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German Pages [233] Year 2012
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Stascha Rohmer Ana María Rabe (Hg.)
Homo naturalis Zur Stellung des Menschen innerhalb der Natur
ALBER PHILOSOPHIE
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Ana María Rabe / Stascha Rohmer (Hg.) Homo naturalis
ALBER PHILOSOPHIE
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Oftmals werden Natur und Kultur als unversöhnliche Gegensätze aufgefasst. Dem widersprechen die Beiträge dieses Buches. Sie verfolgen das Ziel, Kontinuitäten im Mensch-Natur-Verhältnis herauszustellen und die humane Kultur als spezifische Seinsweise und Seinsregion innerhalb der Natur auszuweisen. Dabei wird auch die Frage thematisiert, welchen Stellenwert technische Prozesse und mit ihnen assoziierte Denkweisen und Denkmuster in Natur und Kultur einnehmen.
Die Herausgeber: Ana María Rabe, 2007 in Philosophie an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig mit einer Arbeit zum Raum in der Kunst, Philosophie und Wissenschaft promoviert, lehrt z. Z. Philosophie und Kunsttheorie an der Universität der Künste Berlin und der Kunsthochschule Halle. Von 2008 bis 2011 arbeitete sie als Wissenschaftlerin am »Instituto de Filosofía« des Forschungszentrums CSIC in Madrid. Zahlreiche Veröffentlichungen zu lebensphilosophischen, erkenntnisund kunsttheoretischen Fragen. Ihre gegenwärtigen Forschungen untersuchen zeitliche und räumliche Grundlagen der Gedenkkultur. Stascha Rohmer, geb. 1966, promovierte nach einem Studium der Philosophie und Hispanistik 1999 an der Technischen Universität Berlin mit einer Arbeit zur Metaphysik Alfred North Whiteheads. Von 1999 bis 2011 war er Research Fellow am »Instituto de Filosofía« des Forschungszentrums CSIC in Madrid und lehrte ferner Philosophie am Philosophischen Seminar der Humboldt-Universität Berlin, wo er sich gegenwärtig mit einer Arbeit zu Hegel und Plessner habilitiert. Sein wichtigstes bisheriges Werk »Liebe – Zukunft einer Emotion« erschien 2008 im Verlag Karl Alber. Zahlreiche Veröffentlichungen.
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Ana María Rabe Stascha Rohmer (Hg.)
Homo naturalis Zur Stellung des Menschen innerhalb der Natur
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997291 .
Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Fritz-Thyssen Stiftung.
Originalausgabe © VERLAG KARL Alber in der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2012 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Herstellung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48471-5
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Dem Andenken an Reiner Wiehl (1929–2010) gewidmet
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Inhalt
Ana María Rabe und Stascha Rohmer
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Reiner Wiehl
Die Vernunft der Philosophie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Stascha Rohmer
Eros als Schöpfer der humanen Kultur. Dialektische Betrachtungen zum Verhältnis von Natur und Kultur im Ausgang von Platon, Hegel und Plessner . . . . . .
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Dieter Thomä
Leben als Teilnehmen. Überlegungen im Anschluss an Johann Gottfried Herder . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ana María Rabe
Von der Kunst zur Erzählung. Tolstois Verhältnis zur Natur und seine Kritik der Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Íngrid Vendrell Ferran
Gefühle als Triebfedern der Moral. Über die moralische Funktion der Gefühle . . . . . . . . . . 122 Julian Nida-Rümelin
Naturalismus und Humanismus . . . . . . . . . . . . . . . . 146
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Inhalt
Volker Gerhardt
Humanismus als Naturalismus. Zur Kritik an Julian Nida-Rümelins Entgegensetzung von Natur und Freiheit 159 Jochen Brüning
Ein Kulturmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 Christoph Hubig
»Natur« und »Kultur«: Von Inbegriffen zu Reflexionsbegriffen
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Hinweise zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
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Einführung
Die in diesem Band versammelten Beiträge sind aus der Tagung »Natur – Technik – Kultur« hervorgegangen, die vom 25. bis 27. Juni 2008 im Senatssaal der Humboldt-Universität Berlin unter Förderung der Fritz-Thyssen Stiftung und Carl und Max Schneider Stiftung stattfand. Ziel der Tagung war es, Denkansätze und Forschungsrichtungen zu diskutieren und einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren, die einen Beitrag zur Überwindung der gängigen Spaltung von Natur und Kultur und der damit einhergehenden Gabelung der Wissenschaften in Natur- und Geisteswissenschaften zu leisten versprechen. »Kultur« sollte als besonderer Seinsbereich innerhalb der Natur transparent gemacht und Kontinuitäten im Mensch-Natur-Verhältnis aufgezeigt werden. Dabei sollte zugleich die Methodik von Natur- und Geisteswissenschaften kritisch hinterfragt und die Rolle der Philosophie innerhalb der so genannten Kulturwissenschaften thematisch gemacht werden. Einer gängigen Auffassung zufolge steht die humane Kultur als ein vom Menschen gemachter Bereich der Natur als einem Bereich des Gewordenen gegenüber. Noch Heidegger bestimmte auf diese Weise Natur und vertrat die These, Natur ließe sich als ein »Seiendes, das innerhalb der Welt begegnet« und darin »auf verschiedenen Wegen und Stufen entdeckbar wird« 1 begreifen. Eine solche Auffassung spaltet aber nicht nur die Lebenswirklichkeit des Menschen in Natur und Kultur im Sinne unversöhnlicher Gegensätze auf, sondern abstrahiert darin zugleich von der Leiblichkeit und der eigenen Natur des Menschen. Im Gegensatz dazu verfolgt die Tagung »Natur – Technik – Kultur« das Ziel, Kontinuitäten im Mensch-Natur-Verhältnis herauszustellen und die humane Kultur als spezifische Seinsweise und Seinsregion innerhalb der Natur auszuweisen. So zeigt sich etwa in der 1 Heidegger, Martin, Das Wesen der Technik, in: Die Technik und die Kehre, Stuttgart 1962.
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Einführung
modernen Biotechnologie ebenso wie in der ökologischen Problematik, dass der Mensch – so sehr er auch in seinen kulturellen Leistungen die Natur transzendiert – in allem, was er ist und tut, ein Stück Natur bleibt und stets in die Zusammenhänge der Natur eingebunden ist. Tatsächlich ist der Mensch in seiner Kultur nicht nur äußerlich mit der Natur verbunden, sondern Natur bestimmt seine Kultur bis in ihre innere Dynamik hinein. Vergegenwärtigt man sich zudem, dass der Mensch mitsamt seinen kulturellen Schöpfungen aus der Natur evolutiv hervorgegangen ist, dann wird man sogar die These vertreten können, dass die Möglichkeitsbedingungen seiner kulturellen Existenzform schon in der Natur anlegt sind und die Natur damit selbst eine der Triebkräfte ist, welche die humane Kultur zur Entwicklung gebracht hat. In diesem Sinne sprach Kant im 18. Jahrhundert von der Vernunft als einer Naturanlage des Menschen und Helmuth Plessner im 20. Jahrhundert von der »natürlichen Künstlichkeit des Menschen«. 2 Sollten aber die Bedingungen der Möglichkeit der humanen Kultur bereits in der Natur angelegt sein und kulturelle Prozesse sich zugleich in untrennbarer Einheit mit natürlichen Prozessen abspielen, dann versteht man offenkundig die kulturelle Existenz des Menschen erst dann adäquat, wenn man die konstitutiven Momente, Strukturen und Prozesse der Natur in das Verständnis der humanen Existenz mit einbezieht. Ziel der Tagung war es – ausgehend von dieser Einsicht – erstens, solche für die kulturelle Existenz des Menschen konstitutiven Naturmomente und Konstanten anhand paradigmatischer Beispiele herauszuarbeiten und damit den weit verbreiteten Gegensatz zwischen Naturalismus und Humanismus kritisch in Frage zu stellen. So lässt sich z. B. im Ausgang von Hegel und Plessner die Individualität des Menschen als Produkt eines natürlichen und evolutiven Prozesses begreifen, der als ganzer von seinen ersten Anfängen an durch eine Tendenz zur Vertiefung und Intensivierung von Individualität und individueller Erfahrung gekennzeichnet ist. Kultur kann von hier aus als eine Verfassung der Natur begriffen werden, welche die Individualisierung des Individuellen nicht nur de facto ermöglicht, sondern diesen Prozess auch ganz ausdrücklich fördert und vorantreibt, indem sie seine Möglichkeitsbedingungen absichert und schützt. In vergleichbarer Weise, Plessner, Helmuth, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Gesammelte Schriften Bd. IV, Frankfurt am Main 2003, S. 383 ff.
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Einführung
in der die Individualität den Menschen zugleich als Naturwesen kennzeichnet, prägen auch Phänomene wie Sexualität, Fortpflanzung, Elternschaft und generative Strukturen überhaupt das geschichtliche und kulturelle Leben des Menschen – Phänomene, die in untrennbarer Verbindung mit der Leiblichkeit und damit mit der Natürlichkeit des Menschen stehen. In Zusammenhang mit dieser Leiblichkeit des Menschen ist schließlich auch die emotionale Basis alles humanen Lebens zu betrachten, womit die Frage aufgeworfen wird, inwiefern Emotionen, Triebe und Affekte das kulturelle Leben des Menschen prägen und inwiefern umgekehrt die emotionale Struktur des Menschen selbst einer kulturellen Prägung unterliegt. In Ausgang von Denkern wie Hegel und Plessner betrachtet so Stascha Rohmer die gesamte Natur und insbesondere die Evolution des Lebendigen als einen schöpferischen Prozess der Ausdifferenzierung, der Teilung und Einheitsbildung, als dessen höchste Stufe die humane Kultur erscheint. In vergleichbarer Weise knüpft Dieter Thomä an Herder an, der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Tier und Mensch im Rahmen einer Konzeption entwickelt, deren zentrale Begriffe »Teilnehmung« und »Mitteilung« sind. Ana María Rabe stellt in ihrem Text zu Tolstois Verhältnis zur Natur und Kultur die Suche des russischen Schriftstellers nach einem unvergänglichen, universalen Prinzip in der Natur vor, das alles Leben vereint und die Grundlage für eine unverfälschte, allen Menschen gleichermaßen dienende Kultur bilden kann. Íngrid Vendrell Ferran vertritt in ihrem Beitrag die These, dass der Mensch als fühlendes Wesen eine doppelte Bestimmung als Natur- und Kulturwesen besitzt, und untersucht von hier aus die Rolle des Gefühls in der Moral. Julian NidaRümelin und Volker Gerhardt diskutieren in ihren Beiträgen den Sinn der gängigen Entgegensetzung von Naturalismus und Humanismus. Während Nida-Rümelin für ein scharfe Abgrenzung von Naturalismus und Humanismus plädiert, wobei er allerdings ausdrücklich eine spezifische Form von reduktionistischem Naturalismus im Blick hat, plädiert Gerhardt für die Überwindung des Gegensatzes von Naturalismus und Humanismus auf dem Boden einer integrativen Lebensphilosophie. Einen zweiten Schwerpunkt der Tagung stellte die Frage dar, welchen Stellenwert technische Prozesse und mit ihnen assoziierte Denkweisen und Denkmuster in Natur und Kultur einnehmen. Die Verbindung von Natur und Kultur ist in der Technik offensichtlich eine A
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Einführung
besonders enge. Denn einerseits greift die Technik auf kulturelle Weise in die Natur ein, mit dem Ziel, sie wiederum kulturell nutzbar zu machen. Andererseits hat sich dieser Eingriff zugleich jenen Bedingungen zu unterwerfen, welche die Natur in ihrer Eigengesetzlichkeit dem Menschen auferlegt. Jochen Brüning versucht in seinem Artikel, im Rahmen eines Kulturmodells, in dessen Zentrum die Begriffe der »Interaktion« und der »kulturellen Technik« stehen, diesen Zusammenhang anschaulich zu machen. Anstatt Technik, Natur, Kultur als kategorial inhomogene Inbegriffe zu verwenden, möchte Christoph Hubig die klassische Trennung von Natur, Technik und Kultur unterlaufen, indem er anstelle einer ontologischen Begründung der genanten Begriffe diejenige einer praktischen Rechtfertigung unter der einheitlichen Idee subjektiver Freiheit in seinem Artikel plausibel macht. Mit der Frage nach der Stellung des Menschen in der Natur – wie sie in unserer Zeit gerade durch die rasanten Fortschritte der Lebenswissenschaften aufgeworfen wird – ist drittens zugleich die nach der sinnvollen Abgrenzung von Natur- und Kulturwissenschaften überhaupt verbunden. Damit eröffnet sich zugleich eine genuin philosophische Problematik, insofern hiermit die allgemeinen Abstraktionsbedingungen und Grundlagen der Natur- und Kulturwissenschaften selbst in Frage gestellt sind. Das Problem der Frage der Abgrenzung von Naturund Kulturwissenschaften ist dabei unmittelbar mit der Frage verbunden, wie sich eine Philosophie, die sich kritisch mit den Entwicklungen und Abstraktionsbedingungen der gegenwärtigen Wissenschaft auseinandersetzt, im Spannungsgefüge von Natur- und Kulturwissenschaften verorten lässt. Diese Frage stand im Zentrum des Festvortrages der Tagung, der von Reiner Wiehl gehalten wurde: »Geistige Bildung« so Wiehl, »ist die ständig neue Bemühung der Erkenntnis, den Raum zwischen den eigenen Möglichkeiten und den gebotenen Grenzen des Wissens und Könnens auszuloten. Ethik ist keine Sache des Kulturbetriebs, sondern der Kultur des geistigen Lebens, welches ein Element der Weltweisheit in sich birgt«.
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Reiner Wiehl
Die Vernunft der Philosophie zwischen Naturund Geisteswissenschaften
1. Wenn ich hier zu Beginn meiner Überlegungen von der Vernunft der Philosophie spreche, so in dem spezifischen Sinn einer Kultivierung der menschlichen Vernunft durch eine ausgezeichnete Form der Erkenntnis, die wir die philosophische nennen, philosophisch in dem Sinne, wie sich diese Erkenntnis in der europäischen Kultur seit der Antike entwickelt hat. So wenig wie die Vernunft ein Privileg einzelner Menschen ist, sondern eine Gabe der Natur an den Menschen als solche, so wenig ist die Philosophie eine Ausnahmeerscheinung der europäischen Kultur. Philosophie findet sich in vielen Weltkulturen, und sie hat in vielen Kulturen eine langwährende Tradition, der europäischen vergleichbar, wie etwa in der altindischen. Die Begriffe der Vernunft und der Philosophie sind so universalen Charakters, dass wir sagen können, eine Vernunft der Philosophie gibt es, zumindest als Möglichkeit, in allen menschlichen Kulturen. Meine Beschränkung auf die Tradition der europäischen Kultur geschieht im Bewusstsein einer entsprechenden Begrenzung meiner Kompetenz. Vernunft ist ein ausgezeichnetes Unterscheidungsvermögen des Menschen, das sich über die mannigfachen Differenzierungen erhebt, die sich in der Entwicklung und Bildung der menschlichen Erfahrung hervortun. Unterscheidungen und Differenzierungen treffen wir an in unserem emotionalen und kognitiven Weltverhalten, in der Differenzierung von aktivem und kontemplativem Leben, in der Unterscheidung zwischen Unbewusstem und Bewusstem, von Ich und Welt. Nach Kant ist die Vernunft das menschliche Vermögen der Ideen, und Ideen sind die ursprünglichsten Gedanken des Menschen, Formen, das Unbedingte zu denken. So unterscheidet die Vernunft zwischen Wahrheit und Unwahrheit, zwischen dem Guten und Bösen und im Sinne eines Unterscheidungsgrundes zwischen Gesetzen der Natur und Gesetzen der Freiheit. A
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Kants Philosophie der Vernunft und der Vernunftkritik verdanken wir eine für die Vernunft der Philosophie wichtige Unterscheidung, nämlich die Unterscheidung zwischen Schulweisheit und Weltweisheit. Die Schulweisheit hat es zu tun »mit einem System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die systematische Einheit dieses Wissens, mithin die logische Vollkommenheit der Erkenntnis zum Zwecke zu haben«. Weltweisheit dagegen ist die »Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft (teleologia rationis humana)«. In diesem Sinne unterscheidet Kant zwischen Philosophen als Vernunftkünstlern und Philosophen als Gesetzgebern der menschlichen Vernunft. Was die letzteren als Repräsentanten der Weltweisheit betrifft, beeilt sich Kant hinzuzufügen, dass es »ruhmredig [wäre], sich selbst einen Philosophen zu nennen, und sich anzumaßen, dem Urbilde, das nur in der Idee liegt, gleichgekommen zu sein«. (Kr.d.r. Vernunft. B867/A839) Zugleich aber fügt Kant dem die betonte Feststellung hinzu, dass die Idee einer solchen Gesetzgebung »in jeder Menschenvernunft« anzutreffen ist; und dass er daraus folgernd Philosophie in dem besonderen Sinne einer Verbindung von Schulweisheit und Weltweisheit erörtert, die Sache des Vernunftkünstlers ist, befähigt zu sein, »die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft zu befördern«. (a. a. O.) Von den wesentlichen Zwecken unterscheidet Kant die höchsten Zwecke, um hier genauer von dem einen Endzweck zu sprechen, nämlich von der »ganzen Bestimmung des Menschen«. (B868/A840) Diese ganze Bestimmung zu befördern ist demzufolge die Aufgabe der Philosophie in ihrer Schulweisheit und Weltweisheit zusammen. Kants Bestimmung der Vernunft als Idee des Unbedingten und deren Grunddifferenz gegenüber dem Bedingten, die Unterscheidung verlangt nach einer Kritik der Vernunft, in der diese Grunddifferenz in ihren Konsequenzen für die theoretische und praktische Erkenntnis in allen ihre Zügen zu durchdenken ist. Die Aufgabe einer solchen Vernunftkritik ist eines der Charakteristika der Philosophie der Moderne. Allerdings kommt dieser neuzeitliche Zug aus einer langen Tradition der europäischen Philosophie her. Kant selbst hat auf den Ursprung in der Philosophie Platos hingewiesen. Hier haben wir zu tun mit der Grunddifferenz zwischen dem Seienden und der Idee, dem Dualismus von Diesseits und Jenseits, von Immanenz und Transzendenz. Hier ist die Einsicht in diese dem menschlichen Dasein vorgegebene Differenz untrennbar verknüpft mit der sokratischen Einsicht 14
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Die Vernunft der Philosophie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften
einer docta ignorantia, einer wissenden Unwissenheit, einem Bewusstsein von den prinzipiellen Grenzen menschlicher Einsicht. Hier schon artikuliert sich das kritische Wissen um die Endlichkeit des Wissens. Und schon hier treffen wir auf die eigentümliche Grundform der Einheit in der Zweiheit, die dann Jahrhunderte später Kant als Bestimmung der Vernunftidee identifiziert. Die Grundform der Einheit in der Zweiheit und der aus ihr resultierende Grundzug durchgängiger Dualismen durchzieht das Gesamtwerk der Kantischen Vernunftkritik. Um lediglich einige der wichtigsten Dualismen in Erinnerung zu rufen: Anschauung und Begriff, Verstand und Vernunft, Natur und Freiheit; dann auch Gefühl und Begierde, theoretische und praktische Vernunfterkenntnis, Reinheit und Unreinheit der synthetischen Urteile apriori, analytische und synthetische Urteile. Die Moderne zeigt sich in Kants Vernunftkritik aber insbesondere in einem Dualismus, der für die hier thematische Frage nach der Beziehung zwischen Natur- und Kulturwissenschaften maßgeblich ist. Es ist dies die Unterscheidung zwischen einer zweifachen Betachtung der Bestimmung des Menschen, der zwei Gestalten einer wissenschaftlichen Anthropologie korrespondieren: Die Unterscheidung zwischen dem, was die Natur aus dem Menschen gemacht hat und dem, was der Mensch aus sich selbst macht, machen kann und soll: die Unterscheidung zwischen physischer Anthropologie und Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Diese zentrale Unterscheidung in der Bestimmung des Menschen, die zu befördern die Aufgabe einer der Vernunft verpflichteten Philosophie ist, fällt für Kant noch nicht mit der hier zu erwähnenden Differenz von Natur- und Kulturwissenschaften zusammen, auch wenn sie mit dieser viel zu tun hat. Vielmehr hat der Philosoph aus Königsberg hier eine methodische Unterscheidung in der Bestimmung des Menschen im Auge: nämlich die zwischen einer naturgeschichtlichen Betrachtung und einer Bestimmung des Menschen, die auf der Vernunftbestimmung der Autonomie des menschlichen Willens und der Bestimmung zur Heautonomie, zur Selbstgesetzgebung d. i. zur Freiheit einer gesetzgebenden und gesetzprüfenden Vernunft beruht. Der durchgängige Dualismus, auf den Kants kritische Philosophie durch ihren Vernunftbegriff allenthalben das Denken stößt, ist keineswegs nur eine Suche für die Schulweisheit. Diese weiß um die Tradition des Nachdenkens über die Vielfalt der Zweiheiten, zu denen sie entsprechende Beziehungen und Einheitsgründe immer neu sucht. Und sie weiß, wie diese Zweiheiten in der A
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Einheit überall Vorgegebenheiten für die Vernunft und deren überragende Einheit in der Zweiheit sind. Sie begegnet schon in der alltäglichen Erfahrung des Menschen, wenn er mit Hell und Dunkel, Warm und Kalt, mit Laut und Leise zu tun hat, und wenn er sich seines Verstandes bedient, mit der Unterscheidung zwischen richtigen und unrichtigen Meinungen befasst ist, und wenn er auf die Differenz zwischen Meinung und Wissen trifft. Wie immer sich Schulweisheit und Weltweisheit auf die Geschichte des Vernunftdenkens beziehen, immer stoßen sie dabei irgendwann auf jene Grundunterscheidungen, die bereits die Philosophie Platos bewegen: Ruhe und Bewegung, Selbigkeit und Verschiedenheit, Sein und Nichtsein. Und auch in den eigentlichen existentiellen Lebensfragen des Menschen, dort wo dieser veranlasst ist, zwischen Leib und Seele, Wohlbefinden und Krankheit, Geburt und Tod, Glück und Unglück, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, wirkt in ihm jene Naturanlage zur Idee der Philosophie, deren höchste Ausgestaltung in der Schulweisheit den Namen der Metaphysik trägt. Ob und wie Metaphysik, metaphysisches Wissen möglich sei, wie der hier sich auftuende Gegensatz von Glauben und Wissen eingeschätzt werden müsse, diese Frage ist nicht nur die Frage der Kritischen Philosophie Kants, sondern die Frage der Vernunft der Philosophie bis heute. Man kann heute mit der Frage nicht vorurteilsfrei umgehen, wenn man nicht bedenkt, was Friedrich Nietzsche zu diesem Grundproblem der Vernunft der Philosophie angemerkt hat, und zwar gerade dort, wo er sich mit der Möglichkeit der Metaphysik und mit den Schlüsselworten der Kantischen Philosophie in seiner schlagfertigen Kritik auseinandersetzt: »Jenseits von Gut und Böse« – dieser Text darf durchaus als die schärfste aller Metakritiken der Kantischen Vernunftkritik gelten. Und es ist nicht nur die Frage nach der Gefährdung der Vernunft durch die dieser innewohnende Anlage zu äußerst fragwürdigen Trugschlüssen, sondern es ist die durch Kant beschworene Aufgabe einer Philosophie zur Beförderung des Endzwecks der Bestimmung des Menschen, die hier bei Nietzsche als naiv und undurchdacht vorgestellt wird. Nietzsche, das ist nicht nur der Vordenker unserer jüngsten Moderne, er ist vielmehr derjenige, der die abgründige Selbstgefährdung des Menschen dargestellt hat, von dem die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht handelt: die Selbstbestimmung des Menschen in seiner ganzen Bestimmung durch sich, durch das, was er aus sich selbst macht und machen kann. Unstet zwischen die Vorstel16
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lung des letzten Menschen und des neuen Menschen gestellt, erhält er von Nietzsche den Rat, die Vorurteile der Metaphysik abzulegen: so heißt es im Blick auf die hier thematischen Gegensätze: »Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werthe: Es ist auch den Vorsichtigsten unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu zweifeln, wo es doch am nöthigsten war: selbst wenn sie sich gelobt hatten ›de omnibus dubitandum‹. Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt gebe; und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag, es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste.« (KSA 5, 16 f.) Nietzsche entwirft hier gegenüber der herkömmlichen Metaphysik eine Philosophie des Vielleicht: auch diese Philosophie eine Philosophie aus der Idee der Vernunft. Und auch diese Philosophie entgegen ihren rhetorischen Einsätzen ist immer noch ein philosophisches Denken in Gegensätzen. Ein Denken, welches die engste Verbindung zwischen den ursprünglichen Gegensätzen sucht: ihre Verbindung. »Es wäre sogar möglich, dass, was den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht!« (Ebda., 17) Die Unheimlichkeit in diesen von Nietzsche formulierten Sätzen eines neuen philosophischen Denkens liegt nicht in dem Hinweis auf die Verhäkelung zwischen Wahrhaftigkeit und Unwahrhaftigkeit, Wahrheit und Unwahrheit, Gut und Böse, sondern in der Betonung dessen, dass diese Verknüpfung, diese Verhäkelung, die immanenten Verflechtungen selbst einen Wert darstellen: wie er feststellt, einen Lebenswert.
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2. Angesichts dieses Angriffs einer neuen Philosophie der Vernunft in Form des Vielleicht, des experimentierenden Nachdenkens, welches Nietzsche auch das der freien Geister genannt hat, steht vor uns die Frage nach dem Gegensatz von Natur und Kultur: ein Gegensatz der, um an Kants Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Perspektiven der Beschäftigung der Erkenntnis mit dem Menschen zu erinnern, unsere Welterfahrung wie kaum eine andere durchzieht. Immer, wo der Mensch in seiner mühsam errungenen Kultur mit Naturkatastrophen konfrontiert war und immer wieder konfrontiert sein wird, ist er auch mit diesem offenkundigen Gegensatz konfrontiert. Und dem Menschen von heute ist mehr denn je bewusst, dass seine großen Kulturleistungen, Leistungen der technischen und technologischen Umsetzung seiner immer weiter fortschreitenden Naturerkenntnis den allbeherrschenden Gegensatz nicht zum Verschwinden bringen. Im Gegenteil. Der Mensch von heute steht mit fortschreitender Beherrschung der Natur, durch immer weiter perfektionierte technologische Entwicklungen der Naturerkenntnis vor der unbestreitbaren Tatsache, dass es im letzten Grunde keine endgültige Herrschaft seiner Vernunft über die Natur geben wird, dass er diese Herrschaft bereits im Voraus von Anfang an verloren hat. Es ist die moderne Naturwissenschaft, die heutige Kosmologie, die ihn belehrt, dass am Ende der Lebenszeit der Erde diese in ihre Sonne stürzen und in ihr verglühen wird. Und dank dieser Belehrung weiss der Mensch von heute, dass die von ihm geschaffene Kultur und mit ihr das ganze irdische Leben ein Ende haben wird: in einer Zukunft, die durch diese Wissenschaft von heute relativ genau berechnet wird. Dieses auf empirische Daten gegründete und berechenbare Wissen unterscheidet sich vom Glauben des Mythos und dem der Religion, aber auch von der philosophischen Spekulation vom Weltenbrand früherer Jahrhunderte. Es ist das Wissen einer Kultur, die wir als Wissenschaftskultur bezeichnen. Was diese als spezifische Kultur unserer Tage von früheren Kulturen unterscheidet, ist zum einen ihre universale Verbreitung auf dieser Erde, ihre Globalisierung und die universale Anerkennung ihrer Gültigkeit. Es ist in dieser Kultur anerkannt, dass das Wissen, das aus dieser Kultur entspringt, gegenüber allen anderen Quellen des Wissens, gegenüber allen anderen Formen der Meinungsbildung und der Gewissheiten einen neuen unbestreitbaren Vorrang beansprucht. Im Blick 18
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auf die heutige Wissenschaftskultur ist aber nicht zuletzt daran zu erinnern, dass jene Gegensätze, die zu bedenken als herkömmliche Aufgabe der Metaphysik bezeichnet wurde, ihre jeweiligen Gegensätze auf beiden Seiten ihres Gegensatzes in sich trägt. Von Kultur können wir nicht ohne deren Gegensatz reden, nicht ohne von Unkultur, bzw. von Barbarei zu sprechen. Die Erfahrungen des jüngst vergangenen Jahrhunderts, in dem die Wissenschaft ihre grössten Triumphe in ihrer Geschichte feierte, ist die Erfahrung eines Jahrhunderts bislang unvorstellbarer Barbarei, eine Geschichte voller Grausamkeiten unvorstellbaren Ausmaßes, die uns bewusst machen, dass uns die Begriffsworte für diesen Gegensatz zur Kultur fehlen. Nietzsches radikale Fragen in seiner Destruktion der Metaphysik drängen sich einmal mehr auf: »Wie könnte Etwas aus seinem Gegensatz entstehn? Zum Beispiel die Wahrheit aus dem Irrthume? Oder der Wille zur Wahrheit aus dem Willen zur Täuschung? Oder die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze?« (Ebda., 16) Diese verfänglichen Fragen, die Nietzsche stellt, bedeuten für die Frage nach dem Gegensatz von Natur und Kultur nicht nur, wie konnte die Kultur aus der Natur, wie konnte Kultur aus Unkultur entstehen, sondern: wie konnte aus der menschlichen Kultur die Unkultur die unvorstellbare Barbarei entstehen? Wie kommt es, dass dieser Vorgang nicht enden will, sich immer neu, immer neu wiederholt? Und was bedeutet dies für die Rede von der Wissenschaftskultur? Dass die Wissenschaft, wie sie in Europa aus der philosophischen Wissenschaft der Griechen entstanden ist, ihre Geschichte hat, ist uns eine geläufige Vorstellung. Wir wissen auch, dass die Wissenschaft von heute in einem dramatischen Wandel begriffen ist, der sich als Entwicklung den technischen Erfindungen verdankt, die aus den Entdeckungen der Wissenschaft entsprungen sind. Die dramatische Veränderung der Wissenschaft heute hat unvermeidlich auch eine Veränderung der Wissenschaftskultur zu Folge. Auch wenn wir zögern, den Gegensatz dieser Kultur auch hier zur Anwendung zu bringen, so ist heute doch die Vielfalt der zerstörenden Kräfte, die von den technologischen Erzeugungen der Wissenschaft ausgehen, ständiges Tagesthema der politischen Öffentlichkeit. Und am Ende auch Thema der Wissenschaft selbst, nicht zuletzt Thema der Vernunft der Philosophie. Ich erinnere hier nur an Hans Jonas berühmtes Buch Prinzip Verantwortung, das immer weiter fortgeschrieben werden muss. Die moderne Wissenschaftskultur hat im Bewusstsein der von ihr ausgehenden Gefahren, die Idee des Fortschritts der Menschheit A
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durch die Fortschritte der Wissenschaft ein großes Fragezeichen gemacht. Die Veränderungen, die sich in der modernen Wissenschaft vollziehen, können auf verschiedene Weise beschrieben werden: in erster Linie durch die Benennung der neuen wichtigsten Technologien, die das Produkt wissenschaftlicher Erkenntnisse sind. Je nach Bewertung der Kultur dieser Wissenschaften werden die technologischen Erfindungen ausgewählt. Bei dieser Auswahl sind unvermeidlich Vorurteile im Spiel. Unbestreitbar ist aber auch eine Veränderung, deren Feststellung bereits zu den Erkenntnissen der Philosophie gehört: eine Verschiebung der Bewertung wissenschaftlicher Erkenntnis in die Bewertung ihrer Anwendungsmöglichkeiten. Die philosophische Hermeneutik hat hier einen Rettungsversuch unternommen, in dem sie gegen die Vorstellung der angewandten Wissenschaft als Technik und Technologie die Idee einer hermeneutischen Applikation gesetzt hat, in der das Erbe des Humanismus in die wissenschaftliche Praxis eingeht. Die angewandte Wissenschaft nennt demgegenüber diese Praxis eine freischwebende Diskussion ethischer Grundfragen, in der die Ethik selbst Instrument bestimmter Zwecke wird. Hier ist zu erinnern an die bedrohliche Nähe der Instrumentalisierung der Ethik zu Kants Begriff des radikal Bösen, demzufolge die Maximen eines guten Willens dem Eigennutz untergeordnet werden. Wenn das Problem der heutigen Wissenschaftskultur vor den Gefährdungen der Kultur durch die Wissenschaft, aber auch von den Gefährdungen der klassischen Idee der Wissenschaft selbst zu reden verlangt, so kommen wir nicht umhin, den bereits erinnerten Gegensatz zwischen Natur und Kultur noch von einer anderen Seite zu beleuchten. Es ist mehr als nur eine romantische Idee, dass es zwischen Natur und Kultur einen elementaren Einklang gibt, der zu den Grundlagen der menschlichen Kultur und zu den Grundlagen allen irdischen Lebens gehört. Ich meine den Zusammenhang, besser den Zusammenklang der Rhythmik der Erdbewegung mit der Rhythmik der einzelnen Lebewesen und der Resonanz dieser Rhythmik mit der der anderen Lebewesen seiner Umgebung (vgl. Fr. Cramer, Der Zeitbaum, 1996). Diese Rhythmik der Erdbewegung, der Bewegung um die Sonne und um sich selbst, findet seinen Widerhall nicht nur im rhythmischen Wechsel von Tag und Nacht, im Wechsel der Jahreszeiten. Er kehrt auch wieder in den rhythmischen Folgen des Lebens der menschlichen Kultur: in den kalendarischen Einteilungen, in der Rhythmik der menschlichen Arbeits- und Berufswelt, in die das 20
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Die Vernunft der Philosophie zwischen Natur- und Geisteswissenschaften
natürliche Bedürfnis des Menschen nach dem Wechsel zwischen Schlafen und Wachen, zwischen körperlich-geistiger Anstrengung und notwendiger Unterbrechung derselben, zwischen den Mühen der Arbeit und dem Bedürfnis nach Entspannung hineinspielt. Und so wie die Rhythmik der Erdbewegung ihre Entsprechung in den unterschiedlichen Regionen der Erde auf unterschiedliche Weise findet, so findet diese Differenz ihre Unterscheidung in unterschiedlichen Ausprägungen der menschlichen Kultur auf dieser Erde. Wir bemerken, dass wir über die zwei von Kant unterschiedenen Anthropologien hinaus mit einer dritten Gestalt der Anthropologie zu tun haben: nicht nur mit einer Lehre vom Menschen, die mit dem zu tun hat, was die Natur aus dem Menschen gemacht hat und einer komplementären Lehre dessen, was der Mensch aus sich selbst macht, machen kann und soll. Diese dritte Gestalt der Anthropologie handelt von dem, was der Mensch aus der Natur macht. Zu dieser Anthropologie gehört, was der Mensch aus seiner eigenen Natur macht, aus dieser machen kann, machen darf und nicht darf.
3. Mit der Unterscheidung zwischen diesen drei Gestalten einer Anthropologie komme ich zu der Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Ich spreche hier bewusst von Geisteswissenschaften und nicht von Kulturwissenschaften. Der Grund liegt auf der Hand. Fraglos zählen die Naturwissenschaften zu den Kulturwissenschaften; und dies um so mehr, als sie, wie zuvor bemerkt, die heutige Wissenschaftskultur in all ihren Fragwürdigkeiten prägen. Mit der Bezeichnung Geisteswissenschaften (humanities) wird auf die nicht zu leugnende wichtige Differenz zwischen den Naturwissenschaften und eben diesen Geisteswissenschaften hingewiesen. Diese Differenz hat in der gegenwärtigen Wissenschaftskultur zwar in erster Linie einen institutionellen Charakter, der seinen Niederschlag in der Organisation der wissenschaftlichen Forschung und Lehre an den Universitäten findet. Aber auch wenn diesem institutionellen Dualismus entgegen sich immer mehr Interdependenzen und Brückenschläge zwischen diesen beiden Ausgestaltungen der Wissenschaften entwickeln, so bleibt diesseits und jenseits derselben eine Differenz, die nicht aufhebbar ist, die sich vielmehr in der jüngeren und jüngsten Wissenschaftsentwicklung weiA
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ter vertieft. Die Geschichte der Entwicklung der Zweiheit dieser Wissenschaftsgestalten kann hier nicht erzählt werden: deswegen nicht, weil zur heutigen Wissenschaftskultur ein Ausmaß der Spezialisierung gehört, das selbst auf die Norm der Wissenschaften zurückweist. Ich erinnere an das berühmte Wort von Max Weber, dass Wissenschaft heute Spezialwissenschaft ist. Diese Geschichte von der Herausbildung des fraglichen Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften kann auf höchst unterschiedliche Weise erzählt werden, je nachdem, wie ich die entsprechenden Begriffsunterscheidungen treffe. Ich unterscheide zum Zwecke der Reduktion dieser komplexen Geschichte zwischen Grundlagen- und Leitwissenschaften. Um an meine anfänglichen Überlegungen über die Vernunft in der Philosophie und die Vernunft der philosophischen Erkenntnis zu erinnern: Die Philosophie, wie sie sich in Europa und hier in der antiken Kultur Griechenlands entwickelt hat, war Prinzipienwissenschaft, Grundlage jeglicher Gestalt bewährten Wissens. Und den Kern dieser Wissenschaft bildete die erwähnte Metaphysik. In der mittelalterlichen Kultur ist neben die Philosophie, bzw. ihr gegenüber eine den Primat behauptende Theologie getreten: die wissenschaftliche Bestimmung der wesentlichen Gehalte des Christentums. Von Leitwissenschaften spreche da, wo Philosophie und Theologie diesen Wissenschaftsanspruch einer Prinzipienwissenschaft, einer Wissenschaft von den Grundlagen aller Wissenschaften verlieren. Der methodisch geübte Zweifel an diesem Geltungsanspruch verbindet sich heute mit dem Schlüsselwerk unserer Moderne, mit Kants Kritik der Vernunft. Leitwissenschaften sind die modernen Wissenschaften, die aus der Philosophie entsprungen mit einem vergleichbaren Anspruch auftreten, die ehemals die Philosophie innehatte. Die Philosophie gewinnt auf diese Weise einen neuen Wissenschaftscharakter: Sie wird Kritik der Wissenschaften, eine Kritik ihrer selbst als Wissenschaft, dann aber auch Kritik der Leitwissenschaften und deren Geltungsanspruch, mit dem diese sich an die Stelle der Philosophie zu setzten versucht. Die Philosophie selbst wird Leitwissenschaft in Konkurrenz zu anderen Wissenschaften mit vergleichbarem Wissenschaftsanspruch. Es ist insofern nicht zufällig, dass die neuzeitliche Philosophie bei Kant mit der Kritik an einer Leitwissenschaft auftritt, nämlich mit einer Kritik der Mathematik. Dieser Kritik zufolge enthält die Philosophie der Vernunft eine Grundlegung der Mathematik. Von hier weist sie in ihrem kritischen Methodenverständnis den Anspruch der Mathematik 22
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zurück, die Methode philosophischer Erkenntnis zu sein. Aber zugleich anerkennt sie in der Mathematik die ausgezeichnete Funktion einer Leitwissenschaft. Kants bekannter Ausspruch über die Geltung der Mathematik besagt: Es ist soviel Wissenschaftlichkeit in einer Wissenschaft wie Mathematik in ihr ist. Sein Versuch, der Philosophie unter diesem Gesichtspunkt ihre traditionelle Wissenschaftlichkeit zu retten, bleibt unter diesem Gesichtspunkt ambivalent. Die Geschichte der Leitwissenschaften und ihrer Kritik durch die Philosophie zu erzählen, ist eine zweifellos kaum geringere Aufgabe als die vorher benannte: Die Erzählung der Geschichte der Herausbildung der Zweiheit von Natur- und Geisteswissenschaften. Statt der Erzählung jener Geschichte seien einige Züge solcher Leitwissenschaften benannt: Zum einen steht eine solche Leitwissenschaft für die Idee einer gewissen Einheit der Wissenschaften. Ich sage einer gewissen Einheit der Wissenschaft, nicht der Einheitswissenschaft. Man kann mit gutem Grund zweifeln, ob die Philosophie in jenen Epochen, in denen sie Grundlagen- und Prinzipienwissenschaft war, jemals Einheitswissenschaft im strengen Wortsinn gewesen ist, ungeachtet der Bedeutung, die sie der Einheitsidee für die Idee der Wissenschaft zuerkannt hatte. So war ihr die Idee der Einheit im Blick auf die Idee der Vernunft das vorrangige Thema. Kant, von dem hier immer wieder die Rede ist, vermochte die Idee Vernunft im Blick auf die mögliche Einheit wissenschaftlicher Erkenntnis nur noch um den Preis der Verstrickung dieser Erkenntnis in unauflösliche Antinomien zu denken, deren wichtigste die Antinomie von Determination und Freiheit war, und für viele heute noch ist. Und der bedeutendste unter den Neukantianern des 20. Jahrhunderts, Karl Jaspers, folgerte aus dieser antinomischen Grundstruktur der Vernunft, dass die menschliche Existenz unmittelbar an die Grundbefindlichkeit von Grenzsituationen gebunden sei, indem diese Existenz auf die eine oder andere Weise in solchen Situationen auf dem Spiel steht. Unter einer Leitwissenschaft verstehe ich, wie gesagt, eine neuzeitliche Wissenschaft, die mit dem Anspruch der Nachfolge der Philosophie als Grundlagenwissenschaft auftritt, genauer genommen, Ersatz für diese zu bieten verspricht. Infolgedessen haben die verschiedenen Leitwissenschaften entsprechend unterschiedliche Funktionen übernommen, die in der Grundwissenschaft Philosophie vereinigt gewesen waren. Ich zähle solche Funktionen auf, ohne dabei eine Vollständigkeit bei dieser Auflistung zu beanspruchen: Da ist die Funktion der normativen Bestimmung wissenschaftlicher Erkenntnis, speziell die Bestimmung A
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der Norm neuzeitlicher Wissenschaft als Erfahrungswissenschaft; ferner die Idee eines einheitlichen Zusammenhangs der verschiedenen Wissenschaften, angesichts des Verlustes der traditionellen Bestimmung einer Hierarchie aller Wissenschaften auf der Grundlage einer allgemeinen und speziellen Ontologie. Und da ist nicht zuletzt die Bestimmung der neuzeitlichen Wissenschaften im Blick auf den Standpunkt der modernen Kultur in ihrer Anthropozentrik, d. i. der Bestimmung der Wissenschaften im Blick auf die Bestimmung des Menschen als solchen. Zur Geschichte der neuzeitlichen Leitwissenschaften gehört, dass diese nicht nur mit dem Anspruch auftreten, Ersatz philosophischer Grundlagenwissenschaft zu sein. Es gehört zu deren Geschichte auch die Bemühung der Philosophie, diese Ersatzinstanzen in ihrem Anspruch zu kritisieren und zugleich auf dem Weg dieser Kritik selbst den Charakter einer Leitwissenschaft anzunehmen. Philosophie wird Leitwissenschaft anstelle einer Prinzipienwissenschaft. Die auffälligste Konsequenz dieser Entwicklung ist der endgültige Verlust der einheitlichen Idee philosophischer Erkenntnis, die wir mit der Geschichte der europäischen Philosophie von Jonien bis Jena (Rosenzweig) verbinden. Ich skizziere hier kurz und nur schematisch eine Reihe dieser Leitwissenschaften und ihrer philosophischen Kritik, um mich dann vor allem der Leitwissenschaft »Bio-Wissenschaften« und deren Kritik durch die Philosophie zuzuwenden. Der logische Positivismus, speziell der Neopositivismus der Wiener Schule zielte auf die Normierung der Exaktheit der Wissenschaftssprache und der Methode wissenschaftlicher Forschung, und hatte nicht zuletzt deswegen die Verantwortung für die Zuspitzung des Dualismus von Natur- und Kulturwissenschaften, von denen die letzteren auf eine solche Exaktheit der Wissenschaftssprache keinen Anspruch erheben können. Dem zuvor war schon die Psychologie als Leitwissenschaft aufgetreten, am nachdrücklichsten mit dem Anspruch einer Nachfolgewissenschaft der Metaphysik bei Nietzsche, dann aber zu gleicher Zeit im Bereich der akademischen Wissenschaften als diejenige Wissenschaft, die in sich den Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften verbindet, in dem sie beide Seiten auf die eine oder andere Weise in sich vereinigt. Die philosophische Kritik an der Leitwissenschaft »Psychologie« ist so mannigfach wie deren Stellvertretungsfunktionen. Auch hier begnüge ich mich mit den wichtigsten Zügen der philosophischen Kritik: Zunächst war es Dilthey, der die Hermeneutik und die geschichtliche Anthropologie gegen den »Psychologismus« ins Feld führt. Insbeson24
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dere ist hier Karl Jaspers Vernunftphilosophie, seine Philosophie der Existenz zu nennen, die sich gegen Nietzsches Psychologie in ihrem Anspruch der Moralkritik ebenso wie gegen den wissenschaftlichen Psychologismus und Soziologismus richtet. Hier wie dort sieht Jaspers einen fragwürdigen Geltungsanspruch, die »ganze Bestimmung« des Menschen zu erfassen: Fragwürdig deswegen, weil sich diese ganzheitliche Bestimmung überhaupt nicht in einer Wissenschaft, ja im Grund überhaupt nicht fassen lässt, sogar in der philosophischen Existenzerhellung letzten Endes immer wieder scheitern muss. Dann ist es aber vor allem Edmund Husserl, der in seiner Begründung einer philosophischen Phänomenologie im 20. Jahrhundert noch einmal den traditionellen Geltungsanspruch der Philosophie als strenge Wissenschaft und als Wissenschaft von den Prinzipien der Erkenntnis erneuert, und diesen dem konkurrierenden Geltungsanspruch der Psychologie entgegengestellt hat. Aber nicht nur Logik, nicht nur Psychologie und Soziologie, auch die Anthropologie, die Lehre vom Menschen, wie sie sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts in vielfältiger Gestalt entwickelt hat, wird in ihrem Geltungsanspruch als Leitwissenschaft Gegenstand der philosophischen Kritik. Es sind die mannigfachen Entwicklungen der Existenzphilosophie, die sich dieser Form der Bestimmung des ganzen Menschen entgegenstellen. Jaspers zuvor genannte Kritik der Psychologie und der Soziologie findet hier eine Entsprechung. Auch gegenüber den genannten Anthropologien gilt die Feststellung, dass die ganze Bestimmung des Menschen sich überhaupt nicht wissenschaftlich fassen lässt, und dass die Sprachen der Wissenschaft am Ende an der sprachlichen Bestimmung des Menschen versagen.
4. Wie angekündigt, möchte ich den Biowissenschaften in ihrem Anspruch auf eine Leitwissenschaft und ihrer Kritik durch die Philosophie einige Sätze mehr als den zuvor genannten Wissenschaften widmen. Die gegenwärtige Aktualität dieser Wissenschaften (Biologie, Physiologie, Neurologie) besteht darin, dass in ihnen eine physische Anthropologie und eine angewandte Wissenschaft vom Sein des Menschen zusammenkommen: eine Wissenschaft dessen, was die Natur aus dem Menschen und der Mensch aus seiner eigenen Natur macht, aus dieser A
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seiner Natur zu machen befähigt wird. Um hier die kritische Bemerkung vorwegzunehmen, die die folgende philosophische Kritik leitet: Die Wissenschaft von dem, was der Mensch aus seiner Natur macht und machen kann, fällt nicht zusammen mit der philosophischen Bestimmung dessen, was der Mensch aus sich macht, machen kann und soll, die Kant der physischen Anthropologie entgegengestellt hat. Die Reduktion der beiden Gestalten der Erkenntnis des Menschen auf eine einzige setzt all jene zeitgenössischen Probleme einer Ethik frei, die bestimmen will, was der Mensch seiner ganzen Bestimmung nach tun soll, ohne zu wissen, wie diese »ganze Bestimmung des Menschen« in der Erkenntnis zu bestimmen ist. Eine Kritik der Biowissenschaften als Leitwissenschaft durch die philosophische Vernunft verweist auf die Problematik des Biologismus, genauer auf die Reduktion der entsprechenden Anthropologien. Anstelle der Differenz zwischen dem, was der Mensch aus sich machen kann und soll, tritt der Mensch in dem, was er aus seiner Natur, aus seiner biologisch bestimmten Natur machen kann und will. In dieser Reduktion ist der philosophische Blick auf die ganze Bestimmung des Menschen verloren und damit auch das Bewusstsein der Grenzen, die der Erkenntnis des Menschen in theoretischer und praktischer Hinsicht gesetzt sind. Die Biowissenschaften in dieser Gestalt einer Leitwissenschaft sind die Naturwissenschaften. Wenn ich denselben hier zwei Gestalten der philosophischen Kritik entgegenstelle, so unter dem Gesichtspunkt, dass in beiden jener krassen Einseitigkeit entsprechend der Blick für die Frage nach der ganzen Bestimmung des Menschen offengehalten ist, und dies durch die Perspektive einer Zusammenführung von Natur- und Geisteswissenschaften. Ich will hier zu der spekulativen Kosmologie A. N. Whiteheads und der medizinischen Anthropologie Viktor von Weizsäckers einige Worte sagen. Hier wie dort handelt es sich um eigentümliche Verbindungen philosophischen Denkens mit der zeitgenössischen Wissenschaft. In beiden Fällen geht es um die Bemühung, die Reduktionen, die im Geltungsanspruch der Naturwissenschaften gelegen sind, zu überwinden. Hier wie dort geht es zugleich um eine Überwindung des Dualismus von Natur- und Geisteswissenschaften, der für sich eine Reduktion der ganzen Bestimmung des Menschen enthält. Beide philosophischen Ansätze geben uns keine ganzheitliche Bestimmung des Menschen, wohl aber die Perspektive eines offenen Blickes für eine solche mögliche Bestimmung. In beiden Ansätzen einer philosophischen Kritik am Geltungs26
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anspruch der Naturwissenschaften steht die Frage nach der Subjektivität des Menschen im Mittelpunkt. Hier wie dort wird diese Frage aber aus gegensätzlichen Richtungen erörtert. Whiteheads Kosmologie in philosophischer Absicht entdeckt die Subjektivität bereits in den elementaren Strukturen von Ereignissen, mit denen die moderne Physik zu tun hat. Die Quantenphysik rekurriert auf elementare Ereignisse in einer jeweiligen Umgebung, die den Charakter von Feldern hat. Mit dieser Gegebenheit wird ein Elementarereignis bereits die Grundstruktur der Selbstbeziehung in der Beziehung auf Anderes zuerkannt und auf andere Geschehnisse ausgedehnt. Die medizinische Anthropologie Weizsäckers geht dagegen von dem jeweils einzelnen Menschen in seiner jeweils konkreten Lebenssituation aus, um die Grundzüge dieser seiner Verfassung als Subjekt bis in die Lebenswirklichkeit des Bios, bis in die Gestalt des biologischen Aktes zu verfolgen, die die Form eines Gestaltkreises hat. Im einen Fall geht der Blick auf die elementaren Strukturen der Subjektivität in Richtung einer immer weitergehenden Differenzierung im Ausblick auf eine mögliche Bestimmung menschlicher Subjektivität. Im anderen Fall geht die Denkbewegung von der konkreten Erfahrung des leidenden und wirkenden Menschen, von der Begegnung zwischen Arzt und Patient, zwischen einem Subjekt und einem anderen Subjekt weiter bis in die Tiefen und Untiefen vorbewussten und unbewussten Lebens. Im einen Fall bildet das kosmische Geschehen in seiner kosmologischen Geschichtlichkeit den Hintergrund für die Bestimmung von Subjekten, im anderen Fall ist die konkrete Praxis medizinischer Hilfeleistung der Ausgangspunkt für eine vorläufige Bestimmung des Menschen im Zusammenhang mit seiner einzigartigen und unverwechselbaren Lebensgeschichte. Im einen Fall wird die naturwissenschaftliche Erkenntnis der spekulativen Kosmologie in Richtung einer Geisteswissenschaft der Erkenntnis der Stellung des Menschen im Kosmos erweitert, im anderen Fall führt die Bestimmung der Medizin als Kultur- und Geisteswissenschaft auf den biologischen, naturwissenschaftlichen Ausgangspunkt zurück. Den beiden einander komplementären Denkansätzen sei hier kurz stichwortartig gefolgt im Blick auf einen Dualismus, der durch die dramatischen Fortschritte in der Hirnforschung und die hier zur Anwendung gebrachten Bildverfahren propagiert wird. Ich meine den Dualismus von Determination und Freiheit. In der Vernunftkritik Kants war dieser Dualismus aus dem Gebrauch der Vernunft in kritischer Absicht durchdacht und im Blick auf die Einheit der Vernunft als KompatibiliA
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tät der Gegensätze ausgewiesen worden. Die Auflösung des Dualismus durch die genauere Bestimmung dieser Kompatibilität als die von theoretischer und praktischer Vernunfterkenntnis. Die beiden hier in Erinnerung gebrachten philosophischen Denkansätze von Whitehead und Weizsäcker enthalten beide eine Begriffswelt, die geeignet ist, jenen Dualismus in seinem unüberbrückbar scheinenden formalen Unterschied auszugleichen. Hier mag ein kurzer Verweis auf die beiden Denkansätze genügen, soweit diese für die Überwindung des fraglichen Dualismus eine spezifische Form philosophischer Kritik ins Spiel bringen: auf der einen Seite eine philosophische Kritik des Prinzips der Kausalität, auf der anderen Seite eine komplementäre Kritik an dem anthropologischen Prinzip des menschlichen Willens. Die eine wie die andere Kritik kommen in ihrer Komplementarität auf eine Vertiefung des Verständnisses von Freiheit im anthropologischen Sinne hinaus. Whiteheads Kritik der Kausalität enthält eine Umkehrung, gewissermaßen eine kopernikanische Wende in der Bestimmung physischer Kausalität. Diese gilt der philosophischen Betrachtung lediglich als Grenzfall eines besonders elementaren Zusammenhangs zwischen Geschehnissen, in denen Wirkung und Gegenwirkung einen einheitlichen Wirkungszusammenhang bilden. Ein solcher steht in einem Umfeld von Möglichkeiten einer Ausdifferenzierung dieses Wirkungszusammenhangs, er enthält zugleich aber auch Möglichkeiten der Entwicklung komplementärer Wirkungszusammenhänge, dank eines komplexen Feldes, in die diese Geschehnisse eingebettet sind. Ausdifferenzierung und Entwicklung von kausalen Zusammenhängen vollziehen sich über Interpretationen kausaler Zustände durch die Instanzen der Subjektivität, die als solche zu bestehenden Wirkungszusammenhängen beiträgt. Besonders wirksam sind in diesem Zusammenhang die Aktivitäten der Abstraktion, der Transmutation und der Reversion, Aktivitäten im psychophysischen Geschehen, durch die sich komplexe Formen und Wertveränderungen im Verhalten und daraus neue Entwicklungsmöglichkeiten bilden. Determination erweist sich als ein Grenzfall, so wie die entsprechenden determinierten Naturgesetze Grenzfälle statistisch bestimmbarer Wahrscheinlichkeiten sind. Dieser Kritik einer reinen Kausalität in Whiteheads philosophischer Kosmologie entspricht eine Kritik an der reinen Instanz des Willens in Viktor von Weizsäckers medizinischer Anthropologie. Der Wille gilt allgemein als Kausalität menschlichen Handelns. Und die Freiheit des Willens und die mit ihr verbundene Autonomie der Person 28
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gelten in einem Rechtsstaat und in einer freiheitlichen Demokratie als höchste Wertbestimmungen einer humanen Ordnung und einer Sicherung menschlicher Grundrechte. Aber eine Kritik der Annahme eines reinen Willens ist nicht gleichbedeutend mit einer Herabsetzung dieser Grundwerte. Er hat auch nichts mit Irrationalität zu tun. Im Gegenteil. Die Einsicht in die komplexe Struktur menschlichen Verhaltens ist geeignet, den Grundwert des freien Willens allererst ins rechte Licht zu rücken. Allerdings wird auch sichtbar, dass der richtige Gebrauch eines solchen freien Willens und sein Rechtsschutz nicht umsonst zu haben sind, sondern die Sache einer der Humanität verpflichteten Kultur der Menschheit sind. Weizsäckers medizinische Anthropologie hat sich in ihrer Kritik der Handlungskausalität des Willens an Kants Vernunftkritik orientiert, wenn er in seinem sogenannten »pathischen Pentagramm« zwischen Wollen und Können, Müssen, Sollen und Dürfen und deren Negationen unterscheidet, entsprechend den berühmten kritischen Fragen in Kants Vernunftkritik, die allererst eine Beantwortung der Frage nach der ganzen Bestimmung des Menschen ermöglichen könnten. Die Fragen: Was kann ich wissen, was soll ich tun, was darf ich hoffen? Die Einbettung des menschlichen Willens in die psychophysischen Instanzen des Könnens, des Müssens, des Sollens und Dürfens umschreiben nur schematisch, wie die verschiedenen Wirkungsinstanzen sich miteinander zu einer einheitlichen Wirksamkeit verbinden, mit der ein Mensch, dann auch mit anderen Menschen in der Gesellschaft in Verbindung tritt. Mit dem Gebrauch dieser fünf Faktoren und ihrer Negationen wird nun eine Möglichkeit an die Hand gegeben, das Verhalten menschlicher Subjektivität für sich im Selbstbewusstsein und in deren intersubjektiven Begegnungen zu beschreiben und zu erklären. Menschliche Subjektivität wird angesichts dieser Komplexität ihrer Wirkungsmöglichkeiten nicht an die Oberfläche des jeweiligen Bewusstseins fixiert, sondern im Blick auf die Tiefen und Untiefen des Unbewussten bis in die Abgründe des biologischen Lebens hinein verfolgbar gedacht. Die Unterscheidung der schematisch aufgeführten Instanzen menschlichen Handelns und Leidens, das Zusammenspiel von Wollen und Können, Wünschen und Unvermögen, aber auch das Zusammenwirken der Weigerung des Willens zu einer naheliegenden Handlung angesichts eines Imperativs des Sollens, sind einfache Handlungsbeschreibungen, wie auch das Dürfen in ein Wollen hineinspielt da, wo der Wille zunächst in seiner Beurteilung der Situation mit A
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einem Handlungsverbot rechnet. Kurzum: der Gebrauch des Schemas des pathischen Pentagramms ermöglicht ein vertieftes Verständnis des Menschen in seiner konkreten Lebensgeschichte und in einer konkreten Lebenssituation; nicht nur ein verbessertes Verständnis des Verhaltens an der Oberfläche, sondern auch der Tiefen und Untiefen des Lebens in der Vielfalt seiner erlebten persönlichen Geschichte. Wie die skizzierte kosmologische Kritik der Kausalität, so ist auch diese medizinisch-anthropologische Kritik der Instanz des reinen Willens in einer Philosophie des Konkreten verankert, welche nicht nur eine Kritik an den Abstraktionen und Reduktionen der positiven Wissenschaften enthält, sondern darüber hinaus jeweils verschiedene Ansätze für einen Brückenschlag zwischen der Natur und der Kultur als solcher und deren Verbindung im konkreten Leben der menschlichen Individuen enthält. Diese Philosophien können unter der Rubrik Lebensphilosophie verortet werden. Doch ist eine solche Einordnung missverständlich. Denn es geht hier und dort nicht um eine Absage an das Prinzip der Vernunft. Es kann nur dies gesagt werden: Es bleibt offen, ob wir die Bestimmung der Vernunft in der größtmöglichen Erweiterung ihrer Bedeutung nehmen und in ihrem Wirkungsbereich auf das gesamte unbewusste und bewusste emotionale Leben des Menschen hineinwirken sehen, wie dies Herder in seiner Metakritik der Kantischen Vernunftkritik getan hat; oder ob wir die Sache der Vernunft in ihren Forderungen an den einzelnen Menschen und an die menschliche Gesellschaft unter den angegebenen Bedingungen für sehr viel schwieriger erachten als wir gemeinhin hoffen. Kant ist nicht nur der Autor des Grundbuches über den guten Willen. Er hat in seinem Spätwerk auch das radikal Böse zu seinem philosophischen Thema gemacht. Allerdings. Auch wenn er vom Menschen im einzelnen keine besonders hohe Meinung hatte, so wollte er um der Menschenpflicht der Achtung vor der Menschenwürde willen für das Teuflische keinen Raum im Menschen finden. Wir wissen heute angesichts des Holocaust und der Völkermorde des 20. Jahrhunderts, dass dem nicht so ist. Es mag angesichts dieser philosophischen Besinnung unverständlich erscheinen, wenn ich im Blick auf mein Thema an der Idee der Philosophie des Geistes festhalten möchte. Allerdings nicht mehr in dem Sinne, in dem diese in Hegels spekulativer Philosophie eine unverwechselbare Gestalt angenommen hat. Philosophie des Geistes ist hier nicht Philosophie des absoluten Geistes. Und die hier ins Auge gefasste Philosophie des Geistes ist auch nicht mehr Philosophie in Form der 30
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Wissenschaft. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts hat die Philosophie den Charakter einer Wissenschaft eingebüßt, zum Teil bewusst aufgegeben. Die Philosophie des Marburger Neukantianismus war zunächst bei Herman Cohen noch Philosophie der Kultur, genauer Philosophie des Kulturbewusstseins und als eine solche eine wissenschaftliche Philosophie. Sein Nachfolger Ernst Cassirer thematisierte demgegenüber die menschliche Kultur auf andere Weise und hatte dabei in erster Linie die wissenschaftliche Kultur im Blick, während die Philosophie zugleich den prägenden Charakter einer Wissenschaft zugunsten einer Metatheorie einbüßt. Wenn ich hier von der Philosophie des Geistes spreche, so um zunächst auf die Differenz in der Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zu verweisen. Dabei rückt auch die Differenz zwischen Kulturwissenschaften und Geisteswissenschaften in den Blick. Hier handelt es sich nicht um verschiedene Formen und Inhalte unterschiedlicher Wissenschaften, sondern um einen unterschiedlichen Gesichtspunkt im Umgang mit den Wissenschaften. Ich möchte sagen: die Kulturwissenschaften sind Geisteswissenschaften, sofern in ihnen wirksam wird, was zu Beginn meiner Betrachtungen Weltweisheit genannt wurde: sofern in ihnen also etwas erkennbar wird von der ganzen Bestimmung des Menschen im Blick auf seinen Endzweck. Das Studium und die Forschung in den Kulturwissenschaften vermitteln ein Wissen von der eigenen Kultur und den anderen Kulturen, die sich auf unserer Erde in unterschiedlichen Zeiten und Räumen entwickelt haben. Es sind höchst unterschiedliche Kulturen, nicht zuletzt hinsichtlich dessen, was in der entsprechenden Kulturwissenschaft als Kultur angesehen wird. Die Kulturwissenschaften vermitteln insofern ein buntes Bild von den Unterschieden zwischen den Kulturen. Dieses Wissen ist zunächst ein Wissen von kulturellen Tatsachen und Werten, nicht zuletzt von unterschiedlichen Werten in unterschiedlichen Kulturen: Unterschiede im Leben des Alltags, Unterschiede in der Entwicklung der Techniken der Befriedigung der alltäglichen Bedürfnisse, Unterschiede in der Ausbildung von Künsten, Religionen und Formen wissenschaftlicher Erkenntnis; Unterschiede in der rechtlichen und der politischen Kultur. Und vor allem haben die verschiedenen Kulturen ihre jeweilige Geschichte: eine Geschichte nicht nur des Entstehens und des Vergehens, sondern auch eine Geschichte von Krieg und Frieden und von Zerstörung. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts sind es vor allem zwei Denker gewesen, die dem Bewusstsein der menschlichen Kultur eine A
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besondere philosophische Erkenntnisform hinzugefügt haben. Ich meine die Philosophien Heideggers und Wittgensteins. Bei beiden Denkern wird die Frage nach der menschlichen Kultur, nach dem Verhältnis von Kultur, Wissenschaft und Philosophie in besonderer Weise zum Thema, nämlich in Form des Begriffes der Alltäglichkeit, der in Heideggers Sein und Zeit ausdrücklich zum Methodenbegriff erklärt worden ist. Hier ist die alltägliche Existenz, die alltägliche Seinsweise des Menschen, bei Wittgenstein die natürliche Umgangssprache, die jeweils zum Ausgangspunkt einer philosophischen Form der Erkenntnis wird. Die philosophische Bestimmung der Alltäglichkeit menschlichen Daseins und der alltäglichen menschlichen Rede verweist unwillkürlich auf den Begriff einer Alltagskultur. Angesichts der begrifflichen Bestimmung derselben ist es wichtig, sich bewusst zu werden, dass hier Alltäglichkeit eine methodische Bestimmung ist, in der gewisse Abstraktionen unvermeidlich enthalten sind. Die Bestimmung der Alltagskultur in den genannten philosophischen Denkgebilden hat ausdrücklich weder eine primitive, noch eine hochentwickelte Kultur zum Thema. Sie skizziert vielmehr die heutige Kultur in ihrer durchschnittlichen Gegebenheit, wie sie hier überall in Erscheinung tritt. Abstrahiert ist in der Bestimmung des alltäglichen Lebens von den spezifischen Phänomenen der Kultur, die die unterschiedlichen alltäglichen Lebenswelten unterschiedlicher Zeiten und Weltgegenden voneinander unterscheiden. So sind in diesen unterschiedlichen Lebenswelten unterschiedliche technische und wissenschaftliche Faktoren wirksam, Unterschiede der Rechtskultur und der politischen Kultur. Die alltägliche Lebenswelt der verschiedenen Kulturepochen ist Gegenstand spezieller Kulturwissenschaften geworden, die sich im Blick auf die Verschiedenheit dieser Lebenswelten und hinsichtlich ihrer jeweiligen Abstraktionen von spezifischen Prägungen der Kultur unterscheiden. Mit jeder Kultur und mit jedem Aspekt derselben sind Wertungen verbunden. Diese Wertungen spielen in den Kulturwissenschaften als spezifische Gegenstände kulturwissenschaftlicher Forschung eine wichtige, vielleicht ausschlaggebende Rolle. Die alltäglichen Lebenswelten enthalten vor ihrer wissenschaftlichen Vergegenständlichung eine gegenständliche Reflexion in dem jeweils öffentlichen gesellschaftlichen Leben, das spezifische Instanzen der Bewertung der vorliegenden Werte der Kultur dieser Lebenswelt enthält. In der heutigen Lebenswelt in ihrer durchschnittlichen Alltäglichkeit spielt die Bewertung durch die verschiedenen Medien der öffentlichen Information eine wachsende Rolle. 32
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Das alltägliche Leben der Menschen hat, wie es in einem Werbeslogan heißt, »Kultur für alle«, und diese Medien versprechen dabei die Erfüllung der »Lust auf Kultur« (SWR 2). Das Wort »Kultur« wird heute in so unterschiedlicher Weise wie der der »Alltagskultur« verwendet, dass die Kulturbedeutung dessen, was Kultur ihrer Bedeutung nach ist und sein kann, dem Verständnis entgleitet. So finden wir Spielkultur in der Handhabung eines Streichinstruments eines Streichquartetts ebenso wie im Umgang mit dem Fußball in einem Fußballspiel, um nur zwei Beispiele exemplarisch für unzählige zu geben. Und dann öffnet sich das unendliche Feld der Kulturkritik, die nicht nur Sache der Philosophie und der Intellektuellen ist, die Kultur in der Kulturindustrie und im Kulturbetrieb anprangern. Es sind dieselben Instanzen, die mit dem Kulturbetrieb auch die Kulturkritik in Gang halten. Die Kulturkritik ist auch Bestandteil des allgemeinen Kulturbetriebes. Um zur Idee einer Philosophie des Geistes und zur Unterscheidung zwischen Kulturwissenschaften und Geisteswissenschaften am Schluss meiner Betrachtung zurückzukehren: Die Kulturwissenschaften und insofern auch die Naturwissenschaften vermitteln ein reichhaltiges Wissen von den vielfältigen Phänomenen des Lebens. Wo dieses Wissen über bloßes Datenwissen hinaus sich zum Ganzen eines Sinnzusammenhanges fügt, sprechen wir zurecht von Bildungswissen. Bildungswissen ist aber noch nicht echter Bildung gleichzusetzen. Eine solche Bildung ist auch noch nicht die zu Beginn meiner Betrachtungen erinnerte Weltweisheit, die Kant der Schulweisheit kontrastiert hatte. Bildung ist Bestandteil einer Kultur, die Bildung allererst ermöglicht und befördert. Eine solche Kultur, die wahre Bildung über ein bloßes Bildungswissen hinaus befördert, enthält gerade heute auch ein kritisches Bewusstsein der abgründigen Gefährdung ihrer selbst: der Gefährdung der Kultur des Menschen, der Gefahr der Zerstörung seiner natürlichen Umwelt und seiner Lebensbedingungen; und die Gefahr der Zerstörung seiner eigenen Natur aufgrund seiner wachsenden Begierden, die durch Wissenschaft und Technik erfüllt werden wollen. Unsere heutige Kultur ist auf der Suche nach einer richtigen Mitte zwischen den Gewalten der Zerstörung und der Erhaltung einer musealen Kultur. Geistige Bildung ist die ständig neue Bemühung der Erkenntnis, den Raum zwischen den eigenen Möglichkeiten und den gebotenen Grenzen des Wissens und Könnens auszuloten. Ethik ist keine Sache des Kulturbetriebs, sondern der Kultur des geistigen Lebens, welches ein Element der Weltweisheit in sich birgt. A
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Eros als Schöpfer der humanen Kultur Dialektische Betrachtungen zum Verhältnis von Natur und Kultur im Ausgang von Platon, Hegel und Plessner
Platon entwickelt im Symposium zwei Auffassungen, die in ihrem Zusammenhang beide offenkundig die Dynamik des Eros der humanen Kultur einer Erklärung zuführen sollen. Zum einen entwickelt Platon die Vorstellung, dass Mann und Frau ursprünglich einmal nur ein Wesen, nämlich ein mächtiges, vierbeiniges Kugelwesen waren. Von diesem Wesen fühlten sich die Götter jedoch bedroht, weshalb sie es in zwei Hälften auseinanderteilten. Seit dieser Trennung und Teilung sucht Platon zufolge jede dieser Hälften seine andere und trachtet danach, in der Vereinigung die Trennung aufzuheben. 1 Der Mythos soll – so darf man wohl vermuten – erklären, warum die Liebe und das erotische Begehren dem Menschen angeboren ist: Die Liebe versucht die ursprüngliche Natur des Menschen wiederherzustellen und aus zweien eines zu machen. An anderer Stelle interpretiert Platon jedoch dieses erotische Verlangen nach Wiederherstellung der Einheit als eines, dass zugleich als treibende Kraft der gesamten Kulturentwicklung des Menschen wirksam ist. Im Symposium spricht Diotima so den Gedanken aus, dass eine ungebrochene Linie erotischer Erfüllung von der körperlichen Liebe zu dem hinführt, was diesen Körper schön macht, und von dort aus zur Liebe zur Schönheit überhaupt, welche in der Liebe zum schönen Werk, zum schönen Spiel und zum schönen Wissen gipfelt. 2 Fasst man beide Vorstellungen zusammen, dann erscheint damit die humane Kultur als Resultat des schöpferischen Wirkens eines Eros, der eine verloren gegangene, ursprüngliche Einheit auf immer höheren Ebenen wiederherzustellen versucht. Fraglos handelt es sich bei der Vorstellung, Mann und Frau seien einmal nur ein Wesen gewesen, das von neidvollen Göttern in zwei Hälften geteilt wurde, nur um ein mythisches Bild. Entscheidend ist aber 1 2
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Platon, Symposion, 189c–191d. Ebd., 210e–212c.
