erweisen. hEinf. m. Blau- und Rotst.: xi hUnterstr. m. Rotst.: i »Die analytische Einheit des Selbstbewußtseins ist nur unter Voraussetzung einer synthetischen Einheit möglich«. 25 einer orientierenden Überschau werden: die Vo r s t e l l u n g ist etwas, was bei mir steht. »Bewußtsein« ist hier: setzendes Bewußtsein, das an seinen »Gegenstand« ebenso gebunden bleibt wie dieser an seinen Ursprung in diesem Bewußtsein. All das ergibt sich S c h r i t t f ü r S c h r i t t aus der Position des Dhescartesi. Sich-seiner-bewußt-zu-werden geschieht hier in eins mit einer Entmächtigung der Welt. Dogmatik faßt es aber als philosophische L e h r e auf: als ob Dhescartesi – nur eben wie ein kritischer Sachwalter der Erkenntnis – die Lage, in der der Mensch sich findet, analysierend auf eine Formel gebracht hätte. Als ob die gewonnene Position des Dhescartesi die ursprüngliche h,i in einer Vergessenheit um sich selbst zunächst verdeckte Situation ware, auf die man sich nur zu besinnen hätte. Freilich – Descartes’ Darstellung ist zwiespältig. Nur das s c h l e c h t Begründete seiner Zweifel weist darauf, wie dieser Zweifel überhaupt das Primäre ist. Und dann: cogitationis nomine illa omnia intelligo quae nobis consciis i n n o b i s f i u n t … [Oeuvres de Descartes publiées par Charles Adam & Paul Tannery VIII-1: Principia Philosophiae. Vrin, Paris 1964, S. 7 [IX], Principiorum philosophiae pars prima. De principiis cognitionis humanae. Quid sit cogitatio. »Cogitationis nomine, intelligo illa omnia, quae nobis consciis in nobis fiunt, quatenus eorum in nobis conscientia est.«] Das Ich des Cogito, dessen esse = cogitare ist, wird etwas, worin cogitationes zu finden sind. Bewußtseins-»Erscheinungen« definieren seitdem das Feld der Psychologie. Ihr Ansatz ist ideologisch. Dem Empfinden wird dann z. B. die »Empfindung« unterschoben als etwas, was am Subjekt auftritt, was so von vornherein auf gegenständliche Erkenntnis zugeschnitten ist. 25 [Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von R. Schmidt, F. Meiner, Hamburg 1956, B 133, S. 143b:

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Indessen – gerade am Selbstbewußtsein zeigt sich die Erstarrung dieses »Bewußtsein« zur hypostasierten Entität eines Lehrbegriffs. Denn was »heißt« eigentlich »Selbstbewußtsein«, »mit Bewußtsein etwas tun«, »bei Bewußtsein sein«? Was meint »unbewußt«? 1) 26 Über das, dessen ich mir bewußt bin, bin ich mir klar. Man bringt jemanden zum Bewußtsein seiner Lage, sofern man ihn darüber aufklärt. Sich-einer-Sache-bewußt-sein bedeutet also Orientiertheit. Aber was für eine? Es ist weder die Orientiertheit einer Übersicht noch die Orientierung durch Wissen. Denn 1) Übersicht ist etwas Innerweltliches. Man gewinnt sie von einem Standort aus, sofern alles ins rechte Licht gerückt werden kann. Das aber, dessen ich mir bewußt bin und worüber ich mir insofern klar bin, ist hierbei ins »Bewußtsein« »a u f g e n o m m e n« worden. Und 2) »Wissen« bedeutet Bescheid-wissen, also ein Sich-auf-die-Dinge-verstehen, sie Können, mit ihnen Können. | h0041i Wissen ist etwas, was man anwenden, worauf man zurückgreifen hS.i 33 kann. Wissen b e s i t z t man, man »ist« es aber nicht. Es ist vermehrbar, ein sachlicher B e s t a n d , der mitteilbar, lernbar, öffentlich sein kann. Wissen »gibt es« als etwas jedem Verbindliches. Es steht dem Nichtkennen gegenüber. Wissen ist nicht daraufhin wirklich, daß es von mir »gehabt« wird, sondern daraufhin, daß es tatsächliches Wissen und kein Irrtum ist. Man ist aber s i c h etwas bewußt. Und das, dessen man sich bewußt ist, wird hierbei nicht einfach bezielt durch »das Bewußtsein«. Nicht j e g l i c h e s kann überhaupt »Gegenstand meines Bewußtseins« werden. Daß man sich einer Sache bewußt ist, bedeutet, daß sie als richtunggebend mit eingestellt ist in mein vorgreifendes Tun und Wollen. Das in »unbewußt« gemeinte F e h l e n des Bewußtseins weist auf die in spezifischem Sinn e x i s t e n t i e l l e Bedeutung dessen hin, dessen man sich bewußt ist oder wird. Man ist sich z. B. seiner Lage bewußt. Und nur mittelbar, sofern es z. B. meine Lage kennzeichnet, kann z. B. »… die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich«.] 26 hUnten:i 1) Es ist kein Einwand, daß dies tatsächlich »spätere« Bedeutungen des Wortes Bewußtsein sind, sofern dieses dem philosophischen Sprachgebrauch als die Übersetzung der conscientia von Leibniz entnommen war. Denn entscheidend ist nur, daß die philosophische, in eine bestimmte Problematik ausgreifende und von daher bestimmte Bedeutung dieses Wortes durch ein unproblematisches implizites, unmittelbar zu vollziehendes Verstehen ersetzt wird. In eins damit, daß das Wort in i r g e n d e i n e m alltäglichen Sinn verwendet wird.

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dieses Zimmer hier in seiner Einrichtung der »Gegenstand« meines Bewußtseins sein. Vorzüglich – und wohl auch ursprünglich – meint aber »Bewußtsein« S c h u l dbewußtsein. Gerade hier zeigt sich aber der Gegensatz zur bloßen Reflexion: Denn Sich-seiner-Schuld-bewußt-werden bedeutet: ohne vor sich selbst auszuweichen sich in seiner Schuld zu übernehmen und darin zu verantworten. Die hierin sich voll-ziehende »Identifikation« bedeutet keine bloß rückblickende Feststellung der Nicht-Verschiedenheit zwischen mir und demjenigen, der … Das, dessen man sich »nicht bewußt« ist, ist etwas, dessen man sich als einen irgendwo bei Mitgetanem nicht bewußt ist – aus Unbedachtsamkeit, Unachtsamkeit. I c h habe hier »gefehlt« (im verbalen Sinn). Im Unterschied zu dem, was man »unbewußt« tut. Als unbewußt zeigt sich das unter der Hand Getane. Von i h m her ist etwas unbewußt. Was »unbewußt« getan wird, ist etwas, dessen man sich auch bewußtsein h0042i k ö n n t e – also nur ein frei sich auf Möglichkeiten | entwerfendes Tun. hS.i 34 Wenn ich z. B. instinktiv ausweiche oder an etwas anderes denkend, einen Brief zum Briefkasten trage, so geschieht das a u t o m a t i s c h , d. i. ohne Schaltung, aber nicht »unbewußt«. 1) 27 Von ihm her – war gesagt – bestimmt sich etwas als unbewußt: nämlich das was unbewußt g e s c h i e h t . Denn nichts »ist« an ihm selber bewußt oder unbewußt; man kann nicht fragen, ob es Unbewußtes »gibt«. Es gibt überhaupt nicht so etwas wie »Akte« »des Bewußtseins«. Und das, dessen ich mir bewußt bin, wird nicht hierbei »intentional« als Objekt bezielt. So wie z. B. das An-etwas-denken, d. i. In-den-Blick-fassen, Im-Auge-behalten ein »intentionales« Verhalten wäre, das durch seinen Gegenstand bestimmt ist. Mir bewußt zu sein, d. i. die hUnterstr. m. Tinte: i Klarheit über etwas m e i n e r s e i t s ist etwas anderes als etwa die D e u t l i c h k e i t der Dinge, so wie sie mir in sinnlicher Anschauung zugänglich werden. 2) 28 Nichts ist »gegeben« im Bewußtsein, als ob die Dinge hier27 hUnten:i 1) Unbewußt ist etwas anderes als »Ungewollt«, wo gegen meinen Willen mir z. B. ein Wort entschlüpft ist. (Gruhle, Weisen des Bewußtseins, Ztschr. f. Neurol. 131, 1930, S. 78) 28 2) Freilich von den D i n g e n hatte man es auch nicht behauptet, daß sie dem Bewußtsein »gegeben« sind, sondern von G e g e n s t ä n d e n . Im Begriff des Gegenstandes hatte man sich aber die »Intentionalität« des Bewußtseins schon garantiert. Denn Gegenstände werden v o r g e s t e l l t , sind nur in ihrer repräsentierenden Darstellung zu finden. Die eigentliche Bedeutung des Bewußtseins als eines Bei-sich-seins bezw. als eines In-sichals-Richtung-gebend-eingestellt-habens war also bei dem Grundansatz der idealistischen Philosophie gerade gegenwärtig. Das Bewußtsein springt ein, wo das Verhältnis zur Welt, die Transzendenz abgebrochen war. (Vgl. G. E. Schulze, Kritik der theoretischen

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in sich künden könnten. Sich-einer-Sache-bewußt-zu-sein ist kein Verhältnis zu deren Wirklichkeit, – wie etwa ihre Wahrnehmung. Das, dessen ich mir bewußt bin, »bestimmt« nicht so etwas wie »mein« Bewußtsein als ein Bewußtsein »von« diesem oder jenem. S o f e r n man an etwas nicht gedacht hat, ist man sich dessen nicht bewußt, daß … I c h bin es, der in seinem hUnterstr. m. Tinte:i freien Verhalten »bestimmt« ist durch das, dessen ich mir doch irgendwobei nur eben m i t bewußt bin. Weshalb das | »Sich-nicht-dessen-bewußt-sein, daß …« h0043i einen M a n g e l und das »ohne ein Bewußtsein dessen zu sein, was hS.i 35 man tut«, eine »S t ö r u n g« im ganzen bedeutet. 1) 29 Darin aber, daß jemandem das Bewußtsein dessen … »f e h l t«, ist auf einen m o r a l i s c h e n Defekt, auf Blindheit in der Richtung von Stumpfheit, Gedankenlosigkeit, Gewissenlosigkeit verwiesen. Zunächst fehlendes Bewußtsein kann aber »geweckt« werden. Bewußtsein ist aber insofern immer Selbstbewußtsein, als man immer s i c h und auch s e i n e r in e t w a s bewußt ist bezw. sofern schlechthin »bei Bewußtsein sein« ein B e i - s i c h - s e i n bedeutet. In dem »Bei-Bewußtsein-sein« ist eine Grundweise und das Maß menschlicher Existenz bezeichnet. Bei Bewußtsein seiend ist einer »bei sich«: der W a c h s e i e n d e ist aber bei sich. Heraklith,i Fragmhenti 89. IV Inwiefern ist einer gerade nicht »bei sich«, wenn er sich in seine eigene Welt zurückzieht? Er ist es nicht insofern, als einer zu sich nur dadurch kommen kann, daß er durch Auslegung der Welt als maßgebender Wirklichkeit auf sich zukommt. In ihrer Gemeinsamkeit, sofern es hier so etwas gibt wie Zeugenschaft, ist aber Welt gerade ausweisbar. Der eine braucht den anderen, um sich in in seinem λογον Philosophie, 1801, wo gezeigt wird, daß man nicht aus der Vorstellung zur Wahrnehmung kommen kann.) [G. E. Schulze, Kritik der theoretischen Philosophie. 2 Bde. C. E. Bohn, Hamburg 1801.] 29 hUnten:i 1) Dieses Unklar-Verwirrte des »ohne Bewußtsein …« ist etwas anderes als Unbesonnenheit. Unbesonnen geschieht etwas, sofern es voreilig und ohne Überlegung geschieht. Unbesonnen charakterisiert ein innerweltliches Verhalten, das insofern nicht richtig ist. (»Ohne Besinnen« würde dagegen meinen: ohne erst zu überlegen, d. i. ohne weiteres, wobei dies gerade das Richtige sein kann.) Man bringt jemanden zur Besinnung, sofern er umhergetrieben nicht auf sich selbst sich stellen kann. Besinnung steht als Sammlung der Zerfahrenheit gegenüber. Einer, der durch Einfälle gepeinigt und verfolgt wird, kommt nicht »zur Besinnung«. »Unbedacht« heißt: ohne an die sachlichen Folgen zu denken, »unbesonnen« dagegen: sich über die eignen Möglichkeiten und Fähigkeiten hinwegtäuschen; »nicht bei Sinnen sein« bedeutet ungezügelte Direktionslosigkeit.

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διδοναι richtigstellen zu lassen. Nur in diesem verantwortlich Aufsich-zukommen, in der Transzendenz vollzieht sich Existenz. Im Traum aber entgleitet man sich. Der Wirklichkeit ist man hier entrückt; sofern man hier seinen Gesichten sich überläßt, ist man nicht in der Wahrheit. Dies nicht | hm. Tinte:i banal dahin verstanden, als ob man sich hierbei täuschte, was doch so viel besagte, daß man sich täuschte, w e n n … Die Unwirklichkeit des Traumes ist eine andere als die bloßen Scheines. Die Unwirklichkeit des Traumes liegt darin, daß man hier s i c h s e l b s t entrückt ist. Immer »fehlt das erlösende Wort«, und darin, daß man hier sich selbst zur Schau gestellt findet, alles mit sich geschehen läßt, nichts eigentlich »kann«, wird Erfahrung, daß man hier der Wirklichkeit nur insofern entrückt wird, als man z u n ä c h s t sich selbst entglitten ist. – Fieberkranke sind »unklar«, haben ein »getrübtes«, sind nicht »ganz bei« Bewußtsein. Sie verkennen Personen, ziehen die Figuren des Tapetenmusters an der Wand in den Raum ihres Zimmers usw. Das Bindungsfreie dieser Verdeutungen fällt auf, – wie auch im Traum nichts eigentlich verantwortet wird. Das »Bewußtsein v e r l i e r e n« heißt, nichts mehr aufnehmen können – als F o l g e einer in Schlaf übergehenden Ermüdung bezw. einer »Lähmung« des Empfindens. Wo bei der Narkose z. B. dieser vitale Bezug zu den Dingen nach und nach schwindet: man in einem gewissen Augenblick noch genau Lage und Länge des Schnittes, aber keinen Schmerz mehr empfindet, dann immer mehr absinkt, wie in eine Verschüttung, bis jegliches Empfinden gelöscht ist. Wer nicht bei (vollem) Bewußtsein ist, gilt als nur beschränkt bezw. als nicht zurechnungsfähig. 1) 30 Sofern er nur in Grenzen über sich Rechenschaft zu geben vermag. Und im (epileptischen) Dämmerzustand ist es die Reichweite des Bewußtseins seiner als dessen, der gestern, erst kürzlich usw. …, was eingeschränkt ist. Dem leeren philosophischen Begriff des Selbstbewußtseins steht gegenüber ein Sich-bewußt-werden in der Mannigfaltigkeit konkreter Bedeutungen: sich »seiner« bewußt zu werden in der Scham oder sich seiner | Schuld aber auch seiner Absichten oder seiner Situation, Stellung bewußt zu sein usw. Niemals ist man sich aber »seiner« als eines bloßen »Subjekts«, – oder gar als des Subjekts des Bewußtseins – bewußt. 30 hUnten:i Bei Kurzschlußhandlungen dagegen steht Zurechnungsm ö g l i c h k e i t in Frage, sofern hier durch den Affekt die »Einschaltung« des Täters verhindert ist. Die Tat charakterisiert nicht »i h n«, sondern einen Typ psychopathischer Veranlagung, für den sie symptomatisch ist.

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Unterbewußtsein

Was hat man aber im Blick, wenn a u s d r ü c k l i c h von einem »Selbstbewußtsein« die Rede ist? Man geht z. B. selbstbewußt an etwas heran, trägt Selbstbewußtsein zur Schau. Beide Male ist man sich im »Selbstbewußtsein« seines K ö n n e n s bewußt. Mein Können ist aber ebenso durch meine Fähigkeiten wie durch das Können der anderen bestimmt: ich bin nicht immer der zu etwas Berufene. »Zu großes Selbstbewußtsein« bezieht sich gerade auf eine Überhebung hinsichtlich der Rolle, die einem zukommt. Das, worauf ich im Selbstbewußtsein ausgerichtet bin, sind aber die zu überwindenden Schwierigkeiten, an denen sich mein Können allererst bestimmt und bemißt. hM. Rotst.: xi 31

11. hUnterbewußtseini Man spricht von U n t e r b e w u ß t s e i n . Ohne daß hierbei an irgend welche theoretische Vorstellungen gedacht sein müßte – als ob etwa hierbei das Bewußtsein als Schauplatz gälte, auf dem sich Vorstellungen einander zu verdrängen suchen, das Unterbewußte gleichsam hinter der Bühne läge, verdrängt wäre. Es gibt z. B. »unterbewußte« Gedanken, d. i. solche, die man »nicht aufkommen lassen« will. Z. B. Gedanken, die »naheliegen« (Assoziation). »Unterbewußt« heißt aber auch das, was man nicht wahr haben will, demgegenüber man nicht eigentlich »sich selbst« – wie in der Aufnahme eines Gedankens – verschließt, sondern was man nicht sehen will. Wie man z. B. auch das mir widerfahrene Geschick nicht wahrhaben will. So macht einen der vorgebliche Ärger über einen Lärm nur deshalb so wütend, weil man etwa dahinter eine geringe Rücksicht auf seine Person wittert. Was »im Unterbewußtsein« ist, ist aber auch etwas, von dem man, so sehr man es auch ver31 hUnten am Bl. geklebt:i x In seinem Selbstbewußtsein getroffen, sieht man sich in dem in Frage gestellt, worin man seiner gerade sicher sein zu können glaubte. »Ohne Selbstbewußtsein« sind die Menschen, die es charakterisiert, daß sie der Klarheit über sich entraten zu können glauben. Während aber das Können, dessen man sich b e w u ß t ist, hierbei ausdrücklich mit in Ansatz gebracht wird bei etwas, b e g r ü n d e t es lediglich die Art und Größe meines Selbstg e f ü h l s . Dieses ist verständlich von daher, bezw. zeigt es sich als Ausdruck einer offenbaren Selbstüberschätzung. Im Selbstg e f ü h l getroffen zu werden bedeutet eine Kränkung, Beleidigung. Denn man hatte sich darin gleichsam eingelebt. Kritik liegt v o r dem Selbstgefühl. Das Selbstgefühl schwankt zwischen Aufgeblasenheit und krankhaft kleinem Selbstgefühl. Es bezieht sich auf das, was man von sich hält. Es ist Ausdruck des R a u m e s , den man beanspruchen zu können glaubt.

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MS Die menschliche Natur h0046i sucht, doch | nicht ganz loskommen kann, von dem man Ablenkung hS.i 38 erfährt.

Man bemerkt die Verschiedenheit dessen, was auf den Nenner des »Unterbewußten« gebracht wird. Wie es nur bei einer vorgefaßten Theorie des »Psychischen« gelingt, den Schein einer durchgehenden Struktur aufrecht zu erhalten. Denn so sicher, als man z. B. Gedanken nicht aufkommen läßt, ihnen nämlich insofern nicht nachgibt als man ihnen nicht nachgeht, d. i. sie nicht aufnimmt, verfolgt und ausdenkt, nämlich zu Ende denkt – eine Neigung »nicht aufkommen lassen« würde ganz anderes und nichts in der Richtung des Unterbewußten bedeuten, nämlich: daß man sie am E n t s t e h e n verhindert. Und ihr »nachzugeben«, wäre einfach ein Folgen, – ohne daß dies wiederum eine Aufnahme ins Bewußtsein bedeutete. Ihrer bewußt zu werden, bedeutet hier lediglich die Augen nicht verschließen vor der Lebendigkeit dieser Neigung, ohne daß diese dadurch erst hierdurch zur Entfaltung käme wie der aufgenommene Gedanke. Sowohl der Gedanke, dem man die Aufnahme versagt, als auch die Neigung, zu der man sich zu bekennen sträubt, – beide Male fehlt irgend welches Verdrängtsein, wie es oben als dritter Fall angesetzt wurde. Man »öffnet sich« einem Gedanken, wenn man ihn aufnimmt. Woraufhin bleibt aber ein Gedanke, dem man sich verschließt, im Unterb e w u ß t s e i n ? An etwas zu denken, heißt: sich ihm v e r b u n d e n haben. Nicht (mehr) an etwas zu denken, bedeutet Gleichgültigkeit. In dem Denkenan ist ein e x i s t e n t i e l l e s Verhältnis zu dem, woran man denkt, bezeichnet. An etwas denken bedeutet: ihm Rechnung tragen, sich darum sorgen, damit beschäftigen, es im Auge behalten bezw. es in Blick fassen. Vergessen-haben hm. Tinte:i meint zumeist: nicht mehr an etwas zu d e n k e n – auch wenn man sich noch daran erinnern kann bezw. könnh0047i te. | Es gibt Grenzen der Möglichkeit bezw. Fähigkeit, sich an etwas zu hS.i 39 erinnern bezw. auf etwas zu besinnen. hM. Rotst.: 1i 32 An etwas aber nicht zu d e n k e n bedarf einer rechtfertigenden Erklärung. Vergessen ist nicht einfach der Gegensatz zu An-etwas-denken, sondern ein hierin »F e h l e n« (aktiv und intransitiv verstanden), wobei das Denken-an nicht das Verlangte zu sein braucht, es kann einfach das Natürliche und insofern Erwartete sein. Man denkt z. B. an sich, wie man sich aus der Affäre zieht etwa, 32

hUnten:i hm. Rotst.:i 1 hm. Tinte:i Anm. S. 39a

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Unterbewußtsein

oder »selbstvergessen« an andere. Und an jemanden denken bedeutet: sich kümmern um ihn. Das, woran man denkt, liegt nicht einfach in der Richtung meines Tuns und Wollens. Ich kann es mir vornehmen, an etwas zu denken. Was immer ein meminisse ist. (»Wieder« an etwas denken, ist ein wiederholtes Denken an …) Versprechen werden nicht in der Form einer Absicht, sondern so gegeben, daß man an etwas d e n k e n will. Man ist hier eingedenk dessen, was rückgreifend gehalten wird. Es ist z. B. töricht oder kleinlich, an etwas noch zu »denken«, sofern es überholt ist. Das, was man nicht vergessen kann, mit dem ist man nicht fertig geworden. Den Blickpunkt für das, was »Gedanke« »ist«, geben die konkreten Formen: in Gedanken etwas verfolgen, nachdenklich etwas überdenken, bedacht etwas tun, wobei man sich immer schrittweise versichert, daß … Sich Gedanken machen kann geradezu heißen: sich Sorgen machen. Gedankenlos ist einer, dem es gleichgültig ist, was dann werden soll. Gedankenlos zerstreut sein: nicht bei der Sache sein. Etwas d e n k e n d im Blick haben, ist etwas anderes als aufmerkend beobachtend mit dem Blick an den Dingen »hängen«. Wo es praktische Grenzen gibt, das Sich-vor-Augen-bringen als Situation herzustellen ist, wo die Dinge Bedingungen ihrer Sichtbarkeit stellen, die eingreifend-probierende Praxis zu erfüllen hat. Denkend ist man »bei sich«. h0048i »In Gedanken sein« meint eine spezifische Abwesenheit, sofern| Anmerkung. Man e r i n n e r t sich an etwas, sofern es einem einfällt. Durch jemand anderes oder durch Umstände wird man wieder an etwas erinnert. Z. B. auch durch einen Knoten. Und das, woran man dabei erinnert wird, ist gerade etwas, was j e t z t zu tun ist. Und daß es einem »einfällt«, bedeutet nicht etwa, daß hier etwas »wieder bewußt« gemacht würde. – Erkenntnis ist Wiedererkennen. Ein Gesicht z. B. kommt einem »bekannt« vor. Denn hUnterstr. m. Tinte:i wie man etwas sieht, im Herausfinden seiner Züge bewährt sich das Gedächtnis. Es zeigt sich in der (Aus)-Übung, aber nicht in der Vergegenwärtigung von irgend etwas. Man erinnert sich – »dunkel« – im Herausfinden dessen, wie und was eigentlich »das hier i s t«. Man erinnert »s i c h«, sofern man sich auf sich selbst in seiner Erfahrenheit gebracht findet. Die Wiederholung von Schritten geschieht nach dem Gedächtnis. Im Kennen »lernen« verbindet man sich den Dingen. Erfahrung ist etwas, was man »hat«. Vergessen bedeutet ein »Fehlen in …«. So erkennt man auch Leder wieder »am Gefühl«, das wie der Geschmack im Durchkosten von … geübt sein will. Auch hier: man erinnert sich an diese Empfindung, die man schon einmal zwischen den Fingern gehabt hat, ohne die Umstände von damals noch mithaben zu müssen. – Ein Gesicht »erinnert« an … Aber auch im Sinne einer überhaupt nur hierin erfahrbaren hUnterstr. m. Tinte:i Ähnlichkeit – so wie auch ein Eindruck andere in mir »erweckt«, man geradezu danach sucht, woran er erinnern könnte, um den Eindruck in seiner Reinheit sich ersteigern zu lassen. Dies ist aber kein p r a k t i s c h e s »Können«, das geradenwegs auf ein

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Gedächtnis (mneme) im Sinne eines »natürlichen Vermögens« führt. Vielmehr: in der Richtung der Einfälle zeigt sich der G e i s t eines Menschen. Man kann sich nicht an etwas erinnern wollen, wie man sich auf etwas besinnen will. Man kann sich nur an etwas erinnern l a s s e n wollen. Z. B. dadurch, daß man sich auf die Situation b e s i n n t, in der man einen Namen gehört hat, um so die Bedingungen für Assoziationen zu schaffen, in deren Gefolge einem der Namen dann »von selbst« wieder einfällt. (Beim Sich-erinnern ist man passiv im Unterschied zu dem Sich-besinnen, das v o n m i r ausgeht. Bei dem man sich anstrengen kann. Man besinnt sich auf Erlebtes bezw. auf sich selbst; man besinnt sich auf seine Lage, sofern man darüber mit sich selbst zu Rate geht. Das, worauf man sich besinnt, bewegt man in sich, hat es im Sinn, trägt sich damit.) Erinnerung heißt aber auch, wenn man sich etwas vergegenwärtigen kann. V e r- gegenwärtigen heißt: sich etwas vor den inneren Blick bringen. Man vergegenwärtigt sich z. B. sein Zimmer zu Hause. Aber auch die Situation, in der man gerade ist. Vor den inneren Blick bringen bedeutet also ein Sich-heraushalten aus der Situation. (Eine Vorstellung dagegen b i l d e t man sich. Nämlich von bezw. zu etwas. Die Übersichtlichkeit, die man sich hier zur Erklärung von etwas zu verschaffen sucht, ist etwas anderes als die wiederholende Vergegenwärtigung (Reproduktion) der entscheidenden Züge von etwas.) Was aber als »G e d ä c h t n i s« analysiert, d. i. experimentell untersucht wird, was als Zahlengedächtnis z. B. eine auffallende Erscheinung ist, ist Merkf ä h i g k e i t , die methodisch geübt und technisch in Hilfen und Regeln ausgebildet werden kann. Man »hat« etwas im Gedächtnis; diese »Habe« ist ein Möglichkeitsfeld: man k a n n etwas oder »kennt« etwas oder kann es sich vergegenwärtigen. Telefonnummern prägt man sich ein, merkt sie sich »irgend woran«. Man stiftet Assoziationen hierzu. Denn a n s i c h sind sie nichts, auf das man durch den typischen Zuschnitt des Lebens gebracht werden könnte. Das Gedächtnis hilft mir. Gegenüber dem Denken-an, das »s e l b s t Zweck« sein kann, in dem »mein« Verhalten getroffen ist. Das Gedächtnis kann gemessen, das des einen mit dem des andern verglichen werden. Jemand vorhalten, an etwas nicht gedacht zu haben, ist ein moralischer Vorwurf. Ihm aber vorwerfen, etwas nicht richtig sich eingeprägt zu haben, d. i. sich nicht entsprechend seinem geringen Gedächtnis angestrengt zu haben, trifft seine Geschicklichkeit, und die Gerechtigkeit dieses Vorwurfs bemißt sich an den Grenzen der ihm mitgegebenen »Natur«.|

man hier wohl und gerade im ausgezeichneten Sinn »bei der Sache«, aber doch nicht bei den Dingen der zufälligen Situation ist. Man läßt sich nicht ablenken »von sich«, nämlich von seinen G e d a n k e n . Das, wovon ich bewegt werde oder was mir als Einfall kommt, als Gedanken aufzunehmen, bedeutet, sich Rechenschaft geben darüber, ins Klare kommen. Gedanken sollen i n s i c h folgerichtig sein. »In Gedanken« sich mit etwas beschäftigen bedeutet keinen tatsächlichen Umgang. In Gedanken wendet man hin und her, stellt es sich dar oder vor. Gedankewerden bedeutet ein Frei-sich-vorhalten-können. Im Denken-an nehmen »meine« Gedanken eine bestimmte Richtung an. W a s man denkt, denkt man immer z u etwas. Die Produktivität des Gedankens zeigt sich darin, daß er zu entwickeln, auf eine Formel zu bringen ist, daß man 240 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Unterbewußtsein

ihm eine Spitze geben kann. Gedanken gewinnen Prägnanz und Gestalt. Finden Anwendung. Es gibt das »Recht« eines Gedankens. hGestr. m. Tinte: Es gibt gute, aber auch verwerfliche Gedanken usw.i Gedanken sind immer j e m a n d e s , z. B. eigne oder fremde Gedanken. Sie können einem suggeriert werden. Und weil jeder Gedanke Schritt ist zu sich selbst, überhaupt nur so zu vollziehen ist, daß ich mich ihm verbinde, deshalb kann man sich auch gegen Gedanken wehren, d. i. sie nicht aufkommen lassen. Man kann sie aber auch geradezu »verdrängen« wollen. Der Wunsch z. B. ist bloßer Gedanke. Es bleibt hier dabei, nur in Gedanken vorgestaltend eine Situation so auszudenken, daß von selbst einem etwas zufällt: »es sollte …«. Andererseits aber: Gedanken sind etwas so sachlich »Objektives«, daß man sie t e i l e n , akzeptieren, verstehen, sich ihnen nicht verschließen kann. In Formen des Allgemeinen können Gedanken verfügbar, mitteilbar gemacht, offen dargelegt werden – was anderes bedeutet als – wie es meist in der Rede geschieht – s i c h dem andern in seinen Beobachtungen usw. »bemerkend« mitzuteilen. Gedanken können klar, richtig | einfach und kompliziert, witzig h0050i und barock sein. »Unsinnig« heißen »weithergeholte« Gedanken. (Das hS.i 41 »Un-« hat hier dieselbe Bedeutung wie etwa bei unheimlich usw.: die einer größten Steigerung in der Entrückung von demjenigen weg, was hier als das »Positive« gilt. Eine Wortfolge wie »und ist bei« ist zunächst nur »ohne Sinn«. Sinnl o s würde hier das Fehlen eines Sinnes daraufhin bezeichnen, daß es Wo r t e sind, die hier verknüpft werden, d. i. etwas zu dem eigentlich ein Sinn gehört.) »Unterbewußt« sind die nicht (mit) aufgenommenen Gedanken. Also die, die nicht die Kontrolle verantwortender Rechenschaftslegung passiert haben. Denen man sich versagt, d. i. sich nicht verbunden hat. Die abgespalten ihre eignen Wege gehen können. Und gerade, sofern man dann nicht »fertig geworden« ist mit ihnen, treten sie dann als der verborgene Stachel in Fehlleistungen zutage bezw. verraten sich als die tiefere Bedeutung dessen, was man sagt oder tut, sofern sie sich in Symbolisierungen dabei durchsetzen. »Komplexhaft«: Komplexe sind keine fremden, sondern überhaupt nicht eigentlich Gedanken. Ihre Abgespaltenheit bedeutet, daß ich hier etwas mit »bin«, dem gerade die Form des Selbstseins mangelt, sofern es nicht durchgegangen ist durch mich. Die unterbewußten Gedanken sind also nicht etwa solche Gedanken, die »h i n t e r « anderen verborgen liegen. hEinf. m. Tinte:i In die 241 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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man dies andere cachieren will. Wie es auch »Hinter«-Absichten gibt als die, die eigentlich bei etwas verfolgt werden. hM. Tinte:i Welches Beginnen aber auch i n s i c h sinnvoll wäre, das gerade deshalb nicht nach anderen Absichten suchen läßt. Auf »Hintergedanken« weist z. B. die Anspielung bezw. der Doppelsinn von Worten. In den Worten z. B. »kommen Sie eigentlich morgen abend?« kann ein a n d e r e r Gedanke ausgesprochen liegen, der sich in Tonfall und Miene – vielleicht sehr h0051i gegen meine Absicht – ausdrückt. | hS.i 42 Und wenn unterbewußte Gedanken etwas sind, bei dem man sich »betrifft«, so bedeutet dies: 2. etwas anderes, als wenn man irgendwelcher Gedanken in dem Sinn »überführt« wird, daß es versteckt irgendworin s a c h l i c h mitenthaltene Gedanken sind. Die sich unbemerkt mit eingeschlichen haben. D. i. man »müßte« sie mitdenken als etwas, worauf sich die Verantwortung des tatsächlich Gedachten mit zu erstrecken hätte. Man überführt so z. B. kritisch den anderen erschlichener Voraussetzungen. Wobei aber der andere sich nur eben dieser Voraussetzungen hAnführungszeichen und Unterstr. m. Tinte: i »nicht bewußt« gewesen ist. Nicht »Kritik« stößt aber auf das »Unter«bewußte. Jemanden bei dem, was ihn im Unterbewußtsein beschäftigt, zu betreffen, bedeutet keine Entlarvung. Denn in dem, was einem noch nicht eigentlich bewußt ist, kann ja auch das v o r b e r e i t e t werden, was dann als Gedanke aufgenommen wird. 1) 33 Andererseits: einen Gedanken nicht aufkommen lassen, meint zumeist auch gerade sich ihm deshalb versagen, weil man nicht wahr haben will, was er sagt. Man sucht darüber hinwegzukommen. Und man überführt hier jemanden, sofern er sich über sich selbst wie auch über das, wozu er im Grunde neigt, was er will, »hinweggetäuscht« hat. Er »verstellt sich« hier vor sich selbst. Diese Selbsttäuschung ist keine Täuschung über …, wie man sich sachlich »über« etwas täuschen kann. Denn Sich-erkennen bedeutet kein sachlich erledigendes Begreifen. Es steht gerade im Gegensatz hm. Tinte:i dazu. Sofern es ein Sich-ergreifen und Sich-zu-sich-selbst-bekennend-auch-übernehmen bedeutet. 2) 34 h0052i Man »stellt« sich nicht, wenn man sich über sich täuscht. | hS.i 43

33 hUnten:i 1) Als vorbereitende Stufe ist das Unterbewußte geschieden von dem, was »unter der Hand leitend« bei etwas ist, bei dem man sich als bei etwas wesensmäßig Vorgängigem nur n a c h t r ä g l i c h betreffen kann. D. i. »betreffen« meint verschiedenes: man wird ja doch nicht »a u f s i c h« z u r ü c k gebracht, in dem was im Unterbewußtsein bei mir nur eben auch rege ist. 34 2) Auch von S c h e l e r [M. Scheler, Über Selbsttäuschungen, in: Zeitschrift für Patho-

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Reflexivität des Bewußtseins

Was verstellt ist, ist nicht einfach weg, sondern trotz seines Anwesend-seins nicht zu finden. Durch das Scheinhafte des Wegseins wird man hier hingehalten. Und es kommt hier nicht darauf an, etwas nur eben zu »enthüllen«, eine Täuschung einsichtig zu machen, sondern darauf, den andern zu »stellen«, d. i. auf der Stelle zu ertappen, auf der er trotz seines Es-nicht-wahrhaben-wollens doch zu finden ist.

12. hReflexivität des Bewußtseinsi »Bewußt-sein« trifft die ausdrückliche Aufnahme von etwas. Deren Versagung oder Vorbereitung wird in der Richtung eines »Unter«bewußten verstanden. hUnterstr. m. Tinte:i Unbewußt und nicht-bewußt – beides bedeutet das Nicht-mit-aufgenommen-sein dessen, was einer tut. Wobei aber hUnterstr. m. Tinte:i »un-bewußt« das Getane, nicht-bewußt nur das M i t getane sein kann. Deshalb geschieht aber auch die »Erkenntnis« seiner selbst als ein hm. Tinte:i Sich-seiner-b e w u ß t -werden; man nimmt sich auf in dem, der man »i s t«. Diese ausdrückliche Aneignung seiner selbst geschieht aber artikulierend. Die lichte Helle des B e w u ß t e n ist es, was im Wort nur eine E r s t e i g e r u n g erfährt. Denn als Fassung von etwas bedeutet das Wort dessen Aufnahme. Daß die Erkenntnis des Seins, das ich je selbst bin, sich als b e w u ß t werden vollzieht, bezeichnet aber gerade ihre wesentliche Differenz zu derjenigen der Dinge. Denn was heißt psychologie, Jahrg. I, H. I, 1911; mit dem Titel: »Die Idole der Selbsterkenntnis« veröffentlicht in: ders., Abhandlungen und Aufsätze. Zweiter Band. Verlag der Weissen Bücher, Leipzig 1915, S. 3–168; jetzt in: ders., Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze. Hrsg. von Maria Scheler. Francke Verlag, Bern 1955, S. 215–292. – Vgl. H. Lipps, Die menschliche Natur. Werke Bd. III, Frankfurt a. M. 1977, S. 154–155, Anm. 1.] wird die Selbsttäuschung in die Auffassung und Ausgabe meiner Gefühle gesetzt. Indessen – auch dann, wenn ich nicht etwas nicht-wahrhaben-w i l l , bin i c h s e l b s t der, und nichts in oder an mir, worin ich mich täusche. Wenn z. B. etwas – und dies kann auch die Gesinnung eines a n d e r e n sein – fälschlicherweise schon für Liebe gehalten und ausgegeben wird. Weil man überhaupt nicht weiß, was »eigentlich« Liebe ist. Hier wird nichts »verwechselt«, wobei einem die Glieder der Verwechslung wie sonst bei Täuschungen bekannt sein müßten. Vielmehr: es ist Ausdruck einer S e l b s ttäuschung. Sofern man um die eigene Armut an Gefühlen nichts weiß und sich über den Mangel an Begegnungen und Erfahrungen hinweggetäuscht hat. Nur wenige haben Tiefe. Nur wenige leben überhaupt aus »ihrer« Mitte – die meisten »verhalten sich« nur immer irgendwie.