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Eros als Schöpfer der humanen Kultur
die mit der ontologischen Hälftenhaftigkeit des vereinzelten Menschen von Platon ausgesprochene Auffassung, dass der Mensch ein soziales Wesen ist, das, um zu sich zu kommen, notwendig seinesgleichen bedarf. Platons Vorstellung einer ontologischen Hälftenhaftigkeit des Menschen, sowie der darin implizit anlegte Gedanke, dass sich die humane Kultur einen ideellen Einheitsgrund voraussetzt, aus dem Selbst und Anderes, Ich und Du, beide heraus existieren, dürfte dabei von ungebrochener Aktualität sein. Denn gerade in der modernen Hirnforschung und der von ihr ausgehenden Erkenntnistheorie, welche versucht, die humane Kulturentwicklung und die Sonderstellung des Menschen in der Natur auf Spezifika seiner Großhirnentwicklung zurückzuführen, herrscht offenkundig eine Tendenz, den einzelnen Menschen und sein Erkennen in Abstraktion von der sozialen Dimension so zu betrachten. Im Gegensatz zu einem erkenntnistheoretischen Solipsismus, wie er etwa in paradigmatischer Weise von Gerhard Roth 3 vertreten wird, möchte ich daher hier im Ausgang von Denkern wie Platon, Hegel und Plessner die These vertreten, dass der Mensch erstens a priorisch auf seinesgleichen bezogen ist; und dass zweitens die spezifische Form dieser Beziehung, in welcher der Einzelne zu seinem Anderen steht, den Urgrund der humanen Kultur darstellt. Mit dieser These soll im Kommenden zugleich ein Beitrag zur Überwindung des Gegensatzes von Natur und Kultur geleistet werden. Einer gängigen Auffassung zufolge steht die humane Kultur als ein vom Menschen »gemachter« Bereich der Natur als einem Bereich des »Gewordenen« gegenüber. 4 Eine solche Auffassung hat zweifelsohne ihren Rechtsgrund. Denn natürlich ist der Unterschied zwischen Natürlichem und dem Kultivierten bzw. Künstlichen zuweilen beträchtlich. So bietet z. B. ein natürlich entstandenes Korallenriff den Tausenden von Tierarten, die es bewohnen, wohl auf gänzlich andere Weise Unterschlupf als eine – mehr oder weniger – planvoll errichtete moderne Großstadt ihren Bewohnern. Die Frage ist nur, ob die Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Unterschieds von Natürlichem und künstlich Kultiviertem nicht selbst noch in der Natur angelegt sind und dementsprechend die humane Kultur als »kultivierte Natur« und Roth, Gerhard, Aus der Sicht des Gehirns, Frankfurt am Main 2003. Vgl. z. B.: Habermas, Jürgen, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main 2001. 3 4
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damit letztendlich als Teil einer den Gegensatz von Natur und Kultur übergreifenden Natur gedacht werden muss. So zeigt sich etwa gerade angesichts der Herausforderungen der modernen Biotechnologie oder der ökologischen Problematik, dass der Mensch – so sehr er auch in seinen kulturellen Leistungen die Natur transzendiert – in allem, was er ist und tut, doch stets in die Zusammenhänge der Natur eingebunden bleibt. Es wäre dabei ein Irrtum zu glauben, dass diese Eingebundenheit in die Naturzusammenhänge nur für ihn als körperliches Wesen, gleichsam als Tier relevant wäre, er aber als geistiges Wesen davon abstrahieren könnte – und dies nicht allein darum, weil ein nachhaltiger Umgang mit der Natur bzw. den natürlichen Ressourcen eine ethische Dimension besitzt, die z. B. darin besteht, dass auf solche Weise Verantwortung für die zukünftigen Generationen übernommen wird. 5 Es gilt vielmehr, dass sich weder die materiellen, noch die spirituellen Grundlagen der humanen Kultur in völliger Abhebung von allen Naturzusammenhängen begreifen lassen. Gerade im Falle der Reproduktionsmedizin, im Rahmen derer sich solche Fragen wie die nach der Zulässigkeit der Mejorisierung des menschlichen Erbgutes, der Vertretbarkeit der Erzeugung von so genannten Designer-Babies oder die nach der des reproduktiven Klonens von Menschen stellen, wird der Mensch schlagartig mit dem Tatbestand konfrontiert, dass schon in der Natur – nämlich in diesem Fall im natürlichen Fortpflanzungsprozess bzw. in der Kette der Generationen – die Beziehung auf elementare zivilisatorische geistige Werte wie Freiheit und Selbstbestimmung angelegt ist. 6 Diese Eingebundenheit des Menschen samt seiner Kultur in Naturzusammenhänge – sei es wie im Falle des Fortpflanzungsprozesses, in die Kette der Generationen, sei es wie im Falle der ökologischen Problematik, die in das ökologische Gleichgewicht der Erde eingebunden ist – beruht nicht zuletzt darauf, dass der Mensch in seiner individuellen Existenz als Einzelindividuum stets auf andere (d. h. auf ein soziales Umfeld) und anderes (d. h. auf eine natürliche Umwelt mit ihre Ressourcen) angewiesen ist. Eben dies – ein »zoon politikon«, Vgl. hierzu: Muraca, Barbara, Denken im Grenzgebiet: prozessphilosophische Grundlagen einer Theorie starker Nachhaltigkeit, Freiburg/München 2011. 6 Es erstaunt denn auch nicht, dass ein der zeitgenössischen Metaphysik gegenüber mehr als kritisch eingestellter Denker, wie Jürgen Habermas, mit dem Problemen der Gentechnik die Gefahr einer »Wiederverzauberung der Natur«, »Moralisierung« und »Resakralisierung der Natur« heraufziehen sieht. Habermas, Jürgen, a. a. O., S. 49. 5
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»animal sociale« zu sein – verbindet ihn mit anderen Lebensformen, mit Natur überhaupt. Denn nicht allein der Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass ihm die Beziehung auf anderes immanent ist und dass er daher mit Notwendigkeit auf anderes bezogen ist. Schon die Pflanze, ja schon ein Einzeller, verhält sich aus sich selbst heraus – spontan – zu Licht und Wasser, ebenso wie das Tier zu seiner Beute. Alles Lebendige ist auf Grund seiner Insuffizienz, die ihm als Einzelindividuum zukommt, dazu gezwungen, sich in irgendeiner Weise mit seinesgleichen und darin mit sich selbst auseinanderzusetzen. Man wird zivilisierte Wesen von hier vielleicht als solche definieren können, die ihr Leben auf spezifische – nämlich zivilisierte Art und Weise miteinander teilen. 7 Aber Teilung des Lebens ist nicht nur ein Grundprinzip des humanen Lebens, sondern – wie gerade Hegel im Ausgang von Kant explizierte – ein Prinzip, das die gesamte organische Natur charakterisiert. Schon Kant vertrat bekanntlich in der »Kritik der Urteilskraft« die These, dass es zwei Arten von Naturobjekten gäbe, von denen die eine Klasse – nämlich die Organismen im Gegensatz zu den mechanischen Objekten – nur einer teleologischen Betrachtungsweise zugänglich seien. Als Grund hierfür nennt Kant die von ihm so genannte »innere Zweckmäßigkeit« 8 der Organismen, die darin besteht, dass in einem organisierten Produkt der Natur »alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist«. 9 Diese wechselseitige Abstimmung aller Teile bzw. Organe eines Organismus aufeinander ist aus Kants Sicht nur unter der Voraussetzung eines Ganzen verstehbar, das einerseits als Finalursache d. h. als Zweck wirksam ist. Anders als bei einem Kunstprodukt, wie z. B. bei einer Uhr, deren Formursache ihr äußerlich ist, insofern deren Bestandteile sich nicht von sich aus zusammenfügen, sondern künstlich (d. h. »von außen«) zusammengefügt werden, gilt dabei andererseits, dass im Falle des Organismus das vorausgesetzte Das, wofür der Begriff der Humanität konkret einsteht, ist so, wie Kant einmal mutmaßt, selbst nichts anderes als ein »allgemeines Teilnehmungsgefühl«, aber eines, das sich aus dem Vermögen jedes Einzelnen, »sich innigst und allgemein mitteilen zu können«, ableitet; Eigenschaften, die, so Kant, »zusammen verbunden die der Menschheit angemessene Geselligkeit ausmachen, wodurch sie sich von der tierischen Eingeschränktheit unterscheidet«. In der zweiten Auflage spricht Kant anstatt von »Geselligkeit« von »Glückseligkeit« (KdU § 60). 8 KdU, § 66. 9 KdU, B 296, A 292. 7
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Ganze auch nur insofern objektive Realität hat, als es zugleich als Produkt des »inneren« Zusammenwirkens all seiner Teile bzw. Organe ist. Ein Organismus kann daher, so Kant in einer berühmten Wendung, die auch aus unserer heutigen Zeit stammen könnte, nur als »sich selbst organisierendes Wesen« 10 verstanden werden: Begreifen lässt er sich also nur, wenn man ihn betrachtet, als sei er Resultat seiner eigenen selbstbestimmten, planvoll-zweckgerichteten Tätigkeit, die alle die ihm wirkenden Ursachen so aufeinander abstimmt, dass er daraus als geordnetes Ganzes hervorgeht. Mit anderen Worten: ein Organismus kann nicht anders gedacht werden, als sei er in der Lage, seine inneren Zustände als die seinen zu reflektieren – was einen Selbstbegriff voraussetzt – und sich von dort ausgehend als er selbst zu realisieren: er muss so gedacht werden, als besitze er ein gewisses Urteilsvermögen, das es ihm ermögliche, den Zweck zu verwirklichen, der er objektiv für sich selbst ist. Allerdings führt Kant den Begriff des Naturzwecks bzw. den der »inneren Zweckmäßigkeit der Natur« nur als »regulative Idee« für die reflektierende Urteilskraft ein. Hegel hat seinerseits – ähnlich wie Alfred North Whitehead 11 – Kants Teleologie in den höchsten Tönen gewürdigt 12 ; zugleich aber kritisiert, dass Kant die Entdeckung des Lebens in der Form der inneren Zweckmäßigkeit wieder aus der Hand gibt, in dem er diese auf eine Weise an die reflektierte Urteilskraft bindet, dass diese nur subjektiv gültige Erkenntnisse vermitteln kann. Aus seiner Sicht beinhaltet so die Unterscheidung von mechanischen Objekten und organisierten Wesen – einhergehend mit seiner Unterscheidung von objektiven und subjektiv gültigen Erkenntnissen (bzw. regulativen Ideen) einen inneren Widerspruch – insofern sie auf die ebenso willkürliche, wie paradoxe Unterscheidung von objektiv erkennbaren und objektiv nicht erkennbaren (= unerkennbaren) Objekten hinausläuft. Ein objektiv unerkennbares Objekt ist aber aus Hegels Sicht ein hölzernes Eisen, KdU, B 292, A 288. Vgl. hierzu: Wiehl, Reiner, »Whiteheads Kant-Kritik am Panpsychismus«, in: ders., Metaphysik und Erfahrung. Philosophische Essays, Frankfurt am Main 1996, S. 333– 374. 12 Man denke hier z. B. an den § 55 der Enzyklopädie I, in der Hegel die »Kritik der Urteilskraft« als Einführung »in das Fassen und Denken der konkreten Idee« anempfiehlt, oder die Würdigung im Teleologiekapitel der Logik, demzufolge Kant mit seinem Begriff der inneren Zweckmäßigkeit »den Begriff des Lebens, die Idee aufgeschlossen« habe (LII, 440) 10 11
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da er im Rahmen seines absoluten Idealismus die These vertritt, dass jede Erkenntnis notwendig Erkenntnis von etwas ist – eine These, die hier nicht diskutiert werden kann. Entscheidend für uns ist in diesem Zusammenhang, dass Hegel erstens ausgehend von Kant (u. a.) die These vertritt, dass es überhaupt nur eine Klasse von Objekten gibt – nämlich Organismen –, und dass demnach die mechanische Natur nur als ein Grenzfall einer Natur zu denken ist, die als Ganze »organismusartig« 13 verfasst zu denken ist, und dass er zweitens davon ausgeht, dass in alle diesen Naturobjekten ein lebendiger Drang zur Selbstorganisation und Selbstbestimmung wirksam ist, durch den hindurch diese »Naturobjekte« erst werden, was sie sind. Denn diese organologische Auffassung aller Naturobjekte – die bereits in Leibnizens Monadologie präfiguriert ist – ermöglicht es Hegel zugleich, zu einer ontologischen Auffassung von Kants teleologischer Urteilskraft vorzudringen und davon ausgehend einen Brückenschlag zwischen Natur und Kultur, zwischen natürlich »Gewordenem« und »Geschaffenen« zu leisten. Hegel hat diese ontologische Auffassung des Urteils auf die schlagwortartige Formel gebracht: »alle Dinge sind ein Urteil« (Enz. I, 318) – und von hier ausgehend gegen Kant geltend gemacht, dass weder der »Begriff noch das Urteil bloß in unserem Kopf befindlich sind und nicht bloß von uns eingebildet werden« (Enz. I, ebd.). Begriff, Urteil und Schluss müssen vielmehr zugleich als Tätigkeiten verstanden werden, durch die hindurch sich alles Lebendige durch seine urteilende Tätigkeit fortfahrend als es selbst realisiert. In diesem Sinne bezeichnet Hegel etwa in einem bekannten Beispiel den Wachstumsprozess der Pflanze – das Werden der Wurzel, der Blüte und Blüten aus dem Keim usw. – als das »Urteil der Pflanze« (Enz. I, ebd.). Der Wachstumsprozess der Pflanze, im Rahmen dessen die Pflanze sich selbst als sie selbst realisiert, kann aus Hegels Sicht als ein kontinuierliches Urteilen aufgefasst werden, insofern im Rahmen dieses Prozesses die Pflanze in ihrer Einzelheit ein allgemeines ihr innewohnendes Prinzip realisiert, das Hegel ihren Begriff nennt. Der Wachstumsprozess der Pflanze ist aus dieser Perspektive zugleich begrifflicher Natur und kann als Urteil aufgefasst werden, da im Rahmen seiner Einzelheit und Allgemeinheit (der Gattung, der Art) miteinanDie Bedeutung des Organismus als Paradigma für Hegel ist insbesondere von RolfPeter Horstmann herausgestellt worden. Horstmann, Rolf-Peter, Wahrheit aus dem Begriff. Eine Einführung, Frankfurt am Main 1990.
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der identifiziert wird, was ihre vorgängige Unterschiedenheit voraussetzt. Alle Dinge lassen sich demnach insofern als Urteil auffassen, insofern sie ein Allgemeines sind, das vereinzelt ist: »die Allgemeinheit und Einzelheit unterscheidet sich in ihnen, aber ist zugleich identisch« (Enz. I, 319). Das Urteil als »ursprüngliche Teilung« bezieht seinen Sinn damit aus der dialektischen Beziehung, aus dem Gegensatz von Einzelheit und Allgemeinheit, eine Beziehung, die sowohl Unterschied als auch Identität bzw. Einheit ist. Das Urteil bzw. die Teilung (als Gegensatz von Einzelheit und Allgemeinheit) als ein in der gesamten Natur wirksames Prinzip steht damit gleichsam im Dienste eines Eros, der als vereinigende Kraft in der Natur überhaupt wirksam ist und danach strebt, das Lebendige auf immer höheren Ebenen zusammenzuführen. Dabei verfügt aus Hegels Sicht zugleich jede Stufe der Natur über ihre ureigenste Form von Einheit, die aus einer spezifischen Form von Teilung und Ausdifferenzierung bzw. Ur-Teilung resultiert. Hegel ist bekanntlich als der Philosoph des absoluten Geist, des Weltgeistes in die Philosophiegeschichte eingegangen. Weniger ins allgemeine Bewusstsein getreten ist der Tatbestand, dass Hegel in seiner Dialektik zugleich einen radikalen Individualismus vertreten hat, der für das Verständnis seines Denkens nicht weniger wesentlich ist als die Hypothese der Existenz eines absoluten Geistes. Denn das selbstständige Individuum in seiner Einzigartigkeit ist aus Hegels Sicht jene Erscheinungsform des Lebens, die sich im denkbar größten Gegensatz zur Allgemeinheit der Gattung befindet. Es ist aber andererseits eben genau dieser gleichsam auf die Spitze getriebene Gegensatz von Einzelheit und Allgemeinheit, den Hegel auf eine Weise produktiv deutet, dass er zugleich die Bedingung der Möglichkeit seiner Selbstaufhebung darstellt. Hegel war seinerseits der Auffassung, dass solch eine Selbstaufhebung des Gegensatzes des Einzelnen und des Allgemeinen eine rationale Notwendigkeit darstellt, und damit auch die Existenz vernunftbegabter Geschöpfe bzw. von Individuen eine ontologische Notwendigkeit darstellt. Im Kommenden möchte ich diesen logischen Hintergrund von Hegels Überlegungen weitgehend ausblenden und nur einzelne Aspekte der Logik und Naturphilosophie für eine Theorie fruchtbar machen, die ausgehend vom Prinzip der Teilung spezifische Kontinuitäten im Mensch-Natur-Verhältnis herausstellt; und auf diese Weise versuchen, einen Übergang von Natur zur Kultur als einen Prozess in der Natur zu skizzieren. Dabei greife ich zugleich auf die Hegelsche Vorstellung zu40
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rück, dass sich gleichsam zu Beginn der Naturgeschichte Einzelheit und Allgemeinheit noch in einem völlig ungeschiedenen, indifferenten und in diesem Sinne widersprüchlichen Verhältnis zueinander befinden. Hegel hat für dieses indifferente, widersprüchliche Verhältnis den Begriff der »Verschiedenheit« geprägt. Die dialektische Abfolge besteht nun darin, dass eine noch gänzlich unbestimmte Identität in Verschiedenheit, in Entgegensetzung und die Entgegensetzung in einen Gegensatz übergeht, der seinerseits sich selbst aufhebt und sich darin wieder auf die Identität zurückführt. Diese Identität, die am Ende der Wissenschaft der Logik steht, ist aber nicht die abstrakte, formale Identität des A = A, sondern eine, die um ihr Gegenteil eingereicht wurde und erst darin aus Hegels Sicht wahrhafte Selbst-Identität ist. Die darin vollzogene Bewegung, die einem Kreisgang gleicht, begreift Hegel zugleich als eine, in der eine noch gänzlich unbestimmte Unmittelbarkeit – die Unmittelbarkeit des Seins – primär negiert wird, um von hier aus in die vermittelte Selbstbeziehung (oder auch vermittelte Unmittelbarkeit) überzugehen, die für das höhere Leben und insbesondere die vernunftbegabte Subjektivität charakteristisch ist. Im Kommenden soll die darin angelegte Abfolge, die einem Übergang von Natur in Kultur entspricht, in vier Schritten skizzenhaft transparent gemacht werden, nämlich durch eine kurze Analyse der Lebensformen des Einzellers, der Pflanze, des Tieres und schließlich des Menschen. (Dabei gehe ich teilweise weit über Hegel hinaus, insofern ich Hegel nicht nur aus Plessner, sondern auch auf den Kenntnisstand der heutigen Naturwissenschaft beziehe.) Am Anfang der Evolution des Lebendigen vor ca. 3,5 Millionen Jahren steht aus heutiger Sicht der Einzeller: Einzellige Lebensform – zuerst ohne (Prokaryoten), dann mit Zellkern (Eukaryoten) stellen diese ersten Formen dar, in denen sich das Leben manifestiert. Zellulär ist aber auch alles höhere Leben erfasst. So ist schon oft von Seiten der Biologen betont worden, dass die Zelle in der heutigen Biologie ein ebenso grundlegendes Gebilde ist, wie das Atom in der Physik. Bemerkenswert ist, dass auch schon der Einzeller über all jene grundlegenden Eigenschaften, welche die heutige Biologie als Charakteristika des Lebens behauptet, verfügt: Er betreibt Stoff- und Energieaustausch mit der Umwelt, verfügt über Wachstums und Entwicklungsphasen, besitzt genetische Variabilität und pflanzt sich fort. Ebenfalls legt er – aus philosophischer Perspektive – jene Doppelaspektivität an den Tag, die Helmut Plessner in seinen »Stufen des Organischen« zu dem entscheiA
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denden Charakteristikum des Lebendigen erklärt hat. Lebewesen unterscheiden sich Plessner zufolge von unbelebten Dingen dadurch, dass an ihnen eine prinzipiell divergente Innen-Außenbeziehung als ihrem eigenen Sein zugehörig auftritt. Denn während sich anorganische Dinge nicht selbst aktiv von ihrer Umwelt abgrenzen, ist das Lebendige mit sich selbst und durch sich selbst in seiner Grenze auf eine Weise vermittelt, dass diese seine Grenzen es nicht nur, wie Plessner sagt »einschließen«, sondern »ebenso sehr dem Medium gegenüber aufschließen« und »mit ihm in Verbindung setzen« (Stufen, 181). Indem das Lebendige sich dadurch charakterisiert, dass es über die Fähigkeit verfügt, sich seiner Umwelt abzugrenzen, ist es, wie Plessner in Anlehnung an Hegel sagt, zugleich über seine Grenzen hinaus und verfügt in seinen Grenzfunktionen zugleich über eine Offenheit und Aufgeschlossenheit, die allein Stoffwechselvorgänge bzw. Metabolismus möglich macht. Interessant im hier relevanten Zusammenhang einer Theorie der Teilung ist aber nun die eigenartige Form, in welcher der Einzeller den Gegensatz, den er in seiner Einzelheit zum Allgemeinen verkörpert, zur Auflösung bringt – d. h. die Form, in der er sich fortpflanzt und vermehrt. Einzellige Lebensformen werden in der Fachliteratur immer wieder als »unsterblich« oder zumindest »potenziell unsterblich« bezeichnet, da sie sich in der Regel durch einfache Zellteilung vermehren und auf diese Weise – zumindest unter idealen Umweltbedingungen – gleichsam ewig existieren. Philosophisch betrachtet wird man jedoch hinter die Rede der Unsterblichkeit des Einzellers ein Fragezeichen setzen dürfen. Unsterblich wäre der Einzeller nämlich in der Tat streng genommen nur dann, wenn er in seiner Einzelheit – d. h. als Individuum – gleichsam ewig dauern würde. Tatsächlich realisiert aber der Einzeller die Unsterblichkeit, die ihm zugesprochen wird, nur, indem er sich ununterbrochen entzweit und teilt. Allein der Gattung kommt daher potenzielle Unsterblichkeit zu. Solch eine potenzielle Unsterblichkeit kommt aber jeder Gattung des Lebendigen – bei den Tieren ebenso wie bei der Pflanzen – zu. Was ist also dran an der Rede von der Unsterblichkeit des einzelligen Lebens? Als richtig ist wohl in der Tat herauszustellen, dass dem Einzeller insofern ein Abglanz von Unsterblichkeit zukommt, insofern in seinem Falle dasjenige, was beim höheren Leben Geburt und Tod ausmacht, schlechterdings zusammenfällt. Der Einzeller stirbt in seiner Einzelheit nicht ab, er hinterlässt keine Leiche oder verwelkt, sondern 42
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aus der Teilung des Einzellers (die in gewisser Weise dem Tod entspricht) gehen hier unmittelbar zwei neue Lebewesen hervor (was in gewisser Weise der Geburt entspricht). Eben in diesem Zusammenfall von Geburt und Tod zeigt sich aber – gleichsam wie im Hohlspiegel –, dass die Teilung im Falle des höher entwickelten Lebens selbst eine Form hat; und zwar eine solche, in der das Subjekt die Extreme von Geburt und Tod, Einzelheit und Allgemeinheit sowohl voneinander unterscheidet, als auch aufeinander bezieht. So entfaltet sich im Falle des Menschen sein Leben gerade darin als Biographie, indem er in und durch die Unterschiedenheit von Geburt und Tod hindurch mit sich als solchem zusammengeht. In diesem Sinne hat die Teilung des Lebens im Falle des Menschen den Charakter einer kontinuierlichen, bewussten Selbstvermittlung, in welcher der Mensch sich qua Urteilskraft als solcher vollzieht. Wenn wir davon ausgehen, dass ein humanes Leben eine ursprüngliche Ganzheit darstellt, dann stellt diese Selbstvermittlung offenkundig eine Vermittlung von Identität und Unterschied dar, nämlich von Identität und Unterschied von Anfang und Ende des Lebens, von Geburt und Tod. Im Falle des Einzellers können wir hingegen von solch einer Selbstvermittlung in der Teilung keineswegs sprechen: denn das Subjekt löst sich hier in der Teilung auf; und zwar in einer Weise, dass nun an seiner Stelle zwei neue Lebewesen existieren. Auf diese Weise fallen hier Identität und Unterschied gleichsam zusammen. Zweifelsohne hätte Hegel – der von der Zelle als eigenständiger Lebensform noch nichts wissen konnte 14 – aus diesem Grunde den Prozess der Teilung des Einzellers als in sich widersprüchliches Geschehen, als ontologischen Widerspruch betrachtet, der einen Fortgang zu höheren entwickelten Formen des Lebens notwendig erzwingt. Denn einerseits ist der Einzeller in seiner Einzelheit – wie jedes Lebewesen – aus Hegels Sicht der Gattung, die er verkörpert, ungleich. Aber er löst diesen ihm immanenten Widerspruch, indem er sich teilt und in zwei neue Individuen auflöst, welche die gleiche Gattung verkörpern. Aber diese zwei neuen Individuen tragen unter dem Gesichtspunkt ihrer Einzelheit denselben Widerspruch in sich und teilen sich daher ihrerseits, um die Gleichheit der Gattung mit sich herzustellen – und so immer weiter, bis ins Unendliche. Die vermeintliche potenzielle Un14 Vgl. hierzu: Nießen, Alexandra, Das Leben der Zelle. Diskursanalytische Überlegungen, in: Das Leben denken I, Hegeljahrbuch 2006, Berlin 2006, S. 228–233.
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sterblichkeit des Einzellers beruht daher letztendlich auf einer unvollkommenen Vermittlung des Einzelnen und das Allgemeinen. Diese Unvollkommenheit beruht darauf, dass sich in der Teilung das Subjekt der Teilung nicht als solches gegenständlich wird; und zwar in einer Weise, dass es darin Gleichheit und Ungleichheit mit sich vermitteln und sich darin erhalten könnte. Das Leben des Einzellers scheint daher ein reines Außer-sich-Kommen zu sein, in dem er sich in unentwegter Teilung in eine indifferente Verschiedenheit ergießt. Eben dieses Problem – nämlich sich in der Teilung zur erhalten – löst jedoch die Pflanze, die sich von hier aus als nächste Stufe der Natur begreifen lässt. Hat doch die Pflanze das Prinzip Teilung solchermaßen verinnerlicht, dass man sie vielleicht besser als »Dividuum« 15 , denn als Individuum bezeichnen sollte, insofern ihr Leben darin besteht, sich unendlich zu teilen; dies aber im Gegensatz zum Einzeller in einer Weise, dass sie sich auch in der Teilung ihrer Zellen als solche erhält. So sagt auch Hegel: »Die Pflanze ist, als Selbsterhaltung, Vervielfältigung ihrer selbst.« (Enz. I, 374) Als mehrzelliger Organismus ist die Pflanze, mit anderen Worten gesprochen, im wahrsten Sinne ein Gewächs, insofern ihr Sein darin besteht, solange sie kann, immer weiter zu wachsen, und dieses Immer-weiter-Wachsen ist nichts anderes als ihr unendliches Sich-Teilen. Um es mit Driesch zu sagen: »Tiere erreichen einen Punkt, an dem sie fertig sind, Pflanzen sind, wenigstens in sehr vielen Fällen, nie fertig.« 16 Vergleicht man den Entwicklungsprozess von Pflanzen und Tieren miteinander, dann fällt zugleich auf, dass die Pflanze sich auf eine Weise zur Entwicklung bringt, die – wie Hegel konstatierte – mehr einem Hinzubilden neuer Teile entspringt, denn einer Umformung und Umgestaltung. »Das im Vegetabilischen herrschende Wachstum ist daher Vermehrung seiner selbst, als Veränderung der Form, während das animalische Wachstum nur Veränderung der Größe ist, aber zugleich eine Gestalt bleibt, weil die Totalität der Glieder in sie aufgenommen ist. Das Wachstum der Pflanze ist Assimilation des Anderen zu sich; aber als Vervielfältigung seiner ist diese Assimilation auch Außersichkommen« (Enz. I, 373). Damit tritt natürlich überhaupt die Frage auf, wie es der Pflanze gelingt, sich – anders als der Einzeller – in der Teilung, in der sie sich In der Botanik versteht man unter einem Dividuum den Ableger einer Pflanze, welche den gleichen Genpool aufweist wie die Mutterpflanze. 16 Driesch, Hans, Philosophie des Organischen, Leipzig 1921, S. 39. 15
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als solche vollzieht, auch als solche zu erhalten. Eine mögliche Antwort auf diese Frage erhalten wir m. E., wenn wir die Morphologie der Pflanze analysieren. Die Pflanze erhält sich nämlich offenkundig in der Teilung ihrer Zellen, indem sie die Teilung, die gleichsam in ihr vonstatten geht und die ein zentrales Moment ihrer Lebendigkeit ausmacht, unmittelbar als ihr äußeres Formprinzip reflektiert. Wie aber kann die Teilung, die ein Sich-Entzweien beinhaltet, so in sich reflektiert werden, dass sie zum Formprinzip wird? Die Antwort hierauf erhalten wir möglicherweise – wie andeutungsweise schon Hegel betonte – wenn wir den Begriff der Reflexion einmal ganz wörtlich nehmen: nämlich als Spiegelung. Die Pflanze überführt die Teilung in die Einheit der Form, indem sie sich als das unendlich in-sich-gespiegelte Leben vollzieht. Die Morphologie der Pflanze beruht in diesem Sinne auf Selbstgleichheit, sie beruht auf Harmonie in der Symmetrie. Diese Selbstgleichheit dürfte der Grund für jene ungeheure Symmetrizität, Geometrizität und Mathematizität sein, welche die Pflanze an den Tag legt und die heute Gegenstand zahlreicher Wissenschaften ist. So ist es bekanntlich mit Hilfe moderner Computertechnik und/oder z. B. der Fraktaltheorie Benoit Mandelbrots gelungen, Form und Struktur zahlreicher Pflanzen täuschend ähnlich zu simulieren. Eine breite Anwendung finden solche und ähnliche Forschungen in der heutigen Nanotechnolgie, im Rahmen derer die Oberflächenstruktur zahlreicher Pflanzen in ihren wasser- oder lichtabweisenden bzw. -absorbierenden Eigenschaften (»Lotuseffekt«) industriell nutzbar gemacht werden. Schon Hegel wiederum hat allerdings betont, dass sich in dieser Mathematizität und Geometrizität (die ihm nicht entgangen ist) zugleich ein spezifischer Mangel des pflanzlichen Seins verbirgt, die es in die Nähe zum kristallinen, toten Sein bringt. Denn die Gleichheit mit sich, welche die Pflanze durch die Selbstähnlichkeit ihrer Teile verwirklicht, bleibt ganz äußerlich; die darin realisierte Stufe von Selbsthaftigkeit ist damit rein sinnlich, nicht geistig bestimmt. Hegel schließt hieraus: »Der gegliederte Leib ist daher bei der Pflanze«, so Hegel, »also noch nicht die Objektivität der Seele; die Pflanze ist sich noch nicht selbst objektiv« (Enz. II, 374). Da die Einheit der Pflanze damit eine äußerliche ist, realisiert die Pflanze in ihrer fortfahrenden Teilung folglich eine Selbstunterscheidung, die sich nicht aufzuheben vermag. Insofern das Sein der Pflanze auf einer Teilung oder Selbstunterscheidung beruht, welche die Pflanze als solche nicht aufhebt, behalten daher auch die einzelnen Teile bzw. A
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Zellen der Pflanze eine hohe Selbstständigkeit. Daher unterscheiden sich hier die Teile als Teile nur äußerlich, nur an sich, und nicht an und für sich von dem Ganzen, dessen Teile sie sind. Sie sind daher selbst noch relative Ganzheiten. Während das Tier über ein steuerndes Zentrum und über eine hohe Zelldifferenzierung verfügt, zeigt sich diese Autonomie der Teile im Falle der Pflanze insbesondere in dem Tatbestand, dass sich zahlreiche Pflanzen auch durch Stecklinge oder Ableger vermehren lassen. Dass die Pflanze trotzdem an sich selbst schon ein Anderes ist bzw. einen Antagonismus aufweist, tritt darin umgekehrt darin zutage, dass auch schon die Pflanze eine rudimentäre Geschlechtlichkeit an den Tag legt. In der Natur verkörpert – so Hegels Überzeugung zumindest – das weibliche Prinzip als das Gebährende das abstrakt Allgemeine bzw. die Gleichheit der Gattung mit sich; das männliche Prinzip hingegen die abstrakte Einzelheit bzw. die Ungleichheit des Einzelnen und des Allgemeinen. Während sich in der äußeren Reflexion die Pflanze unendlich in sich spiegelt, und im Wachstum immer mehr außer sich kommt, zeigt sich ihre Reflexion-in-sich darin, dass sich die Gleichheit und Ungleichheit in der Geschlechtsdifferenz in der Tat aufeinander beziehen. Anders als im Falle des Einzellers sind die Zellen der Pflanze daher in einer Identität verschiedene; und daher an sich Entgegengesetzte. Aber die Pflanze ist die darin angelegte Entgegensetzung nur an sich, noch nicht für sich – die meisten Pflanzen sind zweigeschlechtlich; andere können das Geschlecht wechseln. »Das eigentliche Geschlechtsverhältnis«, so Hegel, »muss zu seinen entgegensetzten Momenten ganze Individuen haben« (Enz. II, 421). Die Pflanze ist daher dem kindlichen Leben vergleichbar, »das erste für sich seiende Subjekt … das in ihm selbst noch nicht zum Unterschiede aufgegangen ist« (Enz. II, 372). Eben dies geschieht aber auf der animalischen Stufe. In der Tat ist es nämlich aus Hegels Sicht eben diese Sphäre des Animalischen, in der die Entgegensetzung oder Selbstunterscheidung des Einzelnen und des Allgemeinen, welche die Pflanze nur an sich, aber noch nicht für sich ist, als solche reflektiert wird. Die Sphäre des Animalischen ist als antagonistische Totalität überhaupt die Sphäre der Differenz, der Entzweiung. Das Tier ist Entgegensetzung an und für sich, Subjekt und Objekt, Jäger und Beute, männlich und weiblich, und vermittelt auch diese Antagonismen in seinem Sein. Auch bei Plessner heißt es so knapp: »Tier-Sein heißt Kämpfer-Sein«. Wie Hegel vielleicht und noch konziser Plessner dargelegt hat, bestimmt der Antagonismus, welcher 46
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der tierischen Lebensform immanent ist, aber nicht nur den Vollzug seines Lebens als Jäger- oder Beutetier bzw. im Gegensatz der Geschlechter. Vielmehr verkörpert das Tier auch in seiner Einzelheit im wahrsten Sinne des Wortes einen Antagonismus; der Antagonismus stellt – wie Plessner formuliert – die Organisationsidee des Tieres dar. Plessner legt dies dar, indem er in einer Weise, die schon bei Hegel präfiguriert ist (s. Enz II., 437), das Tier mit der Pflanze vergleicht. Die Pflanze verfügt Plessner zufolge über eine offene Form, die sie in all ihren Lebensäußerungen unmittelbar ihrer Umwelt eingliedert; so dass sie dadurch zu einem unselbstständigen Abschnitt ihres Lebenskreises wird. Die Unselbständigkeit – die sich etwa gerade in der fehlenden Fähigkeit zur Selbstbewegung ausdrückt – gründet darin, dass die Form, in der sich die Pflanze von ihrer Umwelt differenziert, zugleich identisch mit der ist, in der sie sich in ihre Umwelt integriert. In diesem Sinne, so Plessner, sind alle Flächen, welche die Pflanze der Umwelt zuwendet, als Grenzen zugleich Funktionsträger, durch die hindurch die Pflanze unmittelbar im lebenswichtigen Kontakt mit der Umwelt steht. Sie bleibt somit ihrer Umwelt im wahrsten Sinne verwurzelt. Das Tier hingegen verfügt insofern über eine geschlossene Form, als es sich nur mittelbar in seinen Lebensäußerungen in die Welt eingliedert und darin eine gewisse »Abkammerung« gegen die Umwelt und damit Selbständigkeit erreicht. Möglich ist diese Mittelbarkeit aus Plessner Sicht, insofern das Tier einerseits in sich selbst in einen Antagonismus von Sein-für-Andere und Sein-für-Sich, Außenwelt und Innenwelt auseinandertritt, und sich andererseits als es selbst in der Vermittlung, dieser Extreme vollzieht. Deutlich zeigt sich diese Mittelbarkeit darin, dass das Tier Organe ausbildet, die als Werkzeuge eben einer solchen Vermittlung dienen. Besonderes Gewicht legt Plessner hier auf den Gegensatz von der »sensorischen und der motorischen Organisation«, insofern dieser aus seiner Sicht einen »Zonenzerfall« innerhalb des Organismus zum Ausdruck bringt, der dem Tier zugleich ermöglicht, in eine antagonistische Beziehung zu sich selbst und zu seiner Umwelt zu treten: einerseits in eine passiv hinnehmende, andererseits in eine aktiv gestaltende (vgl. Stufen, 294). Das Selbst bzw. das Zentrum des Tieres muss seinerseits als eine diesen Richtungsgegensatz überlagernde und darin zugleich als Gegensatz überhaupt erst ermöglichende Einheit verstanden werden. Auf diese Weise steht das Tier einerseits durch seine Organe im mittelbaren Kontakt mit seiner A
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Umgebung und entfaltet andererseits ein Selbst, das als koordinierende und steuernde Instanz – als Mitte oder Zentrum in dieser Vermittlung – sich vollzieht. Die Schranke des tierischen Organismus liegt dabei aus seiner Sicht darin, dass das Tier in der Vermittlung seiner organischen Vollzugsweisen völlig aufgeht. Es verfügt zwar über ein Selbst, über eine Mitte, aber die Mitte ist sich nicht als solche gegeben. »Das Tier«, so Plessner plastisch, »lebt aus seiner Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. Es erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über seinen eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen es bildet ein auf es selber rückbezügliches System, aber es erlebt nicht – sich« (Stufen, 360). Aber warum erfasst das Tier nicht sich als solches, warum kann es sich nicht als Ich-Sagendes aussagen? Warum fehlt dem Tier die Distanz zu sich, aus der heraus es sich eigens begreifen könnte? Warum lebt es nicht als Mitte? Schon Hegel vertrat diesbezüglich die Auffassung, dass das Tier in einer Weise mit sich selbst vermittelt ist, in der es nicht sich als solches erfassen kann, da das Tier seinem Anderen auf einfache, unmittelbare Weise entgegengesetzt ist. Die Einfachheit der Entgegensetzung zeigt sich im Falle des Tieres darin, dass das Jäger/Beute-Verhältnis eines zwischen Ungleichen überhaupt ist. Während der Mensch in demselben Verhältnis, in dem er als Ich reflektiert ist, auch als Du reflektiert ist, und zwei »Ich«, die sich gegenüber sind, so stets auch zwei »Du« füreinander darstellen, ist das Tier im Verhältnis zu seinesgleichen entweder Jäger oder Beute. Natürlich kann ein Jäger – etwa ein Fuchs, der einen Hasen verschlingt – auch in einer anderen Hinsicht – etwa für einen Wolf – eine Beute sein. Aber niemals ist ein Jäger im Verhältnis zu derselben Art, in der er als Jäger reflektiert, auch als Beute reflektiert. In dem Verhältnis von Jäger und Beute fehlt es so gesehen an jener Gegenseitigkeit oder – mit Husserl gesprochen – Reziprozität, wie sie für intersubjektive Verhältnisse zwischen Menschen charakteristisch ist. Diese fehlende Reziprozität im Jäger-Beute-Verhältnis verhindert dialektisch betrachtet, dass das Tier sich im Verhältnis zum anderen Tier als das Andere seines Anderen, als Gegenüber seines Gegenübers gegenständlich werden kann: Weil das Andere nicht seines-gleichen ist, kann es im Andern nicht sich selbst gegenübertreten. Das Tier ist daher, so Hegel, »durch Vernichtung« des ihm »gegenüberstehenden Anderen die ursprüngliche einfache Beziehung auf sich« (Enz. III, 20). In dieser Vernichtung des Anderen hebt das Tier den Unterschied zwi48
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schen ihm selbst und seinem Anderen – ein Unterschied, der als Antagonismus auch in es fällt – auf: Das Fressen hält hier gleichsam Leib und Seele zusammen. Aber es hebt ihn in einer Weise äußerlich auf, in der es die Ungleichheit, in der es zu seinem Anderen – und darin zu sich selbst – steht, unmittelbar reproduziert: der »darin enthaltene Widerspruch« ist damit, so Hegel, »von neuem gesetzt« (Enz. III, 20). Diese Äußerlichkeit oder defiziente Vermittlung ist aus Hegels Sicht dafür verantwortlich, dass das Tier im Verhältnis zu seinem Anderen nicht mit sich selbst als solchem, sondern als Exponent seiner Gattung zusammengeht. In diesem Sinne verkörpert im Falle des Tieres die Zugehörigkeit zur Art die Form der Teilung, durch die hindurch es am Allgemeinen partizipiert. Diese Form der Partizipation ist aber unzulänglich, weil dem Tier in dem Verhältnis, in dem es zu seinem anderen steht, noch nicht das Verhältnismäßige dieses Verhältnisses – d. h. das Verhältnis als solches – gegeben ist. Das Tier empfindet daher, so Hegel, die Gattung nur in der Form des Triebes, »aber weiß nicht von ihr; im Tier ist noch nicht die Seele für die Seele, das Allgemeine für das Allgemeine« (Enz. III, 20). Insofern aber nun des weiteren das Tier überhaupt schon ein Anderes oder ein Objekt von sich unterscheidet, auf das es sich zugleich bezieht, kommt es aber auf der Ebene der Gattung im Falle des Tieres zu einer ersten wirklichen Identifikation von Einzelheit und Allgemeinheit – nämlich im Geschlechtsverhältnis. Das Geschlechtsverhältnis ist daher, wie Hegel sagt, »der höchste Punkt der lebenden Natur«, denn »auf dieser Stufe ist sie der äußern Notwendigkeit im vollsten Maße entnommen, da die aufeinander bezogenen unterschiedenen Existenzen nicht mehr einander äußerlich sind, sondern das Empfinden ihrer Einheit haben« (Enz. III, 20). Auch hier kommt es aber eben nur zu einem Empfinden, nicht zu einem Bewusstsein der Einheit, weil das Geschlechtsverhältnis derselben einer schlechten Dialektik unterliegt wie das Jäger-Beute-Verhältnis: während sich das Tier in letzterem nicht objektiv werden kann, da es seinem Anderen auf einfache Weise entgegengesetzt bzw. immer ungleich ist, gleichen sich hier die Tiere zu sehr, um sich als individuelle Wirklichkeiten gegenübertreten zu können: Das Individuum in seiner Einzelheit ist hier eben nicht das Entscheidende – was zählt, ist das Geschlecht und die allgemeine Zugehörigkeit zur Gattung. Dies darin erweist sich nicht zuletzt darin, dass selbst in den wenigen Fällen, wo es im Tierreich zu lebenslanger Paarbildung kommt, auch diese lebenslange Paarbildung A
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noch ein allgemeines Charakteristikum, eine Adaptionsstrategie der Gattung als Ganzer ist. Das Sexualverhalten des Tieres ist in diesem Sinne symbiotisch und nicht wirklich erotisch, da die Partner hier einfach miteinander verschmelzen. Erotische Beziehungen zwischen Menschen beruhen hingegen auf einer eigenartigen Mischung von Distanz und Nähe. Diese setzt aber eine vollkommene Individualisierung voraus. Diese bleibt dem Menschen vorbehalten. Wie lässt sich von der animalischen Stufe aus ein Übergang von Tier zu Mensch und damit von Natur zu Kultur beschreiben? Und inwiefern lässt sich von hier aus Eros als Schöpfer der humanen Kultur behaupten? Tatsächlich wird man zunächst festzuhalten haben, dass dialektisch betrachtet auch noch die Sphäre des Tieres auf einem unaufgelösten Widerspruch beruht. Der Widerspruch besteht darin, dass alle Tierarten zusammen nur eine antagonistische Totalität bilden, diese Totalität jedoch nur an sich, nicht für sich besteht. An sich enthält nämlich jedes einzelne Tier die Beziehung auf seine Beute – und damit letztendlich auf alle anderen Tiere – als ein ihm immanentes, notwendiges, ideelles Moment. Eben hieraus resultiert der sogenannte Nahrungskreislauf, bei dem es sich – wie die heutige Biologie lehrt – um nur ein unendlich ausbalanciertes System handelt. Aber diese Einheit ist nirgendwo als solche realisiert. So steht der »Menschheit« als solcher keine »Tierheit« – der »Humanität« keine »Animalität« – gegenüber, sondern nur ein unendlich zerklüftetes System von Gattungen, Arten und Unterarten. Die tierische Wirklichkeit beruht damit auf dem Widerspruch, dass sich die Individuen hier einerseits als Exponenten ihrer Gattung äußerlich einander gegenüberstehen, während sie in Wahrheit innerlich aufeinander rückbezogen sind. Dabei zeigt sich die innerliche Bezogenheit im Geschlechtsverhältnis, die äußere im Nahrungskreislauf. Aber Innen und Außen sind hier noch nicht wirklich in ein Verhältnis zueinander gesetzt. Einem Zuviel an einfacher Entgegensetzung zwischen den Arten steht so ein Mangel an innerer Differenziertheit und Bestimmtheit innerhalb der Gattung gegenüber. Beides zusammen führt dazu, dass das Tier auf eine Weise das Leben der Art führt, die noch jener Autonomie und Selbstbestimmung ermangelt, die für das individuelle Leben des Menschen kennzeichnend ist. Aufgrund dieses Mangels an Selbstbestimmtheit ist auch in Hegels Sicht die Form der Art bzw. Gattung, die das Tier verkörpert, demselben äußerlich. Schon bei Hegel meint der Begriff »äußerlich« dabei auch soviel wie: von außen auf50
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gezwungen. Denn ein Mangel an Selbstbestimmtheit impliziert notwendig Fremdbestimmtheit. Und geht man einen Schritt über Hegel hinaus, wird man von hier aus sagen können: Fremdbestimmtheit impliziert Anpassung. Und so kann man in der Tat die Angepasstheit des Tieres an seine Umwelt – ein Grundpfeiler des vierzig Jahre nach Hegels Naturphilosophie von 1830 an die Öffentlichkeit tretenden Darwinismus – im Ausgang von Hegel so interpretieren, dass sie Ausdruck dafür ist, dass das Tier sich als solches noch nicht vollkommen selbst bestimmen kann. Der tiefere Grund an diesem Mangel an Selbstbestimmung, der das Tier dazu nötigt, sich in solch einer Form zu vollziehen, liegt Hegel zufolge – wie schon gesagt – darin, dass die Wirklichkeit der Arten und Gattungen auf einer Vereinigung des Einzelnen und des Allgemeinen beruht, in der sich das vereinigende Prinzip – das Allgemeine – noch nicht als solches gegeben und transparent geworden ist. Eben dies ist im Rahmen der hier entwickelten Sicht nur erreichbar, wenn die Entgegensetzung zwischen Selbst und Anderem, die in paradigmatischer Form dem Jäger-Beute-Verhältnis zugrunde liegt, als solche reflektiert und darin aufgehoben, wird. Das heißt: Die Individuen müssen, um überhaupt als Individuen existieren zu können, einerseits einander entgegengesetzt – überhaupt Andere gegeneinander – sein. Sie müssen aber andererseits auch dieser Entgegensetzung entgegengesetzt sein und darin ihre Entgegensetzung aufheben. Eben dieser potenzierte Gegensatz, der darin, dass er ist, auch aufgehoben ist, charakterisiert aus hegelscher Sicht intersubjektive Verhältnisse, wie sie allein zwischen Menschen vorkommen. So ist das Verhältnis zwischen Ich und Du eben aus dem Grunde eines, das auf Gegenseitigkeit beruht, weil diese Gegenseitigkeit die Form ist, jene einfache Entgegensetzung, wie sie für die animalische Wirklichkeit charakteristisch ist, zu reflektieren, potenzieren und darin aufzuheben. Der Übergang von Natur zu Kultur erfolgt daher genau dort, wo einfache Entgegensetzung in jenen potenzierten Gegensatz und dessen Selbstaufhebung umschlägt, der für intersubjektive, humane Verhältnisse charakteristisch ist. Er begründet die Sphäre des Humanen als Sphäre einer vollkommenen Selbstvermittlung, in der Subjekte gerade darin, dass sie sich in ihrer individuellen Unterschiedenheit miteinander auseinandersetzen, zu ihrer Selbstidentität finden. In dieser Sphäre des Humanen ist das Allgemeine, das in der gesamten Natur als eine vereinigende Kraft wirksam ist, in ein Verhältnis zu sich gesetzt, dass es darin zugleich den BezieA
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hungsgrund abgibt, in dem Ich und Du – ihrem Verhältnis zueinander – je mit sich zusammengehen. Nicht als »Eros«, wohl aber als »freie Liebe« hat auch noch der späte Hegel die Wirklichkeit des Allgemeinen bezeichnet, nämlich als »ein Verhalten seiner zu dem Unterschiedenen«, dem Individuellen, Einzelnen, »als nur zu sich« (LII, 277). Wie Michael Theunissen betont, macht Hegel mit dieser Konzeption des Allgemeinen »gegen bloße Fremdbeziehung einerseits und gegen die Abstraktion eines unmittelbaren Für-sich-Seins andererseits […] ein In-Beziehung-Sein geltend, das als Im-Anderen-bei-sich-selbst-Sein Freiheit und als Bei-sich-selbst-Sein im Anderen Liebe ist«. 17 Die Potenzierung des Gegensatzes zwischen den Individuen, die mit dessen Selbstaufhebung einhergeht, ist dabei zugleich identisch mit der schöpferischen Hervorbringung von Individualität. Der Übergang von der einfachen in die gedoppelte Entgegensetzung ist daher nicht nur ein intersubjektiver Tatbestand, sondern er potenziert gerade auch den Antagonismus, der schon in der Organisationsform des Tieres anlegt ist. Tiere sind sich nicht einander gegenüber. Die Grenze des Tieres liegt daher letztendlich darin, dass es in seinem Anderen nicht sich selbst gegenübertreten kann. Eben dies aber wäre erforderlich, damit das Tier jene Distanz zu sich gewinnen könnte, aus der heraus es sich als solches begreifen und individuell selbst bestimmen könnte. Daher vollzieht das Tier ein Leben in der Form einer Teilung, die nicht wirklich mitten durch seine Existenz hindurch geht. Es kann nicht aus sich heraustreten – sowie der Schauspieler auf die Bühne heraustritt –, es kann sich selbst als solches nicht mitteilen und sagen: schaut her, hier bin ich. Denn das »hier«, das es selbst ist, ist für das Tier offenkundig niemals als Standpunkt außerhalb seiner Selbst – »als hier für ein Du gegeben«. Eben darum kann sich das Tier auch nicht schämen. Der Mensch hingegen vollzieht sich in der potenzierten Entgegensetzung in der Form einer Teilung seiner selbst, die sich als solcher vollkommen reflexiv und transparent geworden ist; eine Teilung, in der – mit Plessner gesprochen – die innere Mitte sich auch noch als Mitte gegeben und damit in ein Verhältnis zu sich gesetzt ist. Er vollzieht sich in der vollkommenen Entäußerung an das Andere, aus der er unendlich zurückzukehren hat. Eben diese Dialektik von Entäußerung und Rückkehr ist konstitutiv für das humane Selbstbewusstsein, das – Theunissen, Michael, Sein und Schein. Die kritische Funktion der hegelschen Logik, Frankfurt am Main 1980, S. 49.
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wie es Volker Gerhardt ausdrückt – »soziomorph« 18 verfasst ist. Die Soziomorphie des Selbstbewusstseins besteht damit darin, dass es sich überhaupt erst in der triadischen Relation zwischen Ich, Du und Welt entfaltet. Der Mensch vollzieht sich darin, dass er sein Leben mit seinesgleichen teilt. Insofern die Teilung als gemeinsame Unterschiedenheit für Ich und Du gleichermaßen wirklich ist, ist daher die objektive Welt, in der er sich vollzieht, immer schon eine mit-geteilte Welt 19 , d. h. eine Welt, von der das Subjekt weiß, dass diese Welt nicht nur für es allein, sondern ebenso für andere Subjekte besteht. Es wäre dabei zu wenig, wenn man sagen würde, dass der Mensch sich in diese anderen Subjekte mehr oder weniger hineinversetzen kann. In der potenzierten Teilung ist der Mensch vielmehr nicht nur seinesgleichen – sondern auch sich selbst – auf eine Weise entgegengesetzt, dass er sich stets als Anderen als der oder die Andere dieses Anderen versteht. In diesem Sinne erfasst er sich, wie Gerhardt sagt, »sub specie aliorum, also aus einer Position, die auch die (mir prinzipiell gleichen) Anderen einnehmen könnten«. 20 »Exzentrisch« hat Plessner so auch treffend jene Position genannt, in welcher der Mensch wie aus einem imaginären Außenraum heraus auf sich selbst bezogen ist. Als exzentrisches Wesen lebt der Mensch, so Plessner, »über seine Grenze hinaus, die ihn, das lebendige Ding, begrenzt. Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Leben. Ihm ist der Umschlag vom Sein innerhalb des eigenen Leibes zum Sein außerhalb des Leibes ein unaufhebbarer Doppelaspekt der Existenz, ein wirklicher Bruch der Natur. Er lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Körper und Seele, und als psycho-physisch neutrale Einheit dieser Sphären« (Stufen, 365). Die Wahrnehmung des eigenen Selbst und der Welt aus einer (zweifelsohne je individuell geprägten) DrittePerson-Perspektive eröffnen seinerseits dem Menschen die Welt als eine öffentlich zugängliche Sphäre der Objektivität, der Gründe und der Sachlichkeit. Die triadische Struktur des Selbstbewusstseins kann von hier aus als Grundlage der menschlichen Urteilskraft und damit der humanen Kultur als solcher betrachtet werden. Die Teilung stellt als Urteil aber nicht nur in theoretischer Hinsicht die Einheit des Einzelnen und des Allgemeinen im Begriff her, Gerhardt, Volker, Individualität. Das Element der Welt, München 2000, S. 139 f. Vg. hierzu Dieter Thomäs Artikel im vorliegenden Band. 20 Gerhardt, Volker: Selbstbestimmung, Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999, S. 205. 18 19
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sondern gibt – als Tätigkeit – zugleich die Form ab, in der sich das Subjekt im Medium des Sozialen im Handeln vollzieht. Als allgemeine Vollzugsform im Medium des Sozialen ist die Teilung nichts anderes als die soziale Rolle, durch die hindurch der Mensch in seiner Einzelheit am Allgemeinen partizipiert. Diese tritt damit an die Stelle dessen, was in der animalischen Sphäre die Arten und Unterarten sind. Der entscheidende Unterschied zwischen einem Leben in Arten und Gattungen und einem Leben in sozialen Rollen besteht jedoch darin, dass die soziale Rolle zwar an eine körperliche Existenz gebunden, aber zugleich vollkommen von ihr abstrahierbar ist. Ein Schauspieler braucht natürlich seinen tierischen Körper, um im Theater eine spezifische Rolle zur Darstellung bringen zu können. Aber verfügt er über einen Körper, dann kann er eine ganze Bandbreite von Rollen einnehmen. Das Tier hingegen ist allein durch seine physische Beschaffenheit auf genau ein bestimmtes Rollenverhalten sein ganzes Leben lang festgelegt. Dieses Rollenverhalten ist ihm nicht nur »wie auf den Leib geschnitten«, sondern von seiner leiblichen Existenz bzw. organischen Funktionsweise gar nicht abzulösen. In der Abstrahierbarkeit der sozialen Rolle vom biologischen Körper, wie sie gerade im Falle des Schauspielers anschaulich wird, erweist sich seinerseits auf deutlichste, dass der Mensch nicht nur im Körper – als Innenleben oder Seele – existiert, sondern zugleich auch als Körper existiert; so dass er – im Gegensatz zum Tier – auch in seinen Handlungsräumen über einen Standpunkt außerhalb seiner selbst verfügt. 21 Selbst noch in Bezug auf die Geschlechtlichkeit des Menschen wird man sagen müssen, dass hier das biologische Geschlecht allenfalls den Anknüpfungspunkt für eine schier unendliche Vielzahl von kulturellen Konstruktionen abgibt, die den einfachen Gegensatz des Männlichen und Weiblichen – wie er in der Natur vorliegt – unendlich transzendieren. Diese Transzendenz, in welcher der Mensch in seiner individuellen Existenz auftritt, verdankt sich von hier aus betrachtet letztendlich der Universalität des Menschen, die darin zum Ausdruck kommt, dass jeder Teil der Menschheit die Menschheit ganz verkörpert. Die Form der Universalität, welche der Mensch gerade in seiner Individualität verkörpert, stellt daher – mit Hegel gesprochen – eine absolute Universalität dar, während dem Tier, das in seiner Einzelheit das Leben der Art Vgl. hierzu: Plessner, Helmuth, Zur Anthropologie des Schauspielers, GS VII, S. 399–418.
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führt, in seiner Einzelheit als Für-sich-Seiendes nur eine relative Universalität zuzusprechen ist – das Allgemeine ist hier nur in der Gattung als ganzer wirklich. Unter dieser Perspektive ist es keinesfalls übertrieben, in der Liebe zwischen je zwei Individuen die höchste Exemplifikation der menschlichen Kultur zu sehen. 22 Denn die in der Liebe verwirklichte Form der Einheit und die darin realisierte Universalität ist eine solche, die ihren Sinn gerade aus der vollkommenen Individualisierung und damit aus dem ganzen Facettenreichtum bezieht, in dem der Mensch in seiner individuellen Existenz auftritt. Gerade in der Liebe und in der ihr manifest werdenden Totalität der Erfahrung wird so der hegelsche Gedanke sinnfällig, dass es der zugespitzte Gegensatz des Einzelnen und des Allgemeinen ist, aus dem zugleich die Verwirklichung eines in sich konkreten Allgemeinen resultiert, das in und durch den Mensch wirklich ist. Ist doch, so Hegel, die »höchste, zugeschärfteste Spitze« die »reine Persönlichkeit, die allein durch ihre absolute Dialektik, die ihre Natur ist, ebenso sehr alles in sich befasst …« (LII, 570). Der Preis, welchen der Mensch dafür zu bezahlen hat, dass er in seiner Einzelheit eine absolute Universalität verkörpert, die sich nicht mehr in Arten und Unterarten ausloten lässt, besteht jedoch darin, dass er nunmehr kein unmittelbares, naturgegebenes Sein mehr besitzt, sondern vielmehr sich stets erst zu dem zu machen hat, was er ist. Denn den Grund seines Daseins bildet die potenzierte Entgegensetzung, die dafür verantwortlich ist, dass er allein in und durch die Relation zu seinem Anderen hindurch in Relation zu sich selbst steht: eine Relation, in der einerseits das Allgemeine als Selbstbezüglichkeit bzw. Reflexivität seine Wirklichkeit hat, und die aber andererseits sein unmittelbares Dasein negiert, insofern er sich aus ihr heraus stets erst zurückzugewinnen hat. Plessner hat seinerseits in dem Tatbestand, dass der Mensch sich immer erst zu dem zu machen hat, was er ist, und den er als direkte Folge seiner »exzentrischen Positionalität« betrachtete, die Grundlage der humanen Kulturentwicklung gesehen. Aus ihm hat er seine bekannten drei Grundgesetze, die den Menschen als kulturelles Wesen begründen sollen, abgeleitet, nämlich erstens »das Gesetz der natürlichen Künstlichkeit«, zweitens das Gesetz der »vermittelten Unmittelbarkeit« und drittens »das Gesetz des utopischen Standorts«, die ihren 22
Vgl. Rohmer, Stascha, Liebe – Zukunft einer Emotion, Freiburg/München 2008. A
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Sinn allesamt aus der besonderen Distanz beziehen, in welcher der Mensch als Person zu sich selbst steht und in der sich allein seine Urteilskraft zu manifestieren vermag. Es ist hier nicht der Ort, um Plessners Konzeption eingehend zu diskutieren. Zumindest skizzenhaft sollte hier nur dargelegt werden, dass sich die Möglichkeitsbedingungen der kulturellen Entwicklung des Menschen als Resultat eines Teilungs- und Ausdifferenzierungsprozesses begreifen lassen, der erstens in der Natur vonstatten geht und der als solcher zweitens die gesamte lebendige Natur charakterisiert. Eine solche Konzeption legt es offenkundig nahe, die humane Kultur eher als Stufe einer sich unentwegt in Entwicklung befindlichen, schöpferischen Natur zu begreifen denn als deren Gegenteil. Inwieweit eine solche Konzeption als »naturalistisch« zu bezeichnen ist, hängt offenkundig dann davon ab, wie man den Begriff »Naturalismus« definiert. 23
Siglenverzeichnis Die Werke Georg Friedrich Wilhelm Hegels wurden nach der von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel editieren Ausgabe »Werke in zwanzig Bänden« im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1970, zitiert. Enz. I = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I Enz. II = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II Enz. III = Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III LI = Wissenschaft der Logik, Bd. 1 L II = Wissenschaft der Logik, Bd. 2. Helmuth Plessners Hauptwerk »Die Stufen des Organischen und der Mensch, Einleitung in die philosophische Anthropologie« wurde nach der von Günter Dux, Odo Marquard und Elisabeth Ströker editerten Ausgabe »Gesammelte Schriften« im Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 1981, zitiert.
Vg. hierzu die Diskussion v. Volker Gerhardt und Julian Nida-Rümelin im vorliegenden Band.
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Leben als Teilnehmen Überlegungen im Anschluss an Johann Gottfried Herder 1
1.
Stolpern auf dem Weg zur Selbstbestimmung
Ich bin am Leben. Dies ist – wenn nicht für andere, so doch für mich – eine gute Nachricht. Am Leben zu sein ist aber nicht immer erfreulich. Unter widrigsten Bedingungen kann das Weiterleben ein Albtraum sein, eine peinvolle Erfahrung, die scheinbar endlos andauert. Wenn alle Hoffnungen geschwunden sind, wenn der Schmerz unerträglich wird, wenn man in nichts mehr einen Sinn sieht – in all diesen Fällen kann es unerträglich sein, am Leben zu sein. Wem es nicht genügt, nur am Leben zu sein, hat es darauf abgesehen, sein Leben zu leben oder gar zu führen. Die Möglichkeit der Gestaltung vertreibt das Gefühl, bloß zu vegetieren. Die einflussreichste begriffliche Einfassung dieser Überbietung des Überlebens stützt sich auf die Dualität von Selbsterhaltung und Selbstbestimmung. Man sorgt – auf einer ersten Ebene – für Subsistenz und beansprucht – auf einer zweiten Ebene – einen Spielraum für eigene Entscheidungen. 2 Eine prägnante, gleichwohl wenig bekannte Formulierung dieses Doppelprojektes findet sich bei einer der Lichtgestalten der europäischen Aufklärung: bei Condorcet. Er schrieb im Jahre 1786: »Die generellen Quellen des Glücks, die dem Menschen in der Gesellschaft zur Verfügung stehen, lassen sich in zwei Klassen aufteilen. Die erste umfasst all das, was die freie Ausübung seiner natürlichen Rechte sicher stellt und ausdehnt. Die zweite umfasst die Mittel, die die Zahl der
Dieser Beitrag erschien erstmals in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 59, 2011, S. 5–32 und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Akademie Verlags. 2 Ich wiederhole (nur!) in diesen beiden ersten Absätzen eine Überlegung, die bereits zu finden ist in Dieter Thomä: Vom Glück in der Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003, S. 131. 1
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Übel mindert, denen die Menschheit durch die Natur unterworfen ist, die unsere ersten Bedürfnisse mit höherer Sicherheit und geringerem Aufwand befriedigt und die uns mit einer größeren Zahl von Genüssen versieht, welche durch den Einsatz unserer Kräfte und den rechten Gebrauch unseres Fleißes verfügbar werden.« 3 In wünschenswerter Klarheit wird hier eine ökonomisch-politische Doppelspitze geschildert, in der Selbsterhaltung und Selbstbestimmung zur Entfaltung kommen; sie hat in der Entwicklung der modernen Gesellschaft eine starke Wirkung entfaltet. Bekanntlich ist das Verhältnis zwischen Selbsterhaltung und Selbstbestimmung einerseits als Erfolgsgeschichte, andererseits als Krisenszenario ausgelegt worden. Die Erfolgsgeschichte basiert auf der Komplementarität zwischen ökonomischem und politischem Fortschritt. Man setzt auf Synergie, optimiert das Zusammenspiel zwischen freiem Markt und freier Rede und lässt die Entwicklung in der Figur des so genannten »citizen-consumer« gipfeln. Warnende Stimmen halten dagegen, dass mit der Orientierung an materiellen Gütern eine Korrumpierung der politischen Tugenden und der Orientierung am Gemeinwohl drohe. Sie beobachten einen Antagonismus zwischen Bedürfnisbefriedigung und aktiver Bürgerschaft oder aber zwischen sozialstaatlicher Konsumhaltung und liberaler Eigenverantwortung. Hier wie dort finden sich große Namen – auf der Seite der Synergie etwa Adam Smith oder Georg Simmel, auf der Seite des Antagonismus Alexis de Tocqueville oder Hannah Arendt. Tocqueville sieht etwa im »Trachten nach Wohlleben« eine Leidenschaft, die die »Mutter der Knechtschaft« genannt werden könne. 4 Statt diese Kontroverse, der ich in dem Buch Vom Glück in der Moderne nachgegangen bin, weiterzutreiben, möchte ich eine andere Richtung einschlagen und schildern, wie ich auf dem Weg von der Selbsterhaltung zur Selbstbestimmung ins Stolpern geraten und daraufhin auf neue Wege geraten bin. Um die Vorgeschichte dieses Stolperns und dieser neuen Suche kurz zu rekonstruieren, seien einige Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat de Condorcet: De l’Influence de la Révolution d’Amérique sur l’Europe [1786]. In: Œuvres (Hg. A. Condorcet O’Connor/M. F. Arago). Firmin Didot Frères, Paris 1847–49, Bd. 8, S. 1–113, hier S. 5. 4 Alexis de Tocqueville: Œuvres complètes II/1: L’Ancien Régime et la Révolution [1856]. Gallimard, Paris 1952, S. 175 (»cette espèce de passion du bien-être qui est comme la mère de la servitude«); ders.: Der alte Staat und die Revolution [1856]. Rowohlt, Reinbek 1969, S. 106. 3
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Schritte benannt, die auf dem genannten Weg unternommen worden sind. Sie führen auch zu einigen Stationen der modernen Philosophie. 1. Schritt. Die Selbsterhaltung mag als Ziel individuellen Handelns wegen ihrer Fixierung auf biologische Subsistenz nicht sehr erbaulich wirken. Doch auch sie steht bereits für einen Emanzipationsprozess, denn mit ihr macht das Individuum der Arterhaltung Konkurrenz. Es sucht den Konflikt mit Forderungen, wonach es zur Erfüllung höherer Pflichten gegenüber dem Kollektiv aufgerufen und ihm das Recht auf Selbsterhaltung abgesprochen wird. Erst wenn die Selbsterhaltung dem Gattungsinteresse den Rang abläuft, wird sie ihrerseits Gegenstand neuer Anfechtungen. 2. Schritt. In der Setzung eigener Ziele sowie in der Erwägung von Mitteln, die zu deren Erreichung dienen, bedient sich das Individuum seiner rationalen Fähigkeiten. Sofern diese Fähigkeiten in den Dienst der Selbsterhaltung gestellt werden, kommt der Vernunft eine instrumentelle Funktion zu. Sie spielt damit auch eine Rolle in jener Auseinandersetzung, in der die Interessen des Einen (an seiner Erhaltung) auf die Interessen des Anderen (an dessen Erhaltung) stoßen. (Das ist die Konzeption, die von Thomas Hobbes im Leviathan vertreten wird.) 3. Schritt. In der Fixierung auf das Ziel der Selbsterhaltung liegt eine Borniertheit, eine Beschränkung, mit der sich der Mensch nicht abfinden will. Es gehört zu seiner Selbstbestimmung, dass er sich auf Ziele jenseits der Selbsterhaltung beziehen kann. So kann gar in der Ausübung der Selbstbestimmung, im Ausleben der Freiheit selbst ein erstrebenswertes Ziel gesehen werden. (Das ist die Einsicht, die Rousseau im Contrat social formuliert.) 4. Schritt. Wenn die Fixierung auf Selbsterhaltung überschritten wird, stehen die Ziele individuellen Handelns neu zur Disposition und müssen auf ihre Berechtigung hin überprüft werden. Ihre Gültigkeit hängt davon ab, ob sie den Ansprüchen der Vernunft genügen. Diese fordert von Handlungszielen, dass sie sich aus Gesetzen ableiten lassen. Damit wird gebrochen mit der Perspektive auf den individuellen Nutzen, die in der Selbsterhaltung ihren Anhaltspunkt findet. Der Weg ist frei für die Rechtfertigung und Durchsetzung von Gesetzen, denen der Eine und der Andere folgen, weil sie in ihnen ihre vernünftige Einsicht und Setzung zum Ausdruck kommen sehen. (Das ist die Überzeugung, auf die sich Kants Moralphilosophie gründet.) 5. Schritt. Warum folgt hier noch ein fünfter Schritt, warum kann die Bewegung nicht in dieser auf Vernunft gegründeten SelbstbestimA
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mung gipfeln und darin sein Genügen haben? Ich möchte zunächst nur auf der Ebene der Beschreibung einen Einwand gegen die hier gezeichnete Dynamik anbringen. Dieser Einwand basiert auf der Beobachtung, dass in deren Verlauf eine Dimension einfach abgeschnitten wurde oder unter den Tisch gefallen ist: nämlich jene Dimension, die in der Ausgangskonstellation immer schon über den Selbstbezug hinausging, dort aber nur handfest unter Arterhaltung firmierte. Die Entwicklung, die ich nachvollzogen habe, stellt sich so dar, dass dieser Bezug auf andere zunächst gekappt und dann wieder eingeführt wurde; diese Einführung erfolgte über die Konstruktion von Handlungsregeln, die im Zuge ihrer Verallgemeinerung nicht nur für den einzelnen Menschen, sondern für alle gelten. Die Frage lautet nun: Warum soll man sich bei der Beschreibung des sozialen Lebens des Individuums mit einer solchen umwegigen Konstruktion begnügen? Wäre es nicht geboten, jene Ausgangskonstellation, in der der Bezug auf andere schon mitgedacht war, produktiv weiter zu entwickeln und abzuwandeln? (Das ist die Frage, die Herder stellt.) Wenn die Selbstbestimmung in der geschilderten Doppelspitze zusammen mit der Selbsterhaltung auftritt, befördert sie – kurz gesagt – einen anthropologischen Dualismus. Er stellt eine vom Geist diktierte Selbstbestimmung neben eine vom Körper diktierte Selbsterhaltung. Im Sinne der Einsicht in die »multiple modernities« 5 sollte man nun aber zur Kenntnis nehmen, dass innerhalb der modernen Gesellschaft divergierende Deutungen des menschlichen Lebens entwickelt worden sind. Im Sinne einer solchen Divergenz oder Dissidenz soll in den Blick kommen, was nicht zur Paarung von Selbsterhaltung und Selbstbestimmung passt. Zur Beruhigung sei gesagt: Weder habe ich vor, den Menschen das Überleben madig zu machen, noch plädiere ich für Fremdbestimmung. Wenn es trotzdem als Provokation empfunden werden sollte, die gut eingeübte Paarung von Selbsterhaltung und Selbstbestimmung in Frage zu stellen, so wäre mir dies freilich durchaus recht. In den folgenden Überlegungen soll der dieser Paarung zugrunde liegende Dualismus einer Kritik unterzogen werden und das soziale Miteinander der Menschen in den Blick rücken, welches bei der Selbsterhaltung allenfalls in instrumentellen Erwägungen, bei der
Vgl. z. B. S. N. Eisenstadt: Die Vielfalt der Moderne. Velbrück Wissenschaft, Weilerswist 2000.
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Selbstbestimmung allenfalls mit Blick auf den Gültigkeitsbereich von Gesetzen ins Spiel kommt.
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Herder jenseits von Isaiah Berlin und Charles Taylor
Mein Vorhaben findet in Herder seinen Helden, also jemanden, der für die gesuchte alternative Beschreibung des menschlichen Lebens und Zusammenlebens Vorgaben macht. Da Isaiah Berlin und Charles Taylor 6 Herder eine wichtige Stellung im Ideenstreit vor 1800 zuerkennen und der Herder-Forschung der jüngeren Zeit wichtige Impulse verliehen haben, möchte ich kurz auf deren Interpretation eingehen, bevor ich auf Herder selbst zu sprechen komme. Nach Berlin und Taylor nährt Herder Zweifel an der Selbstbestimmung des Individuums, indem er es als eingebunden und eingebettet in eine Kultur zeigt. Berlin macht die Position Herders bekanntlich an drei Punkten fest, an »populism«, »expressionism« und »pluralism«; 7 Taylor hält sich vor allem an den »expressionism«, der bei ihm um der Vermeidung falscher Assoziationen willen als »expressivism« firmiert. Dass Taylor mit Bezug auf Herder von einer »alternative[n] Anthropologie« 8 spricht, ist mir auch als Angabe meines Ziels willkommen. Doch weiche ich in meiner Herder-Interpretation von Berlin und Taylor ab. Der »Expressionismus« oder »Expressivismus« deutet nicht nur die Sprache, sondern überhaupt des menschliche Handeln als einen Vorgang, in dem etwas zum Ausdruck gebracht wird. Unglücklich ist dieser Begriff, weil er nahelegt, das Ausdrücken sei zurückgebunden auf etwas, das in irgendeiner Form bereits vorliegt. Dies macht es unnötig kompliziert, den sozialen und kommunikativen Dimensionen menschlichen Sprechens und Handelns gerecht zu werden. Ihnen mesIsaiah Berlins erste große Herder-Interpretation erschien 1965, Taylors Herder-Interpretation folgte dann im großen Einleitungskapitel zu seinem Hegel-Buch Mitte der 1970er Jahre sowie in späteren Schriften; vgl. jetzt Isaiah Berlin: Three Critics of the Enlightenment: Vico, Hamann, Herder. Princeton UP, Princeton 2000, S. 168–242, bes. S. 176 f.; Charles Taylor: Hegel [1975]. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1978, S. 27–49; ders.: Sources of the Self. Cambridge u. a. 1989, S. 368 ff.; ders.: Quellen des Selbst [1989]. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1994, S. 651 ff. 7 Berlin: Three Critics of Enlightenment, a. a. O., S. 176. 8 Taylor: Hegel, a. a. O., S. 28 f. 6
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sen zwar auch Taylor und Berlin hohe Bedeutung bei, doch sie werden im Sinne der Artikulation oder Expression insbesondere anhand der Einbettung der Individuen in eine gegebene Kultur oder Tradition verhandelt. So bindet Berlin 9 die »self-expression« oder »self-realisation« im Sinne des »populism« zurück auf die Zugehörigkeit (»belonging«) des Individuums zu einer Gruppe, die es zu artikulieren gilt. Mir scheint, dass damit der Sozialität des menschlichen Sprechens und Handelns, wie sie sich in der Verständigung und Koordination erst bildet, nur unzureichend Rechnung getragen wird. Neben diese traditionalistische Beschreibung von Gemeinschaft tritt in Taylors Interpretation die These, Herder orientiere sich an der »griechische[n] Polis« als »Paradigma«, in welcher die Bürger ihre Identität durch »Identifikation mit der Stadt« erlangen. 10 Hier verliert der Expressivismus seine Verankerung in etwas Gegebenem und befasst sich mit dem Akt der Stiftung oder Herstellung einer Ordnung. Doch auch dieses republikanische Bild von Gemeinschaft passt nicht recht zu dem Bild von Sozialität, das Herder entwirft. Taylor selbst erwähnt eher beiläufig, dass Herder in seinen Überlegungen zur Gemeinschaft die Überschneidung von »Selbstgefühl« und »Mitgefühl« anspreche. 11 »Selbstgefühl« und »Mitgefühl« stehen nun aber dem Republikanismus der griechischen Polis ganz fern – und zwar zum ersten deshalb, weil die Republik sich nicht auf ein »Gefühl« stützt, sondern auf die Einsicht in und die Verpflichtung auf tugendgeleitete Praxis, zum zweiten deshalb, weil hier das Verhältnis zwischen Individuen durch deren Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Sache definiert wird und nicht durch eine Beziehung von Person zu Person. Ich werde auf Selbstgefühl und Mitgefühl noch zurückkommen; festzuhalten ist aber, dass das traditionalistische wie auch das republikanische Bild der Gemeinschaft, das Berlin und Taylor entwerfen, als Charakterisierung der Position Herders zu Verzerrungen führt. Das Gegenbild zum Individualismus, das Berlin und Taylor bei Herder entdecken, bedarf, wie ich meine, der Revision. Eine solche ReBerlin: Three Critics of Enlightenment, a. a. O., S. 176, 189. Taylor: Hegel, a. a. O., S. 47. 11 Ebd. An dieser Stelle trennen sich verschiedene Konzepte von Sozialität: Das eine setzt auf das republikanisch-antike Paradigma (wie dies etwa auch Hannah Arendt tut), während das andere ohne starke Prämissen zur Autonomie der Bürger auskommt und eine ursprünglichere Dimension von Sozialität auftut. Rousseau ist für beide Versionen ein Pate, Herder nur für die zweite. 9
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vision ist umso dringlicher, als die von Berlin und Taylor gegebene Beschreibung zahlreiche oft drastische Urteile und Bewertungen der Philosophie Herders mit sich gebracht und nach sich gezogen hat. Zwar lässt Taylor keinen Zweifel daran, dass er Herders Expressivismus als Korrektiv gegen unzulängliche Konzepte von Individualität sowie überhaupt gegen die »malaise« der Moderne 12 zu schätzen weiß; zwar scheint auch Berlin im Lichte der Erfahrungen der Französischen Revolution mit Herders frühen Warnungen vor der Selbstüberschätzung der Vernunft zu sympathisieren. 13 Doch Taylor wie Berlin bieten Zündstoff, indem sie an Herder die Gegenüberstellung zwischen Selbstbestimmung und Einbettung des Individuums, zwischen dem Universalismus der Vernunft und dem Partikularismus von Kulturen festmachen. Hinter ihren Beurteilungen steht die Auseinandersetzung zwischen Kommunitarismus (Taylor) und Liberalismus (Berlin). An diese Beurteilungen knüpfen sich Antworten auf die Grundsatz- oder Gretchenfrage, wie Herder (oder man selbst) denn zur Aufklärung stehe. Während Taylor diese Grundsatzfrage zu unterlaufen versucht, indem er die Kritik an der Aufklärung als ein ihr immanentes Phänomen beschreibt, 14 lädt Berlin fast leichtfertig zu polemischen Schlussfolgerungen und Bewertungen ein. Bei ihm trifft man auf eine merkwürdige Kombination zwischen ideengeschichtlicher oder gar historistischer Offenheit einerseits, fundamentalistischer Rhetorik andererseits. Geredet wird vom »radikalen Konflikt« mit aufklärerischen Idealen (mit Blick auf Herder), sowie auch von einer »völlige[n] Umkehrung der Werte der Aufklärung« (mit Blick auf Hamann) oder von den »Feinden der Freiheit« (mit Blick auf Rousseau, Fichte, Hegel u. a.). 15 Bekanntlich hat Berlin selbst viele seiner Arbeiten als Beiträge zur Auseinandersetzung mit der sogenannten »Gegenaufklärung« deklariert. So sind seine Schriften geradezu eine Einladung zum Streit um die These, wonach Herder resp. einer der anderen üblichen VerTaylor: The Ethics of Authenticity. Harvard UP, Cambridge 1992 (in einer anderen Ausgabe trägt dieses Buch den Titel »The Malaise of Modernity«). 13 Berlin: Three Critics of the Enlightenment, a. a. O., S. 241 f. 14 Taylor: The Immanent Counter-Enlightenment. In: Ronald Beiner/Wayne Norman (Hg.): Canadian Political Philosophy. Contemporary Reflections., Oxford UP, Oxford 2001, S. 386–400. 15 Berlin: Three Critics of the Enlightenment, a. a. O., S. 17; ders.: Wider das Geläufige. Europäische Verlagsanstalt. Frankfurt a. M. 1981, S. 268; ders.: Freedom and Its Betrayal. Six Enemies of Human Liberty. Princeton UP, Princeton 2002. 12
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dächtigen als Feind der Aufklärung anzusehen sei und gar dem Totalitarismus des 20. Jahrhunderts den Weg bereitet habe. Ob Berlin selbst ebendiese These vertreten hat, ist ebenso kontrovers wie die Frage, ob sie überhaupt zutrifft. Es ist auffällig, dass sowohl Berlins Anhänger wie auch seine Kritiker weitgehend an einer schematischen Gegenüberstellung zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung festhalten. Innerhalb dieser Gegenüberstellung werden dann aber die verschiedensten Positionen bezogen. So gibt es eine große Gruppe von Interpreten, die sich direkt auf Berlin berufen und ihm Recht geben. Unglücklicherweise aber sind die Positionen, die ihm dabei zugeschrieben werden, keineswegs immer die gleichen. Es werden die verschiedensten Varianten durchgespielt. Gemäß einer beliebten Variante wird Herder – mit Berlin – der Gegenaufklärung zugeschlagen; darüber hinaus versucht man eine Genealogie zu rekonstruieren, die von Herder zum Faschismus führt, 16 und setzt dagegen – gleichfalls mit Berlin – eine positive Genealogie, die die Aufklärung mit dem Siegeszug des Liberalismus verbindet. Andere meinen dagegen bei Berlin eine versteckte Neigung für gegenaufklärerischen Tendenzen zu erkennen, die sie durchaus zu schätzen wissen; sie berufen sich entsprechend – mit Berlin – auf ein Gegenmodell zur Aufklärung, das sich auf Herder stützt und ein akutes Unbehagen am Liberalismus artikuliert. 17 Wieder andere verorten Berlins offene oder heimliche Sympathien gleichfalls auf der Seite der Gegenaufklärer; sie folgen ihm in dieser Hinsicht, entwickeln daraus aber kein Gegenprogramm zum Liberalismus, sondern meinen, man könne gerade den Liberalismus – mit Berlin – von der Gegenaufklärung her neu denken. 18 Dass Berlin die Wurzeln des Faschismus in den Ideologien der Gegenaufklärung freilegen wollte, meint Richard Wolin: The Seduction of Unreason. The Intellectual Romance with Fascism from Nietzsche to Postmodernism. Princeton UP, Princeton 2004, S. 2. Vgl. aber Berlin: Three Critics of Enlightenment, a. a. O., S. 209: »It is a historical and moral error to identify the ideology of one period with its consequences at some other, or with its transformation in another context and in combination with other factors.« 17 Dass Berlin ungeachtet seiner Bevorzugung liberaler, negativer Freiheit letztlich einer Infragestellung der Aufklärung und des Liberalismus den Weg bereitet habe, ist die These von John Gray: Post-Liberalism. Routledge, New York/London 1993, S. 64 f. 18 Anders als Gray verbindet Garrard die These, dass Berlin eher auf der Seite der Gegenaufklärung stehe, mit der weiter gehenden These, dass sich daraus eine besondere Version des Liberalismus ableiten lasse; vgl. Graeme Garrard: The Counter-Enlighten16
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In all diesen Lesarten beruft man sich jeweils auf ein Herder-Bild, das Berlin entwirft (oder angeblich entworfen hat). Die Verwirrung ist beträchtlich; hier ist freilich nicht der Ort, sie zu beseitigen. Dass es zu solcher Verwirrung kommt, ist jedenfalls auch Berlins Texten geschuldet, die mit der erwähnten Doppelung aus historischer Einfühlung und Einbettung einerseits, drastischem Vokabular andererseits eine systematische Klärung und Einordnung eher erschweren. Nun gibt es aber neben der Versuchung, sich für verschiedene Positionen auf Berlin zu berufen, auch die Strategie, sich von ihm abzugrenzen. So wendet man sich etwa gegen die Berlin zugeschriebene These, Herder sei der Urheber von Ideen, die von späteren Generationen illiberaler, irrationaler und letztlich totalitärer Denker übernommen worden seien, man spricht Herder – gegen Berlin – von dem Verdacht der Gegenaufklärung frei und erklärt ihn zum »fairly typical defender« und »straightforward proponent of the Enlightenment«. 19 Der Erklärungswert all dieser Lesarten wird dadurch geschmälert, dass Herder dabei jeweils in Schubladen geworfen wird, die nur unzulänglich mit Schlagworten definiert sind. Zuvörderst firmiert hier – wie erwähnt – das Paar Aufklärung-Gegenaufklärung. Über das Denken in Schubladen führt immerhin ein Ansatz hinaus, der zwar an der Rede von Aufklärung und Gegenaufklärung festhält, darin aber nicht eine Alternative sieht, bei der man sich entweder für die eine oder für ment Liberalism of Isaiah Berlin. In: Journal of Political Ideologies 2, 1997, S. 281–296; vgl. zum »essentially liberal spirit« des »Counter-Enlightenment« auch Frederic Beiser: Berlin and the German Counter-Enlightenment. In: Joseph Mali/Robert Wokler (Hg.): Isaiah Berlin’s Counter-Enlightenment. American Philosophical Society, Philadelphia 2003, S. 105–116, hier S. 108. – Norton zitiert aus Beisers Beitrag nur den Hinweis, dass Herder und andere »sharp criitics of the claims of reason made by the Aufklärung« waren, ohne Beisers weitergehende These zu erwähnen, dass »they also made these criticisms to defend liberal values«; vgl. Robert E. Norton: The Myth of the CounterEnlightenment. In: Journal of the History of Ideas 68, 2007, S. 635–658, hier S. 651; Beiser: Berlin and the German Counter-Enlightenment, a. a. O., S. 106. 19 Norton: The Myth of the Counter-Enlightenment, a. a. O., S. 657, vgl. S. 644 für die Kritik an Berlin. Lestition weist dagegen darauf hin, dass Berlin sich zur sogenannten Gegenaufklärung keineswegs nur ablehnend verhielt; vgl. Steven Lestition: Countering, Transposing, or Negating the Enlightenment? A Response to Robert Norton. In: Journal of the History of Ideas 68, 2007, S. 659–681, hier S. 662: »Berlin was drawn to the whole phenomenon of what he termed the Counter-Enlightenment by a profound sense of a need to learn the weaknesses of the very liberal agenda he otherwise fully embraced«. Dazu auch die Replik von Robert E. Norton: Isaiah Berlin’s »Expressionism,« or: »Ha! Du bist das Blökende!«. In: Journal of the History of Ideas 69, 2008, S. 339–347. A
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die andere Seite entscheiden müsse. Gegen dieses Entweder-Oder steht eine Lesart von Gegenaufklärung, wonach diese als integraler Bestandteil der Aufklärung im weiteren Sinne aufzufassen sei. Leitend ist dabei die Annahme, dass etwas, das gegen die Aufklärung gerichtet ist, auf sie angewiesen und von ihr gedanklich abhängig bleibt. Damit kompliziert sich das Bild, denn es ist zu klären, was mit Aufklärung genau gemeint ist und in welcher Hinsicht etwa Abhängigkeiten bestehen. Auch in dieser integrativen Interpretation 20 findet allerdings das dualistische Schema Anwendung, wonach zwischen der Hochschätzung des Individuums und dem Primat kollektiver Identität zu unterscheiden sei. Dieser Dualismus steht hinter Charles Taylors sowie auch hinter Isaiah Berlins Herder-Interpretation. Dass Berlin Herder die These von der vorgängigen Eingebundenheit des Individuums zuschreibt, wird – wie bereits angedeutet – an den drei Grundzügen deutlich, die er besonders heraushebt: Die Rückbindung der Individuen auf ein Volk (»populism«) geht einher mit dem Befund einer irreduziblen Vielfalt von Kulturen (»pluralism«) und dient den Individuen bei ihrem Vorhaben, ihr inneres Wesen zum Ausdruck zu bringen, als Vorgabe (»expressionism«). Die drei Grundzüge, die Berlin der Philosophie Herders zuschreibt, werden – wie angedeutet – von Taylor teilweise übernommen und im Sinne einer hermeneutischen Entfaltung des »expressivism« weiter entwickelt. In meinem Beitrag verfolge ich die Absicht, den erwähnten Dualismus zwischen individueller Freisetzung und Selbstbestimmung einerseits, kollektiver Einbettung und Ausrichtung andererseits zu überwinden. Allgemeiner gesagt: Es geht darum, die Möglichkeiten auszuloten, die sich der Sozialphilosophie jenseits der Alternative von Liberalismus und Kommunitarismus eröffnen – jener Alternative, die auch hinter der auf Berlin und Taylor zurückgehenden Herder-Kritik und –Verteidigung steht. Um einen ersten Hinweis zu geben, in welche Richtung sich meine Überlegungen entwickeln werden: Ich werde, wie angekündigt, vom Verhältnis zwischen Selbsterhaltung und Selbstbestimmung ausgehen, dabei aber auf das Zusammenspiel von Selbstgefühl und Mitgefühl stoßen, das bei Taylor – wie bereits angesproVgl. z. B. Lestition: Countering, Transposing, or Negating the Enlightenment?, S. 662, 665. Zum gleichwohl beibehaltenen Dualismus zwischen »the primacy of collective, and especially national, identities« und »individual will and reason« vgl. aber a. a. O., S. 674.
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chen – nur beiläufig Erwähnung findet. Dieses Zusammenspiel wird ins Zentrum der folgenden Überlegungen rücken.
3.
Herder über Teilnehmung und Mitteilung
Mein Ausgangspunkt ist ein unscheinbarer Satz aus Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Er lautet: »Alle Triebe eines lebendigen Wesens lassen sich auf die Erhaltung sein[er] selbst und auf eine Teilnehmung oder Mitteilung an andre zurückführen«. 21 Herder präsentiert diese Aussage ganz ohne Erläuterung und Begründung, auch ohne Anrufung früherer Autoritäten, so als wäre, was hier gesagt wird, das Selbstverständlichste von der Welt. Das ist es aber nun gerade nicht. Immerhin tritt hier die Selbsterhaltung nicht mit dem Pendant auf, durch das sie typischerweise ergänzt und überboten wird, nicht also mit der Selbstbestimmung. Stattdessen trifft man auf ein weniger ansehnliches und anziehendes Begriffspaar, nämlich auf »Teilnehmung« und »Mitteilung«. Erschwerend kommt hinzu, dass Herder gar nicht vom Menschen, sondern vom Lebewesen im Allgemeinen spricht. Jeder, der sich – wie zum Beispiel Immanuel Kant – für die Emanzipation auf Selbstbestimmung verlässt, muss darin eine Erniedrigung sehen. Gerade weil Herders eigentümliche Formel eine solche Spitze enthält, finde ich sie vielversprechend. Was ich von Herder gerade zitiert habe, ist – ich habe es erwähnt – auf Lebewesen im Allgemeinen gemünzt. Die Menschen werden in die organische Welt eingereiht. Sie tun sich allerdings dadurch hervor, dass sie den Trieben oder »Neigungen«, wie Herder sagt, die »erlesenste Ordnung« geben. 22 Hinter diesem Superlativ steckt ein Protest: nämlich ein Protest dagegen, zwischen Mensch und Tier einen scharfen Schnitt zu ziehen. Dieser scharfe Schnitt wird üblicherweise dadurch gerechtfertigt, dass man für den Menschen – wie ich das nennen möchte – eine Sandwich-Bauweise vorsieht, ihn also zusammengesetzt sein lässt aus einem tierischen und einem vernünftigen Teil, welche von-
Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1784–1791]. Werke in zehn Bänden, Bd. 6 (Hg. M. Bollacher). Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 1989, S. 154 (Buch I 4, VI). Hervorhebungen hier und im Folgenden sind, soweit nicht anders vermerkt, immer original. 22 Ebd. 21
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einander geschieden sind. Dieser Dualismus hat seine prominenteste Form in der von Herder heftig kritisierten Figur des animal rationale gefunden: »Man hat sich die Vernunft des Menschen als eine neue, ganz abgetrennte Kraft in die Seele hinein gedacht, die dem Menschen als eine Zugabe vor allen Tieren zu eigen geworden, und die also auch, wie die vierte Stufe einer Leiter nach den drei untersten, allein betrachtet werden müsse; und das ist freilich, es mögen es so große Philosophen sagen, als da wollen, philosophischer Unsinn.«23 Ein Beispiel für diesen Dualismus gibt etwa Schiller in seinen Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«. Er präsentiert die Geschichte der Menschheit als einen Prozess des Erwachens. Demnach »kommt« der Mensch »zu sich aus seinem sinnlichen Schlummer, erkennt sich als Mensch, blickt um sich her«, um sich zunächst mal in einem Staat des Zwanges wiederzufinden, in dem ihm die »Freiheit«, seinen Stand zu »wählen«, verwehrt bleibt. 24 In einem nächsten Vgl. Herder: Abhandlung über den Ursprung der Sprache [1772]. In: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 1 (Hg. U. Gaier). Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 1985, S. 695–810, hier S. 717 f.; vgl. Taylor: Hegel, a. a. O., S. 39. Zu Herders Dualismus-Kritik vgl. auch Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie. Suhrkamp, Frankfurt a. M., 2008, S. 64 f.: »Herders Überlegungen […] [erlauben] die Differenz von Mensch und Subjekt ohne Dualismus zu denken […]. Der neuzeitliche Dualismus zwischen Natur und Geist nötigt dazu, alles das am Menschen, das nicht Subjekt ist, als Natur zu konzeptualisieren […]. Die Natur des Menschen ist vielmehr menschliche Natur: Natur im ästhetischen Sinn; Kräfte, deren Wirken im Spiel ihres Ausdrucks besteht.« – Der Antidualismus hat im 19. und 20. Jahrhundert nach und nach zahlreiche Fürsprecher gefunden (vgl. Thomä: Vom Glück in der Moderne, a. a. O., S. 205 ff.). So hat etwa John Dewey den Dualismus als Lehre von »zwei Welten« entschieden in seine Grenzen gewiesen; vgl. Dewey: German Philosophy and Politics. Henry Holt, New York 1915, S. 3 ff. Deweys Zeitgenosse Max Eastman hat dessen Kritik aufgegriffen und eine interessante Parallele zwischen Dewey und Ernst Troeltsch gezogen (eine Parallele, die freilich auf der Beschreibungs-, nicht auf der Beurteilungsebene liegt); vgl. Eastman: Understanding Germany. Mitchell Kennerley, New York 1916, S. 49 f. mit Zitaten aus John Dewey: German Philosophy and Politics, a. a. O., S. 27 f. u. Ernst Troeltsch: Deutscher Geist und Westeuropa. Mohr (Siebeck), Tübingen 1925, S. 70. Hier wie dort wird der Dualismus von »technical efficiency« und »self-conscious idealism« (Dewey) resp. »Mechanismus« und »Freiheit« (Troeltsch) herausgegriffen. Gerade von Troeltsch führt ein kurzer Weg zurück zu Herder; man denke nur an dessen Überlegungen zum Kulturbegriff. Vgl. zu Troeltsch im weiteren Sinn auch Hans Joas: Eine deutsche Idee von der Freiheit? Cassirer und Troeltsch zwischen Deutschland und dem Westen. In: Rainer Forst u. a. (Hg.): Sozialphilosophie und Kritik. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, S. 288– 316. 24 Wenn der Sprung in die Freiheit unausführbar bleibt, dann stellt sich freilich weiterhin die Frage, woran man sich zur Überbietung des Überlebens halten könnte. Es ist 23
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Schritt beginnt der Mensch den Kampf gegen die »Herrschaft einer blinden Notwendigkeit«: »Wie kunstreich und fest auch die blinde Willkür ihr Werk gegründet haben […] mag – […] das Werk blinder Kräfte besitzt keine Autorität, vor welcher die Freiheit sich zu beugen brauchte, und alles muß sich dem höchsten Endzwecke fügen, den die Vernunft in seiner Persönlichkeit aufstellt.« 25 Der Statthalter der Selbstbestimmung ist bei Schiller die mehrfach beschworene »Freiheit«, der Statthalter der Selbsterhaltung die Herrschaft der »Not« und der »Bedürfnisse«. Man hat Schiller zugute gehalten, dass er um eine ästhetische Synthese ringt. Doch gerade indem er sich an der Überwindung des Dualismus abarbeitet, setzt er als gegeben voraus, dass es eine Spaltung zwischen dem tierischen Kampf ums Überleben und dem Reich der Freiheit gebe. Gegen einen dualistischen »Unsinn« solcher Art – dies ist das von Herder gebrauchte Wort – lassen sich vier Einwände geltend machen. 1. Er basiert auf Prämissen, deren Begründung ins Leere führt. Herder spricht in diesem Zusammenhang von »metaphysische[n] Abstraktionen«. 26 Es fragt sich, ob das Reich der Freiheit, in dem sich die Selbstbestimmung entfalten soll, eine Chimäre darstellt. Wenn dies der Fall wäre, dann hätte dies nicht zur Folge, dass die Freiheit abzudanken hätte; sie wäre nur bei diesem Konzept der Selbstbestimmung an der falschen Adresse. Dem freiheitsdurstigen Menschen wäre mit einem solchen Konzept nicht gedient, es verlöre seine Anziehungskraft. 2. Der dualistische »Unsinn« – um dieses Wort nochmals aufzugreifen – etabliert, was die Theorie der Person betrifft, eine innere Hierarchie, ein Herrschaftsverhältnis zwischen höheren Anlagen und niederen Trieben, womit es von vornherein unmöglich oder mindesdiese Frage, die sich Herder stellt, der – der Sache nach gegen Schiller – davon ausgeht, dass »Millionen des Erdballs […] ohne Staaten« leben – seien es nun Staaten der Not oder der Vernunft, und der »eben da anfangen« will, »wo es der Wilde anfängt«, der »Gesundheit und Seelenkräfte, das Glück seines Hauses und Herzens, nicht vom Staat sondern von sich selbst erringe und erhalte«. Herder: Ideen, a. a. O., S. 334 (Buch II 8, V); zur Staatenlosigkeit bei Herder vgl. auch Isaiah Berlin: Three Critics of Enlightenment, a. a. O., S. 182. 25 Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [1795]. In: ders.: Sämtliche Werke (Hg. G. Fricke/H. G. Göpfert), Fünfter Band. Hanser, München 1993, S. 570–669, hier S. 574. 26 Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 718. A
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tens schwierig wird, die doch leicht zugängliche Erfahrung des Einsseins mit sich, der inneren Ausgeglichenheit, des inneren Friedens systematisch zu berücksichtigen. Der vorkritische Kant spricht von der Notwendigkeit, »Meister von uns selbst« zu sein, 27 von der »Oberherrschaft über uns selbst« und der »souveräne[n] Gewalt über uns«: »Befleißigt sich nicht der Mensch auf diese Autokratie, so ist er ein Spiel von anderen Kräften und Eindrücken, wider seine Willkür.« 28 Herder legt uns dagegen nahe, dass »diese« verschiedenen »Leben«, aus denen sich der Mensch angeblich zusammensetzt, »auf so wunderbare Art ein Eins in uns« sein können. 29 3. Der anthropologische Dualismus setzt sich in einer Theorie der Sozialität fort, in der eine abstrakte Gegenüberstellung zwischen der Herrschaft des Gesetzes und einem zu kontrollierenden Körper eingeführt wird; auf dieser Basis ist ein Endstadium der Geschichte, eine vollkommen geregelte gesellschaftliche Ordnung denkbar. Das Spiel sozialer Beziehungen ist damit jedoch nicht angemessen erfasst. Gegen Kants Diktum, der Mensch sei ein »Tier, das einen Herrn nötig hat«, bemerkt Herder: »Kehre den Satz um: […] sobald er Mensch wird, hat er keines eigentlichen Herren mehr nötig.« 30 4. Was die geschichtliche Entwicklung der Person und deren Erziehung betrifft, so ist bei Kant ein Zweischritt vorgesehen, wonach der biologischen Geburt eine »Wiedergeburt« folgen soll, in der der Charakter des Menschen als Träger der Freiheit das Licht der Welt erblickt; der »Zeitpunkt« dieser »Umwandlung« soll, wie Kant sagt, eine »neue Epoche« einläuten. Kant muss Wert darauf legen, dass diese Entwicklung »nicht nach und nach«, sondern »gleichsam durch eine ExplosiImmanuel Kant: Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVII. De Gruyter, Berlin 1974, S. 204; vgl. Bert Kasties: J. M. R. Lenz unter dem Eionfluß des frühkritischen Kant. Ein Beitrag zur Neubestimmung des Sturm und Drang. De Gruyter, Berlin/New York 2003, S. 108. 28 Kant: Eine Vorlesung über Ethik (Hg. G. Gerhardt). Fischer, Frankfurt a. M. 1990, S. 152 f. 29 Herder: Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele [1778]. In: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 4 (Hg. J. Brummack und M. Bollacher). Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 1994, S. 329–393, hier S. 352. 30 Herder: Ideen, a. a. O., S. 369 (II 9, IV); vgl. Berlin: Three Critics of Enlightenment, a. a. O., S. 187. In seiner Herder-Rezension protestiert Kant gegen ebendiesen Einwand; vgl. Immanuel Kant: Zu Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit [1785]. In: ders.: Werke in zehn Bänden (Hg. W. Weischedel). WBG, Darmstadt 1983, Bd. 10, S. 779–806, hier S. 804 (A 155). 27
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on« erfolgt. 31 Diese terroristische Kopfgeburt lässt sich anthropologisch und biographisch nicht plausibel machen. Entsprechend geht der Siegeszug der Selbstbestimmung, jedenfalls wenn man sie so versteht, in die Irre. »Was ich bin, bin ich geworden«, sagt Herder – und polemisiert gegen jene »Weisen«, denen die leibliche »Geburt« ganz »unanständig« ist und von denen es heißt: »sie denken rein und erkennen ätherisch«. 32 Mit dem Sandwich-Modell des animal rationale liefert man, wie man es auch dreht und wendet, eine schlechte Beschreibung des menschlichen Lebens. Wenn die Unterscheidung vom Tier nicht durch einen rasiermesserscharfen Schnitt, nicht durch die Einführung einer ganz anderen Welt der Vernunft und des Geistes dekretiert wird, bricht der Unterschied zwischen Mensch und Tier damit doch nicht in sich zusammen. Auch Herder kann sagen: »[M]it dem Menschen ändert sich die Szene ganz.« 33 Aber wie ändert sie sich? Wenn für die Explosion der Selbstbestimmung der Zünder fehlt, dann rutscht die Last der menschlichen Selbstverständigung auf die Schultern derer, die ein antidualistisches Bild menschlichen Lebens zeichnen wollen. Herder bricht mit der Behauptung, als Vernunftwesen sei man über alle passive Affizierung erhaben, und erinnert daran, dass der Ausdruck Vernunft auf das Vernehmen zurückgeht, also den Bezug auf »Vernommenes« enthält. 34 Zu seiner Abwehr des animal rationale gehört auch der Versuch, das zoon logon echon anders zu übersetzen, nämlich als »das redende Tier«. 35 Ein reiner Antidualismus wird auch in der Wendung Herders, die ich an den Beginn dieses Abschnittes gestellt habe, nicht dekretiert. Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht [1798]. In: ders.: Werke in zehn Bänden, a. a. O., Bd. 10, S. 395–690, hier S. 637 (A 271). Hannah Arendt ist bedauerlicherweise eine Anhängerin dieser Phantasmagorie der Geburt als Anhaltspunkt menschlicher Freiheit; vgl. zur Kritik Dieter Thomä: Verlorene Passion, wiedergefundene Passion. Arendts Anthropologie und Adornos Theorie des Subjekts. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55, 2007, S. 627–647, hier S. 632–635. 32 Herder: Erkennen und Empfinden, a. a. O., S. 359. Dahinter steckt die Gegenüberstellung von Prometheus und Epimetheus, die sich bei Herder in charakteristisch anderer Weise findet als beim jungen Goethe. Herder setzt Prometheus als Repräsentant eines Kampfes gegen die göttliche Allmacht gegen jene, die meinen, kampflos mit der Vernunft eine Neugeburt inszenieren und den Sieg davontragen zu können; vgl. ebd. 33 Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 714. 34 Herder: Ideen, a. a. O., S. 144 (Buch I 4, IV). 35 Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 733. 31
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Immerhin ist dort von Selbsterhaltung einerseits, »Mitteilung« und »Teilnehmung« andererseits die Rede. Offensichtlich werden die Worte »Teilnehmung« und »Mitteilung« verwendet, um neben der Selbsterhaltung eine zweite grundlegende Eigenschaft der Lebewesen im Allgemeinen und der Menschen im Besonderen herauszustellen. Diese zwei etwas ominösen Begriffe scheinen auf Sprachfähigkeit zu verweisen, womit weiterhin eine Doppelung von Körper und Geist impliziert zu sein scheint. Doch mit dieser Vermutung ist der Sinn dieser zwei Begriffe nicht angemessen erfasst. Merkwürdig ist zum Beispiel, dass allen Lebewesen die genannten Eigenschaften zugeschrieben werden. Wenn das so ist, kann Mitteilung nicht geradewegs für Sprache stehen. Herder präsentiert seine These – wie erwähnt –, als verkünde er eine Selbstverständlichkeit, obwohl sie doch nach Erläuterung schreit – sowohl, was die Zurückhaltung gegenüber der Selbstbestimmung betrifft, wie auch, was die genaue Bedeutung von Mitteilung und Teilnehmung betrifft. Man muss sich, um diese Mauer der Selbstverständlichkeit zu durchbrechen, nach Herders Vorbildern umsehen. In der Tat gibt es einen geradezu auf Herder zugeschnittenen Vorgänger: Edmund Burke. In dessen Schrift über das Schöne und Erhabene, von der nicht nur Herder beeindruckt war, trifft man auf eine Stelle, in der Burke neben die Leidenschaften, die zur »self-preservation« gehören, jene stellt, die sich auf die »society« beziehen. Sie gehören, wie Christian Garve 36 übersetzt, »zur Geselligkeit« oder haben, wie Mendelssohn paraphrasiert, mit dem »gesellschaftliche[n] Leben« zu tun. 37 Herders Doppelung von Selbsterhaltung einerseits, Teilnehmung und Mitteilung andererseits geht demnach auf die von ihm selbst an anderer Stelle angeführte Burkesche »Paarung« zwischen den »Trieben des Selbstgefühls« und den »gesellschaftlichen Neigungen« zurück. 38 Edmund Burke: A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful [1757]. In: ders.: The Writings and Speeches, Vol. I: The Early Writings (Hg. T. O. McLoughlin/James T. Boulton). Clarendon, Oxford 1997, S. 185–320, hier S. 216 (Bk. I, Sec. VI); ders.: Philosophische Untersuchungen über den Ursprung unsrer Begriffe vom Erhabenen und Schönen. Translated by Christian Garve. Thoemmes Press, Bristol 2001, S. 53. 37 Moses Mendelssohn: E. Burke, Enquiry into the Origin of the Sublime and Beautiful. In: ders.: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe, Bd. 4. Frommann (Holzboog), Stuttgart-Bad Cannstadt 1977, S. 216–236, hier S. 218. 38 Herder: Kritische Wälder oder Betrachtungen über die Wissenschaft und Kunst des Schönen. Viertes Wäldchen über Riedels Theorie der schönen Künste [1769]. In: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 2 (Hg. G. E. Grimm). Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt 36
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Wenn man die Paarung so fasst, dann gelangt man auf vertrautes Gelände: Diese Unterscheidung trifft man in der Philosophie des 18. Jahrhunderts – und nicht nur dort – vielfach an. 39 Wenn man sich nun anschaut, was hinter diesen »gesellschaftlichen Neigungen« steckt, wird auch verständlich, warum sie nicht den Menschen vorbehalten bleiben, sondern für alle Lebewesen geltend gemacht werden. Burke und auch Herder erläutern die »Mitteilung« mit Verweis auf einen Trieb, der unter den Neigungen, die »sich auf andre beziehen«, heraussticht: den »Geschlechtstrieb«. 40 Hinter dem Doppel von Selbsterhaltung und Mitteilung steht, wie man nun ein wenig ernüchtert feststellen muss, das Doppel von Selbsterhaltung und Arterhaltung. Man sieht sich also zurückverwiesen auf den Ausgangspunkt der systematischen Entwicklung, die ich eingangs (s. Abschnitt 1) anhand von fünf Schritten skizziert habe. Mitgeteilt, d. h. dem anderen weitergegeben werden Körpersäfte – so wie auch die Physik des 18. Jahrhunderts davon sprach, dass eine Kugel ihre Energie einer anderen Kugel »mitteilt«, wenn sie sie anstößt. 41 Demnach täuscht der erste Anschein, dass man mit dem Doppel Mitteilung und Teilnehmung schon von vornherein im Reich der Sprache angelangt sei. Und doch bleibt man nicht einfach bei Biologie oder Mechanik stehen. Vielmehr kommt dieses Begriffsdoppel als fundamentales sozialphilosophisches Modell zum Einsatz, mit dem eine naturwissenschaftliche Betrachtung transzendiert und am Ende durcha. M. 1993, S. 247–442, hier S. 349, vgl. die Kommentierung a. a. O., S. 1047. – Herder hat Burke offenbar im Original gelesen, er verweist aber auch auf »Moses« und »Leßing«; vgl. a. a. O., S. 349. 39 Vgl. der pauschale Hinweis von Stephen K. White: Edmund Burke: Modernity, Politics, and Aesthetics. Rowman & Littlefield, Lanham u. a. 2002, S. 28. So setzt sich etwa Hutcheson mit der »Division of our Desires« in »Selfish« und »Publick or Benevolent Desires« auseinander; vgl. Francis Hutcheson: An essay on the nature and conduct of the passions and affections, with illustrations on the moral sense [1728]. Liberty Fund, Indianapolis 2002, S. 22. 40 Herder: Ideen, a. a. O., S. 155 (Buch I 4, VI). 41 Zur Rede von Mitteilung in der Mechanik vgl. auch Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft [1786]. In: ders.: Werke in zehn Bänden, a. a. O., Bd. 8, S. 9–135, hier S. 114 (A127); vgl. zur Parallele zwischen »la puissance de communiquer le mouvement par impulsion« und »la puissance de produire du mouvement par la pensée« sowie zur »communication du mouvement, par où un corps perd autant de mouvement qu’un autre en reçoit« vgl. schon Gottfried Wilhelm Leibniz: Nouveaux Essais sur l’Entendement [1704]. In: ders.: Die philosophischen Schriften. Olms, Hildesheim/New York 1978, Bd. 5, S. 208 (II. 23). A
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aus auch ein neuer Zugang zur Sprache eröffnet wird. Dieses sozialphilosophische Modell sei jetzt genauer nachgezeichnet. Schon Edmund Burke weist darauf hin, dass sich die aufs andere Geschlecht gerichtete »passion of generation« mit »social qualities« verbinde. 42 Geschlechtsbeziehung und Fortpflanzung sind demnach nur ein Aspekt im Panorama sozialer Leidenschaften. Entsprechend tritt zur Leidenschaft im Kleinen (oder, wenn ich so sagen darf, zur Leidenschaft in der Horizontalen) die Leidenschaft für die »great society«, die Gesellschaft im Großen; Burke sieht in diesen verschiedenen Bereichen Formen der »Liebe« am Werk. 43 Anders als etwa Adam Ferguson, der die sozialen Anlagen des Menschen von der Selbsterhaltung und der Fortpflanzung der Gattung unterscheidet,44 entdeckt Burke auch schon in der Geschlechtlichkeit eine soziale Dimension jenseits der Biologie. Die Neigung zum anderen Geschlecht folgt nämlich beim Menschen keinem biologischen Kalender, sondern den Attraktionen der Schönheit, welche von Burke als »soziale Qualität« charakterisiert wird; ohne scharfe Grenze wird von dieser Schönheit als sozialem Phänomen übergeleitet zu »good company, lively conversation, and the endearments of friendship«. 45 David Hume spricht in verwandtem Zusammenhang von der »communication« der »sentiments« und meint, Burke vorbereitend, dass die »Liebe zwischen den Geschlechtern« auch »jede andere Triebfeder der Zuneigung« belebe. 46 Verschiedene Vorlagen, zumal diejenigen aus dem englischen Sprachraum, sind Herder geläufig. 47 So kommt auch in seinen ErläuBurke: Enquiry, a. a. O., S. 219 (Bk. I, Sec. X). A. a. O., S. 226 (Bk. I, Sec. XVIII): »The passion belonging to this [the society of sex; D. Th.] is called love. […] The passion subservient to this [the great society; D. Th.] is called likewise love«. 44 Adam Ferguson: Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft [1767]. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1988, S. 109: »Der Mensch […] hat eine Reihe von Anlagen, die auf seine Erhaltung als Lebewesen und auf die Fortpflanzung seiner Gattung hinzielen. Andere Anlagen leiten ihn zur Gesellschaft an.« Vgl. auch Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus [1981]. dtv, München 1986, S. 464. 45 Burke: Enquiry, a. a. O., S. 219 f. (Bk. I, Sec. X/XI). 46 David Hume: A Treatise of Human Nature [1739/40] (Hg. I. A. Selby-Bigge/P. H. Nidditch). Clarendon, Oxford 1978, S. 316, 481; ders.: Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. II (Hg. R. Brandt). Meiner, Hamburg 1978, S. 48, 224. 47 Vgl. Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität [1793–1797]. Werke in zehn Bänden, Bd. 7 (Hg. H. D. Irmscher). Frankfurt a. M. 1991, S. 150: »Nächst der Selbsterhaltung ward es also die erste Pflicht der Menschheit, den Schwächen unserer Neben42 43
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terungen zu Mitteilung und Teilnehmung die Ausweitung sozialer Kompetenzen zum Ausdruck: Neben der »mitteilenden« (also geschlechtlichen) »Liebe« kennt Herder »andere zärtliche Affekte«, die »sich mit der Teilnehmung begnügen: so hat die Natur den Menschen unter allen Lebendigen zum teilnehmendsten geschaffen, weil sie ihn gleichsam aus allen geformt und jedem Reich der Schöpfung in dem Verhältnis ähnlich organisiert hat, als er mit demselben mitfühlen sollte.« 48 Wenn denn Kant seine Moralphilosophie-Vorlesung zwischen den frühen 1760er Jahren, als Herder bei ihm studiert hat, und den Jahren 1773–75 nicht allzu sehr abgewandelt hat, dann konnte Herder auch Kant sagen hören, dass »Mitleid und Theilnehmung Menschlichkeit« seien. 49 Auch sagt Kant, »Menschlichkeit« sei »das Theilnehmen an dem Schiksal anderer Menschen«. 50 Ihm zufolge bekommt das Teilnehmen freilich nur dann einen guten Sinn, wenn es aus vernünftigen Gründen, aus freien Stücken initiiert wird. Dies sieht Herder, wie man aus seinem breiten Zugang zu Teilnehmung und Mitteilung anhand der Sozialität von Lebewesen schließen kann, anders. An Herders Paarung »Mitteilung und Teilnehmung« – an anderen Stellen spricht er von »Vereinigung« und »milde[m] Beisammensein« 51 oder von »Geselligkeit, Freundschaft, wirksame[r] Teilnehmung« 52 – muss man, streng genommen, zwei fundamental verschiedene Formen sozialer »Leidenschaft« unterscheiden. Es geht hier einerseits um Formen des Austauschs oder der Interaktion, anderergeschöpfe beizuspringen […]. In Religion wurden die Pfllichten des Ehebundes, der Eltern gegen die Kinder, der Kinder gegen die Eltern, der Einheimischen gegen die Fremden eingehüllet, und allmählich dies Erbarmen auch auf Feinde verbreitet.« 48 Herder: Ideen, a. a. O., S. 155 f. (Buch I 4, VI). 49 Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie (Hg. W. Stark). De Gruyter, Berlin/New York 2004, S. 322. Diese Bemerkung findet sich in der Nachschrift der späteren Vorlesung aus der Hand Kaehlers; es sind zwar Nachschriften von früheren Vorlesungen Kants überliefert, darunter auch solche aus der Hand Herders, doch von der inhaltlich einschlägigen Vorlesung, die er gehört haben könnte, sind offenbar keine Nachschriften erhalten – weder von Herder noch von einem anderen Studenten. Vgl. die Hinweise des Herausgebers in Kant: Gesammelte Schriften, Bd. XXVII, a. a. O. 50 Kant: Vorlesung zur Moralphilosophie, a. a. O., S. 288. 51 Herder: Liebe und Selbstheit [1781]. In: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 4 (Hg. J. Brummack u. M. Bollacher). Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 1994, S. 405–424, hier S. 407. 52 Herder: Ideen, a. a. O., S. 196 (Buch I 5, VI). A
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seits um Formen der Gemeinsamkeit oder Gemeinschaft. Dieser Unterschied ist keinesfalls zu vernachlässigen. Zum einen befasst sich Herder damit, wie der Eine sich auf den Anderen mitteilend bezieht. Zum anderen zielt er auf ein Gemeinsames, auf das der Eine wie der Andere gleichermaßen teilnehmend bezogen sind. Das Hin und Her der Interaktion kommt ebenso in den Blick wie die kollektive Identität. Herder präsentiert, kurz gesagt, eine Kombination von communicatio und participatio. 53 Was geschieht nun, wenn man diese anhand einer einzelnen Formulierung entwickelten Überlegungen mit jenem Modell des modernen Selbstverständnisses konfrontiert, das auf der Doppelung von Selbsterhaltung und Selbstbestimmung basiert? Und welche Lesart des sozialen Lebens ergibt sich daraus?
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Sympathie: eine Begriffsbestimmung
Indem ich Herders Spuren nachgehe, sträube ich mich gegen das Szenario, das einen glatten Übergang von Selbsterhaltung zu Selbstbestimmung vorsieht. Die Selbstbestimmung soll im Repertoire des menschlichen Lebens seinen Platz behalten, doch bedarf sie der Revision. Um mich ihr auf andere Weise zu nähern, möchte ich mich – gemäß dem fünften und letzten Schritt in meiner eingangs skizzierten Stufenfolge – an das Verhältnis der Menschen zueinander halten. Ein zugegeben äußerst vager, gar unangenehm schwelgerischer Umriss der Antwort, auf die ich hinsteuere, liegt in dem folgenden Satz Herders: »Alles fühlt sich und Seinesgleichen, Leben wallet zu Leben«. 54 Coleridge wird dies kurz nach 1800 so ausdrücken: »Everything has a life of its own, and […] we are all One Life«. 55 – Geht es auch eine Nummer kleiner? Ja. Zedlers Lexikon bringt Teilnehmung als Übersetzung von participatio, Mitteilung als Übersetzung von communicatio. – Zu beachten ist, dass participatio mit dem griechischen Pendant der methexis den Horizont auf die platonische Ideenlehre und deren Kritik eröffnet. 54 Herder: Erkennen und Empfinden, a. a. O., S. 361; vgl. auch Herder: Reflexionsdichtung. In: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 3 (Hg. U. Gaier). Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 1990, S. 773–837, hier S. 813: »Ich/ bins, in dem die Schöpfung sich/ punktet, der in alles quillt/ und der Alles in sich füllt!« 55 Samuel Taylor Coleridge: Letters (Hg. E. H. Coleridge), Vol. I. Heinemann, London 1895, S. 403 f. (Brief an W. Sotheby vom 10. 9. 1802); vgl. M. H. Abrams: The Mirror 53
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Die Antwort, die ich suche, begnügt sich, wenn ich sie eine Nummer kleiner ausdrücke, mit einem Wort. Es lautet: Sympathie. Der starke, unerschütterliche Anhaltspunkt für das, was die Selbsterhaltung transzendiert, ohne – wie die Selbstbestimmung – an den individuellen Selbstbezug gefesselt zu sein, liegt in der Erfahrung, dass ich davon, was einem anderen zustößt und wie es ihm ergeht, affiziert oder betroffen bin, dass ich an seinem Schicksal Anteil nehme. Gemeint ist hier nicht nur eine instinktive Reaktion. Schon anhand der Interpretation von Herders »Mitteilung« hat sich abgezeichnet, dass dieser Begriff, der zunächst bei Biologie und Mechanik platziert war, der Verschiebung zugänglich ist. »Auch die Liebe«, bemerkt Herder knapp, »sollte bei dem Menschen human sein«. 56 Er kennt »die Sympathie auch in Gedanken« und erwähnt »Aufschluß und Teilung der Herzen, innige Freude an einander, gemeinschaftliches Leid miteinander, Rat, Trost, Bemühung, Hülfe«. 57 Wenn man die Selbsterhaltung am Leitfaden der Sympathie überbietet, eröffnet sich ein sozialer Raum, in dem die Menschen aufeinander bezogen sind und aneinander hängen: »So hat die Natur den Menschen unter allen Lebendigen zum teilnehmendsten geschaffen«. 58 Dies hat Konsequenzen für die Theorie des sozialen Lebens. Nicht nämlich muss die Berücksichtigung anderer Menschen erst mühsam gegen den Egoismus in Anschlag gebracht werden, nicht auch muss der Bezug auf andere indirekt über das Vernunftgesetz erfolgen, auf das sich die Selbstbestimmung des Individuums stützt. Vielmehr ist von einer engen Koppelung von Selbstgefühl und Mitgefühl auszugehen. Herder: »Im Grad der Tiefe unsres Selbstgefühls liegt auch der Grad des Mitgefühls mit andern; denn nur uns selbst können wir in andre gleichsam hinein fühlen.« 59 »Jedes Individuum ist Mensch, folglich denkt er die Kette seines Lebens fort. Jedes Individuum ist Sohn and the Lamp. Oxford UP, Oxford 1953, S. 65; Charles Taylor: Sources of the Self, a. a. O., S. 571; ders.: Quellen des Selbst, a. a. O., S. 641. 56 Herder: Ideen, a. a. O., S. 155 (Buch I 4, VI). 57 Herder: Liebe und Selbstheit, a. a. O., S. 412. 58 Herder: Ideen, a. a. O., S. 155 (Buch I 4, VI). 59 Herder: Erkennen und Empfinden, a. a. O., S. 361. Hinter dieser These steckt die vor allem auf die schottische Moralphilosophie zurückgehende These, die Beziehung zu sich selbst und das Wohlwollen gegenüber anderen greife ineinander; vgl. z. B. R. G. Frey: Butler on Self-Love and Benevolence. In: Christopher Cuncliffe (Hg.): Joseph Butler’s Moral and Religious Thought. Clarendon, Oxford 1992, S. 243–267, hier S. 252. A
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oder Tochter […]. Jedes treibt immer eine große oder kleine Welle: jedes verändert den Zustand der einzelnen Seele, mithin das Ganze dieser Zustände; würkt immer auf andre; verändert auch in diesen etwas«. 60 »Gegenseitige Mitteilung fordern und genießen wir nicht ›aus einem ursprünglichen Vertrage, der durch die Menschheit selbst diktiert ist;‹ (fremde Wortspiele!) sondern weil ein gemeinschaftliches Bedürfnis uns bindet, weil wir zu gegenseitiger Mitteilung die dringendsten Neigungen und Triebe in uns fühlen.« 61 (Eingewoben in dieses Zitat ist eine Wendung aus Kants Kritik der Urteilskraft.) Herder stützt sich auf die Philosophie der Sympathie, die im 18. Jahrhundert von Shaftesbury, Hutcheson, Hume, Adam Smith, Rousseau und anderen entwickelt worden ist. Sie rückt eine Grundform sozialer Beziehungen ins Bewusstsein, die im Nachgang zu Kants Mitleidskritik oft vernachlässigt worden ist. Da Mitleid, Mitgefühl und Sympathie direkt hinter Herders Rede von Mitteilung und Teilnehmung steht, möchte ich hier kurz eine Bestimmung von Sympathie einschieben, die dann bei der Einordnung der Überlegungen Herders hilfreich zu werden verspricht, sich aber von dessen eigenen Überlegungen zunächst noch fern hält. Was die Sympathie ausmacht, lässt sich, wie mir scheint, in fünf Punkten zusammenfassen. 1. Sympathie basiert auf einer Homologie menschlichen Verhaltens: Person x tut etwas oder verhält sich auf eine bestimmte Weise (indem sie z. B. leidet), Person y vollzieht dieses Verhalten bis zu einem gewissen Grade nach. Die Korrespondenz oder Ähnlichkeit von Verhaltensweisen funktioniert im Falle der Sympathie anders als in jenen Fällen, in denen Kollegen zusammenarbeiten (also an dem sprichwörtlichen »einen Strick ziehen«) oder Soldaten im Gleichschritt marschieren. Die Sympathie bedarf keines äußeren Rahmens, der ein gemeinsames Ziel, übergreifende Regeln oder Erfordernisse definiert, die das Verhalten verschiedener Personen koordinieren. Die Homologie ergibt sich vielmehr direkt aus dem Zusammenspiel zwischen den Personen selbst. Es gibt verschiedene Formen sozialen Verhaltens, die dieses erste Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 800. Herder: Kalligone [1800]. In: ders.: Werke in zehn Bänden, Bd. 8 (Hg. H. D. Irmscher). Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt a. M. 1998, S. 641–964, hier S. 773 mit einem Zitat aus Kant: Kritik der Urteilskraft [1790]. In: ders.: Werke in zehn Bänden, a. a. O., Bd. 8, S. 233–620, hier S. 394 (A 161).
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Kriterium erfüllen, ohne dass doch Sympathie ins Spiel käme. Man denke etwa an einen Roulettetisch, an dem ein Spieler, der eine eindrucksvolle Gewinnserie vorzuweisen hat, von anderen Teilnehmern nachgeahmt wird, die auf die gleichen Felder setzen wie er. Oder man denke an einen Lastwagenfahrer, der die Geschwindigkeit seines Wagens passgenau an die des Fahrers vor ihm angleicht und über einen langen Zeitraum hinweg gewissermaßen dessen Verhalten spiegelt. Oder man denke an die ansteckende Wirkung des Gähnens. In all diesen Fällen ergibt sich eine Folge von Handlungen, in der sich eine Homologie zwischen Personen aufbaut. Und doch zögert man, in ihnen Sympathie am Werk zu sehen. Um dieses Zögern zu rechtfertigen, kann man verschiedene Richtungen einschlagen, die durchaus zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen führen. 2. Warum ist es falsch, das mimetische Verhalten einer Person, die vom Gähnen einer anderen angesteckt wird, sympathetisch zu nennen? Eine mögliche Antwort lässt sich am Beispiel des Gähnens skizzieren. Demnach handelt es sich beim Gähnen der zweiten Person um einen Vorgang, der zwar durch das Gähnen der ersten Person ausgelöst wird, aber von sich aus keinerlei Verweis auf dieses erste Gähnen enthält. Man ist bei diesem Gähnen gewissermaßen ganz von sich absorbiert. Bei der Sympathie liegen die Verhältnisse anders. Dies lässt sich am besten anhand eines bestimmten Falls von Sympathie erläutern, nämlich anhand des Mitleids. Das Mitleid eines Betrachters repliziert das Leiden eines Betroffenen nicht in der gleichen Weise wie das Gähnen der zweiten das der ersten Person. Würde man den nachgeordneten, abhängigen Status des Mitleids ignorieren, verginge man sich an der Unmittelbarkeit und Aufdringlichkeit primären Leids. Es wäre geradezu selbstgefällig, beanspruchte man sein eigenes Mitleid ganz für sich selbst und erhöbe man es zu einem Leiden eigenen Rechts. Deshalb nennt David Wellbery das Mitleid einen »second-order affect«. 62 In der Theory of Moral Sentiments bemerkt Adam Smith, ein Mitleidender werde im Verhältnis zum Leidenden »in some measure the same person with him.« »If I see«, so schreibt Smith in einer Passage, die von Lessing in seinen Laokoon-Essay übernommen worden ist, »a stroke aimed, and just ready to fall upon the leg, or arm, of another person, I naturally shrink and draw back my own leg, or my David E. Wellbery: Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason. Cambridge UP, Cambridge u. a. 1984, S. 165.