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hier – also gerade in ihrem Schulfall – »Erkenntnis«? Wird hier überhaupt ein »S e i n« erkannt? Was ist das »Objekt« der Erkenntnis? Doch vielmehr die in dem objectum-e s s e bezeichnete S i t u a t i o n . Etwas »als« Stuhl erkennen heißt: Das Vorhandensein-von bezw. das Vorliegen-von erkennen. Die Dinge, mit denen man zu tun hat, sind keine einzelnen Gegenstände. Z. B. der Regen draußen, der Mangel an … – aber auch »das Licht« in der Untersuchungsrichtung der Physik z. B. h0053i »sind« doch nur »etwas« im Rahmen der Wirklichkeit. D i e s e i s t | hS.i 44 es, womit man sich auseinandersetzt, in der man durchfindet. Erfahrung verbreitet und differenziert sich. »Erkannt« ist, was man kann, nämlich üben kann bezw. schon geübt hat. Das Was der Dinge sind Griffe, die wiederkehren. Nämlich Umgriffe, in denen man seinerseits Halt bekommt – man faßt Fuß in der Wirklichkeit. Flüchtiger Durchgang rechnet aber mit der Wiederkehr: Begriffe sind allgemein. Im Licht von Entscheidungen zeigen sich die Dinge in einer Bedeutung. Man läßt sie dies und jenes »sein«, d. i. »s e t z t« dies und jenes. Wobei aber die Frage, w a s denn eigentlich als seiend gesetzt sei, dann notwendig vergebens gestellt würde, wenn man es nicht bei diesem und jenem bewenden ließe. Bezw. als an-gesetzt ist es ein Sein, dessen man s i c h b e w u ß t wird bezw. ist, worin man s i c h erkennt. In dem Vorhandensein von …, »es gibt« usw. drückt sich aus, wie man sich als vor »Tatsachen« gestellt darin findet. Man wird sich der Wirklichkeit als des »Gegebenen« bewußt. D. i. das darin »erkannte« Sein ist ein solches, das man je s e l b s t »ist«. Das bedeutet aber, daß in der Richtung, in der überhaupt ein S e i n erkannt werden kann, nichts B e g r e i f l i c h e s liegt. +) 35 Man betrifft sich etwa bei dem Getriebensein zu …, ++) 36 bei dem Wunsche, daß …, man wird sich seiner Schuld, aber auch seiner Voraussetzungen bei etwas, handlungsmäßiger Schritte bewußt usw. So 35 hUnten:i +) Anm. In Kants Begriff der Erscheinung zeigt sich von hier aus ein Bruch: sofern nämlich die Aufnahme der für das Was der Dinge konstitutiven Hinsichten, zu denen der Begriff die Regel gibt, noch nicht die S e t z u n g von so und so s e i e n d e n G e g e n s t ä n d e n bedeutet. Darin aber, daß der Gegenstand immer einerlei = x ist, kommt das Flüchtige und wesentlich Vorläufige der Erkenntnis als eines Sich-durchfindens zum Vorschein. Das im Noumenon angesetzte an sich S e i n von Dingen ist aber ein Unbegriff. 36 ++) Anm. Man kann sich überhaupt nicht dessen b e w u ß t sein, was als ein »Trieb« in Selbstbeobachtung hUnterstr. m. Tinte:i wahrgenommen wird, d.i seine Stelle in Zusammenhängen einer Wirklichkeit findet, deren Feld durch die wissenschaftliche Methode einer »Psychologie« abgesteckt wird. Der Mensch gilt hier nur als Schauplatz von Trieben usw. als von vorkommenden Erscheinungen.

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Eindruck und Empfinden

wie man auch dem Anderen h i e r i n begegnet, ihm entspricht, ihn stellt usw. Und hierin gerade »i h n« »e r k e n n t«. Sofern er ja doch nicht unter Vorgriffen genommen wird für bezw. als … Sich-seiner-| h0054i in-etwas-bewußtwerden bedeutet aber nicht nur einen Schritt, den Exi- hS.i 45 stenz tut, sondern auch eine topische Wandlung des »Gegenstandes« des Bewußtseins. »Unbewußt« bedeutet keine Verborgenheit, nicht-bewußt nicht nur ein Übersehen-sein. Man wird bezw. ist sich s e i n e r in dem bewußt, wobei man sich betrifft bezw. vom anderen betroffen wird. Die »Reflexivität« des Bewußtseins ist verkoppelt in die Vorgängigkeit des darin Aufgenommenen. Im Unterschied zu der Art, wie man »sich« verlegen werden bezw. vor Scham erröten f ü h l t , allgemein: »s i c h« empfindet, wenn man angegangen wird durch die Dinge. Andererseits: das G e f ü h l der Scham bedeutet doch gerade ein Sich-seiner-Bewußtwerden. Und Verlegenheit steigert sich mit dem B e w u ß t s e i n seiner Lage. Das Empfinden ist noch kein bewußtes »cogito«. Wie wird es aber darin aufgenommen?

13. hEindruck und Empfindeni Den Schmerz »habe« ich im Finger, und »ich« bin es, nämlich mein Finger ist es, was gestochen wird. Es wird einem weh g e t a n : man empfindet einen stechenden, bohrenden, reißenden Schmerz. Ich empfinde »den Stich im Finger«. Was mich schmerzt, ist der Finger ebenso wie der Stich darin. Man s p ü r t dann erst seinen Finger, wenn er gestochen wird. Es gibt keine »Schmerzqualität«. Wie ja auch in der Härte des Holzes nicht eigentlich eine Qualität, sondern dessen Widerständigkeit sinnlich erfahren wird. Während ich aber hier mit dem Finger vortastend etwas zu erkennen suchen kann (was immer ein Er-»fassen«, Be-»greifen« ist) h,i bedeutet der Schmerz gerade immer eine Störung dieser Freiheit. Man erfährt aber »sich«h,i d. i. seinen Stand in eins bezw. auf dem Boden, auf den man tritt. »Fest« ist das, worauf ich mich verlassen kann, was mich frei gibt für Möglichkeiten. Eine Konstruktion z. B., aber auch der Boden, auf dem ich gehe. Dem Deprimierten versinkt er gleichsam, er tritt ins Leere und kann nicht weiterschreiten. Denn er findet sich nicht frei für die Zukunft, deren Auswege ihm verschlossen scheinen: es ist das nicht i n i h m , was nötig ist, um die Festigkeit des Bodens 245 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

MS Die menschliche Natur h0055i draußen über- | haupt als »Festigkeit« empfinden zu können. Man hS.i 46 könnte dies »symbolisch« nennen, sofern hier als Wahrzeichen etwas

zusammentrifft mit dem, was es kündet. Die S t r u k t u r der Dinge ist bestimmt durch mein Zumute-sein. W a s man empfindet, hat seine bestimmten Grenzen in der Art des Sich-fühlens. Der Eindruck, den etwas auf mich macht, ist etwas, was ich »h a b e« – so hieß es. »Es« graust mich. Dieses »es« bestimmt sich nicht aus der Situation wie bei »es regnet«, »es ist zu fürchten, daß …«. In Situationen steht sich zeitigende Existenz. Jemandes körperlicher Schmerz ist aber nicht so »sein« Schmerz hm. Tinte:i wie das, was er denkt, »sein« Gedanke ist. Eine Empfindung »hat« man aber so, wie sie auch mich hat, nämlich packt, ergreift, überwältigt. Z. B. auch: »e s friert m i c h«. Man steht unter der Wirkung eines Gesichtes z. B. W a s hier so »ist«, nämlich so wirkt, ist sicher dieses Gesicht hier – aber nicht anders als auch diese Nadel mir den Schmerz verursacht oder das Aufblühen einer Orchidee mir Freude macht. D. i. hEinf. m. Tinte:i ich be g r ü n d e damit meinen Schmerz bezw. meine Freude, ohne daß aber durch diesen Nachtrag das im Eindruck Erfaßte sachlich identifiziert werden könnte. Bezw. was mir das Gesicht »sagt«, erschließt sich n u r durch die A u f n a h m e des Eindrucks, dessen Qualifikation aus einem Angemutet-werden nicht herauszutrennen ist. +) 37 Der Schmerz im Finger, der (schmerzende) Finger, das »bin ich«, und so bin auch ich das, wovon ich beim Grauen gepackt werde, wovon ergriffen ich mich nicht lösen kann. ++) 38 Im Schmerz, im Eindruck bin h0056i ich noch nicht | »s e l b s t«. Was ich »habe«, nämlich bin, (εχειν, intranhS.i 47 sitiv!) +) 39 darüber verfüge ich nicht wie über einen Besitz. Das hierin bezeichnete freie Verhältnis gewinnt sich allererst. Andererseits: es ist eine »deutliche« Empfindung, deren rechenschaftsgebende Aufnahme anderes bedeutet als Auffassung von zunächst Ungeordnetem. Viel37 hUnten:i +) Anm. Kants Privatgiltigkeit der Sinnlichkeit bezieht sich aber auf Empfindungen, verstanden als Zuträger sachlicher Qualitäten, – darauf, daß man sich nur umwegig, aber nicht durch demonstrierende Entwicklung eines Begriffes darüber einigen kann, welche Farbe z. B. mit »grün« gemeint ist. 38 ++) Anm. Mein Frieren wird als »Zustand« wohl auf den Umstand der Kälte draußen bezogen. Womit aber nicht das Wetter gemeint ist, mit dem man rechnet, das man beschreiben kann, d e s s e n Kälte »am Thermometer« abzulesen ist. Die e m p f u n d e n e Kälte ist etwas anderes. 39 hUnten am Bl. geklebt:i +) So »hat« bei Aristoteles auch das Auge die Farbe, – ohne daß die Farbe etwa als Eigenschaft dem Auge inhärierte.

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Eindruck und Empfinden

mehr: was ergriffen, nämlich im bestimmend Beiseite-bringen entschieden wird, ist die Situation, deren Durchgliederung einen Schritt bedeutet. Man hat »einen bestimmten Eindruck« von jemanden. Ich habe »keinen Eindruck« von einem Menschen, wenn er mich gleichgültig läßt. Der Eindruck, den ich von jemand habe, kann sich verfestigen und deutlicher werden. Er kann aber auch verdeckt werden und zurücktreten vor dem B i l d , das man sich von dem Betreffenden macht, aufgrund dessen, was man selber von ihm erfahren oder von anderen über ihn gehört hat. ++) 40 Im Eindruck e r f a ß t man jemand, man »e rk e n n t« ihn aber nicht. Denn Erkennen heißt: ihn kennen lernen, nämlich von Seiten aus. In jeder Erkenntnis ist eine Frage aufgehoben. Von m i r aus zeigt sich hier etwas. Und sofern hier Einstellung, Gesichtspunkt dahinter stehen, gibt es auch Täuschungsmöglichkeiten. Schrittweise umsichtig wird zur Begründung einer Erkenntnis etwas zusammengetragen. E r f a ß t wird aber der Andere in e i n e m Blick. Und nicht der Eindruck kann falsch sein, sondern nur der Gedanke, den er in mir erweckt. hAnführungszeichen m. Tinte:i »Täuschung« könnte hier nur meinen, daß es vielleicht »nichts ist«. U n g e b r o c h e n | wird hier h0057i etwas erfaßt. hM. Tinte:i + 41 Ungesucht kommt ein Eindruck. Beim Ein- hS.i 48 ++) Der unmittelbare Eindruck von etwas ist als dessen »Wirkung« keine Impression – wie etwa in einer Wachstafel eine hierbei u r s ä c h l i c h verstandene Spur hinterlassen wird. Etwas anderes als dieser, den andern e r f a s s e n d e Eindruck ist nicht nur Sym- und Antipathie, – die als in meinen und des andern Intentionen gründend immer verhältnismäßig sind – sondern auch der »Eindruck« des Anderen, unter dem ich als einer Wirkung auf mich immer insofern stehe, als er mich in meinem Verhalten zu ihm unausdrücklich bestimmt. Takt – als eine Art feinerer Sinnlichkeit – dirigiert einen unmerklich; es wird einem gar nicht bewußt, daß man sich einstellt auf den Anderen. Taktlosigkeit wird darin gerade gesehen, daß man kein Empfinden hat für … Immer hört man den A n d e r e n , und von ihm her erst was er sagt. Es ist leichter, jemanden zu überreden, als ihn zu überzeugen. Die Suggestion ist kein außerbewußter Mechanismus, als ob hier etwas z. B. reizmäßig übertragen würde. Dem Glauben steht ja doch schon die Ablehnung gegenüber. Das mit »Suggestion« Gemeinte liegt nur in der Selbsttäuschung, daß man aus sachlichen Gründen einsieht, was tatsächlich nur dem anderen geglaubt wird. 41 hUnten:i +) Ein Krachen z. B. läßt mich unmittelbar zusammenfahren. Der Eindruck des Schreckenden behauptet sich hier gegen besseres Wissen. Man vergl. z. B. das scheuchende Pfeifen einer Granate, dessen Eindruck man widerstandslos unterliegt, wenn man zur Seite biegt, mit dem in seiner Bedeutung lediglich »verstandenen« Geräusch beim Platzen eines Schrapnells. So »empfindet« auch das Tier. Ungebrochen erfaßt es witternd 40

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druck liegt – so scheint es – kein Durchgang durch menschliche Bewegtheit vor. Seine Verdeutlichung geschieht dadurch, daß er in die Mitte genommen, als Gedanke aufgenommen, d. i. artikuliert wird. Indessen – Erkennen und eindrucksmäßiges Erfassen sind nicht getrennt an reinen Fällen zu demonstrieren. Denn – auf der einen Seite: der Eindruck will ja aufgenommen werden, und seine Verdeutlichung geschieht dadurch, daß man zu sagen versucht, wonach etwas aussieht. Und andererseits: der Gesichtspunkt der im betrachtenden Erkennen aufgenommenen Frage wird nicht willkürlich hm. Tinte:i gewählt. Er bestimmt sich durch ein Gefühl für … Die Deutlichkeit des Eindrucks ist eine spezifische. Sie liegt in der Nachdrücklichkeit des Eindrucks, der sich nicht wegreden läßt. Im Unterschied zu der Deutlichkeit des Erkennens, die ihren Maßstab bei mir hat. Eine Erkenntnis soll eindeutig sein. Weil Erkenntnis ja doch bedeutet: einstellen in Zusammenhänge, in seiner Bedeutung verstehen, wobei man Bezügen nachzugehen und sich immer neu zu begründen hat. Im Eindruck »liegt« etwas. Was aber darin liegt, muß ich erst finden. Es liegt in der Richtung, zu deren Aufnahme ich durch den Eindruck erweckt werde. A u s m i r h e r a u s . Denn das, wovon ich hier bewegt werde, ist wesentlich doppeldeutig: es ist sowohl dies, von hKorr. m. Bleist:i dem als auf mich wirkend ich in meinen Gedanken bewegt werde als auch der Gedanke selbst, (von dem ich bewegt werde). Was ungebrochen erfaßt wird im Eindruck, ist nicht mitteilbar. Indessen: man braucht ja hier auch nicht den anderen, sofern ein Gesichtspunkt usw., d. i. sofern eine sachentsprechende E r k e n n t n i s in dem einh0058i drucksmäßigen | Erfassen von etwas gar nicht bezeichnet ist. Vom EinhS.i 49 druck aus, der nicht hinwegzudeuten ist, erscheint die mir mit anderen gemeinsame Welt vielmehr als eine solche, für die das Bewenden-lassen, d. i. das Beiseite-gelegt- und Erledigt-sein gerade konstitutiv ist. Darin, daß ich einen Eindruck dadurch zu verdeutlichen suche, daß ich sage, w o n a c h etwas aussieht, bezw. daß ich den Eindruck gleichnishaft dahin umschreibe hAnführungszeichen m. Tinte:i »wie …« »als ob …«, betont sich gerade, wie das rechte Wort dafür fehlt, wie der Eindruck »eigentlich« unsagbar ist. Was ein Eindruck in mir erweckt, sind zumeist Hinsichten, Gesichtspunkte usw. Es ist der Fall, wo einem z. B. einfallsmäßig ein GeUmstände, ohne daß hierbei etwa signalhaft ein Geräusch als gefahrkündend verstanden würde.

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Eindruck und Empfinden

danke kommt. Wobei Gedanke nur eine Modalität praktischen, umsichtig zu begründenden Verhaltens ist. Wobei man vielleicht immer wieder auf den Eindruck als den Prüfstein seiner Auslegung zurückkommt, sich hierbei aller Befangenheit von neuem zu entschlagen hat. Daß ein Eindruck »der richtige« ist, bezieht sich auf den Gedanken, den er in mir aufblitzen läßt. Um aber einen Eindruck in dieser Richtung sich verdeutlichen zu können, dazu bedarf es einer Sicherheit, die sich nur im flüchtigen Durchgang herstellt, wenn man an den Dingen Halt bekommt, wenn man die Wirklichkeit als Ganze in den Dingen wie an Verknotungen zu fassen bekommt. Wobei nichts einzeln bleibt und man nicht gleichsam ertrinkt in den Eindrücken. Es ist eine Sicherheit, vergleichbar der Haltung, durch die Affekte abgefangen werden. Entschiedenheit ist ihre Bedingung. +) 42 Der Deprimierte »erliegt« aber Eindrücken. Die Weite des Treppenhauses, die Länge der Gänge, die Stille, das Förmliche der ihm Begegnenden »wirken« anders auf ihn. Der seine Haltung eigentlich verloren, sie nur mühsam | äußerlich gewahrt hat. Und entsprechend ist es h0059i eine bestimmte Sensibilität, die davor zurückschrecken läßt, in der Mit- hS.i 50 te einer Stuhlreihe zu sitzen. Die »Normalen« erscheinen von hier aus stumpf. Sofern sie nämlich u n a n g e f o c h t e n bleiben. Dies aber, daß sie das nicht anfechten läßt, was dem andern lähmendes Grauen macht, zeigt, wie der Eindruck a u s m i r kommt: zu verschiedenen Zeiten wirken die Dinge verschieden. Und der Eindruck vereinzelt mich. Weil er den Halt wegschlägt, den ich in der (Mit)teilbarkeit der Welt hatte. Ich kann mich nicht »finden«. So wie man auch im Traum herumgetrieben wird, Bilder geträumt werden, in denen man sich selbst mitsieht. Man wird hier dessen enthoben, sich ins Reine zu bringen. »Die analytische Einheit des Selbstbewußtseins ist nur unter Voraussetzung einer Synthesis möglich«. V Dazu gehört aber Entschiedenheit. Selbstsein geschieht nur in »Zeitigung«. Um Schritte tun zu können, muß man aber 42 hUnten:i +) Ein Eindruck kann aber auch »gefaßt«, nämlich a l s Eindruck »bestimmt« werden. Wenn man z. B. von einem Menschen sagt, er sei »trocken« oder wirke »ledern«. Denn ein Mensch »ist« doch anders trocken als etwa Holz, bei dem eine Beschaffenheit sinnlich erfahren wird. Denn hEinf. m. Tinte:i um Holz auf Trockenheit zu prüfen, stelle ich fest, ob es nicht naß ist. Nässe ist hier spezifisch different zu Trockenheit. Man v e rw e i l t hier nicht bei der Empfindung, die im Dienst praktischer Erkenntnis steht. Und es bedarf einer künstlichen Ausschaltung dieser zunächstliegenden Hinsicht, um auch am Holz etwas zu entdecken, was an den Eindruck eines Menschen und woran dieser wiederum erinnert. Auch hier aber: man muß f r e i sein zu dieser Erinnerung.

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dazu freigegeben werden durch einen Boden, der fest ist. Man sucht und findet ihn in »der« Wirklichkeit, d. i. in einer solchen, in der man sich mit den anderen trifft. »Der Andere« – dies kann ebenso ich selbst sein, als er mir auch in einer Sprache z. B. begegnen kann. Trotzdem: ich erfasse etwas im Eindruck. Und gerade dies, daß der erste Eindruck entscheidend ist, wo man noch frei ist von …, zeigt, wie erst die A u s d i c h t u n g des Eindrucks in der Unterbindung sachlicher Kontrollen ein Verfehlen bedeutet. Es gibt eine grundsätzliche Bereitschaft dazu, Irrtumsmöglichkeiten in Anschlag zu bringen. Und erliegt man eigentlich einem bestimmten E i n d r u c k ? Man erliegt doch dem, womit man eigentlich fertig werden sollte. Den Dingen, dem, was als Sorge in mir rege ist. Entsprechend wie das eigentlich Erkannte die Situation und nicht die e i n z e l n e n Dinge sind. Denn die Dinge werden in ihrer Aktualität, in ihrem Mitwirken und Gegenwirken und immer im Ganzen ihrer Jeweiligkeit empfunden. Auch Widerstände erfährt man nur, sofern man auf etwas »dahinter« h0060i gerichtet ist. | hS.i 51 An der Widerständigkeit merke ich erst, was als bloßer Umstand gleichgültig und nicht eigentlich »da« war. Nur meine Befangenheit läßt mich nicht bemerken, daß ich nie im Leeren bin. Witterung, die man »aufnimmt«, bedeutet schon ein Frei-den-Dingen-beizukommensuchen. Man l ä ß t sich hier affizieren; Witterung ist ein probierendes Vortasten, das über Rückzugsmöglichkeiten verfügt. Erst der in den Dienst der E r k e n n t n i s gestellte probierend vorgehende, d. i. seinen Abstand bemessende Finger ist »O r g a n« des Menschen.+) 43 Wie überhaupt der Mensch ++) 44 in der Einheitlichkeit seiner Natur empfindet, 43 hUnten:i +) Die Bedeutung von »Organ« hat in der Psychologie eine bezeichnende Wendung erfahren: man spricht da von »Sinnes«organen. »Sinne« werden hier als die spezifischen Werkzeuge zur Beschaffung bestandhafter Erkenntnis angesetzt. Bezw. gelten dann »Empfindungen« als das gegebene hAnführungszeichen m. Tinte:i »Mittel«, um Kenntnis zu erlangen über die Beschaffenheiten von Gegenständen. Deren »Bild« vereinigt, was die Sinne darüber lehren. Nur das gleichgültige »Subjekt« zu Wahrnehmungen aber »hat« – dies Wort in keinem philosophisch-verbindlichen Sinn verstanden – solche letztlich doch hier als sachlich unterschiedenen »Empfindungen«. 44 hUnten, z. T. am Bl. geklebt:i Der M e n s c h »sieht« auch z. B. Das »Sehen« ist nicht von dem her zu bestimmen, was der Physiologe als »Auge« zu gelten hat. Die »Augen« der niederen Tiere z. B. »empfinden« lediglich Helligkeitsunterschiede, d. i. vermitteln Steuerung dadurch. Das Auge ist nur ein M i t t e l der Ins-Werk-Setzung des Sehens – wie hieraufhin z. B. auch die Helligkeit erst ένεργεία Helligkeit ist. Sehen zu »können« meint zweierlei.

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Eindruck und Empfinden

das Vermögen der Sinnlichkeit nicht aufzuteilen ist an das, dessen Trennung hEinf. m. Tinte:i nur sinnesphysiologisch gelingen kann. Was man empfindet, kann dasselbe sein, gleichgültig, ob es am Ton gehört oder am Blick hEinf. m. Tinte:i des Anderen gesehen wird. Man empfindet, sofern man in der Welt steht, sie aber nicht gegenüber hat. Die Dinge werden gemerkt und gespürt, aber fast nie eigentlich »wa h r g e n o m m e n«. Denn Wahrnehmungen sind etwas, was man berichten kann, was objektivierbar, mitteilbar und wiederholbar ist. In Wahrnehmungen, die man macht, wird immer etwas festgestellt. Nämlich Faktisches als Faktum bestimmt in seinem Wo und Wann und Wie. Was man wahrnimmt, kann man nicht umhin als Tatsache anzuerkennen. Als wahrgenommen wird etwas dem Bestand unseres Wissens und unserer Kenntnisse eingefügt. Die Wahrnehmungswelt ist etwas, was sich tatsächlich so »konstituiert«. Daß z. B. »der Himmel sich umwölkt hat«, bezeichnen wir daraufhin als eine Wahrnehmung, die man gemacht hat, daß es eine Tatsache ist, die etwas zu besagen hat. Nicht eigentlich »die Dinge«, sondern »Tatbestände« werden wahrgenommen. Wahrnehmungen sind wiederholbar. Es ist | gleichgültig, wer sie h0061i gemacht hat. Ich bin nur das Subjekt z u einer Wahrnehmung. Ich teile hS.i 52 sie mit anderen. Sehen, Hören usw. sind aber verschiedene Weisen des Empfindens. Was nicht so zu verstehen ist: es seien »die Sinne« für die verschiedenen Momente, die die Wahrnehmung der Dinge an deren Aufbau entdeckt […]. Vielmehr: die Modalität meines E m p f i n d e n s ist verschieden: Sehend stehe ich anders zu den Dingen, als wenn ich sie mir durch das Gehör sich künden lasse. Denn betrachtend »befasse« ich mich mit den Dingen, suche ihnen Seiten abzugewinnen, gehe auf sie zu, wähle mir einen Standpunkt aus, der mein Gesichtspunkt wird usw. Das Freischwebende des Blicks, der die Dinge aufsucht und verfolgt, hEinf. m. Tinte:i nachdringt oder an der Oberfläche bleibt h,i steht in einem gewissen Gegensatz zu der Art, wie das Ohr s e i n e r s e i t s erreicht wird durch den z u m i r d r i n g e n d e n Ton. Wiederum: ich werde im Hören von etwas doch auch nicht so a n g e g a n g e n wie etwa die Kälte Einmal diese in etwas g e g e b e n e n hAnführungszeichen m. Tinte:i »Möglichkeiten«, d. i. das hUnterstr. m. Tinte:i Fähig-sein bezw. -w e r d e n zu …, fürs zweite aber das hAnführungszeichen und Unterstr. m. Tinte:i »Vermögen« des Gesichtes, das sich im Auge o r g a n i s i e r t hat. Man darf nicht das Ermöglichende mit den Mitteln seiner Ins-Werk-Setzung verwechseln. Blindheit setzt aber gerade schon die O r g a n i s a t i o n des Vermogens voraus: das Paramaecium z. B. ist nicht blind.

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draußen nur dann empfunden wird, wenn man sich ihr aussetzt usw. Mein Verhältnis zu den Dingen ändert sich hier immer, die Weite der Welt, ihr Horizont wechselt. Provisorisch wird im Sehen das Vorfeld von Aktionen erschlossen, und dieses hAnführungszeichen m. Tinte:i »Sichten« weist zurück auf die Maßgeblichkeit freier Entscheidung hierbei. Die Welt in ihrer Sichtbarkeit bringt mich vor mich selbst, sofern sie der Gegenwurf meiner Existenz ist. hM. Rotst.: xi 45 Die Welt ist hier in mein Können gestellt. Denn daß die Welt sichtbar ist, darin ist eine s p e z i f i s c h e »Möglichkeit« bezeichnet. Riechbar zu sein heißt, daß etwas einen bestimmten Geruch »hat«. Es liegt in der Natur der Dinge, in dem, was sie in Zusammenhang mit anderen vermögen, daß es diese Möglichkeit gibt, die man sich nutzbar machen kann. Jegliches kann aber sichtbar g e m a c h t werden. Man kann die Dinge zwingen, sich darzustellen in dem Medium neutraler Phänomenalität. Denn man »übersieht« hier die – gerade im Geruch z. B. auch erfahrbare – spezifische Seinsweise der Dinge. Die Neutralität der Erscheinung, die Ablösbarkeit der Farbe macht es z. B., daß es hier die Möglichkeit einer internen Ordnung gibt. Was man h0062i schmeckt oder riecht, ist aber stofflich gebunden. Der Augenschein | hS.i 53 trügt. Man bleibt an der »Oberfläche« der Dinge. hM. Rotst.: xi 46 Die hUnten am Bl. geklebt, m. Rotst.: xi ++) In ihrer Sichtbarkeit können die Dinge als »Welt« e r l e b t werden. (Vergl. später S. [53–54]) Die Malerei z. B. ergreift sie frei in ihrer Erscheinungshaftigkeit, – ohne daß das Sehen hier in das Sorgen um ihre Wirklichkeit gebunden wäre. Um ein Bild von van Gogh richtig »sehen« zu können, bedarf es einer Affinität zu dem, der als Existenz hier fragt und sieht. ++) Das Gesehene kann ich – sofern sehen ein Interpretieren ist – in einem B i l d e mir bezw. dem andern frei vorhalten. Die wesentlichen Züge eines Anblicks werden im Bilde wiedergegeben. (Es gibt nichts dem »Bilde« Entsprechendes bei den anderen Sinnen). Die Zeichnung ist hAnführungszeichen m. Tinte:i »Ausdruck« wie das Wort, das ein Verantworten ist, dessen Fassung ein Umgeboren-werden dessen bedeutet, wovon man als Gedanke bewegt wird. 46 hUnten am Bl. geklebt:i Dem Entstofflichten der Farbe widerspricht es nicht, wenn die Farbe als das stoffliche »Aussehen« von etwas Bestimmtem gesehen und wenn daraufhin auch »eigentlich« verschiedenartige Nuancen begrifflich zusammengebracht werden – bei hEinf. m. Tinte:i κυάνεοϚ z. B., das die von dunkelblau bis hellgrün spielende Farbe des Meeres ist. Die Möglichkeit der Malerei ist darin bezeichnet, daß ich Farben w i e d e r g e b e n kann. Empfindungen kann ich aber nicht wiedergeben, sondern – wegen ihres Nicht-loskommen-könnens von dem, was darin erfahren wird – nur täuschend n a c h z u a h m e n versuchen. Der nachgemachte Rosenduft ist dann nicht s e l b e r das, was zu sein er bloß vorspiegelt. 45

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Eindruck und Empfinden

Dinge werden nicht in dem Sinn »selbst« gesehen, wie ein Geruch z. B. der »untrügliche« Geruch einer Rose ist, so, daß man sie darin identifizieren kann. Was ich sehe, hat aber zu mir Distanz, und diese wird zeitlich genommen, sofern das in der Ferne Gesehene noch nicht gegenwärtig ist. Das Erscheinungsbild der Dinge, von gemachten und natürlich gewordenen z. B., ist gleichartig. Unser eigner Körper wird nicht anders gesehen als ein fremder Körper. Jegliches sieht irgendwie aus, hat Farbe und Gestalt, d. i. stellt »sich mir dar« hierin. Aus dem Dunkeln werden die Dinge ins Licht gebracht. Ich breche sie auf, um sie in ihrem Inwendig zu sehen. Daß sie hierbei Farbe bekommen, bedeutet keine Veränderung und keine Vermehrung ihrer Eigenschaften. Die Dinge sind in mehreren Stufen »da«. Sie können erfahren, aber auch in ihrer erscheinungsmäßigen Manifestation gesehen werden. Hierbei werden sie aber hEinf. m. Tinte:i als ganze in ihrem »Was« gesehen, das immer ein bestimmtes Was im Unterschied zu anderen ist. hEinf. m. Tinte:i Es wird nicht nur einzelnes an bezw. von den Dingen empfunden. Die Neutralität ihrer Erscheinungshaftigkeit, daß hier eines am andern gesehen wird, macht aber den spezifischen Index des Was- bzw. W a h rseins der Erscheinung. Die Welt zeitigt sich in der Erscheinung ebenso wie im Begriff. Sichtbarkeit ist eine Möglichkeit, die aktiviert wird. Die nämlich in jedem Augenblick aktiviert werden kann. Es ist keine in der Natur der Dinge »gegebene« Möglichkeit. Farbe ist die Gesetzmäßigkeit der Natur in Bezug auf den Sinn des Auges. Sichtbarkeit ist aber insofern eine k o n s t a n t e und sie ist p r i m ä r »Möglichkeit«. Die Spontaneität des Sehens, das Gnostische, bedeutet gerade dies, daß man im Sehen die Dinge »sich erschließen« kann. hEinf. m. Tinte:i Sehen ist ein Interprethiereni der Dinge. Dunkelheit »behindert« das Sehen – Daß Erscheinungen als bezeugend w a h r sein können oder nicht, ist der Grund, daß Goethe in Bezug auf die Malerei von einer »h ö h e r e n« Wahrheit spricht, die die Natur durch den Stil des Malers finden kann. Hieraufhin gibt es die »rein koloristisch bestimmte Fantasie« Tizians, dem die Farbe noch an und für sich etwas bedeutete. Wie überhaupt erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts die Farbe ausschließlich in den Dienst des Optischen tritt (Hetzer). [Th. Hetzer, Tizian. Geschichte seiner Farbe. V. Klostermann, Frankfurt a. M. 1935; jetzt in: ders., Tizian. Schriften Bd. 7. Urachhaus 1992. – Vgl. H. Lipps, Die menschliche Natur, op. cit., S. 84, Anm. 1., sowie: »Goethes Farbenlehre (1939)«, in: Die Wirklichkeit des Menschen. Werke Bd. V, Frankfurt a. M. 1977, S. 116, Anm. 2.] Anm. Die Empfindung i. e. S. hat zwar keine »Wahrheit«, aber durch das Empfinden und nur durch das Empfinden mache ich mich der W i r k l i c h k e i t von etwas hUnterstr. m. Tinte:i gewiß.