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own arm; and when it does fall, I feel it in some measure, and am hurt by it as well as the sufferer.« 63 Die Identifizierung, die Smith hier beschreibt, geht offensichtlich mit einer gewissen Reserve einher. Auch wenn man selbst wie der Geschlagene zurückzuckt, re-präsentiert das Mitleid doch nur in zweiter Instanz das vorgängige, eigentlich präsente Leiden einer anderen Person. Wenn eine Person mitleidet, ist sie bereit, eine gewisse Abhängigkeit von der leidenden Person hinzunehmen. Das Mitleid des Einen bleibt (anders als das Gähnen) konstitutiv auf das Leiden des Anderen bezogen. Diese Abhängigkeit fordert vom Mitleidenden eine gewisse Zugänglichkeit. Er kann nicht voll und ganz mit seinen eigenen Geschäften oder Sorgen befasst sein. »Man muss sich in einer Situation befinden, die es erlaubt, von sich abzusehen, in der man nicht voll und ganz mit sich beschäftigt und von seiner eigenen Lebenssituation überwältigt ist.« 64 Im Verhältnis zwischen Leidendem und Mitleidendem liegt Ersterer gewissermaßen vorn, gibt den Ton vor und löst eine Reaktion (oder, wie man passender sagen müsste: eine Re-Passion) aus. Das Mitleid und die Sympathie im Allgemeinen lassen sich gemäß diesem Vorschlag vom reaktiven Gähnen dadurch unterscheiden, dass dem Verhalten der zweiten Person Indirektheit oder Abhängigkeit mit Bezug auf eine Vorgabe (z. B. ein primäres Leiden) eigen ist. Man tut nicht einfach das Gleiche wie ein Vorgänger, vielmehr ist der Bezug auf ihn ein konstitutiver Bestandteil des eigenen Verhaltens. 3. Neben dieser Bestimmung der Sympathie über eine Handlungsfolge ist aber noch eine andere Strategie denkbar, wie man sie vom reaktiven Gähnen, das ich als Kontrast nutze, unterscheiden kann. Ich habe gerade gesagt, dass das Mitleid von einer anderen Person abhängig oder an sie gebunden sei. Man kann die Abfolge, die vom direkten Leiden zum indirekten Mitleid führt, aber auch beiseitelassen und die Verbindung in Augenschein nehmen, die hier zwischen den Beteiligten etabliert wird. Man würde der Zusammengehörigkeit, die im Adam Smith: The Theory of Moral Sentiments [1759] (Hg. K. Haakonsen). Cambridge UP, Cambridge u. a. 2002, S. 35; vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon [1766]. In: ders.: Werke, Bd. 6. Hanser, München/Wien 1974, S. 7–188, hier S. 36; zum Kontext vgl. Dieter Thomä: Totalität und Mitleid. Richard Wagner, Sergej Eisenstein und unsere ethisch-ästhetische Moderne. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006, S. 210 f. 64 Thomä: Lebensteilung und Mitleid. In: Guido Löhrer/Christian Strub/Hartmut Westermann (Hg.): Philosophische Anthropologie und Lebenskunst. Fink, München 2005, S. 139–154, hier S. 145. 63
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Mitleid wirksam ist, nicht gerecht werden, wenn man sich nur mit der Auskunft begnügte, dass die Gefühle einer ersten Person analoge Gefühle in einer zweiten Person auslösen oder dass eine zweite Person jene nachahmt. Ein mimetisches Verhalten dieser Art bezeichnet man als Empathie. Sym-pathie oder Mit-leid muss ein Element des Teilens oder der Zusammengehörigkeit enthalten. Mag das Mitleid auch eine unüberbrückbare Distanz zum eigentlichen Leiden aufweisen, so kann es doch Zugang zu einer Erfahrung verschaffen, in der man zusammengehört oder ein Schicksal teilt. Diese Erfahrung steht auch dem Leidenden selbst offen, sofern ihm bewusst wird, dass andere ihn bemitleiden. Mittels dieser Verbindung lässt sich wiederum die Welt des Mitleids und der Sympathie vom Muster des reaktiven Gähnens abgrenzen. Nun stützt man sich aber nicht auf die asymmetrische Folge primären Leids und sekundären Mitleids, sondern auf eine Erfahrung des Teilens oder der Gemeinsamkeit, in der die zeitliche Abfolge und die damit einhergehende Asymmetrie keine Rolle mehr spielt. Adam Smiths berühmte Wendung vom »fellowfeeling« trifft diesen Sachverhalt. 65 4. Bislang habe ich mich bei meiner Betrachtung der Sympathie weitgehend an Leid und Mitleid gehalten. Damit habe ich den Begriff Sympathie nur in vorläufiger Weise benutzt und dessen Gegenstandsbereich unnötig stark eingeengt. Zwar meinen Mitleid und Sympathie wörtlich genau dasselbe, doch hat es sich eingebürgert, die Sympathie auf ein breites Spektrum positiver und negativer Erfahrungen zu beziehen und das Mitleid ausschließlich auf Leiden zu beziehen. Tatsächlich werden im Bereich der Sympathie viele inter-aktive (oder interpassive) Verbindungen denkbar, die nach dem Modell der Abfolge oder aber der Zusammengehörigkeit Bezüge zwischen individuellen Verhaltensweisen bezeichnen. Adam Smith hat dies schon sehr genau beschrieben: »Neither is it those circumstances only, which create pain or sorrow, that call forth our fellow-feeling. Pity and compassion are words appropriated to signify our fellow-feeling with the sorrow of others. Sympathy, though its meaning was, perhaps, originally the same, may now, however, without much impropriety, be made use of to denote our fellow-feeling with any passion whatsoever.« 66 Unabhängig davon, ob das Gefühl oder die Erfahrung, die den Ausgangs65 66
Smith: The Theory of Moral Sentiments, a. a. O., S. 13 u. pass. A. a. O., S. 8; vgl. Robert Sugden: Beyond Sympathy and Empathy. Adam Smith’s A
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punkt bildet, positiv oder negativ ist, kann die Sympathie qua »fellowfeeling« als Quelle einer positiven Erfahrung dienen: »Sympathy […] enlivens joy and alleviates grief. It enlivens joy by presenting another source of satisfaction; and it alleviates grief by insinuating into the heart almost the only agreeable sensation which it is at that time capable of receiving.« 67 Allgemein bezieht sich die Sympathie auf Situationen, in denen eine Person mit einer anderen ›mitgeht‹ oder sich im Gleichklang mit ihr befindet. Sie kann auch ins Spiel kommen, wenn man sich mit jemandem mitfreut. Wenn solche Sympathie an einer Handlungsfolge festgemacht wird, dann spricht man beispielsweise von ›ansteckender Freude‹. Wenn sie dagegen an Erfahrungen des Teilens gebunden ist, dann heißt es: ›Geteilte Freude ist doppelte Freude.‹ 5. Bislang habe ich über verschiedene Formen der Identifikation gesprochen, die zwei Menschen im Zeichen der Sympathie oder des Mitleids zusammenbringt. Identifikation ist aber nicht alles. Man denke etwa an eine mitleidende Person, die ganz ergriffen von dem Elend eines Kindes ist, das sie im Fluss ertrinken sieht, aber überhaupt nicht versucht, einzugreifen und dessen Leben zu retten. Wie heftig deren Erschütterung und Ergriffenheit auch sein mag, man würde so einer Person kein Mitleid zuschreiben. Mitleid und Sympathie erschöpfen sich nicht in der Erfahrung der Homologie oder Korrespondenz, sie führen nicht zu einem Zustand der Symbiose, sondern stiften ein Individuum an, um des Wohls einer anderen Person oder auch um eines gemeinsam erfahrenen Schicksals willen aktiv zu werden. Aus der Erfahrung der Gemeinsamkeit erwachsen letztlich moralische Forderungen. Die Sympathie zieht ein Antworten und Verantworten nach sich, mit dem ein Individuum auf ein anderes zugeht oder eingeht. Da es um Antwort und Verantwortung geht, gehören zu den der Sympathie zugeordneten Lebensformen nicht nur solche Bewegungen, in denen zwei Menschen sich annähern oder verbinden, sondern auch Figuren des Abstands, der Eigenständigkeit. Mit Herder kann man diese doppelte Bewegung unter den Überschriften der »Anziehung« und »Zurückstoßung« fassen. 68 Concept of Fellow-Feeling. In: Economics and Philosophy 18, 2002, S. 63–87, hier S. 70– 73; Thomä: Lebensteilung und Mitleid, a. a. O., S. 149. 67 Smith: The Theory of Moral Sentiments, a. a. O., S. 18. 68 Herder: Liebe und Selbstheit, a. a. O., S. 407. Herder könnte diese Doppelung, der er
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Die semantischen und sozialen Dimensionen der Sympathie
Am Anfang meiner Überlegungen zu Herder stand dessen auf den ersten Blick befremdliche Kombination von Selbsterhaltung einerseits, Teilnehmung und Mitteilung andererseits. Ich habe versucht deutlich zu machen, dass Herder damit das reiche Erbe der Philosophie der Sympathie des 18. Jahrhunderts antritt. In Herders Mitteilung und Teilnehmung sehe ich eine Explikation der Grundstruktur der Sympathie, die zum einen – wie die Mitteilung – für eine Relation zwischen Individuen steht und zum anderen – wie die Teilnehmung – als Identifikation der Individuen mit etwas Gemeinsamem aufzufassen ist. Es hat sich insbesondere im Nachgang zu Kants Moralphilosophie und dessen Kritik an der Mitleidsethik eingebürgert, die Philosophie der Sympathie, der »benevolence«, des »fellow-feeling« etc. systematisch an den Rand zu drängen. Disqualifiziert wird die Sympathie mit verschiedenen Argumenten: dass sie negativ auf das Leiden des anderen fixiert sei, also nur auf dessen tierische Existenz und nicht auf dessen freie Entfaltung ziele; dass sie gar nicht auf bewusste, willentliche Motive zurückgehe, sondern eine Reaktion sei, in der – wie man heute sagen würde – Spiegelneuronen die körperliche Reaktion eines Betroffenen replizieren oder simulieren (Kant spricht in diesem Zusammenhang von der »pathologische[n]« Liebe); 69 dass sie sich nur auf einen Nahbereich beziehe, als Grundlage einer Ethik, die der Menschheit dienlich sein soll, also nichts tauge. All diese Einwände lassen sich m. E. nach genauerer Prüfung entkräften oder mindestens in ihrer Geltung einschränken; ich kann dies im hier gewählten Rahmen nicht näher ausführen. Eingehen möchte ich nur kurz auf einen generellen Vorwurf, der hinter vielen der genannten Einwände steht: dass nämlich die Sympathie-Ethik appellativ bleibe, also, kurz gesagt, im Bereich des Wunschdenkens anzusiedeln sei. Das Potential der Sympathie-Ethik freilich eine eigene Bedeutung gibt, von Kant bezogen haben; jedenfalls findet sie sich bereits in Herders Nachschrift der Vorlesung zur Praktischen Philosophie, die er bei Kant gehört hat; vgl. Kant: Werke (Akademie-Ausgabe), Bd. XXVII, a. a. O., S. 4. 69 Kant: Kritik der praktischen Vernunft [1788]. In: ders.: Werke in zehn Bänden, a. a. O., Bd. 6, S. 103–302, hier S. 205 (A 148); vgl. zur Kritik am »Fühlen« mit Bezug auf Hutcheson ders.: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785]. In: ders.: Werke in zehn Bänden, a. a. O., Bd. 6, S. 7–102, hier S. 77 (A 91). A
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steht und fällt nach dieser Lesart mit einer menschenfreundlichen Haltung, die vielleicht von einer bestimmten Schicht tugendhafter Engländer und Schotten im 18. Jahrhundert oder auch von anderen – böse gesagt – Gutmenschen kultiviert wurde, aber als Basis für eine von tiefen Interessenkonflikten, Klassenunterschieden oder kulturellen Differenzen geprägten modernen Gesellschaft nicht taugt. Wenn die entsprechende emotionale Vorbereitung und Bereitschaft nicht vorliege, dann predige der Apologet der Sympathie gewissermaßen vor leeren Bänken und überlasse das Feld des sozialen Lebens dem Regime des Eigeninteresses und der Konkurrenz. Gegen diese Lesart lassen sich auf zwei Ebenen Einwände anbringen. Zum einen ist festzuhalten, dass moralische Begründungen jedwelcher Art – also nicht nur solche, die sich auf die Emotionen stützen – appellativen Charakter haben. Demnach steht auch der Versuch, die Antwort auf die Frage, warum man moralisch zu sein habe, mit Rekurs auf die Vernunft zu beantworten, vor dem Problem, dass man die Menschen irgendwie dazu anstiften muss, (in einer bestimmten Weise und in einem bestimmten Grad) vernünftig zu sein. Wenn sich dies so verhält, dann ist die Sympathie-Ethik mit ihrem appellativen Gestus gewissermaßen in guter Gesellschaft. Zum anderen ist festzuhalten, dass die Philosophie der Sympathie diesseits der ethischen Appelle, die aus ihr erwachsen mögen, einen starken deskriptiven Anspruch erhebt. Gemäß diesem zweiten Einwand lässt sich am Leitfaden der Sympathie eine Beschreibung des menschlichen Lebens und Zusammenlebens entwickeln, die die Koordination und Kooperation von Individuen anders (und vielleicht besser?) beschreibt, als dies etwa in einem utilitaristischen oder rationalistischen Rahmen vorgesehen ist. Genau diesem deskriptiven Anspruch sind die hier angestellten Überlegungen verpflichtet. Motiviert sind sie durch die Bedenken, die gegen den prompten Übergang von der Selbsterhaltung zur Selbstbestimmung angemeldet worden sind. Ich möchte diese Bedenken mit Bezug auf die utilitaristischen und kantianischen Lesarten dieses Übergangs nochmals kurz zusammenfassen. Wenn man im Sinne des Utilitarismus eine Person für selbstbestimmt hält, die im Sinne ihres Eigeninteresses agiert und Nutzenmaximierung betreibt, zieht man die Nachfrage auf sich, nach welchen Kriterien sich der Nutzen einer Person bemisst und mit welchem Vokabular sie die starken Wertungen vornimmt, die die Basis ihrer Entscheidungen liefern. Wenn man die Selbstbestimmung im 84
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Sinne Kants einer Person zuschreibt, die die Prozedur des Bestimmens von der Willkür ihrer Wünsche unabhängig macht und sich hierzu auf die Regelhaftigkeit und Universalisierbarkeit von Vernunftgründen stützt, ist man mit dem Einwand konfrontiert, dass einer solchen formalen Argumentation konkrete Handlungsanweisungen nicht zu entnehmen sind. Da das Vokabular, in dem Handlungen und Wertungen gefasst werden, nicht solistisch entwickelt werden kann, verhalten sich die geschilderten Strategien zur Sicherung der Selbstbestimmung parasitär zu einem geteilten Raum von Bedeutungen. Dessen Funktionsprinzip ist jenes Einverständnis, das in Erfahrungen der Sympathie zugänglich ist. Dies macht verständlich, warum David Hume in seiner Klassifikation der »passions«, mit denen wohlgemerkt nicht nur körperliche Triebe gemeint sind, der Sympathie einen übergreifenden, privilegierten Platz eingeräumt hat »Whatever other passions we may be actuated by; pride, ambition, avarice, curiosity, revenge, or lust; the soul or animating principle of them all is sympathy; nor would they have any force were we to abstract entirely from the thoughts and sentiments of others.« 70 Daraus ist zu folgern, dass der Übergang von der Selbsterhaltung zur Selbstbestimmung eine Anmaßung, ein Schritt ins Leere bleibt, wenn nicht zuvor das Selbst in einer Welt geteilter Bedeutungen und Empfindungen situiert ist. Insofern ist Herders Doppelung von Selbsterhaltung einerseits, Teilnehmung oder Mitteilung andererseits keine Ablenkung, kein Abfall vom Königsweg der Emanzipation, sondern im Gegenteil notwendiger Bestandteil einer angemessenen Beschreibung menschlicher Lebensführung. Statt die Sympathie als marginale Sentimentalität abzutun, sollte man zur Kenntnis nehmen, dass sie in eine Struktur eingelassen ist, die die Selbstverständigung der Person und deren soziale Beziehungen insgesamt trägt. Zur Sympathie gehört – über bloß körperliche Reaktionen hinaus – ein von verschiedenen Personen geteiltes Vokabular, sie bindet die Sprache an Erfahrungen, von denen sich auch Wittgenstein leiten lässt, wenn er von einem »blind[en]« Verstehen zwischen Menschen spricht. 71 Ein letztes Mal ist hier zu konstatieren, dass ein exHume: Treatise, a. a. O., S. 363; ders.: Traktat, Bd. II, a. a. O., S. 97; vgl. Annette C. Baier: Moral Prejudices. Harvard UP, Cambridge [MA]/London 1994, S. 62. 71 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen [1953]. In: ders.: Werkausgabe. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1984, Bd. 1, § 219. 70
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pressivistischer Ansatz für das Verständnis dieses Phänomens, also auch für eine angemessene Einordnung der Philosophie Herders eher hinderlich ist. Denn wie sehr man auch beteuern mag, mit jenem Ansatz die Kommunikation zwischen Menschen in den Blick zu nehmen, so wird mit ihm doch die individuelle Artikulation primär gesetzt. So ist es auch nicht verwunderlich, dass etwa Isaiah Berlin, bei dem die Interaktion (oder Interpassion) in den Hintergrund tritt, die Gemeinschaftlichkeit mit Blick auf kulturelle Kollektive unter der Flagge des »Populismus« einführt und die Sympathie systematisch vernachlässigt; sie spielt in seiner wie auch in Taylors Herder-Interpretation kaum eine Rolle. Zur Sympathie gehört neben der Kultur des Einverständnisses, die sprachtheoretisch zu explizieren ist, eine Kultur des Zusammenspiels, die sozialtheoretisch zu explizieren ist. Als zentrale Voraussetzung für das Gelingen sympathetischer Erfahrungen erweist sich dabei die Gleichheit, durch die die Beteiligten geeint sind. J. David Velleman hat in einem verwandten Zusammenhang gemeint, das Gelingen von Interaktion weise sich daran aus, dass man »on the same page« sei. 72 Mit dieser idiomatischen Wendung wird die semantische Qualität des sozialen Zusammenspiels treffend verdeutlicht. Die sympathetische Gleichheit besteht immer nur in bestimmten Hinsichten, sie wird auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichem Aufwand erfahren und geltend gemacht. Ausschlaggebend ist hierbei, unter welchen Umständen Erfahrungen und Haltungen nachvollzogen werden können. So sind etwa Schmerzerfahrungen für eine sympathetische Reaktion Dritter deshalb besonders offen oder empfänglich, weil sich bei ihnen die aktive, individualisierende Inszenierung der Betroffenen in Grenzen hält. Hier ist es manchmal geradezu unvermeidlich, sympathetisch zu reagieren; Adam Smiths Beispiel vom Schlag auf den Arm habe ich bereits angeführt (s. o.). Gleichwohl ist diese sympathetische Reaktion kein einfacher Automatismus: Wenn etwa die betroffene Person dem Betrachter nicht nur als leidende bekannt ist, sondern er sie – wenn ich dies so drastisch formulieren darf – als ›Kotzbrocken‹ kennen und hassen gelernt hat, wird die sympathetische Reaktion auf deren Leiden beim Betrachter mit anderen Empfindungen rivalisieren. Dass dies der Fall ist, spricht nicht gegen das Spiel
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J. David Velleman: How We Get Along. Cambridge UP, Cambridge u. a. 2009, S. 61.
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der Sympathie, sondern bestätigt die Tatsache, dass sie in Vokabulare eingelassen ist, in denen die Interaktion zwischen Menschen koordiniert wird. Diese Vokabulare treten in ihrer ganzen Schönheit, wie man sagen könnte, heraus, wenn die Sympathie auf komplexere Erfahrungen bezogen ist. Man steht hier, mit Smith gesprochen, am Übergang von Mitleid zu Mitgefühl, von »compassion« zu »sympathy« im weitesten Sinn. Dann rückt etwa die Erfahrung in den Blick, dass man eine Person, die man gerade erst getroffen hat, auf Anhieb sympathisch findet. Die Treffsicherheit dieser Einschätzung ist bekanntlich hoch, die Beweggründe, auf die sie sich stützt, sind komplex; dies gilt erst recht für die über einen längeren Zeitraum gewachsene Sympathie zwischen Freunden oder Kollegen. Dabei sind sympathetische Erfahrungen nicht auf die direkte Interaktion zwischen Menschen beschränkt, sie können sich auch auf das von Menschen Geschaffene beziehen. So mobilisieren Individuen auch im Bereich der ästhetischen Erfahrung ihre Potentiale des Nachvollzugs oder – wie Herder sagen würde – der Einfühlung. Die sprachlich-sozialen Kulturen der Sympathie sind permanent Belastungsproben ausgesetzt, weil Übereinkunft nicht vorab (etwa transzendental) garantiert ist, sondern jeweils erst erzielt werden muss. Befördert wird diese Übereinkunft durch die Gleichheit, die in der Sympathie zugänglich wird, doch jene Kulturen sind zugleich immer auch Übungen im Umgang mit Differenzen. Man nimmt den anderen in seiner Fremdheit zur Kenntnis und testet, inwieweit man zu dessen zunächst fremder, befremdlicher Lebensäußerung Zugang finden und gar an ihr Gefallen finden kann. Eine Beschreibung für den Ausgangs-, nicht Endpunkt dieses Prozesses findet sich bei Wittgenstein: »Wo ich sicher bin, ist der Andere unsicher. […] Und Andere haben Begriffe, die unsere Begriffe durchschneiden.«73 Die individuelle Selbstbestimmung fußt in dieser Auseinandersetzung, in diesen Prozessen der Bekanntmachung, des Nachvollzugs, der Aneignung oder Abweisung.
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Wittgenstein: Zettel. In: ders.: Werkausgabe, a. a. O., Bd. 8, S. 360 f. (§§ 374, 379). A
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Herders Revision der Sprachphilosophie im Lichte der Sympathie
In dem Satz, den ich in diesem Beitrag gewissermaßen als Eintrittskarte zu Herders Werk verwendet habe, war von Selbsterhaltung einerseits, von Teilnehmung und Mitteilung andererseits die Rede. Ich habe im vorausgegangenen Abschnitt versucht plausibel zu machen, dass Herder mit guten Gründen vom vermeintlich rechten Weg abweicht, also nicht direkt auf das Junktim von Selbsterhaltung und Selbstbestimmung zusteuert, sondern letztere erst der Einbettung des Individuums in soziale und semantische Felder entspringen lässt. Dabei wurde deutlich, dass die Kulturen der Sympathie, die auf diesen Feldern wirksam sind, nicht sekundär zu einer natürlichen Ausstattung des Menschen hinzukommen, sondern diese selbst durchdringen. So liegt es in der Konsequenz der Herderschen Dualismus-Kritik, dass auch die Selbsterhaltung als Sorge um die animalische Basis unserer Existenz nicht isoliert zu betrachten ist. Eine solche isolierte Betrachtung würde nur dann funktionieren, wenn man umgekehrt der Sache des Nicht-Animalischen oder Untierischen ganz sicher ist. Gegen diese Selbstsicherheit setzt Herder die Pointe: »Schon als Tier, hat der Mensch Sprache.« 74 Auch schon die (tierische) Selbsterhaltung bekommt demnach beim Menschen eine eigene Form, für die die sprachliche »Äußerung« 75 konstitutiv ist. Letztlich ist die Bemühung um Selbsterhaltung einbezogen in einen Lebensprozess, zu dem Symbolisierung dazugehört. So naheliegend auf den ersten Blick die These sein mag, dass dem Menschen zuallererst an seinem Überleben gelegen sei, so stark sind doch auf den zweiten Blick die Vorbehalte und Einwände, die zum Primat der Sorge um das Überleben geltend zu machen sind. Sie kommen aus ganz verschiedenen Ecken: Platon hält, wie er im Gorgias zeigt, nicht das bloße Leben, sondern nur das gute Leben für erhaltenswert; Kant erklärt, »das Leben an und für sich selbst« sei »nicht das höchste Gut«; 76 Nietzsche sieht im Bedürfnis nach Selbsterhaltung den »Ausdruck einer Nothlage«, die »Einschränkung des eigentlichen Lebens-
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Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 697. Ebd. Kant: Eine Vorlesung über Ethik, a. a. O., S. 167.
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Grundtriebes, der auf Machterweiterung« gerichtet sei. 77 Diesseits dieser großen Unterscheidungen ist auch an eine feine Beobachtung von William Godwin, dem Herder-Zeitgenossen, zu erinnern, wonach sich die erste Sorge kleiner Kinder nicht auf deren Selbsterhaltung, sondern auf Gefühle von Lust und Schmerz beziehe. 78 Das Verlassensein ist ihnen als negative Erfahrung zugänglich, nicht aber das Nichtsein. Herder geht mit der Selbsterhaltung nicht so um, dass er sie als allgemeinen Titel für die im eigenen Interesse des Individuums liegenden Handlungsziele anerkennt, noch auch so, dass er sie etwa unter Berufung auf die Selbstbestimmung als Selbstgesetzgebung überbietet; vielmehr verwandelt er sie. Nachvollziehbar wird dies, wie ich abschließend deutlich machen will, in den Überlegungen zu Selbsterhaltung, Mitteilung und Teilnehmung, die er im Rahmen seiner Sprachphilosophie anstellt. Nicht nämlich geht Herder von vorab bestehenden Bedürfnissen aus, bei deren Befriedigung die Sprache als Instrument zum Einsatz kommt, 79 vielmehr treten diese Bedürfnisse selbst so auf, dass sie ihre Versprachlichung immer schon mitführen. Genauer müsste man sagen: Weil sie in versprachlichter Form auftreten, handelt es sich bei ihnen nicht im strikten Sinn um Bedürfnisse, sondern um Passio-
Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft [1882–1887]. In: ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (Hg. G. Colli/M. Montinari). dtv/de Gruyter, München/Berlin/New York 1988, Bd. 3, S. 343–652, hier S. 585 (§ 349). 78 William Godwin: An Enquiry Concerning Political Justice and Its Influence on General Virtue and Happiness. Robinson, London 1793, Bd. 1, S. 15 (Bk. 1, Ch. III): »It has been said, that the desire of self-preservation is innate. I demand what is meant by this desire? Must we not understand by it, a preference of existence to non-existence? Do we prefer any thing but because it is apprehended to be good? It follows, that we cannot prefere existence, previously to our experience of the motives for preference it possesses. Indeed the ideas of life and death are exceedingly complicated, and very tardy in their formation. A child desires pleasure and loathes pain, long before he can have any imagination respecting the ceasing to exist.« 79 Gegen diese von Condillac vertretene Auffassung vgl. Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 709; dazu Taylor: Hegel, a. a. O., S. 35 f.; vgl. Étienne Bonnot de Condillac: Essai über den Ursprung der menschlichen Erkenntnisse [1746]. Reclam, Leipzig 1977, S. 188. – In verwandelter Form kehrt diese Kontroverse wieder, wenn die Ethnologie einen Kulturbegriff entwickelt, der gegen den marxistischen Primat der materiellen Basis gegenüber dem Überbau auf der symbolischen Verfasstheit der alltäglichen Lebensbewältigung insistiert; vgl. etwa Marshall Sahlins: Kultur und praktische Vernunft [1976], Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1981, S. 15; vgl. auch Clifford Geertz: Dichte Beschreibung. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001; zu Geertz und Herder auch Berlin: Das krumme Holz der Humanität. Fischer, Frankfurt a. M. 1992, S. 112. 77
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nen oder Gefühle (»passions« oder »affections«). »[S]o folgt, daß im ganzen genommen, ›Auch kein Zustand in der menschlichen Seele sei, der nicht wortfähig oder würklich durch Worte der Seele bestimmt werde‹.« 80 Nach Herder gibt es Leidenschaften beim Menschen nicht ungeformt oder, wie Rainer Marten sagen würde, nicht ohne »Inszenierung«. 81 In seinem berühmten, an Eleganz und Prägnanz kaum zu überbietenden Buch The Passions and the Interests 82 vertritt Albert Hirschman die These, dass es im 18. Jahrhundert zu einem Übergang komme von den tierischen, unkontrollierbaren »Passions« zu den bewusst einzusehenden und zu steuernden, ökonomisch messbaren »Interessen« der Individuen. Schlägt man diesen Weg ein, so wird das soziale Leben übersichtlich, es erledigt sich der Dualismus zwischen der tierischen Welt aufdringlicher Triebe und einer darüber erhabenen, aber tendenziell weltfernen geistigen Sphäre. Leider hat – was seltsamerweise kaum jemand bemerkt hat – diese so wunderbar eingängige historische These Hirschmans vom Sieg des Eigeninteresses einen gewaltigen blinden Fleck. Zum einen nämlich wird der Begriff des Interesses im 18. Jahrhundert durchaus unterschiedlich gebraucht und häufig auch gerade als Gegengift zum Eigeninteresse eingesetzt. So betont man etwa das Dabeisein, das Gemeinschaftliche am »inter-esse«, womit dieser Begriff einen ähnlichen Gehalt bekommt wie in der neueren Diskussion das »commitment«. Zum anderen stößt man auf eine reich entfaltete Theorie der »affections«, mit der ein Bereich jenseits der Leidenschaften, aber diesseits des Interesses erkundet wird. Hier eröffnet sich eine Strategie gegen den erwähnten Dualismus des animal rationale, die nicht auf das letztlich ökonomisch verfasste Eigeninteresse setzt. Hirschman nimmt diese zwei abweichenden Bewegungen, die doch von erheblicher Bedeutung sind, nicht zur Kenntnis. Gerade Herder ist aufmerksam für diese Punkte: für die gemeinHerder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 774. Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch, Seiune Natur und seine Stellung in der Welt [1940]. Gesamtausgabe (Hg. K.-S. Reehberg), Bd. 3.1. Klostermann, Frankfurt a. M. 1993, S. 303: »Diese Sätze gehören zu den zeitlosen Ansichten, die sich in Herders Preisschrift aufzeigen lassen.« 81 Vgl. Rainer Marten: Lebenskunst. Fink, München 1993. 82 Albert Hirschman: The Passions and the Interests [1977]. Princeton UP, Princeton 1997. 80
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schaftliche Qualität des Interesses und für das Zwischenreich der Empfindungen. 83 Die Sprache spielt bei der Umdeutung des Interesses und bei der Verwandlung der Bedürfnisse eine Schlüsselrolle. Sie macht nämlich der solistischen Identifizierung von Interessen ebenso einen Strich durch die Rechnung wie der Fixierung auf einen festen Satz vermeintlich natürlicher Bedürfnisse. Man lebt, wenn die Sprache im Spiel ist, immer schon mit anderen, und das eigene Leben ist nie nur Überleben. Das Wort ist, wie Herder sagt, »Mitteilungswort«. 84 In einem etwas anders gelagerten Zusammenhang, nämlich in seiner Auseinandersetzung mit Leibniz, insistiert er darauf, die Monaden müssten »communikabel« sein. 85 In der sprachphilosophischen Diskussion des 18. Jahrhunderts tobt bekanntlich ein wilder Kampf zwischen denjenigen, die die Sprache als göttliche Gabe ansehen, und denen, die sie aus den materiellen Bedingungen des Lebens und Überlebens ableiten wollten. Auf welche Seite schlägt sich Herder? Er wählt entschieden den Weg durch die Mitte, verlässt sich weder auf Gott noch auf natürliche, der Sprache Zum »Interesse« vgl. Herder: Kalligone, a. a. O., S. 730 (»Interesse ist quod mea interest, was mich angeht […]. Ohne kleinliche Rückkehr auf mich bin ich von der Idee erfüllt, die mich über mich hebt, die alle meine Kräfte beschäftigt; dagegen jedes Uninteressante mich leer läßt«). – Wie Herder, so beschreibt auch Karl Philipp Moritz das Interesse als »Teilnehmung an etwas«, bei der man »gewissermaßen sich selbst vergißt, und sich in den Gegenstand selbst verwebt fühlt«; vgl. Karl Philipp Moritz: Vorlesungen über Stil. In: ders.: Werke (Hg. H. Günther), Bd. III. Insel, Frankfurt a. M. 1981, S. 585– 756, hier S. 664. 84 Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 733. Unabhängig von Herder und ohne dass Herder davon Kenntnis haben konnte (s. u.), hat Rousseau einen ganz ähnlichen Gedanken zum Ausdruck gebracht: Er bezeichnet das Wort als »la prémiere institution sociale« und leitet die Kommunikation aus dem Bezug zwischen Lebewesen ab, die »sentant, pensant et semblable« sind (Jean-Jacques Rousseau: Essai sur l’Origine des Langues [1781]. In: ders.: Œuvres Complètes, Bd. V. Gallimard, Paris 1995, S. 371–429, hier S. 375; ders.: Essay über den Ursprung der Sprachen. In: ders.: Musik und Sprache. Reclam, Leipzig 1989, S. 99–168, hier S. 99). 85 Herder: Ueber Leibnitzens Grundsätze von der Natur und Gnade. In: ders.: Sämmtliche Werke (Hg. B. Suphan), Bd. 32. Weidmann, Berlin 1899, S. 225–227, hier S. 225 (»[…] sonst wäre jede Monas für sich eine Welt, und mit keiner andern communikabel«); vgl. Kondylis: Die Aufklärung, a. a. O., S. 623. Vgl. Herder: Erkennen und Empfinden, a. a. O., S. 354: »Die Formular-Philosophie, die alles aus sich, aus innerer Vorstellungskraft der Monade herauswindet, hat freilich alle dies nicht nötig, weil sie Alles in sich hat; ich weiß aber nicht, wie es dahin gekommen ist, und sie weiß es selbst nicht.« Vgl. auch Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 697: »So wenig hat uns die Natur, als abgesonderte Steinfelsen, als egoistische Monaden geschaffen!« 83
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vorausgesetzte Prozesse. Vielmehr behauptet er ein Primat der nichtreferentiellen Sprache, also einer Sprache, die im Einklang, in der Gemeinsamkeit, in der Interaktion und nicht im Gegenstandsbezug ihren Ursprung hat. Verbaut ist damit von vornherein der Irrweg, der die Sprache etwa auf einen Namensgeber zurückführt, welcher mit der Bezeichnung von Gegenständen befasst ist. Herder bezieht sich etwa kritisch auf Condillac, der den Einsatz eines Wortes und die Entstehung der Sprache auf den Bezeichnungsakt zurückführt, mit dem der Gegenstand eines Bedürfnisses identifiziert wird. 86 Dem hält Herder entgegen, dass der Verweisungscharakter von Sprache – anders als Condillac dies vorsieht – sekundär ist gegenüber dem Handlungs- und Deutungszusammenhang, in den das Leben eingelassen ist. 87 Herders Kritik an Condillac läuft darauf hinaus, dass die Verständigung zwischen Menschen ihre rein instrumentelle Rolle bei der individuellen Selbsterhaltung abstreift. Bei Condillac wird dieser soziale Zusammenhang an systematisch nachrangiger Stelle als »commerce« eingeführt. Herders Kritik hakt genau an dieser Stelle ein – nämlich bei der Frage, wie die Kinder überhaupt dazu kommen, »gegenseitige Kommerz«, wie Herders Eindeutschung lautet, zu haben. 88 Er sagt: »Ich kann nicht den ersten menschlichen Gedanken denken, nicht das erste besonnene Urteil reihen, ohne daß ich in meiner Seele dialogiere oder zu dialogieren strebe; der erste menschliche Gedanke bereitet also seinem Wesen nach, mit andern dialogieren zu können!« 89 Die Sprache kommt nicht handstreichartig als geistige Kompetenz zu der körperlichen Existenz hinzu, sondern leitet sich aus dem sympathetischen Agieren ab, in dem sich physiologische und soziologische Aspekte verschränken. Die »erste Menschensprache« sei, so liest man bei Herder, »Gesang«, 90 Poesie sei Vgl. Condillac: Essai, a. a. O., S. 187 f.: »Die Perzeption eines Bedürfnisses verknüpfte sich zum Beispiel mit derjenigen eines Gegenstandes, der dazu gedient hatte, es zu befriedigen. […] Ihr gegenseitiger Umgang ließ sie mit den Lautäußerungen einer jeden Leidenschaft die Perzeptionen verbinden, deren natürliche Zeichen sie waren. […] Der andere dieser beiden Menschen war von diesem Anblick betroffen, richtete seine Augen auf den gleichen Gegenstand; er empfand in seiner Seele Gefühle, die er sich noch nicht erklären konnte, er litt darunter, jenen anderen leiden zu sehen. Von diesem Augenblick an fühlt er sich bewogen ihm zu helfen.« 87 Vgl. Taylor: Hegel, a. a. O., S. 36. 88 Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 709. 89 A. a. O., S. 733. 90 A. a. O., S. 741; vgl. Taylor: Hegel, a. a. O., S. 36 f. Es ergibt sich aus Taylors expressi86
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ursprünglicher als Prosa. 91 Diese Auskunft ist keineswegs schwärmerischer Unsinn, sondern ein präziser Hinweis darauf, dass Sprache im Zusammenspiel der Menschen gründet und nicht in objektivierenden Benennungsakten. Dies macht nach Herder auch »die starken kühnen Metaphern in den Wurzeln der Worte« verständlich; sie dienen dazu, die »die Übertragungen aus Gefühl in Gefühl« zu ermöglichen. 92 An dieser Stelle ist ein Seitenblick auf Smith und Rousseau lohnend. So ist bemerkenswert, dass Adam Smith seine sprachphilosophischen Überlegungen »Considerations concerning the first formation of languages« als Anhang in die 3. und alle späteren zu Lebzeiten erschienenen Ausgaben der Theory of moral sentiments aufnimmt – also an die Seite einer Theorie stellt, in deren Zentrum die Sympathie steht. In seinen sprachphilosophischen Überlegungen betont Smith passenderweise die Momente der Nachahmung und der Ähnlichkeit, also gerade die soziale Dimension der Sprache. 93 Eine ähnliche Parallele besteht zwischen Herder und Rousseau. Sie wird freilich nur sichtbar, wenn man einen Umweg einschlägt. Zunächst nämlich stößt man darauf, dass Herder in seiner Schrift über den Ursprung der Sprache, die 1770 entsteht und 1772 erscheint, die Sprachtheorie, die Rousseau im zweiten »Discours« vorlegt, unter die von ihm kritisierten Positionen einreiht. Wenn man freilich prüft, mit welchen Argumenten Herder operiert, dann zeigt sich, dass sie von Rousseau selbst fast gleichlautend vorgetragen werden – freilich nicht im »Discours«, sondern in dem »Essai sur l’Origine des Langues«, der in den 1760er Jahren abgeschlossen, aber erst 1781, also Jahre nach Herders Abhandlung veröffentlicht wird. In diesem »Essai« schreibt Rousseau: »Il est donc à croire que les besoins dictèrent les prémiers gestes et que les passions arrachèrent les premières voix.« 94 Das ist ein durchaus anderer Zungenschlag als er vistischer Herder-Deutung, dass er vom »Gesang« zur »Kunst« überleitet, nicht etwa – was auch naheläge – zum Chorus. 91 Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 740. 92 A. a. O., S. 752. Herders – und auch Wilhelm von Humboldts – Vorläuferrolle für Wittgenstein ist in diesem Zusammenhang immer wieder betont worden; vgl. auch Taylor: Hegel, a. a. O., S. 35. 93 Vgl. Smith: Considerations concerning the first formation of languages [1761]. In: ders.: Works and Correspondance. Vol. IV. Liberty Fund, Indianapolis 1985, S. 201–226. 94 Rousseau: Essai sur l’Origine des Langues, a. a. O., S. 380; ders.: Essay über den Ursprung der Sprachen, a. a. O., S. 104: »Man muß annehmen, daß Bedürfnisse die ersten Gesten diktierten und daß Leidenschaften die ersten Laute hervorriefen.« A
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zuvor im »Discours« zu hören ist, in dem »besoin« und »passion« eng aufeinander bezogen werden. 95 Stark weicht Rousseau im »Essai« von Condillac und auch von Diderot ab, der in seinem »Enzyklopädie«-Artikel behauptet hat, die Sprache leite sich aus dem Bedürfnis ab. 96 Rousseau bemerkt: »Peut-être faudroit-il raisoner sur l’origine des langues tout autrement qu’on n’a fait jusqu’ici. Le genie des langues orientales, les plus anciennes qui nous soient connües, dément absolument la marche didactique qu’on imagine dans leur composition. Ces langues n’ont rien de méthodique et de raisoné; elles sonst vives et figurées. On nous fait du langage des prémiers hommes des langues de Géomètres, et nous voyons que ce furent des langues de Poëtes. Cela dût être. On ne commença pas par raisoner mais par sentir.« Rousseau schlägt hier in die gleiche Kerbe wie Herder mit seiner Unterscheidung zwischen Prosa und Poesie. Weiter heißt es bei ihm: »On prétend que les hommes inventèrent la parole pour exprimer leurs besoins; cette opinion me paroit insoutenable. L’effet naturel des prémiers besoins fut d’écarter les hommes et non de les rapprocher. […] De cela seul il suit avec evidence que l’origine des langues n’est point düe aux prémiers besoins des hommes; il seroit absurde que de la cause qui les écarte vînt le moyen qui les unit. D’où peut donc venir cette origine? Des besoins moraux, des passions. Toutes les passions rapprochent les hommes que la nécessité de chercher à vivre force à se fuir. Ce n’est ni la faim, ni la soif, mais l’amour la haine la pitié la colère qui leur ont arraché les prémières voix.« 97 Vgl. Rousseau: Discours sur l’Origine et les Fondemens de l’Inegalité parmi les Hommes [1755]. In: ders.: Œuvres Complètes, Bd. III. Gallimard, Paris 1964, S. 109–223, hier S. 143. 96 Vgl. die Kommentierung in Rousseau: Œuvres Complètes, Bd. V, a. a. O., S. 1543 f. 97 Rousseau: Essai sur l’Origine des Langues, a. a. O., S. 380; vgl. ähnlich S. 407; vgl. ders.: Essay über den Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 104 f.: »Wir [werden] über den Ursprung der Sprachen vermutlich ganz anders urteilen müssen als bisher. Die Wesensart der orientalischen Sprachen, der ältesten uns bekannten, widerlegt die Hypothese eines didaktischen Weges bei ihrem Zustandekommen. Diese Sprachen nahben nichts von Methode und Überlegung; sie sind lebendig und bildhaft. Man möchte uns die Sprache der ersten Menschen als eine Sprache von Mathematikern hinstellen; wir aber sehen, daß es eine Sprache von Dichtern war. Es mußte so sein. Man beginnt nicht mit dem Nachdenken, sondern bei der Empfindung. Nun wurde aber behauptet, daß die Menschen das Wort erfunden hätten, um ihre Bedürfnisse zu artikulieren. Mir erscheint dieser Standpunkt unhaltbar. Die natürliche Folgewirkung der ersten Bedürfnisse war, daß die Menschen auseinandergingen, und nicht, daß sie zusammenkamen. […] Allein daraus schon folgt mit aller Gewißheit, daß der Ursprung der Sprachen keines95
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Die Theorie menschlicher Selbsterhaltung, die sich nicht in der Berufung auf nackte Bedürfnisse erschöpfen will, kommt ohne sprachliche oder symbolische Formung oder Inszenierung nicht aus. Wenn das Wort »Mitteilungswort« ist, dann heißt dies, dass der Lebensprozess selbst nicht isoliert vor sich geht, sondern immer schon mit anderen geteilt wird. Dies liegt in der Konsequenz einer Theorie der Sympathie, in der Selbstgefühl und Mitgefühl – wie dargestellt – zusammenfinden. Dass die Sympathie damit nicht einer Gleichmacherei Vorschub leistet, in der alle das Gleiche fühlen und das Gleiche sagen, stellt Herder unmissverständlich klar. Keineswegs werden die Unterschiede zwischen Individuen, Sprechenden und Fühlenden eingeebnet. Was Wilhelm von Humboldt sagt, hätte auch Herder sagen können: »Keiner denkt bei dem Wort gerade und genau das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert, wie ein Kreis im Wasser, durch die ganze Sprache fort. Alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen, alle Übereinstimmung in Gedanken und Gefühlen zugleich ein Auseinandergehen«. 98 Was bei Humboldt in der Gegenüberstellung von Übereinstimmung und Auseinandergehen gefasst wird, wird von Herder dutzendfach vorweggenommen in der – bereits erwähnten – Gegenüberstellung von »Anziehung« und »Zurückstoßung«. 99 Hinter dieser Anerkennung von Pluralität steckt nichts anderes als ein Freiheitsbegriff, der bei Herder auf ganz andere Weise eingeführt wird als bei Kant: Er ergibt sich nämlich aus dem Motiv der falls mit den ersten Bedürfnissen der Menschen zu tun hat. Es wäre absurd, wenn aus dem Grund, der sie auseinandertreibt, ein Mittel erwüchse, sie zusammenzuführen. Wo also kann man diesen Ursprung suchen? In moralischen Bedürfnissen, in Leidenschaften. Die Leidenschaften bringen die Menschen einander näher, wie die Notwendigkeit zu leben sie auseinanderzulaufen zwingt. Nicht Hunger oder Durst, sondern Liebe, Haß, Mitleid, Zorn haben ihnen die ersten Worte entrissen.« Diese Überlegung spielt in Derridas Kritik an der materialistischen Auffassung von einem der Sprache vorgelagerten Bedürfnis eine zentrale Rolle; vgl. Jacques Derrida: Grammatologie [1967]. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1983, S. 319 ff. Vgl. zu der umfänglichen Kontroverse um die chronologische und systematische Einordnung des »Essai« und des 2. »Discours« Jean Starobinski: Essai sur l’Origine des Langues [Introduction]. In: Rousseau: Œuvres Complètes, Bd. V, a. a. O., S. CLXV–CCIV, bes. S. CLXXV u. CCII (gegen die »doctrine spontanéiste de la pitié« und zum Junktim von »pitié« und »imagination«). 98 Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. WBG, Darmstadt 2002, Bd. III, S. 439; vgl. Ralf Simon: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder. Meiner, Hamburg 1998, S. 187. 99 Herder: Liebe und Selbstheit, a. a. O., S. S. 407. A
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individuellen Abweichung und Entwicklung, die dem Prozess der »Perfektibilität« eigen sind. 100 Dieser Freiheitsbegriff ist der Kern einer alternativen Beschreibung von Selbstbestimmung, die mit der im Wesentlichen auf Kant zurückgehenden Standardtheorie in Konkurrenz treten kann. Entsprechend führt die Kommunikation nicht zu einem öden Einerlei, einer Menschheit im Unisono, sondern, wie Herder in einer feinen Wendung sagt, zu »konsonen« Erfahrungen. »Einklang« hält er für »weder angenehm noch nützlich, noch möglich. Konsone Töne müssen es sein, die die Melodie des Lebens und des Genusses geben, nicht unisone«. 101 Die Sprachspiele und Lebensformen, in denen sich die Kulturen der Sympathie entfalten, kennen verschiedene Bezüge auf Leid und Freude und unterschiedliche Grade der Identifikation zwischen Menschen. Gemeinsam ist ihnen die Einsicht: »Kein einzelner Mensch ist für sich da« 102 – »Sich allein kann kein Mensch leben, wenn er auch wollte.« 103
100 Vgl. z. B. Ernst Behler: Unendliche Perfektibilität. Europäische Romantik und Französische Revolution. Schöningh, Paderborn u. a. 1989. 101 Vgl. Herder: Liebe und Selbstheit, a. a. O., S. 421; verkannt wird das »Konsone« von Simon: Gedächtnis, a. a. O., S. 164. 102 Herder: Ursprung der Sprache, a. a. O., S. 785. 103 Herder: Briefe zu Beförderung der Humanität, a. a. O., S. 124.
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Von der Kunst zur Erzählung Tolstois Verhältnis zur Natur und seine Kritik der Kultur 1
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Einleitung
Es ist auffällig, wie sehr sich die Generation der Intellektuellen, die auf diejenige Leo Tolstois folgte, mit Tolstois Werk und Person gerade im Zusammenhang mit dem Thema der Natur und Kultur beschäftigt hat. Es handelt sich hier um Denker und Schriftsteller, die nicht nur Tolstois bedeutendes literarisches Werk, sondern auch den Bann kannten, den seine urchristlich-anarchistischen Predigten Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts in der ganzen Welt ausübten. Wenn sie sich für sein Verhältnis zur Natur und Kultur interessierten, dann lag das sicher nicht daran, dass dieses eindeutig bestimmbar gewesen wäre, und das obwohl oder vielleicht gerade weil Tolstoi in den letzten Jahrzehnten seines Lebens alles daran setzte, die Menschheit davon zu überzeugen, dass er diesbezüglich die unumstößliche, universale Wahrheit gefunden hatte. Die Erkenntnis und Verbreitung der universalen – und als solcher einfachen – Wahrheit aber musste, so Tolstois Überzeugung, mit der schärfsten und unerbittlichsten Kritik an den Verhältnissen seiner Zeit einhergehen. In dieser nun versuchte der russische Schriftsteller unter anderem auch den Zusammenhang zwischen der herrschenden sozialen Ungerechtigkeit und der nur einer kleinen Elite zugänglichen zeitgenössischen Kultur aufzudecken. In den letzten drei Jahrzehnten seines Lebens, also zwischen 1880 und 1910, sandte Tolstoi in zahlreichen religiösen und sozialkritischen Die Forschung zu diesem Aufsatz wurde im Rahmen des vom spanischen Ministerium für Wissenschaft und Innovation finanzierten Forschungsprojektes »Memoria cultural e identidades fronterizas: entre la construcción narrativa y el giro icónico« realisiert (Ref.: FFI2008-05054-C02-01). Der Aufsatz wurde in einer spanischen Version bereits unter folgendem Titel veröffentlicht: »Del arte a la narración. La búsqueda de Tolstói de la verdadera naturaleza del hombre«, in: Nina Kréssova (Hg.), »Lev Tolstói en el mundo contemporáneo«, Granada: Comares 2011, S. 137–151.
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Schriften die von ihm gefundene Wahrheit, die dem Leben Sinn verleihen sollte, sowie seine unerbittliche Gesellschaftskritik in Form einer heilbringenden Botschaft an die Menschheit. Der Höhepunkt der Rezeption seiner Botschaft war um die Jahrhundertwende erreicht, als in den gebildeten und akademischen Kreisen Europas Tolstois Lebensauffassung in ihrer Radikalität neben derjenigen seines Antipoden Nietzsche als beachtenswerte Alternative zum kapitalistischen und auch zum sozialistischen Lebens- und Gesellschaftsmodell rezipiert wurde. Es war die Zeit, in der sich in zahlreichen Ländern der Erde im tolstoianischen Geist inspirierte Lebensgemeinschaften bildeten, wie sie diejenige darstellt, der Mahatma Gandhi in Südafrika angehörte; in der unzählige Menschen, die – wie Rainer Maria Rilke und Lou Salomé – zu Tolstois Landsitz Jasnaja Poljana südlich von Moskau pilgerten, um den weltbekannten, weisen Mann zu sehen und zu sprechen; in der sich schließlich auch »Tolstoianer«-Sekten bildeten und wachsende Anhängerschaften entstanden, deren Zuströme sich der alte Schriftsteller kaum erwehren konnte und deren moralisierendes, weinerliches Auftreten er weder schätzte noch billigte. Tolstois Verhältnis zur Natur und Kultur ist komplexer und inkohärenter als es auf den ersten Blick scheinen mag. Intellektuelle des Schlages von Max Weber, Leo Schestow, Thomas Mann, Maxim Gorki oder Georg Lukács werden jedenfalls nicht die Botschaften für sich interessiert haben, die Tolstoi unermüdlich aussandte. Zwar werden sie den intentionalen Inhalt seiner kritischen und moralischen Stellungnahmen beachtet und ernst genommen haben. Doch dieser allein hätte die große Wirkung, die Tolstois Lehre um die Jahrhundertwende ausübte, niemals hervorgebracht, erst recht nicht unter den gebildeten Kreisen. Die sozialkritischen und religiösen Schriften des russischen Schriftstellers waren sämtlich durchzogen von einem ermüdenden, sich wiederholenden Prediger-Stil, den Ludwig Wittgenstein als »schlechtes Theoretisieren« charakterisiert hat, eine Bezeichnung, die auf viele theoretische Schriften Tolstois mit wenigen Ausnahmen, so der von Wittgenstein hoch geschätzten »Kurzen Darlegung des Evangeliums«, zutrifft. Für die weltweite Anhängerschar nun bestand die Faszination sicher nicht in Tolstois anarchistisch-religiöser Botschaft allein, d. i. dem negativen Gebot der Askese und der Nicht-Anwendung von Gewalt gegen das Böse, sowie dem positiven Gebot der alle Menschen verbindenden, hier und jetzt zu verwirklichenden Nächstenliebe. Die un98
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widerstehliche Anziehungskraft des von ihm propagierten Lebensideals hing sicherlich zum großen Teil auch mit der Tatsache zusammen, dass es von einem weltberühmten Schriftsteller stammte, der das gewaltige, einem russischen »Homer« würdige epische Werk »Krieg und Frieden« geschaffen hatte, einem subtilen Kenner des Lebens und der menschlichen Seele, der in »Anna Karenina« die Labyrinthe und Abgründe der Sehnsüchte, Freuden und Qualen der Liebe auf bewegende Weise geschildert und dabei die heuchlerische Verlogenheit und die zerstörerischen, ja tödlichen Gefahren der kultivierten, zivilisierten Gesellschaft schonungslos entlarvt hatte. Die Intellektuellen werden sich weniger für den direkt vermittelten Inhalt der tolstoischen Botschaft interessiert haben als für die verborgenen Zweifel und Fragen, auf denen sie sich gründete und die sie weiter in sich trug. Dieser fragende, offene Kern, den sie enthält, die Suche nach der wahren, möglicherweise unsterblichen Natur des Menschen beschäftigte und verfolgte Tolstoi das ganze Leben lang. Er ist als Frage nach dem Sinn des Lebens, als Suche nach dem eigentlichen, unzerstörbaren existentiellen Kern, der in der Natur des Menschen begründet liegen und eine wahre Kultur hervorbringen soll, bereits in den frühesten literarischen Schriften Tolstois vorhanden. Er ist auch noch in seinen späten moralischen Predigten und öffentlichen Anklagen in Kraft, vielleicht hier sogar am stärksten, da Tolstoi ihn so gebieterisch, ja despotisch zu verbergen und unterdrücken versucht.