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was etwas anderes heißt als daß einem nur die Gelegenheit fehlt, eine Sache selber zu »erfahren«. Sofern die Sache in ihrer spezifischen Natur empfunden wird, wird sie nicht in ihrem »Was« verstanden. Das Äußere der Dinge hat aber gerade als ihr Äußeres eine bezeugende »Wahrheit«, – die in das Worumwillen von Existenz gerückt ist. Worin der Einsatz transcendentalen Fragens bezeichnet ist. Diese spezifische h0063i Wahrheit fehlt gerade dem »selbst« | spürbar Erfahrenen. Erscheinung hS.i 54 kann – zufolge ihres bloßen Verweisungscharakters – aber immer im bloßen Schein umschlagen. Existenz entschlägt sich beim Sehen ausdrücklich des unartikulierbaren spezifischen Seinssinnes der Dinge, wie er nur im nachspürenden Empfinden enthalten sein kann. Das Ohr offen zu haben für das, was an einem herankommt, bedeutet aber schon eine Einstellung auf »Hörigkeit«. Ich suche und halte »A n s c h l u ß an …«. Im Riechen und Schmecken werde ich aber lediglich auf »d i e S p u r« der Dinge gebracht. Die hierbei lediglich in ihrer vitalen Relevanz erfahren werden. Auf mich bedacht bleibe ich dabei. Was einem w i d e r fährt, »erfährt« man hier; sich sichernd stellt man sich ein auf … Das »Private« der hier angeschnittenen Sphäre steht aber gegenüber der W e l t, die sich mir hörbar kündet bezw. geradezu »selbst« sichtbar ist unter einem Horizont als der Grenze bis wohin der unverstellte Blick reichen kann. hMit Rotst.: xi 47 hM. Tinte, m. Rotst. unterstr.:i Zusatz h0064i S. 54b, c.|

hS.i 54b

hUnten am Bl. geklebt:i +) Blindheit und Taubheit sind deshalb nicht nur Defekte, wie das Fehlen des Geschmacks etwa, dessen hAnführungszeichen m. Tinte:i »zufälliger« Wegfall das Verhältnis zur Welt im Ganzen unbetroffen läßt. Der Blinde und Taube aber verfallen dem S c h i c k s a l der Vereinsamung, sofern sie von der W e l t ausgeschlossen sind, die dem einen in ihrer Sichtbarkeit verschlossen, an die dem anderen der Anschluß genommen ist. Die Natur als Ganzes offenbart sich in der »Welt« der Farbe; daraufhin gibt es Malerei. Die Töne sind aber an sich Äußerung und so das gegebene Mittel des Ausdrucks. Denn als Lautwerdung von … werden sie gehört. Die Reinheit des Tons trifft das Unbeschwerte gegenüber dem Geräusch, das – wiederum am Ton gemessen – wie erstickt klingt durch die es nicht recht freikommen lassende Materie. – Es gibt bei anderen Sinnen nichts der Malerei und Musik Entsprechendes. 47

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Eindruck und Empfinden

Zusatz Auf das, was man sieht, was man »vor Augen hat«, pflegt man sich wohl als auf die letzte Instanz zu berufen. Der Augenschein täuscht aber gerade. Soll man sich überhaupt noch auf die Sinne verlassen? Unsere M e i n u n g darüber schwankt. Nämlich dann, wenn man so geradezu gefragt wird. Man weiß nicht den skeptischen Einwänden zu begegnen. Man folgt ihnen aber widerwillig. Denn die Praxis kann sich ja doch »abfinden« mit den Täuschungen. Man wird dabei betroffen, wie man es u n t e r d e r H a n d doch immer richtig verstanden hat, wie … Sicherlich – die Argumente der Skepsis sind keine w e i t h e r g e h o l t e n Schwierigkeiten. Es sind aber auch keine n a t ü r l i c h e n Verlegenheiten. Die Sinne mischen sich ein bei unserer Erkenntnis – so heißt es z. B. Wird denn aber überhaupt, was man empfindet, einem anderen ohne weiteres als Eigenschaft zugeschrieben? Etwa die Wärme draußen? Bei Umständen und Widerständen ist das »An-sich« schon dem Begriffe nach ausgeschlossen. Und die »Sache selbst« bedeutet zunächst nur den Gegensatz gegenüber dem Äußeren ihrer Erscheinung. Ich »erfahre« sie aber gerade beim Riechen und Tasten. Das Merkwürdige ist nur, wie es gerade nur bei der Erscheinung – sofern diese etwas bezeugt – eine spezifische Wahrheit gibt. Wie aber gerade dort, wo die Sache selbst erfahren wird, mit dem Wegfall der Möglichkeit eines Scheines auch die Spannung in der Bezeugung eines Seienden entfällt. Sicherlich: ich »mische mich ein« beim Tasten. W a s ich empfinde, ist aber schon seinem S i n n gehalt nach unlösbar gebunden in das, wie ich m i c h darin erfahre. hM. Rotst.: xi 48 Die Skepsis sieht Schwierigkeiten bei einer Erkenntnis, so wie sie erst der Dogmatiker verstanden hatte. Und sie argumentiert gegen die äußere Möglichkeit dieser Erkenntnis, – statt die innere Möglichkeit von so etwas wie »Erscheinung« z. B. zu demonstrieren. Man kann wohl i m e i n z e l n e n F a l l e zweifeln, ob etwas »tatsächlich« so ist, wie es »zunächst einmal« aussieht. Man kann aber nicht a l l g e m e i n es als eine Frage behandeln, ob die Dinge an sich so sind, wie sie erscheinen. Es wäre eine unechte und gemachte Frage, sofern sie sich mit ihrem Interesse in der Ebene desselben Verständnisses der Dinge hält, dessen Nichtachtung gerade s i e erst als »philosophisches« Problem entstehen läßt. Die gemeine Weltansicht ist aber überhaupt kein »Standpunkt«, über den man diskutieren und den man auch »nicht mehr mitmachen« könnte. Daß man dem Auge traut – sofern man den Augenschein ja doch lediglich irgendwie hierbei »nimmt«, nämlich z. B. ihn gerade anders nimmt als einen Tasteindruck, darf nicht zu einem »naiven« Realismus verplattet werden. Es ist keinerlei Meinung darin enthalten. Nur durch Überrumpelung gelingt es, den anderen zu einer M e i n u n g derart zu verführen, die Dinge »seien« eben so gelb wie sie hart »sind« usw. Während sie doch als gelb g e s e h e n und als hart

48 hUnten am Bl. geklebt, m. Rotst.: xi Schließlich – »was« erkenne ich denn? Essig z. B. oder Blau oder Kreide. D. i. ich nehme ein Bekannt-sein damit auf bezw. ich mache mich damit bekannt. Insofern finde ich das »Was« bezw. »Wie« von etwas heraus. »Wie« etwas ist, kann nur unter einem bestimmten Ansatz, als das Wie einer Farbe oder Geschmacks auf der Zunge oder »wie« groß etwas ist usw., aber nicht in der Richtung wie »etwas« »an sich« ist, erfragt werden. Denn während das »Was« von etwas identifiziert wird, soll im »Wie« etwas n ä h e r bestimmt werden; es gibt ein »u n g e f ä h r wie« …

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h0065i hS.i 54c

h0063 Forts.i hForts. S.i 54

e r f a h r e n werden. Der »kritische« Realismus empfielt a l l g e m e i n eine Zurückhaltung, die dem Augenschein gegenüber begründet und aber auch »selbstverständlich«, bei Geruch und Geschmack aber nicht am Platze ist. Und der Idealismus »verabsolutiert« »die Situation«, in der mir die Dinge in ihrer Sichtbarkeit und hUnterstr. m. Tinte:i insofern als »Erscheinungen« gegenüberstehen. Überhaupt aber: Standpunkte hUnterstr. und Anführungszeichen m. Tinte:i »v e r t r i t t« man lediglich, und zwar bei der B e u r t e i l u n g von S a c h e n . Die »Dinge« sind aber etwas, womit man umgeht, zu dem man sich gerade in der »Erkenntnis« verschieden verhält. Die Skepsis argumentiert gegen die Möglichkeit der Erkenntnis eines »Gegenstandes«, der bei Eigenschaften beharrt, der auf sein »an sich« zurückgenommen werden kann, und der recht besehen doch nur das Resultat einer »Vo r s t e l l u n g« ist. Sein so und so »sein« ist leer und meint nichts anderes als das, was von ihm prädiziert werden kann. Die Dinge werden aber »erfahren«, oder »gesehen« usw., man orientiert sich probierend darüber. Im f l ü c h t i g e n Durchgang werden sie passiert und wechselweise in Griff genommen. | Nicht die Sinne, sondern die U m s t ä n d e täuschen. Namlich dann, wenn sie u n b e s e h e n sich einmischen können. Man über- bezw. unterschätzt Entfernungen, je nachdem ob es draußen diesig oder klar ist. Unsere aus der Erfahrung genommenen Maßstäbe versagen bei außergewöhnlichen Umständen. Und nicht nur die Umstände draußen, auch die Befangenheit durch meine Einstellung mischt sich störend ein. Z. B. übersehe ich mein Mikroskop, wenn es – umgekippt – nicht dem Schema entspricht, unter dem ich es suche. Daß ich mich täuschen l a s s e , bedeutet nur, daß mir durch Befangensein und Umstände eine Täuschung n a h e g e l e g t wird. |

14. hModalitäten des Empfindensi

Immer empfindet man »sich« – so hieß es. Und das bedeute keine Reflexion wie bei dem Bewußtsein. Die Modalitäten des Empfindens zeigen die Richtung, in die hierbei vorgegriffen wurde. Denn nicht das hEinf. m. Tinte:i eben war im Blick, daß das von mir Empfundene als Affektion auf mich bezogen sei. Vielmehr: ich empfinde »mich«, sofern ich z. B. beim Sehen mich »f r e i f i n d e f ü r …« oder als »b e a n s p r u c h t d u r c h …«, wenn ich ein Ohr habe für … Sofern dann was die »Welt« bewegt für mich bestimmend wird – sei es auch nur, daß daraufhin jeder meiner Schritte verhältnismäßig geschieht. Oder wenn ich mich erfahre in den Grenzen, die meiner Natur gerade dadurch gezogen sind, daß sie als Natur in ihrem »Vermögen« sich an anderen Naturen bestimmt. Man »f i n d e t« sich verschieden. (Sich »betreffen« hieß es oben, sofern man auf dem Wege war zu …). Die Transcendenz des Daseins legt sich darin auseinander. Das im einzelnen Empfundene differenziert sich erst aus h0066i diesen | Unterschieden. Und die Einheitlichkeit meines Wesens zeigt hS.i 55 sich in den »Verhältnissen«, in die es sich streckt. 256 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Modalitäten des Empfindens

Es ist z. B. bezeichnend, wie die Halluzinationen des Alkoholikers und die des Schizophrenen in verschiedenen Sinnessphären auftreten. Die trügerische A k t i v i t ä t des Alkoholikers läßt ihn alles Mögliche s e h e n . Die Halluzinationen des Schizophrenen liegen aber gerade n i c h t im Bereich des Gesichts, sondern in dem des Gehörs und des Haptischen. Denn während die Dinge mit dem Auge aufgesucht und betrachtet, i m A b s t a n d zu mir gesehen werden, wird das Ohr seinerseits erreicht durch den Ton, der den Abstand zu mir schon überwunden hat, wenn ich ihn höre. Aus seiner vitalen Gebundenheit wird der Kranke ebenso zu Gehörseinbildungen gedrängt, wie er sich seinen Verfolgern schon ausgeliefert fühlt. Dieselbe Grundstörung drückt sich aber darin aus, daß ihm das Aussehen der Dinge in der Richtung auf Fremdheit verwandelt ist. Denn das bedeutet, daß er sich die Dinge nicht freigeben kann auf e r k a n n t e Möglichkeiten. Er kann nicht frei hineingehen in die Dinge, die ihm unheimlich alles Mögliche zu hUnterstr. m. Tinte:i künden, bezw. ein Geheimnis zu bergen scheinen. Was hier an der Krankheit verändert bezw. durch die Alkoholintoxikation gestört wird, ist nicht einfach der Kontakt mit den Dingen, sondern als dessen »Grund« die »Haltung« des Menschen zur Welt. Gerade hieraufhin zeigt die »Entfremdung der Wahrnehmungswelt« VI einen Ausfall an. Der Mensch findet sich hier offen für eine Wirklichkeit, die sich in auf sie hin transparenten Zügen lediglich k ü n d e n , die sich aber nicht z e i g e n kann als das, was sie ist. Denn ich muß in Freiheit zu den Dingen stehen, wenn sie mir »selbst«, d. i. als das, was sie »in Wirklichkeit« sind, e r s c h e i n e n sollen. Wenn sie in ihrem Was erkannt, in ihrer sachlichen Bedeutung verstanden werden sollen. Wenn ich unter freigewählten Gesichtspunkten ihnen Seiten abgewinnen, wenn ich sie auf etwas hin ansehen will. In dem sich mir K ü n d e n d e n der Wirklichkeit ist aber eine H ö r i g k e i t meinerseits vorausgesetzt. Im Rausch ist man enthoben der Überspannung eines sich zeitigenden Kontextes der Wirklichkeit. In eins damit aber, daß man sich hier suspendiert davon findet, das Gesehene untereinander ins Reine zu bringen, wandeln sich auch die Dinge hinsichtlich dessen, was als Eigenschaft, | Zusammenhang usw. genommen wird. Der Berauschte h0067i findet sich in einer spezifischen, aber nicht hinwegdiskutierbaren Wirk- hS.i 55a lichkeit. Und die Jeweiligkeit seiner Bilder usw. steht gegenüber den Ansprüchen, die die Welt als Gegenwurf sich darin auslegender Existenz stellt. Im Rausch geschieht ein Einbruch, eine Störung in Bezug auf die Welt in ihrer sachlichen Richtigkeit. Was ebenso aber auch dem 257 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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Berauschten bei der Schilderung der Zuständlichkeit, in die er absinkt, dazwischen kommt. Die Sachlichkeit, die zur Mitteilung gehört, zwingt notwendig dann zu Überdeutungen. In dem unsicher Gleichnishaften seiner Worte kommt zum Ausdruck, wie er darum weiß, daß er sich »verhebt«. Auch der Kranke beruft sich auf sinnliche Gewißheit, wenn er an der Wirklichkeit seiner Eindrücke nicht zweifeln kann. Keine h0068i Überlegung und kein Vorsatz können helfen, hm. Tinte:i um | von den hS.i 56 Eindrücken loszukommen. Sofern aber der Kranke unsere Welt nicht einfach vergessen hat, steht er unter dem Zwang, sein Empfinden zu rechtfertigen, zu »objektivieren« und nachträglich zu stützen. Die sinnliche Empfindung steht vor allem Zweifel und ist ebensowenig widerlegbar als sie begründbar ist. Nur im Empfinden versichert man sich aber der Wirklichkeit. Die etwas anderes ist als »Objektivität«. Denn a l s e t w a s e r k a n n t ist etwas »objektiv« (so). Diese Privatgültigkeit +) 49 des Empfindens bedeutet darum keine Diskreditierung im Sinne »bloßer« Subjektivität, d. i. eines Mangels an Objektivität. Wie etwa bei Descartes die »Empfindung«, nämlich das darin Empfundene und als gegenständlich Vermeinte – nur als inbezug auf das Subjekt bestehend angesetzt wird. In eins mit der »Wirklichkeit« empfindet man »sich« in der Jeweiligkeit seines Standes – während sich mein (Selbst-)Bewußtsein auf mich »selbst«, d. i. in meinem S e l b s t s e i n bezieht.

15. hStimmung und Ideenfluchti Unter einem Eindruck stehen bedeutet: in seiner vitalen Freiheit gebunden und gelöst, also doch irgendwie »gestimmt« zu werden in seinem In- und Mitsein bei der Welt. Entsprechend wie sich der Raum als das Wohinein meiner Bewegung modifiziert, wandelt sich überhaupt die Welt in den Modalitäten solcher Gestimmtheit. Einem, der in sich selbst unsicher wird, wenn ihm weggeschlagen wurde, woran er glaubte, »schwankt der Boden« unter den Füßen. Als »Stimmung« zeigt sich h0069i die Wirkung eines Affektes auf die Haltung. | hS.i 57 Von Augustin wird die affectio animi als eine distentio bestimmt. Z. B. tristitia contractio est: das Herz krampft sich mir zusammen bei 49 hUnten:i Kant, Urteilskraft, 8. [I. Kant, Kritik der Urteilskraft. Hrsg. von K. Vorländer. Meiner, Hamburg 1974, S. 42.]

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Stimmung und Ideenflucht

etwas. +) 50 Man ist traurig über die U n w i e d e r b r i n g l i c h k e i t und nicht nur über den Verlust von etwas. Trauer glaubt sich so an eine Vergangenheit gewiesen, die endgültig ist. Taub für jeden Zuspruch, sperrt sie sich dagegen einzutreten in eine Gegenwart, die sie abbringen zu wollen scheint von dem, was sie nur noch in sich selbst finden kann; Trauer will allein bleiben. – Laetitia est diffusio: Freude ist überschäumend, man stahlt sie aus, sie hat etwas Mitreißendes, will sich mitteilen. Das Erreichte freut, das einen wieder f r e i g i b t für … Freude läßt hochgemut weiterschreiten. – Timor fuga est: Furcht vor … bedeutet: nicht standhalten angesichts dessen, was hierbei g e w ä r t i g t wird. Sich vor etwas fürchten kann nur ein Wesen, das etwas vor-sieht bezw. geradezu etwas »vor sich sieht«. Also eines, das sich darin »erstreckt«. Die Affektionen sind nicht Zuständlichkeiten des animus, sondern Weisen, in denen er »i s t«, sich erstreckt zwischen »die Dinge«, – sofern er ihnen nachhängt, sie vorsieht, sich ihnen öffnet usw. Heidegger spricht von Stimmungen als den »ursprünglichsten Weisen zu sein«. VII Er nennt als Beispiel Langeweile, Unlustigkeit, Lust zu etwas. Nicht in Stimmung bezw. Verstimmt-sein heißt: zu nichts aufgelegt sein – was zumeist eine bestimmte Anfälligkeit, Gereiztheit, Unberechenbarkeit bedeutet: launisch unkontrollierten Einfällen zu folgen. Solche Stimmungen mögen einen Anlaß haben, aber der »erklärt« sie nicht. Ein o n t o l o g i s c h e r »Grund« entdeckt sich gerade in ihrer empirischen Grundlosigkeit. Die Last des Daseins ist eigentlich das, was in der Stimmung zum Vorschein kommt. D. i. dies, daß ich etwas, dessen ich nicht mächtig bin, zu sein habe: der Verstimmte kann nichts »mit sich anfangen«. Niedergeschlagenheit bedeutet ein Verzagen vor dem »Sinn« meiner Zukunft. | Stimmungen sind ansteckend; man wird h0070i mitgerissen durch die ausgelassene Stimmung der anderen. Trauer legt hS.i 57a sich auf einen. Die Stimmung ist – wie die Angst – etwas, was »aus mir« in dem Sinn kommt, daß sie nicht eine Wirkung auf »mich« in meiner N a t u r ist. Daß sich ebenso die Trübe eines Regentages mir auf die Seele legen kann, wie umgekehrt auch je nach meiner Stimmung alles anders aussieht, zeigt, wie der Grund der Stimmung in der Transcen50 hUnten:i +) Als »bohrend« wird aber ein Schmerz empfunden, sofern das darin Erfaßte an etwas als an derselben Stelle verweilend Nicht-nachlassendes hAnführungszeichen und Unterstr. m. Tinte:i »denken läßt«. Wie auch ein Schmerz im Bauch, der als schneidend empfunden wird, nicht mit der Wirkung des Messers v e r g l i c h e n wird, bezw. nur insofern daran erinnert, als dieser Wirkung des Messers das Schneidende wiederum »a n g e s e h e n« wird.

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denz des Daseins liegt. Ich muß mich zurücknehmen aus den Gewißheiten feststellbarer und als dies und jenes bestimmbarer Wirklichkeit, um mich dem hinzugeben, was unnennbar im Gegenwärtigen als Stimmung liegt. Auch über einem Bilde z. B. Und durch Melodien wird man gestimmt. Beidemale – was bedeutet die »Wirklichkeit« bei Farben und Tönen? Es ist, als ob sich die Wirklichkeit überhaupt hierbei auch mit der Greifbarkeit entzöge. Wie sich auch bei dem Abend und bei dem dämmernden Morgen, der mir die Dinge entzieht bezw. noch nicht freigegeben hat, gerade ein Stimmungshaftes aufdrängt – im Unterscheid zum ungestimmten Tag, dessen Helligkeit gerade den Blick den Dingen verbunden bleiben läßt. In der Stimmung drückt sich das Unzuhause des Menschen in der W e l t aus. Bezw. dies, daß der Boden der Wirklichkeit noch nicht ein standhaltender »Grund« unseres Daseins ist. Stimmungen sind die nachdrücklichste Wirklichkeit. In Stimmung kann man einfach »gebracht« werden. Überredung sucht umzustimmen. Und das bedeutet gerade, daß jemand hierbei zu etwas gebracht wird, was er nicht von sich aus getan hätte. Neigungen und Verlangen – das bin ich »selbst«: meine Natur liegt darin. Gegen Stimmungen möchte ich mich aber wohl schon als solche wehren. Sie verhindern es, mich einzuschalten bezw. durchzusetzen. Ich bin abhängig von meinen Stimmungen. Ich kann sie nur zu verscheuchen suchen, aber nicht abfangen wie einen Affekt. Es sind z. B. auch »Stimmungen«: manisch oder depressiv zu sein. Was »ist« z. B. die manische Ideenflucht? Sie soll das Assoziieren veranschaulichen. Nur Ä h n l i c h k e i t vermittelt hier aber. Die w i r als »gesucht« empfinden. Aber nicht der Manische, dem diese Beziehungen bei der Hand sind. Es ist wie bei dem Witz z. B.: man zeigt Geist darin, Entferntes in Parallele zu bringen. (Als läppisch und albern gelten aber Vergleiche, die »d a n e b e n« liegen, d. i. die ohne Pointe sind, die desh0071i halb schal wirken.) | »Ideenf l u c h t«: der Manische hält nicht die Front. hS.i 58 Bleuler spricht hier von einem Wegfall der Zielvorstellungen. Womit wohl die Großzügigkeit gemeint ist, mit der hier die Dinge »übersehen« werden. Der Normale wirkt schwerfällig gegenüber dem Manischen. Sofern er nämlich »trägt« an dem Gewicht des verantwortend »Aufgenommenen«. Der Manische verhebt sich aber an den Dingen. Er sieht gar nicht die Schwierigkeiten. Sein Raum ist schattenlos, weil ohne Relief. Ihm fehlt das Lichte erschlossener Bedeutung. Gleichmäßig heitere Helle verhindert Perspektiven. Nicht eigentlich, als ob der Manische die Dinge leichter nimmt als sie sind. Aber unter der Hand wechselt er 260 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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heraus aus den Dingen, kommt abseits davon. Der Manische lotet nicht. Ihm fehlt die Mitte einer Situation. Weshalb es ihm auch gar nicht in den Sinn kommt, daran zu zweifeln, die Mitwelt sympathisiere mit ihm. Ideenflucht zeigt sich vorzüglich in der Rede. Denn das Wort i s t schon flüchtig, seine Bindung Freigabe. Das Kurzschlüssige +) 51 der Gedanken des Manischen fällt auf.

16. hAffektei Als Wirklichkeit gilt uns die »Welt der Tatsachen«. Nicht-hinweg-diskutiert-werden-zu-können bedeutet dann nicht, daß eine Diskussion sich daran verheben würde, sondern daß sie mit den hAnführungszeichen m. Tinte:i »g e g e b e n e n Tatsachen« zu rechnen hat. »Natur« ist uns etwas, wogegen wir nichts wollen können, das es deshalb »richtig einzusetzen« gilt. Usw. Wenn – allgemein – was uns bewegt, die wesentliche Doppeldeutigkeit hat: einmal | das auf uns Wirkende, ebenso aber h0072i auch der insofern – nämlich als »Aufnahme« des Eindrucks – in uns hS.i 59 rege werdende Gedanke zu sein, in dem der Eindruck gebrochen, gefaßt und ausgelegt wird, so daß man frei sich vorhalten kann, was man empfindet – so bekommt das hier die Wendung zu einer »S a c h l i c h k e i t« unserer Affekte. Ihre Modalität ist eine andere als die, die bei den Naturvölkern die Ansicht der Welt bestimmt. Unsere Furcht ist eine sachliche, nämlich begründete Furcht. Bei und um etwas, angesichts bestimmter Umstände, fürchtet man hier – was so viel bedeutet wie: mit Möglichkeiten rechnen, die unserem Beginnen entgegen stehen. Man »besorgt« hier, daß (nicht) … Sorgfältig denkt man hier an Eventualitäten, sucht ihnen zuvorzukommen. Und diese Furcht ist ebenso wie die Sorge etwas, was man mit dem anderen teilen kann. Man spricht mit ihm darüber. So hAnführungszeichen m. Tinte:i »behauptet« man auch einen Verdacht, zieht zu dessen Begründung umsichtig alles Mögliche heran, beschäftigt sich sachlich damit, ist überzeugt davon, überredet den anderen dazu. Meine Sorgen sind geradezu meine Angelegenheiten. Sie erledigen sich wie diese. Furcht und Sorge können mir vom anderen abgenommen werden. hKorr. m. Tinte:i Der Andere »versteht« mich in meiner Furchth,i sofern er sie »in meiner 51 hUnten:i Etwas anderes ist das Abspältige des Schizophrenen, der sich nicht einschaltet. Die kurzen Verbindungen des Manischen, sein »ohne Umwege«, bedeutet anderes.

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Lage b e g r e i f l i c h« findet. Furcht ist hier ein Verhalten, das sachlich vernünftig, am Platze ist. Es besteht geradezu irgendwo – nämlich in einer hKorr. m. Tinte:i darin gekennzeichneten Situation – d i e Furcht, daß … Andererseits: Furcht ist hier immer jemandes Furcht, wie auch eine Vermutung jemandes Vermutung insofern ist, als sie zu rechtfertigen und zu verantworten ist. Die Furcht des Einen und die Furcht des Anderen können wie Meinungen über eine Sache auseinander gehen. Gefahren werden in ihrer T a t s ä c h l i c h k e i t erkannt. Gefahr »ist« das Woraufhin des fürchtend Sich-verhaltens. Wir betonen hier die Sachlichkeit unserer Affekte, während früher immer das Affektive des Erkennens gezeigt wurde, wenn es sich darstellte als ein Sich-sorgenum, Sich-kümmern-um usw. hGestr. m. Tinte:i Sorgen und Furcht »erleh0073i digen« sich. | hS.i 60 hKorr. m. Tinte:i Sorge und Furcht lasten auf mir, hemmen mich; der ängstlich Besorgte hält auch das Unmöglichste für möglich. hKorr. m. Tinte:i Sie wirken auf mich, sofern ich mich in meiner Behinderung durch die Gefahr erlebe. Sie hemmen und lähmen mich. Und die spezifische Unsicherheit ergibt sich dabei daraus, daß die Gefahr auch ausbleiben oder vorübergehen kann. Die aristotelische ταραχη bedeutet aber, daß man unter dem Eindruck von etwas Fürchterlichem stehend, seinerseits nichts als Gefahr frei ins Auge fassen kann. Man springt von Möglichkeit zu Möglichkeit. hKorr. m. Tinte:i Etwas wird an seiner Stelle im Felde der Wirklichkeit als Gefahr eingeschätzt und verstanden. Zu dieser sachlichen Furcht gehört die Weite eines Raumes, aus dem her man sich in seinen Möglichkeiten als nah und fern bestimmend für Zustoß und Flucht ausdeutet. ταραχη bedeutet aber Unschlüssigkeit, Kopf- und Fassungslosigkeit. Sofern man unter einem Eindruck »stehen bleibt«, wirkt die darin erfaßte Fürchterlichkeit ungebrochen. Sie bedeutet dann nicht nur einen Einbruch in Sicherheiten wie tatsächliche Gefahren. Nicht dies, daß man immer von Zufällen bedroht, daß die Welt immer gefährlich ist. hAnführungszeichen u. Korrektur m. Tinte:i »Ent-setzen« drückt vielmehr einen Einbruch in die Welt auseinandersetzbarer Tatsächlichkeit überhaupt aus. Man kann sich nicht fassen, weil man den Boden verloren hat. Es gibt hier nicht das »freie« Verhältnis, in dem man doch auch zu Gefahren noch steht. Der Eindruck benimmt einem die Möglichkeit, sich aus der Welt in ihrer sachlichen Ausgelegtheit zu verstehen. Und statt, daß es hier »meine« Furcht ist, auf die ich von mir aus in 262 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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meiner Lage als auf einen Gedanken komme, sind es hier Furcht und Grauen »schlechthin«, was mich packt und ergreift. Im Eindruck kündet sich eine Wirklichkeit, die unplacierbar ist. Wo nichts als Gefahr gedreht oder gewendet, wo man es nicht bei einer Gefahr b e wenden, etwas als Gefahr »liegen lassen« kann. Existenz wird hier aus ihrere Freiheit, sich Raum zu schaffen und besorgend auszubreiten, zurückgestoßen; der Eindruck »vereinzelt« mich hier. So findet sich auch der Deprimierte Eindrücken ausgeliefert. Sofern er sich | nicht mehr frei für die Zukunft findet, hat er Halt und Maß h0074i verloren. Unsicher neigt er zur Übersteigerung. Alles Mögliche will hS.i 61 ihm auffällig erscheinen. Unheimlich scheint es ihm etwas zu bedeuten zu geben aus einer Welt, die er dahinter zu erfassen ahnt. Gesichtshaft schießt das Verschiedenste hier zusammen. Gerade die sachliche Gleichgültigkeit von Dingen will ihm unheimlich erscheinen. Ähnlich wie auch das Gesicht eines Menschen durch das, was er sagt, durch seine Gebärden und durch seine Mimik hindurch an Zügen erfaßt wird, die sachlich bedeutungslos sein können. Sie werden erfaßt als diese bestimmten Züge von einer Mitte aus, die selbst unsagbar ist. Der Eindruck konkretisiert sich dann allererst in dem, was er in mir erweckt. Ähnlich wie ein Affekt in seiner Gebärde ausschwingt, gleichsam stekken bleibt in sich selber, wenn er sich darein nicht fortsetzen kann, so ist auch hier der Ausdruck das Ausgedrückte selbst: das, wovon einer ergriffen wird, hat die Doppeldeutigkeit einmal »dies alles hier« unbestimmt zu meinen, aber ebenso auch das, was in ihm als Gesicht erweckt wird dabei. Im Unverständlichen, nämlich im sachlich nicht Verstehbaren dieser Gesichte kommt zum Vorschein die Andersartigkeit der Wirklichkeit, die hier ebenso zum Grunde solchen Ausdrucks g e n o m m e n wie sie auch als Grund g e l e g t wird. Die »Welt« der Naturvölker ist gerade von hier aus zu begreifen. Denn Geister und Dämonen werden hier nicht »h i n z u – hEinf. m. Tinte:i bezw. freizügig ausg e d a c h t«, – etwa um damit etwas zu erklären. hKorr. m. Tinte:i Denn daß sie tatsächlich nicht zu sehen und zu erkennen sind, diskreditiert unsichere Wirklichkeit. Vielmehr: sich sinnbildend artikuliert sich hier der Mensch in seinem Ergriffensein. +) 52 Der 52 hUnten:i +) x Im Denken der höher entwickelten Zentral- und Südasiatischen Kulturen stellt das Wissen, daß es keine Geister ohne Dämonen gibt, mit die höchste Stufe des Erkennens überhaupt dar. Diese wird daher auch nur von Wenigen erreicht. Und man sagt hier, daß Geister und Dämonen zwar tatsächlich, aber nur für den bestehen, der sie

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Mensch »hat« sich hier als hUnterstr. m. Tinte:i hörig hEinf. m. Rot- und

h0075i Bleist.: x (hinzugefügt siehe »Maske« S. 14) i VIII dem, was ihm | als Sorge hS.i 62 gefangen nimmt und in Besitz hält oder ihn als Angst »beschleicht«. Er

wird »b e s e s s e n« von den Affekten. +) 53 hM. Rotst.: xi 54 So ist es hier auch der Haß z. B., was den Menschen als Affekt gefangen nimmt. Sicherlich – auch wir lassen wohl jemand von Haß »wie besessen« sein. Aber das bedeutet dann etwas anderes: nämlich dies, daß jemand aus »seinem« Haß, d. i. a u s s i c h nicht herausfindet. Erst aus der Verstrikkung des hKorr. m. Tinte:i Sinnens und Denkens entsteht aber die »Leidenschaft«. ++) 55

17. hHaßi Man stellt den H a ß z u Antipathie, Verachtung usw., und seine Stelle in dieser Reihe scheint ihm durch den Gegensatz zu der Liebe bestimmt zu sein. Die Richtung, und daß er Gedanke ist, unterscheidet aber den Haß von der A n t i p a t h i e . Sympathisch ist ein Angetan-werden-von … Der Eindruck, den einer auf mich macht, wie einer auf mich wirkt, ist erlebt, und weiter, daß im tiefsten Grunde Geister oder Dämonen und Affekte oder Stimmungen dasselbe sind. Daher denn auch der wunsch- und affektfreie Heilige keine Dämonen mehr erlebt. 53 hUnten:i +) Sicherlich – hEinf. m. Tinte:i auch die »Ansicht« der Welt ist bei den hUnterstr. m. Rotst.:i Naturvölkern eine andere. Die in ihren Begiffen, dem Totemismus z. B.h,i zum Vorschein kommende »Logik« ist eine je andere und spezifische. Darin liegt aber nichts Besonderes. Der Ausdruck »prälogisch« von Lévy-Brühl bezieht sich – da sinnliche Gewißheit immer prälogisch ist – recht besehen auf die s p e z i f i s c h e Wirklichkeit eines hUnterstr. m. Tinte:i spezifischen Empfindens. 54 hUnten, am Bl. geklebt:i x Denn während unsere Furcht und unser Haß immer ein Denken, also immer je eines Furcht bezw. je eines Haß, nämlich eine Gesinnung ist, man sich »seiner selbst« gerade darin bewußt werden kann, ist es hier Furcht und Haß s c h l e c h t h i n , was einen packt. Und während wir etwas fürchten, was zu seiner Zeit, also im Rahmen einer hierbei erschlossenen Wirklichkeit eintritt, was insofern als Gefahr erkannt und praktisch vorgesehen wird, findet sich hier der Mensch ausgeliefert dem überraschend Hereinbrechenden, von dem er in Besitz genommen wird. 55 hUnten:i ++) »Leidenschaft setzt immer eine Maxime des Subjekts voraus, nach einem von der Neigung ihm vorgeschriebenen, Zwecke zu handeln. Sie ist also jederzeit mit der Vernunft desselben verbunden und bloß dem Tiere kann man keine Leidenschaften beilegen; so wenig wie reinen Vernunftwesen.« (Kant Anthropologie, S. 227) [I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Stuttgart 1983, S. 210–211 [265– 266].]

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»sympathisch«. Und Antipathie bedeutet ein Abgestoßen-werden. Sympathie und Antipathie sind Weisen des Auf-einander-gestimmtseins. Antipathie gegen jemand läßt ihn meiden. Man hält sich zurück. Schon der Gedanke an den Anderen irritiert. Man wird einer spezifischen Schutzlosigkeit inne gegenüber »solchen« Menschen. Auch im Gespräch sucht man auszuweichen, wenn die Rede auf ihn kommt. Im Haß r i c h t e t m a n s i c h aber gerade auf den anderen. Man verfolgt ihn geradezu in Gedanken und kann nicht loskommen. Man ist fixiert durch den anderen. Haß ist verkrampfte Unfreiheit. +++) 56 Antipathie kann in Haß umschlagen. Nämlich dann, wenn man durch Umstände und Lebens-|verhältnisse gezwungen ist, in der Nähe des An- h0076i dern auszuhalten. Notgedrungen beschäftigt man sich dann mit ihm. hS.i 63 Als Gedanke wird hier die Antipathie aufgenommen; Haß »verantwortet« sie. Man sucht es sich zu beweisen, daß der andere hassens-w e r t ist; hEinf. m. Tinte, oben am Bl. und zwischen den Zeilen:i Haß genießt und durchkostet die Dummheit, die ihn bestätigt. Denn Haß will gerecht sein. Haß steigert sich so. Er ist eine Leidenschaft, er verzehrt, man gibt sich aus darin. Sofern er nämlich alles – oft wahnhaft – in seinen Kreis zu zwingen sucht. Die größte Kraft sammelt sich darin. Antipathie sperrt Zugänge, Haß verblendet aber geradezu. Antipathie hindert einen an etwas, man sucht sie zu überwinden, oder wenigstens sich darüber hinwegzusetzen. Sicherlich – man »kann nichts gegen seine Natur«. Das bedeutet hier aber lediglich, daß die Antipathie eine Affektion ist. Haß ist aber eine G e s i n n u n g . Jemandes Haß trägt im Unterschied zu der Antipathie, die jemandes Natur charakterisiert, das Gepräge seiner Persönlichkeit. Sie ist geradezu am Werke darin. »Auch im Hasse gibt es Eifersucht; wir wollen unseren Feind für uns alleine haben.« (Nietzsche, XII. 317) IX Im Haß hat man sich des freien Verhältnisses zu etwas begeben, das sich gerade in der hUnterstr. m. Tinte:i Verachtung z. B. betont. Mit Verachtung straft man einen. In der Verachtung wird – im Unterschied zur Achtung, die ebenso wie sie ein moralisches Gefühl ist – das Urteil über einen gesprochen. Achtung gebührt aber einfach als Haltung. Verachtung dagegen bedarf der Begründung und Rechtfertigung. Nämlich +++) »Der Affekt tut einen augenblicklichen Abbruch an der Freiheit und der Herrschaft über sich selbst. Die Leidenschaft gibt sie auf und findet ihre Lust und Befriedigung am Sklavensinn.« (Kant, l. c., S. 228) [I. Kant, op. cit., S. 212 [267].]