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Tolstoi und die Natur
Ilja Repin, der bedeutende sozialrealistische Maler Russlands, zeigt in einem seiner vielen Porträts von Tolstoi den alten Schriftsteller, wie er, unter einem Baum liegend, ein Buch liest, das er in der linken Hand hält (Abb. 1). Die Stellung der sowohl in die Lektüre des Textes als auch in die Farben, Töne, Lichter und Schatten des umgebenden Waldes versunkenen Figur legt eine perfekte Harmonie zwischen physischem Leben und spirituellem Dasein nahe. Eine Vorstudie des Bildes vermittelt durch die freie Linienführung eine noch größere körperlichgeistige Einheit (Abb. 2). In weiteren Gemälden und Zeichnungen zeigt Repin ein anderes Verhältnis zwischen Mensch und Natur, und zwar die Verbindung, die durch die Arbeit hergestellt wird (Abb. 3 und 4). Der alte Tolstoi erscheint in russischen Bauernkleidern, wähA
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Abb. 1: Ilja Repin, Tolstoi während einer Rast im Wald, 1891, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau
Abb. 2: Ilja Repin, Tolstoi im Wald lesend (Vorstudie), 1891, Russisches Museum, St. Petersburg
rend er die Felder pflügt oder mäht, eine Arbeit, der er sich mit Leib und Seele hingibt. Repins Gemälde und Zeichnungen zeigen deutlich die zwei unterschiedlichen Weisen, in denen Tolstoi zur Natur in Beziehung tritt. Die erste führt uns zur Fülle und Mannigfaltigkeit der bestehenden Wirklichkeit. In diese vielgestaltige, wahrnehmbare, sinnliche Welt taucht Tolstoi ein; er erlebt, studiert, beobachtet und schildert sie in all ihren Facetten. 2 Der Schriftsteller ist davon überzeugt, dass das Leben auf In seiner Einführung in den Russischen Realismus lässt Ernest Simmons keinen Zweifel am Ursprung von Tolstois Erzählkunst in der klassischen Schule des russischen Realismus, die mit Puschkin beginnt; doch er hebt auch die tiefen Spuren hervor, die die Lektüre englischer Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, v. a. Sterne, des 19. Jahrhunderts, etwa Thackeray und Dickens, sowie französischer Realisten, wie besonders Stendhal, bei Tolstoi hinterließen. Nach Simmons gab es zu Tolstois Zeiten keinen Romanschriftsteller, der sich der Wirklichkeit bewusster war, die ihn umgab, sowie von der Realität in all ihren Manifestationen intellektuell wie sinnlich eingenommer war als der Autor von »Krieg und Frieden«. Simmons vergleicht Tolstoi mit seinem Kollegen Dostojewski und stellt in diesem Vergleich fest, letzterer schaffe »a world of his own in the image of the real world, Tolstoy accepts the real world, and his picture of it is fresh and interesting because he sees so much more of it than his readers, but its commonplaces, observed
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Abb. 3: Ilja Repin, Tolstoi beim Pflügen in Jasnaja Poljana, 1887, Staatliche Tretjakow Galerie, Moskau
Fig. 4: Ilja Repin, Leo Tolstoi beim Mähen, 1887, Russisches Museum, St. Petersburg
dem Land einen größeren Wert hat als das in der Stadt; und in diesem Sinne zweifelt er nicht daran, dass ein naturverbundenes Leben jeder bürgerlichen Kultur überlegen ist. Wenn nun die farbenreiche, in tausendfache Schattierungen, Einzelheiten und Kontraste aufgefächerte Natur eine so große Faszination auf Tolstoi ausübt, dann hängt das sicherlich nicht zuletzt damit zusammen, dass sie seiner eigenen kräftigen, überschwenglichen, mit empfindlichen Sinnen und starken Trieben ausgestatteten Natur entspricht. Seine ausgeprägte Empfänglichkeit, gepaart mit einer starken sinnlichen Neigung, ruft bei dem Schriftsteller jedoch nicht unbedingt Wohlbefinden hervor. Allzu oft weckt sie in ihm eine nagende Unruhe, die schließlich zu einer radikalen Ablehnung führt. Tolstois Naturverbundenheit erinnert Thomas Mann an diejenige Goethes. In seinem Essay »Goethe und Tolstoi. Fragmente zum Problem der Humanität« stellt der deutsche Schriftsteller Goethe und Tolstoi als vom »Adel der Natur« Ausgezeichnete ihren beiden jeweiligen Gegenpolen Schiller und Dostojewski gegenüber, die dem »Adel des Geistes« zuzurechnen seien. In diesem Sinne bemerkt er, dass Goethe und Tolstoi kaum Anlass hatten, »sich nach der Natur zu sehnen, sie selbst waren Natur. Ihr Bund mit der Natur war nicht einseitig, wie bei Rousseau, oder, wenn doch, so umgekehrt, auf entgegengesetzte through the prism of his imagination, take on new meaning«. Wie Simmons weiter unten hervorhebt, sind Tolstois Bezugspunkte fast immer die Wirklichkeit des Lebens und keine Abstraktionen. Ernest J. Simmons, Introduction to Russian Realism. Pushkin, Gogol, Dostoevsky, Tolstoy, Chekhov, Sholokhov, Bloomington, 1965, S. 136, 162. A
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Weise: die Natur war es, die sie, ihre begünstigten Kinder, liebte und hielt, und sie ihrerseits, gewissermaßen, strebten von ihr, aus der Dumpfheit und Gebundenheit des Naturhaften fort – mit unterschiedlichem Erfolge, […]« 3 . Was das Triebhafte, die Faszination Tolstois für alles Körperliche und Sinnliche betrifft, so stellt Thomas Mann in derselben Schrift fest: »[…] Tolstois Animalismus, sein unerhörtes Interesse für das körperliche Leben, sein Genie im Sichtbarmachen des leiblichen Menschen, ist oft geradezu als anstößig empfunden worden, auch von der russischen Kritik, einer gewissen untergeordneten und feindseligen Kritik natürlich, die zum Beispiel über Anna Karenina schrieb, der Roman sei durchtränkt von dem klassischen Geruch der Kinderwindeln, die sich über die Schlüpfrigkeit mancher seiner Szenen entrüstete und Tolstoi den ironischen Vorwurf machte, er habe vergessen zu beschreiben, wie Anna badet und Wronski sich wäscht – was nicht einmal richtig ist, denn es wird in der Tat erzählt, wie Wronski sich wäscht: wir sehen, wie er seinen roten Körper frottiert. Sogar den Körper des Kaisers Napoleon in ›Krieg und Frieden‹ bekommen wir nackt zu sehen in der Szene, wo er sich den fetten Rücken mit Kölnischem Wasser bespritzen läßt, […].« 4 Die andere Weise, in der Tolstoi zur Natur in Beziehung tritt, dreht sich um die vereinigende Kraft, die er in ihr sucht, eine Natureinheit, die alle Begrenzungen des Lebens übersteigt. Von der Erlangung dieser Einheit und Kraft erhofft sich Tolstoi eine Lösung des großen existentiellen Problems, das mit der Endlichkeit des Lebens verbunden ist und ihn seit seiner Jugend foltert: die quälende Möglichkeit des Verschwindens allen Sinnes nach dem Tod. Die vergänglichen Freuden vermögen die Fragen und Zweifel nicht zu vertreiben, werden sie doch allzu oft von Gewissensqualen begleitet. Sei es nun aus moralischen, existentiellen oder biologischen Gründen – der hoch empfängliche Schriftsteller kann es jedenfalls bei den einzelnen Freuden nicht belassen, die er in ihrer Limitiertheit verdammt. Er will mehr: er will die ganze Fülle, die ganze Natur, das gesamte, unteilbare, unbegrenzte Leben, mit dem jungen Hegel gesprochen: er sehnt sich nach »All-EinThomas Mann, »Goethe und Tolstoi. Fragmente zum Problem der Humanität«, in: ders., Adel des Geistes. Sechzehn Versuche zum Problem der Humanität, Stockholm 1945, S. 180–336, hier: S. 198. 4 Ebda., S. 222. 3
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heit«. Denn Tolstoi, der das Leben liebt bzw. sich sehnlichst wünscht, es ohne jeden Vorbehalt lieben zu können, quält eine ungeheure, maßlose Unruhe. Bis in die letzte Faser seines Seins empfindet er, was Heidegger – übrigens in Auseinandersetzung mit Tolstois Erzählung »Der Tod des Ivan Iljitsch« – als »Angst vor dem Tode« bezeichnet hat, jene ontologische Angst, die Heidegger zufolge das Vorlaufen in die »Möglichkeit der maßlosen Unmöglichkeit der Existenz« bewirkt. 5 Diese ungeheure Möglichkeit stellt nach Heidegger aber eine »Möglichkeit des eigensten Seinkönnens« dar, 6 die der Flucht vor dem Tod und dem ausweichenden Verfallen in die Alltäglichkeit diametral gegenübersteht. 7 Im Gegensatz zu seiner Figur Iwan Iljitsch versucht Tolstoi jedenfalls nicht in die blinde Alltäglichkeit mit ihren betäubenden Mechanismen zu fliehen. Ein derartiges Leben ist zu labil und auf Dauer zu wenig zufriedenstellend, die Angst vor dem Tod dagegen ist stark und unausweichlich. Tolstoi drückt oder versteckt sich nicht; im Gegenteil, er stellt sich unumwunden jenem drängenden Problem, das für ihn nicht nur einen existentiellen, sondern immer auch einen radikal ethischen Sinn hat: die Bedeutung von Leben und Tod und die Frage nach der ethisch richtigen Lebensführung. Wie sehr ihn auch die mannigfaltigen angenehmen Seiten des Lebens, die ästhetischen und sinnlichen Freuden anziehen, er kann es nicht lassen, die Überwindung ihrer Verlockung und eine Verschmelzung mit der einen Natur herbeizuwünschen, die alle Begrenztheit und Vergänglichkeit aufhebt. Der Konflikt, den Tolstoi zu lösen versucht, besteht nun darin, dass er die wahre Natur, d. i. die allgemeine, alles verbindende Grundlage des Lebens, innerhalb und gleichzeitig außerhalb der empirischen Natur sucht. Der Autor von »Krieg und Frieden« ist hin- und hergerissen zwischen der vielfältigen, erfahrbaren Welt der konkreten Tatsachen, Empfindungen und Gefühle, die ihn interessiert und fesselt, und der einen idealen Welt des Geistes, von der er Erlösung von den quälenden Fragen und Zweifeln bezüglich der Begrenztheit der eigeMartin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1993, S. 262. Ebda., S. 264. 7 Vgl. zu Tolstois Vorstellung vom Tod als äußerster Seinsmöglichkeit und vom Sterben als Verfallen in die Alltäglichkeit, sowie Heideggers Aufnahme dieser Ideen in der Todesanalytik von »Sein und Zeit« meinen Aufsatz: Ana María Rabe, »›Muerte‹ y ›morir‹ en Leo Tolstoi y Martín Heidegger«, in: Miguel García-Baró, Ricardo Pinilla, (Hg.), Pensar la vida. Madrid 2003, S. 99–131. 5 6
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nen Existenz erhofft. 8 Zwischen diesen beiden Polen gefangen fahndet er nach einem Prinzip, das alle Grenzen niederzureißen, alles Leben zusammenzubringen und zu vereinigen vermag. Prinzipiell sucht er die Natur in der seienden Wirklichkeit, ein authentisches Leben innerhalb des begrenzten Lebens, das den Tod überwinden und der Jagd nach der persönlichen Befriedigung ein Ende setzen soll, indem es zeigt, worin das wahre Glück besteht. Diese Ausgangslage jedoch führt zu einem Dilemma. Will man nämlich das Prinzip erkennen, das der ersehnten All-Einheit zugrunde liegt, dann kommt man nicht umhin, jenseits der Grenzen und Begrenzungen, die die Vielfalt der Natur besitzt, die Lösung in einer unbegrenzten, geistigen Welt zu suchen. Verlagert man das Gewicht jedoch zu sehr auf das Geistige, so besteht die Gefahr eines Abgleitens in abstrakte Ideen, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben und dem Leben, so wie es sich hier und jetzt auf Erden vollzieht, den Rücken kehren. Die Lösung muss also im diesseitigen, erfahrbaren Leben zu finden sein; und wenn sie auch eine geistige sein muss, da sie das automatisierende Verfallen in die Alltäglichkeit verhindern soll, so kann sie doch keine Verstandeslösung sein, sondern muss sich im Leben des Menschen, und zwar auf natürliche, unmittelbare Weise, zeigen. Seine Skepsis gegenüber den Leistungen des Verstandes bringt der vierzigjährige Tolstoi schon in seinem großen epischen Werk »Krieg und Frieden« zum Ausdruck, in dessen zahlreichen geschichtsphilosophischen Exkursen der Autor den Glauben an die Möglichkeit einer durch Verstand und Willen herbeigeführten Lenkung der Geschichte als Irrglauben zu entlarven versucht.9 Er geht sogar so weit, Verstand und Leben In seinem berühmten Essay »Der Igel und der Fuchs« führt Isaiah Berlin die beiden Fluchtlinien, die in Tolstois Denken und literarischem Werk wirksam sind, auf die entgegengesetzten Tendenzen seines doppelten Charakters zurück, den Berlin mit den Stichworten »Igel« und »Fuchs« kennzeichnet. Während nach Berlins Ausführungen die Menschen, die den Charakter des Igels besitzen, alles mit einer einzigen, zentralen Vision verbinden, einem universalen und organisierenden Prinzip, das von sich aus allem Sinn verleiht, verfolgen die Fuchs-Naturen viele unterschiedliche Ziele, die oft unzusammenhängend und widersprüchlich und nur de facto miteinander verbunden sind. Bezüglich der beiden entgegengesetzten Tendenzen schlägt Berlin nun die These vor, Tolstoi sei von Natur aus ein Fuchs gewesen, der sich aber für einen Igel hielt. Isaiah Berlin, Der Igel und der Fuchs. Essay über Tolstojs Geschichtsverständnis, Frankfurt a. M. 2009. 9 In seiner großen Studie zu Tolstois Schaffensweg in den 60er Jahren beschreibt Boris Eichenbaum minutiös die Entwicklung, die Tolstoi dazu führte, anstelle des anfangs 8
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als sich gegenseitig ausschließende Gegensätze vorzustellen. In diesem Sinne hält Tolstoi im Epilog seines Romans nüchtern und bestimmt fest: »Mit der Annahme, das menschliche Leben könne nach den Grundsätzen des Verstandes geleitet werden, verneint man die Möglichkeit des Lebens selbst.« 10 Wenn Tolstoi mit derart kategorischem Ton spricht, dann darf man daraus nicht entnehmen, dass der Schriftsteller die ersehnte Antwort auf die brennende Frage nach Leben und Tod und der richtigen Lebensführung nicht selbst in Verstandeslösungen gesucht hätte. Wie Tolstoi in seiner 1879 publizierten »Beichte« schreibt, mit der der 51-Jährige seine Bekehrung zum wahren Leben öffentlich bekundet, hat er nacheinander die Erfahrungswissenschaften, die spekulative Philosophie, die Weisheit der Inder und die orthodoxe Theologie intensiv studiert und befragt, ohne jedoch eine Lösung seines Problems gefunden zu haben. Sollte man sie daher nicht vielleicht im Glauben erwarten, einem Glauben, der das einzelne Leben mit dem Ganzen der Natur über das unmittelbare Band des Gefühls vereint? In einer bezeichnenden Stelle von »Krieg und Frieden«, in der die beiden Figuren, in denen Tolstoi sich selbst verkörpert – Pierre Besuchow und Fürst Andrej – über den Sinn des Lebens und die richtige Lebensführung diskutieren, hebt Pierre das Gefühl der Zugehörigkeit zu »diesem ungeheuren, harmonischen Ganzen« hervor, ein Gefühl, dass »ich nicht nur nicht verschwinden kann, sondern daß ich immer sein werde und immer gewesen bin«. 11 Fürst Andrej lässt sich jedoch von Worten nicht überzeugen, mögen sie auch noch so nachdrücklich den Glauben und die Wahrheit beteuern. In der Diskussion über Sinn und Inhalt des Lebens haben die Gesprächspartner diametral entgegengesetzte Antworten vertreten, die sich jedoch beide letztlich als nicht tragfähig erweisen. Der von Fürst geplanten Familienromans einen historischen Roman, besser gesagt: ein modernes Epos zu schreiben. Eichenbaum liefert Einblick in den langen Prozess der Abfassung von »Krieg und Frieden«, in Tolstois eingehende Studien zur Geschichte, den sozialen und politischen Bedingungen jener Epoche und den vielen Lektüren philosophischer und theoretischer Werke, die zur Entwicklung seiner geschichstphilosophischer Position beitrugen. Boris Eikhenbaum, Tolstoi in the Sixties, Übersetzung von D. White, Ann Arbor 1982. 10 Leo Tolstoi, Krieg und Frieden, Übersetzung von Werner Bergengruen, mit einem Nachwort von Heinrich Böll, München 1990, S. 1492. 11 Ebda., S. 512. A
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Andrej vorgebrachte Vorschlag besteht darin, sich »sein Leben so angenehm wie möglich zu machen, […] dieses Leben zu Ende [zu] leben, so gut es eben geht, ohne andere Menschen zu stören«. 12 Pierre dagegen besteht darauf, »daß das einzige wirkliche Glück im Leben in der Freude besteht, etwas Gutes zu tun.« 13 Wir haben hier also auf der einen Seite ein sich bescheidendes Glück für sich selbst, das die Grenzen des Lebens als unüberwindlich ansieht und akzeptiert, und auf der anderen Seite ein Glücksempfinden, das sich von dem Guten ableitet, welches man einem anderen Menschen tut. Keiner von Tolstois alter egos glaubt dem anderen. Mit anderen Worten: Tolstoi kann sich in seinem literarisch gefassten, inneren Dialog für keine der beiden Seiten entscheiden. Die Antworten sind schließlich entweder zu begrenzt, zu wenig zufriedenstellend oder zu rational. Doch die Frage nach dem Sinn und wahren Inhalt des Lebens scheint keine Argumente oder Begründungen zu erlauben. Wenn es überhaupt eine Antwort gibt, dann muss sie in etwas liegen, das man fühlen kann. Und wenn sie tatsächlich im Gefühl erscheint – wenn sie sich »zeigt«, wie der junge Wittgenstein sagen würde – dann kann man nur schweigen. 14 In der eben zitierten Stelle in Krieg und Frieden ist es einzig die Stimme der Natur, die die Autorität besitzt, Stille hervorzurufen und den Glauben an etwas zu übermitteln, das alle Worte übersteigt: die All-Einheit, die Zeit und Raum überwindet. Hören wir, wie sie erscheint: »›Wenn es einen Gott und ein zukünftiges Leben gibt, so gibt es auch Wahrheit und so gibt es auch Tugend‹, sagte Pierre. ›Und des Menschen höchstes Glück liegt ja im Streben nach diesen beiden. Wir Ebda., S. 508. Ebda., S. 506. 14 Vgl. folgende Sätze des Tractatus: »6.521 Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Verschwinden dieses Problems. | (Ist nicht dies der Grund, warum Menschen, denen der Sinn des Lebens nach langen Zweifeln klar wurde, warum diese dann nicht sagen konnten, worin dieser Sinn bestand?) 6.522 Es gibt allerding Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.« Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt a. M. 1984, S. 85. Zu der Bedeutung, die für den jungen Wittgenstein Tolstois Ideen zum Leben und zur Gegenwart, sowie zur Unabhängigkeit der Welt vom menschlichen Willen und von der Kausalität spielten, vgl. folgende Aufsätze: Ana María Rabe, »Welt und Wille bei Wittgenstein und Tolstoi«, in: Avstria kak kulturniy tsentr Evropi, Ekaterinburg 2008, S. 171–183; Ana María Rabe, »›La vida está fuera del tiempo‹. Lev Tolstói entre la práctica vital y la predicación moral«, in: Arbor, Bd. 186, Nr. 745, 2010, S. 947–963. 12 13
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sollen leben, wir sollen lieben und wir sollen glauben, daß wir nicht nur heute leben, nicht nur auf dieser winzigen Erdscholle, sondern daß wir immer gelebt haben und ewig leben werden, dort, im All‹. Und er deutete auf den Himmel. Fürst Andrej stützte sich mit den Ellbogen auf das Geländer des Prahms und hörte Pierre zu. Seine Augen ruhten unverwandt auf dem toten Widerschein der Sonne, der auf der bläulichen Wasserfläche lag. Dann verstummte Pierre, und es war völlig still. Der Prahm lag unbeweglich am Ufer, und nur die Wellen der Strömung schlugen mit sanftem Plätschern gegen seinen Rand. Dem Fürsten Andrej war es, als wollte dieses Plätschern der Wellen zu Pierres Worten hinzusetzen: ›Es ist wahr, glaube es nur.‹« 15 Wir haben gesagt, dass das Gefühl der eigenen Begrenztheit und Unzulänglichkeit Tolstoi dazu brachte, sich die Frage nach dem Sinn und wahren Inhalt des Lebens zu stellen. Im Gefühl musste auch die Antwort liegen, da der Verstand vom Leben wegführt. Doch es musste sich um ein Gefühl handeln, das der Welt des Geistes ebenso wie der der Empfindung angehörte. Gesucht war ein Gefühl von einer Einheit, die in sich alles Begrenzte aufnehmen sollte. In »Krieg und Frieden« erscheint diese Einheit in Form jenes »hohen Himmels«, der sich Fürst Andrej in ausgezeichneten Momenten seines Lebens zeigt und ihn zur Ruhe bringt, oder als jenes »ungeheure, harmonische Ganze«, als dessen Teil sich Pierre in der oben zitierten Stelle empfindet. Es ist bekannt, dass Tolstoi vorhatte, mit »Krieg und Frieden« ein großes Epos zu schaffen, das der Ilias gleichkäme. Zwar sind die langen, durch häufige Wiederholungen desselben Gedankens oft ermüdenden geschichtsphilosophischen Reflexionen der Exkurse und des Epilogs von »Krieg und Frieden« sicherlich kein Kennzeichen eines Epos, sondern eher eines Diskurses, wie er in eine moderne, theoretische Abhandlung gehört. Doch es besteht kein Zweifel, dass das Jahrhundertwerk »Krieg und Frieden« eine epische Größe aufweist, die einzelne Menschenschicksale mit den großen Momenten und Entwicklungen der Geschichte zu verbinden und zwischen ihnen eine unzertrennliche Einheit hervorzubringen vermag. An Stellen, wie der eben zitierten, die das »ungeheure, harmonische Ganze« beschwört, hört man Tolstois Sehnsucht nach dem heraus, was Georg Lukács in seiner »Theorie des Romans« als die homogene, abgerundete Welt des Epos bezeichnet hat, 15
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in der »die Trennung von Mensch und Welt, von Ich und Du […] ihre Einstoffigkeit nicht zu stören« vermag. 16 Wird aber in »Krieg und Frieden« jener »geschlossene Kosmos« tatsächlich erreicht, der Lukács zufolge »in der Handlung der Ilias – ohne Anfang und Schluß – […] zu alles umfassendem Leben« erblüht? 17 Wenn Tolstoi auch ein immenses episches Werk von ungeheurer, das Größte und Kleinste zusammenbringenden Kraft geschaffen hat, so muss man diese Frage dennoch verneinen. Zu groß ist die Spaltung des Lebens, zu groß die Trennung von Mensch und Natur, zu einsam die Suche des auf sich selbst zurückgeworfenen Menschen. Was aber ist Lukács’ Meinung dazu? Im Schlusskapitel seiner »Theorie des Romans« hebt der ungarische Philosoph die »große, wahrhaft epische und von jeder Romanform entfernte Gesinnung Tolstois« an, die einem Leben zustrebt, »das auf die Gemeinschaft gleichempfindender, einfacher, der Natur innig verbundener Menschen gegründet ist, das sich dem großen Rhythmus der Natur anschmiegt, sich in ihrem Takt von Geburt und Vergehen bewegt und alles Kleinliche und Trennende, Zersetzende und Erstarrende der nicht naturhaften Formen aus sich ausschließt«. 18 Doch Tolstoi kann diesem Ideal nicht entsprechen, da er Lukács’ Argumentation gemäß Natur und Kultur voneinander trennt und gegenüberstellt und damit eine Spaltung vollzieht, die die »naturhaft-organische Welt der alten Epopöe« nicht kannte. 19 Nach Lukács’ Ansicht spaltet Tolstoi nicht nur die zur Erreichung der epischen Totalität notwendige Einheit von Natur und Kultur, sondern verwirft darüber hinaus die Welt der Kultur auch noch als »problematisch«. Seiner Meinung nach ist aber eine »Totalität von Menschen und Begebenheiten […] nur auf dem Boden der Kultur […] möglich.« 20 In der Tat muss man Tolstoi als einen der größten und schärfsten gesellschafts- und kulturkritischen Schriftsteller ansehen, die das 19. Jahrhundert hervorgebracht hat. In seinen großen Romanen »Krieg und Frieden«, »Anna Karenina« und »Auferstehung« reißt er die Fassade der höheren Gesellschaft herunter, hinter der sich sinnlose Zerstreuung, Verlogenheit, Egoismus und Bosheit verbergen und die auf Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Hamburg 1994, S. 24. 17 Ebda., S. 46. 18 Ebda., S. 130. 19 Ebda., S. 131. 20 Ebda., S. 131. 16
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dem Boden sozialer Ungleichheit steht. Tolstoi entlarvt die Willkür der Jurisprudenz, den Despotismus der zivilen und russisch-orthodoxen Machthaber, überhaupt die Ungerechtigkeit aller politischen, militärischen und kirchlichen Institutionen. Im Alter, als weltbekannter Prediger des Pazifismus, des Gebots der Gewaltfreiheit, des Vegetarismus und der Askese wird diese verneinende Seite seiner Kritik am deutlichsten hervortreten, vor allem in seinen zahlreichen theoretischen Schriften sozialkritischen, religiösen und moralischen Inhalts, die in verschiedene Sprachen übersetzt werden und sich über die ganze Erde verbreiten. Dieser abschwörende, verneinende Zug des Bildes, das sich viele Zeitgenossen vom alten Tolstoi machen und an dem der russische Schriftsteller selbst nicht unschuldig ist, reizt den Spott und Hohn Nietzsches, der sich in seiner »Genealogie der Moral« und seinem »Antichristen« an verschiedenen Stellen direkt oder indirekt auf die lebensfeindliche, dem »Menschen des Ressentiments« entsprechende tolstoianische Mitleidsmoral bezieht. Und doch hat Nietzsche in den beiden genannten Schriften auch positiv von den Ideen geschöpft, die er aus seinen französischen Exzerpten von Tolstois Schrift »Ma religion« zieht. Diese betreffen vor allem die Lehre des gewaltlosen NichtWiderstrebens gegen das Böse, die in Tolstois ethischer Lehre einen zentralen Stellenwert besitzt und den Prüfstein seiner auf Nächstenliebe beruhenden Lebenspraktik darstellt. 21 Mit der auf Nächstenliebe beruhenden Lebenspraktik Tolstois aber sind wir zum Kern seiner ethischen Lehre, jenes alles Leben vereinigenden Prinzips gelangt, das Tolstoi so verzweifelt innerhalb und gleichzeitig außerhalb der bestehenden, vielfältigen Wirklichkeit gesucht hatte. Die Nächstenliebe ist als die positive Kehrseite jener verneinenden, auf Verbote, Askese und Verzicht ausgerichteten ethischen Lehre zu verstehen, die mit Tolstois schonungsloser Kritik an der Gesellschaft, Kultur und den Institutionen der Macht einhergeht. Wir wollen im Folgenden versuchen, nicht nur das kritische und Schranken setzende negative Umfeld darzulegen, in dem Tolstois Lebenslehre eingebettet ist, sondern auch seine positive Kraft und Bedeutung herauszustellen, die diese sowohl für das individuelle Leben als auch für eine
Vgl. zur Beziehung zwischen Nietzsche und Tolstoi: Ana María Rabe, »El concepto de la vida y del bien en Nietzsche y en Tolstoi«, in: F. Arenas-Dolz, L. Giancristofaro, L. Stellino (Hg.), Nietzsche y la hermenéutica, Valencia 2007, S. 809–818.
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mögliche Vereinigung der beiden von Tolstoi getrennten Seiten besitzt: der Natur und der Kultur.
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In einer Zeichnung, die Repin im Jahre 1908 anfertigte (Abb. 5) sehen wir den alten Tolstoi mit seiner Tochter Alexandra Lwowna Tolstaja am Klavier sitzend. Die Hände des Greisen, der aller Wahrscheinlichkeit nach gerade die Tasten anschlägt, bleiben verborgen. Der ganze Nachdruck fällt auf den Blick: auf die Partitur gerichtet scheint er mehr erleuchtet als konzentriert, so als empfinge er gerade eine besondere Inspiration, einen Ruf, der aus einer spirituellen Welt ertönte und das Herz berührte. Ein Foto, das ein Jahr später, im Jahre 1909, aufgenommen wurde (Abb. 6), zeigt einen anderen Zug Tolstois. Es enthüllt die humorvolle, extrovertierte Seite seines Charakters, seine Erzählkunst und seine Lust an Details und Schattierungen der Wirklichkeit und menschlichen Erfahrung. Es handelt sich um einen Schnappschuss Tschertkows, in dem wir sehen, wie Tolstoi seinen Enkeln die populäre Geschichte der Gurke erzählt. Zwischen diesen beiden Extremen, dem spirituellen, erhöhten, und dem populären, verwurzelten Pol, versucht der Schriftsteller in den letzten Jahrzehnten seines Lebens die Kunst zu verankern. Mit dem zum »hohen Himmel« gewandten Blick, der durch das Idealbild des »ungeheuren, harmonischen Ganzen« geleitet wird, und gleichzeitig mit seinen auf die Erde und das bebende Leben gerichteten Sinnen arbeitet Tolstoi die Prämissen einer Kunst heraus, die das wahre Leben und ein ehrliches, reines Gefühl zum Ausdruck bringen soll. Betrachten wir näher, wie der Schriftsteller zu dieser Haltung kommt, die seine letzten Lebensjahre bestimmt, und kehren wir dazu zu den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts zurück. Tolstois Frage nach dem vereinigenden, alle Grenzen des Lebens überwindenden Prinzip konnte in »Krieg und Frieden« – zumindest für den Schriftsteller selber – nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Der »hohe Himmel« war zu weit entfernt, zu jenseitig und abstrakt. Am Ende blieb der Mensch, der vielleicht in einigen ausgewählten Momenten das flüchtige Glück gehabt hatte, die Erfahrung einer Vereinigung mit jenem fernen Unendlichen zu machen, allein auf der Erde zurück, einsam in der alltäglichen Welt. Ein beständigeres Glück, eine dauerhafte Vereinigung von Leben, schien hier nur noch in einer Weise 110
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Abb. 5: Ilja Repin, Tolstoi und seine Tochter Alexandra L. Tolstaia am Klavier, 1908, Tolstoi-Museum, Jasnaja Poljana
Abb. 6: Tolstoi erzählt seinen Enkeln die Geschichte der Gurke, Fotografie von V. G. Tschertkow in Kekschino (Moskauer Region), 1909
möglich: in Form eines auf gegenseitiger Hingabe gegründeten Familienlebens. In diesem Bereich der Fortpflanzung und sich gegenseitig achtenden Liebe, des Auf- und Erziehens der Kinder, der täglichen Sorge um das leibliche wie geistige Wohl der Familienmitglieder, war noch eine – freilich bescheidene – Vereinigung von Natur und Kultur möglich. Um dieses Familienglücks willen und um den Verlockungen und Gefahren der Gesellschaft zu entgehen, musste Natascha, Tolstois Lieblingsfigur in Krieg und Frieden, die am Ende des Romans zur glücklichen Ehefrau und mehrfachen Mutter wird, auf alles verzichten, was ein Verfallen in die Gesellschaft und ihre dekadenten kulturellen und ästhetischen Werte befördern könnte. Natascha, dieses zu großer Fröhlichkeit und starken Gefühlen fähige Wesen, hat als junges Mädchen die Freuden der höheren Gesellschaft aus vollem Herzen genossen. Tolstois strahlende Figur, die Leidenschaft, Empfindsamkeit und natürliche Spontaneität und damit die individualisierte Natur in reinster Weise verkörpert, erfährt mit der Erfahrung des Glücks, das das Familienleben bereitet, eine große Veränderung. Dieses von der Natur geliebte Kind wird selbst zu einer Verkörperung der großzügigen, erzeugenden Natur, da die unbändigen, nicht zu stillenden Triebe von einst sich in Fruchtbarkeit umwandeln A
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und – wie Tolstoi sagt – vom »unaufhörlich brennenden Feuer der Munterkeit und des Lebens« nur noch »das starke, schöne, fruchtbare Weib« sichtbar ist, das sich nicht mehr schmücken und das nicht mehr locken muss. 22 Natascha verändert sich nicht nur körperlich und verzichtet in dieser Hinsicht nicht nur auf die Verstärkung ihrer natürlichen Reize. Sie verzichtet auch auf alle für die Kultur der oberen Gesellschaftsschicht charakteristischen Momente, und zwar sowohl auf die niedriger zu bewertenden, wie die dort herrschenden speziellen »Manieren«, die »besondere Delikatesse im Reden« oder die ausgewählte »Toilette«, 23 als auch auf die höhere Form der Kultur: die Kunst. Im Falle Nataschas ist es die Musik, die sich in ihrem Talent für den Gesang niederschlägt und das stärkste, die Sinne reizende und die eigene Eitelkeit verstärkende »Lockmittel« ist, das Natascha in der Gesellschaft besessen hat. Alle diese Momente – sowohl die niedrigen als auch die hohen künstlerischen Formen einer Kultur, die nur einer kleinen Elite, der herrschenden Klasse, vorbehalten sind – bringen nach Tolstois Ansicht letztlich nur Trennung, Vereinzelung, ein im Leben sterbendes Verfallen hervor. 24 Ein ähnliches Schicksal ereilt auch die Person, deren Liebe auf reiner Leidenschaft gegründet ist und die glaubt, dass sie kraft dieser Liebe alle Grenzen der Gesellschaft und des Lebens überwinden kann. Tolstoi zeigt, dass eine derartige, leidenschaftliche Liebe nicht nur in die Einsamkeit, sondern geradewegs in den Tod führt, wenn sie es aus natürlichen oder gesellschaftlichen Gründen nicht schafft, den GefahL. Tolstoi, Krieg und Frieden, a. a. O., S. 1523. Ebda., S. 1524. 24 Ein Jahr nach Tolstois Tod veröffentlichte der russische Philosoph, Dichter und Historiker Wjatscheslaw Iwanow in der deutschen Zeitschrift Logos einen Artikel zu Tolstois kritischer Auffassung von der Kultur. Indem er auf die verschlungene Beziehung zwischen der Musik und den weiblichen Lockmitteln in Tolstois Kulturkritik hinweist, prangert der Autor des Artikels nicht ohne gewisse Übertreibung Tolstois unerbittliche Verdammung der Reize der Frau und der Musik an, die ihn gleichzeitig so fasziniert haben mussten. So stellt Iwan Wjatscheslaw Iwanow Folgendes fest: »Die ›Kreuzersonate‹, diese logische Folge aus ›Anna Karenina‹ zeigt, wie er sich losrang von den Geheimnissen und Reizen des Geschlechtes, damit aber auch von der Macht der Musik, wie er das Heilige ertötete, das Heiligtum der Liebe und der Weiblichkeit – wie er sich gewalttätig aus den zarten Banden befreite, wie er sich ohne Segen trennte und ihn von sich warf, den verspotteten toten Leib des unlängst atmenden Lebens.« Wjatscheslaw Iwanow, »L. Tolstoj und die Kultur«, in: Logos, Nr. II, 1911/12, S. 13–191, hier: S. 181. 22 23
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ren der eigenen unbändigen Natur wie der falschen Kultur einer heuchlerischen Gesellschaft zu entgehen; mit anderen Worten: wenn sie Glück, Harmonie und Ruhe nicht findet, die das erfüllte Familienleben mit seiner auf Hingabe gegründeten Liebe bietet. 25 Dieser Weg in den Tod ist nun genau das Schicksal, das Anna Karenina erfährt, die Hauptfigur des gleichnamigen Romans, den Tolstoi nach »Krieg und Frieden« schreibt und der 1878 erstmals in Buchform erscheint. Anna ist Opfer in zweierlei Hinsicht: Sie ist das Opfer einer grausamen Gesellschaft, die alle Mitglieder aus- und verstößt, welche sich nicht an ihre heuchlerischen Spielregeln halten; und sie ist zugleich Opfer ihrer eigenen leidenschaftlichen Natur, die sie in den Tod führt. Lewin, die andere Hauptfigur des Romans und alter ego Tolstois in »Anna Karenina«, findet zwar das Glück in der Ehe und im Familienleben. Doch auch nach der Heirat bleibt er ein Suchender. Die Natur, die er liebt und die seine Seelenstimmungen widerspiegelt, sowie das Landleben, das er in der im Einklang mit der Natur verrichteten Arbeit des Bauern idealisiert, können ihm die Frage nach dem Sinn und wahren Inhalt des Lebens ebenso wenig beantworten wie das Familienleben, das letztlich ebenfalls unüberschreitbare innere und äußere Grenzen besitzt. Am Ende des Romans vernimmt Lewin schließlich aus dem Munde eines Bauern die »einfache Wahrheit«, dass der Mensch für die Seele leben und an Gott denken müsse. Was aber bedeutet das? Eine Abkehr von Welt, Natur und Mensch etwa? Natürlich nicht. Die Antwort muss sich in diesem Leben und in dieser Welt erfüllen, da die Frage ja dieses aktuelle Leben hier auf Erden betrifft. Sicherlich liegt sie im Geiste. Um nicht lebensfern zu werden, muss sie jedoch ebenso in der Natur begründet sein. Betrachten wir alle positiven Bedingungen, die bisher an die ersehnte Antwort gestellt wurden. Gesucht wird ein Prinzip oder Element, das Grenzen überschreitet und Leben miteinander verbindet. Es muss im Gefühl liegen, da der Verstand vom Leben wegführt. Schließlich entsprang das Suchen, wie Tolstoi in seiner nach »Anna Karenina« verfaßten öffentlichen »Beichte« schreibt, »nicht dem Gang meiner
Vgl. folgende Stelle in »Krieg und Frieden«, in der Pierre sich seines verstorbenen Freundes Platon Karatajew erinnert: »Was er gutheißen würde, das ist unser Familienleben. Es lag ihm so sehr viel daran, in allem Harmonie, Glück, Ruhe zu sehen, und ich hätte ihm mit Stolz unser Zusammenleben gezeigt.« L. Tolstoi, Krieg und Frieden, a. a. O., S. 1554.
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Gedanken – es stand sogar in geradem Gegensatz zu ihm – es entsprang vielmehr dem Herzen«. 26 Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens muss im Herzen liegen, in einem sublimierten Gefühl, das der geistigen wie der emotionalen Welt angehört. Um die Vereinzelung zu vermeiden, die wiederum Grenzen hervorbringt, muss es ein Gefühl sein, das einer prinzipiell grenzenlosen Vereinigung von Menschen entspringt und von ihnen in dieser Vereinigung gleichermaßen empfunden wird. Tolstoi findet es in einer bestimmten Form von Liebe, die alle lebenden Wesen vereint. So stellt er in »Meiner Beichte« fest: »Ich sagte mir, die göttliche Wahrheit könne einem Menschen nicht zugänglich sein – sie enthülle sich nur einer ganzen Gemeinschaft von Menschen, die die Liebe vereinigt.« 27 Liebe im eigentlichen Sinne ist für Tolstoi das, was man dem Nächsten schenkt und wodurch ein »Leben außerhalb der Persönlichkeit«, die Verwirklichung eines »allen Menschen gemeinsamen Lebens« erreicht wird. 28 Das bedeutet, dass man niemandem etwas zuleide tun darf, auch wenn es der ärgste Feind ist. Positiv betrachtet liegt der Sinn dieser Liebe in der aktiven, im alltäglichen Leben sich äußernden Bereitschaft für den anderen da zu sein, ihm beizustehen und mit ihm alles zu teilen, was man hat. Tolstoi vertritt damit eine bis in ihre letzten Konsequenzen gedachte christliche Nächstenliebe. Kernpunkt dieser zu praktizierenden Liebe, die alles auf das diesseitige Leben setzt und die Versprechungen eines jenseitigen Lebens ablehnt, ist die Verborgenheit, in der das Gute zu tun ist. Denn wahre Nächstenliebe zeigt sich erst da vollkommen, wo sie sich ganz natürlich, d. i. ohne Eitelkeit, Bewusstsein der eigenen Tugendhaftigkeit, ja ohne irgendeine Erwägung persönlichen Nutzens oder privater Befriedigung äußert. Sie muss direkt dem Herzen entspringen; erst dann ist die wahre Natur, die vollkommene, Grenzen überwindende Einheit des Lebens erreicht. Die fruchtbare, bewusstlose Nächstenliebe klingt freilich schon in früheren Werken an, lange bevor Tolstoi sich zu ihr in seiner »Beichte« öffentlich bekennt. So heißt es gegen Ende von »Krieg und Frieden« von Nikolai Rostow, dem Bruder Nataschas: »Und dass Nikolai nie auf den Gedanken verfiel, er täte irgend etwas um der andern, um der Tugend willen, das war wohl gerade der Grund, weshalb alles, was er 26 27 28
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Leo N. Tolstoi, Meine Beichte, München 1990, S. 108. Ebda., S. 120. Leo Tolstoi, Kurze Darlegung des Evangeliums, Leipzig 1898, S. 9.
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tat, so gute Früchte trug: sein Vermögen wuchs rasch, Bauern aus den Nachbardörfern kamen und baten, er möchte sie doch kaufen, und noch lange nach seinem Tode hielten die Leute das Andenken seiner Tätigkeit in hohen Ehren.« 29 Was aber passiert, wenn die durch das Band der Nächstenliebe mögliche Vereinigung des Lebens nicht hergestellt ist? Die Gemeinschaft der in der Liebe vereinten Menschen, von der Tolstoi in seiner »Beichte« und den danach verfassten theoretischen Schriften spricht, ist doch im Grunde eine Utopie, die Idealvorstellung eines menschlichen Zusammenlebens, in dem die Nächstenliebe den tragenden Naturzustand darstellt. Da dieser aber nicht gegeben ist, muss eine Kultur geschaffen werden, die Möglichkeiten und Perspektiven eines auf Nächstenliebe gegründeten menschlichen Zusammenlebens aufzeigt. Eine solche Kultur muss die grundlegenden natürlichen Elemente der Nächstenliebe enthalten, um wirksam werden zu können und nicht auf einer anderen, vom Leben abgeschiedenen Ebene zu verbleiben. Sie darf daher niemanden ausschließen, muss vereinigend wirken und sich unmittelbar, d. h. direkt über das Gefühl äußern. Nach Tolstois Meinung, die sich von seiner öffentlichen »Beichte« an festigt und radikalisiert, werden diese Kriterien aber in der Kunst seit der Renaissance nur in seltenen Ausnahmen erfüllt. In einer theoretischen Abhandlung zur Kunst, an der Tolstoi 15 Jahre lang arbeitet und die er schließlich 1897 fertigstellt, kritisiert der Schriftsteller die Exklusivität einer Kunst, die für eine Elite geschaffen wird und sich dabei auf die Ausbeutung ganzer Menschenmassen stützt, die keinen Zugang zu ihr haben und ohnehin ihren Sinn nicht verstehen könnten. Tolstoi ist nicht gegen jegliche Form von Kunst. In seiner Abhandlung hebt er die Kunst im Gegenteil als das »geistige Organ des menschlichen Lebens« 30 hervor, das nicht vernichtet werden könne. Es geht ihm aber darum, jene Kunst als die einzig wahre herauszustellen, die die Kriterien der Nächstenliebe erfüllt. Da Tolstoi letztere als vereinigendes Band zwischen allen Menschen ohne jede Ausnahme versteht, ist er davon überzeugt, dass große Kunstwerke nur deshalb groß sind, »weil sie allen zugänglich und verständlich sind«. 31 Wie die »Iliade, die Odyssee, die Geschichte Jakobs, Isaaks, Josephs und die hebräi29 30 31
L. Tolstoi, Krieg und Frieden, a. a. O., S. 1513. Leo N. Tolstoi, Was ist Kunst?, München 1993, S. 270. Ebda., S. 145. A
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schen Propheten, die Psalmen und evangelischen Gleichnisse, die Geschichte von Sakia-Muni und die Hymnen der Veden« gibt wahre Kunst die Gefühle wieder, die »dem religiösen Bewußtsein der Menschen entströmen«. 32 Die von Tolstoi von jeher ersehnte Vereinigung mit jenem »ungeheuren, harmonischen Ganzen«, die All-Einheit von Natur und Leben, in der alle Trennungen und Grenzen aufgehoben sind, kehrt in seiner Auffassung einer Kunst wieder, die aus dem einen naturhaften Leben entspringt und in dieses wieder zurückführt. So heißt es in »Was ist Kunst?«: »Die Ursache des Erscheinens echter Kunst ist das innere Bedürfnis, das angesammelte Gefühl zu äußern, wie bei der Mutter die Ursache des geschlechtlichen Empfängnis die Liebe ist. Die Ursache der gefälschten Kunst ist der Eigennutz, ebenso wie bei der Prostitution. | Die Folge der wahren Kunst ist ein neues Gefühl, das in den Kreislauf des Lebens eingeführt ist, wie die Folge der Liebe einer Frau die Geburt eines neuen Menschen für das Leben ist. Die Folge der gefälschten Kunst ist die Verführung des Menschen, die Unersättlichkeit an Vergnügungen, die Schwächung der geistigen Kräfte des Menschen.« 33 Es geht also in der Kunst darum, ein reines, unverfälschtes Gefühl zum Ausdruck zu bringen und dasselbe Gefühl dem Nächsten zu vermitteln, und zwar so, dass sich eine Vereinigung, eine »Verschmelzung« 34 der Persönlichkeit des Künstlers mit den Empfängern ereignet. Mit einer dem semantischen Umfeld der Natur entnommenen Terminologie spricht Tolstoi hier auch von der »Ansteckungsfähigkeit« 35 , die die Kunst besitzen muss. Idealerweise empfindet der Empfänger die gefühlsmäßig vermittelte Botschaft so, als stamme sie von ihm selber. Dieses unmittelbare, in der Gemeinschaft gleich empfindender Menschen sich vollziehende Empfangen von Inhalten, die die Einheit und harmonische Geschlossenheit der Natur und des in ihr enthaltenen Lebens vermitteln, erinnert an die auratische Erfahrung, welche nach Walter Benjamin einst der Erzähler mit den Hörern und sie alle mit der gesamten Natur und Welt verbindet, wobei sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das Größte und Kleinste in gegenseitiger Durch-
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Ebda., S. 146. Ebda., S. 273. Ebda., S. 219. Ebda., S. 219.
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dringung vereinen. 36 In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Tolstoi als Beispiel der universellen Kunst, so wie sie ihm vorschwebt, die alttestamentliche Geschichte des Joseph von Ägypten anführt. Wie Tolstoi bemerkt, ist in ihr alles »so zurückhaltend und ohne überflüssige Einzelheiten beschrieben, daß man die Erzählung in jeden beliebigen Kreis übertragen kann und sie wird für alle in gleicher Weise verständlich und rührend sein.« 37 Die Bedeutung der natürlichen Schlichtheit, die Weitergabe eines einfachen, unverfälschten Gefühls erscheint auch in einem Brief, den Gorki 1910 unter dem Eindruck von Tolstois Tod schreibt und in dem er seine Erinnerungen an den großen Schriftsteller festhält. Gorki gemäß soll der Autor von »Krieg und Frieden« eines Tages folgende Bemerkung gemacht haben: »Es ist sonderbar, daß er [Dostojewski] so viel gelesen wird. Ich begreife nicht warum. Es ist alles peinlich und unnütz, denn alle diese Idioten, Jünglinge, Raskolnikows und die übrigen, sie sind nicht wirklich; es ist alles viel einfacher, viel verständlicher. Schade, daß die Leute nicht Ljeskow lesen, das ist ein wirklicher Dichter – haben Sie ihn gelesen?« 38 In seinem Essay »Der Erzähler« zitiert Benjamin einen Hinweis Gorkis, der wie ein Nachhall des tolstoischen Interesses an Lesskow klingt, einem Erzähler, der für das Volk schreibt und vom Volk ausgeht: »›Lesskow, schreibt Gorki, ist der am tiefsten im […] Volke wurzelnde Schriftsteller und von allen fremden Einflüssen unberührt.‹« 39 Der Er-
Die Überwindung der zeitlichen und räumlichen Distanzen, die durch die Vereinigung von Erzählerschaft, und Hörerschaft, Bewahrung und Wiedergabe erreicht wird, führt Benjamin dazu, das Gedächtnis als episches Vermögen schlechthin herauszuheben. In diesem Sinne stellt er in »Der Erzähler« fest: »Man hat sich selten darüber Rechenschaft abgelegt, daß das naive Verhältnis des Hörers zu dem Erzähler von dem Interesse, das Erzählte zu behalten, beherrscht wird. Der Angelpunkt für den unbefangenen Zuhörer ist, der Möglichkeit der Wiedergabe sich zu versichern. Das Gedächtnis ist das epische Vermögen vor allen anderen. Nur dank eines umfassenden Gedächtnisses kann die Epik einerseits den Lauf der Dinge sich zu eigen, andererseits mit deren Hinschwinden, mit der Gewalt des Todes ihren Frieden machen. […] Die Erinnerung stiftet die Kette der Tradition, welche das Geschehene von Geschlecht zu Geschlecht weiterleitet. Sie ist das Musische der Epik im weiteren Sinne.« Walter Benjamin, »Der Erzähler«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, 2, Frankfurt a. M., 1991, S. 438–465, hier: S. 453. 37 L. Tolstoi, Was ist Kunst?, a. a. O., S. 241. 38 Maxim Gorki, »Erinnerungen an Tolstoi«, in: Der Neue Merkur, Nr. April–September, 1920/1970, S. 289. 39 W. Benjamin, »Der Erzähler«, a. a. O., S. 457. 36
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zähler Nikolai Lesskow dient Benjamin als Ausgangspunkt zur Entwicklung seiner Gedanken zu der in der Gegenwart so gut wie verschwundenen, vom Roman und seinen einsamen Helden verdrängten Erzählkunst. Was nun Tolstois Meinung zu Dostojewski betrifft, so ist hervorzuheben, dass dieser von ihm mehr geschätzt wurde als Gorkis Zitat nahelegt. Aufgrund seiner späten Kunstauffassung, die das einfache und unmittelbare Gefühl propagierte, musste Tolstoi die komplexen Romane seines Kollegen jedoch verwerfen, so wie er auch schonungslose Kritik an seinen eigenen früheren Werken, vor allem den großen epischen Romanen trieb. Es sollten die von Mund zu Mund gehenden, Erzähler und Hörer, Zeiten und Räume verbindenden Volkserzählungen sein, die Tolstoi als die geeignetste Form zur Realisierung seines existentiellen, kulturellen und ethischen Ideals erscheinen würden. Aus diesen vom Volk und für das Volk erzählten Geschichten heraus sollte sich eine Kultur entwickeln, die in Harmonie mit der Natur auf einem alle Menschen vereinenden Gefühl gründen sollte. Dementsprechend pflegte Tolstoi in den letzten Jahrzehnten seines Lebens die Kunst der Volkserzählung, lauschte den Geschichten, die ihm zu Ohren kamen, notierte sie und gab ihnen eine so schlichte wie tiefe literarische Form. Dennoch entstanden auch nach der öffentlichen »Beichte« im Jahre 1879, in der Tolstoi die hohe Kunst und seine eigene bisherige schriftstellerische Produktion verurteilt, Romane und Erzählungen mit einem literarisch ausgereiften Stil und Aufbau. Der russische Schriftsteller, der sich als 36-Jähriger an die Schaffung eines gewaltigen modernen Epos zum napoleonischen Russland-Feldzug gesetzt hatte, schrieb auch in den letzten Jahrzehnten seines Lebens große Werke wie etwa im Jahre 1899 den Roman »Auferstehung«, dessen Form und Botschaft durch die moralischen und ethischen Überzeugungen des Autors deutlich geprägt sind, oder den späten, 1896–1904 verfassten Roman »Hadschi Murat«, der – ganz anders geartet – die Authentizität und tragische Schönheit der Naturkräfte besingt, die im Menschen liegen können. Es entstehen meisterhafte Erzählungen wie »Der Tod des Iwan Iljitsch«, ein Werk, in dem es Tolstoi gelingt, seiner Auffassung von Leben und Tod eine eindringliche, das Gefühl unmittelbar ansprechende Stimme zu geben. Doch sind es sicherlich die Volkserzählungen mit ihrer ebenso einfachen wie tiefen Form, in denen er seinen an die Kunst gestellten Ansprüchen am nächsten gekommen ist: der Weitergabe eines vereinigenden Gefühls mittels einer 118
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Sprache, die sich direkt an das Herz des Lesers wendet und so eine universelle Dimension eröffnet.
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Schlussgedanken
Wenn Tolstoi auch in seiner »Beichte« sein früheres Leben als sündhaft und egoistisch verdammt und sein bis dahin geschaffenes literarisches Werk als schlecht und exklusiv verurteilt hatte, wenn er sich in der Folgezeit auch als neuer Mensch auszugeben versuchte, der nichts mit dem früheren Repräsentanten des hohen russischen Adels und der elitären Kunst zu tun hatte, so konnte er doch seine eigene Natur, die ihm mitgegeben war, und ebensowenig die Kultur, die ihn geformt und geprägt hatte, nicht einfach abschütteln. Wie Leo Schestow 1900 gezeigt hat, stellen die Natur und Kultur Tolstois – positiv oder negativ – die Grundlage für sein gesamtes Werk dar, handle es sich um die frühen oder die späten literarischen Erzeugnisse, um sein belletristisches oder theoretisches Werk. 40 Wenn wir daher den alten Tolstoi in seinen theoretischen Schriften die sinnlichen, triebhaften Freuden, die die Natur dem menschlichen Leben schenkt, vehement und unerbittlich verdammen hören, dann dürfen wir die Fährten nicht vergessen, die uns in seinen Romanen und Erzählungen mitten in eine pulsierende Natur führen und die farben- und freudenreiche Welt der Sinne empfinden und genießen lassen. Und wenn wir seine späte, scharfe Kritik an einer Kunst und Kultur vernehmen, die auf sozialen Mißständen und Ungleichheiten beruht, dann können wir doch den unschätzbaren Beitrag nicht leugnen, den Tolstoi mit seinem Werk für die Kunst und Kultur der Menschheit geliefert hat. Vor allem aber muss man das Urteil nicht übernehmen, das der alte Tolstoi über seine eigene Vergangenheit und die von ihm geschaffenen frühen Werke fällt, ein Urteil, mit dem er den Schein geben wollte, als wäre die eigene, lebenslange Suche nach dem Sinn und wahren Inhalt des Lebens nach seiner Bekehrung endgültig beantwortet und befriedigt gewesen. Nach seiner öffentlichen »Beichte« unternahm Tolstoi zwar alles, um den von ihm propagierten Schritt vom Kunstwerk im Sinne eines autonomen, für elitäre Kreise bestimmten Erzeugnisses zu einer Kunst Leo Schestow, Tolstoi und Nietzsche. Die Idee des Guten in ihren Lehren, München 1994.
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zu vollziehen, die allen Menschen offensteht, von allen gleichermaßen empfunden wird und somit verbindend wirkt. Er versuchte, jenem Ideal universeller Kunst zu entsprechen, das er in seiner Schrift »Was ist Kunst?« in der alttestamentlichen Josephs-Erzählung paradigmatisch verkörpert sah, und griff – wie wir gezeigt haben – auf literarischem Gebiet auf Volkserzählungen zurück, deren religiösen und humanen Kern er in einer wunderbaren, allgemein verständlichen Sprache fasste. Wenn in ihnen die großen, den Sinn des Lebens suchenden Figuren der frühen Romane – Pierre, Andreij, Lewin, jene alter egos Tolstois – auch fehlen, so heißt das doch nicht, dass sie alle Fragen beantworten und jene Suche beenden konnten, die den Nährboden von Tolstois gesamtem Werk ausmacht: die Suche nach einer unzerstörbaren All-Einheit, in der die gesamte Natur eingebunden, die Teilung des Lebens überwunden ist. Als ewiger Wanderer auf der Suche nach All-Einheit, einer Suche, die dem Naturell Tolstois entsprach und sich in seinem persönlichen Leben niederschlug, erscheint der berühmte russische Schriftsteller auch in Maxim Gorkis Nachruf, in denen dieser sich erinnert: »Der alte Magier steht vor mir, ein Fremder allen, ein einsamer Wanderer durch die Wüsten des Denkens auf der Suche nach einer allumfassenden Wahrheit, die er nicht gefunden hat –.« 41 Nun denke man nicht, Tolstoi habe in der Wüste des Denkens, in der er die Antwort auf seine Suche zu finden hoffte, das Leben – das wirkliche, unverfälschte, unmittelbare Leben, das er doch so sehr liebte – vergessen. Dass dies keineswegs der Fall war, zeigt Gorki an einer späteren Stelle seines Nachrufs, in der er ein Gespräch mit dem alten Tolstoi über das Verhältnis von Literatur und Wahrheit wiedergibt. So schreibt Gorki: »Er [Tolstoi] tadelte oft die Übertreibungen in meinen Erzählungen, aber einmal, wir sprachen gerade von den ›Toten Seelen‹, sagte er mit gutmütigem Lächeln: | ›Wir sind alle entsetzliche Lügner. Ich selbst, wenn ich schreibe, fühle plötzlich Mitleid für eine Figur, und dann gebe ich ihr eine gute Eigenschaft oder ich nehme eine gute Eigenschaft von jemand anderem, so daß sie im Vergleich nicht zu schwarz erscheint.‹ Dann mit dem strengen Ton eines unerbittlichen Richters: ›Darum sage ich, Kunst ist Lüge, ein willkürlicher, schädlicher Betrug. Man schreibt nicht, was das wirkliche Leben ist, sondern einfach, was man selber vom Leben denkt. Was geht es einen Menschen
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M. Gorki, Erinnerungen an Tolstoi, a. a. O., S. 290.
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Von der Kunst zur Erzählung
an, wie ich diesen Turm oder See oder Tataren sehe – was für Interesse oder Nutzen ist darin.‹« 42 Was aber ist Tolstois Konsequenz aus der Erkenntnis, dass die hohe Literatur, das Denken und damit die auf der Verstandestätigkeit ruhende menschliche Kultur die wahre Natur – das wirkliche Leben – verfälscht? Jener Suchende nach der einen, allumfassenden Wahrheit, der in seinen moralischen Schriften die Lösung im Geistigen predigt, kann die Wahrheit nicht vergessen, die die Fülle des Lebens und der Natur betrifft, eine Fülle, über die es zu schreiben gilt. Allen Zweifeln und Vorbehalten zum Trotz und alle moralischen und ethischen Idealvorstellungen hinter sich lassend, gibt der alte Tolstoi schließlich seiner unersättlichen Liebe zur Authentizität, zur unverfälschten Wiedergabe der ganzen Wahrheit nach und stellt fest: »›… es ist eine Schande über Schmutz zu schreiben. Aber zuletzt, warum nicht darüber schreiben? Ja, es ist notwendig – alles muß man schreiben, und über alles – alles.‹ […] sonst könnte dieser hübsche kleine Junge zu Schaden kommen, könnte uns Vorwürfe machen – ›es ist unwahr, es ist nicht die ganze Wahrheit‹, wird er sagen. Er ist streng für Wahrheit.« 43
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Ebda., S. 292 f. Ebda, S. 294. A
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Gefühle als Triebfedern der Moral Über die moralische Funktion der Gefühle 1
1.
Der Ort des Gefühls in der Moral: Fragestellung und Perspektiven
Die doppelte Bestimmung des Menschen als Natur- und Kulturwesen zugleich tritt wohl bei kaum einem anderen Phänomen so deutlich zutage wie bei den Gefühlen. Auf den ersten Blick sind die Gefühle bloße Neigungen und leibliche Reaktionen auf Reize der Umwelt, die spontan entstehen und fast instinkthaft verlaufen. Aus dieser Perspektive sind die Gefühle etwas, das der Mensch mit dem Tier gemein hat, sie sind triebhafte Reaktionen und als solche Objekt der empirischen Wissenschaften. Diese Auffassung wird aber dem Phänomen der Gefühle nicht gerecht. Denn die Welt bietet sich Mensch und Tier auf verschiedene Weise dar. Dem Menschen ist nicht nur Reaktion und Anpassung gegenüber der Umwelt möglich, sondern wir besitzen auch die Möglichkeit, die uns gegebenen Umstände zu transzendieren und eine eigene menschliche Realität aufzubauen. Die Gefühle sind zwar Teil des menschlichen biologischen Programms und sie mögen auch biologisch bedingt sein. Sie erhalten aber in dieser menschlichen Welt eine Bedeutung, die ihre biologische Funktion übersteigt und die unbeachtet bleibt, wenn wir die Gefühle als bloße animalische Triebe verstehen. Das affektive Programm, mit welchem die Menschen ausgerüstet sind, bekommt in der menschlichen Welt eine neue Bedeutung. Die Welt bietet sich dem Menschen nicht als ein neutraler Horizont dar, sondern als eine Welt, die mit bestimmten affektiven Qualitäten gefärbt ist, als eine Welt mit Werten. Diese Werte präsentieren sich mit einer großen Nuanciertheit und mit zahlreichen Abschattungen, so dass sie nicht Für hilfreiche Kommentare zu dieser Arbeit möchte ich mich bei Eva-Maria Engelen, Voker Gerhardt, Christoph Johanssen, Ana María Rabe, Birgit Recki und Stascha Rohmer bedanken.
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lediglich als Objekte unserer Instinkte verstanden werden können. Darüber hinaus besitzen wir komplexe kognitive Fähigkeiten, die auch unsere emotionalen Erfahrungen mitbedingen: wir haben eine Sprache und wir sind fähig, komplexe kognitive Propositionen zu formulieren, welche die Auffassung von der Welt verändern. Zuletzt leben wir im Unterschied zu Tieren in einer Welt von Normen und Institutionen, die den Rahmen unserer emotionalen Erfahrungen bilden. Die Welt des Menschen ist eine Welt der Werte und Normen. Diese Welt der Werte und Normen, welche dem Menschen eigen ist, ist eine Welt, in der moralisches Verhalten möglich wird. In diesem Kontext entstehen die philosophischen Fragen, die ich in diesem Aufsatz untersuchen möchte: Spielen die Gefühle, die ja auch Teil unserer biologischen Realität sind, eine Rolle für die Moral? Steht die Moral in einer Linie der Kontinuität mit unserer affektiven Natur oder setzt sie eine Trennung voraus? Und im Fall, dass die Gefühle eine Rolle für die Moral spielen: Was ist ihre Funktion? Um diese Fragen zu untersuchen und den Stellenwert des Gefühls für die Moral zu bestimmen, werde ich zunächst mein Augenmerk auf zwei sehr unterschiedliche Traditionen richten. Zur ersten Traditionslinie gehören diejenigen Ansichten, für welche Moral eine Frage der Normensetzung durch den Verstand ist. Die Anhänger dieses Ansatzes plädieren für eine streng zu ziehende Grenze zwischen unserer affektiven Natur und unserem moralischen Verhalten. Als Paradebeispiel dieser Tradition mag die Ethik Kants genommen werden. In der zweiten Traditionslinie – der ich mich anschließen möchte – wird behauptet, dass die Gefühle auch eine Quelle moralischen Verhaltens sind und dass es zwischen unserer affektiven Natur und der Moral keinen Bruch gibt. In dem Zusammenhang dieser zweiten Traditionslinie werde ich drei Theorien erläutern: Emotivismus, Dispositionalismus und Realismus 2 – »sentimentalische« Positionen, denen zufolge unser moralisches Verhalten in unserer affektiven Natur gründet. 3 Nach der Darstellung der beiden Traditionslinien werde ich meine eigene Position entwickeln und die Relevanz des menschlichen Gefühlslebens für die Moral aufweisen, die meines Erachtens
Eine umfangreiche Behandlung dieser Frage sollte auch andere ethische Ansichten wie die utilitaristische und die fiktionalistische Ethik einbeziehen. Beide Positionen lasse ich in diesem Aufsatz unbehandelt. 3 Bei der Bezeichnung dieser Tradition als »sentimentalistisch« folge ich D’Arms and Jacobson (D’Arms und Jacobson 2006) 2
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eine mehrfache ist. Leitfaden dieses Aufsatzes ist die These, dass die Bedeutung des menschlichen Fühlens sich nicht in der Funktion einer rein biologischen Reaktion auf die Umwelt erschöpft. Vielmehr erhält das Fühlen beim Menschen weitere Funktionen; unter ihnen auch die der Fundierung einer Moral. Dank unserer Affektivität können wir moralische Fähigkeiten entwickeln und besitzen eine Veranlagung zu moralischem Verhalten. Freilich sind die Ausformung dieser Veranlagung und die tatsächliche Entwicklung eines moralischen Verhaltens nicht zwingend, sondern auch abhängig von anderen Faktoren.
2.
Die Autorität des Verstands in der Kantischen Normenethik
Es ist eine viel diskutierte Frage, ob und wie die Gefühle moralisch relevant sind. 4 Seit langem wird Kant die Ansicht zugeschrieben, dass die Gefühle keine Funktion für die Moral haben und aus dem Reich der Ethik zu verbannen sind. 5 Diese kanonisierte Auffassung Kants sollte allerdings rediviert werden. 6 Kant selbst war zwischen 1764 und 1766 ein Sensualist in der Linie von Shaftesbury, Hutcheson und Hume. Er kannte daher die Thesen des moralischen Sinns aus erster Hand, obgleich er diese Ansichten schnell zugunsten einer rationalen Begründung der Moral aufgab (Recki 2008, 463). Die Wende zum Rationalismus bedeutete aber keineswegs eine Verbannung der Gefühle aus der Kantischen Ethik. In Kants späteren »rationalistischen« Werken haben die Achtung und der »sensus comunis« einen hohen Stellenwert, ebenso die Sympathie. Gefühle stehen auch im Fokus der Aufmerksamkeit seiner ethischen Überlegungen in der Metaphysik der Sitten, wo Kant die konkrete menschliche Situation mit all ihrer Nuanciertheit der GeFür eine deutschsprachige Behandlungen dieser Frage: Vgl. Döring, S. und Mayer, V. (Hrgs.): Die Moralität der Gefühle, Berlin: Akademie Verlag 2002 und Engelen, E.-M.: Gefühle, Reclam 2007. S. 82–104. 5 Vgl. für diese kanonisierte Auffassung etwa: Oakley, J.: Morality and the Emotions, London: Routledge 1991. 6 Zu der Revision von Kants Auffassung der Gefühle hat Birgit Recki entscheidend beigetragen. Recki (2006a, 2006b, 2008), daran anschließend auch Hilge Landweer und Ursula Renz in ihrer Einleitung zum Sammelband Klassische Emotionstheorien (Landweer und Renz 2008) und Eva-Maria Engelen in einer kürzlich erschienenen Rezension über heutige Theorien der Gefühle (Engelen 2009). Diese revidierte Auffassung Kants ist auch bei analytischen Philosophen zu finden (etwa Prinz 2009). 4
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fühle zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung nimmt. Auch in der Anthropologie erhalten die Gefühle einen Sonderstatus als wichtiger Teil der menschlichen Natur. Denn weit davon entfernt, den Menschen als ein reines Vernunftwesen aufzufassen, ist Kant der Ansicht, dass sowohl die Vernunft als auch das Sinnliche und das Affektive Teil der menschlichen Natur sind. Es wäre daher ein Irrtum zu behaupten, dass Kant den Gefühlen überhaupt keine Rolle in seinem moralischen System zuschreibt. Um den genauen Status der Gefühle für die Moral in der Kantischen Ethik zu bestimmen, sollten wir einerseits zwischen Grundlegung und Fundierung unterscheiden. Gefühle sind laut Kant grundlegend für die Moral, da er den Menschen in seiner konkreten Situation als ein fühlendes Wesen versteht, dessen alltägliches Leben, Entscheiden und Handeln von Gefühlen geprägt ist. Dennoch sind in der Kantischen Ethik die Gefühle nicht fundierend: Sie bleiben dem Verstand untergeordnet, wenn es darum geht, ein ethisches Normensystem aufzubauen. Gefühle können nicht fundierend sein, weil sie den Verstand verwirren könnten. In zugespitzter Form schreibt der Aufklärer: »Affekten und Leidenschaften unterworfen zu sein, ist wohl immer Krankheit des Gemüts, weil beides die Herrschaft der Vernunft ausschließt« (Kant 2003: 192). Darüber hinaus sind die Gefühle laut Kant zu unterschiedlich, um ein Maßstab für die Moral sein zu können (Kant 2008: 83). Kants Ethik ist und bleibt ein Projekt normativer Natur. Die Hauptfrage der Moral: »Was sollen wir tun?« wird demnach vielmehr durch den Verstand beantwortet, indem wir ein moralisches System von Normen und Pflichten rational herstellen und diesem bei jeder Handlung folgen. Eine Handlung ist demnach gut, wenn sie aus einer Norm heraus entstanden ist, welche eine Verallgemeinerung des der Handlung zugrundeliegenden Grundsatzes zulässt – wie es der kategorische Imperativ besagt. Diese Kantische Position bedeutet einen moralischen Rationalismus und postuliert eine »Autorität des Verstands« für die Moral. Andererseits sollten wir bei Kants ethischem Projekt zwischen Einschränkung und Kultivierung der Gefühle unterscheiden. Kant plädiert für eine Erziehung des Menschen zum Guten (Kant 2003: 282) und dies soll auch als eine Kultivierung der Gefühle verstanden werden. In diesem Kontext unterscheidet er zwischen zwei Gefühlsarten. Auf der einen Seite gibt es diejenigen Gefühle, welche dem Verstand zu unterwerfen sind. Hier scheint Kant die Ansicht einer Opposition zwiA
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schen Gefühl und Verstand zu vertreten und für eine Einschränkung der Gefühle zu plädieren. Auf der anderen Seite steht das moralische Gefühl der Achtung, welches ein »durch einen Vernunftsbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen (…), die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen, spezifisch unterschieden« ist (Kant 2008: 26). Die Achtung wird als Gefühl aufgefasst, das der Mensch den moralischen Gesetzen gegenüber hat. Das Gesetz wird mit Hilfe des Verstandes formuliert und die Achtung ist dann eine Wirkung des Gesetzes auf das Subjekt und nicht konstitutiver Faktor desselben (Kant 2008: 107). Innerhalb des Reiches der Gefühle erhält die Achtung somit einen besonderen Status. Sie ist zwar ein Gefühl, aber sie ist nicht durch Einfluss der Empfindungen entstanden, sondern durch einen »Vernunftsbegriff«, das heißt durch die Setzung eines Gesetzes durch den Verstand. Die Rolle der Achtung ist somit sekundär im Vergleich zu der Rolle des Verstandes als Gesetzgeber, denn die Achtung erkennt das rational begründete Gesetz lediglich an und fungiert als Ausführungskraft und Motivation für den Vollzug der moralischen Handlung. Um diese Idee der Motivation auszudrücken, spricht Kant von der Achtung als moralischer Triebfeder. Damit hebt er die kognitive und praktische Funktion dieses Gefühl hervor, aber wir dürfen hier nicht vergessen, dass das Gefühl nur sekundär gegenüber dem Verstand ist. Der Vorrang des Verstands gegenüber den Gefühlen bei der Ethik wird in Kants Werk nicht in Frage gestellt. Die Moral wird in diesem Modell nicht als Entwicklung unserer affektiven Natur betrachtet. Kants Ansicht über die Gefühle und ihre Rolle für die Moral sowie über die fundierende Rolle des Verstands für die Moral scheint mir vom Standpunkt der heutigen Gefühlsforschung aus problematisch. Zwar versucht Kant an einigen Stellen, die Gefühle in Verbindung mit dem Verstand zu bringen, doch bilden beide Begriffe oft genug Gegenpole. Kants Vorschlag einer Unterwerfung des Gefühls unter den Verstand kann nicht zuletzt durch die Arbeiten als hinfällig gelten, welche die kognitivistischen Theorien der Emotionen in jüngster Zeit hervorgebracht haben. Denn diesen Theorien zufolge haben die Gefühle selbst kognitive Elemente als Grundlagen. In der heutigen analytischen Tradition wird insbesondere die Rolle des Urteils als Grundlage der Gefühle berücksichtigt. (Kenny 1963, Taylor 1985, Solomon 1993, Nussbaum 2005, Marks 1982, Green 2000). Die heutige analytische Philosophie erkennt als mögliche Basis der Gefühle auch Phantasien, 126
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Wahrnehmungen, Erinnerungen und Annahmen an (Stocker 1987, Greenspan 1988, Mulligan 1998, Goldie 2002, Vendrell Ferran 2008). Gefühle basieren auch auf Denkakten, und daher sind kognitive Elemente ein wesentlicher Bestandteil derselben. Die Gefühle zeigen außerdem eine Struktur, die einige Autoren als intentional beschrieben haben. Die These der Intentionalität der Gefühle wurde schon von Brentano und seinen Schülern der phänomenologischen und der Grazer Schule vertreten (Brentano 1921, 1924, 1959; Scheler 1954; Meinong 1968a, 1968b, 1969). Heute ist die These aufgrund der Veröffentlichung von Anthony Kennys Buch Action Emotion and Will ein Topos der analytischen Philosophie (Kenny 1963, de Sousa 1987, Tappolett 2000). Der genannten Auffassung zufolge sind die Gefühle auf Objekte der Umwelt gerichtet und vermitteln uns Informationen über dieselben. So können etwa die Angst auf eine Gefahr, die Empörung auf eine Ungerechtigkeit und das Mitleid auf die Sorgen eines Anderen hinweisen. Darüber hinaus können Gefühle ihrerseits manchmal auch selbst Denkakte fundieren. Zum Beispiel dann, wenn wir etwas als schlecht beurteilen, weil es in uns ein negatives Gefühl ausgelöst hat. Auch für das Handeln scheinen die Gefühle grundlegend zu sein. Wie Damasios Studien gezeigt haben, sind Menschen mit gestörten affektiven Fähigkeiten oft unfähig, richtig zu entscheiden und zu handeln (Damasio 1994). Weit entfernt davon, eine Störung des Handelns darzustellen, sind die Gefühle Quelle rationalen Handelns. Die Abwesenheit angemessener Gefühle in einer konkreten Situation und gerade auch bei dem Treffen einer Entscheidung ist ein Zeichen moralischen Mangels. Kant erkennt – auch dies ist zu berücksichtigen – die Achtung als Triebfeder der Moral nur in dem Sinne an, dass dieses Gefühl zu Handlungen motivieren kann. Mit dieser Fixierung auf die Relevanz der Handlungen für die Moral werden weitere mögliche moralische Funktionen der Gefühle vollkommen ignoriert. So wird etwa außer Acht gelassen, dass wir eben dank unseres Gefühlslebens die Nuancen einer Situation erfassen, dass Gefühle uns mit anderen Menschen und Lebewesen verbinden oder dass sie Normensysteme begründen können. Eine weitere Beschränkung von Kants Modell liegt in der Tatsache, dass Kant nicht allen Gefühlen eine moralische Bedeutung zuschreibt. Demgegenüber sollten wir uns fragen, ob nicht alle Gefühle – im positiven oder negativen Sinne – moralisch relevant sind. SymA
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pathie oder Mitgefühl (Smith 2006; Scheler 1973), Ekel (Kolnai 1974), Verachtung (Miller 1997) und Liebe (Scheler 1986, Ortega y Gasset 1957), um hier nur ein paar Beispiele zu nennen, haben bislang Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer moralischen Bedeutung erhalten. Problematisch an Kants Ansicht ist auch, dass er die Ethik allein auf Normen gründet und die Bedeutung der Werte für die Moral ignoriert (Scheler 1954). Das, was man tun soll, wird durch Pflichten bestimmt, und die menschliche Fähigkeit, das moralisch Wertvolle zu entdecken, wird ignoriert. Es scheint notwendig, auf andere Modelle zu rekurrieren, welche den Gefühlen eine fundierende Rolle für die Moral zuschreiben und bei denen die Moral sich aus unserer affektiven Natur heraus entwickelt. In solchen Modellen sind die Gefühle als Triebfeder der Moral im weitesten Sinne zu verstehen, d. h. dass sie Grundbausteine einer Moral sein können.
3.
Gefühle als Quelle der Moral in den sentimentalistischen Ethiken
Den größten Gegensatz zu Kants Rationalismus bilden diejenigen sentimentalistischen Autoren, welche die Gefühle als Quelle unserer Moral betrachten. Es gibt ein sehr breites Spektrum von sentimentalistischen Positionen, welche sich voneinander aufgrund ihrer Konzeption der Gefühle, der Moral und der Verbindung zwischen beiden stark unterscheiden. Denn die Metapher der »Quelle« kann sehr unterschiedlich verstanden werden. Trotz der Vielfalt der verschiedenen Positionen haben diese Ansichten als gemeinsamen Kern die These einer »Autorität des Gefühls« 7 für die Moral. Von den Gefühlen hängt ab, dass die Welt sich uns als ein wertreicher Horizont präsentiert, in dem die Richtungen unserer Präferenzen zu erkennen sind. Auch die ethischen Urteile über die Umwelt, die Anderen und uns selbst sind in dieser Auffassung von unserem Gefühlsleben abhängig. Im Unterschied zu der normativen Ethik Kants legen diese Ansichten den Akzent auf die Existenz einer menschlichen Sensibilität für die Werte. Der Mensch ist aufgrund seiner Fähigkeit zum Fühlen und zu Gefühlen imstande, das, was wertvoll ist, als solches zu erkennen und dementsprechend zu han7
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Ich übernehme diesen Ausdruck von Mark Johnston (Johnston 2001).