56

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dies, daß man den anderen n i c h t m e h r achten kann. Es gibt einen Anspruch auf Achtung, den man dem Anderen hier nicht mehr zuerkennt. Nichtachtung heißt: es f e h l e n l a s s e n an Achtung. Nämlich in Haltung und Einstellung. V e r achtung ist aber mehr. Denn sie t r i f f t ihren Gegenstand. »Haß und Verachtung schließen einander aus.« (Schopenhauer, Parerga II. 626) X hEinf. m. Tinte:i Denn während sich Verachtung über den anderen hinwegsetzt, von ihm abwendet und ihn hierin gerade vorzüglich trifft, sofern er hierin erledigt wird und die Restitution jedes Verhältnisses zu ihm abgeschnitten ist, – verbeißt sich gerade der Haß in seinen Gegenstand. Und gegenüber der Verachtung, die schlechthin i h n trifft, kann alles Mögliche gehaßt werden: nicht nur Menschen, – auch so etwas wie Schulmeister, Idealismus, Umständh0077i | lichkeit, eine bestimmte Art von Zwang usw. Man haßt immer »diese hS.i 64 Art …«. Also zum Teil Dinge, zu denen der, an dem sie zum Vorschein kommen, gar nichts eigentlich kann. Die durch die Umstände kommen. Man kann s i c h s e l b s t hassen: gerade die Stärke eines Hasses ist Symptom, daß man hier etwas in sich selbst, aber a m a n d e r e n haßt. Man haßt z. B. auch »die Menschen«; und gerade dieser unbestimmte Plural ist hier wesentlich. (Kant, K. d. U. 127) XI Das Verhältnis des Sohnes zum Vater, die Stellung des Sklaven, kann der gegebene Boden sein, um Haß entstehen zu lassen. Es gibt Rassen- und Klassenhaß. Goethe »haßte« Experimente. Denn dies ist das Besondere »u n s e r e s« Hasses: sich zu entwickeln und auszubauen und begründend festzulegen. Er sucht Ansatzstellen, an denen er nachbohrend verweilt. Haß »sieht« weniger als daß er sich ein- und nachdrängend die Dinge verzerrt. Haß ist maßlos. Das Hängenbleiben-an … läßt ihn oft kleinlich erscheinen. Haß will töten, um zu vernichten. Dieses Pathos unterscheidet den Haß von Antipathie und Ekel, denen lediglich an der Entfernung ihres Gegenstandes gelegen ist. Und nicht dies wünscht der Hassende, daß es dem anderen schlecht geht. Wie Neid und hUnterstr. m. Rotst.:i Rache hEinf. m. Rotst.:xi 57 solche Genugtuung suchen. Bloßstellung durch Lä57 hUnten am Bl. geklebt, m. Rotst.: xi Es gibt keine »gerechte« Rache. Der andere wird lediglich Opfer. Man rächt »sich« aber a n jemand – wie bei der Blutrache jemand aus meiner an der anderen Sippe gerächt, ihm Sühne verschafft wird. Und daß man – statt den andern wegen der Billigkeit seines Triumphes zu verachten – es ihm doch noch zeigen will, daß …h,i daß man ihn also darin doch irgendwie wieder ernst nimmt, das ist das »Kleine« bei der Rache. Dies, daß man glaubt, s i c h hier schadlos halten zu müssen. Man rächt sich z. B. für Beleidigungen. Denn diese können nicht vergolten werden. Aus einer bestimmten Richtung und Art der »Empfindlichkeit« entsteht allererst die

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cherlichkeit will, auf Nichtung »sinnt« der Haß. Die gedankenlose Unbekümmertheit, mit der einer sich breit macht, als ob er dazu gehörte, plumpe Vertraulichkeit, die Selbstsicherheit der Menschen, in nichts begründeter Optimismus, pharisäerhafter Cant, sollen in ihre Schranken gewiesen werden. Im Haß b e f e i n d e t man etwas. Und »Feind« ist nicht Gegner. Man mißt sich nicht mit dem Anderen. Solche Auseinandersetzung ist ja gerade unmöglich gemacht durch die Sicherheit, durch die sich aller Fraglichkeit überhoben wähnende Art des Anderen: daraufhin haßt man ihn doch gerade. Vorzüglich Nicht-Ebenbürtiges wird Gegenstand des Hasses. Also das, dem gegenüber man sich gleichsam verheben würde, wollte man sich kämpfend dagegen einsetzen. h0078i Dummheit ist nicht totzukriegen. | Im Haß zeigt sich die Geistigkeit eines Menschen. Das, wogegen hS.i 65 einer »empfindlich« ist. Sein Charakter kann aufgeschlossen werden darin. Die sachliche Gegründetheit des Hasses verbietet es aber, ihn als das negative Gegenstück zur Liebe aufzufassen. Denn geliebt wird schlechthin der A n d e r e . Liebe lehrt sehen. Ihre Blindheit gegen … heißt: Es für nichts achten. hEinf. m. Tinte:i Liebe ist blind, sofern ihre Unbedingtheit sachliche Einwände übersehen läßt. Haß »ent-deckt« aber nicht, sondern erf i n d e t was man zu seiner Begründung s u c h t . Haß hat die verschiedensten Motive und charakterisiert nicht als solcher schon den Menschen. hEinf. und Korr. m. Tinte:i Aber auch Ohnmacht z. B. kann Haß entstehen lassen. Wenn man nicht herankann an den Anderen. Als Haß staut sich hEinf. m. Tinte:i dann das Verlangen, sich rächend schadlos halten zu können; der Haß wartet auf seine Stunde. hEinf. m. Tinte und Fortsetz. am oberen Blattrand:i Er verhindert es zu erlahmen in der Gegnerschaft. Enttäuschte Liebe schlägt – gerade je tiefer man sich dem andern verbunden hatte, – in Haß um; Haß beweist sich die Notwendigkeit einer Lösung. »Es gibt in der Welt keinen größeren Haß als den der Unwissenheit gegen das Wissen.« (Galilei) Was Möglichkeit einer – meist gar nicht gewollten – Beleidigung. Es ist jemandes Stellung, die durch Unterordnung gegebene Unsicherheit, was ihm die Freiheit zu einer entsprechenden Antwort nimmt. Aus Ohnmacht zur V e r g e l t u n g entsteht hier der Trieb, sich zu r ä c h e n , d. i. sich irgendwie einen Ersatz für diese mir vorenthaltene Möglichkeit und dadurch Genugtuung zu verschaffen. Rachsüchtig ist einer, der Erlittenes nicht vergessen kann. Der dabei verweilt, als ob es nicht längst vorbei wäre. Der sein Vorbeisein nicht einfach als geschehen nehmen möchte, sondern der es von einem Ausgleich abhängig machen will. Als ob »e r« zu »seiner« Wiederherstellung aufgerufen wäre. Gemessen an ihrer Ambition erscheint Rachsucht als der Wunsch einer in sich verfangenen »kleinen« Seele.

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ist es, hinsichtlich dessen Unwissenheit sich hier nicht vergleichen kann mit dem Wissen, worum dieses geneidet wird? Der Hassende will nicht w a h r h a b e n das, neben dem er nicht bestehen kann. Zu dessen Vergleich mit sich er aber auch immer wieder herausgefordert wird. Eine ihr selbst unbewußte Schwäche treibt zu diesem Vergleich.

18. hAngsti Furchtsamkeit bedeutet eine bestimmte Anfälligkeit; es gibt ängstliche »Naturen«. Haß c h a r a k t e r i s i e r t aber einen Menschen. Mit seinem Haß kann man nicht so fertig werden wie mit der Furcht, die mich anwandelt, – der man Haltung entgegensetzen, von der man sich sachlich distanzieren kann. Denn i c h s e l b s t bin ja doch am Werke, wenn ich hassend »s i n n e« auf … A n g s t aber ist etwas, was aus mir selbst kommt. So zwar, daß sie mir a u f s ä s s i g ist. Die Verfassung des Daseins ist es, woraus sie entspringt. Angst ist selbst kein Affekt. Sie bricht nur heraus in Affekten, wie sie auch als Motor z. B. hinter den Zwangsvorstellungen steht. Das Tier kennt keine Angst. Nur der Mensch, für den das: nicht von sich aus h0079i das s e i n können, was er doch gerade »selbst« zu sein hat – | eine spezihS.i 66 fische Nichtmächtigkeit bedeutet.

a.

hPlatzangsti

Z. B. die Platzangst: man findet sich hier ausgeliefert an die Leere beim Stehen auf weiten Freitreppen, beim Gehen durch Straßenfluchten, deren geschlossene Häuserreihen dem Blick keinen Halt geben. Schwindel ergreift einen. Wie etwa Strindberg beim Überschreiten der Place de la Concorde sich an den Laternenpfahl klammerte, um sich gegen sich selbst zu sichern, sofern er einer hAnführungszeichen m. Tinte:i »Versuchung« hm. Rotst.: xi 58 nichts eigentlich aus sich selbst entgegenzustellen hatte. Das Versucherische des Leeren hat nicht das Verlokkende des Unbekannten. Schwindel ist viel kernnäher angelegt in der Verfassung des Menschen. In j e d e m ist Angst auf der Lauer und auf 58 hUnten, m. Rotst.: xi +) Die »Versuchung«, der der Frevler erliegt, ist aber die »natürliche« Versuchung, hEinf. m. Tinte:i das Gelüsten des Übermutes.

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dem Sprung. Vom Schwindel winnt man übermannt. Es ist nicht irgendwelche Furcht, was einen hier anwandelt, was als unbegründet auszureden wäre. Dem Platzangstkranken scheint kein Weg mehr ein hAnführungszeichen m. Tinte:i »Hier« mit dem »Dort« zu verbinden. Er findet keinen Stand mehr im Raum. Und während man der Verlockung des Unbekannten folgend verwegen sich vorwagt, nämlich in Schritten, bedeutet hier das der-Versuchung-Erliegen ein Sich-f a l l e n -lassen. Die Gefährdung liegt hier in einem selbst. Der Platzangstkranke schreckt zurück vor der Weite des sich selbst ins Unendliche gleichsam fliehenden Raumes. Wovon er beeindruckt wird, ist nicht der in seiner Endlosigkeit doch »gerichtete« Raum unseres Daseins, in dem man Orte bestimmen und sich irgendwo darin aufhalten kann. Beides, – das Versuchende des Abgründigen und das Verlockende des Unbekannten, ist von dem Eindruck, den mir etwas macht, darin unterschieden, daß von mir aus hier etwas dem Abgründigen entgegenkommt. In der Angst wird lebendig, was einem i n e i n e m s e l b s t zunächst verborgen ist. Man kann der Versuchung als einer A n f e c h t u n g nichts entgegensetzen. Das Seiende im Ganzen scheint wegzurücken. Man ist verloren darin und daran. Und man entgleitet sich hier selbst mit, sofern man – in sich selbst keinen Halt findend – sich an den Arm des Begleiters klammert. – Wovor einem schwindelt, ist eigentlich »nichts«. Denn das Geländer schützt | mich ja. Objektiv ist keine Gefahr da. Man ver- h0080i meidet den Blick in die Tiefe, den aufzunehmen man doch immer wie- hS.i 67 der versucht wird. Auch hier: nicht die Tiefe als solche macht Schwindel. Er fehlt ja z. B. im Flugzeug. Aber dies, daß man beim die Wand entlang Hinuntersehen keinen Halt finden kann, will einen fallen lassen. Man findet sich hier als seiner nicht mächtig, sofern man nicht aus sich selbst hEinf. m. Tinte:i heraus stehen kann. Die Leere des Raumes wird transparent auf die Welt hin, der man a u s g e l i e f e r t ist. Dasein ängstet sich um sich selbst als Dasein. Und daß es eigentlich »nichts« ist, bedeutet kein totales Nichts, sondern nur: es ist nicht dies und auch nicht jenes, nichts von all dem … Im Schwindel tut sich auf eine prinzipielle Ohnmächtigkeit, und dies gerade hinsichtlich des »Haltes«, der auch »nichts« ist. Deshalb: Angst ist einem »aufsässig«. Man erfährt sich darin als in seinem Gehaltensein in das Nichts. So ist es auch Angst, was manche überkommt, wenn sie bei der Fahrt durch einen Tunnel eine hKorr. m. Tinte:i Kerze bereit halten, um dem Dunkel des Tunnels zuvorzukommen. Das plötzliche Dunkel, das der Blick nicht durchdringen kann, steigert den Eindruck des Beengen269 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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den, hEinf. m. Tinte:i Ausweglosen, den schon das geschlossene Abteil macht. Töricht wird nur der Versuch, durch Erklärungen über Eventualitäten so etwas wie eine Zweckmäßigkeit dieser Maßnahme plausibel machen zu wollen. Der Phobiker kann sich nicht verteidigen gegen den Gesunden, der aus der Ordnung seiner Welt heraus nur begründete Furcht anerkennen kann. Andererseits sucht er aber immer, aus der Angst in seine sachlich begründete oder nicht begründete Furcht zu entfliehen, bei der er sich aufhalten, mit der er sich beschäftigen kann.

b.

hZwangsvorstellungeni

Der Versuchung, der hier nichts entgegengesetzt werden kann, entspricht das Zwangsvorstellungshafte anderer Phobien. Nur zu dem kann ich gezwungen werden, was ich (frei) von mir aus tue. Triebe und Neigungen können nur unwiderstehlich, aber nicht zwangsmäßig in mir sein. Zwangsvorstellungen kommen immer wieder, gegen meinen Willen, sofern das, worauf sie sich beziehen, sachlich erledigt ist. h0081i Wenn Heidegger die Angst der sach- | lichen Furcht gegenüberstellt, so hS.i 68 trennt er, aber er unterscheidet nicht nur. Indessen: Angst bezieht sich irgendwie gerade immer auf sachlich erledigte Furcht, sofern deren Erledigung darin gerade infrage gestellt wird. Beispiele: Beim Rezept sich in den Dezimalstellen versehen und eine tödliche Dosis verschrieben zu haben; beim Verlassen der Wohnung das Gas nicht ausgedreht zu haben; mit dem rückwärts gehaltenen Spazierstock andern ins Auge gestoßen haben. – Auch dem Zwang kann man insofern hier nichts entgegensetzen, als aus einem selbst hier die Versuchung kommt, immer wieder daran zu denken, Folgen sich auszumalen. Es gelingt nicht, davon wegzureden. Es ist auch nicht nur übertriebene Furchtsamkeit, die das Unmöglichste für möglich hält, die sich zufrieden gibt, wenn etwas sachlich erledigt ist, hKorr. m. Tinte:i die dann nur vielleicht neue Schwierigkeiten entdeckt. Denn man steht ja doch hier im Bann, immer wieder dasselbe nachprüfen zu müssen. Allen Feststellungen zum Trotz. Wider bessere Einsicht. Das Verrückte dieser Angst bedeutet keine Fassungslosigkeit. Umgekehrt: planmäßig geht man hier zu Werke. Wendet skrupelhaft alles hin und her. Und immer von neuem erliegt man der Versuchung, sich mit »nichts« zu beschäftigen, sich klarzumachen, daß es »nichts« ist, ohne doch etwas dagegen zu können, daß Angst immer von neuem aus einem vorbricht. Sie ist auf der Lauer. 270 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Angst

Gerade, daß ich um das Unbegründete meiner Sorge weiß, zwingt in die Angst zurück. Die sich ja gerade darauf bezieht, daß das alles ja doch nur »t a t s ä c h l i c h e« Sicherheiten sind, daß man ihrer nicht mächtig ist, sofern man sie n i c h t »s e l b s t« i s t . Angst »lokalisiert« sich auf das Rezept usw. Sie treibt zu sachlichen Feststellungen, wirkt sich darin aus, braucht gleichsam immer neue sachliche Erledigung. Angst setzt sich gerade eigentlich erst durch in dem Versuch ihrer Abkehrung. Sie erfährt eine Aufstufung darin. ταραχη bedeutet hier weder Gescheucht-werden noch unentschlossene Kopflosigkeit. Sie liegt in dem qualvoll-Zwangsmäßigen, »Verrückten« dieser Nachprüfungen, um deren Ergebnis man von vornherein schon irgendwie weiß. hUnten am Bl. geklebt, Forts.:i So steht man wohl auch unter dem Zwang z. B., jeden Stein überspringen zu müssen. Denn so sinnlos das ist, so sehr es mich auch stört, – man beweist sich darin eine Freiheit dazu. Aber wie wenig »bin« ich eigentlich diese Freiheit, wenn ich mich ihrer auf so absurde Weise versichern muß? Und Angst steht auch hinter der Versuchung, im Examen das Verkehrte oder in Gesellschaft bewußt Unpassendes zu sagen, es gleichsam zu probieren, ob man sich vor sich selbst auch verleugnen kann. Aber »wer« ist man dann eigentlich, bezw. w a n n bin ich eigentlich »ich selbst«? (Nicht zwangsmäßig, sondern gegen den Willen und unwillkürlich geschieht es aber z. B., daß man auf die Bahn eines möglichen Gedankens gebracht, nicht wieder davon abkommen kann und das sagt, was zu sagen man gerade vermeiden wollte – wie man hEinf. m. Tinte:i auf der Straße etwa auch das nicht fixieren darf, dem man ausweichen will.) |

c.

hPedanteriei

Angst in ihrer Niedergehaltenheit ist auch der verborgene Stachel der Betriebsamkeit. Sie steht hinter dem unpersönlichen Pathos wissenschaftlicher Sachlichkeit und beweisbarer Wahrheit. Man klammert sich hier gleichsam daran, Material aufzuarbeiten, ohne zu wissen, worum es »im Grunde« geht. Man erhält sich so selbstvergessen, sich abschützend gegen das Perashafte der dahinterstehenden Entscheidung, die man sich nicht ausdrücklich angeeignet hat, in deren Sinn man nicht steht.+) 59 59 hUnten, z. T. am Bl. geklebt:i +) Wie beim Spiel gewinnt man in seinem »F a c h« eine private Welt. Nicht als ob man diese Welt nicht gerade auch gemeinsam mit anderen haben könnte. Das »Private« dieser Welt trifft vielmehr nur deren Abseitigkeit. Die »Welt« mit ihren Ansprüchen usw. bleibt draußen. Man ist »für sich« dabei. Der Samm-

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h0082i hS.i 69

MS Die menschliche Natur

Angst steht auch hinter der P e d a n t e r i e . Der Pedant sucht sich zu salvieren. Verantwortung abzuschieben, wenn er sich an Vorschriften und Schablonen hKorr. m. Tinte:i hält. Er biegt der Angst aus. Er verschwendet seinen Ernst an Nichtigkeiten und zieht sich aus der Sache heraus, für die er verantwortlich steht. Er entstellt und deformiert so seine Verantwortung – weniger um anderen keine Angriffsflächen zu bieten, als um sich selbst Skrupel abzuschneiden. Denn Verantwortung will Entscheidung als einen Schritt zu eigensten Möglichkeiten. Der Subalterne neigt zur Pedanterie. Er hält Prinzipien hoch. Das Horizontlose dabei fällt auf. Z. B. bei Robespierre. Sein Tugendidealismus verhob sich an der Wirklichkeit. Robespierre ging schnurgeradeaus mit nachtwandlerischer Sicherheit. Sicher anfechtungslos und ohne Schwindel. Aber ohne Angst? Sie war ja gerade das, was dadurch niedergehalten wurde. »Dieser Mensch glaubt alles, was er sagt« – damit traf Mirabeau das Schulmeisterhafte in Robespierre. Sein Glauben war ein Für-richtig-halten, Überzeugt-sein, so, daß man es auch anderen beibringen konnte. Worin gerade der Verrat wirklichen Glaubens beh0083i zeichnet ist, der immer ein Wagen und umwittert | ist vom AbgründihS.i 70 gen. Der immer die Möglichkeit des Scheiterns enthält. Prinzipien, wenn sie als richtig erkannt werden können, würden mich gar nicht brauchen. Der Pedant wird lächerlich, wenn er sich wichtigtuerisch zu ihrem Zeugen aufspielt, als ob sie durch ihn allererst wahr würden, e r gewissermaßen ihr Ort wäre. Pedanten verstehen keinen Spaß, sind empfindlich (ebenso wie das ohne-Wanken des Fanatikers nur überkompensierte Unsicherheit ist – Nietzsche V 282). XII Als ob in ihnen das angegriffen wäre, was als Prinzip doch andererseits gerade Allgemeingültigkeit beanspruchen muß. Der Subalterne betont, daß »alles seine Grenzen hat«. Pedant und Fanatiker – Beide kennen, eng und horizontlos, als D o k t r i n ä r e , nicht »wirkliche« Ueberzeu-

ler widmet sich einer fest umgrenzten Aufgabe, die systematisch in Angriff zu nehmen ist. Die Friktionen fallen weg. Wie auch einer, der Abend für Abend Patiencen legt, darin einen abgeschlossenen Spielraum bloßer Betätigung findet, die beliebig wiederholbar ist: es geht alles auf hierbei. Auch das S t e c k e n p f e r d gehört hierher. Während die überwertige Idee im Mittelpunkt steht, der Komplex störend dazwischen kommt, »kapriziert« man sich auf etwas als auf sein Steckenpferd. Man hält darin das Maß bezw. die Parallele zu allem Möglichen bereit. Steckenpferde werden »Parade« geritten. Deshalb ist man h i e r empfindlich, wenn sie nicht ernst genommen werden.

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Angst

gung, die auf dem Wege zu sich bleibt, die als originales Wahrheitsgefühl »ihres« Falles immer gewiß sein kann, die deshalb auch die Freiheit des Lachens nicht verloren hat. Pedanterie ist verstellter E r n s t . Nicht »im Ernst« etwas behaupten, heißt, daß man es nur wie im Spiel tut, d. i. daß man sich nicht s e l b s t dem verbindet, was man sagt. Der Ernstfall »stellt« mich, ist die Probe auf mein Können z. B. Dies würde sich ohne weiteres hierbei aber zeigen. Indessen: in »seinem« Ernst betroffen werden heißt: »s e l b s t« eingesetzt sein, sofern die Auseinandersetzung damit auf »meinem Wege« nicht zu umgehen ist. Nicht ausweichen bedeutet hier: s i c h s e l b s t nicht untreu werden. Denn es geht hier um mich als den Träger eines Glaubens. Sofern man sich selbst »verbunden« ist, unter dem Appell seiner selbst steht, gibt es Ernstfälle. Was zunächst nur Versprechen, Verheißung, Bekenntnis, Glaube war, gilt es wahrzumachen. Das »ich selbst«, zu dem ich hier stehe, ist aber auf keine Formel zu bringen. Es ist nicht »fertig«. Es bekundet sich lediglich in »meinem Wege«, – nicht anders, aber ebenso deutlich wie »meine« gegenüber »fremder« Art zu sein. »Ich selbst« wird hierbei als unbedingt erfaßt, sofern es das Existieren unter Bedingungen stellt. Der Pedant, Prinzipienmensch usw. verschiebt aber diesen | »Ernst«. Er ist nicht eigentlich s i c h s e l b s t verbunden in schritt- h0084i weise Wahrwerdung. Er läßt sich regeln durch Prinzipien, die lediglich hS.i 71 ausgefüllt und i n s o f e r n hAnführungszeichen m. Tinte:i »erfüllt«, aber nicht eigentlich wahr werden können.

Zusatz. h1.i Als »Ernst des Lebens« gelten aber die Ansprüche und Forderungen, denen man verbunden ist, denen man gewachsen sein, denen gegenüber man aber auch versagen kann. Es sind die Forderungen des »tätigen« Lebens. Eine Entspannung hiervon ist die σχολή. Διήρηται ο βίοϚ είϚ ασχολίαν καί είϚ σχολήν. XIII Ασχολία ist das Unverweilen, sofern die Dinge sachlich verfolgt, d. i. nicht so und nicht dort gelassen werden, wie und wo sie sind. Εχολή ist aber ein »Müßiggehen« nicht im Sinne des die Zeit mit etwas Ausfüllens, sofern man mit sich nichts anfangen kann, sondern in der Bedeutung »f r e i e Zeit«. Σχολην ποιεισθαι προϚ τι heißt: sich zu etwas Zeit nehmen können. Εχειν bedeutet: anhalten, rasten. Σχολή ist ein sich beschäftigend V e r w e i l e n bei etwas. Womit man sich hier beschäftigt, bekommt, sofern es nicht unter der Spannung von Absichten und Zielen steht, eine unverhältnismäßige Bedeutung. Es wird »für sich« genommen. – Die Philosophie geschieht in der σχολή, die ein Modus entspannter Existenz ist, die sich Zeit freigegeben hat für …

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MS Die menschliche Natur

h0085i hS.i 72

2. Im Unernst heiterer ausgelassener Stimmung ist man aber von »sich selbst« freigekommen. Man findet sich von hAnführungszeichen m. Tinte:i »seinen« Aufgaben und »seiner« Stellung suspendiert, wenn man im allgemeinen Trubel aufgeht und unter der Maske Anonymität genießt. 3. Man l a c h t , sofern etwas »nicht ernst zu nehmen« ist. Aber auch aus Verlegenheit, und in der Verzweiflung, im Hohn. Es gibt ein konventionelles Lächeln. Man lacht über das, was einem komisch »vorkommt« – worin das lockere Verhältnis bezeichnet ist, bei dem man es dem Komischen gegenüber bewenden läßt. Man lacht über den Menschen in seiner Dummheit, wenn er sich blamiert, sich in seinem Ernst verhebt. Diese befreiende Entspannung des Lachens ist anders als bei der Enttäuschung. Die, wenn sie nicht als Aufklärung, sondern als Affekt verstanden wird, ein Zurückgeworfen-werden bedeutet, sofern man sich einer Täuschung »hingegeben« hatte. Das bittere Lachen der Verzweiflung, in dem sich die aufgezwungene Entspannung von dem, was man wollte, ausdrückt, ist nicht »rein«. Das Komische ist nicht aus einer Dialektik der Dinge, sondern aus dem Sinnkreis des Ernstes zu verstehen, der seiner inneren Möglichkeit nach auf die Zeitbezogenheit einer Existenz verweist, die sich selbst allererst zu gewinnen hat. Worüber einer lacht, charakterisiert ihn deshalb. W i e einer lacht, verrät ihn. Das Niveau eines Menschen wird hörbar darin. Es gibt dummes und ordinäres Lachen, und »reines« Lachen ist selten. Die Nebentöne sind es im allgemeinen, was man heraushört. Als ob die Entspannung des Lachens auch eine Lockerung der Haltung wäre, die Selbstzufriedenheit, Hämischkeit usw. nicht nach außen kommen lassen wollte. Die Mentalität eines Volkes zeigt sich darin, wo und wie gelacht wird. Humor, Witz, Groteske sind verschiedene Arten, diese Freiheit zu sich selbst zu finden. Denn über das, was einem andern passiert ist, lacht man nicht anders als wie man über sich selbst dabei lachen würde. Immer ist der Mensch lächerlich, aber nicht die Person. Sofern einer, über dessen Hinfallen man lacht, dabei selbst übersehen wird, ist er gerade empfindlich. Und das Herabsetzende, Verletzende von Spott und Hohn liegt in dem Absichtlichen dieses Übersehens. Die Grenzen des Spaßes, den einer versteht, sind bezeichnend dafür, wo sein Ernst liegt, wo er sich selbst verbunden weiß. Bezw. wo er es g l a u b t , sich selbst verbunden zu sein. Denn der Ernst der Meisten ist ja doch nur ein verstellter Ernst, sofern sie ausweichen vor sich selbst. Dumme Leute pflegen wenig Spaß zu verstehen. Der Horizont eines Menschen zeigt sich darin, worüber und wie er über etwas lachen kann. |

d.

hGeizi

Der G e i z hat dieselbe Wurzel. Geizig ist nicht der, der – engherzig – nichts hergibt. Auch nicht der vorsichtig Sparsame. Auch Habsucht ist etwas anderes. Denn der Habsüchtige will f ü r s i c h besitzen. Er will den Anderen ausschließen von der Sache. Er gönnt sie ihm nicht. Weniger die Sache als ihr Besitz reizt ihn. +) 60 Habsucht wird rege im Ver60 hUnten:i +) Das Besitzverhältnis steht immer auf der Kippe, sein Subjekt mit dem Objekt zu vertauschen. Das Sammeln von Dingen, deren Betrachtung Freude macht,

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Angst

gleich mit überhaupt nur m ö g l i c h e r Habe. Als geizig gilt vielmehr, wer sich selbst das entzieht, was er hat. Gegenstand des Geizes ist vor allem das Geld. Geizig ist es aber auch z. B., Bindfäden aufzusammeln, ihre Verwendung aber sich selbst dann zu hintertreiben suchen. Der Geizige stemmt sich gegen den Verbrauch von etwas. Geld hat aber nur als Mittel Wert. Darin, daß er im Zustand der Möglichkeit zu verharren strebt, liegt das Verrückte des Geizigen. Er bleibt stehen in der Betrachtung dessen, was er sich für das Geld alles leisten kann – im Vergessen um die Disjunktion dieser Dinge. (Kant Ethik-Vorlesung 226). XIV Mit der Zeit »geizt« man im Überschlagen dessen, was man alles in dieser Zeit machen und erledigen könnte. Geiz kratzt Geld zusammen, ohne es zu etwas aufzunehmen. Worauf sich das »Schmutzige« des Geizes bezieht: Geiz ist »schmutzig« durch das Geld, das der Geizige durch die Finger zählt, das unausgeformt »Dreck« ist. Geld kann nicht abgenutzt werden, unterschiedslos steht es jedem zu Diensten, alles Mögliche ist damit erkaufbar. Geld obligiert nicht seinen Besitzer. Geiz bezieht sich auf quantenhafte Anhäufung. »Reichtum« bedeutet hier keine echte Fülle mehr. Der Geizige hütet seinen Schatz. Und darin liegt etwas Tierhaftes. Denn das Geld in der Matratze ist nicht m e i n »Vermögen« wie das auf der Bank, das auf meinem Namen steht. Die beiseite geschafften Goldstücke verlieren die eigentliche Bedeutung des Geldes, das ja doch »Geld« als ausgeformtes M i t t e l zu etwas ist, von dem her ich | auf Möglichkeiten freigegeben werde. Der h0086i Geizige stemmt sich aber gegen die Ausgabe des Geldes. Er hält nicht hS.i 73 etwa triebhaft an seinem Besitz fest, sondern will M ö g l i c h k e i t e n nicht aus der Hand geben. Mit Möglichkeiten rechnet aber nur ein Dasein, das in spezifischem Sinne zeitlich ist. Aufspeicherung bedeutet dem Geizigen keine Vorsorge. Er versteckt sein Geld vor anderen. Er hat Lust und Freude am heimlichen Beschauen, Betasten, Zählen. Er will nicht angesprochen werden auf das, was er hat. Er hütet es vor den Blicken der Anderen, als ob schon darin ein Anspruch läge, als Mittel benutzt zu werden. Er »sitzt auf« dem Geld. Das Heimliche seines Gebarens fällt auf. Er will das Geld in deren Beschäftigung vielleicht besondere Fähigkeiten entbindet, kann z. B. zur Sucht entarten. Wenn nämlich Besitz als Zuständlichkeit gesucht, der »Reiz« des Seltenen genossen und überdies dabei auf eine zumeist doch nur eingebildete Konkurrenz reflektiert wird.

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MS Die menschliche Natur

dem Sinn für sich behalten, daß er es seiner Bestimmung entzieht. 61 Er will es nicht als Vermögen wahrhaben lassen, wohin er eingeschätzt, woran sein Auftreten gemessen werden könnte. Der Geizige gebraucht und genießt ein hierin Unerkannt-bleiben. Wie er überhaupt den Verkehr mit der Mitwelt meidet. Der Bürger lebt in seinem Besitz, sofern dieser ihn auszeichnet, noch fort nach seinem Tode, während für den Geizigen mit dem Tode alles aus ist. Der Geizige ist aber auch selbst schmutzig. Denn Sauberkeit ist Ausdruck von Selbstachtung. Man verabscheut den Geizigen. Gerade »psychologisch« kann Geiz nur als Laster demonstriert werden – wie denn z. B. Kants Anthropologie den Menschen »in pragmatischer Hinsicht« behandelte, d. i. hinsichtlich dessen, was er als freihandelndes Wesen aus sich selbst macht. Geiz ist eine Selbstaufgabe des Menschen.

e.

hEifersuchti

Sich zu ereifern ist immer Zeichen eines seiner selbst nicht sicheren Glaubens. Der mehr durch das Abattieren g e d a c h t e r Gegner zu gewinnen hofft, als daß er sich selbst schon gefunden hätte. Man überredet sich hier zu etwas. Der E i f e r s ü c h t i g e wacht über etwas. Er hütet es vor den Blicken der Anderen, um es nicht gemein werden zu lassen. Darin liegt der Unterschied der Eifersucht dem Neide gegenüber. h0087i Denn | Neid bezieht sich auf etwas, was – so möchte er es gerade – doch hS.i 74 j e d e r haben könnte. Er nimmt also als gemein bezw. macht gemein das, worum der andere beneidet wird. »Der Neid trifft immer nur das Haben, nie das Sein«. (Hebbel, 1454) XV Indessen – was ich t a t s ä c h l i c h auch haben könnte, was ich nur zufällig nicht bekommen habe, macht noch nicht neidisch. Ebenso wenig als es schon Neid ist, a u c h das haben zu wollen, was der Andere hat, d. i. erst durch den Vergleich mit den andern seine Zufriedenheit gewinnen zu können. Vielmehr: der anscheinende hUnterstr. m. Tinte:i Vorzug des anderen macht neidisch. Der Neid ist auf das »Glück« eingestellt, das man selber nicht, und das der andere hat. Wie Resignation möchte Neid eine Unkraft herauskehren, das s e i n zu müssen, was man ist. Neid ist nachtragend, weil er 61 hUnten m. Tinte:i Grandet … er nannte die Kapitalanlage Verschwendung und fand größeres Interesse am Anblick des Goldes als an dem Profitwuchern (Balzac). [Monsieur Grandet aus dem Roman »Eugénie Grandet« von H. de Balzac.]

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Angst

immer daran denken muß, daß der andere etwas hat, was – so überredet er sich mehr als daß er davon überzeugt sein kann – i c h doch auch haben könnte. Er möchte die B e r e c h t i g u n g des Vorzugs bezweifeln. Widerwillig, wie fasciniert durch das Glück des anderen verweilt er nachbohrend bei ihm. Der Neidische sucht letztlich s i c h s e l b s t in der Hassenswürdigkeit des anderen zu beweisen, um sich nicht als »bloß« neidisch wissen zu müssen. +) 62 Schon daß der andere seinen Vorzug einfach als gegeben hinzunehmen scheint, diese Art an ihm ärgert mich. Denn – und so entsteht Ressentiment – wäre das nicht eigentlich erst »wirkliche« Größe, sich seines Vorzuges zu begeben und auf meinem Niveau zu starten? Im Geheimen wünscht man etwas zu entdecken, was den »Vorzug« des anderen hEinf. m. Tinte:i in einem »anderen« Lichte erscheinen läßt. Hämisch kehrt man die Schattenseiten heraus. Ein bestimmter Gesichtswinkel ++) 63, eine bestimmte Mentalität ist im Neidisch-|sein bezeichnet. Neid meidet die Bekanntschaft h0088i mit wirklicher Größe in der instinktiven Erkenntnis, an ihr etwas zu hS.i 74a entdecken, was sich dem Versuch des Gleichmachens entzieht. Eifersucht aber sorgt sich gerade etwas in der Richtung zu verlieren, daß es eventuell auch ein anderer haben könnte. Es wird hier nicht um den Besitz, sondern um das, w a s man besitzt, gefürchtet. Mißtrauen und Verdacht kommen aber dem Eifersüchtigen aus einer Unsicherheit, die letztlich auch wirklich begründet ist: nämlich aus dem Bewußtsein einer Unkraft, dem Freund oder der Frau so verbunden zu sein, daß nicht … Denn tatsächlich kann er es nicht vo r a u s s e t z e n , daß nicht … Eignem Unvermögen entspringt dann die Sucht, den anderen zu kontrollieren. Der Eifersüchtige will nicht herausgedrängt werden aus hUnten:i +) Ein Beispiel dafür, wie sich das Gemeine nicht entfliehen kann: Es ist gleichsam äußerlich; an Verschiebungen, Verdrängungen, an Metamorphosen erkennt man es. Man entlarvt es als »nichts weiter als …«. Es ist ein nur allzu durchsichtiges Verhalten. Was den Stil eignen Ursprungs trägt, verlangt, respektiert und verbietet es, beurteilt zu werden. »Natürlich« … – damit wird aber etwas in der Richtung des Gewöhnlichen abgeschätzt. Daß man ein Verhalten sachlich glaubt e r k l ä r e n zu können, drückt schon eine geringe Einschätzung dieses Verhaltens aus. »Verhalten« meint: man arrangiert sich dabei. Sich zu halten heißt hier: sich unter den anderen zu behaupten. Man bleibt dem Leben verhaftet. An dem man überhaupt hängt, an das man sich klammert – während man sich »selbst« – wäre man das nur! – doch überhaupt nicht in Verlust geraten kann. 63 ++) Wie auch in der »Moral« hUnterstr. m. Tinte:i Anschauungen bezeichnet sind, die man geltend macht. Es gibt eine Psychologie der Moral, aber nicht des Ethos, das eine Haltung ist, die man »selbst« hat. 62

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MS Die menschliche Natur

einem Verhältnis, dessen er sich selbst nicht mächtig fühlt, – dessen E i n z i g a r t i g k e i t er deshalb – und darin verrät er schon den Geliebten – als Ausschließlichkeit verstehen möchte. Das Maßlose der Eifersucht fällt auf, die alle Kraft in ihr Rasen sammelt. Eifersucht ist zu allem fähig. Das Wahnhaft-Verblendete entsteht daraus, einen Scheinbesitz hüten zu wollen. Der Eifersüchtige wehrt sich dagegen, etwas aufgeben zu müssen, woran er nur eben »alles gehängt« hat. Eifersucht führt zur Verzweiflung. Sie wehrt sich dagegen, etwas zu verlieren, was im Falle des Verlustes die Sorge hierum gar nicht wert gewesen wäre. Eifersucht ist eine Leidenschaft, die es zu h e i l e n gilt. Eine verstellte Angst steht dahinter. +) 64

19. hErlebnisi Angst »befällt« mich anders als Furcht, von der ich mich distanzieren, zu der ich das freie Verhältnis des Gedankens gewinnen kann. Nichts w i r k t beengend bei der Angst, die mir als der Stachel des Daseins aufsässig ist. Angst läßt mich nicht zu mir »s e l b s t« kommen. Sie sperrt meine Schaltung. »Schaltung« – damit benenne ich dies, daß man durch E r l e b n i s s e aufgeschlossen wird. Als Ersteigerung und Aufstufung der »Erlebens« zeigen sich die Wege und Ebenen, auf denen h0089i der 65| Mensch zu sich selbst kommt. +) 66 hS.i 75

64 hUnten:i +) Auch die kleinen Leute finden einander oft eifersüchtig. Ohne eigentlich zu wissen, was das ist: wirkliche Verzweiflung, wird hier etwas g e s p i e l t . Nicht etwa, als ob es nicht »ernst« hierbei wäre, aber es ist der Ernst von Leuten, bei denen alles mehr ein G e b a r e n ist, als daß es empfunden wäre. Das Wahnhaft-Verrückte unterscheidet gerade »wirkliche« echte Eifersucht von den Sorgen dieser Menschen, die sachlich begründet bezw. nur übertrieben sind. 65 hUnten, am Bl. geklebt:i ++) Mit dem Leben nichts anfangen können, bezw. den Halt weggeschlagen zu bekommen an den Dingen, an die man sich gehängt hat – gerade um verzweifelt nicht man selbst sein zu müssen – ist keine e c h t e Verzweiflung. Die vielmehr daraus geboren wird, daß man aus sich selbst, aus seinem Glauben geschlagen wird. 66 hUnten:i +) Was das Wort »Erlebnis« m e i n t , ist zu unterscheiden von dem, was mit diesem Wort nur eben belehnt worden ist. Hier könnte man nur fragen, von woher, durch welche künstlichen Veranstaltungen kommt man z. B. zum Ansatz von »Bewußtseins-E r l e b n i s s e n«. Deren methodisches Recht ist zu erweisen. Sie haben eine Stelle in Problemzusammenhängen. Und s y s t e m a t i s c h e Bedeutung. Daß man aber gerade das Wort »Erlebnis« hierzu als den geeigneten Terminus wählte, hat seinen Grund in der »Bedeutung« dieses Wortes. Es b e s a g t doch etwas. Und dies ist aus eignem Ursprung zu vollziehen. Man kann sich versetzen lassen in die Aufnahme dieser Bedeutung. Und

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Erlebnis

a.

hZeugei

Man hat etwas selbst erlebt, wenn man als Zeuge dabeigewesen ist. Erlebnisse kann man schildern. ++) 67 Selbst Zeuge gewesen zu sein, selbst etwas gesehen haben steht im Gegensatz zu dem, daß man sich etwas durch die Kunde des Anderen bezeugen lassen muß. +++) 68 Man bezeugt z. B. die W i r k l i c h k e i t von etwas. Diese Wirklichkeit kann überhaupt nur verbürgt, sie kann aber nicht objektiv demonstriert werden. (Wie andererseits das Cogito nur für die »Objektivität« von etwas aufkommen, nämlich seine »Setzung« begründen kann.) Denn eine »Wirklichkeit« ihmi strhengeni Shinnei haben die Dinge nur im Spiegel meines Verhältnisses zu ihnen. Nur sofern ich dabei bin, kann ich die Dinge in ihrer Wirklichkeit vor mich bringen. Sonst v e rgegenwärtige ich sie mir nur; Gegenwart ist aber nur Kehrseite eines Dabeiseins. ++++) 69 Im Begriff der Wirklichkeit kommt eine ausgezeichnete Situation, nämlich die existenzielle des als Zeuge Dabeiseins zum Vorschein. Nur intramundan kann die Wirklichkeit von etwas erfaßt werden. Das Selbst-erlebt-haben bedeutet aber einen Vorzug gegenüber anderen. Die Bürgschaft für … wird | einem zugeschoben. Man spielt die Rolle h0090i hS.i 76 des Zeugen, wird als der berufene Bürge für etwas zitiert. Der Zeuge vor Gericht bekundet Geschehnisse, sofern er in der Situation stehend diese unter einer ihm als maßgebend geltenden Perspektive gesichtet hat. Nur sofern Selbst-sein geschaltet ist, kann sich etwas als die »Wirklichkeit« eines Vorgangs zeigen. Das Dabeisein des Zeugen ist etwas anderes als die Gegenwart etwa eines kontrollierenden Beobachters beim Experiment. Denn dieser ist hierbei nur Sachwalter. Sicherlich – der Zeuge muß unbeteiligt sein, sofern sich ihm keine Indaß sie unwillkürlich unter der Hand erweckt wird, gibt gerade die Sicherheit gegen Vormeinungen und –urteile, in die jedes Verstehen, Erklären, Vorstellen verhaftet bleibt. Nicht daß man am Wort hängen bleibt oder sich einer Weisheit der Sprache anvertraut – aber deren K r a f t gilt es, sich zunutze zu machen. 67 ++) Erlebnisse sind also nichts »Psychisches«. 68 +++) Schulpsychologie verschiebt diesen Gegensatz; das Erlebnis wird als das »unmittelbar Gegebene« dem gegenübergestellt, zu dessen Kenntnis es – wie bei den Dingen draußen – einer Vermittlung bedarf. Immerhin: die Bedeutung des Wortes »Erlebnis« ist bei seiner Wahl zum Terminus auch hier lebendig: das »unmittelbar Gegebene« ist etwas, wofür ich mich verbürgen kann. 69 ++++) Dieses Dabei- d. i. bei den Dingen sein ist etwas anderes als: in der Welt »a n w e s e n d« d. i. für meinesgleichen treffbar und begegenbar sein.

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MS Die menschliche Natur

teressen entstellend einmengen. Aber er muß in der Situation mitgestanden haben. Insofern gibt es auch z. B. die »Zeugen« einer Zeit, des letzten Krieges etwa. Sie geben Kunde davon, sofern sie selbst durch den Krieg »geschaltet«, nämlich geradezu dadurch »gezeichnet« worden sind.

b.

h»Geschichte«i

Erlebnis i. e. S. meint mehr als das bloße Geschehnis. Geschehnisse kann man sachlich schildern, beurteilen, erkennen. Ich kann davon dem Anderen mit Mitteln des Allgemeinen eine Vorstellung vermitteln. Erlebnissen gegenüber versagt aber solche Sprache. Erlebnisse kann ich nur als »Geschichte« erzählen. Nämlich in der hierin bezeichneten Bindung und Form. Denn wie die Artikulation durch das Wort sich dazwischen schiebt zwischen uns und die Dinge, ebenso wird hier auch in der Geschichte das Erlebnis als Gestalt umgriffen von der Sprache. Erst als erzählte Geschichte bekommt es Bündigkeit. Man »appelliert« hier an den Anderen. Der Bericht eines Geschehnisses rechnet lediglich mit sachlichen Verständnismöglichkeiten. Was der Andere aber aus einer Geschichte erfährt, ist ihm überhaupt nicht so mitzuteilen. Geschichten müssen knapp erzählt werden. Zurückhaltung ist nötig, um den Raum frei zu machen, in dem der Andere einem entgegenkommen kann. Man rechnet hier mit einer bestimmten Empfänglichkeit des Anderen für solche Geschichten. Denn er erfährt darin menschliche Möglichkeiten. Zu denen aber bei verschiedenen auch die Nähe sehr verschieden ist. h0091i Geschichten fallen oft »unter den Tisch«. Der Andere | bleibt am ÄuhS.i 77 ßerlichen hängen, gleitet ab in hEinf. m. Tinte: i sachliche Fragen, Interessen usw. Die Begegnung mit dem Andern wird in den »Geschichten« festgehalten, die man von ihm weiß. Man lernt ihn daraus kennen. Man charakterisiert ihn darin in seiner unverwechselbaren Einmaligkeit. Im Gegensatz zu Charakterisierungen, die ihn lediglich darstellen mit Hilfe einer Bewertung durch anvisierte Eigenschaften. Nur Wenige haben freilich den Sinn für den Menschen selber. Er gehört Mut dazu, sich zu den Grenzen erledigenden Verständnisses zu bekennen und jemanden einfach hinzunehmen in seiner unwiederholbaren Individualität. Die durch Bewertung garantierte Sicherheit geht verloren. Jemanden beurteilen bedeutet ja doch: ihn abschiebend auf einen Nenner bringen. Die 280 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Erlebnis

beunruhigende Spannung des Prinzipiellen der G r e n z e n hierbei wird nicht ertragen. In der »Geschichte« wird Existenz wirklich, in ihrer Haltung und Einstellung. Auch wenn ich etwas, was mir passiert ist, als Geschichte erzähle, trete ich dabei aus dem indifferenten Bekanntsein des Anderen mit mir heraus. Denn schon darin entdecke ich mich vor dem Anderen, daß mir überhaupt etwas in der Richtung einer »mir passierten Geschichte« bedeutsam wurde.

c.

hLebenserfahrungi

Etwas erleben bedeutet in der Steigerung etwas mit- und durchmachen. Man hat viel oder wenig erlebt, je nachdem man in der Welt herumgekommen ist. »Das Leben« lernt man dabei kennen. Nämlich so, wie es sich ausbildet in seinen »Verhältnissen«. Denn jeder lebt rücksichtlich des Anderen, z. B. gerade in der opponierenden Vereinzelung. Es gibt Anforderungen, Ansprüche und einen »Druck« des Lebens. Die ursprünglichste Erfahrung des Lebens ist der Widerstand der Anderen. Für die »Selbständigkeit« des Menschen ist das Verhältnis zu anderen konstitutiv. Selbständig ist eine Meinung schon darum, daß es überhaupt eine »andere« Meinung ist; man widerspricht oder begegnet darin den Meinungen der Anderen. Die Realitäten des Lebens können nur erlebt, aber nicht erkannt werden. Man kann sich nicht darüber »orientieren«. Und sie werden erlebt von einer Existenz, die mit »dem Leben« fertig zu wer-|den hat. Die vom Leben etwas will. Es sind Erfahrungen, h0092i die einem nicht erspart werden, die man ungesucht und ohne zu fragen hS.i 78 macht. Man muß sie s e l b s t machen. Und es sind Lehren, sofern sie erinnernd mahnen und warnen. Man wird geweckt und zu sich selbst gebracht, man wird in die Schule genommen durch das Leben. Die Natur dagegen »lehrt« mich eigentlich nichts. Wie man hier auch nur etwas f i n d e n und e n t d e c k e n , aber keine Begegnungen machen kann. Nur in der Begegnung mit Anderen entfaltet man sich aber auch, entdeckt sich in Seiten, die vielleicht nur einer an mir erschließen kann. Denn obgleich nur beim Menschen die Frage, wie einer »an sich« sei, überhaupt einen Sinn hat – eine bestimmtere Richtung dieser Frage wäre erst auszuarbeiten, sofern jeder zu jedem anders, sofern jeder »an sich« vieldeutig ist. Die Realität des Lebens, seine »Wirklichkeit« – der nur hier, aber nicht bei der Natur eine Ideologie gegenübersteht – wird als »M a c h t« 281 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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erfahren. Die Natur hat weder Macht über mich, noch ist sie stärker als ich. Denn da ich nichts gegen sie und sie nichts gegen mich wollen kann, bin ich auch nicht eigentlich vergleichbar mit ihr. Macht bedeutet ein Hörigkeitsverhältnis: man ordnet sich unter, nämlich hinsichtlich dessen, worin man a u c h etwas wollen könnte. Die »Ohnmacht« der Natur gegenüberh,i d. i. die Abhängigkeit des Menschen von der Natur, die doch nur darin besteht, daß hUnterstr. m. Tinte: i diese von mir unabhängig ist, kann nur metaphorisch als ein der Natur »Unterworfensein« bezeichnet werden. Während sonst Wissenschaft Fälle vorsieht, ihr »Bestand« auf Mobilisation zugeschnitten ist, bin ich immer in dem »Fall« des Lebens – sofern ich seinen Ansprüchen ebenso zu entsprechen wie ich die meinen daran zu begrenzen habe. Der typische Zuschnitt des Lebens ermöglicht Regeln, Maximen, Prinzipien. Er gibt Autorität denen, die das Leben kennen. Und »Lebenserfahrung« zeigt sich verschieden: als resignierte, sich am Leben vorbeischleichende Klugheit, als instinktsichere, dem Leben gewachsene Gescheitheit, als Reife des Alters oder als Weisheit. Die Lehren des Lebens werden Fällen entnommen, an denen als exemplah0093i risch – im Unterschied zu ge-|legentlichen, zufälligen, irgendwie aushS.i 79 gefallenen – aufgeht, wie es in der Welt zugeht, was einem im Leben h0094i passieren kann. hM. Tinte und unterstr. m. Rotst.: i Zusatz 79 a |

hS.i 79a

Zusatz. L e b e n s e r f a h r u n g ist noch nicht W e l t k e n n t n i s , die »d e n Menschen« kennt, aber nicht nur weiß, wie »die Menschen« »nun einmal sind«. Lebenserfahrung rechnet mit »den Menschen« in der Durchschnittlichkeit ihres Verhaltens. Lebenserfahrung zeigt sich in Vorsicht und Klugheit. Sie e r w a r t e t Bestimmtes von den Menschen, die hierbei gerade angesetzt werden in der Richtung eines »noch unbekannth,i wer es ist«. Denn Lebenserfahrung hat immer mit sich zu tun. »Die Menschen« gelten ihr wie »das Leben« als etwas, worin man sich auskennt. Und auch die Erfahrungen, die man hier mit einem einzelnen bestimmten Menschen gemacht hat, das Urteil über ihn, liegt in der Richtung von Zuverlässigkeit und Brauchbarkeit. Weltkenntnis aber kennt den Menschen in »seinen« Möglichkeiten. Während die Erfahrung dessen, was alles bei Menschen möglich ist, einen sich selbst einschränkenden Vorbehalt bedeutet, zufolge dessen, daß die Wirklichkeit hier als unbekannt nur v o r g e s e h e n wird in ihrer Möglichkeit, ist »Möglichkeit« des Menschen das, was bezw. wozu »er« werden kann. Und d i e s e »Möglichkeit« ist keine allgemeine und von der Wirklichkeit her als möglicher Fall begründete. Daß der Mensch dies oder jenes werden k a n n , bedeutet vielmehr, daß es als Möglichkeit bei ihm steht, es zu werden. Die »Wirklichkeit« des Menschen hat seine Freiheit zum Grunde – auch seine Verkommenheit z. B., wenn er sich dieser Freiheit begibt und abfällt

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Erlebnis von »sich selbst«. Menschliche Möglichkeiten sind keine natürlichen Anlagen, wie etwa das Sehvermögen sich als Vermögen ersteigert, wenn es ausgebildet wird. Sie »bleiben« vielmehr Möglichkeiten, insofern, als die Wirklichkeit des Menschen das, was er »ist«, seine Leidenschaften z. B., ein »Können« im Sinn eines Mit-sich-fertig-werdens bedeutet. »Mit sich« – das bezieht sich ebenso auf den in dem Dasein bezeichneten Grund seiner Existenz, wie es auch die ihm mitgegebene Natur meinen kann. »Die pragmatische (Menschenkenntnis) geht auf das, was E r als freihandelndes Wesen aus sich selber machth,i oder machen kann und soll.« »Den Menschen also seiner Spezies nach als mit Vernunft begabtes Erdwesen zu erkennen, verdient besonders W e l t k e n n t n i s genannt zu werden, …« (Kant, Anthropologie, S. IV) XVI W e l t kenntnis ist aber diese Menschenkenntnis daraufhin, daß der, der den Menschen kennt und nicht nur »die Menschen« zu nehmen versteht, sich auch frei unter ihnen bewegen, ihnen nämlich b e g e g n e n kann. Ein »Mann von Welt« wird nicht gemein hAnführungsz. m. Tinte:i »mit« den Menschen. Wie er überhaupt Distanz zu den Dingen hat. Menschenkenntnis ist hier aber eine H a l t u n g , die sich zu bestätigen und rechtfertigen sucht. In ihr manifestiert sich wie einer zum andern steht bezw. glaubt, stehen zu müssen oder zu können. Menschenkenntnis geschieht in eins mit Selbstwerdung. Eine gewisse »Tendenz« fällt auf bei den französischen Psychologen des XVIII. Jahrhunderts. Vauvenargues z. B. Der Mensch wird zurechtgerückt, wenn z. B. das Arrangement seiner Liebe darin durchschaut wird, daß sie weiter nichts ist als … Eine gewisse médisance gehört dazu. Menschenkenntnis kann insofern Verfälschung der Selbsterkenntnis werden. Denn eine gewisse »Billigkeit« liegt darin, wenn etwas abschiebend erledigt wird. Sicherlich – im Blick ist hier schon »der Mensch«, aber Menschenkenntnis hat doch nicht die Spannung einer philosophischen Frage. Sie ist kritisch, entlarvend, zeigt das Scheinhafte auf gegenüber der Wirklichkeit. hUnterstr. m. Tinte:i Philosophische Destruktion will aber demonstrieren, was Geiz z. B. »eigentlich«, nämlich seiner inneren Möglichkeit nach, ist. |

d.

hBegegnisi

Der Tod des Anderen kann mir zum erschütternden Erlebnis werden, sofern mir darin mein Sterben-müssen sinnfällig wird. Das ist keine exemplarische Erfahrung. Die sich etwa warnend zu dem Memento mori verdichten und zur Bescheidung mahnen könnte. Ich erfahre hier auch nicht, daß der Tod als Gesetz über mich verhängt ist. Dieser harten Notwendigkeit hätte man einfach ins Auge zu sehen, sich darauf einzurichten. So wie sich der Weise durch den Tod nicht erschüttern läßt. »Weckung« bedeutet hier kein In-Erinnerung-bringen von … h,i sondern: Vor-sich-selbst-gebracht-werden. Nämlich darin, daß »mir das Sterben niemand abnehmen kann«. Daß man es also als seine eigenste Möglichkeit zu übernehmen hat. D. i. der Tod wird hier gerade nicht nur als mir als Menschen zugefallenes Los, als die »Bestimmung« des 283 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

h0093 Forts.i hS.i 79 hForts.i

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Menschen erfahren. +) 70 Wäre er nur etwas so Allgemeines, so könnte ich darin ja gerade Trost finden. Ich kann ihn aber gerade nicht dahin abschieben, daß ich ihm als Mensch einfach – sowieso schon – verfallen bin, ihn also nicht eigentlich »selbst« zu sein hätte. Der Tod des A n d e r e n ++) 71 bringt mich gerade vor die – unbegreifliche – »Wirklichkeit« des Sterbens. Sofern es hereingenommen ist in den Grund meiner selbst. Daß ich dessen nicht mächtig bin, bedeutet weder Ohnmacht im Sinne der einer meiner Natur gezogenen Grenze, noch das Unterworfen-sein einer Macht, die stärker ist, – es bekommt seine Spannung h0095i daraus, daß man es gerade s e l b s t z u s e i n hat, d. i. | daß man dafür hS.i 80 aufkommen muß. Die mit dem Dasein gegebenen Grenzen sind weder Schranken noch Bestimmungen. Die Verfassung meiner Existenz wird darin umrissen. Es sind Grenzen, in die man offenen Auges einzutreten, in denen man sich f r e i zu halten hat. Man wird hier gerissen aus einer Vergessenheit um sich selbst. Und gerade darin hat man hier über sich selbst hinweggelebt, daß man sich als »Mensch« d. i. im Blick auf sein Allgemeines verstanden hatte. Der Tod des Anderen aber stößt mich in die Einsamkeit, in meine unvertretbare Einzelheit zurück. Und die Erschütterung d i e s e s Zum-Erlebnis-werdens steht dem Gleichmut gewonnener Lebenserfahrung gegenüber. Sicherlich – man wußte schon um das Sterben-»müssen«, aber doch nur als unerbittliches Gesetz. Solches Wissen um Allgemeines, was als erkannt doch beiseite gelegt wird, ist aber gerade abdrängend von Existenzerhellung. Der Tod des Anderen wird mir zum »B e g e g n i s« +) 72, sofern das Sterben meine eigenste Möglichkeit ist. »Begegnung« steht hier der Anfechtung gegenüber. Auch bei der Anfechtung kommt »aus mir« 70 hUnten:i +) So erfährt z. B. der antike Mensch den Tod. Wie auch in der Nemesis ganz eigentlich »ein Exempel statuiert« wird. F ü r j e d e n s i c h t b a r wird hier die Natur des Menschen in ihren »Grenzen« Erfahrung, geradezu: erkannt. 71 ++) Der Andere, nämlich meinesgleichen. Worin sich ausdrückt, wie in dem »Wer« das »Was er i s t« erfragt wird, wie dieses »Sein« aber nur durch die Gleichung zu »m e i n e m« Sein fixiert werden kann. Im Unterschied zu den Dingen, deren Sein überhaupt nicht erfragt, sondern unter der Hand mit in Ansatz gebracht wird. Die über ihr Sein hinweg nur in einem »Was« verstanden werden, – sodaß dieses Sein geradezu als bloßes Komplement ihres Begriffes aufgefaßt werden konnte. 72 hUnten:i +) Zumeist ist es nur einfach der Andere als meinesgleichen, dem ich begegnen, den ich nicht nur antreffen, nämlich »vorfinden« kann wie die Dinge. Der Begriff der Begegnung kann aber – wie oben – erweitert werden. Er bezieht sich dann allgemein auf das, dessen Wesen ein S e i n ist. (Vergl. S. 79)

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Erlebnis

etwas dem entgegen, was mich in der Richtung einer Selbstaufgabe versucht. Ich kann dem Schwindel nichts entgegensetzen. Angst »bricht durch«. Ohne daß dies aber eine Existenzerhellung bedeutete wie bei der »Begegnung« mit etwas. Etwas erleben heißt nicht nur es erfahren. Lebenserfahrung ist noch keine hUnterstr. m. Tinte:i Begegnung mit der »W e l t«, in der man lebt. Ein verlorener Prozeß z. B., der den einen nur um eine Erfahrung reicher macht, kann einem anderen zum Erlebnis werden. Wenn er nämlich darin seinen Glauben an das Recht infrage gestellt sieht. Michael Kohlhaas XVII z. B. zeigte, w a s i n i h m s t e c k t e . Wofür er bereit war zu kämpfen. Erlebnisse schließen auf und können zum Schicksal werden. ++) 73 | Nur wenn etwas dabei in mir berührt, getroffen, ge- h0096i weckt wird +) 74, kann mir etwas zu einem Begegnis werden. Man wird hS.i 81 g e s c h a l t e t , wenn einem ein Geschehnis zum Erlebnis wird. 73 hUnten, z. Tl. am Bl. geklebt:i ++) Psychotherapie spricht von Traumen statt von Erlebnissen. Trauma ist eine »gesetzte Wunde«, bei der Rückführung auf den status quo ante Aufgabe wird. Als Trauma genommen wird etwas als nur vorläufig und widerruflich, also als unverbindlich aufgefaßt. Die bestimmende Position war dabei die der Schulpsychologie: »Triebe« werden angesetzt, die sich nur eben befriedigen, ein unveränderliches Ziel haben. Übersehen wird aber dabei die eigentliche E x i s t e n z des Menschen. Der Mensch gilt hier als »Objekt« von inneren Drängen, äußeren Zwängen. Wobei er sich zu billig gemacht wird. Vermeintliche Unausweichlichkeiten werden hier benutzt zu einer Selbstrechtfertigung des Daseins in seiner bloßen Fakticität. 74 hUnten:i +) Was – insofern es überhaupt keine Affektion bedeutet – weder mit E m p f i n d l i c h k e i t noch mit S e n s i t i v i t ä t zu verwechseln ist. Empfindlichkeit bedeutet überreizte Verwundbarkeit. Man ist »gegen« etwas empfindlich, und Empfindlichkeit zeigt sich zumeist als eine Empfindlichkeit gegen Bestimmtes. Denn »empfindlich« nennen wir nicht schon die zart und fein Empfindenden, die mimosenhaft zurückschreckend sich auf sich selbst zurückziehen, die gleichsam »ohne Haut« sind. Empfindlichkeit kennzeichnet vielmehr eine bestimmte Konstitution, durch die man etwas erklärt: das Nicht-fertig-werden mit Niederlagen, skrupulöses Nachtragen von etwas usw. Sensitiv ist aber einer, der schnell mitschwingt, der Schwärmerische. Sensitivität ist überwaches Gespanntsein auf … Sofern aber der Sensitive nur eben »gestimmt« wird, in der Stimmung ertrinkt, wird er gerade nicht erschüttert. Er ü b e r l ä ß t sich der Stimmung. Er wird »angesprochen« durch die Natur, in der er sich wiederfindet, die ihm aber keine Begegnung bedeutet. Und im Unterschied dazu, daß man sich in seiner unvertretbaren Einzelheit erlebt, gibt es hier gerade die »Gleichstimmung von Seelen«. Empfindsamkeit ist ansteckend. Man kann sich hineinsteigern. Was in der Zeit der Empfindsamkeit in Blick kam, war der Mensch in seiner natürlichen Kreatürlichkeit, wie er als ursprünglich gut aus der Hand des Schöpfers hervorgeht. hUnten, z. T. am Bl. geklebt:i +) Der Empfindsame lockert gleichsam an seinen sachlichen Bindungen, um sich dem Gefühl überlassen zu können. Der S e n t i m e n t a l e »affek-

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MS Die menschliche Natur

e.

hAbenteureri

Das »Unerfüllte«, das dem Erleben entgegenwartet, drückt sich z. B. auch in der S e h n s u c h t aus. Sehnsucht ist kein bloßes Verlangen nach etwas oder Begierde. Denn das Verlangen bezieht sich auf schon Bekanntes; man will es »haben«. Und gierig ist man, sich etwas n e h m e n zu können. Verlangen werden erfüllt, sofern ihnen entsprochen wird; Begierden werden »gestillt«. Die S e h n s u c h t nach einem Menschen ist aber etwas anderes als das Verlangen nach dessen Gegenwart, sofern dieses immer bedingt ist, der Andere hierbei beansprucht wird in etwas. Eine Sehnsucht nach dem Andern entspringt aber der E i n s a m k e i t . Und sie ist u n b e d i n g t . Man sehnt sich nach dem Anderen, sofern man nur bei bezw. mit ihm »sein« kann, was man ist. Sehnsucht sucht durch etwas zu sich selbst zu kommen. In der Stabilisierung des Lebens der Alltäglichkeit z. B.h,i wo einem alles abgenommen, weitgehend erledigt ist, spürt sie das Verbautsein des Ursprünglichen. S i c h -nach-etwas-sehnen heißt: von sich in seiner Unerfülltheit weg h0097i zu einem andern kommen wollen. Die R i c h -|t u n g der Sehnsucht ist hS.i 82 die entgegengesetzte des Verlangens und Gierens. hEinf. m. Tinte:i Sehnsucht vermißt etwas. Ein Verlangen wird aber rege, Begierde wird gereizt durch etwas. Der Sehnsüchtige greift aus in die Ferne seiner selbst. Was er vermisse, ist in der altsächsischen h?i Bedeutung des Wortes etwas, was er eigentlich schon mißt. Sehnsucht lebt z. B. in dem Abenteurer. Das »Unerfüllte«, aus dem heraus er sich sehnt, bedeutet nicht etwa Nicht-ausgefüllt-sein – so wie bei einem, der in Anspruch genommen zu werden verlangt, dessen Fähigkeiten sonst brach liegen oder der gar nur die Zeit auszufüllen sucht. Der Abenteurer ist angewidert von dem Leben der Mittelmäßigkeit, in dem Arbeit und Vergnügen reguliert sind, das auf kurze Sicht gelebt tiert« aber Gefühle. Er ersteigert sie sich. Man bemerkt das Unechte seines Gebarens; er wirkt äußerlich und ohne Tiefe. Er bringt die Sache vor den Spiegel gespielter Gefühle. Das Schablonenhafte dieser Gefühle fällt auf. Die rechte »Mitte« fehlt ihnen, während ursprüngliches Fühlen auch in der Eindeutigkeit seiner Ausspitzung ungehobene Gründe nicht verleugnen kann. Es ist, als ob dem Sentimentalen die Gefühle zu Gebote stünden. Er provoziert sie durch die Haltung, die er spielt. Sie sind nur an der Wurzel unecht: sofern ja doch die Sache angespiegelt durch das ihr zunächst e n t g e g e n g e b r a c h t e Gefühl wieder z u r ü c k wirkt. Sentimentalität steigert sich so hinein in das Gefühl. Der Sentimentale verschafft es sich, das Verlangen seiner Schaustellung treibt ihn dazu. Von Fall zu Fall, wiederholt, »gerät« er in das Gefühl, das nur scheinbar ihn, das tatsächlich aber er beherrscht.

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Erlebnis

wird – schicksallos, nur auf Glück und Zufall abgestellt. Das hier Erreichbare scheint ihm seinen Lohn schon dahin zu haben. Den Abenteurer ekelt dieses sich ausbreitende befriedigte N u r-leben. Er hat einen Instinkt dafür, wie die Sicherheit des Bürgers doch nur eine solche ist, die er flüchtig durch Halt an den Dingen findet, daß er aber nicht eigentlich »steht« im Abgründigen. Der Abenteurer sehnt sich danach im Elementaren zu stehen – das der Sensitive in der Natur sucht und in sich f i n d e n kann, sofern er Teil ist der Natur. Dem Abenteurer e n t – d e c k t sich aber das Elementare, nämlich im Durchbruch dazu. Es blitzt auf im Durchschlagen der Sicherungen, die der Mensch der Alltäglichkeit schützend zwischen sich und seinen Ursprung geschoben hat. Der Abenteurer stellt in Frage, was diesem nur allzuschnell als der Sinn seines Lebens für schon entschieden gilt. D. i. woran er doch eigentlich nur eben glaubt, was aber nicht aus eignem Ursprung vollzogen ist. In der Verdächtigung schon dieser F r a g e durch den Bürger drückt sich ja doch aus die Witterung um den Verlust von Sicherungen, wie auch seine Betriebsamkeit doch nur mühsam die Angst vor der gänzlichen Sinnlosigkeit dieses Lebens verdeckt. Sicherlich – der Abenteurer kann scheitern, nämlich e r s e l b s t und nicht nur sein Beginnen – wie andererseits lediglich das B e g i n n e n des Frevels fehl schlägt und sich als Torheit erweist –h,i aber der Bürger ist doch nur k l ü g e r als er, wenn er sich vorbeischleichen will an den Gefahrenh,i von denen das Dasein umstanden ist. Die Unsicherheit, die der Abenteurer wittert, ist eine h0098i prinzipielle. | Sie ist nicht privativ zu verstehen wie die Unsicherheit des bürger- hS.i 83 lichen Raumes, die immer nur mehr oder weniger groß und die immer eine sachlich bestimmte ist. E i g e n t l i c h e Unsicherheit ist aber gerade das Primäre gegenüber jeder Sicherheit, in der diese Unsicherheit nur beschwörend aufgenommen, bannend zu umkreisen gesucht wird. Der Abenteurer durchschaut das Kulissenhafte des Raumes, der den Blick auf die Scene des sog. »Lebens« zu ziehen sucht, er durchschaut das Spiel, das hinwegbringen soll über das, was ihm gerade aufbricht im Grunde des Daseins. Sofern sich ihm aber die »e i g e n s t e n« Möglichkeitenh,i um die er sich betrogen fühlt, verkehren in ihm nur eben vorenthaltene Möglichkeitenh,i d. i. in solche, die man sich nehmen kann, sofern er mit Gewalt Chancen durchsetzen will, ist er eine »gebrochene« Existenz. Den Abenteurer hält es nirgends. Er steht unter dem Zwang, immer von neuem beginnen, neues wagen, weitergreifen zu müssen. 287 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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Erreichtes tritt ihm sogleich enttäuschend zurück hinter noch unversuchte Möglichkeiten. Er kann nicht haltmachen. Die Söldner z. B. waren Abenteurer. Für geringen Sold schlugen sie ihr Leben in die Schanze, durch diesen Kauf ausdrückendh,i freikommen zu wollen von denen, die ihnen sonst etwas schuldig sein könnten. Der Abenteurer wird verlockt, er unterliegt der Versuchungh,i den abgesteckten Bereich von Sicherheiten preiszugeben. Verwegen wagt er sich vor ins Unbekannte. Er sucht nicht etwa die Gefahr. So wie sie wohl einer suchen mag, um sich daran zu messen, sich in seiner Stärke beweisen zu lassen. »Selbsterfahrung« würde hier bedeuten: sich seiner in seinem Können und daraufhin auch sich seiner Berufung bewußt werden. Und es erfüllte sich ihm insofern sein Leben, als seine Stärke, hEinf. m. Tinte:i als die in der Kühnheit bezeichnete Kraft sonst brachliegen würde. Der Abenteurer tritt aber hinnehmend und nicht gestaltend den Dingen entgegen. Er entschlägt sich aller Sorge und Vorsicht. Es sind nicht »tatsächliche« Gefahren, mit denen er rechnet, denen man auch nur umsichtig begegnen könnte. »Gefahr« in diesem Sinn ist gar nicht eingebaut in sein Beginnen, er ist gleichgültig dagegen. Verwegenheit bedeutet anderes h0099i als Mut und Kühnheit, in denen das | Maß eines Menschen, in denen hS.i 84 Tugenden bezeichnet sind. Der Abenteurer »wirft sich« ins Unbekannte, läßt es darauf ankommen. Er versucht seinen Untergang. Er ist aufs Scheitern gefaßt. Der Abenteurer unterscheidet sein Leben, das hUnterstr. m. Tinte:i »untergehen« kann, von einem auf den T o d ausgerichteten Leben, dem es im »Sorgen« um sich selbst geht. Das Bindungslose seines Beginnens benimmt aber auch den Herumgetriebenen der Freiheit, sich Endgültiges in Erfahrungen und Begegnungen bedeuten lassen zu wollen. Die »Fremde«, wie sie in Ländern, Landschaften, Völkern »erlebt« wird, durchbricht den überkommenen Horizont. Und daß die Fremde »lockt« bedeutet etwas anderes als den R e i z des N e u e n . Neu sind Verhältnisse, die man bis dahin noch nicht gekannt hat, inbezug auf die man sich umorientieren muß. hAnführungszeichen m. Tinte:i »Neu« bedeutet ein sachliches, »fremd« aber ein existenzielles Verhältnis. Dem Reiz des Neuen erliegt man. Man verlangt hier danach, giert nach dem Neuen. Im Unterschied zu dem Sich-sehnen nach dem Unbekannten, wofür einem die Fremde steht. Man braucht das Neue als Stimulans, wenn man satt und überdrüssig ist. Man sucht hier Zerstreuung, sofern man mit sich nichts anfangen kann. »Neugierde« heißt: sich einmischen, kümmern um etwas, was nicht meine Sache ist, bei dem ich 288 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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nicht der Berufene bin. Man hascht nach Neuigkeiten als dem Stoff unverbindlicher Beschäftigung, sofern man sich daraus wegen seiner offenen Vieldeutigkeit alles Mögliche »zurechtmachen« kann. Man überläßt sich hier dem, bei dem man unverweilend vom einen zum andern springt. Dieses Haschen nach dem Neuen ist etwas anderes als das Getriebene des Abenteurers. Dessen Weg zur Erfüllung etwas anderes als die kurze, nicht lange vorhaltende, weil abstumpfende »Befriedigung« durch das Neue histi. Dem Abenteurer ist Sicherheit beengende Grenze, dem Neugierigen ist nur das Gewohnte langweilig. Die Erweiterung des H o r i z o n t e s ist nicht nur die eines G e s i c h t s k r e i s e s . Gesichtskreise sind beschränkt, sofern sie durch den Beruf abgesteckt, durch die »Umstände« des Lebens als natürlicher Gesichtskreis bestimmt sind. Befriedete Fraglosigkeit zeichnet sie aus. Man kann sich freimachen von der Zufälligkeit des Gesichtskreises. h00100i Der sich | auf das bezieht, was innerhalb seiner als eines abgesteckten hS.i 85 Feldes liegt, was darin vorkommt. Gesichtskreise sind etwas Sachliches. Sie können sich decken. Man kann den Gesichtskreis des Anderen durch Schulung und Belehrung erweitern. Jemandes »H o r i z o n t« ist aber nichts so Sachliches. Den »Horizont« gewinnt man. Nur Entscheidungen stehen unter einem Horizont, dessen Offenheit keine Unbestimmtheit meint, sondern zum Vorschein bringt, wie gerade das Ungründige unseres Daseins in der Entschiedenheit einer S i c h t »aufgenommen« ist. +) 75 Reisen erweitern zunächst durch das Neueh,i das man dabei sieht, den Gesichtskreis. Die hUnterstr. m. Tinte:i Begegnung mit dem F r e m d e n bedeutet aber ein Frei-werden des Horizontes, der gerade durch die Gesichtskreise verstellt wird. Man erlebt z. B. die Tropen in der Physiognomie ihrer Landschaft. »Physiognomie« – darin liegth,i wie »Landschaften« nur im Spiegel eines bestimmten Menschseins erfaßt werden können. Wie alle entscheidenden Begegnungen ist das Erlebnis der Tropen unwiederholbar; man ist leicht enttäuscht, wenn man wieder hinkommt. Weil die Wandlung des Horizontes sich nicht wieder vollziehen kann. – Die Enge und Weite des 75 hUnten:i +) »Horizont« im üblichen Sinn meint die Grenze des in die Welt eindringenden und den Dingen entgegendrängenden Blickes. Er ist eine Grenze, die dieser Blick nicht als Widerstand irgendwo findet. Denn nur für den freien, nämlich u n v e r s t e l l t e n Blick kann sich etwas als Horizont zeigen, als die Grenze, bis wohin der Blick in dem Sinn »reicht«, daß er unter dem Horizont sich die Dinge einräumt. Eine dem Raum immanente aber keine fest gegebene Grenze ist darin bezeichnet. Die Transcendenz des Daseins wird Erfahrung – im Horizont.