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deln. Inwiefern aber hängen ethische Eigenschaften und ethische Urteile von den Gefühlen ab? Ich werde im Folgenden drei verschiedene Antworten auf diese Frage skizzieren, die in jüngster Zeit die meisten Befürworter gefunden haben: den Emotivismus, den Dispositionalismus und den Realismus.
3.1. Gefühlsprojektionen im Emotivismus Die emotivistischen Thesen finden ihre Inspiration bei Hume. Ihm zufolge sind die ethischen Eigenschaften nicht Eigenschaften der Objekte, an denen sie uns gegeben sind, sondern bloße Projektionen unserer Gefühle auf diese Objekte. In Bezug auf die ethischen Urteile vertritt Hume die These, dass sie auf den Gefühlen gründen (Hume 1998 und 1999). Eine ähnliche These wurde von Ayer vertreten und findet heute bei Mackie, Gibbard und Blackburn einen gewissen Widerhall (Ayer 1946, Mackie 1977, Gibbard 1990, Blackburn 1993). Der Emotivist postuliert, dass die ethischen Eigenschaften – also die Werte – Projektionen unserer Gefühle auf die Welt sind. Das bedeutet, dass etwas zum Beispiel deswegen lustig oder traurig ist, weil wir amüsiert sind oder weil wir Trauer empfinden. Nach dieser Theorie haben die ethischen Eigenschaften ihren Ort nicht in den Gegenständen, sondern in uns als Subjekten. Diese Auffassung der Werte bedingt auch ein bestimmtes Verständnis des ethischen Urteils. In einer Version des Emotivismus wird behauptet, dass – da die Werte Projektionen unserer Gefühle sind – die Urteile, die wir ausgehend von unseren Gefühlen formulieren, falsch sind (Mackie 1977). In einer anderen Version des Emotivismus werden die ethischen Urteile einfach als expressive Urteile aufgefasst (Blackburn 1993). 8 Für den Emotivismus spricht die Tatsache, dass es eine große Anzahl fühlender Wesen gibt und gleichzeitig das, was gefühlt wird, sehr verschiedenartig sein kann. Allerdings können auch andere Positionen für diese Tatsache aufkommen, denn je nachdem, ob man eine Persönlichkeit oder eine andere hat, oder je nachdem, ob man einer bestimmten Kultur oder einem bestimmten Zeitalter angehört, wird man auf bestimmte Eigenschaften achten und andere übersehen. Die Einwände gegen den Emotivismus sind zahlreich. Ich werde 8
Ich folge für diese Taxonomie D’Arms und Jacobson (2006). A
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hier nur auf die relevanten Probleme hindeuten. Die emotivistischen Ansichten können nicht erklären, warum wir etwas als lustig oder traurig bezeichnen können, ohne dabei amüsiert oder traurig zu sein. In diesen Fällen kann man nicht von einer Projektion sprechen. Es gibt auch ein Zeitlichkeitsargument gegen die emotivistische These. Oft treten die Gefühle erst nach der Erfassung der Werte auf, so dass es zeitlich unmöglich ist, dass die Werte Projektionen unserer Gefühle sind. (García Morente 2002, 48). Darüber hinaus präsentiert sich die Welt manchmal mit einer bestimmten Qualität, über welche es einen Konsens gibt, so dass wir hier fast von einer objektiven, von unserer emotionalen Haltung unabhängigen Eigenschaft sprechen können. Diese Einwände gegen den Emotivismus sprechen für die Suche nach neuen Alternativen für die Auffassung der ethischen Eigenschaften und Urteile und ihre Verbindung mit den Gefühlen.
3.2. Angemessene Dispositionen zum Fühlen Angesichts der Probleme des Emotivismus bietet sich der Dispositionalismus als Alternative an. Dieser Theorie zufolge hat etwas einen bestimmten Wert, wenn es in dem Betrachter unter optimalen Umständen ein bestimmtes Gefühl auszulösen pflegt. Etwas ist dann traurig, weil es unter bestimmten, möglicherweise normalen Umständen Trauer in mir auslöst. Die Werte selbst werden als Dispositionen verstanden, bestimmte Gefühle zu erleben. Ihnen wird im Dispositionalismus eine Zwischenstellung zugewiesen, welche sowohl die menschliche Sensibilität berücksichtigt als auch den Werten eine gewisse Objektivität zuschreibt. Dispositionalistische Theorien erlauben es, in Bezug auf die Werte von der Richtigkeit oder Angemessenheit und der Falschheit oder Unangemessenheit einer Emotion zu sprechen. Die Ursprünge dieser These sind bei Brentano zu finden (Brentano 1921). Sie wurde in jüngster Zeit von McDowell, Wiggins und Mulligan (McDowell 1998, Wiggins 1987 und Mulligan 1998) vertreten. Abhängig von dieser Auffassung der ethischen Eigenschaften ist eine entsprechende Ansicht über die ethischen Urteile. Diese sind nur dann angemessen, wenn wir dazu disponiert sind, eine bestimmte Emotion unter bestimmten Umständen zu fühlen. Der Dispositionalismus legt den Akzent auf den Begriff der menschlichen Sensibilität und betrachtet die Werte gleichzeitig als 130
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Eigenschaften mit einer gewissen Objektivität. Das Hauptproblem dieser Theorie liegt darin, dass der genaue Status der Werte und ihre hybride Stellung zwischen Projektion menschlicher Sensibilität und objektiver Tatsache oft nicht überzeugend sind. Entsprechende Thesen erwecken leicht den Eindruck der Zirkularität: Etwas hat einen Wert, weil es in uns unter bestimmten Umständen ein bestimmtes Gefühl auslöst, und etwas löst in uns unter bestimmten Umständen ein bestimmtes Gefühl aus, weil es einen Wert hat. 9 Darüber hinaus stellt sich die Frage: Wenn Werte immer von unserer Fähigkeit zum Fühlen abhängig sind und diese Fähigkeit nicht nur durch die individuellen Tatsachen, sondern auch historisch und kulturell bedingt ist: Wie kann eine Gesellschaft dann einen neuen Wert entdecken oder einem bestehenden Wert eine neue Bedeutung zuschreiben? Diese Theorien müssen auch eine Erklärung der Wandelbarkeit unserer Art zu fühlen liefern. Außerdem sollten dispositionalische Ansichten auch die Bedingungen für die Angemessenheit unserer emotionalen Antworten bestimmen. Zu erwähnen ist ferner, dass wir normalerweise mit einem bestimmten Gefühl auf eine Situation reagieren können, ohne dass dieses Gefühl uns tatsächlich garantiert, dass die Situation einen bestimmten Wert hat.
3.3. Souveränität der Werte im Realismus Die letzte Alternative, die ich in Betracht ziehen möchte, ist der Realismus. Realistische Positionen behaupten, dass die Werte eine eigene Realität haben, welche sowohl von den Dingen, an denen sie gegeben sind, als auch von den Subjekten, welche die Werte erfassen, unabhängig ist. Nach dem Realismus werden uns die Werte dank affektiver Phänomene unter optimalen Umständen zugänglich: Ohne Gefühle wären wir für die Werte blind. Diese Auffassung der ethischen Eigenschaften wurde im vergangenen Jahrhundert von Meinong und Scheler vertreten (Meinong 1968a, Scheler 1954). Heute wird er von Christine Tappolet und Mark Johnston vertreten (Tappolet 2000, Johnston 2001). Laut Tappolet sind die Werte unabhängig von jeder subjektiven Tappolet hat allerdings gezeigt, dass der Eindruck eines circulus vitiosus bei solchen Ansichten unbegründet ist (Tappolet 2000).
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Haltung oder Reaktion der Subjekte. Die Funktion der Gefühle besteht darin, die Werte zu erfassen. So präsentiert uns die Furcht das Furchterregende, der Ekel das Ekelhafte und die Freude das Erfreuliche. Um diese These zu vertreten, arbeitet Tappolet mit der Analogie zwischen Gefühlen und Wahrnehmungen. Gefühl und Wertwahrnehmung können hier in Analogie betrachtet werden. Wahrnehmungen und Gefühle werden durch Dinge unserer Umwelt »verursacht« 10 , beide besitzen phänomenale Eigenschaften, beide fühlen sich leiblich in einer bestimmten Weise an. Und zuletzt haben beide einen Inhalt und können in Bezug auf diesen angemessen oder unangemessen sein. Nicht nur wegen der Werterfassung haben die Gefühle eine moralische Funktion, sondern auch – so Tappolet –, weil sie Werturteile fundieren (Tappolet 2000, 9 und 259). Zum Beispiel rechtfertige die Bewunderung, die man beim Anblick einer Person fühlt, das Urteil, dass diese Person bewunderungswürdig ist. Johnston vertritt eine ähnliche Position und arbeitet auch mit einer Analogie zwischen Affekten und Wahrnehmungen (Johnston 2001, 189). Er behauptet, dass wir ohne Emotionen für verschiedene Aspekte der Welt blind wären, keine Werturteile formulieren könnten und keine intrinsische Motivation zum Handeln hätten (Johnston 2001, 101). Es gebe ein Primat der Affekte gegenüber Kognition und Motivation. Johnston spricht hier von einer »Autorität des Gefühls« (Johnston 2001, 189). Ohne explizit einen Wertrealismus zu vertreten, hat sich auch Oakley für eine starke Rolle der Gefühle bei der Wahrnehmung und dem Verstehen von Situationen ausgesprochen (Oakley 1993, 49). Hinsichtlich der Moralphilosophie seien die klare Wahrnehmung und das scharfe Urteilen wichtig, um eine gute Person zu sein. Sie sind laut Oakley nicht nur per se relevant, sondern weil sie unerlässlich sind, um gut zu handeln (Oakley 1993, 50). Ein Mensch ohne Gefühle würde diesem Autoren zufolge an »insensitivity, apathy, listlessness, and detachment« leiden, er hätte kein Identitätsgefühl und könnte seinem Leben keinen Sinn geben (Oakley 1993, 48). Der Wertrealismus entspricht unserer Erfahrung, dass die Welt sich uns manchmal mit einer bestimmten Werthaltigkeit präsentiert, über welche ein Konsens besteht. Allerdings lassen die realistischen Wobei diese Kausalität für die Emotionen weniger direkt als für die Wahrnehmungen ist, da die Emotionen einer kognitiven Basis bedürfen.
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Positionen ungeklärt, warum wir manchmal Werte erfassen, ohne dass wir von einem Gefühl betroffen sind. Es gibt keine eindeutige Korrelation zwischen Wert und Gefühl. 11 Dies hat Mulligan zu der alternativen These geführt, wonach die Werte nicht mittels der Gefühle, sondern mittels eines eigenen Aktes des »Fühlens« erfasst werden (Mulligan 2004 und 2005). Die Gefühle wären dann mögliche Antwortreaktionen auf die gefühlten Werte. Ferner scheint es kontraintuitiv und sogar widersprüchlich zu sein, die Existenz eines Reiches der Werte zu postulieren, das unabhängig von der menschlichen Gefühlsfähigkeit ist. Realistische Ansätze haben auch manchmal ähnliche Probleme wie die dispositionalistischen, wie etwa die Schwierigkeit, die Bedingungen für eine optimale Wertwahrnehmung zu bestimmen. Sie müssen ferner die genauen Berechtigungsbedingungen für Gefühle liefern. Wann erfüllt ein Gefühl die Bedingungen für die Angemessenheit? Ein Gefühl ist schließlich nicht deswegen angemessen, weil es sich auf einem bestimmten Wert richtet. Die Furcht richtet sich auf Furchterregendes – aber es kann unangemessen sein, etwas als furchterregend zu bewerten, und damit kann die Furcht selbst unangemessen sein. Jede dieser verschiedenen Positionen des Sentimentalismus, welche ich als Kontrast zu Kants Rationalismus dargestellt habe, plädiert für eine Fundierung der Moral in den Gefühlen. Die Basis der Moralität ist demnach in unserer Fähigkeit zu fühlen zu suchen. Die drei skizzierten Ansichten sind m. E. von Bedeutung, weil sie – wenn auch auf unterschiedliche Weise – auf die menschliche Fähigkeit zum Fühlen hinweisen, ausgehend von welcher die Welt des Menschen zu einer Welt voller Werte wird und im Zusammenhang mit welcher Werturteile formuliert werden. Es ist diesen Positionen zufolge dem Gefühlsleben zu verdanken, dass der Mensch ein moralisches Wesen ist.
Mulligan hat diesen Kritikpunkt in verschiedene Stellen entwickelt (Mulligan 2004 und 2005).
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4.1. Zur Bestimmung des Gefühlsbegriffs für die Moral Als Fazit der vorherigen Ausführungen lässt sich festhalten, dass wir dank unserer affektiven Natur zur Moral veranlagt sind. Im folgenden Abschnitt möchte ich diese These konkretisieren und die moralische Funktion unserer Affektivität von meinem eigenen Gesichtspunkt her genauer bestimmen. Zunächst soll betont werden, dass die These der moralischen Relevanz der Gefühle nicht mit der These verwechselt werden darf, wonach alle Gefühle in moralischer Hinsicht gut sind. Einige Gefühle wie etwa Missgunst, Neid, Ressentiment oder Hass sind moralisch verwerflich und besitzen doch eben wegen ihrer negativen Wirkungen moralische Relevanz. Wichtig ist auch anzumerken, dass bei der Formulierung der These der moralischen Relevanz der Gefühle der Akzent auf das Phänomen des Gefühls selbst gelegt wird und nicht auf andere Phänomene wie Urteile oder Wünsche, welche zusammen mit den Gefühlen auftreten können und ebenfalls eine moralische Bedeutung haben. Denn auch Menschen, welche urteilen und wünschen können, handeln nicht immer moralisch gut. Die Gefühle bilden ein eigenes Terrain per se, das im Hinblick auf die Moral untersucht werden kann. Nach diesen vorläufigen Beobachtungen soll nun der Gefühlsbegriff selbt abgegrenzt werden. Das Wort »Gefühl« können wir in einem weiten oder in einem engeren Sinne gebrauchen. In einem weiten Sinn kann als »Gefühl« alles bezeichnet werden, wo etwas gefühlt wird: Schmerz, körperliche Vitalität, Freude, Frömmigkeit, schlechte Laune. In einem engeren Sinne wird aber von den genannten Phänomenen nur die Freude als Gefühl durchgehen. Denn der Schmerz ist eine Empfindung, die Vitalität ein affektiver Tonus, die Frömmigkeit beinahe ein Charakterzug und die schlechte Laune eine Stimmung. Wenn ich hier von Gefühlen spreche, verwende ich diesen Terminus in diesem zweiten, engeren Sinne als Synonyme von »Emotion«. Die These der Moralität der Gefühle kann nur vertreten werden, wenn wir mit einem Bild der Gefühle als komplexen Erlebnissen arbeiten. Demzufolge werden die Gefühle sowohl durch das Moment der Leiblichkeit als auch durch das Moment der Intentionalität definiert (Vendrell Ferran 2008). Unter Leiblichkeit verstehe ich die Qualität, 134
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Gefühle als Triebfedern der Moral
in der jedes Gefühl in einer einzigartigen, eindeutigen und charakteristischen Weise am Leib gefühlt wird. Unter Intentionalität ist die doppelte kognitive Gebundenheit der Gefühle zu verstehen. Zum einem bedeutet dies, dass die Gefühle auf kognitiven Elementen gründen. Es wurde schon vorher auf die Mannigfaltigkeit von Phänomenen hingewiesen, die als kognitive Grundlagen gelten können: Wahrnehmungen, Phantasien, Erinnerungen, Urteile und Annahmen. Diese kognitiven Elemente verleihen den Gefühlen eine bestimmte Struktur, welche über das bloß leibliche hinausgeht. Intentionalität heißt zum anderen auch, dass die Gefühle auf eine bestimme Klasse von Objekten gerichtet sind: die Werte (in dieser Hinsicht auch de Sousa 1987, Tappolet 2000). Diese Wertgerichtetheit der Gefühle ist wichtig, um ihre moralische Dimension zu verstehen, da die intentionale Struktur nicht in den bloßen Empfindungen oder im sinnlichen Schmerz oder der Lust zu finden ist. Die These der Intentionalität der Gefühle verbindet dieselben stark mit den Kognitionen und zeigt den rationalen Aspekt derselben: Gefühle im engeren Sinne gründen in Kognitionen und richten sich auf Werte. Um moralisch relevant zu sein, müssen die Gefühle Rationalität aufweisen. Rationalität ist daher eine notwendige Bedingung der Moralität des Gefühls, wenn auch nicht eine hinreichende Bedingung, denn eine Emotion kann rational sein und doch nicht »moralisch« (in ähnlicher Hinsicht Oakley 1993, 41). Wenn ich von moralischer Relevanz spreche, meine ich damit, dass die Fähigkeit zu fühlen, mit der wir ausgerüstet sind, uns die Entwicklung einer Moral ermöglicht. Mit dieser Begriffsbestimmung und der Idee einer menschlichen Fähigkeit zu fühlen möchte ich nun fünf Dimensionen der moralischen Relevanz der Gefühle postulieren. Meine Bennennung soll als erste Annäherung verstanden werden, und ich schließe nicht aus, dass die moralische Relevanz unserer Affektivität auch noch aus anderen Perspektiven heraus hervorgehoben werden könnte.
4.2. Moralische Dimensionen der Gefühle a.
Die Ordnung des Herzens und die Werte
Eine wichtige Funktion der Gefühle, welche schon bei Dispositionalismus und Realismus zutage tritt, besteht darin, sich auf Werte zu richA
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ten. Wie ist diese Wertgerichtetheit zu verstehen? Die realistischen Autoren haben in ihrer Mehrheit behauptet, dass die Werte die formalen Objekte der Gefühle sind. Laut diesen Autoren haben die Gefühle eine kognitive Funktion: die Werterschließung. In diesem Kontext hat Mulligan zwischen Gefühl und Fühlen unterschieden: Während das Fühlen für die Erfassung der Werte verantwortlich ist, sind die Gefühle Antwortreaktionen auf die gefühlten Werte. Die kognitive Funktion übernimmt hier das Fühlen. Diese These trifft meines Erachtens zu, denn wir können Werte erfahren, ohne dabei von Gefühlen betroffen zu sein. Die Gefühle richten sich diesem Verständnis zufolge somit wesentlich auf Werte, diese Werte jedoch werden in einem Akt des Fühlens erfasst. Das Fühlen ist hier Triebfeder der Moral in dem Sinne, dass es als Akt die Präsentation der Wertewelt ermöglicht. Ich will die Struktur dieses Fühlens mithilfe einiger frühphänomenologischer Ansätze näher bestimmen. In »Ordo Amoris« vertritt Scheler die These des Primats der Liebe vor jedem anderen Akt des Erkennens und Wollens. Unter »Liebe« versteht Scheler hier nicht ein Gefühl, sondern eine bestimme Art und Weise, die Werte nach einer individuellen Rangordnung und einem Präferenzsystem zu erfassen. Jeder Mensch hat eine eigene Weise, sich auf die Welt zu richten, von der abhängig ist, was er fühlen kann. So kann ein Mensch stets zur Perzeption einer bestimmten Sorte von Werten neigen und andere übersehen, während es sich bei einem anderen Menschen vielleicht genau umgekehrt verhält; oder einige Werte sind für ihn von größerer Bedeutung als andere. In Abhängigkeit von den »Liebesmöglichkeiten« hat jeder Mensch eine andere Persönlichkeit, welche seinen Weltzugang bedingt. Diesen Persönlichkeitskern und Weltzugangsmodus belegt Scheler mit dem Terminus »Ordo amoris«, d. h. Ordnung des Herzens bzw. der Liebe (Scheler 1986). 12 Schelers Gebrauch des Ausdrucks »Liebe« kann in diesem Kontext verwirrend sein. Um dem Begriff des »ordo amoris« gerecht zu werden, ist es meines Erachtens sinnvoll, die Werterfassung, das persönliche Präferenzsystem und die jeweilige Rangordnung der Werte im Auge zu behalten. Die Idee einer »Ordnung des Herzens« ist auch im Anschluss an Scheler bei Ortega y Gasset (Ortega y Gasset 1947 und 1957) und ganz Zutreffend bezeichnet Ortega y Gasset den »ordo amoris« als »ratio essendi« und »ratio cognoscendi« jedes Menschens (Ortega y Gasset 1957, 195).
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besonders bei Manuel García Morente zu finden. Laut García Morente nimmt jedes Lebewesen die Welt als in ein bestimmtes Präferenzsystem geordnet wahr (García Morente 2002, 49). In diesem Kontext führt García Morente seine Auffassung der Werte als sekundäre Eigenschaften ein. Werte werden ihm zufolge nicht »erkannt«, sondern »gefühlt« 13 : Wenn wir einen Wert fühlen, fühlen wir laut García Morente eine Anziehung bzw. eine Vorliebe und Präferenz (García Morente 2002, 52). Gegenüber einzelnen Werten können wir prinzipiell auch blind sein, allerdings haben wir immer die Möglichkeit, unsere Fähigkeit für die Wertwahrnehmung zu verfeinern, zu verschärfen und genauer auszubilden, so dass die zuvor unbeachteten Werte dann in unserem Präferenzsystem einen Platz erhalten. So präsentiert sich uns die Welt niemals als neutral, sondern als ein Horizont, den die Orientationskoordinaten unserer Person vorgeben. Die Idee, dass unsere Fähigkeit zum Fühlen eine kognitive Funktion hat, die bei den genannten Autoren zu finden ist und der ich hier zustimme, soll aber nicht in einem strengen Sinne verstanden werden, sondern in einem übertragenen. Dies ist so, weil wir nicht von einer Objektivität der Werte sprechen können, so wie wir dies bei äußeren Gegenständen tun. Die Analogie zwischen Wahrnehmen und Fühlen ist hilfreich aber unvollständig. Die Werte sind weniger »objektiv« als die äußeren Gegenstände, und wir können nicht sicher sein, inwiefern wir sie einfach in die Welt hineinprojizieren oder eine bestimmte Qualität tatsächlich erfassen. Die Werte scheinen von der fühlenden Fähigkeit des Subjektes abhängig zu sein. Ferner sollte unterschieden werden zwischen der These, dass unser Gefühlsleben immer Werte als Objekte hat, und der These, dass unser Gefühlsleben Kenntnis über die Werte vermittelt. Wir nehmen die Welt immer mit Farben wahr, aber dies ist anders als die Behauptung, dass die Wahrnehmung eine Kenntnis der Farben bedeutet. Darüber hinaus ist unser Gefühlsleben im Allgemeinen immer von Subjektivität geprägt in dem Sinne, dass es Erfahrungen sind, in denen sich das Ganze der Person widerspiegelt. Erinnerungen, Erwartungen, vergangene Erfahrungen und unsere momentane Situation
Morente nimmt diese These von Ortega y Gasset. Das spanische Wort ist »estimar« und ich übersetze das Wort hier als »fühlen«. Vgl. für eine ausführliche Darstellung Ortegas Ansicht über das Fühlen: Vendrell Ferran 2010.
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färben unsere Gefühle und unsere Gefühlsfähigkeit in einem bestimmten persönlichen und einmaligen Stil. Dazu kommt noch, dass die Gefühle leiblich sind, und diese leibliche Betroffenheit versieht die Gefühle mit einer starken persönliche Note, die kaum sprachlich zu formulieren ist und die sich nicht immer leicht auf die individuellen Erfahrungen anderer Menschen übertragen lässt (Schmitz 2008, 268). Aus diesen Gründen gilt: Obwohl die Gefühle und das Fühlen uns Information vermitteln, ist diese Information immer von der Gefahr der subjektiven Färbung geprägt, so dass meines Erachtens nicht von einer absoluten Quelle der Erkenntnis gesprochen werden kann. (In derselben Hinsicht: Meinong 1923, 137). Zum Beispiel kann uns jemand unsympathisch sein, weil er uns an jemand anderes erinnert, der uns verstimmt hat. Es wäre ein Fehler, ausgehend von dieser Antipathie zu schließen, dass der Betroffene in jedem Fall tatsächlich abstoßend sei. Die Information der Gefühle muss immer von einer Revision aufgrund unserer kognitiven Grundlagen und Wünsche begleitet werden. b.
Entscheidung, Handlung und Zielverfolgung
Ein zweiter Bereich, in dem die Gefühle als moralische Triebfedern angesehen werden sollten, ist der Bereich der Handlungen: Gefühle gelten als motivierende Kräfte. Nicht nur die Achtung leistet, wie Kant meinte, eine ausführende Rolle, sondern die gesamte Welt der Gefühle kann uns intrinsisch zum Handeln motivieren. Wie in jüngerer Zeit auch einige Studien gezeigt haben, ist ein Mensch mit einer gestörten Fähigkeit zu fühlen auch oft unfähig, richtige Entscheidungen zu treffen (Damasio 1994). Was bedeutet es, dass Gefühle als Motive fungieren? Die Motivation soll nicht als kausale Verbindung zwischen Gefühl und Handlung oder als ein Verhältnis des Bewirkens wie bei den Trieben aufgefasst werden. Die Motivation lässt sich als eine Art Begründungsverhältnis beschreiben. Ein Willensakt mitsamt der auf ihn folgenden Handlung wird durch etwas motiviert, wenn dieses Etwas einen Grund für ihn darstellt, d. h. wenn sich der Willensakt aus diesem Etwas heraus erklären lässt, ohne dabei notwendig aus ihm zu folgen 14 . Da die Emotionen in diesem Sinne Gründe für Willensakte und anschließende Handlun14
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Diese Bestimmungen kann man z. B. bei Pfänder finden (Pfänder 1963, 144).
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gen sein können, lautet die These, dass Gefühle als Motive fungieren können. Dieser motivationale Aspekt der Emotionen soll aber als Möglichkeit und nicht als Notwendigkeit interpretiert werden: die Emotionen können als Motive gelten, doch dies ist nicht zwingend der Fall (Kenny 1989, 61; de Sousa 1987, 6 und 83). Eine andere Möglichkeit, die Relevanz der Gefühle für das Handeln zu verstehen, wurde von Oakley hervorgehoben. Ihm zufolge sind Gefühle mit Blick auf die Handlung nicht nur deswegen wichtig, weil sie die Fähigkeit besitzen, Werte in Handlungen umzusetzen, sondern auch, weil sie die nötige Willensstärke geben, um unsere Ziele zu verfolgen (Oakley 1993, 53). Gefühle sind demnach nicht störende Elemente in Bezug auf die Handlungen, sondern Quellen der Entscheidungsverfahren und des Handelns selbst. c.
Die Konstitution des Charakters
Noch in einer dritten Hinsicht sind die Gefühle moralisch bedeutsam. Sie haben nämlich eine konstitutive Rolle für unseren Charakter. Die Idee des Charakters und der Charakterbildung – welche in der heutigen Philosophie eher wenig Beachtung erhalten hat – war zum Beispiel bei Pfänder ein wichtiges Thema, der den Sinn seiner Psychologie der Gesinnungen darin sah, diese Gefühlsregungen besser zu verstehen, um die positiven Gesinnungen kultivieren zu können (Pfänder 1922). Allerdings lässt sich die Idee auch bei Scheler, Ortega y Gasset, Heidegger und Sartre finden. Sie hat ihren Ursprung in der aristotelischen Philosophie: Die tugendhafte Person wird ihr zufolge die richtigen Gefühle im angemessenen Grad in der richtigen Situation haben. In der heutigen Philosophie haben Oakley und Goldie u. a. die Verbindung zwischen Gefühl und Charakter hervorgehoben (Oakley 1993, 64; Goldie 2004) Zwischen Gefühl und Charakter besteht eine Wechselwirkung: Gefühle prägen unseren Charakter und unser Charakter beinhaltet die Neigung zu bestimmten Gefühlen. Die Gefühle, die wir erleben, haben eine konstituierende Wirkung auf unseren Charakter. Dies geschieht etwa, wenn ein Gefühl häufig oder mit einer starken Intensität erlebt wird und somit die Kraft hat, unsere Person zu beeinflussen. Auch unser Charakter bestimmt die Gefühle, zu denen wir neigen. So tendiert der Melancholiker zur Traurigkeit und ist für die Wut weniger A
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offen als der Choleriker. So wird der Charakter bestimmend, um die Nuancen einer konkreten Situation zu erfassen und uns für bestimmte Werte empfänglich zu machen. d.
Gefühle im menschlichen Miteinandersein
Ein weiterer Aspekt der Gefühle betrifft ihre Bedeutung für das menschliche Miteinandersein. Die Gefühle bestimmen und bedingen die Interaktion mit unseren Mitmenschen und dies in dreierlei Hinsicht: Sie ermöglichen die Bindung zum Anderen und zeigen Bindungskraft wie dies bei der Sympathie oder der Liebe der Fall ist; sie machen eine Verbindung zum anderen unmöglich wie etwa beim Hass oder der Antipathie; oder sie zeigen eine gestörte Bindung an wie beim Neid oder der Eifersucht. Die ethische Funktion der Gefühle besteht hier darin, unseren Umgang mit anderen Menschen zu bestimmen und die Spielregeln unseres Gemeinschafts- und Gesellschaftslebens zu bedingen. Ein Mensch ohne Gefühle wäre unfähig, sich auf andere zu beziehen, da er weder Liebe noch Sympathie, Zuneigung, Einfühlung und Freundschaft oder die negativen Gegenstücke dieser Regungen erfahren könnte. Diese Idee einer Funktion der Gefühle im menschlichen Miteinander ist aus verschiedenen Perspektiven heraus und mit verschiedenen Nuancen vertreten worden. Die Ethiken der Sympathie und die Liebe haben auf die Bindungskraft der Gefühle hingewiesen – etwa bei Adam Smith und Scheler (Smith 2006, Scheler 1973). Oakley hat auch gezeigt, wie Einfühlung, Sympathie und Liebe unser Verständnis der Welt und der Anderen erweitern, die Möglichkeit der Bindung geben und damit auch die Fähigkeit, ein gutes Leben zu führen (Oakley 1993, 57). Stascha Rohmer hat die Liebe als den Ursprung der humanen Kultur bezeichnet (Rohmer 2008). Die These der moralischen Funktion der Gefühle als Zement unseres Miteinanderseins trifft aber auch auf Schwierigkeiten, wenn wir sie ernsthaft vertreten wollen. Wird – so kann man fragen – nicht auch die Möglichkeit der Barbarei und Destruktion durch Gefühle geschaffen? Inwiefern kann man von einer moralischen Funktion der Gefühle sprechen, wenn wir an eine Gemeinschaft voll Hass à la Hobbes denken? Inwiefern sind negative Gefühle wie Neid, Ressentiment, Eifersucht und Verachtung »moralisch«? Dazu ist zu sagen, dass die hier vertretene These nicht lautet, dass alle Gefühle moralisch gut seien, 140
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weil sie Bindungskraft zeigen, sondern dass alle Gefühle moralisch relevant sind, weil sie unser menschliches Miteinandersein bestimmen und bedingen. Der Mensch ist prinzipiell auf andere Menschen bezogen, ob negativ oder positiv, und dies wäre ohne Gefühle nicht möglich. Die menschliche Sozialität wird nicht von bloß rationalen Menschen konsituiert und insofern lässt sich von einer Fundierung des Sozialen im Affektiven sprechen (Schmid 2005, 413). In Verbindung zu der vorherigen heiklen Frage ist auch zu sagen, dass eine ausführliche Arbeit eine Klassifizierung der Gefühle in moralisch gute und moralisch schlechte hinsichtlich ihrer Motivationen, Wirkungen, zugrundeliegenden Dispositionen etc. beinhalten müsste. Auch die Frage, ob es eine bestimmte Klasse von »moralischen Gefühlen« gibt und welche Gefühle zu dieser Klasse gehören, würde zu einer Weiterentwicklung dieses Themas gehören. e.
Gefühl und Werturteil
Zuletzt scheint mir die Tatsache von Bedeutung, dass die Gefühle Werturteile begründen können. Die These, nach der moralische Urteile in affektiven Reaktionen gründen, wurde philosophiegeschichtlich von Shaftesbury, Hutcheson und Hume vertreten. Heute ist sie der Fokus der Aufmerksamkeit einer lebhaften Diskussion bei Autoren wie Gibbard und Nichols (Gibbard 1990, Nichols 2004). Die Verbindung beider Phänomene, welche trotz ihrer Bedeutung hier nur angedeutet werden kann, wird in folgendem Beispiel deutlich: Die Indignation, die ich angesichts einer bestimmten Tat empfinde, ist konstitutiv für mein Werturteil über diese Tat selbst, indem ich etwa die Tat als ungerecht beurteile. Diese Werturteile sollen allerdings von einer Reflexion über die Grundlagen der eigenen Gefühle und die Umstände der spezifischen Situation begleitet werden – gleichsam als potentielles Korrektiv.
5.
Schlussfolgerung
Zum Schluss möchte ich anhand der vorherigen Diskussion auf die Stellung der Gefühle in der Debatte über Natur und Kultur aufmerksam machen. Die Fähigkeit zum Fühlen gehört zur Grundausstattung des Menschen und offenbar auch des Tiers. Allerdings erhält diese Fähigkeit in der menschlichen Welt eine besondere Bedeutung. Denn das A
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affektive Leben des Menschen steht immer verschiedenen Deutungen offen, so dass Sprache, Kultur, Zeitalter, Biographie u. a. unser Gefühlsleben beeinflussen können. Ferner können wir aufgrund unserer komplexen kognitiven Fähigkeiten auch Gefühle entwickeln, welche keinen Platz in der Tierwelt finden, und wir haben sogar die Möglichkeit, unser Gefühlsleben zu verfeinern und uns in dieser Hinsicht gleichsam zu erziehen. Das menschliche Gefühlsleben erhält somit eine Bedeutung, welche deutlich über das rein biologische hinausführt und zum Terrain des Moralischen führt. Die hier vertretene These lautet, dass uns aufgrund unserer affektiven Natur die Möglichkeit der Entwicklung einer Moralität gegeben wird. Weil wir Gefühle haben, sind wir für die Nuancen der Welt empfänglich, werden unsere Handlungen motiviert, wird unser Charakter gebildet, ist das menschliche Miteinandersein möglich und können wir Werturteile formulieren. Unser Gefühlsleben hat insofern die Funktion, eine Moral und moralisches Verhalten überhaupt erst zu ermöglichen. Allerdings sollten hier zwei Bemerkungen hinzugefügt werden. Zum einen: Die auf Gefühlen fundierte Moral ist nicht universell und wird je nach Zeitalter, Sprache, Kultur, Epoche usw. unterschiedlich sein. Zum anderen spreche ich hier von einer Entwicklungsmöglichkeit. Es handelt sich um eine potenzielle Entwicklung, da Moralität nicht angeboren ist und eine moralische Verhaltensweise nicht zwingend ist. Unsere Moral hat daher eine affektive Basis, ohne welche sie sich nicht entwickeln könnte, aber sie benötigt auch andere Faktoren, um sich zu entwickeln. Auch kognitive, motivationale und normative Elemente sind für die Entwicklung moralischen Verhaltens nötig. 15 Unsere Fähigkeit zu fühlen ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Entwicklung einer Moral. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das menschliche Gefühlsleben, mit welchem wir von Natur aus ausgerüstet sind, die Triebfedern für die mögliche Entwicklung einer Moralität in sich beinhaltet.
Bibliographie Ayer, A.: Language, Truth and Logic, NewYork: Dover 1946. Blackburn, S.: Essays in Quasirealism, New York: Oxford 1993. 15
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Eine ähnliche These ist auch von Prinz vertreten worden (Prinz 2007).
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Naturalismus und Humanismus 1
Ich möchte mit einer persönlichen Vorbemerkung beginnen: Während der ersten Semester habe ich in München in erster Linie Physik studiert und Philosophie nur soweit die Zeit dazu blieb. Naheliegenderweise hat mich zuerst Logik und Wissenschaftstheorie (im Weiteren aber auch Praktische Philosophie) interessiert, wofür allerdings auch das Umfeld des Seminars II (des damaligen »Stegmüller-Institutes«) in München verantwortlich war. Doch es gab einen Punkt, der mich trotz der sehr anregenden geistigen Atmosphäre an diesem Institut immer irritiert hat, nämlich der Naturalismus, der dort weiterhin vertreten wurde. Anders formuliert: die dort vorherrschende Vorstellung, man müsse als Modell-Wissenschaft die Physik betrachten und alle anderen Wissenschaften seien defizitär, umso mehr sie sich von der Physik unterscheiden. Dieser Naturalismus dehnte sich auch auf die Sprachphilosophie aus, so dass der dominierende Strang der Behaviourismus war in seinen verschiedenen Varianten, sprachliche Bedeutung auf beobachtbare Regularitäten des Verhaltens zu reduzieren. Eine ähnlich irritierende Reduktion hat auch der (wie sich diese Richtung der Analytischen Philosophie selbst nannte) Lingualismus versucht, der die ganze Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts geprägt hat, wenn auch in besonders radikaler Form den Logischen Empirismus. 2 Nach diesem Programm ist Wissen propositional, wobei Propositionen nicht präzise bestimmbare Mengen von Äußerungen sind. Propositionen und entsprechend propositionale Einstellungen sind demnach sprachlich verfasst. Aufgrund dieser Auffassung kommt etwa Donald Grundlage für diesen Text ist der Vortrag, den ich am 27. Juni 2009 auf der Tagung »Natur – Technik – Kultur« an der Humboldt-Universität zu Berlin gehalten habe. Der Stil des Vortrags wurde bei der Abschrift des Textes beibehalten, ich danke Frau Christine Bratu für die redaktionelle Bearbeitung des Vortragsmitschnittes. 2 Vgl. Julian Nida-Rümelin: Philosophie und Lebensform, Frankfurt a. M. 2009, Kap. 6 (»Die Grenzen der Sprache«). 1
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Naturalismus und Humanismus
Davidson in einem berühmten Aufsatz zu dem Schluss, dass es doch klar sei, dass Tiere nicht denken könnten – sie verfügten ja schließlich auch nicht über Sprache. 3 Mir schien und scheint diese lingualistische Ausrichtung schon im Hinblick auf die zentrale Frage der Sprachphilosophie – nämlich was Bedeutung ist – völlig abwegig zu sein, denn Bedeutung hat etwas mit Intentionen zu tun. Immerhin ein bedeutender analytischer Philosoph nimmt diese Minderheitenposition ein, nämlich Paul Grice. 4 Das Grice’sche Programm steht für eine nicht-behaviouristische, nicht-naturalistische Analyse sprachlicher Bedeutung. Diese Richtung scheint mir die einzig gangbare zu sein, obwohl die Umsetzung des Grice’schen Programms mit vielen Problemen konfrontiert ist, die bis heute nicht gelöst sind. Ich habe dafür plädiert, eine Umorientierung hinsichtlich der rationalitätstheoretischen Grundlagen dieses Programms vorzunehmen, mit der sich diese Probleme möglicherweise leichter werden lösen lassen. 5 Die naturalistische Tendenz von damals hat sich unterdessen ein bisschen verschärft, ja radikalisiert. Ich habe im ersten Kapitel von Über menschliche Freiheit versucht, diese Tendenz auf den Begriff zu bringen: Es gibt ein naturalistisches Programm im Umgang mit menschlichem Handeln, das die intentionalen Elemente, die das Handeln und die Interaktion von Menschen ausmachen, in irgendeiner Form auf natürliche, mit den Mitteln der Naturwissenschaften beschreibbare Tatsachen reduzieren möchte, um sie loszuwerden. In einem gewissen Sinne gibt es nach der Durchführung dieses Programms keine intentionalen Zustände mehr (d. h. keine Wünsche und Überzeugungen oder andere mentalen Zustände), die zur Erklärung von Handlungen herangezogen werden müssten, wie es bspw. in unserer folk psychology geschieht. Gegen diesen naturalistischen Reduktionismus – der noch vor wenigen Dekaden auf einen Strang der Analytischen Philosophie beschränkt war, sich aber unterdessen (wohl unter dem Eindruck naturwissenschaftlicher Erfolge) nicht nur der Feuilletons, sondern auch eines Teils der Geisteswissenschaften bemächtigt hat – will ich unsere lebensweltliche Verständigungspraxis verteidigen. Zu hoffen ist, dass die Ergebnisse unseres HuVgl. Donald Davidson: Vernünftige Tiere, Frankfurt a. M. 2006, sowie Julian NidaRümelin: Philosophie und Lebensform, Frankfurt a. M. 2009, Kap. 8 (»Haben Tiere Überzeugungen und Wünsche?«). 4 Vgl. Herbert Paul Grice: Aspects of Reason, Oxford 2001. 5 Vgl. Julian Nida-Rümelin: Philosophie und Lebensform, Frankfurt a. M. 2009, Kap. 7 (»Grice, Gründe und Bedeutung«). 3
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manprojektes die öffentliche Debattenlage in Deutschland modifizieren. 6 Die einfachste Form der naturalistischen Reduktion hat etwa folgende Gestalt: Die Beschreibungsform, die wir lebensweltlich praktizieren (die auf Handlungen, Intentionen, Wünsche und andere prohairetische sowie auf Erwartungen und andere epistemische Zustände ebenso wie auf Hybride wie Hoffnungen Bezug nimmt), können wir in eine Beschreibungsform übersetzen, die ohne diese Zustände auskommt – selbst wenn dies erst mit den Mitteln einer Neurowissenschaft der Zukunft möglich sein wird. Dieses Programm der Elimination des Intentionalen ist in letzter Konsequenz auch eines der Elimination der Geistes- und Sozialwissenschaften oder jedenfalls großer Teile davon. Von diesem naturalistischen Programm der Erklärung menschlichen Verhaltens möchte ich eine humanistische Position unterscheiden, die behauptet, dass diese Reduktion nicht möglich ist. So verstanden sind Naturalismus und Humanismus kontradiktorisch: Entweder ist man Naturalist oder Humanist – eine Zwischenposition gibt es nicht, ebenso wenig wie die Möglichkeit der Neutralität. Mir ist allerdings klar, dass man die Begriffe Naturalismus und Humanismus auch in ganz anderer Weise verwenden kann, wie etwa in der Exposition dieser Tagung nahegelegt wurde. Ziel meines Vortrags ist es, die von mir eben eingeführten Begrifflichkeiten klar zu machen. Zuerst soll geklärt werden, ob die Philosophie – als klassische humanistische Disziplin – überhaupt dazu in der Lage ist, sich mit dem Thema des Naturalismus zu beschäftigen. Man könnte diese Frage anhand des alten Streites zwischen Platonikern und Aristotelikern diskutieren, der sich durch Antike, Mittelalter und frühe Neuzeit bis in die Gegenwart zieht und der um das Problem kreist, ob Mathematik und formale Modelle relevant seien für die ta anthropina. Auf diese Frage muss man differenziert antworten: In der Sprachphilosophie bewähren sich formale Methoden, ebenso in der philosophischen Logik – insofern markiert die Frage der Formalisierbarkeit keine Trennungslinie zwischen naturalistischen und humanistischen Disziplinen. Diese methodologische Vielschichtigkeit der Philosophie spiegelt ihren StaVgl. die drei Bände aus der Reihe Humanprojekt »Naturgeschichte der Freiheit« (2007), »Funktionen des Bewusstseins« (2008) und »Was ist der Mensch?« (2008), die von Detlef Ganten, Volker Gerhardt und mir bei De Gruyter in Berlin herausgegeben wurden.
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tus als Mutterwissenschaft wieder, aus der das gesamte Fächerspektrum der modernen Universität – mit der Ausnahme der drei traditionell berufsbildenden Disziplinen Theologie, Jurisprudenz und Medizin – hervorgegangen ist. Darüber hinaus ist Philosophie Spezialwissenschaft mit bestimmten Forschungsgegenständen, die nur sie traktieren kann, wie etwa die inhaltliche Auseinandersetzung mit philosophischen Klassikern. Auch ist sie Integrationswissenschaft, d. h. sie hat die Aufgabe zwischen den Disziplinen zu vermitteln und zu einem wissenschaftlichen Weltbild – auch gegenüber einer intellektuell interessierten Öffentlichkeit – beizutragen. 7 Mit ihrer Integrationsfunktion geht schließlich auch die Rolle der Philosophie als normativ verfasste Orientierungswissenschaft Hand in Hand. Nun gilt es den vermeintlichen Gegensatz zu erörtern, der zum Auftakt der Tagung zu Recht problematisiert wurde, nämlich den zwischen Natur und Kultur. Es gibt eine völlig irrationale Debatte um die Frage, welcher Anteil der menschlichen Fähigkeiten genetisch und durch die Umwelt bedingt ist und welcher Anteil auf kulturelle Entwicklungen zurückgeht. Immer noch gibt es Wissenschaftler, die hierzu Prozentangaben machen und etwa von einem Verhältnis von 60:40 oder 70:30 ausgehen. Angesichts solcher Aussagen muss man fragen, was hier gemessen wird, ja was eigentlich mit diesen Messungen gemeint ist. Wenn man bspw. das Spektrum zwischen Gras und Mensch betrachtet, dann ist der Anteil der Genetik für das, was Menschen sind, sehr hoch. Wenn man jedoch die genetische Ausstattung unterschiedlicher Ethnien vergleicht, dann muss der Anteil sozialer und kultureller Prägungen viel höher. Das Verhältnis Natur – Kultur hängt also davon ab, was man miteinander vergleichen will. Sicher trifft zu, dass alles, was wir an Fähigkeiten erwerben, irgendwie mit unseren natürlichen Möglichkeiten und Potentialen zusammenhängt. Darin, dass das Kulturelle letztlich im Sinne einer Einflussnahme von Lebensbedingungen auf das, was das einzelne Individuum als Mitglied einer Spezies ausmacht, zu verstehen ist – darin unterscheidet sich die Entwicklung der Menschen nicht von der anderer Lebewesen. So gibt es UntersuchunDiese Aufgabe der Integration wurde in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt, wie etwa die in meinen Augen bedauerliche Entwicklung der allgemeinen Wissenschaftstheorie belegt: Diese weist nur wenig Forschungsdynamik auf und ist damit als Ansprechpartner für die Einzelwissenschaften unattraktiver geworden – wobei dies nur für die allgemeine Wissenschaftstheorie gilt, nicht für die historische Wissenschaftstheorie oder die Wissenschaftstheorie spezieller Wissenschaftsbereiche wie der Biologie.
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gen in der Tier-Ethologie, die deutlich zeigen, dass das beobachtbare Verhalten nur zum Teil genetisch fixiert ist, zum Teil aber kulturell erlernt und weitergegeben wird: Bestimmte Praktiken des Nahrungserwerbs werden in der einen Region von derselben Affenart ganz anders ausgelebt als in anderen Regionen. Aber die Fähigkeit, es so und nicht anders zu machen, ist natürlich im Sinne genetisch. Es gibt also keine strikte Grenze, das Kulturelle und das Natürliche hängen zusammen. Was die Modi des Beschreibens angeht: Wir haben eine Beschreibungsvielfalt von identischen Phänomenen. So kann man eine Handbewegung als Handlung beschreiben oder als einen physikalischen Prozess. Man kann mit den Mitteln der Biologie die Bewegung eines Pferdes beschreiben, man kann dies aber auch mit den Mitteln der Physik und der anorganischen Chemie. Innerhalb des Rahmens der Biologie kann man die Bewegung eines Pferdes ohne Rekurs oder aber mit Rekurs auf mentale Zustände des Pferdes beschreiben. Wie nun diese Beschreibungsformen miteinander in Zusammenhang stehen, ist eine sehr komplexe Frage. Es scheint mir aber plausibel zu sein, dass jedes physikalische Ereignis, das Teil der Bewegung des Pferdes ist, sofern es sich mit den begrifflichen Mitteln der Physik beschreiben lässt, ohne Rest physikalisch erklärbar ist. Es gibt also auf dieser Ebene der Beschreibung keine Ereignisse, die rätselhaft sind – selbst wenn es uns im Augenblick aufgrund mangelnder Rechnerkapazität noch nicht gelingt, all diese komplexen Ereignisse zu beschreiben. 8 Dennoch ist es auch plausibel anzunehmen, dass die Beschreibungsform, die die Biologie zur Verfügung hat, um die Bewegung eines Pferdes zu beschreiben, in einem sauber präzisierbaren Sinne nicht reduzierbar ist auf die physikalische. Und dass insofern aus der Perspektive der biologischen Beschreibung in der physikalischen Beschreibung etwas fehlt – allein schon deswegen, weil in der biologischen Beschreibung Ereignisse auftauchen, die es in der physikalischen gar nicht gibt. Das kann man sich mit Hilfe eines Gedankenexperimentes vor Augen führen: Angenommen, wir würden von irgendwelchen Wesen von einem fernen Stern beobachtet, die über vollständiges physikalisch-chemisch-biologisches Wissen verfügen. Diese Lebewesen könnten unser Verhalten im Sinne eines physikalisch-chemisch-biologischen Vorgangs ohne Rest beschreiben und jedes Ereignis erklären. Trotzdem hätten wir zu Recht 8
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Vgl. John Searle: The Rediscovery of Mind, Cambridge/MA 1992.
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den Eindruck, dass in deren Beschreibung unserer Praktiken etwas fehlt. Denn solange nicht von den Absichten die Rede ist, die Personen in ihren Handlungen verfolgen, ist die Beschreibung unvollständig, auch wenn es in der physikalisch-chemisch-biologischen Beschreibung keine Lücken gibt. Es gibt also sowohl eine Beschreibungsvielfalt als auch eine bestimmte Form von Vollständigkeit der Beschreibung im Sinne der vollständigen Erklärbarkeit aller mit den begrifflichen Mitteln der jeweiligen Ebene beschriebenen Ereignisse und Prozesse auf dieser Ebene. Doch obwohl viele in der gegenwärtigen Debatte zwischen Neurowissenschaft und Philosophie die Vollständigkeit der physikalischen Beschreibung als Beweis für die kausale physikalische Abgeschlossenheit der Welt und die Möglichkeit naturalistischer Reduktion verstehen, halte ich dies für falsch. Um dies deutlich zu machen, bedarf es der begrifflichen Verfeinerung: Unterscheiden wir einmal Naturalismus im weiteren Sinne von Naturalismus im engeren Sinne. Naturalismus im allerweitesten Sinne besteht in einer metaphysischen Position, wonach alle Dinge, alle Prozesse, alle Ereignisse Teil der Natur sind – vielleicht um den Zusatz ergänzt, dass diese alle miteinander zusammenhängen und dass es keine separaten Seins-Schichten gibt. In diesem Sinne hätte ich kein Problem mit Naturalismus, selbst wenn mir die These allzu vage formuliert erscheint. Ich würde jemandem zustimmen, der behauptet, man sollte nicht der Illusion anhängen, es gäbe irgendwelche spezifischen Ereignistypen, die eine Sonderklasse darstellen und die aus dem Naturzusammenhang herausgelöst und davon unabhängig sind. Nicht einmal Immanuel Kant – der aufgrund seiner Gegenüberstellung von Freiheits- und Naturgesetzen als Vertreter einer getrennten Seins-Schicht verstanden werden könnte – würde diese These bestreiten. Denn wenn man Kant genau liest, wird deutlich, dass er die Trennung von phänomenalem und noumenalem Ich kompatibilistisch verstanden wissen will. Allerdings muss man fragen, ob sich diese zwei getrennten Perspektiven so, wie Kant sie vorschlägt, tatsächlich durchhalten lassen – an anderer Stelle habe ich dagegen argumentiert. 9 Ein ähnlich umfassender, in seiner theoretischen Ausrichtung aber ganz anders gearteter Naturalismus wird u. a. von Robert Spaemann und Reinhard Löw in dem Werk Die Frage wozu? vorgeschla9
Vgl. Julian Nida-Rümelin: Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2005. A
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gen. 10 Sie interpretieren die gesamte natürliche Ordnung als teleologisch, d. h. sie wählen für das Gesamt der Welt eine Beschreibungsform, die für bestimmte Lebewesen angemessen ist, nämlich die der Zwecke, Ziele, Intentionen, Wünsche, Hoffnungen, Erwartungen, Ängste usw. Dadurch gelangen die genannten Autoren zu dem Ergebnis, dass wir kein spezifisches Problem der naturalistischen Beschreibung des Menschen haben, da ja die gesamte Natur teleologisch – der Mensch lediglich in besonders auffälliger Weise – verfasst ist. Diese Ausdehnung intentionalistischen Vokabulars auf andere Bereiche der Welt jenseits menschlichen Handelns scheint mir – außer in einem metaphorischen Sinne – wenig plausibel; in jedem Fall lässt sich dies nicht mit dem heutigen Stand der Naturwissenschaft vereinbaren. Denn um diese Sichtweise aufrecht zu erhalten, müsste man statt der einheitlichen, auf Antezendenzbedingungen und Regularitäten beruhenden naturwissenschaftlichen Kausalität zu einem aristotelischen Pluralismus der archai zurückkehren. Damit hätte man aber nicht nur mit der klassischen, relativistischen und quantenmechanischen Physik, sondern auch mit der anorganischen und organischen Chemie, der Molekularbiologie und Genetik und auch der Neurobiologie gebrochen. Dieses freundliche Angebot seitens der Philosophie an die Naturwissenschaft, die Naturalismus-Frage endgültig zu lösen, wäre also ein Danaergeschenk, verlangte es doch von den Naturwissenschaftlern, ihre spezifischen und erfolgreichen Analysemethoden und Theorieformen aufzugeben. Naturalismus im engeren Sinne verwende ich im Folgenden als terminus technicus, der aber mit einem weiten Bereich der philosophischen Literatur der Gegenwart vereinbar ist. Demnach besteht Naturalismus im engeren Sinne im heuristischen Programm des Physikalismus. Dessen Faszination und Hoffnung besteht darin, dass man möglichst weite Bereiche der naturwissenschaftlichen Nachbardisziplinen in diese wunderbare, auf wenige mathematische Zusammenhänge reduzierbare Wissenschaft einbringen und dadurch zusätzliche naturwissenschaftliche Gesetze überflüssig machen kann. Ich will das an einem Beispiel präzisieren: Wir reden heute noch von Elektromagnetismus und magnetischen Kräften, doch dies ist streng genommen Vgl. Robert Spaemann/Reinhart Löw: Die Frage Wozu?, München 1996. Vgl. ebenso Hans Jonas: Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. 1984.
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schon seit der Entstehung der speziellen Relativitätstheorie überflüssig. Denn Einsteins spezielle Relativitätstheorie erlaubt es, alle magnetischen Phänomene auf normale elektrodynamische Phänomene sowie relativistische Effekte zu reduzieren. Tatsächlich könnte man hinzufügen, dass die spezielle Relativitätstheorie durch diese Integrationsleistung ihre Bewährungsprobe bestanden hat, selbst wenn durch sie interessanterweise keine zusätzlichen empirischen Befunde erklärt werden können. Das, was wir vorher mit der Theorie des Elektromagnetismus (den Maxwell’schen Gleichungen) wunderbar haben erfassen, ist damit obsolet. Denn obwohl die Maxwell’schen Gleichungen nicht falsch geworden sind, haben sie nun einen anderen Status, da sie Größen enthalten, die prinzipiell entbehrlich sind. Durch diese Reduktion wird die Einheitlichkeit und Kohärenz der Physik dramatisch erhöht: Denn nach diesem Verständnis von »reduzieren« wird es strenggenommen überflüssig, von magnetischen Phänomenen zu sprechen. In diesem Sinne ist ein Reduktionsprogramm dann geglückt, wenn es die betreffende Theorie einschließlich ihrer Begriffe im strengen theoretischen Sinne überflüssig macht (selbst wenn es aus pragmatischen Gründen immer noch geboten erscheint, mit der alten Theorie zu arbeiten, weil die neue zu kompliziert ist, wie dies auch im Falle der Maxwell’schen Gleichungen oder der Reduktion anorganischer Chemie auf physikalische Gesetzmäßigkeiten geschieht). Naturalismus im engeren Sinne ist also ein umfassendes, wissenschaftliches Reduktionsprogramm, das darauf zielt, das Gesamt der Wissenschaft auf physikalische Gesetzmäßigkeiten zu reduzieren. Ich glaube nicht, dass dieser Reduktionismus auch nur Naturwissenschafts-intern durchführbar ist. Zwar müsste man zur abschließenden Klärung dieser Frage einen Wissenschaftstheoretiker bspw. der Biologie befragen, aber bislang sieht es nicht so aus, als ob dieses Projekt wesentlich weiter ausgreifen würde als vielleicht die Reduktion der anorganischen Chemie auf die Physik. Klar ist aber, dass die Reduktion geistes- und sozialwissenschaftlicher Erklärungen auf physikalischmechanistische nicht gelingen wird, und zwar u. a. deswegen, weil für sozial-, geistes- und kulturwissenschaftliche Gegenstände der Beschreibung und Erklärung bestimmte Größen eine Rolle spielen, die aus systematischen Gründen in der Physik keinen Ort haben. Eine solche Größe sind etwa mentale Zustände, Intentionen, Absichten, Wünsche usw. Eine Gedichtinterpretation mit den Mitteln der Physik ist schlechterdings unvorstellbar. Deswegen ist Naturalismus im engeren A
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Sinne bezüglich dieses Gegenstandes einer Wissenschaft, nämlich der Literaturwissenschaft, auf jeden Fall gescheitert. Der Naturalismus im engeren Sinne wird hierbei nicht als eine These kritisiert, die man nach dem Stand der Wissenschaft nicht umsetzen kann, sondern aus ganz grundsätzlicher Erwägung: Denn der Begriffsapparat, der der Physik zur Verfügung steht, ist nicht in der Lage, alle Phänomene adäquat zu beschreiben. An dieser Stelle möchte ich nun drei philosophische Argumente gegen den Naturalismus im engeren Sinne anführen. Für diese Argumente greife ich ein Element geistes- und sozialwissenschaftlicher Erklärung heraus, nämlich das Phänomen der Gründe. Wie zentral dieses Element ist, lässt sich leicht verdeutlichen: Wir sind als Akteure nur in der Lage, uns mit anderen zu verständigen, zu kooperieren, zu interagieren usw., wenn wir in weitgehend einheitlicher Weise eine bestimmte Zuschreibungspraxis praktizieren, nämlich dass wir uns wechselseitig verlässlich Gründe zuschreiben. D. h. für eine Lebensform im Sinne von Verständigung, Kooperation, Interaktion usw. müssen wir voraussetzen, dass Personen Gründe haben, aus denen heraus sie etwas glauben (theoretische Gründe) oder etwas tun (praktische Gründe). Anders als Herr Hampe am Ende der Debatte angedeutet hat, bin ich der Ansicht, dass diese geteilte Lebenswelt/Lebensform gegenüber wissenschaftlichen Revolutionen so gut wie immun ist, dass also in diesem Bereich keine Analoga zu wissenschaftlichen Revolutionen im Sinne von Thomas S. Kuhn stattfinden. Denn die interkulturellen und historischen Invarianzen bezüglich dessen, was als guter Grund angesehen wird, sind ziemlich groß – wenn auch nicht unbegrenzt groß, wie etwa das Beispiel, wie man mit dem Tod umgehen sollte, zeigt. Dennoch glaube ich, dass es keinen Anlass für einen radikalen Konstruktivismus hinsichtlich der Frage, was gute Gründe sind, gibt: Wie wäre es möglich, dass wir altgriechische Texte lesen und die Gründe der dargestellten Akteure (und damit ihr Handeln) verstehen können, wäre unsere Lebenswelt nicht zu großen Teilen stabil? Ich will nun anhand des Phänomens der Gründe gegen den Naturalismus im engeren Sinne argumentieren, indem ich drei Thesen, die gegen die Reduzierbarkeit von Gründen auf physikalische Prozesse sprechen, anführe. 11 Alle drei (vor allem aber die erste) sind mittlerweile umstritten – ein Umstand, der vor zehn Jahren noch anders war. 11
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Vgl. Julian Nida-Rümelin: Three reasons against naturalizing epistemic reasons, i. E.
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Die erste ist die Psychologismus-Kritik von Gottlob Frege und Edmund Husserl, nach der logische Inferenzen keine psychologischen Gesetzmäßigkeiten sind; sie sind vielmehr etwas anderes und daher a fortiori auch keine neurowissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten. 12 Die gesamte Praxis des Umgangs mit Gründen spricht für diese objektivistische Interpretation: Etwas ist wohlbegründet oder nicht, und das ist nicht übersetzbar in eine Beschreibung subjektiver Zustände. Wir können alle – auch unter idealen Bedingungen – irren, und dieses Faktum ist auch in der wissenschaftlichen Interaktionsform akzeptiert. Dass wir kein Fundament haben oder keinen archimedischen Punkt, von dem heraus wir abschließend beurteilen können, ob ein Grund ein guter ist – dies ist eine traurige Wahrheit, die man sowohl im akademischen als auch im alltäglichen Kontext akzeptieren muss. Die Philosophie hat sich über lange Zeit gegen diese Wahrheit gewehrt und das große rationalistische Programm im Anschluss an René Descartes ist Zeuge dieses Widerstrebens. Doch mit einer anti-rationalistischen, pragmatistischen, nicht-zertistischen Epistemologie ist die Objektivität von Gründen vereinbar. Wenn aber Gründe nicht subjektiv, sondern objektiv sind und damit a fortiori keine psychologischen oder neurowissenschaftlichen Prozesse, so muss die Vorstellung der Reduzierbarkeit von Gründen auf die naturwissenschaftlich beschreibbare Ebene scheitern. In meinem zweiten Punkt möchte ich mich auf epistemische Gründe konzentrieren, da in der Philosophie nach wie vor die Meinung weit verbreitet ist, dass praktische Gründe als wunschgesteuert zu interpretieren seien (nach dieser als desire-belief-theory berühmt gewordenen Vorstellung beruhen praktische Gründe auf gegebenen Wünschen modulo deskriptiven Überzeugungen 13 ). Epistemische Gründe – also Gründe, etwas zu glauben oder von etwas überzeugt zu sein – sind normativ: Wenn es einen guten Grund gibt für eine Proposition, dann sollten wir von dieser Proposition überzeugt sein. Doch wenn die Theorie des naturalistischen Fehlschlusses gilt, dann ist allein die Tatsache, dass Gründe (theoretische wie praktische) normativ sind, ein Argument dagegen, dass sich Beschreibungen und Erklärungen unter Vgl. Gottlob Frege: Die Grundlagen der Arithmetik, Hamburg 1988 sowie Edmund Husserl: Logische Untersuchungen, Den Haag 1975. 13 Vgl. Bernard Williams: Moral Luck, Cambridge 1981, S. 101–113 (»Internal and External Reasons«). 12
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Rekurs auf Gründe in eine physikalische Sprache überführen lassen, dass sich also diejenigen Phänomene, die von Gründen geleitet sind, als physikalische adäquat erfassen und mit den Mitteln der Physik erklären lassen. Wenn theoretische Gründe für die These der Nicht-Reduzierbarkeit zugrunde gelegt werden, dann haben wir schließlich ein Argument gegen die Identität neurowissenschaftlicher Prozesse und Gründe-gesteuerter Deliberationen: Denn ein wichtiger Teil unserer theoretischen Regeln ist nicht algorithmischen Charakters. Dies ist insofern relevant, als die meisten Neurobiologen davon überzeugt sind, dass eine kausale Erklärung algorithmisch ist: Kausale Erklärungen haben eine algorithmische Form, so dass zu einem hinreichend vollständig beschriebenen Zustand jeweils der Nachfolgezustand angegeben werden kann. Eine erfolgreiche kausale Erklärung erlaubt mithin die Prognose eines bestimmten Ereignisses bei vollständiger Beschreibung des vorausgegangenen Zustandes. So behauptet etwa der von mir sehr geschätzte Wolf Singer, dass die Vorhersage eines neurowissenschaftlichen oder durch neurowissenschaftliche Prozesse gesteuerten Phänomens möglich ist, ausgehend von Wissen um die genetische und epigenetische Ausstattung sowie die Vorgeschichte der sensorischen Stimuli des Individuums. Nach dieser Vorstellung ist ein Mensch, der deliberiert, letztlich nichts anderes als eine Turingmaschine. Damit gelten aber auch die meta-mathematischen Resultate von Kurt Gödel, Alonzo Church und Stephen Kleene, die seit den 30er Jahren unumstritten sind. 14 Diese Resultate zeigen, dass zwar in der Aussagenlogik noch jedes Theorem algorithmisch beweisbar ist, d. h. dass jedes Theorem in endlichen Schritten unter bestimmten mechanischen Verfahren (die Methode der Wahrheitswerttabellen ist nur eines von diesen) zu beweisen ist. Doch es ist auch unumstritten, dass Gleiches nicht mehr für die Prädikatenlogik erster Stufe gilt, also für anspruchsvollere logische Theoreme, die Existenz- und Allquantoren, gebundene und ungebundene Individuenvariablen und Prädikate einbeziehen. Schon diese Theoreme – die den Elementarbereich der Logik bilden – lassen sich nicht mehr algorithmisch beweisen. Doch die Beweise von Theoremen der Prädikatenlogik erster Stufe sind ein Beispiel für epistemische BeFür eine Zusammenschau vgl. Wolfgang Stegmüller: Unvollständigkeit und Unentscheidbarkeit: Die mathematischen Resultate von Gödel, Church, Kleene, Rosser und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung, Wien 1973.
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gründungen: Ein Beweis ist eine epistemische Begründung, d. h. eine Begründung dafür, dass etwas (in diesem Fall ein Theorem) zutrifft. Wenn man aber diese Beweise als Gründe gelten lässt; und wenn man zudem an den genannten meta-mathematischen Resultaten festhält; und wenn schließlich der Kausalitätsbegriff wie oben beschrieben eingeführt wurde (dass er algorithmischen Charakter hat); dann ist bewiesen, dass jedenfalls ein Typ von Gründen sich nicht naturalistisch reduzieren lässt. Man kann selten in der Philosophie so klare Argumente bringen wie hier. Wenn wir wirklich annehmen müssten, Menschen seien algorithmische Maschinen, dann hätten wir meiner Ansicht nach Grund dazu, entgegen dem kompatibilistischen mainstream in der Analytischen Philosophie daran zu zweifeln, dass wir verantwortlich sind für das, was wir tun. Wir haben aber keinen Grund anzunehmen, dass wir algorithmische Maschinen sind. Wir haben allen Grund anzunehmen, dass Gründe eine Rolle spielen für das, was wir tun, und das, was wir glauben – und zwar eine irreduzible Rolle (damit ist aber natürlich nicht bestritten, dass auch die genetischen und epigenetischen Bedingungen sowie die kausale Vorgeschichte eine ganz zentrale Rolle spielen). Wenn man dies akzeptiert, dann ist es nicht unplausibel, dass wir uns – da wir die Fähigkeit haben, ausgehend von Gründen Überzeugung zu haben oder Handlung auszuführen – wechselseitig verantwortlich machen für Überzeugungen und Handlungen, auch wenn dies in bestimmten Grenzen, die auch mit unserer genetischen Ausstattung zu tun haben, geschieht. Insofern scheint es zwischen dem dargestellten erkenntnistheoretischen Humanismus und einem ethischen Humanismus eine gewisse Verbindung zu geben. Wer erkenntnistheoretisch Naturalist ist, hat daher zumindest ein Erklärungsproblem, wenn er in praktischer Hinsicht nach wie vor ethische Positionen vertritt. Oft bleibt nur der – mir wenig überzeugend erscheinende – Ausweg, den Wolf Singer wählt, nach dem Verantwortungszuschreibung nur Mittel zur kausalen Beeinflussung sind: Nach Singer sind Verantwortungszuschreibungen eine notwendige Illusion, vor allem in unserem Umgang mit Kindern, um ihnen bestimmte Verhaltensweisen anzutrainieren – selbst wenn die Erziehenden wissen, dass eigentlich niemand verantwortlich gemacht werden kann. Ähnliche naturalistische Position würden Julien de la Mettrie, Ernst Haeckel, weitgehend Rudolf Carnap und Willard Van Orman Quine mit seiner naturalisierten Erkenntnistheorie vertreten. Im humanistischen Lager finden sich A
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dagegen Aristoteles, Isaac Newton (der ein absoluter Anti-Reduktionist war, auch wenn sich das noch nicht überall herumgesprochen hat), Immanuel Kant, Karl Popper und der alte (nicht aber der junge) Hilary Putnam, den ich zunehmend als Geistesverwandten sehe. Dankeschön.
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Humanismus als Naturalismus Zur Kritik an Julian Nida-Rümelins Entgegensetzung von Natur und Freiheit
1. Anlass und Absicht. Natur, Kultur und Technik sind Momente eines Zusammenhangs. Die Natur können wir als das alles Umfassende ansehen, das mit dem Sein, der Wirklichkeit oder der Welt zusammenfällt. Rechnen wir auch Raum und Zeit hinzu, dann haben auch das All und seine Geschichte als Natur zu gelten. Ihr entgeht nichts; alles verbleibt in ihr. Das gilt insbesondere für Technik und Kultur. Inwieweit die Technik bereits zum physischen Fundament der Natur gehört, dürfte strittig sein, obgleich man den Gedanken an sie gar nicht abwehren kann, sobald man sich nur das Modell eines Atoms oder die Wellenform eines Quantenteilchens vorzustellen sucht. Aber sobald die Natur dazu übergeht, sich lebendig zu organisieren, ist der Beitrag der Technik offenkundig. Denn Selbstorganisation als tragende Kondition des Lebens ist ein immer auch technischer Vorgang, in dem die Organe nach Art von Mitteln zu wechselnden Zwecken zusammenwirken. Jeder Organismus, der auch nur den Ansatz zu einer internen Arbeitsteilung aufweist, nutzt Techniken des Selbst- und Fremdbezugs, durch die er sich am Leben hält. Kultur aber ist, was im umweltbezogenen Zusammenwirken der Individuen einer Spezies an stabilen, das Leben stützenden Formen entsteht. Mir ist bewusst, dass der frühe lateinische Gebrauch von cultura auf die menschlichen Leistungen von Ackerbau und Viehzucht bezogen war. Inzwischen aber ist der Begriff zum Ausdruck für die bearbeitete Natur geworden, in der sich der Mensch sein Leben ermöglicht. In dieser weiten Fassung lässt sich der Terminus jedoch nicht mehr allein auf die menschliche Lebensform beschränken. Jede soziale Gestalt des Lebens entwickelt Techniken des Umgangs der Individuen mit sich, mit ihresgleichen und mit ihrer Umgebung, die in ihrer Gesamtheit als Kultur bezeichnet werden können. Von dieser engen Beziehung zwischen Natur, Technik und Kultur gehe ich aus, wenn ich im Folgenden die Gelegenheit nutze, mich mit A
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der Kritik meines geschätzten Kollegen Julian Nida-Rümelin am Programm des Naturalismus auseinander zu setzen. Meine Kritik mündet in ein Lob für seine Freiheitstheorie, die ich am Ende durch den Punkt ergänze, der mir in der Kritik an der Trennung von Naturalismus und Humanismus vorrangig erscheint. 2. Parallele und Gegensatz. Julian Nida-Rümelin hat in zwei Vorträgen des Jahres 2003 zur Lage der Geisteswissenschaften Stellung genommen. Sie sind in einem Sammelband unter dem schönen Titel Humanismus als Leitkultur erschienen und überaus lesenswert (Nida-Rümelin 2006, 49–56). Die treffende Formel, die den Humanismus mit guten Gründen in die aktuelle politische Debatte einbringt, habe ich an anderer Stelle kommentiert (Gerhardt 2007a, 434 f.). Die in unserem Zusammenhang nahe liegende Frage ist, wie sich der Humanismus zur Wissenschaft verhält und was er mit den disziplinären Unterscheidungen zu tun hat, die nicht unabhängig von den Themen sind, um die es dem Humanismus geht. Das tritt nicht gleich in den Blick, wenn wir, wie es in Deutschland üblich geworden ist, von »Geisteswissenschaften« auf der einen und »Naturwissenschaften« auf der anderen Seite sprechen. Aber wir brauchen nur die in der Sache viel besser passende Bezeichnung »Humanwissenschaften« heranzuziehen, um zu erkennen, dass es eine Verbindung zwischen dem Humanismus und der Einteilung der Disziplinen gibt. Die Geisteswissenschaften scheinen die Erbschaft des Humanismus fortzusetzen, während die Naturwissenschaften davon eher nicht berührt erscheinen. Stehen sie dem Erbe der Humanität vielleicht sogar entgegen? Die Vermutung ist so abwegig nicht. Sieht man, wie wichtig es Julian Nida-Rümelin ist, den Humanismus vom Naturalismus abzugrenzen, und nimmt man hinzu, dass der von ihm gemeinte Naturalismus wesentlich in der Präferenz für die Ergebnisse der Naturwissenschaften besteht, dann scheinen sich Human- und Naturwissenschaften zu verhalten, wie Humanismus und Naturalismus. Da Nida-Rümelin den Humanismus als einen »Non-Naturalismus« versteht, den Naturalismus aber als eine Auffassung vorstellt, die davon ausgeht, »dass grundsätzlich alle Phänomene, einschließlich mentaler und speziell intentionaler Zustände und Prozesse, also auch menschliches Handeln, mit naturwissenschaftlichen Methoden vollständig beschrieben und erklärt werden können« (Nida-Rümelin 2005, 35), scheint es sogar zu 160
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einer Art Gegensatz zwischen Geistes- und Naturwissenschaften kommen zu müssen. Stehen Humanismus und Naturalismus in Opposition, dann wird man auch ihre Leitwissenschaften in einen Gegensatz bringen müssen. Diese Schlussfolgerung käme gängigen Vorstellungen entgegen, hätte aber wenig mit der sachlichen Nähe, den methodologischen Gemeinsamkeiten und den weitgehend deckungsgleichen Zielen von Natur- und Geisteswissenschaften zu tun. Es mag zwar sein, dass die historischen Missverständnisse auf beiden Seiten zur Entfremdung zwischen den Wissenschaftszweigen geführt haben. Aber wenn wir sehen, dass von ihrer Trennung bis ins frühe 19. Jahrhundert noch gar nicht die Rede war, dass sie sich auf vielen Gebieten längst wieder angenähert haben und heute unter dem Anspruch der Lebenswissenschaften zu enger Zusammenarbeit genötigt sind, dann ist es mehr als fragwürdig, sie gegeneinander stellen zu wollen. Wenn dies aber im Verhältnis der Wissenschaften so ist, muss gefragt werden, ob es angemessen ist, das parallel zu den Disziplinen angelegte Verhältnis zwischen Humanismus und Naturalismus nach Art einer Opposition zu begreifen. 3. Motiv und Grund. Im Unterschied zu Nida-Rümelin – und ausnahmsweise einmal in Übereinstimmung mit Karl Marx – gehe ich von der Vereinbarkeit von Naturalismus und Humanismus aus. Nur in der selbstbewussten Einbindung des Menschen in eine Natur, auf die er sich verlassen können muss, wenn er denn überhaupt handeln können soll, gelingt es ihm, in Übereinstimmung mit sich selbst zu sein. Das war es, was der junge, noch ganz der romantischen Stimmung Schellings verbundene Marx mit dem konkludenten Doppelziel der »Naturalisierung des Menschen« und einer »Humanisierung der Natur« erhoffte. 1 Der Mensch ist Natur und kann ihr durch nichts ent1 Wörtlich lautet die Passage: »Also ist die Gesellschaft die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.« (Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), Marx-Engels Werke (MEW), Erg.Bd. I, Berlin 1968, 538) Wie ernst Marx die Sache ist, zeigt auch die vorher geäußerte Erwartung: »Das Tierische wird das Menschliche, und das Menschliche das Tierische.« (Ebd., 515). Ferner die Aussage über das Wesen des von ihm gewollten Kommunismus: »Dieser Kommunismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen
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kommen: durch nichts, was aus dieser Natur erwächst, auch durch nichts, was er aus ihr (und insofern auch aus sich selbst) macht. Die Selbstbestimmung, in der die Freiheit des Menschen zu dem für ihn spezifischen Ausdruck kommt, ist ein spezieller Fall der Selbstorganisation, in der sich das Lebendige als spezieller Fall der Natur erweist. Diese These geht von der alten Überzeugung aus, dass die Vernunft zur Natur des Menschen gehört. Die Vernunft, oder wie ich mit Julian Nida-Rümelin sagen kann: die strukturelle Rationalität, ist ein wesentliches Kennzeichen des Menschen. Sie erlaubt ihm, die Verbindung zwischen seinem Selbstbegriff als individuelle Person und der von ihm in der Selbstbestimmung auf Distanz gebrachten Welt technisch einsichtig zu machen. Das technisch wirksame Mittel sind die Gründe, in denen sich der Einzelne des Grundes versichert, auf dem er als selbstbewusster Teil der Natur mit seinesgleichen stehen kann. Wenn ich Gründe als »angeeignete Motive« fasse (Gerhardt 1999, 294 ff.), steht zugleich die selbstbewusste Aneignung der eigenen Natur des Menschen durch ihn selbst im Vordergrund. Zu ihr gehört die Erwartung, dass Gründe, gerade auch die eigenen Gründe, einen allgemeinen Anspruch mit sich führen, der Anderen einsichtig sein kann. In der Anerkennung eines Motivs als eines eigenen Grundes liegt das ganze Geheimnis des Übergangs von der Natur zum Geist. Weit davon entfernt, das Geheimnis zu entschlüsseln, bietet schon die Tatsache und die Art des Übergangs die Gewissheit, dass mit ihm die Natur nicht verlassen wird. Über Gründe statt über Motive zu sprechen, setzt einen anderen Zustand der Organisation des zur Erklärung anstehenden Vorgangs voraus, ganz ähnlich, wie es schon im Übergang von den Ursachen zu den Motiven ist. Ursachen unterstellen lineare Wirkungszusammenhänge mechanischer Art. Für sie reicht ein physikalisches Verständnis der Wirkungszusammenhänge aus. Motive sind bewusst gewordene Antriebe lebendiger Systeme, die sich mithilfe eigener Einsichten steuern. Im Unterschied zu Ursachen sind sie auf das Ganze eines lebendigen Organismus bezogen. Sie lassen sich in einer psychologischen Reflexion auf die selbstbewussten Bewegungsimpulse dieses Organismus erfassen. Gründe sind die durch das Ganze einer Person im Bewusstsein ihrer geschichtlich-gesellschaftlichen Stellung akzeptierten Erklärundem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen […]« (Ebd. 536). Dazu: Gerhardt 2001, 339; 2008.
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gen, die auch Anderen einleuchten sollen. Ursachen verknüpfen jeweils für sich genommene Zustände oder Ereignisse zu einem wirksamen Geschehen; sie bezeichnen nur die Verbindung zwischen einem Auslöser und seiner Folge. Motive zeigen dem seiner selbst bewussten Organismus Dispositionen an, nach denen er sich als ganzer bewegen kann; in ihnen sind die Ursachen in die organische Einheit eines psychophysischen Vorgangs integriert. Gründe sind für zureichend erachtete Motive zu Handlungen, in denen sich ein sich selbst bestimmendes Individuum im Kontext seiner sozialen Selbstauffassung versteht. Gründe sind niemals bloß auf physikalische Ereignisse oder psychische Zustände bezogen; in ihnen kommt immer auch das gesellschaftliche Selbstverständnis des Handelnden zum Ausdruck. Soweit mir bekannt ist, vertritt niemand die These, dass die physikalisch beschriebene Natur von den Lebewesen, die sich in ihr bilden, verlassen wird. Mit der Selbstorganisation biologischer Systemeinheiten kommt es lediglich zu einer neuen Form des Zusammenwirkens gegebener physikalischer Kräfte. Die ganzheitliche Form ist hier in der Einheit des Organismus gegeben. Entsprechendes gilt für den Übergang einer Beschreibung der Selbstbewegung biopsychischer Einheiten zu ihrer Selbstbeschreibung als sich nach allgemeinen Gründen selbst bestimmende rationale Wesen. Sie bleiben in dem, worauf sich ihre Rechtfertigung bezieht, durch und durch lebendig. Das gilt für ihre Haltung, ihre Handlung, ihr Urteil und für ihr Selbstverständnis. Selbst wer sich als ein Intellektueller begreift, kann damit weder auf seine physische noch auf seine animalische Existenz verzichten. Die Intellektualität liegt nicht in der Abkehr von der eigenen Natur, sondern darin, dass man sich in einer spezifischen, von der Natur ermöglichten, von ihr getragenen und gestalteten Form auf seinesgleichen bezieht, die, wie man selbst, in diesem Bezug den für sie entscheidenden Impuls erkennt. Darin bleibt auch der snobistische Intellektuelle abhängig von denen, auf die er herunter sieht. Die maßgebende Form des Geistes liegt in der unterstellten Gesamtheit der sich im Medium von Gründen verstehenden lebendigen Wesen. Die erste Stufe ist physikalisch, die zweite biopsychisch und die dritte sozial. Wenn es gilt, die dynamische Wirkung einer ganzheitlichen Form zu verstehen, bleibt man wesentlich auf die Kenntnis der physikalischen Gesetze angewiesen, auch wenn sie allein nicht den vollen Aufschluss über die Wirkungsweise der systemischen Einheit der A
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Selbstorganisation des Lebendigen gewähren. Die lebendigen Wesen verbleiben also selbst als Gegenstände einer ihrer Lebendigkeit angemessenen Erklärung ihrer psychischen Dynamik im Bereich der physikalischen Natur, in der sie als besonders auffällige Erscheinungen gelten können. Entsprechendes gilt für die sich als rational begreifenden Individuen: Sie müssen nicht etwa auf ihre biopsychische Lebendigkeit verzichten, um mit ihrer rationalen Explikation ihrer eigenen Motive zur Begründung ihres Verhaltens überzugehen. Sie verstehen sich als rationale Wesen im sozialen Kontext nur, insofern sie sich als physische Körper und zugleich als lebendig-empfindende Organismen verstehen. 4. Leben und Geist als Formen der Natur. Im Vergleich zu den kosmischen Sensationen von Sonne, Mond und Sternen, erst recht wenn wir in technischer Vergrößerung die Geburt oder den Tod von Sternenhaufen, die Kollision von Galaxien oder die Existenz von Schwarzen Löchern gewahren, kann das Leben unauffällig wirken. Der Kosmologe kann behaupten, es komme nur in der hauchdünnen Atmosphärenund Bodenschicht unserer Erde vor. Doch da wir uns selbst in diesem dünnen Film der Biosphäre bewegen, können uns die Erscheinungen des Lebens gar nicht entgehen. Und dies vor allem deshalb nicht, weil wir selbst lebendig sind. Die Auffälligkeit des Lebens besteht mindestens für das Lebendige selbst. Das Lebendige tritt insbesondere für das Lebendige gleicher Art hervor. Das gilt vor allem im Vorfeld der Vermehrung, in der Brutpflege oder im Schutzzusammenhang sozialer Verbände. Aber auch bei der Nahrungssuche und in der Gefahrenabwehr gilt dem bewegten anderen Leben eine verstärkte Aufmerksamkeit. Der Mensch hat hier eine sich schon früh zeigende Reizbarkeit, die sich dadurch ankündigt, dass er mit unbelebten Objekten spielt als seien sie lebendig. Aufmerksamkeit, Wahrnehmung oder Spiel sind ebenso wie die Handlung oder die Erklärung nach Motiven oder Gründen Lebensvollzüge, die unser Verständnis der Natur bereichern. Sie so anzusehen, als fielen sie aus der Natur heraus, widerspräche der alltäglichen Intuition. Auch wissenschaftlich wäre es befremdlich, sie in ein Jenseits der Natur zu verweisen. Das liefe auf eine Exilierung der Physiologie, der Biologie, der Ökologie oder der Ökonomie aus den Naturwissenschaften hinaus. Alle nicht-physikalischen Disziplinen hätten das Stammland der Physik zu verlassen, um sich außerhalb der vorgeblich nur von ihr 164
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beschriebenen Natur anzusiedeln. Wo aber fänden sie einen ihnen angemessenen Ort? Eine seit etwa zwei Jahrzehnten mögliche Antwort könnte lauten: In den »Lebenswissenschaften«. Gehört es aber nicht zum Selbstverständnis der life sciences, dass sie sich als Teil der Naturwissenschaften begreifen? Gesetzt, das wäre so, dann wäre auch durch den neueren wissenschaftlichen Sprachgebrauch bestätigt, dass wir in den Naturwissenschaften einen über die Physik hinausgehenden Begriff von Natur unterstellen, sobald wir von den Lebenswissenschaften sprechen. In den folgenden Punkten möchte ich anschaulich machen, dass wir gute Gründe haben, auch die Geisteswissenschaften nicht von den Naturwissenschaften zu separieren. Mehr noch: Sie lehren uns, dass wir die Natur nicht den Naturwissenschaften überlassen dürfen. Die Natur liegt allem zugrunde, was immer wir beschreiben und erklären können. Dabei haben wir den Geist als eine expressive Form des Lebens anzusehen, die auch im engeren Sinn zur Natur gehören muss – wenn denn das Leben selbst als eine Form der Natur begriffen werden soll. Wenn dies so ist, hat das Folgen für den Begriff des Naturalismus, den Nida-Rümelin so gebraucht, als stehe er in Opposition zum Humanismus. Ich hingegen plädiere dafür, den Naturalismus als das umfassende Erklärungskonzept anzusehen, dem alle Wissenschaften zu folgen haben. Im Rahmen des Naturalismus macht dann der Humanismus bewusst, welcher Norm wir nicht nur in der Erklärung der Natur, sondern auch in ihrer an uns selbst vollzogenen Entfaltung zu folgen haben. 5. Die strukturelle Analogie zwischen Wissen und Handeln. Das Kennzeichen der Wissenschaft, die erstmals mit den Zeugnissen der ionischen Naturphilosophie aus dem siebenten und sechsten vorchristlichen Jahrhundert überliefert ist, liegt in der Ausrichtung auf Ursachen oder Gründe (aitiai), die als Träger allgemeiner Gesetzmäßigkeiten (nomoi) überzeugen. Das einzelne Vorkommnis interessiert als exemplarischer Fall, als Beleg für einen logos, der als einsichtige Ordnung (kosmos/taxis) ein überall auf gleiche Weise ablaufendes Geschehen beherrscht. Ganz gleich, ob Thales eine Sonnenfinsternis oder eine ertragreiche Ölernte beobachtet: Er sucht nach dem kausallogischen Zusammenhang, der im jeweiligen Ereignis zum Ausdruck kommt. Ihm und seinen Nachfolgern geht es um das Gesetz, das der Vielfalt vorkommender Fälle eine Einheit gibt. Ein Gesetz erlaubt, das Geschehene im Kontext mit anderem Geschehen zu verstehen. Im Rahmen des A
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Verstandenen sind auch Vorhersagen möglich, die ihrerseits Grundlage einer technischen Verfügung über einzelne Naturvorgänge sind. Bei dieser Auffassung ist die Wissenschaft bis heute geblieben, auch wenn in der Neuzeit der Verfügungsanspruch gelegentlich überzogen worden ist. Durch die Vielfalt der in der Natur durchaus gegensätzlich wirksamen Kräfte gestaltet sich die Disposition über einzelne Erscheinungen allerdings oft viel schwieriger als man denkt. Insofern ist der Erkenntnisanspruch der Einzelwissenschaften (wenigstens in der Theorie) bescheidener geworden. Aber am grundsätzlichen Anspruch des Erkennens sowie am verfügenden Zugriff des Handelns hat auch die Kritik an übertriebenen Erwartungen nichts geändert. Das war auch deshalb nicht nötig, weil in der Relation von Gesetz und Einzelfall keine kulturelle Spezialität der frühen Griechen, sondern lediglich die Dynamik eines im öffentlichen Raum kommunizierten Handelns zum Ausdruck kommt. Wer unter Bedingungen allgemeiner Mitteilbarkeit tätig sein will und dabei die prinzipiell mögliche Einsicht eines jeden unterstellt, der muss auch heute noch so verfahren, wie es die Griechen taten. Sie brauchten einen öffentlichen Handlungsraum, in dem jeder Gegenstand im Prinzip von jedem verhandelt werden kann, um mit der favorisierten wissenschaftlichen Erklärungsform zugleich den Zugang zu den Handlungsbedingungen zu eröffnen. So konnten sie verfahren, weil es in jeder politischen, militärischen, pädagogischen, musischen, medizinischen oder technisch-konstruktiven Leistung darauf ankommt, das bestehende Problem als Fall eines erkennbaren Zusammenhangs zu identifizieren. Es muss ein Kontext sein, der sich als Gefüge regelmäßiger Wirksamkeit erschließt. Durch die Beziehung der Gesetzmäßigkeit auf den vorkommenden Fall, kann man, entsprechende Eingriffe vorausgesetzt, auf mögliche Handlungsfolgen schließen. Darin besteht die technische Disposition, die jeden Handlungserfolg bestimmt, nicht nur beim Bau von Tempeln oder Schiffen, sondern auch im institutionellen Aufbau des Rechts, in der Diätethik für Olympioniken oder in der individuelle Eigenständigkeit erfordernden Ethik. Die Ethik rechne ich mit größtem Nachdruck hinzu: Auch die Selbsterziehung zur Tugend ist ein Fall von Technik, nämlich einer nachvollziehbar und somit einsichtig geordneten Disziplinierung seiner selbst. 6. Kein Unterschied zwischen Natur und Geschichte. Auffällig ist, dass die frühen Griechen nicht die geringste Neigung zeigen, sich auf die 166
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Naturerkenntnis zu beschränken. Man könnte sogar die These vertreten, dass sie in allen ihren Bemühungen um Erkenntnis von ethischästhetischen Motiven bestimmt und auf geschichtliche Wirkung ausgerichtet waren. Zwar gibt es die erklärte Abkehr des Sokrates von der Naturphilosophie seiner Vorgänger. Der Weise begründet sie mit der für ihn vorrangigen Selbsterkenntnis, zu der er nur gelangen kann, wenn er sich mit seinesgleichen vergleicht. Also braucht er die Unterredung mit den Menschen auf dem Marktplatz, am Rande sportlicher Übungsstätten oder beim Gastmahl. Es steht außer Zweifel, dass sich dadurch das Interesse der Philosophie hin zu den Fragen des menschlichen Verhaltens verschiebt. Die Ethik, als Lehre von dem seiner Einsicht entsprechenden Handeln des Menschen, entsteht und tritt als drittes Gebiet zu den Erkenntnisbereichen der Physik und der Logik hinzu. Gleichwohl kommt kein Philosoph der Antike auf den Gedanken, zwischen der Logik, der Physik und der Ethik eine methodologische Hürde aufzubauen. Wir sehen im Gegenteil, dass Sokrates die Probleme der Naturphilosophie weiterhin mit einiger Aufmerksamkeit verfolgt (Phaidros 229a–230e), dass sein Schüler Platon ihr eine große Untersuchung widmet (Timaios) und offenbar nicht die geringsten Bedenken hat, selbst den Bürger als Naturwesen zu bestimmen (Politikos 261c–266e). Es ist vielmehr so, dass Platon den Grund für seine Überlegungen sowohl zur Ethik als auch für seine politische Theorie durch eine detaillierte Beschreibung von Naturvorgängen legt, die er selbst schon als geschichtlich versteht (Politeia 368a–374d; Nomoi 676a–686b). Mehr noch: Er lässt sie weit in die gesellschaftlichen Vorgänge hineinragen und verschränkt sie mit den höchsten Erkenntnisvermögen des Menschen, also mit dem nous und dem logos. Und wenn Platon zu erklären sucht, was denn das Wesentliche am Menschen ist, dann zieht er vornehmlich technische Parallelen heran, deren Aussagekraft darauf beruht, dass der Mensch als Wirkursache in den Wirkungszusammenhang der natürlichen Kräfte eingelassen ist und nur unter diesen Bedingungen zeigen kann, was er leistet und – was er, seiner Leistung zufolge, »ist« (Alkibiades maior 127e–130c). Das Selbst des Menschen, also sein, wie wir heute sagen, geistigseelischer Kern, der nach Platon dem Göttlichen am nächsten steht (Nomoi 726a), kann nur erkannt werden, sofern der Mensch als körperliches Wesen, das heißt als natürliche Kraft unter lauter natürlichen A
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Kräften, natürliche Effekte erzielt. Die intellektuelle Qualität des Menschen, die ihn befähigt, ethisch, politisch und historisch wirksam zu sein, ist die Folge seiner physischen Natur, durch die er Teil des Kosmos ist. Dass es in der Antike keine Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften gibt, ist bekannt (Rothacker 1948; Kjørup 2001). 2 Das systematisch Bedeutsame daran ist, dass die Alten diese Unterscheidung gar nicht nötig hatten, obgleich sie der Erkenntnis der Natur alles andere als ausgewichen sind. Die Antike stellt sich durchaus dem Problem des spezifisch menschlichen Verhaltens, sie fragt nach der Besonderheit der Seele und des Geistes, sie kennt das Spezifikum des Selbstbewusstseins und mit ihm auch die Beziehung des Menschen zu sich selbst (Alkibiades maior 132b–133e); sie hat einen Begriff von der Individualität einzelner Wesen, einzelner Teile wie einzelner Vorgänge, sie denkt im höchsten Maße geschichtlich, ist zur Analyse ästhetischer und rhetorischer Fragen fähig, hat, wie sich vor allem bei Aristoteles zeigt, eine Theorie des Lebens, schließt eine bis heute unübertroffene Beschreibung der Funktionen der Seele ein und kann das Göttliche als erste »Ursache«, als alles durchdringende Ordnung, als Ideal der Lebensführung oder als dasjenige denken, das dem Geist des Einzelnen am nächsten ist. Und sie kann, spätestens seit der Aristotelischen Unterscheidung zwischen Stoff- und Formursachen, auch Ursachen und Gründe auseinanderhalten. Im Themen- und Problemspektrum der antiken Wissenschaft fehlt somit nichts, zu dessen Entdeckung es einer Zweiteilung der Wissenschaften bedurft hätte. Es genügt, dass der Mensch als ein in Herden lebendes, zweibeiniges, fell-, feder-, flügel- und flossenloses Tier in der Lage ist, mit seinesgleichen ein auf Sachverhalte bezogenes, sich somit in Begriffen bewegendes Gespräch zu führen, das jedem Einzelnen erlaubt, im Abwägen von Argumenten zu einer Einsicht zu finden, die mit der Einsicht anderer exakt übereinstimmen kann. Eben das ist die Leistung des Wissens, das eine Logik hat, die alle Wissenschaften trägt. Die Logik des Wissens stellt die Übereinstimmung zwischen Individuen in der Verständigung über Sachverhalte her. Sie verknüpft die in allen Fällen konkreten Wissens beteiligten Momente der Natur, der Geschichte, der Gesellschaft, der Kultur und des menschlichen Bewusstseins. 2
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Zur Situation im Ganzen Frühwald (1991).
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Das aber heißt: Mit Blick auf den Träger des Wissens: den menschlichen Geist, können alle Wissenschaften als Geisteswissenschaften angesehen werden; mit Blick auf ihre Gegenstände aber befassen sich alle Wissenschaften mit der Natur. Denn Geschichte, Gesellschaft und Kultur, ja selbst die psychischen und intellektuellen Phänomene des Geistes müssen letztlich als Formen der Natur begriffen werden. So gesehen, hätten alle Disziplinen Grund, sich zu den Naturwissenschaften zu rechnen (Gerhardt 2007). 7. Individuelles und Universelles stets nur in einem Akt. In seiner problemorientierten Ausrichtung auf Sachverhalte und Gründe ist das ursprünglich auf Mitteilung bezogene Wissen in der Lage, nicht nur abstrakte gesetzliche Zusammenhänge zu erfassen, es hat sich vielmehr bereits in jeder Beobachtung, Beschreibung und Anwendung auf singuläre Situationen und individuelle Vorkommnisse zu beziehen. Also ist es auch in der Lage, geschichtliche Prozesse, seelische Dispositionen und lebendige Konstellationen zu erfassen. Da es in alledem einen Begriff von sich selbst benötigt, kann es seine, damit auch die des Wahrnehmens, des Vorstellens, des Erinnerns oder des Glaubens, kenntlich machen. Dabei erweist es sich als so beweglich, dass es einer eklatanten Unterschätzung der darauf beruhenden Wissenschaft gleichkommt, wenn man die epistemischen Leistungen auf simple Alternativen wie etwa das Erklären und das Verstehen, auf das Generalisieren und das Individualisieren oder auf nomothetisches und ideographisches Wissen reduziert. Eine Reduktion dieser Art sollte man schon deshalb vermeiden, weil jede Erkenntnis den in einem Akt erfolgenden Bezug auf individuelle Fälle und auf generalisierende Schlüsse voraussetzt. Wissen ist überdies an einen geschichtlichen Vorlauf gebunden, und es greift notwendig in die Zukunft vor. Was ich jetzt weiß, kommt nicht ohne Erinnerung zustande. Weil zu jedem Wissen aber auch eine Erwartung gehört, greift es notwendig auf Kommendes aus. Darin begreift es sich selbst, selbst bei verzagten Geistern, als zweckmäßig. Schließlich ist es durch die ihm innewohnende Funktion der Mitteilung nicht nur auf das wissende Individuum beschränkt, sondern ursprünglich auf andere Individuen ausgerichtet, die der Vorstellungskraft bedürfen, um das eine Individuum in dem, was es an seiner Stelle sagt, in ihrer davon zwangsläufig unterschiedenen eigenen Position gleichwohl so zu verstehen, als sei die Differenz der Individuen und der Situationen nichtig. A
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Daraus kann man folgendes Fazit ziehen: Durch die ihm eigene Tendenz zur zweckmäßigen und nachvollziehbaren Verfügung über etwas Individuelles, das nur in seiner universellen Form begriffen werden kann, ist das Wissen gleichermaßen auf physikalische Strukturen, biologische Konditionen, gesellschaftliche Situationen und historische Perspektiven bezogen. Eine Einteilung des Wissens ist möglich, wenn man es nach Gegenständen oder Problemen sortiert. Soll es darüber hinaus nach unterschiedlichen Methoden unterschieden werden, verbietet es sich, das Individuelle vom Universellen oder den konkreten Einzelfall vom allgemeinen Gesetz zu trennen. Dabei muss man vor allem vermeiden, die (ohnehin fließenden) Unterscheidungen zwischen Natur, Leben, Gesellschaft, Kultur und Geschichte ins Wissen selbst hineinzutragen, so als bilde es für jeden Bereich seine eigenen, für sich bestehenden Formen aus. Was für das Wissen recht ist, sollte für die Wissenschaft billig sein: Man kann deren Disziplinen gewiss nach vielen Kriterien gliedern. Die Themen- und Problembereiche, so sehr sie der historischen Entwicklung unterliegen, bieten dafür stets geeignete Anhaltspunkte, auch wenn sie nichts Definitives an sich haben. Sie wandeln sich mit den Fortschritten des Wissens. Daher ist eine Unterscheidung zwischen den Naturwissenschaften auf der einen und den Geisteswissenschaften auf der anderen Seite mit Sicherheit unangemessen, weil Natur in allem ist und Geist in jedem Fall benötigt wird. Also kann man die These vertreten: Eine kategoriale Trennung zwischen den Wissenschaften, die nach dem Muster einer Unterscheidung zwischen Geist und Natur verfährt, wird weder dem Charakter des Wissens noch dem der Wissenschaft gerecht. Die These schließt ein, dass man zwischen Natur und Gesellschaft ebenso wenig einen eindeutigen Unterschied machen kann wie zwischen Natur und Kultur. Sie stellt ferner den Umstand in Rechnung, dass sich Natur, Leben oder Geist immer nur korrelativ oder situativ voneinander trennen lassen: Nehme ich einen Stein und achte lediglich auf sein Gewicht oder auf seine Größe, kann ich ihn als physischen Gegenstand gut von einem soeben ins Netz gegangenen Schwamm unterscheiden. Der Schwamm lebt und der Stein ist ein totes Ding, und beide lassen sich bequem vom Verhalten des Fischers unterscheiden, der mit seinem Geist in der Lage ist, Schwamm und Stein zu unterscheiden. In dieser Bindung an gegebene Verhältnisse kann man klare Unterscheidungen treffen. Sie haben ihren praktischen Wert. Ein darauf ge170
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gründetes System der Wissenschaften müsste die in wissenschaftlicher Perspektive von Anfang an mitzubedenkende historisch-genetische Dimension aller in Frage kommenden Gegenstände berücksichtigen. Dann ist der Grund in der »Lebenswelt« oder in den »Lebensformen« zu suchen, wie es Dilthey und Spranger im Anschluss an Kant, Fichte und Hegel angeregt haben und wie es heute vornehmlich in Erinnerung an Husserl und Wittgenstein erörtert wird. Julian Nida-Rümelin hat diesen Ansatz insbesondere mit Blick auf Wittgenstein aufgenommen und systematisch weitergeführt. Wenn er dabei feststellt, dass »lebensweltliches Wissen […] für wissenschaftliches Wissen unverzichtbar« ist (Nida-Rümelin 2009, 46), verweist er selbst auf eine aus Naturbedingungen emporwachsende Kondition der Wissenschaft. Er arbeitet sie deshalb mit besonderem Nachdruck für die Naturwissenschaften heraus, weil er es für offensichtlich hält, dass die auf Lebensorientierung angelegten Geisteswissenschaften dem Leben nahestehen (ebd., 34 ff.). Also muss man sowohl in der Erkenntnis der Natur als auch in der menschlichen Selbsterkenntnis auf das zurück, was Kant den »Boden« nannte, auf dem man – gemeinsam – stehen kann. Dann lässt sich selbst die im Prinzip endlose Reihe der Ursachen auf natürliche und geschichtliche Gegebenheiten beziehen, die in der Natur des Menschen verbunden sind. Spätestens dann tritt die Unmöglichkeit hervor, den Menschen zum Opponenten der Natur zu erklären. Er wäre nämlich in Gegensatz zu seiner eigenen Natur gebracht, womit auch seinen gesellschaftlichen und geistigen Leistungen der Boden entzogen wäre. Gesetzt, der Mensch hielte selbst unter den Bedingungen eines lebensweltlich hergeleiteten Wissens an der Trennung zwischen sich als dem humanum und allem anderen als der physikalisch gefassten physis fest, hätte er die Trennung mit Gründen zu belegen, die nur aus der Verbindung von physis und humanum zu gewinnen sind. Ergo: Die Wissenschaft lässt sich in pragmatischer Absicht in mancherlei Hinsicht gliedern. In ihrem ernst genommenen Erkenntnisanspruch kann sie jedoch immer nur eine sein. Diese These wird nicht durch die Tatsache eingeschränkt, dass der Umfang des Wissens Einteilungen nötig macht. Hier können auch Traditionen und Methoden eine Rolle spielen, ja sie müssen es, weil die Wissenschaft der Schulung (disciplina) bedarf, um ihre Kenntnisse und Fertigkeiten zu sichern. Auch die Weitergabe des Wissens bedarf der A
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Disziplin, für die wir den einfachen Namen Schule (disciplina) haben. Für die Entfaltung eines vorbehaltlosen, lebendigen, stets nach neuen Wegen suchenden, selbstkritischen Wissens müssen jedoch die Grenzen der Disziplinen offen gehalten werden, ganz gleich, ob dies nun durch Inter- oder durch Transdisziplinarität geschieht. 8. Einheit in der Vielheit. Die Lebenswissenschaften führen uns derzeit vor Augen, wie wichtig die Grenzüberschreitung zwischen den Disziplinen ist. Sie zeigen in der Sache, wie fraglich eine zementierte Trennung zwischen Natur und Geist sein kann. In ihrem dynamischen Fortschritt machen sie offenkundig, dass eine auf den Methodengegensatz gegründete Unterscheidung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nur noch eine Reminiszenz an das 19. Jahrhundert ist. Die skizzierte Lage macht verständlich, warum das griechische Modell einer Einheit der Wissenschaften fast 2.500 Jahre in selbstverständlicher Geltung geblieben ist. Die Wissenschaft war vielfältig von Anfang an. Die Unterschiede zwischen dem, was der Anwalt der Vielfalt, Heraklit, und sein Widersacher im Dienste der Einheit, Parmenides, was der Atomist Empedokles und der Intellektualist Anaxagoras, was der Historiker Thukydides und der Arzt Hippokrates, was der Jurist, Staatstheoretiker und Anthropologe Protagoras und seine großen Kontrahenten Sokrates und Platon (und was aus alledem dann wenig später Aristoteles in großartiger Verbindung aus Physik, Meteorologie, Biologie, Ethik, Politik, Rhetorik, Logik, Topik, Ontologie, Theologie und Hermeneutik) gemacht haben, könnten größer nicht sein. Und dennoch haben sie und ihre Nachfolger nicht daran gezweifelt, dass es eine alles verbindende Rationalität des Wissens gibt. Sie unterstellt dem auf alle Vorkommnisse und Erwartungen bezogenen Bemühen um Erkenntnis ein und denselben Anspruch, der in der menschlichen Vernunft seinen Ursprung, in der kontrollierten Erfahrung seine Bedingung und in der öffentlichen Erörterung sein immer wieder neu anzulegendes Kriterium hat. Natürlich hat es ergänzende und erweiternde Gliederungen, neue Themen und Aufgaben gegeben. Das ließe sich mit Blick auf die Wiedergewinnung der antiken Wissenschaft durch die universitäre Gelehrsamkeit des Hochmittelalters zeigen. Theologie und Jurisprudenz kommen als neue, wesentlich berufsbezogen arbeitende Großdisziplinen hinzu. Beide haben ihre in sich wiederum vielfältig gegliederte Arbeitsweise, vornehmlich durch Orientierung an den überlieferten Ge172
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halten und Verfahren. Sie bilden neue Unterschiede aus, pflegen eigene Traditionen und halten sich selbst wechselseitig für etwas Besseres. Aber sie sind und sie bleiben dadurch verbunden, dass sie sich allesamt als Wissenschaften verstehen, die sich zwar in unendlich vielen Einzelheiten, in Interessen, in Themen und natürlich auch in ihren Methoden unterscheiden – und dennoch zu einer Wissenschaft gehören. So wurden, um nur ein Beispiel zu geben, im Rahmen der Philosophischen Fakultäten die artes liberales ausgezeichnet, weil sie übergreifende Qualifikationen vermitteln konnten, die dem Arzt und dem Richter nicht weniger dienlich sein sollten als dem Lehrer und dem Geistlichen im hohen wie im niederen Amt. Diese »freien Künste« sollten Kenntnisse vermitteln, die die allgemeine Verständigung, die Wahrung der überlieferten Bestände sowie die Selbstversicherung der Einheit des Menschen in der Vielfalt seiner Tätigkeiten garantieren. Entsprechende Ziele muss die Wissenschaft auch heute verfolgen. Im Humanismus, den man nicht auf die Renaissance beschränken kann, sondern der, wie die Aufklärung, eine Daueraufgabe von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik darstellt, sind sie bis heute lebendig. Die von den Humanisten gepflegten humaniora hatten die Aufgabe, in allgemein bildender Absicht die kulturelle Tradition des Menschen in Erinnerung zu halten. Deren Erschließung, Sicherung und Vergegenwärtigung verlangt Fertigkeiten, die in jeder gesellschaftlichen Stellung von Nutzen sind. In der Sache sollten sie auf Einsichten führen, in der sich die Menschheit als ganze ihrer Herkunft, ihrer Eigenart und ihrer Ziele vergewissert. 9. Zur Tradition des Humanismus. Der jugendliche Pico della Mirandola suchte Ende des 15. Jahrhunderts die Einheit der Wissenschaften gerade angesichts ihrer Vielfalt zu wahren, um in den von ihm als bedrohlich erfahrenen religiösen und kulturellen Gegensätzen der Welt, vornehmlich zwischen Islam, Judentum und Christentum (aber auch zwischen der östlichen Orthodoxie und dem westlichen Katholizismus), den alle verbindenden Grund im Streben nach Einsicht aufzuzeigen. Der Wunsch, dem Göttlichen auf menschliche Weise nahe zu sein, kam hinzu. Eine Generation später hatten sich mit der Reformation die Gegensätze in Europa bereits vervielfacht, und dennoch hat der mit allen Größen seiner Zeit verkehrende und an vielen Orten Europas wirksame Erasmus von Rotterdam das gleiche Ziel verfolgt und im VerA
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trauen auf die disziplinierende Wirkung der Philologien sowie auf den Zauber der dadurch erschlossenen Kontinuität des Wissens die humanisierende Wirkung der Wissenschaft in den Vordergrund gerückt. In der Leistung der Druckerpresse, der er selber reichlich Arbeit gab, war ihm gegenwärtig, dass sich diese Hoffnung nur in Verbindung mit der neuen Technik erfüllen ließe, und mit seinem Freund, dem für seine Wahrhaftigkeit mit dem Tode bestraften Thomas Morus, war er sich einig, dass auch unter den neuen Lebensbedingungen die Naturerkenntnis das Fundament allen verlässlichen Wissens zu sein hat. Und so ließe sich fortfahren: Wir haben Hugo Grotius, der den humanistischen Impuls des Erasmus in die Staatstheorie und in die entstehende Lehre vom Recht der Völker getragen hat, wir haben Pierre Bayle, der das geschichtliche Bewusstsein durch das Medium der Zeitkritik bereichert, und wir haben Montesquieu, der die ökonomische mit der geschichtlichen Betrachtung verbindet, der die Differenz der Kulturen im ethnologischen Perspektivwechsel zu erfassen sucht, und der 1748 schließlich im Geist der Gesetze (bereits der Titel spricht jeder Abspaltung des Geistes von den natürlichen Gesetzen Hohn) eine politische Prinzipienwissenschaft mit der Lehre von der menschlichen Tugend und ihrer Verwirklichung unter günstigen historischen Konditionen verbindet. In Deutschland sollten wir Gottfried Wilhelm Leibniz nicht vergessen, den ersten Theoretiker, der die Einheit der Wissenschaft angesichts der Vielfalt akademischer Anstrengungen nicht nur zu sichern sucht, sondern in der eigenen – Mathematik, Physik, Chemie, Informatik, Bergbau, Linguistik, Sinologie und Philosophie umschließenden – wissenschaftlichen Leistung repräsentiert. Die Resignation, mit der rückblickend von ihm als dem »letzten« Universalgelehrten gesprochen wird, ist schon von der Müdigkeit angekränkelt, die uns heute erst gar nicht mehr darauf setzen lässt, dass die Wissenschaft gerade in ihrer Vielfalt das größte einheitliche Vorhaben der Menschheit ist. Wenn wir, um einmal selbst technisch zu reden, in dieses Projekt nicht investieren, hat die Menschheit keine Chance, sich auf dem Niveau ihres Selbstbegriffs zu halten. 10. Kurzer Rückblick auf eine längst überwundene Trennung. Was ist im Licht dieser Einsicht von der Aufspaltung der Wissenschaften in »zwei Kulturen«, in die Naturwissenschaften auf der einen und die Geisteswissenschaften auf der anderen Seite, zu halten? Meine Ant174
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wort: Historisch hat sie ihren Wert, aber systematisch ist sie ohne Belang. Die Grenzziehung zwischen Natur- und Geisteswissenschaften ist eine Spätfolge der rousseauistisch-romantischen Wissenschaftskritik des 19. Jahrhunderts. Das Ressentiment gegenüber der abstrakten, technisch orientierten, die Innerlichkeit des Menschen angeblich missachtenden Wissenschaft war in der Welt, und nun mussten die Philosophen, Philologen und Historiker erleben, wie ausgerechnet die so verfahrenden Naturwissenschaften die größten gesellschaftlichen Erfolge erzielten. Physik, Chemie, Medizin und Ingenieurwissenschaften erfuhren einen grandiosen Aufstieg und nutzen dabei Forschungstechniken, die von den überaus produktiven Geschichtswissenschaften sowie von der innovativen Altphilologie, teils auch von der textkritischen protestantischen Theologie, zur gleichen Zeit entwickelt wurden (Kocka 1999). 3 Was lag näher, als diese angeblich nur technisch, angeblich nur erklärend und angeblich nur äußerlich verfahrende Erforschung der Natur auf ein begrenztes Terrain zu beschränken, von dem sich der angeblich rein geistige Bezirk des Verstehens, des Deutens und der reflexiven Selbstbeziehung definitorisch abgrenzen ließ? Nachdem Naturwissenschaftler wie Hermann von Helmholtz den Begriff der Geisteswissenschaften gebrauchten, um damit die Eigenständigkeit eines inneren Zugangs zu den Erscheinungen von Religion, Recht, Staat, Sprache, Kunst und Geschichte zu würdigen (von Helmholtz 1862, 16 ff.), lag es nahe, daraus eine strikte methodologische Abgrenzung zu machen: Durch sie wurde die »psychologische«, »introspektiv« erfassende, eben »verstehende« Einsicht zum einzig legitimen Zugang zur Erkenntnis der menschlichen Dinge. Die Naturwissenschaften waren damit, wenn der Doppelsinn gestattet ist, »draußen«, und die Geisteswissenschaften eröffneten sich selbst den Königsweg zum eigentlichen Verständnis der conditio humana. Während sich zur gleichen Zeit die rivalisierenden Territorialstaaten Europas trotz größter kultureller Gemeinsamkeiten hinter ihren nationalen Gegensätzen verschanzten, suchten sich die Geisteswissenschaften ein uneinnehmbares Territorium zu sichern, von dem aus sie den Naturwissenschaften in prinzipieller Überlegenheit entgegentreten konnten. Dazu die Beiträge von Bernhard vom Brocke, David Cohen, Lorraine Daston und Stefan Rebenich.
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Mir ist bewusst, dass dies nicht die ganze Wahrheit über die Bemühungen um eine methodologische Unterscheidung zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften im 19. Jahrhundert ist. John Stuart Mill hat, übrigens nicht unbeeindruckt von Romantikern wie Coleridge und Carlyle, mit großem sachlichen Gewinn, die, wie er meinte, »logische Differenz« in den Gesetzesaussagen über die Natur und die Gesellschaft herausgearbeitet (Mill 1843; 1848). Dadurch inaugurierte er die Idee eines Methodendualismus, die von Wilhelm Dilthey und vom südwestdeutschen Kantianismus, nicht zuletzt auch von Max Weber, in nicht weniger ernsthafter Weise aufgenommen und weiterentwickelt worden ist. Es muss heute gar nicht bezweifelt werden, dass die damals vorherrschende Auffassung von Natur mit der unterstellten strikten Geltung der Kausalität zu einer methodologischen Abgrenzung ökonomischer, soziologischer, psychologischer und hermeneutischer Erkenntnis genötigt hat. Doch das seinerzeit als selbstverständlich geltende Verfahren kausaler Naturbeschreibung hat seine Autorität längst eingebüßt. Statistische, auf das Verstehen angelegte Zugänge sind in der Physik unverzichtbar. Die Biologie braucht nicht erst in den Fragen der Ethologie ein Verständnis für die Eigenart von Systemen, die auf der Analogie zu den vertrauten Systemen des menschlichen Handelns beruhen. Wenn der moderne Biologe den Zusammenhang zwischen Organismus und Umwelt erfassen will, muss er sich wie ein Geisteswissenschaftler verhalten: Er muss Ganzheiten unterstellen, die es erlauben, die Teile nach ihren Funktionen einzuordnen. Das ist die eine Seite. Die andere aber tritt darin hervor, dass eine Wissenschaft wie die Psychologie, die zur Zeit Diltheys als Paradedisziplin der Geisteswissenschaften galt, heute beinahe in ihrer Gesamtheit zu einer Naturwissenschaft geworden ist. Entsprechendes gilt für große Teile der Sprach- und Sozialwissenschaften, die mit Erfolg naturwissenschaftliche Verfahren einsetzen. Mag sein, dass dabei Defizite auftreten; aber warum sollten sie nicht in der gleichen Disziplin behoben werden können? Wäre es nicht unverantwortlich, mit dem Rasiermesser strenger Methodologie produktive Forschungseinheiten zu zerschneiden, nur weil man weiterhin will, dass die alte Titulatur der Disziplinen erhalten bleibt? Die Fragen beantworten sich von selbst, erst recht, wenn man bedenkt, dass wir derzeit vor einem neuen Wachstumsschub der Wissenschaften stehen, der sich allein aus den differenzierten Problemen ihrer 176
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Anwendung ergibt. Hier ergeben sich Kriterien zur Einteilung von Forschung und Lehre, die mit der überholten Trennung zwischen Naturund Human- oder Geisteswissenschaften nichts mehr zu tun haben. Wohl aber tritt mit jeder »Entschlüsselung« der »Codes« von Natur, Leben und Kultur deutlicher vor Augen, wie viel mehr der Mensch tun muss, um nicht nur klug, sondern auch verantwortlich mit seinem Wissen umzugehen. Dazu braucht er eine breite Kenntnis der Geschichte, der gesellschaftlichen Strukturen, der psychischen Anlagen, der ästhetischen und religiösen Erwartungen sowie, abkürzend gesagt, seiner Ansprüche an sich selbst. 11. Gute und weniger gute Gründe. Vor diesem Hintergrund wird man es verständlich finden, dass ich Julian Nida-Rümelins Trennung zwischen Naturalismus und Humanismus mit einem Fragezeichen versehe. Er prinzipialisiert einen Unterschied, der nur in partiellen Fragen der Erkenntnis eine Rolle spielen kann, aber nicht zur grundsätzlichen Charakterisierung menschlicher Leistungen taugt. Die Opposition beider Begriffe lenkt von der Stellung des mit ihnen jeweils Gemeinten sowie von ihren wechselseitigen Beziehungen ab. Sie verstellt den Zugang zum natürlichen und zum geschichtlichen Ort des Humanismus, der nirgendwo anders als in einer sich entwickelnden Natur liegen kann. Natürlich bin ich mir bewusst, dass man den Begriff des Naturalismus derart eng fassen kann, dass er mit dem Vollbegriff der Natur, mit ihrem umfassenden Charakter, ihrer kosmischen Dynamik sowie mit ihrer bis in die geistige Beweglichkeit reichenden Lebendigkeit nichts mehr zu tun hat. Ich gestehe auch gerne ein, dass Nida-Rümelin mit Blick auf das in den letzten drei Jahrhunderten wirksam gewordene Selbstverständnis der Physik gute Gründe für die von ihm exponierte Trennung hat. Wenn Naturalismus nur das sein können sollte, was im reduzierten Naturbegriff der Physiker und Chemiker angesprochen ist, dann könnte man ihn in der Tat nur in Opposition zum Selbstverständnis des Menschen begreifen. Dann stünde auch ich auf der Seite Julian Nida-Rümelins und müsste mit ihm auf eine Ergänzung des Naturalismus durch den Humanismus dringen. Dieser den Menschen ausschließende Naturalismus hätte freilich schon mit der lebendigen Natur nichts mehr zu tun und beruhte allein auf einer Methode, die im Zugriff strenger Reduktion zu Erfolgen führt. Wenn man dies so sagt, muss hinzugefügt werden, dass die kauA
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salanalytische Methode auch in den Lebens-, Sozial- und Geisteswissenschaften unverzichtbar ist. Aber sie erfasst die biologische, soziale, psychische und intelligible Dimension der meisten Phänomene nicht. Deshalb bedarf sie der Ergänzung durch Verfahren des lebendigen und geistigen Nachvollzugs, ohne die sich auch viele physikalische Erscheinungen wie die des Raumes, der Zeit, der Körper oder der Kraft nicht erschließen. Der kausalanalytische Reduktionismus ist in allen Wissenschaften von Wert; er ist jedoch in allen unzureichend. Nimmt man ihn als Basis für eine Definition des Naturalismus, wie NidaRümelin dies tut, ist die Opposition zum Humanismus unausweichlich. Denn in der Sache grenzt er Reduktionismus und Humanismus voneinander ab. Vor diesem Hintergrund erscheint Nida-Rümelins Begriffsgebrauch angemessen. Denn nach weit verbreiteter, vielleicht sogar nach herrschender Auffassung gilt der Reduktionismus als Königsweg einer jeden Erkenntnis, die auf nichts anderes als auf Naturprozesse führen kann, die nach Art mehr oder weniger strenger Determination ablaufen. Der universell zum Einsatz gebrachte Reduktionismus hat demnach einen metaphysischen Materialismus zur Folge. Den kann man im Bewusstsein seiner epistemischen Defizite »Naturalismus« nennen und wenn man ihn so nennt, muss er entschieden vom Humanismus unterschieden werden. So gesehen kann die Kontraposition von Naturalismus und Humanismus als gerechtfertigt erscheinen: Sie soll das Selbstverständnis des Menschen vor mechanistischer Vereinfachung bewahren und die Eingeständigkeit der menschlichen Gattung vor dem Zugriff eines seelenlosen Mechanismus retten. Wer wollte dem widersprechen? Selbst wenn jemand auf den Gedanken käme, gegen diese Absicht Einspruch zu erheben, hätte er sich bereits über die bloße Mechanik determinierter Naturvorgänge erhoben. Gleichwohl könnte der Vorschlag Nida-Rümelins nur überzeugen, wenn wir unsere Begriffe in freier Entscheidung je nach den anstehenden Bedürfnissen festlegen könnten. Das ist aber nur bei Kunstsprachen möglich, die begrenzte technische Zwecke verfolgen. Verwenden wir einen Terminus wie »Naturalismus«, können wir schlechterdings nicht davon absehen, dass er sich auf den Begriff der Natur bezieht, der nun einmal eine weitläufige alltagssprachliche Bedeutung hat und in der Philosophie mit einer großen Tradition verbunden ist. Die philosophischen Sedimente und die alltägliche Semantik 178
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schließen daher aus, unter Natur nur das zu verstehen, was bei der Reduktion übrig bleibt. Auch der Siegeszug der neuzeitlichen Mechanik hat nichts daran geändert, dass der Begriff der Natur nach wie vor die kosmische Ordnung, das stets nur partiell verfügbare Geschehen, das blühende Leben oder das Wesen einer Sache bezeichnet – und vieles andere mehr. Ja selbst, wenn man die alten Sprachspiele vergessen könnte und »Natur« nur noch die lineare Mechanik von Ursache und Wirkung oder »Naturalismus« nur noch die Endstation des Reduktionismus wäre, würde es sich nicht empfehlen, so zu verfahren. Denn wir brauchen die alte Begrifflichkeit, um mit der nicht weniger alten Terminologie, in der sich der Mensch selbst zu beschreiben sucht, angemessen umzugehen. Wo wollen wir mit dem Menschen hin, wenn ihm die Natur keinen Raum mehr bietet? In die Gesellschaft? Die ist doch selbst eine Formation einer sich zunehmend selbst organisierenden natürlichen Gattung. In die Kultur? Die ist die Lebensform, in der sich die Natur des Menschen entfaltet. In die Geschichte? Es wäre schon zu viel gesagt, in ihr die Fortsetzung der Naturgeschichte mit genuin menschlichen Mitteln zu behaupten. Denn sie ist lediglich der menschliche Schimmer auf der sich fortzeugenden Geschichte der Natur. 12. Das Ineinander von Natur und Intention. Die hier gegen Julian Nida-Rümelin vertretene Auffassung von der Vereinbarkeit eines umfassend verstandenen Naturalismus mit dem humanistischen Selbstbegriff der menschlichen Gattung wird durch nichts so sehr gestützt wie durch die von ihm selbst vorgetragene These über die Vereinbarkeit von Natur und Freiheit. Der befreiende Akt seiner Abhandlung Über menschliche Freiheit liegt in dem Nachweis, dass die Natur durchaus Raum für die in Handlungen beanspruchte Freiheit hat und somit gar nicht als streng determiniert verstanden werden kann. Zu Ende gedacht kann das nur heißen, dass kein Widerspruch zwischen einer reduktiv verfahrenden Erklärung nach Naturursachen und einer Rechtfertigung von Handlungen durch Gründe bestehen muss. Denn die letztlich aufgefundenen empirischen Ursachen sind unterdeterminiert (Nida-Rümelin 2005, 43). Sie legen nicht eindeutig fest, zu welchen Wirkungen sie führen. Somit bleibt – gleichsam mitten in der mechanisch gedachten Natur – genügend Spiel für die spezifische Wirksamkeit von Handlungsgründen, obgleich diese selbst nicht in A
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der mechanisch gedachten Natur lokalisiert werden können. Denn Handlungen, so heißt es im Anschluss an den herrschenden Sprachgebrauch, sind intentional verfasst (ebd., 36 f.). Sie beruhen auf etwas, das es in der physikalischen Natur nicht gibt und das durch die reduktionistisch verfahrende Naturerkenntnis unter keinen Umständen erfasst werden kann. Gleichwohl gibt die von Nida-Rümelin aufgewiesene naturalistische Unterbestimmtheit der Natur keinen Anlass, die Wirksamkeit von Intentionen auszuschließen. Andernfalls wären weder Handlungen noch Begründungen möglich. Gesetzt, seine Auffassung hat Bestand, gäbe es ein zusätzliches Argument für die Vereinbarkeit von Humanismus und Natur. Denn selbst die Natur, auf welche die reduktionistische Erklärung führt, nötigt nicht zum grundsätzlichen Ausschluss der Intention. Kausalität durch Freiheit, so könnte man in der Sprache Kants (und dennoch von ihm abweichend) sagen, ist möglich – und zwar im Kontext der niemals vollständig determinierenden kausalen Wirkungsmechanismen der Natur. Nach Kant gibt es bekanntlich eine kategoriale Differenz zwischen der Kausalität aus Naturursachen und der Kausalität durch Freiheit. Wer Freiheit beansprucht, behauptet sie damit gegen die (mechanistisch gedachte) Natur. Unter dieser Prämisse entsteht ein manifestes Problem für die Vereinbarkeit von Naturalismus und Humanität, das sich nur durch eine aufwändige lebenstheoretische Deutung seiner Transzendentalphilosophie beheben lässt. 4 Nida-Rümelins Freiheitslehre ist von dieser Hypothek befreit. Sie kann einen wohlverstandenen Naturalismus in direkter Verbindung mit dem Humanismus denEiner Lösung liegt die folgende Überlegung zugrunde: In dem auch für Kant bestehenden methodologischen Vorrang der reduktiven Erklärung tritt die Dominanz des technischen Interesses hervor. Es ist dadurch gerechtfertigt, dass sich die menschliche Gattung nur durch den steigenden Einsatz von Techniken im Dasein halten kann. Deshalb kommt in einer menschlichen Kultur – auch nach Kant – alles darauf an, die »Geschicklichkeit« des Menschen zu steigern, damit er zunehmend bewussten Einfluss auf die Gestaltung seines Daseins nehmen kann. Wenn es selbst bei kritischen, das organische Verstehen wie das ethische Begründen für unverzichtbar ansehenden Denkern heißt, dass auch in der belebten Natur eine Erklärung nach kausalen Ursachen versucht werden »muss«, steht der Zwang zur Kultivierung der eigenen Leistungen im Vordergrund. So könnte man mit Kants eigener Theorie des Lebens, die bekanntlich in eine Theorie der Kultur einmündet, die Apriorität kausalanalytischer Naturerfahrung erklären. Die Transzendentalität der empirischen Naturerkenntnis hätte eine Vorgeschichte in der Entfaltung der technischen Fertigkeiten des Menschen.
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ken, weil die Natur all das nicht grundsätzlich ausschließt, was durch Intentionen geschieht. Die Theorie der strukturellen Rationalität grenzt sich von Konzeptionen ab, die eine in sich abgeschlossene Beschreibung der Natur annehmen. In diesen heute weit verbreiteten Konzeptionen wird eine Natur unterstellt, in der Freiheit prinzipiell ausgeschlossen ist. Dennoch hält Nida-Rümelin daran fest, dass die in der menschlichen Selbsterfahrung gegebene Freiheit nicht nur denkbar, sondern auch praktisch wirksam ist. Damit wird die theoretische Inkompatibilität von Freiheit und Natur – bei gleichzeitiger Kompatibilität ihrer Wirkungen – behauptet (Recki 2009). 5 Man spricht daher von »Kompatibilismus« – ein Terminus, der die praktische Vereinbarkeit des theoretisch Unvereinbaren betont. Es könnte genauso gut von »Inkompatibilismus« die Rede sein, womit die theoretische Unvereinbarkeit des praktisch immer schon Vereinten herausgehoben wäre. Dem inkompatibilistischen Kompatibilismus setzt Nida-Rümelin ein offenes Modell der Naturbeschreibung entgegen, das er sich nicht scheut, »physikalistisch« zu nennen. Das Modell hat Raum für die Einsichten der Quantenphysik, weswegen der hergebrachte Determinismus auch durch eine probabilistische Beschreibung ersetzt werden kann. Damit bleiben keine vorherbestimmten »Lücken« offen, in die ein freier Wille mit seinen als frei vorgestellten Impulsen hinein springen und physikalisch wirksam werden kann. Es wird lediglich gesagt – und am Beispiel einer unvorhersagbaren Bewegung einer Kugel, die selbst frei beweglich auf der Rundung einer zweiten Kugel aufruht, demonstriert –, dass die Natur nicht alles vorherbestimmt. In der Natur bleibt ein Freiraum, der es gegenstandslos macht, von einem Widerspruch oder Gegensatz zwischen Natur und freier Handlung zu sprechen. Die Freiheit bietet nach Nida-Rümelin keinen Anlass, eine »Zwei-Aspekte-Metaphysik« zu vertreten (Nida-Rümelin, 2012). 13. Natur und Freiheit. Nida-Rümelins Konzeption tut einen entscheidenden Schritt über den auch in der analytischen Diskussion vorherrschenden Perspektivendualismus der Freiheit hinaus. Die Freiheit ist Einem wesentlich der kritischen Philosophie Kants verpflichteten »Kompatibilismus« habe ich selbst längere Zeit angehangen. Erst der Versuch, die Naturgeschichte der Freiheit zu denken, hat mir deutlich gemacht, dass die vom inkompatibilistischen Kompatibilismus vorausgesetzte Trennung von Natur und Freiheit nicht zutreffen kann. Siehe dazu Gerhardt (2007).