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Horizontes charakterisiert den Menschen selber. Er gibt Menschen »ohne jeden Horizont«. Es sind die, die an aufgegriffenen Zielen haften, stur in der Verfolgung von Aufgaben leben, Prinzipien durchsetzen. Sie wirken »unfrei«. Ihr »ohne Wanken« ist blinde Betriebsamkeit. Alles bleibt hier isoliert gegeneinander. Die »Welt« fehlt ihnen. Es sind die, die ein Wissen um das im Grunde Bodenlose ihrer Entscheidungen vermissen lassen. »Es muß eine Linie geben, die Existenz um sich zieht, innerhalb deren sie sich hält, wie das Übersehbare, Helle von dem Unh00101i aufhellbaren und Dunkeln scheidet.« Im Horizont erfahre ich die GrenhS.i 86 ze meiner | selbst – dem Fremden gegenüber. Und die »Helle« innerhalb des Horizontes ist eine »Lichtung«, die als eine Entscheidung geschieht, durch die Raum geschaffen, gleichsam angelegt wird für mein Leben.

f.

hSpieler, Sensation usw.i

Immerhin – der Abenteurer sucht Erfüllung. Und er bleibt sich treu im Weitergreifen. Der S p i e l e r aber, dem das Leben schal geworden, der es satt und überdrüssig ist, sucht nur vorübergehendes Vergessen. Auch ihm ist wohl Sicherheit und Berechenbarkeit unerträglich. Aber er sucht eine Spannung, die als Zuständlichkeit wiederholbar ist. Er l e b t im Aufs-Spiel-setzen dessen, was er hat und braucht. Und die Spannung von Beglückung und Vernichtung trifft ihn dabei in einer Wirklichkeit, die er gar nicht verlassen hat. Es geschieht hier keine Wandlung von Existenz – nur die eine Wand der Sicherheit wird hier niedergerissen. Der Spieler steht nicht eigentlich in Opposition zu der Welt des Bürgers; er ist nur raffinierter als dieser. Sicherlich – auch er hat ein Gefühl für das Scheinhafte und nur Vorgemachte des bürgerlichen Lebens, dafür, daß all die Dinge, denen hier nachgegangen wird, gar nicht den Ernst vertragen, mit dem sie behandelt werden. Aber sofern er in diese Welt nur eben eine neue Spannung hinein bringt, sofern er nur ihre Reizlosigkeit empfand, verstärkt er die Einrichtung dieses Raumes und erschwert die Abkehr davon. Der Spieler bleibt passiv, wenn er sein Glück versucht – Verwegenheit ist etwas anderes. Die Herausforderung des Geschicks ist dem Beginnen des Abenteurers ebenso beiläufig wie die Gestaltung der Dinge. Daß der Spieler nicht halten kann, bedeutet auch nur eine S u c h t zu spielen, d. i. nicht loszukommen von dieser Leidenschaft, der man verfallen ist, wenn man die Spannung des Spiels, d. i. diese Zuständlich290 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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keit nur einmal kennen gelernt hat. Das »Süchtige« besteht gerade darin, an etwas zu verfallen, was man sich als Reiz verschaffen kann, eine bloße Zuständlichkeit zu genießen, die zwar vorübergehend, aber beliebig wiederholbar ist. Nur der Mensch sucht Reize, für den die Zuständlichkeit als solche ein Mittel werden kann, sich von »sich selbst« zu lösen, d. i. die Last | des Daseins abzusetzen, wie sie als Langeweile und im Überdruß spürbar wird. Suchten und Triebe sind keine elementaren Stücke in der Konstitution des Menschen. Als ein Getrieben-werden-zu bezw. als Leidenschaft sind sie ein »Verhalten« menschlicher Existenz, die gerade hier nur als Ganzes und nur im Blick auf ihre Schicksalhaftigkeit zu verstehen ist. Beim Spieler liegt also eine Entstellung, ein Sich-entgleiten vor gegenüber dem Abenteurer. Gerade sofern er das, was er h a t , lediglich eben aufs Spiel setzt, bleibt er verhaftet dem, was jener hinter sich läßt. Der Spieler verstellt sich, worum er als um die elementare Möglichkeit des Menschen doch irgendwie weiß. Er biegt aus vor einer rückhaltlosen Begegnung damit. Er verbilligt sich etwas. Die »Verbilligungen« sind aber gerade die alltäglichste Wirklichkeit. Man sucht z. B. den Kitzel der Gefahr und genießt diese Zuständlichkeit einer spielhaften Spannung, die es nicht ernst werden läßt. Man möchte hier etwas erhaschen von dem, wohinein der Abenteurer vorstößt. Und man kann sich den Kitzel »verschaffen« – gegenüber der Verlockung des Unbekannten, das einen mitzieht. Auch das Gruseln »streift« so nur eben das G r a u e n . »Grauen« überkommt einen vor Abgründen, Dunkelheit – aber auch vor menschlicher Verworfenheit z. B. Man begegnet in der Verworfenheit menschlichen Möglichkeiten, an die man nie »geglaubt« hätte. Undurchdringliche Dunkelheit scheint das Sehen als eine bei mir selbst stehende Möglichkeit infrage zu stellen. Grauen ist abgedrungenes Haltmachen. Vom Abgründigen fixiert ist es eine Flucht in den Wechsel von Ausdeutungen; Fantasie dichtet aus, wo Leere und Dunkel kein Maß geben können. +) 76 Von woher sich auch das Rafinnement begründet, das zur Grausamkeit gehört, – die nichts so einfach Natürliches ist wie stumpfe Brutalität. | 76 hUnten:i +) Erschauerndes S t a u n e n wird aber durch das Imponierende, Gewaltige geweckt. Es verschlägt den Atem. Als elementar bekundet sich darin eine Wirklichkeit, die nicht zu fassen, die nicht begreifend beiseite zu bringen ist. Auseinandersetzung damit wird zum Schweigen gebracht. Das »ganz Andere«, d. i. etwas, was mich deshalb auch nicht aufscheuchen kann in der Unbesehenheit eines Glaubens, erzwingt dieses Staunen.

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h00102i hS.i 87

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Das Gruseln kann man aber lernen wollen. Man verfügt hier spielerisch über Rückzugsmöglichkeiten, reflektiert etwa beim Gehen durch den finstern Wald auf die doch schon verbürgte Kürze des Weges, sagt sich vor, daß es »eigentlich« nichts ist. Im Gruseln durchkostet man nur das Grauen. Auch die S e n s a t i o n gehört hierher. Schaulust sucht zunächst nur das »Sehenswerte«. Schon als unbeteiligter Zuschauer ist der Zirkusbesucher den Ansprüchen und Sorgen des Lebens entrückt, läßt sich von den Bildern in Bann schlagen, denen er folgt. »Sensationell« ist aber das Aufsehen-erregende, das einen nicht gleichgültig lassen kann, das Unerhörte, nicht für möglich gehaltene. Fantasie entzündet sich daran, malt es aus, beschäftigt sich damit. Und Sensation wird auch im Zirkus gesucht. Das ausgeklügelte Raffinement dieser Waghalsigkeit fällt auf. Weniger deren Schwierigkeit als ihre Gefährlichkeit hält in Spannung. Der Schauer, der einen dabei überläuft, wird als Zuständlichkeit begehrt. Er geht vorüber, wirkt vielleicht nach, bedeutet aber keine Erschütterung. Denn in diesem Schauer wird reflektiert auf die nicht-verlassene Sicherheit meiner selbst. Sensationslust, Spielsucht, Gruseln usw. – die Verbiegung liegt hier überall darin, daß man sich etwas n e h m e n will. Der Spießbürger will seine Grenzen nicht verlassen. Er ist vorsichtig im Spiel. Er will sich schützen gegen den Durchbruch dessen, worum er – das zeigt das Ausmaß seiner Zurüstungen hierbei – doch immer irgendwie weiß. Das Gesetz einer Sucht gilt es wie das einer Kurve zu erkennen. D. i. die Aufweisung ihrer inneren Möglichkeit bedeutet keine kritische Entlarvung in dem Sinn, wie die Psychologie des Ressentiment z. B. die allgemeine Menschenliebe zurechtrückt, d. i. wie hierbei ein Verhalten als doppelbödig demonstriert wird. Das Spiel z. B. wird ja doch nicht in d i e s e r Richtung als eigentlich etwas anderes aufgewiesen, wenn es h00104i als Verbilligung gezeigt wird. Nämlich dessen, zu dem im Menschen hS.i 89 eine | »unausrottbare Anlage« besteht. Es gibt keinen allgemeinen Begriff des Erlebens mit Unterarten, sondern nur einen »Sinnkreis« des Erlebens. Die sachliche Systematik der Psychologie gilt es durch eine existenzielle zu ersetzen. Man kann hier nicht zu allgemeinen Bestimmungen Unterschiede suchen wollen. Es gibt z. B. nicht einzelne Leidenschaften. Das begrifflich Verschiedenste kann gerade auf dieselbe Grundstruktur zurückleiten. Und andererseits – die Suchten z. B. »liegen« verschieden. Das Spielen z. B. – gerade sofern es Leidenschaft wer292 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Erlebnis

den kann – bedeutet doch kein Verkommen wie bei dem Rauschgiftsüchtigen. Dessen Euphorie ein Vergessen ist, der durch die Zustände, in die er als in seine private Welt absinkt, wenigstens vorübergehend eine r a d i k a l e Lösung von den Spannungen des Lebens zu erreichen sucht. Man kann nicht einteilen wollen nach Fühlen, Wollen, Denken. Denn was ist ein Gedanke? Doch die Aufnahme dessen, was zunächst als Anmutung in mir rege wird, wobei sich in der Schlüssigkeit des Gedankens überdies noch ein Vorhaben zeigt. Das Erlebnis scheint als etwas Geistiges und Verstehbares der Gegenpol zur »Empfindung« zu sein – solange diese nämlich in gegenständlicher Auswertung auf Erkenntnis deren elementares Datum darstellt. Empfinden bedeutet aber: sich in der Bewegtheit durch etwas empfinden, sofern dies auf mich wirkt. Und sofern auch etwas beengend auf mich wirken kann, ist in diesem Sich-empfinden nicht nur das Erleben, sondern auch die seelische Affektion mitangeschlagen. Wir setzen an der Mehrdeutigkeit des Menschen an. Sie zeigt zich z. B. in der Je-meinigkeit seiner Existenz, gegenüber der Individualität, in der jeder »seine« d. i. aber hier: die menschliche hUnterstr. m. Tinte:i Natur »ist«, sofern jeder »seine« Haltung hat usw. Grauen usw. sind keine »natürlichen« Affekte, denen man eine Haltung entgegensetzen könnte. Vielmehr: Selbst-sein vollzieht sich darin. 77

77 hUnten:i +) Auch Aristoteles z. B. bedeuten θρεπτικόν, αισθητικον, νοητικόν nicht Seelenvermögen in dem Sinn, wie Kant Anschauung und Denken unterschied und ihre Wurzel in der Einbildungskraft fand. Vielmehr: es sind W e i s e n d e s L e b e n d i g s e i n s , die an dem »Unterschied« von Pflanze, Tier und Mensch erfaßt werden. Und es ist die Methode des Aristoteles, lediglich Parallelen zu ziehen. Er beläßt es z. B. bei dem αισθανεσθαι als etwas sui generis, wenn er es in das Licht von Vergleichen stellt – ohne daß die αισθησιϚ aber mit der bloßen Bewegung dieses, hEinf. m. Tinte:i mit dem νοειν jenes etwa gemeinsam hätte.

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| hoben am Bl., m. Bleist.:iNachträge? XVIII hLebendigesi Der Begriff der Natur als dessen, was ein Wesen vermag im Zusammenhang des Seienden ist zugeschnitten auf Lebendiges. Lebendiges ist z u dem anderen bezw. geradezu »für« das andere sofern es sich z. B. »durch das Wasser für das Wasser« organisiert hat. Es erhält, d. i. e rm ö g l i c h t sich darin. Das Wasser ist Element des Fisches und nicht nur »Umwelt«, die ratio extrinseca einer hKorrektur und Unterstr. m. Tinte:i nur nachträglichen Anpassung daran wäre. Der »Grund« der Organisation eines Tieres und damit auch der darin mitgewordenen »Verhältnisse« in der Natur ist unergreiflich. Deshalb nennt Goethe den Fisch einen »entschiedenen« Bewohner des Wassers. XIX Das Leblose aber hat seinen Grund außer ihm. Durch das Zusammentreffen von Umständen entsteht »eine Wolke«, aber auch ein Kristall ist nur eine »typische« Bildung. So wesentlich es dem Quarz ist, gerade in dieser Gestalt zu kristallisieren – sie bleibt ihm doch insofern äußerlich, als ihr Grund in einem »anderen«, nämlich in der Struktur der Materie liegt. Quarz komme »in Stücken« vor. Was das Leblose »ist«, ist es nur, sofern es in den Kreis des Lebendigen einbezogen ist. hKorr. m. Tinte:i Was Natur »ist«, ist sie vom Lebenden her, das in seiner Aufgeschlossenheit für …, in der Organisation seines Leibes von der »Natur« durchwaltet ist. Die Sinnesorgane sind nur spezifische Weisen der Angängigkeit für … Licht und Helligkeit z. B. sind »in Wirklichkeit« nur Licht und Helligkeit, sofern sie die Ursache des Am-Werkeseins des Sehens sind. Sie sind es von der Unkraft des Lebendigen her, ohne Licht sehend sein zu können. Causa ist hier ermöglichende ratio extrinseca. Wenn man aber eine Naturerscheinung »verursacht« sein läßt, so bedeutet dies keine solche Abhängigkeit. Sicherlich – das eine wäre nicht ohne das andere. Was hier aber nur ein S c h u l d –s e i n -an bedeutet. Das Zustandekommen von … »braucht« offenbar … Dies und jenes ist daran »beteiligt«. Aber was wäre hier in »seinem« Sein »angewiesen« auf … ? Man begründet es doch nur in dem, a l s w a s man es sein läßt! Wir verstehen die Gestalt der Pflanze anders als die des Tieres. Während dieses seine Gestalt als hUnterstr. m. Tinte:i Individuum hat, wobei sich hierin gerade das Genoshafte seines Daseins betont, bedeutet der charakteristische Wuchs eines Baumes, wie er sich verzweigend sich 294 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Nachträge

verbreitet im Raum. Vegetation wuchert und »bewächst« den Boden. Und während die Pflanze hAnführungszeichen m. Tinte:i »darin ist« in Licht, Luft und Erde – was nicht nur die äußere Beziehung eines »Darin-seins« ist wie bei dem Stuhl »im« Zimmer – ist das Tier an | einem h00106i »hier«: es kann sich bewegen, d. i. »seinen« Ort wechseln. Schon wenn hS.i 91 wir etwas »hier« oder »dort« sein lassen – das »hier« meines Standortes fällt weder mit einem Punkt im Raum noch mit einem Stück dieses Raumes zusammen. Obgleich doch andererseits gerade was es a n g i b t in diesem Raume liegt. Es mag schwer sein zu entscheiden, ob die Bewegung der Gerberlohe etwa ein Sich-ausbreiten oder ein Sich-bewegen ist – wie wir doch der Schnecke, die langsam sich weiterschiebend jeden Teil ihres Weges mit ihrem Leibe deckt, in der Bewegung auch die »Mitte« ansehen, die sie erst hier – dann dorthin in dem Sinn gelangen läßt, daß sie sich »hat« an »ihrem«, d. i. an einem d u r c h s i e bestimmten Wo. Hier – d. i. nicht d o r t , für das das Tier a l s nicht-hier aufgeschlossen sein, hUnterstr. m. Tinte:i bei dem es h i e r seiend doch a u c h – nämlich wahrnehmend – sein muß. Deshalb auch: nicht schon die Pflanze, erst das Tier – nämlich durch die einzelnen Sinne – durch seinen Leib – kann empfinden, d. i. »sich« fühlen. Und deshalb der Zusamh00107i menhang zwischen Sich-bewegen und -empfinden-können. | hS.i 92

hBegreifeni »Begreifend sind wir als was das Begriffene ist.« (Heymann, Über die Farbe … Diss. Bonn 33). XX Die Dinge können offenbar-sein nur in so etwas wie Härte oder Stand. Etwas »ist« hart, sofern es »so« auf mich wirkt. Als »hart« bekomme ich es ebenso zu fassen wie in dem gestenhaften Griff des »Stehens« etwas begriffen ist. Die Einschaltung meiner Natur in der Einheitlichkeit ihres Wesens zeigt sich darin, daß das Verschiedenste denselben Eindruck auf mich machen kann. Und vorzüglich ist es die innere Bewegungsgestalt, Spannung und Lässigkeit, was sich ein-bildet in den verbalen Grundbedeutungen: wir »verstehen« das Können bei Liegen-können und Stehen-können verschieden. – Nicht aber, als ob die Dinge nur in dem offenbar sein können, was wir selbst sind, als ob die einbildende Eindeutung eine Übertragung wäre. »Begriffe« sind zunächst gekonnte und geübte Griffe. Man setzt sich hEinf. m. Tinte:i dann durch – sowie man auch in der Haltung, die

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die Affekte abfängt, sich selbst wieder in Griff bekommt. Der gemessene Schritt ist dem Menschen eigen. Der »Begriff« ist aber auch etwas, dem ich mich so verbinde, daß ich mich »selbst« darin vollziehe. Wie auch sachliche Furcht j e e i n e s Furcht ist, man sich – wie überhaupt in Gedanken – »seiner« darin bewußt werden kann. Im Begriff zu stehen bedeutet eine Entschiedenheit, und im Begriff seiner selbst zu stehen heißt: sich auf einen Sinn hin erschlossen zu haben. Was man hier »versteht«, bezw. worauf man zukommt hierbei, ist Existenz in der Freiheit ihres Selbstverständnisses. Die Dinge »begreifen« heißt jetzt: etwas insofern verständlich machen, daß man es in der Bedeutung erkennt, die ihm von einer überkommenen Auslegung her zukommt. Daß hier etwas »unter einen Begriff« gebracht wird, ist der schulmäßige Ausdruck für diese Verantw o rt ung. Als Person verbindet man sich vertretbarer Sachlichkeit. In der Sprache, der man sich frei verbindet, liegt die D e n k u n g s a r t eines Volkes. Das Wort zeigt beides, sofern es nicht nur als Lautgebärde der Einbildungskraft entspringt, sondern als S p r a c hwort etwas ist, worein man sich teilt, worin man sich mitteilt. Aber nicht schon das Wort, erst die Sprache ist Existenzial im Sinne von Heidegger. Und das im Wort Vernommene wird aufgenommen in den Intentionen, die der Bedeutung entsprechen. Das συμπαθειν ist der tragende Grund für dieses h00108i intentionale Entsprechen. | hS.i 93

hCharakteri hI.i Als »e i n C h a r a k t e r« gilt ein Mann von Grundsätzen. Womit nicht Prinzipien gemeint sind, nach denen er verfährt, die als »gut« gelehrt oder als »richtig« demonstriert werden könnten. »Ein Mann von Grundsätzen sein« drückt vielmehr das Unabdingbare einer Haltung aus. Die sich nichts abhandeln läßt. Die »Schwäche« eines Charakters ist etwas anderes als die »Schwäche« eines Menschen. Ein schwacher Mensch ist einer, der leicht zu überreden ist, »schnell umfällt« und insofern unzuverlässig ist, als er im Ernstfall vielleicht versagen würde. hEinf. m. Tinte:i Sein Wort gilt nicht viel. Ein schwacher C h a r a k t e r wechselt aber schnell seine Überzeugung. »Kein Charakter« zu sein bedeutet: des Unbedingten zu ermangeln, das seinerseits das Leben unter Bedingungen stellt. »Wenig Charakter« zu haben heißt: dort nur 296 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Nachträge

Fragen bloßer Tunlichkeit zu sehen, wo eigentlich Überzeugungen sich zeigen müßten. Bezw. die »Überzeugung«, die der schwache Charakter schnell wechselt, nämlich »ablegt« und »annimmt«, sind überhaupt keine e i g e n t l i c h e n »Überzeugungen«. Charakter besteht »in der Originalität der Denkungsart« (Kant 268), XXI Überzeugungen sind nicht in Formen des Allgemeinen zu demonstrieren. Sie sind aus eignem Ursprung. Man kann sie nicht aufgreifen und teilen wie Gedanken, über deren Richtigkeit und Wahrheit sachlich entschieden werden kann. Überzeugungen sind aber in einer Tiefe verankert, daß ihnen keine Diskussion etwas anhaben kann. Es sind Haltungen, die, sofern sie unbedingt sind, auch nur hierin bezeugt werden können. Nämlich von einem, dessen Verhalten nur von daher bedingt sein kann. Das sich seiner nicht Sichere, wenn man von erborgten Überzeugungen lebt, zeigt sich in der »Schwäche« eines Charakters. Die also nicht darin erst liegt, daß man die Überzeugung w e c h s e l t . »Ein Charakter« ist etwas anderes als menschliche Größe, d. i. »Größe der Seele«. »Ein Charakter« braucht auch noch keine »Persönlichkeit« zu sein. hForts. am unteren Blattrand gekl.:i Es gibt die Macht, den Zauber einer Persönlichkeit. Sie zeigt sich im Gespräch, wenn sie den andern in Bann schlägt. Sie setzt sich durch als tonangebend. Sicherlich – Persönlichkeit ist man ενεργεια nur bei den anderen, aber δυναμει von sich aus. Im Unterschied zu dem Ansehen bezw. dem Ruf, in dem man bei den andern steht, wobei einem das, was man in ihren Augen ist, von ihnen nur zugesprochen wird. Persönlichkeit ist nicht etwa nur das, was einer »vorstellt«. |

Ist aber jeder daraufhin zu prüfen, ob und wieweit er »ein Charakter« ist? Verhebt sich z. B. eine solche Frage nicht gerade an Napoleon? Sein Maß ist offenbar anders. Denn eine gewisse »Einfachheit« gehört dazuh,i »ein Charakter« zu sein. Die auch der haben muß, bei dem man »keinen Charakter« d. i. das Fehlen eines Charakters findet. Das E l e m e n t a r e bei Napoleon ist etwas anderes als »E i n f a c h h e i t«. »Festigkeit« heißt, daß einer in sich selbst »steht«. Auf elementare Bezüge weist aber gerade das G e t r i e b e n e Napoleons; das Unmenschliche gehört hier gerade mit zu seiner Größe. II. Das »Ausgesprochene« eines Menschen läßt von »einem Charakter« reden. (Das »Ursprüngliche« eines Menschen meint aber, daß er unverstellt ist.) »S e i n e« E n t s c h i e d e n h e i t ist etwas anderes als nur

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schnelle Entschlossenheit, die Ausdruck einer geistigen Kraft, hEinf. m. Tinte:i einer Haltung, mit der man ans Werk geht, ist. Als »der Charakter eines Menschen« werden dann die ihn kennzeichnenden Züge bezeichnet. Wie der Charakter eines Tieres seine Eigenart ist, Eigentümlichkeiten »charakteristisch« sind für … Man kann das Äußere eines Menschen, seine Fähigkeiten, aber auch i h n s e l b s t charakterisieren, wozu man – je nachdem – das Verschiedenste heranzieht. Jemandes Charakter – das ist »er«. Und man hat es zu verantworten, »wie« man »ist«. Indessen – so scheint man doch fragen zu können: was »kann« einer eigentlich für seinen Charakter? Sicherlich kann man nichts für die ererbten Anlagen. Daß man z. B. nicht musikalisch ist, hUnterstr. m. Tinte: i entschuldigt m i c h bei einem Verhören. Bei dem doch ebenso ererbten Temperament, das einen sich hinreißen läßt zu …h,i liegt es aber schon insofern anders, als man sein Temperament »zügeln« kann. Daraufhin, daß man d a s nicht tat, wird man zur Verantwortung gezogen. Überdies aber: ich s e l b s t »bin« hitzig; »meine Natur« ist so. Und das Temperament wird mir z u g e r e c h n e t . Es ist nicht nur etwas, womit ich – zufällig – »begabt« worden bin. Es s e i n müssen, ist etwas hm.Tinte:i anderes als: eine Begabung für … an sich zu h00110i entdecken. | hS.i 95 Man bemerkt das freie Verhältnis, das man zu seiner Begabung bezw. zu seinen Fähigkeiten hat. +) 78 Ich kann sie anwenden und ausbilden, aber auch brach liegen lassen. hM. Grünst.: i 79 Ich verfüge darüber. Sie sind ein mir überkommenes Gut. Beides – Begabung und Fähigkeiten – werden im Unterschied zu der Anlage zu … – immer positiv verstanden. »Meine Natur« ist aber etwas, worin ich mir nicht erspart 78 hUnten:i +) Als Fähigkeit gilt, was an Leistungen zu messen ist als etwas, was jemand von sich aus »kann« und wozu er nicht nur »in der Lage« ist. Ganz allgemein sind es aber hier »d i e« Fähigkeiten, was es zu erkennen gilt und die z. B. in jemandes Klugheit behauptet werden. Nur bei komplizierten Leistungen redet man von »einer« Fähigkeit bezw. geradezu der Begabung zu etwas. Man ist fähig zu dem, was man »über sich bringt«; die Fähigkeit zu etwas liegt immer in der Richtung einer Steigerung. Aus »Anlagen« werden Fähigkeiten entwickelt. Daß etwas eine normale oder gar durchschnittliche Fähigkeit ist, meint nur, daß ihr Vo r k o m m e n nichts Außergewöhnliches ist. – Das »Vermögen« macht aber – im Unterschied zur Begabung – einen Teil der »Natur« eines Wesens aus. 79 hM. Grünst.: i Im Unterschied zum hAnführungsz. m. Tinte:i »Vermögen« ist in der Begabung das mitbedeutet, daß die Anwendung, Ausbildung des hierin Mitbekommenen in »meine Hand gegeben ist«.

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Nachträge

werden kann. ++) 80 Sie zeigt sich in dem, wozu ich z. B. leicht neige, in Schwächen und Fehlern. Aber auch in der Antipathie z. B. Sie ist etwas, wozu und wogegen ich nichts kann. Sicherlich – ich kann dagegen angehen. Aber sie überwinden heisst nicht sie beseitigen. Die Natur ist mir nicht m i t gegeben, sondern ich bin mir s e l b s t darin gegeben. »Meine Natur ist so …«h,i das entschuldigt mich nicht. Man will auch gerade ernst genommen sein in dem »So-ein-Mensch-sein«. Man wehrt sich dagegen, nicht »selbst« so sein zu sollen. Wie man überhaupt, je älter man wird, umso weniger auch geneigt ist, an Zufälle und Fremdbedingtes in seinem Schicksal zu glauben. Ich stehe zu meiner Natur. Meine Freiheit scheint mir sonst halt- und bodenlos zu sein. Haß z. B. kann geradezu bedeuten, seine Antipathie auch verantworten zu wollen. Immerhin – meine Natur »erklärt« irgendwie mein Versagen. Eine große Seele ist »frei von …«. Auch wenn man von einer h00111i »starken Natur« spricht, erklärt sie etwas. | Die Natur erklärt z. B. »den Charakter« eines Menschen. Den hS.i 96 Menschen »selbst« kennzeichnen wir z. B. als »großmütig« oder »klein« und führen das vielleicht dahin aus: er sei nachträglich, neidisch usw. So ist er »zu anderen«, so zeigt er sich in den Verhältnissen des Lebens. Es ist die »Gesinnung«, der man hier immer wieder bei ihm begegnet. Der Charakter ist das, was er i s t , worin er sich nicht nur »findet« wie in seiner Natur, sondern worin er sich f r e i v o l l z i e h t . | Zusatz zu Seite 3 h= S. 95i Antipathie usw. entwickelt sich: »meine« d. i. die »Natur«, in der ich mir nicht erspart werden kann, wächst sich aus. Etwas anderes aber ist die Physis eines Menschen, wie sie in der Gemeinheit seiner Füße, seines Ganges, seines Nackens, wie sie in der Vulgarität seines Auftretens liegt. Sokrates’ Gesicht zeigt, daß er von »gemeiner Art« war. Er kann seine gemeine Herkunft, diese T a t s a c h e nicht verleugnen. Nämlich vor anderen bezw. vor sich selbst, sofern sie ihm anzusehen ist. Dies Nicht-verleugnen-können ist also etwas anderes, als nichts gegen seine Natur zu können. – Heuchelei bezieht sich aber

++) »Konstitution« ist dagegen ein systematischer Begriff. Als bestimmte Konstitution wird meine Natur messend auf eine Formel gebracht. Es gibt Konstitutionstypen. Daß eine bestimmte Konstitution zu etwas Bestimmtem »neigt«, meint, daß sie dazu disponiert. Der Mensch wird hierbei als Fall betrachtet. Jemandes Natur ist aber gerade »seine« und n i c h t im Sinn einer nur spezifischen Natur, als ob sie a n i h m nur eben zu finden und bestimmend festzustellen wäre.

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auf das Unechte der Gesinnung, die man zur Schau trägt. – Die Physis kann vergessen werden über dem Menschen selber, bezw. er kann sie geradezu vergessen l a s s e n . Die Physis ist etwas, was einem anhängt wie der Dialekt z. B. »Gewöhnlich« ist man a u s g e f a l l e n . Man h a t gemeine Füße, ein ordinäres Lachen usw. Die Rasse ist aber das G e s e t z einer Natur. Und setzt sich insofern durch in dem S t i l menschlicher Haltung.|

Die praktische Menschenkenntnis von Napoleon, Bismarck bedeutet: jemanden auf seine Eignung zu etwas erkennen bezw. die Menschen richtig einschätzen. Erfahrung steht dahinter. Weltkenntnis heißt: die Menschen richtig nehmen zu können, als Mit- oder Gegenspieler. Man r e c h n e t hier richtig in Bezug auf die anderen. Menschenkenntnis bezieht sich auf »die Menschen«, auf die Leichtgläubigkeit der Menschen, auf das, was »daran ist an« einem. Man kennt dann diese »Sorte Menschen«. Charakteristisch ist hierbei das, was typisch ist für … Menschenkenntnis bezieht sich nicht zuletzt gerade darauf, wie man »d i e M a s s e n« gewinnen kann. Sie ist sachlich und wendet sich auf Fälle an. Im V e r f o l g zeigt sich, ob man jemanden richtig eingeschätzt hat, als man ihn ein- bezw. ausschaltete. Erfahrung über »die Menschen« ist aber nicht das, was ich brauche, um jemanden in seiner »unvergleichbaren Individualität« zu erkennen. Sicherlich – auch jedes Blatt ist anders, einzigartig. Nämlich als Ausfall eines Allgemeinen. Es ist einzigartig in concreto, sofern es sich in das Ganze verliert, das in ihm wie am Zipfel gepackt wird. Als dies-da wird es wahr- h,i nämlich aufgenommen. Und es würde aus dem Begriff als aus seinem »was« gegeben werden, wenn man es »aus der Hand« ließe, bezw. aus dem Blick verlöre. Für den Menschen ist aber das Festgehalten-werden nicht konstitutiv. Der Name, unter dem er gerufen wird, ist keine Bezeichnung. Der Andere wird nicht vom Allgemeinen her sachlich verstanden als »ein …«. Bezw. wird sein Gesicht gerade dann nicht als Physiognomie gesehen, wenn er auf Rasseneigenschaften hin betrachtet und als Schildform z. B. demonstriert wird. Der rassische Typ, der ein Gesicht als Fall bestimmt, ist etwas anderes als der Typ eines Familiengesichtes. Daß es hier wiederkehrende Züge gibt, daß das Gesicht vererbt wird, zeigt andererseits, wie das als physio-gnomisch leitend Herausgesehene insofern »mit nichts vergleichbar« ist, als es nicht mit Mitteln des Allgemeinen gefaßt werden kann. Als ineffabile kann es aber gemeinsam sein. Indessen: jeder ist anders als der andere. Ein insofern verbindlicher Zusammenhang betont sich hierin, als der andere als meinesgleichen von mir unterschieden wird, (während die Dinge etwas anderes bezw. 300 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

Nachträge

das andere | gerade als n i c h t -meinesgleichen sind). Dieses Verhältnis zu mir zeigt sich in der verschiedenen Verbindlichkeit, in der der Andere zu mir steht: als näher- oder fernerstehend bezw. als Fremder. Das Nahestehen bezw. Fremdheit bekommt aber seine Bedeutung von mir in meiner Individualität her, und weil das Gesicht als Physiognomie gesehen wird, ist nichts befremdender als der Doppelgänger. Man wird unsicher dabei, gerade wegen des Fehlens einer generativen Gemeinsamkeit. Der Zweite erinnert an den Ersten, ohne »ihn« doch – auch nicht als Bruder – zu »sein«. Man sucht sich dann des Scheinhaften des Doppelgängers gerade durch Zuweisung an die Zufälle konkreter Wirklichkeit zu versichern. Wie man denn durch die Erkenntnis, daß einer nicht der ist, für den man ihn ansprach, überhaupt sogleich von selbst ausgekippt wird aus dem Physio-gnomischen. Anders als sonst bei Täuschungen, wo die S a c h e sich richtig stellt. Hier kann man »bei der Sache« bleiben, und das bedeutet die Aktivität einer in jedem Schritt sich wieder aufnehmenden Praxis gegenüber dem sich Angesprochenfinden durch den Charakter eines Gesichtes. In der Sprache, die einer spricht, kommt er, sofern es eine Gemeinsprache ist, nicht »an ihn selbst« zur Sprache; nur als P e r s o n +) 81 verbindet er sich »seiner« Sprache, und also auch den Begriffen bezw. dem sachlichen Verständnis. So entspricht man z. B. auch einer sachlichen Auslegung der Dinge, wenn man »Furcht hat vor …« und hier zumeist ein Verhältnis aufnimmt zu der Welt in ihrer Ausgelegtheit. Unsere Furcht ist mitteilbar, bezw. hat man sich darüber vor dem andern zu verantworten. Gerade daraufhin ist sie j e e i n e s , nämlich als die ihm als »Autor« zugewiesene Furcht. Für die einer aufzukommen, die er insofern zu »sein« hat. Man »ist« zumeist als Person. Das λογον διδοναι geschieht verhältnismäßig. Die Form des Begriffs – das »Ich denke, was …« – ist aus dem Verhältnis, in dem man zu sich als Vernunft steht, ihr entspricht, gar nicht zu lösen. Man vollzieht sich hier verhältnismäßig. Selbst-sein, d. i. aufkommen | für das, was man ist, bedeutet also noch nicht ohne weiteres ein hAnführungsz. m. Tinte:i »An-sich«-sein. Denn anscheinend kann man doch fragen, wie einer »an sich« sei – im Unterschied zu den Dingen, die in ihrem Was nicht auf sich »selbst« 81 hUnten:i +) Niemand »ist« persona, wie einer vir oder homo »ist«. Die Wendungen personam agare, gerare, zeigen, wie man nur im Verhältnis zum anderen, sofern man hier für jemanden genommen wird, persona »ist«.

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zurückgenommen werden können. Nur daß die Begegnung mit dem anderen ihn nur als Personh,i nicht wie er an sich selbst ist, zur Sprache bringen kann – ebenso wie auch ich hierbei nur im Verhältnis zu ihm »bin«. Sodaß also die Erkenntnis des anderen sich hierbei selbst im Wege wäre. Was aber ebenso wenig eine Verfälschung ist, wie bei der Erscheinung der Dinge. Denn wir bestimmen einander hierbei, und der Charakter zeigt sich in dem, was einer in den konkreten »Verhältnissen« des Lebens ist. »Du« bist die zweite und »ich« die erste Person: »meine« Selbständigkeit ist verhältnismäßig. Denn d i r gegenüber setze ich mich durch. Es gibt kein absolutes »Ich«. »An-sich-selber-sein« ist offenbar zunächst von den Dingen her konzipiert worden. Man will hinter die nur relativen Bestimmungen an die Sache selbst herankommen. Die aber doch das, was sie ist, gerade »i n Wirklichkeit« ist.hEinf. m. Rotst.: xi 82 Die Frage nach dem »an sich« der Dinge stellt sich zurecht. Aber das »an sich« des »Anderen« meint ihn doch: n i c h t im V e r h ä l t n i s zu …, also in seinem »F ü r- s i c h«sein. Etwas, worin man sich nicht mitteilen kann, worin man wesentlich hUnterstr. m. Tinte:i für sich allein ist, was man nur mit sich selbst ausmachen kann, ist z. B. meine Überzeugung. Nicht-mitteilbar zu sein trifft wohl auch zu für das, was unausdrücklich bestimmend ist für … Sich intentional aufeinander Einstellen durch Entsprechung und Vorentsprechung ist etwas anderes als das »Einander-treffen« in einem Einfall. Indessen – daß etwas im letzten Grunde »unsagbar« ist, heißt doch noch nicht: für sich allein sein darin. Denn Stimmungen sind ansteckend. Und jedes Denken ist doch – sofern man es in eine Sprache bringt – ein verantwortlich Zukommen auf das, was als einen bewegend doch so gefaßt, d. i. in das Licht des λογοϚ gehoben werden kann, daß sachliches Einverständnis mit dem andern möglich ist. Überzeugungen sind aber nur aus eignem Ursprung. Dafür aufkommen bedeutet nicht nur: sachlichen Ansprüchen Genüge tun. 82 hUnten am Bl. gekl.:i x) Das Prinzip der Dinge steht bei mir. ΦυσιϚ κρυπτεσθαι φιλει [Heraklit, Fragment 123: »Die Natur (das Wesen) liebt es sich zu verbergen.« In: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von H. Diels. Hrsg. Von W. Kranz. Erster Band. Weidmann, Zürich 2004, S. 178.] heißt nicht, daß sich die Natur mir in »ihrem« An-sich-sein vorenthält. Es erinnert an den Widerstand, den man erfährt, wenn man ihr erschließend beizukommen sucht, wobei man sich in diesen Widerstand gerade ihrer Wirklichkeit versichert.

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Nachträge

»Meine« Überzeugung ist nicht wie »mein« Gedanke etwas, was ich als Autor zu verantworten habe, worin mir der Andere widerspre- | chen h00115i kann. Während die Selbständigkeit eines Gedankens diesen Gedanken hS.i 100 von denen unterscheidet, die ich übernommen habe von anderen, ohne daß darum diese letzteren unecht wären, sind Überzeugungen etwas, dem ich in meiner Individualität, worin ich »mir selbst« hm. Grünst.: xi verbunden bin. hAm oberen Blattr. m Grünst.: xi hZusatz m. Tinte:i Worin ich aber keinem Andern – wie in meinen »Gedanken« usw. – hverbunden bini. Überzeugungen hegt man. Sofern ich etwas als meine Überzeugung behaupte, bin ich mir meiner selbst als der eigentlichen Instanz dabei bewußt. »Ich selbst« stehe und falle mit der Richtigkeit und Wahrheit dessen, was als Überzeugung aus meinem »Inneren« kommt, worin ich mich als unbedingt gerade insofern erfasse, als es meine Praxis unter Bedingungen stellt. Überzeugungen sind von vornherein der Diskussion entzogen. Sie findet gar keinen Ansatz daran. Auch hier gibt es ein als Charakter, bezw. in der Denkungsart Zusammenstimmen. Nämlich aus Sympathie. Und diese läßt mich zumeist allererst »wirklich« in ein Gespräch kommen mit den anderen. Man kann e i n e r Überzeugung, e i n e s Glaubens sein. Denn »Für-sich«-sein bedeutet ja nur die Zurücknahme aus persönlichen Verhältnissen. Wie ja auch der alltägliche Wortgebrauch des Für-sich-seins gleichbedeutend ist mit einer Vereinzelung im Sinn eines Sich-zurückziehens vom anderen. »Für sich«, d. i. sich selbst verbunden, ohne als Person anderen verbunden zu sein, spitzt sich zu in dem, was man »einen Charakter« nennt … In der Zeichnung eines Charakters, darin, worin ich wesentliche Züge zur Charakterisierung des andern zu sehen glaube, charakterisiere ich mich aber unwillkürlich selbst. Verschiedene geben ein verschiedenes Bild von dem Charakter eines Menschen, ohne daß darin aber eine Verfälschung läge. Prinzipiell kann eine Zeichnung so wahr sein wie die andere. Denn es gibt ja auch Grade der Wahrheit: oberflächlich-Sehen ist noch kein falsches Sehen. (Die Zeichnung eines T y p u s gibt aber die F i g u r wieder. Denn der Typ wird im Rahmen der Verhältnisse »des Lebens« als derjenigen Wirklichkeit gesehen, die ihn konkret bestimmt, ihm Bündigkeit verschafft.) Jemanden charakterisieren, bedeutet nicht: ihn k e n n z e i c h n e n durch … Denn das würde es bei den Dingen bedeuten, sie zu »charakterisieren«. Man charakterisiert sie durch Merkmale. Wie denn überhaupt Erkenntnis = Recognition ist. Man »bestimmt« sie als concreta: 303 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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durch die Anwesenheit von … Man macht sich in den Dingen mit der an dieser Stelle vorliegenden Wirklichkeit bekannt. Und so »charakterisiert« auch die rassische Zugehörigkeit den Menschen. Man zeichnet h00116i aber nicht | darum einen Charakter, um jemand damit öffentlich behS.i 101 kannt zu machen, sodaß er von jedem zu identifizieren ist. Man will »ihn« erkennen, d. i. sehen lassen. Und der Blick für ihn soll geweckt werden im andern. hKorr. m. Tinte:i Und dieses je einzigartige Verhältnis zu diesem andern steht gegenüber dem generellen Verhältnis zur Wirklichkeit bei der Erkenntnis der Dinge, an das man nur in dem Sinne »appelliert«, daß man es voraussetzt. »Größe« hUnterstr. m. Tinte:i kennzeichnet einen Charakter. Man spricht sie einem Menschen zu. Ebenso wie jemand darin moralisch b e u r t e i l t wird, daß man ihn »einen Charakter« nennt. Obgleich also jemandes Charakter hier nicht eigentlich »gezeichnet« wird, – e r s e l b s t ist es doch, den man hier beurteilt (anders als wenn man jemanden in seiner geschichtlichen Bedeutung als Persönlichkeit kennzeichnet). Aber bei diesem M a ß eines Menschen – nimmt man da auf eine »Norm« Bezug? So wie am Gesunden gemessen etwas als krank betrachtet wird? Der gesunde Körper ist – zunächst – nicht nur in dem Sinne Norm wie das Exemplar einer Art am B e g r i f f gemessen als Normal ausgefallen gilt. »Gesund« ist, was das Leben »erhält« – was wesensmäßig doppeldeutig ist: sofern sowohl der Körper als auch das, womit er lebt, »gesund« ist. Der hAnführungsz. m. Tinte:i »gesunde« steht dem überspannten Verstand gegenüber. hAnführungsz. m. Tinte:i »Gesunder« Egoïsmus ist unangekränkelt durch Rücksichten, die wohl eigentlich richtig wären, durch die man aber in seiner Selbstbehauptung behindert wird. Gesundheit ist am Nur-leben orientiert. Der Mensch »führt« aber sein Leben: Denn während das Tier sich ermöglicht darin, daß es sein genoshaft bestimmtes Leben erhält im Rahmen von Bedingungen, die es stellt und erfüllt, – wobei es sich in seinen »Vermögen« als durchwaltet zeigt von dem, w o m i t es lebt – stellt jeder Mensch »sein« Leben unter Bedingungen und erfaßt sich in der freien Entscheidung zu sich selbst als je unbedingt. Er ist s e l b s t sich selbst verbunden in jedem Schritt seiner Existenz. Das Ausgesprochene, Entschiedene, die Originalität seiner Denkungsart, sein Charakter zeigt sich darin, wieweit er auf sich selbst hin beansprucht werden will. »S e i n e« Möglichkeit hält sich im Abgründigen; er kann scheitern. Die Entscheidung m e i n e r s e l b s t ist nicht so zu begründen wie sachliche Entscheidungen, z. B. die Bestim304 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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mung der Dinge. (Das gilt für j e d e existenzielle Entscheidung – auch h00117i z. B. für die hinter der Sprache liegende). | Man erkennt sich darin, daß man sich in seiner Möglichkeit er- hS.i 102 schließt, d. i. im Sich-bestimmen-zu auf sich zukommt. Diese Freiheit zu sich selbst – wie sie sich in der Möglichkeit des Selbstmordes zeigt – vermittelt allererst die Freiheit zur Sache. Denn in den Hin- und Rücksichten, die konstitutiv sind für das Was der Dinge, drückt sich je ein bestimmtes Selbstverständnis aus: man legt s i c h s e l b s t aus im Begreifen der Dinge. Dieser Grund, den ich mir dabei lege, ist der Grund »m e i n e s« S e i n s . Als »selbst« komme ich auf für mich. Wobei aber zugekommen wird auf mein hUnterstr. m. Tinte:i »Dasein«, dessen ich nicht mächtig bin. Dasein ist der Stachel des »Selbst«-sein-zu-müssen. »Mein« Dasein – darin drückt sich aus, wie das Dasein rückwärts gleichsam schon anthropologisch bestimmt ist. Denn es ist nicht eigentlich »mein« Sein, d. i. es ist nicht das, in dem ich mir selbst verbunden bin. Andererseits bringt dies »mein« Dasein zum Vorschein, wie die Faktizität des Daseins, dies, daß ich immer schon bin, daß ich hKorr. und Unterstr. m. Tinte:i daseiend – daß ich hierin – keinen Grund finden kann, daß ich nicht zurück kann vor mir selbst, gerade aufbricht als die Endlichkeit meiner Existenz. Denn was sollte es wohl dem Tier bedeuten, daß es seines Daseins nicht mächtig ist? Das Tier lebt das Leben seiner Gattung. Aus dem Charakter versteht bezw. erklärt man ein Verhältnis. Z. B. von daher, daß einer starke Antipathien hat. Wobei aber nicht etwa diese Antipathien als der n a t ü r l i c h e Grund im Blick sind – wie etwa die Balgerei von Hund und Katze etwas »Natürliches« ist. Der Charakter hat keine Eigenschaften. Meine Natur ist sicher etwas, worin ich mir nicht erspart werden kann. Nämlich insofern, als ich sie »irgendwie« sein muß. Bezw. seine »Natur« will man insofern nicht wahrhaben, als sie »bloße« Natur wäre. Man sei nicht einfach jähzörnig, sondern es sei begründeter Zorn, es sei nicht bloße Antipathie, sondern gerechter Haß gewesen. (Mängel der Begabung, des Mitbekommenen will man aber als unleugbare hUnterstr. m. Tinte:i Erfahrungen nicht wahrhaben. Selbsterkenntnis geht hier nicht anders als sonst vor: sachlich, nämlich vergleichend, experimentierend, messend. Und sofern es Gaben, Glücksgüter sind, kann man hier neidisch werden auf den andern, der besser weggekommen ist.) Die Geistigkeit eines Menschen, er hAnführungsz. m. Tinte:i »selbst«, zeigt sich im Haß, sofern dieser eine lebendige Antipathie als Gedanke 305 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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verantwortet. Als einen Gedanken, den man wohl hegt, den man aber nicht mitteilen kann. Erst der Haß ist ein Verhalten, d. i. ein »Zug« des Menschen. (M e n t a l i t ä t ist etwas anderes als »Denkungsart« im Sinn h00118i | des Charakters. Es gibt die Mentalität unserer Zeit, die amerikanische hS.i 103 Mentalität, die des Juristen usw. Man verfällt ihr. Mentalität ist eine habituell gewordene Einstellung, die aus der Beschäftigung mit …, die aus dem Zuschnitt des praktischen Lebens entsteht, nämlich aus einer sachlich richtigen, entsprechenden Hinsicht. Es steht keine existenzielle Entscheidung dahinter. Man wächst hinein wie in geübte Handgriffe. Sie wird mitgemacht.) Nicht natürliche Neigung, Schwäche läßt jemanden als gutmütig charakterisieren. Sondern dies, daß er – daraufhin Denkungsart – ohne Arg ist, d. i. weder Böses will noch vom anderen erwartet. Und jedes Gutmütigkeit ist unvergleichlich, – sofern der eine hAnführungsz. m. Tinte:i »nur eben nichts dabei findet«, der andere aber »es für nichts achtet, daß …« usw. Freiheit wäre halt- und bodenlos, wenn ich mir in meiner Natur nicht ebensowenig erspart bleiben könnte, wie ich »mein« Dasein nur durch Selbstmord auslöschen kann. Im Haß hAnführungsz. m. Tinte: i »verbindet« man seine Antipathie sich selbst. Bezw. bleibt man hängen, verspinnt sich darein, ohne damit fertig zu werden, ohne zu sich selbst eigentlich frei zu werden: ein »kleiner« Charakter. Denn Charakter ist zunächst die Denkungsart, die z. B. auch banal und gewöhnlich sein kann, wenn man z. B. sich dem verbindet, wie die andern denken. Nur »ein Charakter« bedeutet Originalität der Denkungsart, bezw. nur hier ist überlegene Größe zu finden. Sich s i c h s e l b s t verbinden, sich hierbei als unbedingt erfassen, hat seine Parallele darin: sich als Vernunftwesen dem Sittengesetz als unbedingtem, d. i. kategorischem Imperativ zu verbinden. Aber der Mensch ist eben frei zu s i c h s e l b s t , d. i. zu den Bedingungen, zu denen er f r e i als zu seinen Bedingungen sich verbindet. Bezw. w i r d er es, d. i. »w ä c h s t« er als Mensch. Wie überhaupt der Charakter etwas ist, was sich auszeugt. Man kann verkümmern und »arm« bleiben; es gibt auch »wuchernde« Charaktere. Das Tier hat keine Gebärden. In dem »Natürlichen« seines Gebarens zeigt sich dasselbe an wie in dem Einfachen seines Blickes, der »ungebrochen« die Dinge ins Auge faßt; das Auge des Tieres ist »nur zum Sehen« da. Das »Natürliche« der tierischen Bewegungen meint etwas anderes als das, woraufhin das Benehmen eines Menschen »na306 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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türlich«, nämlich ungekünstelt, unreflektiert wirkt: als das jemandem selbstverständliche Verhalten, sofern »seine« Natur so ist. Das Natürliche der tierischen Bewegung steht aber überhaupt dem B e n e h m e n des Menschen gegenüber. Das Tier springt oder läuft, verfolgt, flieht h00119i oder stutzt. | Man »versteht« den Flug des Habichts, der oben über der Wiese hS.i 104 seine Kreise zieht und auf Beute späht – nämlich als Ausdruck hierin gegriffener e l e m e n t a r e r Bezüge. Sich zu »benehmen« ist aber etwas anderes: in menschlichen Lagen, sofern man sich auf »sich« hin beansprucht findet, benimmt man sich. Das Tier tritt nicht auf; daß es »sich« verhält, wie daß es »sich« bewegt – darin drückt sich keine Freiheit z u etwas aus; in dem »sich« ist lediglich eine S p o n t a n e ï t ä t bedeutet: das Tier ist die »Mitte« »seines« als dieses Habichts Verhaltens. Das Tier reagiert nur. hEinf. m. Rotst.: x i 83 Der Eindruck wird hier nicht »aufgenommen«, – wie in der Verlautung des Wortes der Eindruck umgeboren wird. Ich schalte mich ein, wenn mich das eine an das andere erinnert. (Im Eindruck vernimmt man aber lediglich etwas – man wird nicht »affiziert« hierbei. Wie man deshalb auch den Eindruck sich zu übersetzen suchen kann, während es mit dem Affekt, in den man gerät, h i e r a u f h i n fertig-zu-werden gilt, man sich nämlich davon zu lösen sucht.) Der Affekt wird »gekonnt« in der Gebärde. Sie bedeutet den Beginn einer Distanzierung von dem, was mich bewegt – so wie es durch die Fassung des artikulierten Lautes gelungen ist, sich das darin Aufgenommene frei vorzuhalten. Nur daß dies kein d e n k e n d e s λογον διδοναι ist. Im Menschen wird hier etwas zu sich selbst entbunden. Das meint: nur sofern man sich selbst heraushält (μεσότηϚ), sich nicht mitnehmen läßt, gelingt es, den Eindruck der Flüchtigkeit zu entreißen. Das Freikommen von … wird ein Freiwerden z u … Und im Ausdruckssinn der Gebärde ist eine Ersteigerung bezeichnet. Das Tier ekelt sich nicht »richtig«. Die Vereindeutigung des Affektes in der Gebärde bedeutet aber ein »Aufnehmen« und Artikulieren – so sicher darin auch noch nicht die Möglichkeit eines freien Sich-vorhaltens angelegt ist wie im Laut, der v e r n e h m b a r ist, wie man hieraufhin das »Wort« sucht für … Immerhin, man fängt »sich« ab in der Gebärde. Und daß man am Gang, am Lachen jemanden erkennen kann, zeigt, hUnten am Bl. gekl., m. Rotst.: xi Die Vermögen des Tieres lassen es sich ermöglichen in hAnführungsz. m. Tinte:i »Umständen«. Der Mensch aber wird durch »Lagen« beansprucht – »Lage« daraufhin, daß es auf dem Wege zu sich selbst liegt.

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wie sie der Ausdruck »meiner«h,i d. i. einer als Vitalität anthropologisch bestimmten Natur sind, und wie sie als das auch gesehen werden. »Anschaulich« bin ich darin. Denn der Mensch h a t t e i l an dem allgemein Menschlichen. Er ist es nicht einfach. Teilhaben bedeutet ein Verhältnis zu sich selbst. Wie einer sich zu dem verhält, was er nur eben »auch ist« – in der Freiheit dieses Verhältnisses zeigt sich die Denkungsart als Schamhaftigkeit z. B. Und ich »besitze« Talente, f i n d e mich daseiend usw. Sich-zu-sich-»selbst«-verhalten bestimmt sich näher in den verschiedenen Richtungen, in denen man sich selbst findet, z. B. auch als h00120i »ich« selbst, nämlich ich »persönlich«. | hS.i 105 In ein Verhältnis zu mir selbst trete ich auch im Bewußtsein. Man »betrifft« sich z. B. bei dem unter der Hand Verstandenen. Und man wird sich seiner auch in demjenigen bewußt, worin man sich als seiner Natur zunächst verborgen ist. Denn nur gebrochen, in Verfältelungen zeigt sich die Denkungsart. Durch den anderen, hierbei Unbefangenen wird man zumeist zum Bewußtsein seiner selbst gebracht. Daß hieraufhin »Unbewußte« drückt terminologisch diese Möglichkeit aus, darin sich »selbst« zu betreffen. »Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf«. VII, 75 XXII Sofern der Mensch sich darin hUnterstr. m. Tinte:i irgendwohin auslegt, beziehentlich, sofern sie sich allererst bestimmt in den Verhältnissen des Lebens. Der Mensch »arrangiert« sich, und gerade im Ausbiegen, sofern er nicht eigentlich fertig wird mit sich selbst, kommt zum Vorschein, wie keiner »sich selbst« entrinnen kann. »Interpretation« bedeutet die Wiederholung solcher »konkreten« Entfaltung. Fertig-werden – d. h. nicht, sich unterkriegen – als ob gar etwa »Triebe« zu überwinden wären. So wie etwa in der Tapferkeit dem Verzagen, – d. i. ängstlichen G e d a n k e n ! – eine Haltung entgegengesetzt wird. Aber die Antipathie habe ich »groß werden lassen« usw. Und das Sich-begeben-haben, das gleichsam Vertan-haben der Freiheit zu sich selbst ist mir zuzurechnen. Die »Triebe« des Menschen sind keine natürlichen Triebe, es sind Suchten und Leidenschaften. Das Tier wird aber nicht eigentlich »getrieben«, wenn es z. B. seine Nahrung sucht. Es fehlt ihm die Möglichkeit solcher Unfreiheit. Die »Denkungsart« meint die Geistigkeit eines Menschen; aber auch die »Seele« soll der Charakter sein. Die B e d e u t u n g von »Geist« und »Seele« geht auseinander – in 308 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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anderer Richtung als âme und esprit oder soul, mind und spirit differieren. Diese Bedeutungsverschiedenheit kommt in den Wendungen der Sprache zum Vorschein, in denen gerade jemandes Charakter beschrieben wird: Es gibt schöne Seelen. Und die Gleichstimmung der Seelen bezieht sich ebenso auf das Empfinden, wie eine »feine Seele« Sinn für das Empfinden anderer hat. Daß das Empfinden für … auch gerade den Takt bedeutet, mit dem man den andern schont, zeigt die Gegensinnigkeit des Empfindens (das Peinliche einer menschlichen Lage wird empfunden, – wie man auch für den andern sich schämen und auch für ihn fürchten kann). Die Seele ist verwundbar, was sich meist hinter Härte zu verbergen sucht. Menschen ohne Seele fehlt die Resonanz, der volle | h00121i Klang; im Zentrum schwingen sie nicht mit. Sofern sie nicht mit- hS.i 106 geschaltet sind, erinnert ihr – daraufhin seelenloses – Gebaren an einen Leerlauf. Der T i e f e der Seele, in die der Mensch eingesenkt ist, steht die Höhe des G e i s t e s gegenüber, zu der er sich erheben kann. In der Stärke des Geistes ist gegenüber der Stärke der Seele, wie sie sich etwa in resistenter Tapferkeit zeigt – eine Aktivität bedeutet. Sie zeigt sich auch in dem Umfang des Geistes. Mehr oder weniger Geist zu haben, wird geradezu als eine Gabe betrachtet. Geist ist einem nicht eigentlich zuzurechnen wie die Denkungsart. Geist und Witz sind schöpferisch. hM. Rotst.: xi 84 Im Lichte des Geistes werden die Dinge aufgeschlossen. Während die Seele im Blick liegt, zeigt sich die Geistigkeit eines Menschen in seiner Hand. Geist setzt sich durch in der Gestaltung der Dinge. Er ist am Werke in deren Auseinandersetzung. Als Stil zeigt sich das Gepräge, das er den Dingen aufdrückt. »Ungeist« kann wohl die Stelle des Geistes einnehmen. Geist entzündet; er provoziert seinesgleichen. Man trifft sich in einem bestimmten Geist. Der sich verbreiten kann – als der Geist einer Zeit z. B. Das Bewußtsein ist etwas Geistiges; darum ist ein »Bewußtsein überhaupt« möglich. »Ich existiere als Intelligenz«, heißt es bei Kant. XXIII Das Subjekt des Bewußtseins vollzieht sich verhältnismäßig – im »richtigen« Schließen z. B. – Während Seelisches v e r n o m m e n wird, v e r s t e h t man Geistiges. D. i. man entspricht seinen Intentionen, verbindet sich ihm, vollzieht sich darin. Geist kann »aufgenommen« werden. Er bildet daraufhin. In der Sprache ist ein bestimmter Geist hinterlegt worden, der sicherlich bestimmt ist durch die Geistesart eines Volkes, der aber nicht etwa damit zusammenfällt, – 84

hUnten, m. Rotst.: xi Vorzüglich im Witz zeigt sich Originalität.

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sofern man ihn ja doch als den Geist einer anderen Sprache vollziehen, sich ihm ohne weiteres verbinden kann. In der Wendung, die man dem Wort gibt, d. i. in dem Gebrauch, den einer von seiner Sprache macht, drückt sich aus, wie deren »Geist« sich in dem Bau der Sprache als eines G e r ä t e s zeigt. In dem »Geist«, den einer entwickelt, ist er gerade von dem freigekommen, was in seiner D e n k u n g s a r t nur eben irgendwie arrangiert und entfaltet wird, d. i. woraufhin gerade die Denkungsart zu interpretieren ist. Während man sich in einem bestimmten Geist treffen, einander sachlich verstehen kann, gibt es die Gleichstimmung, das Sympathisieren in der Denkungsart. Wie man zu den andern und zu sich selbst, wie man zum Leben steht, darin zeigt sich, wie einer ist: wovon er sich schamhaft fernhält, wovor er prüde zurückschreckt. Darin, wie einer neidisch und nachtragend ist, wie er feige den andern vorzuschieben sucht. Wie er die Rede des andern aufnimmt, allgemein: wozu ihm etwas Anlaß wird. Neben h00122i der | Größe eines Charakters gibt es die »Enge« eines Menschen. Es gibt hS.i 107 männliche Charaktere usw. Aber auch darin, wie einer s i c h einrichtet, kann man erkennen, wie es inwendig in ihm aussieht. Z. B. die Angst, die er von der Leere hat, das Ungelüftete eines Menschen zeigt sich in dem, womit er sich umgibt. Die Intentionen, in denen sich die Denkungsart +) 85 auseinanderlegt, kommen in der Aura zum Vorschein, die ein Mensch um sich hat. Das Tier hat keine Intentionen. In denen gerade die Transcendenz des Menschen zutage tritt, dies, daß er im Ressentiment z. B., und schon im Neid, sich auf einen Horizont von Chancen hin erschlossen hat, daß er sich darin »eingerichtet« hat auf das Leben. Die Denkungsart – das ist somit geradezu die »Natur« eines Menschen, die ihm zuzurechnen ist. Also z. B. gerade die Schwäche seines Charakters, oder dies, daß er keinen oder wenig Charakter hat. Daß er der Schatten eines vielleicht ebenso unwirklichen Menschen ist, usw. Denn zumeist biegt der Mensch sich aus, verstrickt sich in Leidenschaft, läßt sich von anderen die Ebene eines Seins bestimmen, das »seines« nur daraufhin ist, daß er davon nicht freizusprechen ist. Der Mensch ist z. B. gewöhnlich, banal. D. i. »seine« ist gerade die gewöhnliche, die mitgemachte Denkungsart. Die Gewöhnlichkeit, nämlich dies, daß er 85 hUnten:i +) Die G e s i n n u n g , d. i. was man im Sinn hat für bezw. gegen die andern, wechselt und ist motiviert. Als der »Charakter« des Menschen gilt sie nur, sofern »wie einer ist« gewöhnlich dahin verschoben wird, wie er »z u e i n e m« ist.

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das Gewöhnliche sucht, sich ihm mischt und verbindet, ist ihm zuzurechnen. »Seine Natur« ist so – und das meint »ihn« gerade, sofern er des Charakters als der Originalität der Denkungsart ermangelt, ein Dutzendmensch ist, so wie das auch das Nichtssagende seines Gesichtes, seiner Schrift usw. ausdrückt. Indessen – es ist doch unverwechselbar »sein« Gesicht. Jedes dieser Gesichter ist in seiner Weise nichtssagend. Nicht erst die Originalität des Charakters macht die »unvergleichbare« Individualität. – Wie diese Originalität einer hat, der »seines« Falles immer gewiß ist, dessen Ironie und Spaßverstehen es ausdrückt, wie er nicht in die Gefahr kommen kann, sich selbst in Verlust zu geraten. Bezw.: »Aus eignem Ursprung« ist doppeldeutig. Sofern es das einmal bedeutet, daß die begründende Instanz der in der Denkungsart liegenden Entscheidung bei mir steht, wobei deren Unbedingtheit einer bedingten als sachlich begründeten Entscheidung gegenüber steht. Das anderemal ist aber nur dies damit gemeint, daß jeder »seine« Natur in dem Sinne hat, daß | ihm seine Denkungsart zuzurechnen ist. In seiner h00123i Natur erfaßt man sich ebensowenig als unbedingt, wie man sich darin hS.i 108 als bedingt in dem Sinn finden kann, daß man davon freizusprechen wäre, sich seiner Freiheit b e g e b e n zu haben. Wozu jeder hUnterstr. m. Tinte:i auf seine Weise gefährdet ist. – Sich z. B. (der Fall des Pedanten) als »eng« abzuschließen gegen den Einbruch dessen, was einen zu sich selbst wecken könnte. Das, woran aber hier einer als »eng« oder »klein« gemessen wird, sind Ansprüche, deren Grund in der Verfassung menschlicher Existenz gelegen sind. (Eine »kleine« oder »mittelgroße« Seele im Sinne von Pfänder ist ein Unbegriff). XXIV Das Temperament wird »artikuliert« im Charakter – man ist aber nicht »abhängig« davon. Nicht das Temperament, sondern w o r i n und w i e einer sein Temperament durchgehen läßt, das charakterisiert ihn, worin und wie er seine vitale Stärke zeigt. Die Denkungs a r t ist etwas, worauf man als auf etwas unvergleichbar Individuelles nur interpretierend zukommen, was man aber nicht auf die Formel irgendwelcher E i g e n s c h a f t e n bringen kann. Denn Eigenschaften sind vergleichbar. Was ist z. B. nicht alles »Aufrichtigkeit«? Rousseau war es in seinen Konfessionen, sofern er es sicher »e h r l i c h« meinte. Aber gerade der Mangel an Redlichkeit fällt auf, wie sich hier einer dazu überreden möchte, nichts ungefärbt und arrangiert zu haben. S e l b s t g e n i e ß e r i s c h schwelgt er in Geständnissen. Man erstickt in Sentiments. S c h a m l o s wird alles aufgedeckt und preisgegeben, eine entsprechende »Aufrichtigkeit« der andern pro311 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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voziert, um sich so von sich selbst freisprechen zu können. – Die großzügige Aufrichtigkeit Bismarcks ist anders. Er »neigte« zur Aufrichtigkeit. Aber wann kann und darf man aufrichtig sein? Denn Aufrichtigkeit will aufgenommen werden. Sie beansprucht den anderen. Worauf sich z. B. die Schüchternheit bezieht. Nicht nur, daß Eigenstes nicht dem Blick eines jeden gehört – es will überhaupt nicht dadurch verraten werden, daß es durch eine verhältnismäßige Herausstellung in zweideutiges Licht gebracht wird: um nicht gemein zu werden, fixiert man – in der Maske – die Rolle, in der man genommen sein will. Es gibt eine taktlose Aufrichtigkeit, wenn man ungebeten jedermann über sich aufklärt. Eine A n m a ß u n g liegt darin. Das Gewöhnliche einer Seele zeigt sich in diesem unehrfürchtigen Sich-herandrängen. Und war Bismarck darum etwa unaufrichtig, weil er, wenn es die von ihm vertretene Sache verlangte, zu Listen aller Art fähig war? Geradezu eine | Gewähr für persönliche Aufrichtigkeit liegt in der kalten und durchsichtigen Luft eines aufgeklärten Geistes wie Friedrich dheri Grhoßei, der sich selbst durchsichtig, ohne dunkle Winkel, der seiner Verhältnisse sicher, dessen Machiavellismus hUnterstr. m. Tinte:i sachlich war. – »Aufrichtigkeit« kann aber auch Ausdruck einer S a c h l i c h k e i t sein, die sich nichts abhandeln läßt. Nicht als ob hierunter auch ein Fall »echter« Aufrichtigkeit wäre – überall vielmehr liegt Aufrichtigkeit vor, nur daß nicht schon hierin der Kern des Charakters bezw. eine Eigenschaft des Charakters gegriffen wäre. – Oder: Gutmütigkeit ist nicht immer mit Dummheit verbunden; auch eine Größe kann dahinter stehen, die sich nichts vergeben kann, die gleichmütig und sorglos aus ihrer Fülle gibt. Und ebenso steht hinter der »Rechthaberei« nicht immer die kleine und arme Freude, billig die sonst vermißte Überlegenheit zu bekommen. Auch Empfinden für das Richtige kann sich darin ausdrücken, – was freilich wiederum dicht an das andere grenzen kann, auf »seinem Recht zu bestehen«, oder hierin ein Prinzip durchzusetzen. Man kann durch das einem vorgehaltene Recht zu sich selbst aufgeschlossen werden. – Zähigkeit im Widerstand kann Ausdruck einer ihrer selbst bewußten Kraft, aber auch ein Trotz sein, der erst herausfordert, sich dann selbst zu beweisen suchen will. – Zivilcourage ist ein anderer Mut als der des Soldaten. Nicht der Mut, sondern wie und worin einer sich nicht einschüchtern läßt, charakterisiert ihn. Nur Dinge und Sachen haben Eigenschaften. Sie werden auf die Anwesenheit bestimmter Eigenschaften analysiert, deren Zusammen hierbei – soweit nicht eine aus der anderen zu erklären, also überhaupt 312 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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nur scheinbar eine zweite Eigenschaft ist – unverstanden bleibt. Der Charakter liegt aber gerade z w i s c h e n den Zügen. Und sofern wie einer sich zu sich selbst und zu andern verhält seine Denkungsart ausmacht, gibt es hier nicht eigentlich den Gegensatz von Schein und Wirklichkeit. Was wäre überhaupt »echtes« Mitleid z. B.? Nur wohlwollende Freundschaft könnte »echt« sein. Aber nicht eine so periphere Teilnahme, wie es das Mitleid ist. Und daß etwas g e s p i e l t oder g e m a c h t oder g e h e u c h e l t ist – darin zeigt sich die Verschiedenheit von Wegen an, die hierbei gegangen werden. Oder das »Gewollte« mancher Forschheit z. B.: so wie man sich auch durch festes Auftreten zur Entschlossenheit bringen kann. | Es gibt a u f g e p f r o p f t e , d. i. nicht am eignen Stamm gewachsene Charaktere – so wie es auch Menschen gibt, die die Schrift und das Gesicht dessen annehmen, mit dem sie zusammen sind. Die mangels eigner Substanz der Schatten eines andern sind. Die durch ihr Talent andererseits aber auch auszeugen können, was dem hKorrr. m. Tinte:i Original nicht möglich ist. | Charaktere werden g e z e i c h n e t . Einzelheiten werden hierbei als »Züge« erkannt. D. i. sie bedeuten – ebenso wenig wie die Züge eines Gesichtes – s a c h l i c h dies oder jenes. Das »Bild« des Charakters ist nicht bloß eine Vorstellung. Man muß einen Blick haben für Charaktere bezw. sehen lernen. Das Prinzip des Charakters liegt im Anderen; Sehkraft ist konstitutiv für die Wahrheit eines Charakters. In seiner »W a h r h e i t« liegt aber die Wirklichkeit des Charakters – im Unterschied zu den Gefühlen, die »wirklich« im Sinne von echt, nämlich nicht nur gespielt sind. Die Wirklichkeit des Charakters zeigt sich in der Wahrheit seiner Zeichnung, d. i. im Standhaltenden seiner Interpretation. Man spricht vom Charakter einer Landschaft, einer Stadt, eines Volkes. Sie charakterisieren heißt: sie z e i c h n e n können, und charakteristisch sind wiederum als »Züge« verstandene Einzelheiten. Auch jede Farbe hat aber ihren »Charakter«; blau z. B. den einer gewissen Kälte, gelb einen Zug ins … Und überall kann man hier nur daran appellieren, es zu »sehen«, was man als ›den Charakter von …‹ zu beschreiben und auszudrücken versucht. hKl. m. Tinte:i (Das »Wesen« trifft aber die S a c h e , was sie im Grunde, in Wirklichkeit ist. Man sucht es als die Mitte herauszustellen, auf die bezogen die Einzelheiten einer Erscheinung in ihrer sachlichen Bedeutung verstanden und richtig gesehen werden. Als (un)wesentlich für … wird etwas von einem Stand313 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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punkt aus beurteilt.) Von dem aber, was einen C h a r a k t e r hat, finde ich mich »angesprochen«. Es gibt »nichtssagende« Landschaften, die insofern »ohne Charakter« sind. In einer Landschaft mit Charakter ist aber die Natur aus der Gleichgültigkeit, mit der sie uns umgibt, aus der bedeutungslosen Gegenwart, von der sie uns sonst gewiß macht, herausgetreten und hAnführungsz. m. Tinte:i »hat sich zum Menschen heraufbegeben«. Den Charakter »zeichnen« bedeutet eine Fixierung dessen, worin ich mich angesprochen finde. Sich-a n g e s p r o c h e n -finden heißt nicht nur: einen Eindruck haben, den man sich zu verdeutlichen oder nur auszudrücken bezw. zu fassen sucht. Den Charakter zeichnen heißt, ihn dadurch »treffen«, wie man hierbei »die Linien zieht«, was man verbindet, was man »dazwischen« läßt. Man kann den Charakter nicht aufzeichnen, wie man Sachen abbildet, d. i. ihren Anblick wiedergeben kann. Durch die Zeichnung kommt der Charakter allererst in die Wahrheit. Er wird nicht a l s in Wirklichkeit das seiend gesehen. Ihn erkennen heißt hier: ihn begreifen. Statt allgemeiner Begriffe als »Mith00127i tel der Erkenntnis« haben wir hier T y p e n von 86 | Charakteren. hS.i 111 Einen »bestimmten Charakter« sprechen wir dem Eisen z. B. oder einer Krankheit aber auch in dem Sinn zu, daß sie eine Eigenart haben, die sonst nicht wieder vorkommt, die sie in ihrer Erscheinung unverwechselbar mit anderen macht. Wobei auch etwas, was nicht Eisen ist, an dessen Charakter erinnern kann. Ihrem Gesamtbild nach zeigt eine Erkrankung »unverkennbar« den hAnführungsz. m. Tinte:i »Charakter« des Diabetes. Auf die Entschiedenheit eines Typus hin spricht Goethe von Pflanzengeschlechter, die »einen Charakter haben«. XXV Das B e s t i m m t e dieser Eigenart ist nicht mitteilbar – wie das Wesen einer Sache auf eine Formel zu bringen ist. – Gleichwohl: man d i a g n o s t i z i e r t als introvertiert die »Artung« eines Menschen, der hierbei auf eine Einteilung bezogen wird. Es gibt Spielarten und Typen im Sinn von Normen hierbei, indessen: »e r« wird hierbei doch nicht eigentlich erkannt, wenn s e i n F a l l auf einen Nenner gebracht, erklärt, d. i. erklärend demonstriert wird als … Man findet sich hier nur »zurecht« in h00128i Bezug auf den Menschen. | hS.i 112

hUnten:i ++) Die ΧαρακτηρεϚ ηθικοι des Theophrast sind figürliche Typen, wie sie »das Leben« zeigt. Der Charakter zeigt sich in Zügen; das Gesicht ist hUnterstr. m. Tinte:i Ausdruck des Charakters. Während man dem »Typus« begegnet. Er hat etwas Erscheinungsmäßiges. Die Rassenlehre unterscheidet nach ihrer Form die »Typen« von Gesichtern. 86

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Etwas anderes als »ein Charakter« und »eine Persönlichkeit« ist die G r ö ß e eines Menschen. Wobei dieses Maß eines M e n s c h e n sich nicht auf die vitale Stärke bezieht, sie ihn in seinem Geschick gewachsen sein läßt. Auch Gleichmut, den man wahrt, ist noch nicht Größe. Denn der Mensch zeigt sich erst darin, daß er in dem Sinn sich nicht abbringen läßt von sich selbst, als er in seiner Stellung zu Menschen und Dingen unberührt durch das bleibt, was ihm von daher widerfährt. (Während sich einer als »ein Charakter« bei seiner Entscheidung zeigt: darin, daß er nicht »vernünftelt« gegen das als auf seinem Wege richtig Erkannte. hAnführungsz. m. Tinte:i »Ein Charakter« zu sein, ist ein moralisches Urteil.) »Klein« ist es, verbittert zu werden. Bezw. zeigt sich der Mangel an Größe vorzüglich darin, wie einer sich selbst übersehen kann. Wenn er z. B. in der Resignation so leicht sich auszutauschen bereit ist gegen einen, der mehr Glück hat. Wenn er sich an seine Stelle wünscht, und schon durch den Vergleich mit ihm den Willen zu sich selbst in seinem Schicksal verleugnet. Groß w i r d man im Unglück. Man setzt sich gesteigert durch darin. Man w ä c h s t mit seinem Schicksal. Großmut läßt hinwegsehen über die Kleinheit der anderen. Die Größe einer Seele zeigt sich aber in ihrem »Umfang«. Darin, daß sie nicht »eng«, nach Prinzipien zu verfahren, daß sie keine Standpunkte braucht. Freie Überlegenheit wird Größe genannt. Groß ist einer, der sich selbst immer nahe bleibt, der sich nicht verstricken läßt durch die h00129i Dinge. | Das Gebaren eines Menschen kann man kopieren. Und sicherlich – hS.i 113 man kopiert »ihn« dann dabei. Was aber im Blick eines Menschen liegt, das kann man sich nur zu »ü b e r s e t z e n« versuchen. Der Charakter ist nur durch Interpretation, in »Z ü g e n« zu finden. Womit nicht nur Gesichtszüge gemeint sind. Auch das Verhalten eines Menschen ist ein Zug von ihm; die Anekdote tritt in den Dienst der Charakterzeichnung. So hAnführungsz. m. Tinte:i »entfaltet« sich aber auch ein Charakter in den Verhältnissen des Lebens. Wie man auch jemandem in der Sentenz, wie man ihm schon in der Sprache begegnet, die »nur er« spricht. Gang und Gebärden aber sind »Ausdruck«, sofern das, wovon einer bewegt wird, darin ausschwingt. Die N a t u r eines Menschen zeigt sich darin. Die Affekte sind gebunden an den Leib. Im Blick a n w e s e n d zu sein bezieht sich aber gerade auf ein excentrisches Verhalten, wie auch die im Wort faßbare Stellung zur Welt etwas Geistiges ist. Das Tier ist nicht 315 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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hAnführungsz. m. Tinte:i »anwesend« in seinem Blick, der vielmehr hier das Zentrum einer Umwelt ist. Sich – den Gang kopierend – ein-empfinden in den anderen bedeutet etwas anderes, als einen Charakter zu hAnführungsz. m. Tinte:i »spielen«, d. i. ihn als Figur handelnd darzustellen. Wie einer sich räuspert, das kann man ihm absehen. Aber seine »Denkungsart«, die doch nicht gekonnt und geübt werden kann? Es gibt die »Auffassung« eines Charakters. Dies, daß einer »im« Gesicht erkannt wird, d. i. daß das Gesicht nicht so zu ihm gehört wie sein Körper, tritt auch darin heraus, daß das Gesicht nicht – wie der Körper – nackt bezw. bekleidet sein kann. Das Gesicht verbirgt man in der Scham nicht wie seine natürliche Blöße: man meidet hier nur den Blick, d. i. die Begegnung des anderen. Der Körper ist nicht »er selbst«, bezw. dies nur im Unterschied zu seinem Anzug etwa. Er gehört (zu) ihm. Am Arm nicht anders als wie an seih00130i nem Ärmel gepackt kann aber einer »gestellt« werden. | hS.i 114 Man h e u c h e l t eine Gesinnung. D. i. man verstellt sich vor dem andern, den man hierbei zu täuschen sucht. Dies, d. i. einen Schein, Glauben beim andern erwecken zu wollen, oder unwillkürlich auf diesem Schein dem andern gegenüber zu bestehen ist vorzüglich der Zug, in dem sich hierbei der Charakter zeigt. Aber nicht die wahre Gesinnung, die ich hierbei zu verbergen suche. Sofern diese – eine Antipathie z. B. – gar nicht ausgebildet zu sein braucht. (Wie auch – in einem andern Fall – es wiederum nicht einfach die Heuchelei ist, was mich charakterisiert, sondern dies, daß sie mir zur zweiten Natur geworden ist.) Wie der Mensch sich gibt, d a r i n zeigt er sich zuerst. Die g e s p i e l t e Schamhaftigkeit der Koketterie will als nichts anderes aufgenommen sein: Koketterie kann echt und unecht sein. Und unecht wirkt sie, sofern sie nicht stimmt zu dem Menschen, seinen Stil durchbricht. Daß ein Mensch durch und durch echt ist, meint, daß alles an ihm von ihm durchdrungen ist. Unecht meint einen Substanzmangel. Das Unechte verrät sich – hier wie auch sonst – wenn etwas Nachgemachtem das Unechte schon angesehen wird – durch unsichere Zweideutigkeit –, wie ein echter Zug – oft wider Willen – hUnterstr. m. Tinte:i seine Sicherheit gerade in der Unzweideutigkeit seiner Erkenntnis erweist. Echt bezw. unecht hAnführungsz. m. Tinte:i »wirkt« ein Zug – so hieß es. Aber nur, sofern er als der Zug eines bestimmten Menschen aufgenommen wird. Wie auch eine Farbe nur als die Farbe eines orientalischen Teppichs unecht, nämlich nicht wie ein natürliches Rot, sondern wie eine Anilinfarbe aussieht. 316 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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»Echt« ist, was sich als das gibt, was es ist. Indessen: nur der Mensch kann sich geben, nur er hat die Freiheit eines solchen Sichverhaltens-zu … Der Teppich aber »soll« nur etwas vorspiegeln. Der Anschein, den etwas zu erwecken vermag, dies, daß durch die Dinge selbst eine Täuschung nahegelegt wird, etwa ein Schmetterling wie ein welkes Blatt aussieht, – bedeutet keine Unechtheit. Vielmehr: als Sache, die einen W e r t hat bezw. beansprucht, »gibt sich« der falsche Edelstein als einen echten. Das Prinzip des Scheines liegt beim Betrachter. Während die Erscheinung nur wahr im Sinne von bezeugend sein kann – nämlich sofern sie hUnterstr. m. Tinte:i zum Zeugen genommen wird für …h,i – ist der Mensch, sofern er s i c h g i b t , wahr oder nicht. Die Wahrheit | h00131i eines Menschen bezieht sich nicht nur auf sein Verhältnis, darauf, daß hS.i 115 er nicht lügt, d. i. daß er sich nicht in dem verschließt vor dem andern, wie er die Dinge sieht – sie kann auch die unverstellte Redlichkeit des Menschen selber, seine Substanz gleichsam betreffen; Redlichkeit z e i g t s i c h dann in seinem Verhalten. Unechtes Wohlwollen bleibt an der Oberfläche, wie eine Trauer offenbar – wie das sonstige Verhalten zeigt – »nicht tief« geht. Unechter ist kein eigentlicher Ernst. (Der verstellte Ernst des Pedanten ist aber etwas, wovon einer geradezu besessen sein kann. So wie jemand auch in der Prüderie »echt« sein kann.) Unnatürlich gemacht wirkt eine Freundlichkeit, wenn man sich durch Einnahme der entsprechenden Haltung hineinzustrecken und hineinzusteigern sucht, ohne diese Haltung doch eigentlich ausfüllen zu können. Unter den Augen der andern kann einer, der eigentlich ängstlich ist und bleibt, sich furchtlos zeigen. Die Scheu vor dem Urteil der anderen läßt ihn hier »etwas über sich bringen«. hKl. m. Tinte:i (Was nicht einfach eine zur Schau getragene Ruhe ist. Denn hierin braucht keine Spannung zu liegen gegen tatsächliche Ängstlichkeit. Man zeigt hier nur die Ruhe dem andern, bezw. drängt sich dem andern das Bild dieser Ruhe auf.) Durch das eine wird hier das andere überwunden. Einer, der keine Furcht kennt – das wäre eigentliche Furchtlosigkeit und natürliche Überlegenheit. Indessen – auch sich nichts anmerken zu lassen, sich in der Gewalt zu haben »ist« etwas. Man kann hEinf. und Unterstr. m. Tinte:i nur darin gerade vorbildlich sein. Denn Haltungen können einem beigebracht, zum Soldaten kann man erzogen werden. Und die Denkungsart zeigt sich darin, ob überhaupt und worin einer Haltung sucht. 317 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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Man redet von echter, d. i. wirklicher als einer reinen, d. i. uninteressierten Liebe. Hinter der nichts anderes versteckt ist. Oder man spricht es jemanden ab, daß er »lieben kann«. Wie wenn einer kein echtes, wirkliches Verhältnis zur Musik hat. Wobei man sich das eine Mal auf den Mangel eines Gehörs, das andere Mal auf die mangelnde Tiefe eines Menschen bezieht. Beide wissen gar nicht, was Liebe bezw. Musik ist. Sie verwechseln es mit etwas anderem. Sicherlich – es ist keine wirkliche, aber doch darum nicht etwa »unechte« Liebe. Daß sie sich als Liebe gibt, hat zum Grunde, daß man sie fälschlicherweise dafür hält. Andererseits: dem guten Gewissen hierbei fehlt die Durchläuteh00132i rung. | hS.i 116 1. Zwangsvorstellungen sind jemandem nicht eigentlich zuzurechnen. Er wehrt sich dagegen. Als gegen etwas, was »aus ihm« kommt. Denn so, wie einer Lähmung des Beines etwa, ist man ihnen nicht ausgeliefert. Man kann sich nicht so damit wie mit seinem schlechten Gehör entschuldigen. Andererseits: »meine« Natur ist es doch auch nicht: man will und kann darin gerade nicht ernst genommen werden wie in hAnführungsz. m. Tinte:i »seinem« Temperament z. B. Zwangsvorstellungen sind als a l l g e m e i n e Anfechtung bewußt, d. i. als eine solche, die – wie die Angst – bei jedem auf der Lauer ist. Aber ebenso wie jemanden noch nicht die Scham charakterisiert, sondern »seine« Schamh a f t i g k e i t , d. i. die Art, wie einer eintritt in die in der Scham eröffnete Grundsituation des Menschen – so auch hier: Die Bedeutung, die der in der Zwangsvorstellung widerwillig begangene Weg bekommt, wie weit er verfängt, wieweit er verfangen k a n n bei jemanden, darin liegt erst die Denkungsart. Das Sich-wehren dagegen ist zunächst etwas, was aus der Hinderlichkeit als natürlich zu verstehen ist. Wie man ja auch echte Angst nicht durch Mut bezwingen, sondern den Mut in der Aufnahme dieser Angst nur erreinigen kann. Andererseits: man l e i d e t doch unter Zwangsvorstellungen. Man wird angefochten dadurch, worin doch dies liegt, daß man »s i c h« dazu verlockt findet. Zwangsvorstellungen sind nichts den Sprachs t ö r u n g e n , dem Stottern etwa Vergleichbares. 2. Gibt es einen epileptischen Charakter? So wie es hEinf. m. Tinte:i doch auch den Manischen »charakterisiert«, daß er mit jedem sofort gut Freund ist? Die manische Denkungsart ist aber einer Grundgestimmtheit verhaftet, in die der Manische in einer Phase seiner Krankheit verfällt. Indessenh,i dieses oberflächliche Sym318 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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pathisieren ist keine Affinität der Denkungsart! Es ist die »Eigenart« des Manischen, ein Symptom, woran sein Fall diagnostiziert wird. Während der Durchschnittsmensch sich seiner Freiheit begibt, »seine« Denkungsart die des »man« ist, er insofern nichts, d. i. banal ist (unerachtet dessen, daß er aber im Ernstfall zum Zeugen dieses Glaubens werden, also »ein Charakter« sein kann) ist dem Manischen »nichts« eigentlich zuzurechnen. Wie auch die umständliche, gespreizte Feierlichkeit des Epileptischen nichts eigentlich bezeugt, wie sich vielmehr darin eine Hemmung, nämlich dies anzeigt, daß alles irgendwie schwerfällig umgangen, daß nicht frei h00133i darauf | zugegangen werden kann. Das stumpfe Vegetieren, die Verblödung bei Paralyse, Katatonie hS.i 117 demonstrieren aber eine fortschreitende Ausschaltung im Vollzug seiner selbst. Den »Blick« bricht die Krankheit. Wie auch in dem Müden, Schwunglosen, Läppischen der Demenz sich einer nur wie verwischt noch zeigen kann. Betrunken ist man nicht mehr klar, andererseits: jeder nähert sich hier – und d a r i n das Undifferenzierte – dem anderen. Während es sehr wohl einen hysterischen und einen Ressentiment-Charakter gibt. Es gibt g e s p a l t e n e Charaktere; Kälte und zarte Empfindlichkeit – eines bestimmt sich im anderen. Wie wohl auch bei Kurzschlußhandlungen einer nicht freikommen könnend von quälender Sorge, die ihm ihn besitzender Gedanke wird, streckenweise sich ganz einzuschalten verhindert wird (sein »eigentlicher« Charakter ist anders!) so kann auch – umgekehrt – im Beginn einer Erkrankung schlechthin »Menschliches« zu sich entbunden, d. i. freigemacht werden von dem, worin es sich als in die nächste Wirklichkeit verstrickt, worin sich einer als in menschliche V e r h ä l t n i s s e verfangen findet. Der Rahmen konkreten Daseins wird gesprengt. Der Mensch wird frei zu einer Wahrheit, die nicht mehr sachlich gebrochen ist. Was meint nun »Charakter«? Offenbar nicht das, worin van Gogh oder Goethe in dem Sinn unvergleichlich sind, daß man ein Bild oder eine Zeile als »van Gogh« bestimmt. Goethes C h a r a k t e r konnte sich nur »im Leben« zeigen. Nur hier konnte durch die Tat sein Wesen bestimmt werden. Im »Menschlichen« und das meint hier: in den »persönlichen« V e r h ä l t n i s s e n entfaltet, konkretisiert sich eine Denkungsart. Der Charakter zeige sich im Gesicht, vorzüglich im Blick eines Menschen – so hieß es. Nur 319 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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durch Begegnung mit …, nur darin, wie er die Dinge in der Welt trifft, »bestimmt« sich aber dieser Blick. Die Ursprünglichkeit des Genies ist etwas anderes als die Originalität, das Aus-e i g e n e m Ursprung-sein des Charakters. Das Genie stößt zu d e n Gründen durch. Originalität ist hier ein Z e i c h e n dieser Ursprünglichkeit. | Der Charakter, was einer »werden« kann, ist im Kinde angelegt. Dem jungen Menschen wird Unreife noch nicht als Charaktere i g e n s c h a f t beigelegt. Und alte Menschen wirken leicht starr und maskenhaft, wie schon gelöst aus den Verhältnissen, in denen eine Denkungsart lebendig ist. E r w a c h s e nsein ist eine Bedingung dafür, von einem Charakter überhaupt sprechen zu können. Was nicht etwa mit »Fertig-sein« zusammenfällt. Aber erst der Erwachsene hat den Horizont des Lebens gewonnen – entsprechend dem ausgewachsenen Tier, das in sein Element hineingewachsen ist. Erwachsen ist man aber z u etwas! |

h00134i hS.i 118

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hReflexioni. 1.

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Man reflektiert hUnterstr. m. Tinte:i über etwas, nämlich nachdenkend überlegend. Man durchdenkt hier etwas, bewegt es in Gedanken. Re-flektieren meint hier: zurückkommen auf einen Gedanken, nämlich λογον διδοναι. Der Gedanke wird dabei auseinandergelegt, in die Perspektive von Gesichtspunkten gerückt. Erst im Überdenken tritt das Relief eines Gedankens, das Gezüge seiner Lagerung heraus. Man übersetzt ihn sich, wenn man sich ihm im V e r h ä l t n i s zu … zu verbinden sucht. Was immer ein Um- und Neudenken bedeutet; es gibt Wege der Aneignung. Man reflektiert über den Eindruck von etwas. Hier sucht man sich zu erinnern, was hAnführungsz. m. Tinte:i »ebenso aussieht« bezw. wirkt oder ist, – so daß dies hier hAnführungsz. m. Tinte:i »ähnlich ist wie« … Daß dies hier ä h n l i c h ist wie das, woran es insofern erinnert, was aber dann e b e n s o aussieht – diese Beziehung zwischen dem »ähnlich« und »ebenso« ist bemerkenswert. Denn durch die Ähnlichkeit bestimmt sich sowohl der Eindruck des ersten wie der des zweiten. Er erreinigt sich hierin durch Abstreifung der verschiedenen Weisen, in denen das eine wie das andere z. B. hart ist. So daß man sich den Eindruck frei vorhalten kann. Eine Reflexion ist es, sofern man den Gedanken aufnimmt. »Aus der

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empfindenden, leiblich erwachten Tierheit löst sich der Mensch durch Befreiung des Schauens von der Herrschaft des Empfindens.« (Klages) XXVI Die Reflexion in der Modalität der Erinnerung bekommt in den Griff, was in mir aus den sachlich verschiedensten Anlässen als Eindruck rege wird. Man artikuliert »sich« darin. Man wird – reflexiv – s i c h s e i n e r bewußt in dem, was man vorhat. Hier wird man sich seiner s e l b s t bewußt. Man betrifft sich bei etwas – nämlich »sich« als einen, der überhaupt nur im Vollzug seiner selbst zu finden ist. Hier wird man v e r s e t z t in diese Reflexion; sie wird weder angestellt wie bei der Überlegung noch macht sie sich von selbst wie im zweiten Fall. Und ein spezifischer Sinn von Möglichkeiten ist hieran zu demonstrieren. Sofern nämlich dieses Sich-seiner-bewußt-werden | nicht nur eine h00136i gegebene Möglichkeit, d. i. nicht nur im Bereich des Möglichen hS.i 120 liegt, sondern in der Unbewußtheit dessen, wobei man ist und sich findet, konstitutiv so enthalten ist, wie der Schlaf die Möglichkeit des Erwachens ist. – In dieser Re-flexion wird nichts aufgenommen. Man kommt nicht zurück, sondern b e t r i f f t s i c h b e i … Das Re-flexive liegt darin, daß – während die Dinge intentional bezielt, d. i. unter eine Richtung genommen werden, für die man entscheidend ist, – man sich seiner selbst in einem Sein, nämlich in seinem schon-Entschiedensein bewußt wird. In d i e s e s Sein verschlungen ist aber das Sein der Dinge. Sein Ursprung, sein Prinzip liegt hier. Man erkennt »sich« in den Dingen. Nur in m i r s e l b s t kann ich ein S e i n erfassen. Man hAnführungsz. m. Tinte:i »läßt« die Dinge dies und jenes sein; der Gegenstand ist als seiend gesetzt. E r f a h r u n g aber – die auch das Tier hat – bedeutet ein Sich-einspielen, -Einüben auf … Durch Erfahrung wird man klug – ohne daß dies eine eigentliche E r k e n n t n i s bedeutete. Denn es wird hier nichts in seinem Was erkannt, nämlich »angesprochen« als dies oder jenes. »Angesprochen« als – das Was der Dinge ist das, worunter sie öffentlich bekannt sind. hM. Rotst.: xi 87 Im Verhältnis

87 hUnten, am Bl. gekl.; m. Rotst.: xi Praktische Kenntnis – wie der Handwerker die Zange »kennt«, erweist sich durch die Probe einer G e s c h i c k l i c h k e i t mit … Als K ö n n e n bestimmt sich diese durch Erfahrung erworbene Kenntnis. Indessen – man trifft hierbei nicht den Kern der Dinge, die ja doch nur u m griffen werden, bezw. auf denen man als einer Treppe zu gehen versteht. Sie werden hierbei nicht in dem »erkannt«, w a s sie s i n d . Nur im Frei-darauf-zugehen werden sie a n g e s p r o c h e n als … Und durch die Sprache sind die Dinge »bekannt als …«. Durch die Sprache stellt sich die Gemeinsam-

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zu einer in der Sprache hinterlegten Auslegung werden sie »erkannt«, d. i. auseinandergesetzt, verantwortet. Weshalb auch die Begriffe, unter die subsumiert wird, die »Sprache« der Wissenschaft sind. – Während ich aber in der Erkenntnis der Dinge zukomme auf mein Sein, es auszeichne in der Auslegung der Dinge, bedeutet das Bewußtsein – und hierin das Reflexive des Bewußtseins – eine hUnterstr. m. Tinte:i ausdrückliche Aneignung seiner selbst. Sich seiner bewußt werden heißt: vor sich selbst in seinem Sein zurückgebracht werden, denn man ist in vorlaufender Entschlossenheit weg von sich, wenn man sich von den Dingen her versteht. Selbstbewußtsein bezieht sich aber auf das Können des Menschen. Man i s t sich hier dessen bewußt, worum man als um die eigne Kraft weiß. Sofern man Proben bestanden hat. Durch Erfahrung bestimmt sich erst, was man kann. Wobei dieses positive | Bestimmen nicht etwa eine Grenze gegen das bedeutet, was man offenbar n i c h t kann. Man hAnführungsz. m. Tinte:i »mißt« hier nicht seine Kräfte. Und entsprechend gibt es ein Sich-seiner-Ohnmacht-bewußt-werden, ohne daß hier Schranken irgendwelchen Könnens bezeichnet wären. Nichts dagegen zu können, daß … weist noch nicht auf eine Übermacht dessen, wogegen man nichts kann. Es ist eine prinzipielle Ohnmacht. Auch in der Scham wird man sich seiner, d. i. seiner Unkraft bewußt. Sie zeigt sich z. B. in der Blöße, die man sich doch nur in dem Sinne gibt, daß man etwas sehen läßt, woran man sich – als in seiner personalen Integrität durchbrochen – begeben findet. Während der Primitive der Ansteckung durch das Tabu verfällt, der Sitz dessen wird, woran er vermessen rührte. Er erfährt hierbei – herumgetrieben – ein je anderem Hörig-werden. Besessen von »w i r d« er je anders. Er ist d a s , worein verstrickt er sich findet. Während sich die Scham auf etwas bezieht, was ich selbst auch b i n (was nicht etwa als der Unterschied eines bloßen Geschicks gegenüber dem Schicksal gewendet werden darf). So wird dem Primitiven ja auch das Wovon seines Besessen-seins zur Seele. Er kann sich nicht in Griff bekommen, sich aufnehmen in seinem Selbstsein. Bezw. das ist ihm auf Strecken noch nicht möglich. Wie man

keit einer Welt her. Im Unterschied zu dem ιδιον dessen, womit die Hand umgehen kann, worin einer versiert ist.

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wohl auch im Traum wie unter einer unerklärlichen Macht steht, die einem nicht frei ausschreiten läßt. Nicht als wäre man zum bloßen Objekt des Geschehens entglitten wie dann, wenn man fällt – denn man bewegt hUnterstr. m. Tinte:i »sich« ja doch. Das Bildhafte gilt es zu bemerken, das hierbei die Dinge bekommen, sofern – um eine Wirklichkeit zu erfassen – eine freie Distanz erfordert wäre. Was tabu ist, gibt sich harmloser als es ist. Ebenso wie der Mensch nicht nur der ist, als den man ihn nehmen möchte. Nicht als ob er täuschen wollte. Der, als den man ihn kennt, wird nicht eigentlich Lügen gestraft. Ebensowenig als die Dinge im Grunde etwas anderes wären. Aber die Unbefangenheit schwindet. Der Blick wird zweideutig. Er wird affiziert durch die Blöße als seinen Gegenstand. Denn der Blick, den ich auf etwas richte bezw. werfe, ist etwas, was sachlich, | schamlos, zweideutig, strafend, durchdrin- h00138i gend oder oberflächlich sein bezw. durch Einstellung auf … solches hS.i 122 w e r d e n kann. Er kann den anderen als Objekt treffen, er kann aber auch ihm als Person begegnen usw. Denn im Sehen vollziehe ich mich, ich betätige hierbei nicht nur meine Sinne. Im Blick eines Menschen treffe ich ihn selbst. Aktiv ist auch die Witterung z. B., die schon das Tier aufnimmt. Aber im Blick ist ein Verhältnis, eine Stellung zur Welt, es ist eine E n t s c h i e d e n h e i t darin bedeutet. – Die Unbefangenheit verloren zu haben und h i e r d u r c h gerade »sehend« geworden zu sein, bedeutet aber, dem anderen gerade als seinesgleichen nicht mehr fraglos frei begegnen, sich ihm in allem frei verbinden bezw. die Dinge nicht mehr frei erschließen, d. i. ein h00139i Bewenden geben zu können. | hS.i 123

hTraumi 1.

Durch die W a h r n e h m u n g , die man macht, gewinnt man eine Vorstellung, ein Bild von etwas. Man erschließt sich die Dinge hierbei. Und was sich dabei erfüllt, sind Intentionen, die sich erst festlegen im Gang der Betrachtung; etwas, was »aus dem Innern kommt«, ein Suchen und Ahnen, voll-zieht sich am Äußeren. Man stellt fest, was z. B. etwas in Wirklichkeit, und das meint hier: was es in Wahrheit ist. In dem »I n-W i r k l i c h k e i t -sein« betont sich, daß es eine s t a n d h a l t e n d e Erkenntnis ist. Die Wirklichkeit 323 https://doi.org/10.5771/9783495860410 .

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steht dem oberflächlichen ersten Anschein gegenüber. Und sie stellt sich heraus durch schrittweises Vorgehen: vorsichtig nachsehend, ob … Man versichert sich so der Wirklichkeit, die hier immer irgendwie »liegt«. Dieser Lage der Dinge muß man Rechnung tragen. Man hat bezw. bekommt es immer zu tun mit der Wirklichkeit. Und deren Nachdrücklichkeit ist ein analogon der leibhaften Widerständigkeit des E m p f u n d e n e n . Denn durch das Empfinden i. e. S., durch den Geruch z. B. macht man sich »der Wirklichkeit«, d. i. des nicht nur Vorgespiegelten der gesehenen Rose gewiß. Wobei das Widerfahrnis, das Irritierende des Geruchs z. B. mich auch dessen gewiß macht, daß ich nicht träume. Durch den Schmerz versichert man sich des im Wachsein gegriffenen Verhältnisses zur Wirklichkeit: daß man »wirklich« hier, und daß alles so ist, wie ich es sehe. (Descartes will aber ein S e i n gewinnen. Der Zweifel, ob das, was er wahrnimmt, nicht vielleicht geträumt sei, ist ebenso konstruiert und setzt sich ebenso hinweg über ein besseres Verständnis wie die übrigenh,i dem Sextus Empiricus entlehnten Argumente. Wenn die Cogitationes als etwas gelten, dessen wir uns bewußt sind bezw. worin wir uns unserer Selbst bewußt werden, so ist dabei im Blick, wie man sich darin vollzieht, bezw. das »ist«, was man denkt. Dies, daß wir uns selbst verbunden sind im Denken. D. i. das Sein meiner Selbst bestimmt sich durch die Trennung von dem Sein der Dinge. Denn – wie Herbart sagt: was hUnterstr. m. Tinte:i hier als seiend gesetzt wird, danach fragt man notwendig vergebens. Andererseits: die Empfindung wird bei Dhescartesi zu einem cogito entstellt.) | Im Mit- und Gegenwirken, d. i. nur in der Jeweiligkeit meiner Situation empfinde ich die Dinge. Im T r a u m aber zeigt sich die Entrückung gerade darin, nicht eigentlich Fuß fassen und sich fortbewegen zu können. Auch das Tier empfindet; in seinem nackten Dasein wird man hier angegangen. Der E i n d r u c k von … ist etwas anderes. Denn was hier »auf mich wirkt«, tut es nicht im Sinn eines Sich-steuern-lassens und Sichpraktisch-darauf-einspielens. Vielmehr: es wirkt auf »mich«h,i der sich hUnterstr. m. Tinte:i hält im Eindruck, um sich dabei erinnern zu lassen an … Sicherlich – auch bei Empfindungen gibt es ein solches nachprüfend-Verweilen-bei …, aber eben als i n n e r w e l t l i c h e s Verweilen. »Eine Wirklichkeit« kündet sich mir im Eindruck. Und keine solche, von der man sich gewiß bezw. wo man sich seiner als

h00140i hS.i 124

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wach versichern könnte. Man »erwacht« wohl zu etwas, Erinnerungen und Gedanken entzünden sich daran. D. i.: man »reflektiert« auf den Eindruck. Ein hUnterstr. m. Tinte:i Empfinden (auch das z. B., daß etwas hAnführungsz. m. Tinte:i »verdächtig wirkt«), wird aber durch die Praxis aufgenommen. Eine so sich kündende Wirklichkeit ist z. B. auch die eines Bildes von van Gogh. E x i s t e n z begegnet darin. Erkenntnis bedeutet hier etwas anderes – schon wenn man z. B. den Geist einer Sprache oder auch jemandes Charakter »erkennt«. Denn Erkenntnis geschieht hier nicht verhältnismäßig in Bezug auf Bekanntes oder Artikuliertes. Sie bedeutet hier kein Beiseite-legen. Nicht von anderem her versteht man hier etwas – wie die Bedeutung der Dinge auf einen Sinn bezogen ist. Vielmehr: die Mitte, von der her sich hier etwas, nämlich hUnterstr. m. Tinte:i aus sich selbst heraus, bestimmt, gilt es allererst zu finden. 1. Im Traum ist man sich in seinem Selbst-sein entrückt. Man findet sich dessen enthoben, sich auseinanderzusetzen mit einer standhaltenden Wirklichkeit, die Dinge ins Reine zu bringen. (Worauf sich gerade das Durchhaltende der transcendentalen Aperception bezieht.) Die Vorstellung als etwas, worin man ein Bild gewinnt über …, ist eine Aufstufung solchen hUnterstr. m. Tinte:i an sich selbst Am-Werke-seins in der Auslegung der Dinge. Sofern die Wirklichkeit – »wahr«genommen i. e. S. – hier thematisiert worden ist. Träumend ist man hingegeben den Gesichten, nimmt sich nicht wie in der Auseinandersetzung | der Dinge auf h00141i sich selbst zurück, man hat nicht das freie Verhältnis zu den Din- hS.i 125 gen. Das Unverbindliche der Dinge, dies, daß sich eines dem andern unvermittelt überschiebt, bedeutet im Grunde ein Nichts i c h - s e l b s t -verbunden-sein. Gerade bei dem Versuch einer Versachlichung – wenn man etwa beschreiben will, was man träumte – verflüchtigt sich der Traum. Es ist, als ob man durchgreifend die Gesichte beiseite schöbe. 2. Im Traum ist man – »anästhetisch« hm. Rotst.: xi 88 – der W i r k l i c h k e i t entrückt. Man könne sich nicht eigentlich fortbewegen, so hieß es oben. Sofern das Empfinden mit dem Sich-Bewegenkönnen zusammenhängt. hUnten, m. Rotst.:xi Visionäres Außer-sich-sein zeigt sich in Unempfindlichkeit gegen Schmerzen.

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Dieses Sich-selbst-und-der-Wirklichkeit-entrückt-sein ist aber als ein Nicht-mehr bezw. Noch-nicht bestimmt. Das zeigt sich in dem eigentümlich quälend-Unerfüllten, in dem Fremdartigen des Traumes. Zum lebendigen Menschen gehört es, empfinden und sich fortbewegen können. Ebenso wie das hUnterstr. m. Tinte:i Mensch-sein in seiner Eigentlichkeit ein Selbst-sein ist. Zum Schlaf und Traum gehört wesentlich die Möglichkeit, daraus erwachen zu können. Das Träumerisch-Entrückte kehrt wieder im schweifend Ungebundenen der Fantasie, deren Gegenstand zu fern ist, um in überschaubarem Zusammenhang zu dem Jetzt zu stehen. Man dispensiert sich im Wünschen von schrittweise planender Sorge. Dieses Entrückte der Ferne, wo man sich der Fantasie überlassen, von ihr mitnehmen lassen kann, ist aber nur eine verhältnismäßige Ungebundenheit: die Fantasie eilt zwar den Tatsachen voraus, bleibt aber doch in Verbindung damit. Dem Geträumten fehlt der Ernst eines S e i n s . Sofern sich dieses doch nur durchsetzen und erweisen könnte »in der Wirklichkeit«, d. i. in dem Kontext dieser Wirklichkeit. (Nur im anderen ist jegliches ενεργεια,, was es »ist«.) Nicht nur, daß die Dinge nicht halten, was sie versprechen – gerade der Ernst eines solchen Versprechens fehlt im Traume. Im Fragmenthaften des Traumes zeigt sich, wie transcendentale Aperception sich nicht mehr d u r c h s e t z e n kann. Sich entrückt zu sein heißt hier: nicht mehr »stehen und bleiben« zu können. Man findet »sich« nicht mehr irgendworin – die analytische Einheit des Selbstbewußtseins ist nur | unter Voraussetzung einer Synthesis hmöglichi. Aber die transcendentale Aperception ist nicht einfach a u s g e s c h a l t e t . Ebensowenig als die Räumlichkeit und Zeitlichkeit des Geträumten schlechthin fehlte – wie wäre das auch möglich in Bezug auf diese Formen der Anschauung? Das Sich-durchsetzen und Frei-zu-sich-selbst-werden geschieht gerade im Erwachen. Verantwortung ist die Form des Selbst-seins. Man kommt auf für die Dinge als ihr Fürsprecher. Und hierbei runden sie sich allererst und bestimmt sich ihre »Stelle«. Man »hat« sich nicht im Traum: Man kann sich nicht zum Laufen bringen wenn man fliehen möchte. Man kann – ohne eigentlich behindert zu sein – nicht festhalten, was man behalten möchte. Und das Quälende des Angsttraums bezieht sich gerade auf dieses Ungelöste. |

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Anmerkungen

Anmerkungen des Herausgebers I F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Werke in drei Bänden. Hrsg. von K. Schlechta. Bd. II, C. Hanser, München 1966, 40, S. 603–604. II S. Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift. Zweiter Teil. Gesammelte Werke Bd. 7. Diederichs, Jena 1910, S. 21. III F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Werke in drei Bänden. Hrsg. von K. Schlechta. C. Hanser, München 1966, Bd. II, 142, S. 635. IV ο Η φησι τοιϚ εγρηγοροσιν ενα και κοινον κοσμον ειναι, των δε κοιμωμενων εκαστον ειϚ ιδιον αποστρεφεσθαι – »Die Wachenden haben eine einzige und gemeinsame Welt, doch im Schlummer wendet sich jeder von dieser ab in seine eigene.« Heraklit, Fragmente, in: Die Fragmente der Vorsokratiker. Griechisch und Deutsch von H. Diels. Hrsg. von W. Kranz. Weidmann, Züirich 2004, Bd. I, S. 171. V Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, op. cit., B 133, S. 143b: »… die analytische Einheit der Apperzeption ist nur unter der Voraussetzung irgendeiner synthetischen möglich«. VI Cfr. K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie. Springer, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1953, S. 53 f. VII M. Heidegger, Sein und Zeit. Erste Hälfte, in: Jahrbuch f. Philosophie und phänomenologische Forschung Bd. VIII. Niemeyer, Halle a. d. S. 1935 (4. Aufl.), S. 136. VIII Cfr. H. Lipps, Die Wirklichkeit des Menschen, op. cit., S. 176–178. IX Nietzsche’s Werke. Zweite Abtheilung Bd. XII. Nachgelassene Werke. Unveröffentlichtes aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft und des Zarathustra (1881–1886). Verlag C. G. Naumann, Leipzig 1901, Sprüche und Sentenzen (1882–1884), Nr. 463, S. 317: »Auch im Hasse giebt es Eifersucht: wir wollen unseren Feind für uns allein haben.« X A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften. II. Zweiter Teilband. Diogenes, Zürich 1977, § 324, S. 642: »Haß und Verachtung stehn in entschiedenem Antagonismus und schließen einander aus.« XI I. Kant, Kritik der Urteilskraft, op. cit., S. 123–124. XII F. Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Werke Bd. II. Hrsg. von K. Schlechta. Hanser, München 1966, S. 213: »Der Fanatismus ist nämlich die einzige ›Willensstärke‹, zu der auch die Schwachen und Unsichern gebracht werden können …«. XIII Aristoteles, ΠΟΛΙΤΙΚΩΝ, Ζ,ι γ – Politica Liber VII Cap. XIII. [XIV] (8) [1333]: Διηρηται δε και παϚ ο ßιοϚ ειϚ ασχολιαν και ειϚ σχολην και πολεμον και ειρηνην – Praeterea omnis etiam vita in negotium et odium, bellum et pacem divisa est. Aristotelis Opera Omnia. Graece et Latine. Volumen Primum. Ed. A. F. Didot, Parisiis 1848, 618. XIV Eine Vorlesung Kants über Ethik. Im Auftrage der Kantgesellschaft hrsg. von P. Menzer. Pan Verlag R. Heise, Berlin 1924, S. 226: Von der Anhänglichkeit des Gemüts an die Glücksgüter oder vom Geiz; zur Disjunktion vgl. ebd., S. 229–230: »Hier entspringt aber bei uns eine Illusion, wenn wir das Geld noch besitzen, so können wir es disjunktiv betrachten, indem wir es entweder dazu oder dazu gebrauchen könnten, wir betrachten es aber kollektiv und glauben, alles dafür zu haben.« XV Friedrich Hebbels Tagebücher. Mit einem Vorwort herausgegeben von Felix Bamberg. G. Grote’sche Verlagsbuchhandlung, Berlin 1885. Erster Band. Erstes Tagebuch 1839. I. Hamburg, Heidelberg und München. Den 20. Januar 1839, S. 136: »Der Neid trifft immer nur das Haben, nie das Seyn.«

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MS Die menschliche Natur I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, op. cit., Vorrede, S. 29 [119]. Novelle von H. von Kleist (1811) aufgrund einer Geschichtserzählung aus dem 16. ten Jahrhundert über Hans Kohlhase. XVIII Die angefügten Nachträge sind wohl im Anschluß an das Kolleg »Der Aufbau des Charakters«, SS. 1939 hinzugekommen. Vgl. die Bemerkungen von Evamaria von Busse zu »Psychologie und Philosophie« in: H. Lipps, Die Wirklichkeit des Menschen, op. cit., S. 200. XIX J. W. Goethe, Naturwissenschaftliche Schriften. Fünfter Band. Hrsg. von R. Steiner. Dornach 1982. Nachträge zu den naturwissenschaftlichen Schriften. Einleitung zu einer allgemeinen Vergleichungslehre, S. 575–576. – Vgl. die Ausführungen von H. Lipps in seinem Aufsatz zu »Goethes Farbenlehre« (1939), in: H. Lipps, Die Wirklichkeit des Menschen, op. cit., S. 109–110. XX Hans Walter Heymann, Über die Farbe, das Farbige und das Sehen. Versuche zu einer existenzialen Interpretation der »aesthesis«, 1933. XXI I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, op. cit., S. 243 [293]. XXII F. Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Werke Bd. II, op. cit., 75, S. 626. XXIII Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft. Meiner, Hamburg 1956, B 157–158, Anm., S. 174b–175b; vgl. I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Meiner, Hamburg 1965, 452 f., S. 78 f. XXIV A. Pfänder, Die Seele des Menschen. Versuch einer verstehenden Psychologie. M. Niemeyer, Halle a. S. 1933, S. 304–305: Die spezifisch menschliche »Größe« der Seele. XXV J. W. Goethe, Naturwissenschaftliche Schriften. Erster Band. Hrsg. von R. Steiner. R. Steiner Verlag, Dornach 1982, »Bildung und Umbildung organischer Naturen«, S. 121–122: »Wenn ich dasjenige betrachte, was man in der Botanik genera nennt und sie, wie sie aufgestellt sind, gelten lasse, so wollte mir doch immer vorkommen, daß man ein Geschlecht nicht auf gleiche Art wie das andere behandeln könne. Es giebt Geschlechter, möcht’ ich sagen, welche Charakter haben, den sie in allen ihren Species wieder darstellen, so daß man ihnen auf einem rationellen Wege beikommen kann; sie verlieren sich nicht leicht in Variëtäten und verdienen daher wohl mit Achtung behandelt zu werden …«. XXVI L. Klages, Der Geist als Widersacher der Seele. Bouvier Verlag H. Grundmann, Bonn 1972, 35. Kapitel: Vom tierischen und menschlichen Erkennen, S. 369: »Aus der empfindenden oder der leiblich erwachten Tierheit löste sich der ursprüngliche Mensch durch Befreiung des Schauens von der Herrschaft des Empfindens.« XVI

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