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nichts der Natur Fremdes, das gleichwohl mit ihr irgendwie zusammen bestehen kann, sondern sie kann als integraler Bestandteil der Natur begriffen werden. Eine Natur, die nicht alles festlegt, sondern in ihren Vollzügen, selbst in Kenntnis der wahrscheinlich wirksamen Kräfte, nicht exakt vorhergesagt werden kann, lässt in und mit ihren Kräften Raum für Handlungen, die »frei« genannt werden können, nicht nur, obgleich sie Ausdruck natürlicher Prozesse sind, sondern auch weil sie mit den sie durch und durch tragenden Kräften verknüpft sind. Die Handlungen der Menschen können gerade in ihrer physischen Substanz als »frei« angesehen werden. Was heißt das für das Verhältnis der Natur zu dem, was wir als human oder auch nur intentional, als Einsicht, Geist oder Vernunft zu nennen gewohnt sind und was Nida-Rümelin in den Leistungen der strukturellen Rationalität in Anspruch nimmt? Angesichts der offenkundigen Tatsache, dass alles, was ist, Natur genannt werden kann, und dass auch der Mensch mitsamt seiner Kultur zur Natur gehört (Gerhardt 2007d), hat die Auffassung Nida-Rümelins etwas Befreiendes. Endlich können die »frei« genannten Handlungen als Momente des Naturprozesses angesehen werden. Ihre reale Bedingung liegt in der Unbestimmtheit, die für alles aktuell Geschehene gelten kann. Die menschliche Freiheit ist dann »nichts anderes als die naturalistische Unterbestimmtheit unserer Handlungs- und Urteilsgründe« (Nida-Rümelin 2005, 171). Es ist nicht allein die objektive Unterbestimmtheit physikalischer Prozesse, sondern vielmehr immer auch die faktische Vielfalt, durch welche die in jedem Geschehen wirkenden Kräfte unkalkulierbar werden. Es gibt eine unermessliche Pluralität von sich teils aufhebenden, teils abschwächenden und teils verstärkenden Kräften. Durch sie ist es de facto unmöglich, auf dem offenen Feld der Natur sichere Vorhersagen für ein reales Geschehen zu machen. Die Anzahl der an einem lebensweltlichen Vorgang real beteiligten Wirkungsfaktoren ist derart groß, dass es unmöglich ist, eindeutige Prognosen für das kommende Weltgeschehen abzugeben. Die Unmöglichkeit eindeutiger Prognosen im offenen Feld der Natur ist aber nur die eine Seite. Die andere zeigt sich in der Fähigkeit, die im pluralen Mit- und Gegeneinander unzähliger Kräfte gegebene Offenheit des Geschehens für jeweils eigene Aktivitäten zu nutzen. Auf dieser Fähigkeit basiert der Prozess des Lebens von Anfang an. Jeder Organismus entwickelt sich im Mit- und Gegeneinander der phy182
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sikalischen und chemischen Kräfte. Er überlässt sich ihnen, verwendet sie zugleich jedoch nach seinem eigenen Lebenscode für sich. Nur dadurch gelingt es ihm, sich im Feld der Kräfte als eine eigene Kraft zu etablieren. Um sie zu erhalten und zu entfalten, zerlegt er unablässig gegebene Energien, aus denen er eigene macht, die er in der Form der von ihm evozierten Ereignisse zu neuen Tatsachen im Naturgeschehen verwandelt. Würde die Kausalität eine gleichförmige Sukzession aller Kräfte – gleichsam in einer Front – einschließen, wäre das Leben nie entstanden. Tatsächlich aber gibt es eine unübersehbare Vielfalt von sich wechselseitig beeinflussenden Kräften, in der sich ständig neue Kräfte bilden. Eben davon lebt das Leben, indem es unablässig neue Kräfte schafft, mit denen es sich gegen andere Kräfte behauptet. Mit seiner Natur lebt es immer auch gegen die Natur – und gegen anderes Leben: Es kommt ihm zuvor, verdrängt, verjagt oder vernichtet es, oder es führt in Formen interindividueller Kooperation gänzlich neue Situationen herauf, die es noch schwerer machen, eine Prognose über nächstliegende Ereignisse zu erstellen. Das ist das Terrain, in dem wir die alltägliche Erfahrung der Freiheit machen. Sie ist in jedem Akt an die Entfaltung der lebendigen Kräfte gebunden. Doch darin liegt keine Einschränkung, sondern eine Bedingung der Freiheit, die ohne den Impuls des Lebens gar nicht denkbar wäre. Ein Hindernis der Freiheit erfährt man bekanntlich erst, wenn ihr die Freiheit eines anderen entgegensteht. Vielleicht kommt sie überhaupt nur unter der Bedingung sich wechselseitig opponierender Freiheiten zu Bewusstsein. Doch wie dem auch sei: Die Freiheit ist ein Ausdruck des Lebens. Wer in ihr einen Widerspruch zu den kausalen Naturprozessen vermutet, sollte sich zunächst fragen, ob unter dem Diktat des Determinismus der Träger der Freiheit, nämlich das Leben, überhaupt möglich ist. So gesehen, kann das Leben als ein größeres Problem als die Freiheit gelten. Wenn es wirklich die Kausalität sein sollte, die Freiheit ausschließt, hätte das Leben nie entstehen dürfen. Da es nun einmal entstanden ist – und seine Existenz selbst von den Neurophysiologen nicht in Zweifel gezogen wird –, kann der Determinismus, auf welcher Ebene auch immer, kein Hindernis gewesen sein. Gelingt es aber, das Problem des Lebens aus den gegebenen Kräften der Natur zu erklären, haben wir, über den von Julian Nida-Rümelin geführten Beweis hinaus, einen Grund mehr, die Freiheit in einer konstitutiven Verbindung A
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mit der Natur zu denken. Sollte uns dies gelingen, wäre das Band zwischen Naturalismus und Humanismus noch ein wenig enger geknüpft. Das wäre nicht nur für die Theorie von Natur und menschlicher Freiheit von Bedeutung. Es ließe uns auch besser verstehen, warum uns so viel daran liegt, unsere natürliche Lebensgrundlage zu erhalten, wenn uns an unserer Freiheit liegt.
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1.
Vorüberlegungen
Als Kultur bezeichnen wir im Folgenden eine zum gegenseitigen Vorteil eng kooperierende Gruppe von Menschen, die außerdem einigen anderen Bedingungen genügen soll, die wir im nächsten Abschnitt erläutern werden. Als die grundlegenden Beispiele unserer Erörterung betrachten wir einen Familienverband und eine wissenschaftliche Fachgemeinschaft, da beide einerseits recht verschieden und andererseits, im Sinne unserer Definition, auch sehr ähnlich sind. Das fundamentale Bestimmungsproblem einer Kultur besteht darin, dass sie, gemessen an ihren Mitgliedern und ihren charakteristischen Tätigkeiten, ein höchst labiles und zeitlich relativ rasch veränderliches Gebilde darstellt. Eine Kultur gibt sich zu erkennen und vollzieht sich wesentlich in der Kommunikation unter ihren Mitgliedern, also in ihrem ständigen Austausch, der als Prozess wirkungsmächtig ist, in seinen einzelnen Elementen aber weder charakteristisch noch sinnhaft zu sein braucht, im Gegenteil diese Eigenschaften überwiegend vermissen lässt. Als ein wesentlicher Aspekt fällt jedoch sogleich auf, dass der kulturelle Austausch sich weit überwiegend auf sprachliche Verständigung stützt, häufig sogar in einer für die Kultur charakteristischen Form. Wir werden uns dem Kulturbegriff so nähern, dass wir zunächst Bestimmungsstücke herausgreifen, die eine größere Signifikanz und zudem eine größere Stabilität zeigen als der schwer zu beschreibende Kommunikationsprozess. Genauer werden wir die folgenden Begriffe einführen. Als Causa communis bezeichnen wir den Kern der Kooperation, den Antrieb der betrachteten Gruppe zur Zusammenarbeit, also das eigentlich Gemeinsame der betrachteten Kultur, das sich in regelmäßi-
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gen Tätigkeiten vollzieht, die ihrerseits ganz überwiegend eine zyklische Struktur haben. Als das Corpus bezeichnen wir die materiellen Objekte der Kultur, die entweder im täglichen Vollzug der Causa communis Bedeutung haben oder als dem Gebrauch entzogene, isoliert bewahrte Objekte; im Wesentlichen handelt es sich also um die Werkzeuge, die Erzeugnisse und die Denkmäler einer Kultur. Das Corpus hat damit den Charakter einer Sammlung, insbesondere im Hinblick auf die Zyklen seiner Entstehung und Erhaltung. Als Codex bezeichnen wir schließlich das Regelwerk, das die Abläufe der gemeinsamen Tätigkeiten regelt, sowie das Beziehungsgeflecht und die korrespondierenden Verhaltensregeln für die Mitglieder der Kultur. Wir gehen davon aus, dass Corpus und Codex wesentlich für die Causa communis sind und in ihrem gegenseitigen Verhältnis im Vollzug der Kultur kontinuierlich bewertet werden. Diese Bewertung ist das Ergebnis der kommunikativen Interaktion zwischen den Kulturträgern; sie ist ein wichtiges Indiz für den inneren Zusammenhalt der Kultur, ähnlich wie es Ernest Renan in seiner berühmten Definition einer Nation beschrieben hat. Im Folgenden sollen diese Gedanken in einer ersten Skizze genauer ausgeführt werden.
2.
Bestimmungsstücke
2.1 Causa communis Das Wort communis enthält einen Stamm der Bedeutung »Geschenk, Tauschgegenstand« (munus), der sich möglicherweise auch mit der Bedeutung »Abgrenzung, Mauer« (moenia) verbindet. Damit sind zwei Charakteristika einer Gemeinschaft angesprochen, der enge Austausch, der auch Gaben ohne Gegengabe einschließt, und andererseits die Abgrenzung nach außen, als Ausdruck einer Differenzempfindung und als Quelle von Identität. Am Beispiel der kleinsten denkbaren Gemeinschaft, der von Mann und Frau, wird als die grundlegende Causa communis die Sicherung der biologischen Lebensgrundlage und die Erweiterung des Paares zur Familie augenfällig (es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass das lateinische Wort communicare auch in der Bedeutung von »zeugen« gebraucht werden kann). Für jede GeA
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meinschaft, die wir als Kultur ansprechen wollen, werden wir immer diese beiden Aspekte im Auge behalten müssen, die Sicherung des aktuellen Überlebens und die Sicherung des Weiterlebens über den eigenen Tod hinaus. Unter günstigen Bedingungen, wie sie sich zum Beispiel nach der sogenannten neolithischen Revolution eingestellt haben, wird in der betreffenden Gemeinschaft Arbeitskraft freigesetzt, die sich anderen Aufgaben widmen kann, zum Beispiel der Verbesserung der Produktionsverfahren oder der Bewältigung des gewachsenen Organisationsaufwandes. Daraus entstehen Spezialisierungen, die ein besonderes Talent oder zumindest ein besonderes Training verlangen. Wenn diese Tätigkeiten auf Dauer benötigt werden, so werden sie deshalb auf Familien oder Familienverbände übergehen, die sie unter Umständen über viele Generationen so ausüben, dass ihre Subsistenz gesichert wird. Wird dieses Familienmonopol gebrochen, beispielsweise durch zugewanderte Konkurrenz oder durch gezielte, nicht an Familien gebundene Ausbildung, so bilden sich häufig neue gemeinsame Interessen, die sich dann etwa in Zunftregelungen zur Kontrolle des vorhandenen Marktes übersetzen und damit eine neue und bedeutsame Causa communis schaffen, ein Phänomen, das uns auch heute vertraut ist. Ähnlich organisieren sich – unter geeigneten Voraussetzungen – wissenschaftliche Fachgemeinschaften, wie wir noch genauer ausführen werden.
2.2 Corpus Wir haben das Corpus beschrieben als das Ensemble der signifikanten Objekte einer Kultur, das sich aus den Gegenständen des täglichen Gebrauchs, aus den Erzeugnissen und aus den Denkmälern der Kultur zusammensetzt. Dass diese Objekte für eine gegebene Kultur Signifikanz haben, dass sie die Kultur häufig sogar charakterisieren können, ist die Erfahrung der Archäologie und der Ethnologie. In unseren Tagen wird dies auch bezeugt durch Vertreter indigener Kulturen, die mit zunehmendem Selbstvertrauen Zeugnisse ihrer Vergangenheit aus europäischen und nordamerikanischen Museen zurückfordern. Wir wollen nun die einzelnen Bestandteile des Corpus etwas näher betrachten. Gegenstände des täglichen Gebrauchs sagen sehr viel über eine vergangene Kultur, während sie in einer aktuellen Kultur 188
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ganz überwiegend nach ihrem Gebrauchswert beurteilt werden und damit dem Corpus nur vorübergehend angehören, und dies auch nur, wenn sie in irgendeiner Weise für die Kultur, die sie gebraucht, charakteristisch sind; das kann zum Beispiel der Fall sein, wenn die Gegenstände von Mitgliedern der Kultur mit einigem Aufwand hergestellt werden oder einem ganz speziellen Zweck dienen. Ein Gebrauchsgegenstand verschwindet normalerweise in dem Augenblick, wo er unbrauchbar wird. Zum Leidwesen der Kulturhistoriker bleibt von vielen dieser Gegenstände gar keine Spur, zum Beispiel wenn sie aus Holz oder anderen organischen Materialien gefertigt sind. So ist bis heute kein Abacus aus Mesopotamien oder aus Ägypten bekannt, obwohl nach schriftlichen Zeugnissen wie nach der Logik der Technik der Abacus in diesen Ländern bekannt gewesen sein muss. Andererseits kann ein Gebrauchsgegenstand plötzlich dem Gebrauch entzogen und separat aufbewahrt werden, wobei er – in der Sprache von Christophe Pomian – vom Werkzeug zum Bedeutungsträger, zum »Semiophoren« wird. Die Gründe für diese Transformation eines Gegenstands können vielfältig sein, zumeist aber wird mit dem Gegenstand die Erinnerung an ein singuläres Ereignis oder eine singuläre Tätigkeit bewahrt. Ein besonderer Anlass zur Musealisierung ist gegeben, wenn ein Gebrauchsgegenstand in einer besonders ausgearbeiteten, besonders ästhetischen oder nach ihrem Material wertvollen Form hergestellt wird, so dass er für seinen eigentlichen Zweck in aller Regel unbrauchbar wird. Dann repräsentiert er die Kunst seines Erzeugers oder auch, wie im Falle eines Geschenks, die Wertschätzung des Beschenkten. Die Sicherung der Lebensgrundlage als fundamentaler Bestandteil der Causa communis schlägt sich im Corpus nieder beispielsweise durch die Geräte der Hauswirtschaft, insbesondere des Kochens. Hier sind die Familienrezepte von Interesse, die als handwerkliche »Kunstregeln« über lange Zeit mündlich weitergegeben werden, aber zum Teil erst in unserer Zeit wissenschaftliche Begründungen finden. Eigentliche Memorabilia sind Objekte, die besondere Ereignisse in der Geschichte einer Kultur repräsentieren, Gründungsdokumente oder Monumente besonderer Leistungen, eventuell auch besonderer Niederlagen. Hier wird sichtbar, dass das Corpus aller Kulturen insbesondere auch der eigenen Identität einschließlich der eigenen Legendenbildung dient, damit also eine wichtige Funktion in der Repräsentation nach außen und in der Vergewisserung nach innen spielt. Des Weiteren finden sich Objekte, die das Erstaunen von MitglieA
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dern der Kultur erregt haben und deswegen aufgehoben wurden, wie sie uns aus den Wunderkammern der frühen Neuzeit geläufig sind. Diese Objekte markieren häufig eine Grenzlinie zwischen Musealisierung und Gebrauch, indem sie, der ursprünglichen Neugier folgend, zum einem Studienobjekt werden, das zwar dem allgemeinen Gebrauch entzogen, dem auf den kleinen Kreis der Kompetenten begrenzten Gebrauch aber gleichwohl unterworfen wird. Eine besondere Rolle spielen natürlich die Denkmäler einer Kultur. Am Anfang dürfte die rituelle Verehrung von geeigneten Bergeshöhen gestanden haben, zum Beispiel des japanischen Fujiyama, später wurden Berggipfel zu Opferstätten. Die ersten tempelartigen Gebäude dürften vor der Erfindung selbsterrichteter Häuser entstanden sein, worauf insbesondere die zwölftausend Jahre alten Anlagen von Göbekli Tepe hinweisen, die vermutlich von Nomaden errichtet wurden. Diese ersten Gebäude früher Kulturen sollten wohl einen identifizierenden, unter Umständen auch bergenden Raum für alle Mitglieder der Kultur bieten, auch wenn wir über ihren Gebrauch im Einzelnen wenig wissen. Eine ähnliche Funktion könnten die in vielen Teilen der Welt errichteten Pyramiden gehabt haben, zum Beispiel die Sonnenpyramide in Teotihuacan, die nach einem Gründungsmythos über einer Höhle errichtet wurde, in der vier Stämme den gemeinsamen Bau einer großen Stadt beschlossen haben; unter dieser Pyramide hat man jedenfalls ein weitläufiges Höhlensystem gefunden. Ähnliche Funktionen nehmen die frühen christlichen Kirchen wahr oder die Gemeinschaftshäuser der Polynesier, die in ihren vielfältigen Schnitzereien die Geschichte des gesamten Clans wiedergeben. Die Elemente des Corpus finden sich schon bei jeder Familie, angefangen vom Stammbuch über Andenken wie Milchzähne und Kinderschuhe zu besonders eindrücklichen Objekten, die an besondere Ereignisse erinnern sollen oder einfach ungewöhnlich sind; nicht selten werden sie in einer Art häuslicher Kunstkammer, etwa in einer Vitrine untergebracht. Neben solchen Memorabilien trifft man gelegentlich spezifische Sammlungen an oder Objekte, die in der Familie aus Liebhaberei angefertigt wurden; auch an Schrifttum ist kein Mangel, von der Familienbibel über die wichtigsten lebensbegleitenden Urkunden zu den Zeugnissen empfangener und zuweilen auch geschriebener Briefe (dies zumindest bis zum Ende des 20. Jahrhunderts). Eine herausgehobene Rolle spielt natürlich die Wohnung einer Familie, insbesondere dann, wenn es sich um ein eigenes Haus handelt. 190
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Es wird umso bedeutender, je länger es im Familienbesitz ist, andere gemeinsame Orte können hinzukommen, an denen sich etwa Ferienhäuser befinden. Für eine wissenschaftliche Fachgemeinschaft steht eine andere Gruppe von Corpus-Objekten im Vordergrund, nämlich die natürlichen Objekte, die für diese Disziplin zum Gegenstand der sie definierenden Arbeit geworden sind. Das ist besonders deutlich für die lebenswissenschaftlichen Disziplinen, die sich noch heute sammelnd betätigen, weil sie durch den Begriff des »Typus«, des ersten gesammelten Belegs einer Species, ihre Ordnungsstrukturen an die Sammlungen gebunden haben. In den experimentellen Disziplinen treten vielfach Experimentalanordnungen an die Stelle von physischen Belegen, wohingegen die Ordnungsstrukturen, wie das periodische System der Elemente, sich ganz in den Bereich des Codex verschoben haben. Die Situation ist komplizierter in den Geisteswissenschaften, weil sie ihren Gegenstand von Anfang an vorwiegend auf symbolische Techniken, vor allem die Schrift gründen. Dennoch können auch Texte zu einer disziplintypischen Sammlung vereinigt werden, in der sie Gegenstand der für die Disziplin charakteristischen Arbeit werden – das verrät schon das Wort Corpus, das wir als Überschrift gewählt haben. Abgesehen von diesem – wichtigen – Unterschied finden sich ähnliche Objekttypen wie bei den gerade besprochenen Familien, sobald sich eine Disziplin durch Gründung eines Seminars oder gar eines Fachverbandes ihrer selbst versichert hat. Am Sitz des Verbandes wird man dann die Gründungsdokumente der Disziplin antreffen, begleitet von Gegenständen, insbesondere Bildern oder Skulpturen der Disziplingründer, sowie andere Zeugnisse besonderer disziplinärer Erfolge. Unter Umständen können die Memorabilien Eingang in ein eigenes Museum finden, wozu dann auch museal gewordene Gegenstände der Forschung und der Lehre hinzugenommen werden. Ein eigenes Gebäude für eine Disziplin ist eher selten, aber für ihre lokalen Gruppierungen an den verschiedenen Universitäten sind die Arbeitsräume und ihre Gestaltung jedenfalls von Bedeutung. Die Vollendung des ersten voll ausgebauten Physikinstitutes in Berlin im Jahre 1878 haben viele Physiker in Deutschland auch als vorläufige Vollendung ihrer Disziplin verstanden, der bald danach entstandene Beiname »Palast der Physik« war sicher nicht nur der luxuriösen Dienstwohnung des ersten Direktors Hermann von Helmholtz geschuldet. Die Bedeutung des Corpus für eine Kultur ist also eine mehrfache. A
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Die physische Präsenz der Objekte versinnbildlicht die Kultur und ihre Causa communis nach innen für die Mitglieder der Kultur, das Corpus dient der Selbstvergewisserung und wirkt zugleich impulsgebend für die kontinuierliche Arbeit in der Kultur. Auf der anderen Seite wirkt das Corpus auch nach außen, besonders mit den herausgehobenen Elementen, seien es Gebäude oder besondere Objekte. Von dem Corpus als Sammlung geht außerdem ein Impuls der Vermehrung aus, der die Bindung verstärkt und die Energien der Kultur mobilisiert.
2.3 Codex Wir hatten den Codex bezeichnet als das gesamte Regelwerk, das die Abläufe der gemeinsamen Tätigkeiten regelt, einschließlich der Verhaltensregel für den Umgang der Mitglieder der Kultur untereinander und in Bezug auf das Ganze. Wir sehen den Codex entstehen aus dem Ordnungsbedarf, der schon allein aus dem quantitativen Wachstum des Corpus erwächst. Da dieses Wachstum unter normalen Bedingungen sich fortsetzt, wächst auch der Regelungsbedarf, und jede Neuregelung sieht sich dem gewachsenen Codex als historische Größe gegenüber; da eingespieltes Verhalten sich gegen Veränderungen sträubt, muss jede Neuregelung sorgsam bedacht und gründlich kommuniziert werden, um zu gelingen. Jedenfalls ist zu erwarten, dass Änderungen des Codex verzögert sind gegenüber der Realität, auf die sie antworten sollen. Wir wenden uns zunächst den Abläufen der gemeinsamen Tätigkeit im Einzelnen zu. Der Umgang mit dem Corpusbestandteil von Materialverbrauch und Produktion geht natürlich mit der Anwendung von Techniken einher, die wir »corporale Techniken« nennen wollen. Diese Techniken werden durch Nachahmung erlernt und in einer fest vorgegebenen Abfolge rein mimetisch durchgeführt, ohne nennenswerte Beteiligung des Bewusstseins. Sie stellen den Rohstoff zur Verfügung, aus dem sich »Techniken zweiter Ordnung« entwickeln können, die physische Aktivität mittels einer bewusst wahrzunehmenden symbolischen Kodierung steuern; diese Techniken wollen wir »Kulturtechniken« nennen. Da sich mimetische und symbolische Elemente mischen können, handelt es sich um eine komplexe Begriffsbildung; wir werden sie im nächsten Abschnitt etwas genauer diskutieren. Die wichtigsten Abläufe, die es zu regeln gilt, betreffen die Periodisierung der Zeit, also die Kalenderrechnung und die Zuweisung von 192
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Qualitäten zu den einzelnen Zeitabschnitten. Im Kleinen sind dies die Phasen der Arbeit, der Nahrungsaufnahme und der Ruhe im Laufe eines Tages, in größeren Abschnitten betrifft es die Lebensphasen des Menschen, also Kindheit und Jugend, die Zeit der vollen Mitwirkung in der Kultur und das Alter. Die hier verwendeten Techniken setzen eine gewisse Kenntnis der periodischen Bewegungen von Erde und Mond voraus, die nicht anders als symbolisch dargestellt werden können, insofern kommen hier Kulturtechniken zur Anwendung. Die nächste Gruppe von Regelungen könnte man die »Statuten« der Kultur nennen, sie betreffen also den Eintritt wie den möglichen Austritt aus der Kultur. Dazu kommen die Grundnormen des regelgerechten Verhaltens, etwa im Sinne der zehn Gebote, die zusammen zu denken sind mit den Sanktionen, die Verletzungen dieser Regelungen nach sich ziehen. Die Möglichkeit zur Arbeitsteilung in einer wachsenden Kultur bringt eine Diversifizierung der zugehörigen Spezialtätigkeiten mit sich, die nun ihrerseits einer Hierarchisierung untereinander bedürfen, nach Reihenfolge und Wichtigkeit des Auftretens. Diese Hierarchisierung wird üblicherweise in einer Hierarchisierung der Mitglieder der Kultur abgebildet, es entsteht also eine Rangfolge von Kulturmitgliedern in herausgehobener Stellung, wobei sich Entscheidungskompetenz und Verantwortung in einem Gleichgewicht befinden sollten. Es sei daran erinnert, dass »Verantwortung« ursprünglich bedeutet, dass eine Person für andere spricht und damit das Verhalten der anderen bestimmen kann, aber auch für die möglichen Codexverletzungen dieser anderen einzutreten hat. Ein wichtiger Teilbereich der Gliederung in Lebensphasen ist die Ausbildungszeit, die den Nachwuchs der Kultur für die Aufgaben vorbereiten soll, die in ihrem Vollzug anfallen. Erziehung als kulturelle Tätigkeit beeinflusst das natürliche Entwicklungsprogramm, das dem Menschen wie jedem biologischen Wesen eigen ist und das sich ohne kulturelle Beeinflussung nicht adäquat entwickeln kann. Ein wesentliches Hilfsmittel für das Gelingen einer kulturellen Erziehung wird durch die im Alter von etwa einem Jahr ausgebildete Fähigkeit des Kindes bereitgestellt, einen »gemeinsamen intentionalen Rahmen« (Michael Tomasello) für sich selbst und einen Erwachsenen zu schaffen, in dem das Kind die Position des Erwachsenen selbst einnehmen kann und diese Übernahme ausprobiert. In dieser Situation haben Kinder eine ausgeprägte Fähigkeit der präzisen Nachahmung dessen, was A
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ihnen vorgeführt wird; dies bildet die physiologische Grundlage jeder kulturellen Erziehung durch Mimesis. Es hat sich gezeigt, dass junge Schimpansen diese Fähigkeit nicht in demselben Maß besitzen, dafür aber sehr viel früher als Menschenkinder eigene Problemlösungen ausprobieren, die von den Vorgaben der Alttiere mitunter entscheidend abweichen. Im weiteren Verlauf der Erziehung gewinnt der Mensch die Fähigkeit, symbolische Techniken (wie Schreiben, Lesen und Rechnen) zu erlernen und dann frei zu handhaben, woraus eine wichtige Möglichkeit zur kulturellen Entwicklung erwächst. Schließlich ist der Umgang der Mitglieder untereinander da zu regeln, wo Regelverletzungen auftreten können, die nicht gegen die Regeln der Gemeinschaft verstoßen, was ja auch den Unterschied zwischen Zivilrecht und Strafrecht ausmacht. Der Codex kann ohne den Gebrauch von Medien, die aus corporalen Techniken erwachsen und evolutionär weiterentwickelt werden, nicht entstehen. Zugleich sind diese Medien Mittel der Kommunikation unter den Mitgliedern der Kultur, die den Charakter der Kommunikation bestimmen und ihre Inhalte mitunter nachhaltig beeinflussen. Als wichtigstes Medium ist wohl die Sprache zu nennen, die allen menschlichen Kulturen eigen ist. Sie entsteht durch eine in jeder Hinsicht aufwendige dynamische Modulation der Resonanzräume des Kopfes und des oberen Brustraumes, womit ein Spektrum von Lauten zur Verfügung gestellt wird, das sich von den elementaren Lauten der Erregung wesentlich unterscheidet. Auch wenn auf dieser Basis sehr unterschiedliche Sprachen entstehen können, so ist die Fähigkeit zu dieser Art von Spracherzeugung allen Menschen eigen; im Tierreich ist sie auf den Menschen beschränkt. Angesichts der erheblichen genetischen Einheitlichkeit des Homo sapiens in allen seinen Variationen verblüfft es jedoch, dass die menschlichen Sprachen derart verschieden ausfallen. Die Vermutung liegt nahe, dass Sprachbildung anfangs durch zufällige Faktoren bestimmt wird, die dann im intensiven Austausch unter den Sprachträgern zu einer kollektiven symbolischen Kodierung weiterentwickelt werden. Für unsere Betrachtungen hier halten wir nur fest, dass – soweit wir wissen – die Entwicklung jeder menschlichen Kultur von einer Sprachentwicklung und damit von einer äußerst komplexen (Kultur-)Technik begleitet wird. Sprachen sind zudem leicht veränderlich und bilden deshalb einen markanten Indikator für die jeweils sprachtragende Kultur, wenn sie denn überhaupt Spuren hinterlassen. 194
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Nichtsdestoweniger verwenden die meisten Kulturen auch andere Kommunikationsformen, die sich individuell als Körper- oder Gebärdensprache und kollektiv als Rituale oder deren Vorformen konstituieren. Zu den Vorformen können wir die Bewegungen von großen Menschengruppen zählen, die sich auch ohne vorgegebene Ordnung unter geeigneten Bedingungen in effektiven und harmonischen Formen organisieren wie gemeinsames Singen und Tanzen. Rituale stehen in einer engen Beziehung zu der sie produzierenden Kultur, sie werden ausgeführt als Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses und als Mittel der Selbstvergewisserung. Wir wollen nun einen etwas genaueren Blick auf die bereits erwähnten Kulturtechniken werfen, von denen wir festgestellt haben, dass sie aus den corporalen Techniken durch zusätzlichen Einsatz symbolischer Kodierung hervorgehen. Wie das Beispiel der Sprache zeigt, die ja eine symbolische Kodierung erzeugt, müssen deren Mechanismen dazu keineswegs bewusst sein, sie können auch durch Nachahmung erworben werden. Strenggenommen ist jede »Technik«, die ein Lebewesen ausführt, symbolisch kodiert, zum Beispiel durch elektromagnetische oder chemische Signale im Körper. Diese Tatsache ist dem Lebewesen aber nicht bewusst, auch dem Menschen nicht. Die Schrift hingegen, auch wenn sie eine gewisse Analogie zum genetischen Code nahelegt, ist eine menschliche Erfindung, die nicht viel älter als sechstausend Jahre zu sein scheint. Auch sie beginnt häufig mit zunächst beliebigen ikonischen Setzungen, die im Laufe einer relativ kurzen Zeit eine bemerkenswerte, zumeist auch ästhetisch befriedigende Normierung erfahren und »Bedeutung« einigermaßen verlässlich transportieren können. Die Technik des flüssigen oder gar des künstlerischen Schreibens ist andererseits eine korporale Technik, ohne die ein allgemeiner Gebrauch der Kulturtechnik »Schreiben« kaum denkbar wäre. Um aber mit der Schrift etwas ausdrücken zu können, müssen die Regeln der Schriftbedeutung angewendet werden. Es ist dieser Einsatz von Bewusstsein, der die Kulturtechniken ausmacht. Corporale Techniken zeichnen sich durch einen algorithmischen Ablauf aus, der halbbewusst ausgeführt werden kann, ohne sich über die einzelnen Schritte Rechenschaft zu geben, sie greifen automatisch ineinander. Ein Akt des Bewusstseins kann aber dazu führen, dass zwei dieser konsekutiven Schritte getrennt und durch ein neues Element ersetzt oder neu verbunden werden, was nun den BewusstA
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seinsanteil der veränderten Technik erhöht. Wird also zum Beispiel eine handwerkliche Technik wie das Backen von Brot automatisiert, so hat sich prinzipiell an dem gesamten Vorgang wenig geändert, es wird nach wie vor aus Mehl und einigen anderen Zutaten als Endresultat ein Brot entstehen. Die gesamten Arbeitsschritte sind nun aber symbolisch kodiert worden, und diese Kodierung, die (zumindest prinzipiell) Gemeinschaftsgut der sie benutzenden Kultur ist, wird von einer Maschine in die jeweiligen Arbeitsgänge übersetzt: Damit ist eine Kulturtechnik entstanden. Ein charakteristischer Aspekt von Kulturtechniken macht die beschriebene Unterscheidung schwieriger, nämlich die Tatsache, dass sie in dem Maße transparent, also unsichtbar werden, in dem sie eingeschliffen werden. Ihre Ausführung ist dann ebenfalls halbbewusst zu leisten, nämlich zum Beispiel durch algorithmische Programmierung einer geeigneten Maschine, so dass sie sich oberflächlich von den eigentlich corporalen Techniken nicht mehr unterscheidet. Die investierte kulturelle Kraft wird aber in dem Moment wieder sichtbar, wo eine Kulturtechnik in Frage gestellt oder durch eine konkurrierende Technik ersetzt wird, beispielsweise beim Übergang von der Schreibmaschine zur Computertastatur mit ihrem ganz anderen Ausgabemodus. Schließlich sei vermerkt, dass eine Kultur nur selten allein ist in dem von ihr genutzten Gebiet, dass sie sich also Konkurrenten gegenüber sieht, die im Verlauf der Zeit sowohl Partner als auch Feinde sein können. Der Codex muss also auch Regelungen enthalten, wie im Falle eines Krieges mit anderen Kulturen zu verfahren ist, ein Bereich, dem in der Geschichtsschreibung breiter Raum eingeräumt worden ist. Für eine Familie oder einen Clan ist der Codex normalerweise kein schriftlich formuliertes Regelwerk, sondern ein gemeinsames Wissen, das durch Erziehung weitergegeben wird und jederzeit abgerufen werden kann; gewisse Teile davon können besonderen Mitgliedern der Familie vorbehalten sein, wie die Entscheidung kritischer Fälle, die eine neue Interpretation erfordern. Zum Codex gehören insbesondere die Kriterien für Zugehörigkeit und Ausschluss, die Heiratsregeln, die Regeln der Interaktion und die Regeln guter Haushaltsführung. Diese Wortwahl zeigt bereits, dass die Bindungen, die der Codex den Mitgliedern auferlegt, durchaus in der Zeit veränderlich sind, wodurch sich der Inhalt, aber nicht die Funktion des Codex verändern. Insgesamt ist in der Evolution einer Kultur eine Lockerung der Bindungen zu beobachten, also eine fortschreitende Emanzipation der Mitglieder; es ist eine 196
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interessante Frage, wie sich dies auf die Bindungskräfte der Kultur auswirkt. Für eine wissenschaftliche Fachgemeinschaft betrifft die Bindung durch den Codex hauptsächlich die Praxis der definierenden Arbeit, also die »Regeln guter Praxis«, die elementaren Lebensbedürfnisse werden nur indirekt berührt. Den Regeln von Eintritt und Austritt kommt allerdings Bedeutung zu, wenn auch häufig weniger im Sinne strenger formaler Regeln als im Sinne eines ungeschriebenen Wissens darum, wer dazugehört und wer nicht. Es ist eigentümlich, dass die Definition von wissenschaftlichen Fachgemeinschaften häufig ex negativo präzisiert wird, in der Bezeichnung dessen, was nicht bearbeitet wird oder – womöglich – was man nicht wissen will. Das Verhältnis zwischen einer Kultur und ihrem Codex ist komplizierter als das zu ihrem Corpus, weil der Codex einen höheren Aufwand für seine Erstellung und Anpassung benötigt. Daraus ergibt sich eine zweifache Gefahr von Missverhältnissen. Erstens wird der Codex, wie schon bemerkt, nicht so schnell auf Änderungen reagieren können wie der Corpus, so dass es zu einem Missverhältnis zwischen der Realität des Kulturbetriebes und den wünschenswerten Regeln für diesen Betrieb kommen kann; sollte dieses Missverhältnis eklatant werden, so droht dem System eine Änderung, die katastrophal ausfallen kann. Zum andern kann die Arbeit am Codex, die ja von Spezialisten ausgeführt werden muss, sich unter dem Aspekt des Problemlösens verselbständigen, wodurch der Codex ein Übergewicht gegenüber den Realitäten der Kultur und des Corpus gewinnt. Dies kann dazu führen, dass die Entwicklungsmöglichkeiten der Kultur nachhaltig gelähmt werden.
3.
Interaktionen
3.1 Causa communis, Corpus und Codex Die im vorigen Abschnitt besprochenen Bestimmungsstücke einer Kultur beherrschen den alltäglichen Ablauf der Tätigkeiten innerhalb der Kultur. Der überragende gemeinsame Zweck ist die Causa communis, die immer auch die Subsistenzsicherung und die Weiterführung der Kultur beinhaltet. Das Corpus umfasst alle Tätigkeiten, die sich durch Produktion direkt auf die Causa communis auswirken, es bildet die A
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Basis der Kultur auch deshalb, weil die grundlegenden corporalen Techniken strukturell den biologisch bestimmten Techniken verwandt sind. Diese Corporalität sichert den Objektbezug der Kultur, d. h. ihre Rückbindung an die Realität der physischen Welt, mit der sie interagiert. Der Codex beinhaltet das Regelwerk der Kultur, das seinen Niederschlag in medial vermittelten, kulturtechnischen Regelungen findet, die aus dem Ordnungsbedarf des Corpus entstanden sind und durch ihre Regelungseffekte auf die corporalen Techniken und damit auch auf den Corpus einwirken. Ihrer Natur nach sind die im Codex verwendeten Kulturtechniken selbstreferenziell, bedürfen also nicht mehr der unmittelbaren Rückbindung an die im Corpus umgesetzte Realität. Damit die lebensnotwendige Balance zwischen den drei Bestimmungsstücken bewahrt wird, sind sie verbunden durch die Communicatio der Kultur, d. h. durch den ständig stattfindenden Austausch zwischen Mitgliedern der Kultur. In diesem Austausch kommt die natürliche Spannung zwischen den Mitgliedern der Kultur als Individuen und ihrer Bindung an die Kultur als Ganzem zum Tragen, in der eine der fundamentalen Quellen der kulturellen Evolution zu sehen ist. Wir haben an anderer Stelle ausgeführt, dass ein Prozess, den wir »Interpretation« nennen, ein wichtiges Instrument in der Justierung des kulturellen Gleichgewichts darstellt.
3.2 Communicatio Die bereits angesprochenen Wurzeln im Wort »communicatio« enthalten mit »munus« den Austausch, die gegenseitige Gabe. Die Praxis des wechselseitigen Austauschens können wir im Deutschen fassen als »sich gemein machen«, was in unserer Sicht der temporären Schaffung eines gemeinsamen intentionalen Rahmens entspricht, in dem sich die Kommunikation vollziehen soll. Endet die Kommunikation im Konsens, so ist sie gelungen und resultiert in einer positiven Wirkung, die sich als Anziehungskraft zwischen den Partnern der Kommunikation deuten lässt; endet sie im Dissens, so wirkt sie im Gegenteil abstoßend. Unter den vielen möglichen Formen der Kommunikation überwiegt wohl die sprachgebundene Form in direktem Austausch. Es folgt die optische Kommunikation, die durch den Austausch ikonischer Zeichen erfolgt, wie sie heute als Werbung nahezu omnipräsent ist, und eher am Ende ordnen sich die Formen nichtverbaler und nichtiko198
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nischer Kommunikation ein, wie sie typischerweise in Ritualen dominieren. Die Kommunikationsvorgänge in einer Kultur können gedeutet werden als abstoßende beziehungsweise anziehende Impulse in dem von den Mitgliedern der Kultur geformten Netzwerk. Die zeitliche Integration dieser mannigfaltigen Vorgänge kann die Bindungs- und Trennungsbewegungen innerhalb der Kultur beschreiben und so beispielsweise Hinweise auf die Bildung von Subkulturen oder die drohende Trennung ganzer Bereiche vom Rest der Kultur geben. Eine differenziertere Bewertung der Kommunikationsprozesse kann auch Auskunft darüber geben, wie die Balance zwischen Causa communis, Corpus und Codex beschaffen ist, ob also ein Missverhältnis besteht und in welchem Bereich es seine Wurzeln hat. Die Kommunikationsbewegungen in ihrer Gesamtheit müssten grundsätzlich auch Aufschluss darüber geben können, was die Communis opinio, die öffentliche Meinung zu bestimmten relevanten Fragen der Kultur ist; dies setzt allerdings eine subtilere Analyse des Problems voraus. Die heute fast täglich durchgeführten Meinungsumfragen informieren darüber nur sehr unvollkommen. Dies hängt möglicherweise auch mit der vermuteten Konstruktion von intentionalen Rahmen als Kommunikationsvoraussetzung zusammen, denn eigene Meinungen werden häufig nur unter dem Eindruck einer Vertrauenssituation preisgegeben. Diese prinzipiell wohlbekannte Schwierigkeit weist eine kuriose Ähnlichkeit mit dem Messprozess der Quantenmechanik auf, der zwar im Einzelfall zufällig ist, bei genügend vielen Messungen aber zu verlässlichen Antworten führt. Auf die Umfragen angewendet, wird die notwendige Anzahl von Antworten die praktischen Möglichkeiten sicher bei weitem übersteigen.
3.2 Innovation und Expansion Die Evolution einer Kultur wird auch von einem Expansionsdruck getrieben, der seinerseits durch Innovationen entscheidende Förderung erfahren kann. Dieses Phänomen lässt sich zurückführen auf den Sammlungscharakter des Corpus und den diesem zugrundeliegenden Sammlungszyklus, der seine Wurzeln in biologischen Grundtatsachen hat. Gemeinhin wird der Expansionsdruck durch rückkoppelnde Mechanismen gedämpft, nur in sehr speziellen Situationen ist ein relatiA
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ves Gleichgewicht zu erzielen, dann aber offenbar auf Kosten der kulturellen Entwicklung. Eine dämpfende Rückkopplung entsteht zum Beispiel dadurch, dass eine substantielle Vermehrung des Corpus zu einem erhöhten Ordnungsbedarf und damit zu vermehrter Entwicklung des Codex führt, die gemeinhin sehr viel langsamer vonstatten geht als die Corpusvermehrung. Die Entwicklung digitaler Medien hat diesen Umstand zumindest oberflächlich verändert, weil nun sehr viel schnellere Antwortzeiten möglich sind. Dieser Effekt hat aber keine Tiefenwirkung, denn die kulturell wirksame Umsetzung von Regelungsbedarf verlangsamt sich umgekehrt proportional zur Antwortgeschwindigkeit, weil sich die »kulturelle Entropie« erhöht, zum Beispiel durch die Aufspaltung der communis opinio und die stärkere Wirkungsmöglichkeit gegenläufiger Interessen. Dadurch werden Entscheidungen schwieriger, es kommt zu Patt-Situationen oder zu bloßem Durchsetzen von unvollkommen kommunizierten Reißbrett-Entwürfen, wie wir es täglich erleben. Die Wirkung von Innovationen kann die Lebensgrundlage einer Kultur in Konkurrenz zu anderen Kulturen schlagartig verbessern. Als ein spezifisches Beispiel sei der Übergang vom alteuropäischen Färberwaid zur Indigopflanze genannt, die im 17. Jahrhundert aus Indien eingeführt wurde; ihre dreißigfach höhere Farbstoffmenge vernichtete die auf der Produktion von Färberwaid basierenden Wirtschaftsgemeinschaften in Zentraleuropa. Dennoch sind solche Ereignisse vergleichsweise selten, weil Innovationen dieser Art nicht steuerbar sind, während schrittweise Verbesserungen auf einer systematischen und dementsprechend mühevollen Analyse natürlicher Vorgänge und der Möglichkeit beruhen, in sie kontrollierend einzugreifen. Diese Strategie braucht einen langen konsekutiven Aufbau von Erfahrungen in Forschung und Anwendung, doch sie war historisch zweifellos die erfolgreichste. Unsere heutige globalisierte Welt muss sich mit der Einsicht auseinandersetzen, dass dem Wachstum von einzelnen Kulturen auf Kosten anderer doch enge Grenzen gesetzt sind, weil alle wesentlichen Ressourcen global begrenzt sind. Der einzig mögliche Ausweg scheint in der Schaffung einer allgemein verbindenden und verbindlichen Causa communis zu liegen, was intellektuell leicht einsichtig ist und auch vielerorts gefordert wird, was aber in der Umsetzung ein genaueres Verständnis der Gesetzmäßigkeiten von kultureller Interaktion ver200
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langt. Vielleicht lässt sich das hier skizzierte Kulturmodell so verfeinern, dass sich einige praktikable Handlungsanweisungen ableiten lassen. Der Verfasser dankt dem Exzellenscluster »Topoi« für die Förderung der Arbeit, die zu diesem Artikel geführt hat.
Bibliographie Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988. Klaus Schmidt: Sie bauten die ersten Tempel. Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger, München 2006. Jochen Brüning: »Von Humboldt zu Helmholtz. Zur Disziplinbildung in den Naturwissenschaften am Beispiel der Physik«, in: E. Tenorth (Hg.): Geschichte der Universität unter den Linden 1810–2010. Bd. 4: Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität, S. 395–424, Berlin 2010. Jochen Brüning: Wissenschaft und Sammlung, in: H. Bredekamp, S. Krämer: Bild-Schrift-Zahl, München 2004, S. 87–113. Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens, Frankfurt a. M. 2002. Jochen Brüning: Interpretation und kulturelle Dynamik, im Druck. Daniel Everett: Das glücklichste Volk. Sieben Jahre bei den Pirahã-Indianern am Amazonas, München 2010.
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»Natur« und »Kultur«: Von Inbegriffen zu Reflexionsbegriffen 1
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Einleitung
Dass die Auseinandersetzungen um eine Naturalisierung der Kultur oder eine Kulturalisierung der Natur bisweilen dramatische Züge weltanschaulicher Kontroversen annehmen, ist in der fundamentalen Aporie unseres Weltverhältnisses begründet: Einerseits zielen unsere Erkenntnisbemühungen auf die Freilegung unseres Status und unserer Verortung in der Welt. Die humane Kultur soll als besonderer Seinsbereich innerhalb der Welt transparent werden, eingebunden in einen geschlossenen Zusammenhang des Prozessierens. Wird dieser Zusammengang als durch Naturanlagen, Naturkonstanten, Naturgesetze einschließlich derjenigen evolutionärer Prozesse bestimmt erachtet, geht es um unsere Einbettung in die Natur, um unsere Kultur als Teil der Natur, um uns als ein Stück Natur, wie wir es insbesondere in unserer Leiblichkeit angeblich unmittelbar zu erfahren vermögen. Ansätze dieser Art sind im weitesten Sinne monistisch; sie suchen nach dem einen Grund. Auch unsere Erkenntnisbemühungen sollen hierdurch bestimmt sein. Freilich folgt zunächst aus dem Leibniz’schen »Nichts ist ohne Grund« (für alle x gilt, dass es ein y gibt, sodass y Grund für x) nicht, dass es einen Grund y gibt, sodass für alle x gilt, dass y Grund für x ist. Ferner zeigen sowohl unterschiedlich modellierte basale Naturkonzepte etwa bei Spinoza, Schelling oder Whitehead als auch Versuche eines »weichen Naturalismus« 2 oder eines »weichen Kulturalismus«, der Kant mit Darwin versöhnen will 3 , – Versuche also, unsere Dieser Beitrag erschien erstmals in: Zeitschrift für Kulturphilosophie, Heft 1/5 (2011), S. 97–119. 2 Wolfgang Detel, »Forschungen über Hirn und Geist«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie [im folgenden: DZPhil] 52/6 (2004), 891–920. 3 Jürgen Habermas, »Verantwortliche Urheberschaft und das Problem der Willensfreiheit«, in: DZ Phil 54/5 (2006), 669–707. 1
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»Natur« und »Kultur«: Von Inbegriffen zu Reflexionsbegriffen
auf mentale Repräsentationen gestützten Weltverhältnisse in die (evolutive) Gesamtwelt zu integrieren – die Unverzichtbarkeit eines modellierenden Zugriffs. Gleiches gilt für Charakterisierungen der Kultur als »hervorgebracht Natürliches« (Gilbert Simondon, Serge Moscovici) oder als das »natürlich Künstliche« (Helmuth Plessner). 4 Alle Versuche dieser Art stehen unter der Begründungshypothek, die Hegel bereits gegen Spinoza geltend gemacht hat: zu erklären, wie das Verhältnis desjenigen Geistes, der diese Prozesse eines Weltverhältnisses als Teil der Welt modelliert, als Moment eben des derart Modellierten erfasst werden kann. Dieser Aufgabe stellen sich Anthropologen durchaus. Sie suchen – ohne dass der Wert ihrer Forschungserträge in Frage gestellt werden sollte – in unterschiedlicher Weise zu erfassen, etwa wie aus »überprägnanten« Erscheinungen als Präsentationen (Gehlen) 5 Repräsentationen werden, also aus Dingen »Sachen«. Dabei wird mit Begriffen wie »Projektion« oder »Rückprojektion« gearbeitet (z. B. bereits bei Ernst Kapp) 6 oder mannigfach weiter differenzierenden Erklärungen bis hin zu solchen auf neurologischer Basis, die das Zustandekommen von Weltverhältnissen betreffen. Die Identifizierung von Dingen oder Ereignissen bzw. Ereignisfolgen/Prozessen als Sachen entlastet jedoch nicht von dem Problem, dass keine Erkenntnis über die Sache abzulösen wäre von dem Wissen, das der Erklärende von sich selbst bzw. seinem Repräsentationssystem hat. Ein solches Wissen basiert auf der Unterstellung von Kompetenzen als Fähigkeiten zu erkennen, die sich ihrer selbst bewusst sind. Hier scheiden sich freilich die Geister: ob in naiv-idealistischer Weise der Geist als »Bildhauer der Welt« mit dieser Welt sein Verhältnis zu ihr selbst festlegt, oder, von seinen Ergebnissen kontemplativ zurücktretend, sich bloß als Stenooder Seismograph erachtet, oder er sich (mit Hegel) als Trieb gewahr wird, der durch die Hemmung seiner Begierde Natur als Restriktion erfährt, die er schrittweise bearbeitet und in seinem Sinne – zugleich mit sich – bildet. Damit kommen wir zu dem »Andererseits« der Aporie: Alle VerGilbert Simondon, Du mode de l’existence des objets techniques, Paris 1958, 256; Serge Moscovici, Versuch über die menschliche Geschichte der Natur, Frankfurt/M., 1982, 43; Helmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, Gesammelte Schriften, hrsg. von Günter Dux et al., Bd. 4, Frankfurt/M. 1980, 385, 391. 5 Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Frankfurt/M., 1977, 138. 6 Ernst Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik. Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Düsseldorf 1978, 26, 96. 4
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suche, unsere Weltverhältnisse als Teil der Welt zu begreifen, rücken uns in die Position, mit den unterschiedlichen Optionen eines solchen Begreifens umgehen zu müssen. Es ist mit seinen Alteritäten zu konfrontieren, in deren Lichte Leistungen und Grenzen ersichtlich werden; Bewertungen (unter welchen Maßstäben?) sind vorzunehmen etc. Die Reflexion vermag sich nur selbst zu potenzieren, nicht aber in die Welt zu integrieren, die ihr eigentliches Erkenntnisziel ist. Sowohl hinter den Leitdifferenzen, unter denen Kulturkonzepte verhandelt werden, als auch denjenigen, die zur Abgrenzung von Konzepten der Natur führen, verbergen sich unterschiedliche Stufen potenzierter Reflexion: Wenn »Kultur« unter der Leitdifferenz »KulturZivilisation« konturiert wird, verdankt sich diese einer erst-stufigen Reflexion als Selbstvergewisserung des sich objektivierenden Geistes, der sich durch die »Sachzwänge« der notwendigerweise einzusetzenden Mittel eingeschränkt sieht (»Tragödie der Kultur« und »Kulturpessimismus«) oder – jetzt nicht in Ansehung der Begrenzung durch die Mittel, sondern in Berücksichtigung ihres Potenzials – sich fortlaufend weitere Bedingungen seiner Entfaltung erarbeitet (»Kulturoptimismus«). Wird das Kulturkonzept im Horizont der Leitdifferenz »KulturLebenswelt« gefasst, zeugt dies von einer höherstufigen Reflexion, die bereits auf ein Weltverhältnis als (selbstverständlicher) Lebenswelt absieht und Formen der Kulturalisierung (»Ordnung«) einer solchen Lebenswelt auf ihre Leistungen und Grenzen hin untersucht, als Verhältnis zu einem Verhältnis. Wird schließlich Kultur als »Einspruch« dem »System« gegenübergestellt, so werden – in weiterer Höherstufigkeit – funktionale Ordnungsleistungen der Kulturalisierung von Weltverhältnissen mit den – aus ihrer Sicht kontingenten – alternativen Sinnverständnissen bezüglich dessen, was »Funktion« sei, konfrontiert, also »Funktion« reflektiert. Diese Konfrontation ist ihrerseits reflektierbar in Konzepten der »Inter-« oder »Transkulturalität« etc. 7 Eine analoge Stufung findet sich in einschlägigen Konzeptionen von »Natur«: Als Unmittelbarkeit einer Verfasstheit, in die wir gestellt sind und deren Wirken wir an uns selbst und an unserer Umwelt erfahren, erscheint sie als genetisches und qualitiatives Sosein ohne unZum Überblick über diese Leitdifferenzen s. Christoph Hubig, »Kulturbegriff – Abgrenzung, Leitdifferenzen, Perspektiven«, in: Technik und Kultur. Bedingungs- und Beeinflussungsverhältnisse, hrsg. von Gerhard Bause und Armin Grunwald, Karlsruhe 2010, 55–65.
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ser Zutun (natura naturans und natura naturata), als uns gegenüberstehendes Subjekt von Wachstums- und Entwicklungsprozessen bzw. ihren Resultaten. In höherstufiger Reflexion auf unser Verhältnis zu dieser Instanz erscheint sie als obstat, als Restriktion, die sich – als Widerfahrnis – unseren diese Natur erkennen- und gestaltenwollenden Eingriffen widersetzt, unsere Generalisierungen unterläuft, die Prognosen und unsere geplanten Eingriffe scheitern lässt (bis hin zu einer »Rache der Natur«). Eine potenzierte Reflexion hierauf, die einer solchen »Natürlichkeit« einen wenigstens negativen Wert zusprechen will in dem Sinne, dass derart indisponible Bedingungen nicht zu tangieren sind, entdeckt schnell unsere Projektionen bei der Modellierung einer solchen »Als-ob-Natur«, die wir als ökonomisches Subjekt (»sie tut nichts umsonst«), züchtendes Subjekt einer Selektion, komplexitätssteigerndes Subjekt (Komplexität ist ein subjektives Maß des Erkenntnisaufwandes relativ zu einer paradigmatischen Erkenntnisbasis), kurz: als »Technik der Natur« begreifen. Wird diese Technomorphizität der Naturkonzepte, der die Naturwissenschaften ihre enormen Erfolge verdanken, ihrerseits als Ausweis der Natürlichkeit dieses Weltzugriffs herausgestellt und damit der Realismus der Naturwissenschaften gerechtfertigt, finden wir uns in der ersten Dimension der Aporie wieder. Denn was soll heißen, dass die Natur erfolgreich sei? Wie auch immer – der Rest eines »Wunderns« verbleibt auf beiden Seiten der Aporie: Der Konstruktivist, der, mit Kant gesprochen, der Natur ihre Gesetze vorschreibt, muss, mit Kant, »bewundern« 8 , dass sein von ihm gestaltetes theoretisches und praktisches Naturverhältnis erfolgreich ist; der Realist hat sich darüber zu wundern, dass die Natur vorgesehen hat, dass wir sie adäquat erkennen können. Erklärungsversuche dieser Wunder (oder Wunderlichkeiten) finden sich auf weltanschaulicher Ebene, will man nicht zirkulär argumentieren in dem Sinne: »Die Natur hat diejenigen kulturellen Bestrebungen selektiert, die das Natürliche als deterministischen Selektionsprozess begreifen und sich entsprechend anpassen« oder: »Die Kultur ist die Gesamtheit der gegenstands-konstitutiven Konstruktionsschemata, die in einer Kultur als Schemata anerkannt sind«. Da solche existentiellen Bekenntnisse oder zirkelhafte AusgangsImmanuel Kant, »Erste Fassung der Einleitung zur Kritik der Urteilskraft«, in: Werke in 6 Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 5, Darmstadt 1964, 193, 197.
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prämissen nicht Sache der Philosophie sein sollten, stehen die nachfolgenden Überlegungen unter bescheideneren Ansprüchen: Ich gehe davon aus, dass die unter den großen Titeln »Kultur/Kulturalismus« und »Natur/Naturalismus« diskutierten Konzepte von Weltverhältnissen theoretischer und praktischer Art (Konstruktivismus/Realismus, Libertarismus/Determinismus bzw. »evolutionäre Ethik«) elementar dem Interesse einer – handlungs- und planungsermöglichenden – Sicherung, einer Stabilisierung unserer Weltbezüge geschuldet sind. Diese Sicherung müssen wir erbringen, weil wir sie nicht vorfinden mangels gegebener Orientierung und angetroffener Ausstattung. Wir müssen uns orientieren und unsere Lebensbedingungen selbst erarbeiten. Hierfür steht zunächst einmal elementar die Technik im weitesten Sinne, also als Intellektual-, Sozial- und Realtechnik, als deren Erfinderin im mythischen Kontext die »Kopfgeburt« Athene steht. Solcherlei Technik kann auf die äußere und innere Natur (»Selbsttechnik«) des Menschen bezogen sein und bestimmt zugleich die Herkunft elementarer Kulturkonzepte als Cultura/Ackerbau oder cultura animi. Entsprechend will ich versuchen, »Natur« und »Kultur« zunächst einmal von »Technik« her zu beleuchten, nicht in der Absicht, technomorphe Natur- oder Kulturkonzepte geltend zu machen, sondern das Interesse an »Sicherung« in seine Verästelungen zu verfolgen. Dieser Zugriff erscheint angemessen, weil sowohl auf naturalistischer Seite die Befunde und ihre Generalisierungen sich dem Zugriff einer technisch-experimentellen Naturerschließung verdanken (die – aus diesem Grunde – dieser Befunde technisch »anwendbar« macht), und auf kulturalistischer Seite die Kulturkonzepte in Abgrenzung von einer Natur entworfen werden, die als Gegen- oder Korrekturinstanz ex negativo entwickelt wird. Dabei soll in einem ersten Schritt deutlich werden, dass »Technik«, »Natur« und »Kultur« in objektstufiger Verwendung den Charakter von Inbegriffen haben: Sie werden als kategorial inhomogene Inbegriffe eingesetzt werden, ohne dass hinlänglich auf ein für solche Inbegriffe notwendiges »einheitliches Interesse« und ein daraus resultierendes »einheitliches Bemerken«, wie Husserl in seiner Charakterisierung von Inbegriffen betont hat, 9 abgehoben wird. (Es wird mit den Begriffen und kaum an den Begriffen gearbeitet – das be9 Edmund Husserl, »Philosophie der Arithmetk«, in: Gesammelte Werke, Bd. 12, hrsg. von Lothar Eley, Den Haag 1970, 23, 74.
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stimmt den Pluralismus der Meinungen.) Die Untersuchung dieses einheitlichen Bemerkens bei jenen objektstufigen Charakterisierungen von Natur und Kultur führt uns auf bestimmte modale Inferenzen der Grundbegriffe, die uns veranlassen, in einem zweiten Schritt das Konzept der Medialität geltend zu machen, wie es für Natur einschließlich der menschlichen Natur eine lange Tradition aufweist, darüber hinaus aber in neuerer Zeit auch für Technik und Kultur in Anschlag gebracht wird: Grundbegriffe wie »Ursache-Wirkung«, »Mittel-Zweck«, »Setzung-sinnhaftes Gebilde (Text)« erweisen sich als korrelativ in dem Sinne, dass die Wirklichkeit des einen von der Möglichkeit des anderen abhängt. Der Raum dieser Möglichkeit ist das, was als Medium/Medialität zu begreifen ist. Dabei wird deutlich werden, dass die Unterscheidungen, die sowohl unter den Inbegriffen als auch den Konzepten jeweiliger Medialität angebracht werden, nicht solche zwischen Gegenständen, sondern solche an Gegenständen bzw. Gegenstandsbereichen sind. Dies verweist uns abschließend auf die Problematik ihres Einsatzes als Reflexionsbegriffe, die nicht auf die Vorstellungen referieren, sondern Namen für Strategien sind, unter denen Vorstellungen erzeugt werden. Damit findet sich m. E. ein Instrumentarium, welches uns erlaubt, die einschlägigen Entwicklungen zu diagnostizieren, ohne ontologische Begründungshypotheken übernehmen zu müssen. An die Stelle einer ontologischen Begründung hat dann diejenige einer praktischen Rechtfertigung unter der Idee subjektiver Freiheit zu treten, die auch der erfolgreichst arbeitende Neurophysiologe oder Evolutionsbiologie nicht wegzudiskutieren vermag. Von diesem Standpunkt aus wird ersichtlich werden, dass unsere Intuition einer wie immer gearteten Einbettung von Kultur in die Natur als deren besonderer Seinsbereich immer auf einem Verhältnis zu einer solcherart erfahrenen und modellierten Natur beruht, welches durch das Naturkonzept selbst nicht abgedeckt sein kann. Das ist eine Grundarchitektonik, wie sie sich in vielen Facetten von Hegels Kritik an Spinoza bis zu den Paradoxien der Selbstbezüglichkeit immer wieder findet.
2.
»Technik«, »Natur«, »Kultur« als Inbegriffe
Werfen wir also zunächst einen Blick auf geläufige Konzepte von Technik, Natur und Kultur, in denen deren Charakter als objektstufiger Inbegriff ersichtlich wird. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen A
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sich für Technik entsprechend ihrer von Max Weber vorgenommenen allgemeinen Charakterisierung 10 als Inbegriff der Mittel (1) Fertigkeiten, (2) Verfahren und Routinen als types, (3) das Wissen über diese Verfahren, (4) die Aktualisierung der Verfahren als konkreter Mitteleinsatz (token) und schließlich (5) die Gesamtheit künstlich produzierter Gebilde anführen. 11 Während Max Weber ein für diesen Inbegriff konstitutives einheitliches Interesse und Bemerken nur lapidar im planvollen Handeln sah, brachte Martin Heidegger – wohl unter dem Eindruck seiner Gespräche mit Werner Heisenberg – dieses Interesse schärfer auf den Begriff: das Interesse spezifisch menschlicher Technik läge neben der Steuerung in der Sicherung, 12 die eben Erwartbarkeit, Verfügbarkeit, Antizipierbarkeit, Bestellbarkeit und Planen ermöglicht. In der Sprache des Ingenieurs ist dies der Bereich der Regelung, wie er von dem Klassiker der Kybernetik, Ross W. Ashby, in dreifacher Weise bestimmt wurde, nämlich (1) als statische Verteidigung, statischer Schutz vor störenden Einflüssen, (2) als Kompensation von Störungen qua Störgrößenaufschaltung unter Modellen solcher Störungen und (3) – dies ist der engere Begriff der Regelung im Sinne der DIN 19226 – als Nutzung der störungsbedingten Abweichung von einer Sollgröße als rückgekoppelten zusätzlichen Steuerungsimpuls. 13 Alle diese Regelungsformen sind seit der neolithischen Revolution in den technischen Systemen vorfindlich und machen – mit graduellen Übergängen – den Unterschied zwischen dem instrumentellen Agieren höherer Spezies und spezifisch menschlicher Technik aus. Diese Sicherung besteht mithin in der Einbettung instrumentellen Handelns in technische Systeme. Sie findet ihr Analogon in der Einbettung in intellektualtechnische Systeme der Zeichenverwendung und -deutung bis hin zu Theorien sowie der Einbettung in sozialtechnische Systeme der Normierung von Interaktionen. Deshalb konnte Heidegger formulieren: »Das Wesen der Technik ist nichts Technisches«, 14 zu lesen als: Das Wesen der Technik ist nichts Instrumentelles, sondern liegt in ihrem Charakter als Gestell, welches sowohl die Natur überformt als auch den Menschen herausfordert, wenn er sein Handeln gelingen las10 11 12 13 14
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Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1921/1976, 32. Christoph Hubig, Die Kunst des Möglichen, Bd. 1, Bielefeld 2006, 28. Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962, 18, 27. William Ross Ashby, Einführung in die Kybernetik, Frankfurt/M. 1974, 290. Heidegger, Die Technik und die Kehre, 20 f.
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sen will. Ashby formulierte ganz in diesem Sinne: »Perfekte Regelung [– heideggerianisch: Sicherung –] macht das Gelingen der Steuerung möglich«. 15 Auf technikhistorische Irrtümer im Rahmen von Heideggers Diagnose möchte ich hier jetzt nicht weiter eingehen – so ist z. B. die von ihm zitierte Wassermühle als Gegeninstanz zum Wasserkraftwerk im Rhein ebenfalls ein geregeltes System; der Unterschied liegt in der Umlenkung von Kräften hin zur Wandlung von Kräften. Analoge Schichtungen finden wir nun auch im Inbegriff der Natur, der als Inbegriff des Wirkens zu fassen wäre, welches ohne Zutun des Menschen oder allenfalls auf dessen Veranlassung hin eintritt und diese Veranlassung ermöglichen soll. So erscheint Natur (1) als Gesamtheit der Kräfte und Substanzen in Gestalt von Dispositionen und Restriktionen, (2) als Gesetzmäßigkeit von Verläufen, (3) als Inhalt von Hypothesen über jene beiden, (4) als Gesamtheit realer Wirkungen einschließlich evolutionärer Prozesse und schließlich (5) als Gesamtheit solchermaßen entstandener, entwickelter und »gewachsener« Gestalten, wobei die Charakterisierung als gewachsen im Unterschied zu dem technischen Produzieren einen noch unbestimmten Aspekt des Nicht-Disponiblen vorläufig charakterisieren soll. Das »einheitliche Interesse und Bemerken«, welches diese kategorial inhomogenen Momente eines solchermaßen grob skizzierten Inbegriffs zusammenhält, ist die Fixierung auf eine Arché als Titel für nicht-anthropogene Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten, die zusammen eine gegebene Ordnung ausmachen, die ihrerseits der Topos ist, unter dem Natur als Ganzheit begriffen wird. Dieser Auffassung liegt jedoch, wie es insbesondere Edmund Husserl herausgearbeitet und Heidegger zum Grundzug seiner Metaphysik-Kritik gemacht hat, bereits ein technomorphes Naturverständnis zugrunde, insofern nämlich, als die Natur als transzendentes Subjekt, personalisiert im Schöpfer, säkularisiert in Schöpfung oder Evolution, gedacht wird, so dass Hans Michael Baumgartner sinngemäß ausführen konnte: Das Wesen der Natur ist nichts Natürliches. 16 Ähnlich facettenreich erscheint Kultur als Inbegriff der Traditionsbildung. Dieser umfasst – unterschiedlich fokussiert in den verWilliam Ross Ashby, Einführung in die Kybernetik, Frankfurt/M. 1974, 290. Hans Michael Baumgartner, »Natur aus der Perspektive spekulativer und kritischer Philosophie«, in: Natur als Gegenstand der Wissenschaften, hrsg. von Ludger Honnefelder, Freiburg/München 1992, 244.
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schiedenen kulturphilosophischen Ansätzen – (1) dingliche, epistemische und normative Schemata als gesetzte Ordnungen und Dispositive, 17 (2) die Institutionalisierungsprozesse, die Prozesse des Setzens, (3) ein kanonisiertes Orientierungswissen hierüber einschließlich eines reflexiven Wissens über unterschiedliche Konzepte von Kultur überhaupt, (4) ein Sich-Orientieren unter solchen Ordnungen als deren »strategische Wiederauffüllungen« (Foucault) und schließlich (5) alle Gebilde, die als sinnhaft, nämlich als Objektivationen des Geistes, als nachvollziehbare Resultate eines solchen Sich-Orientierens, erscheinen – »Texte« i. w. S. 18 Ein einheitliches Interesse und Bemerken zielt auf eine Tradierung der Sicherung menschlicher Existenz als Ermöglichung ihrer Permanenz, konkreter, wie es Peter Janich einmal formuliert hat, auf die Tradierung situations- und personeninvarianter Praxen als Schemata, 19 wobei hier Schellings Charakterisierung von Schema als sinnlich-anschaubarer Regel passt. 20 Wissend nicht nur um die Unterschiedlichkeit von Kulturen, sondern auch unter dem Eingeständnis einer Alterität kultureller Auffassungen darüber, was Kultur überhaupt sei, wäre analog zu den Aperçu’s, dass das Wesen der Technik nichts Technisches und das Wesen der Natur nichts Natürliches sei, hier anzumerken, dass das Wesen der Kultur sehr wohl etwas Kultürliches ist. Der Einsatz dieser Inbegriffe oder fokussierter Teilelemente dieser Inbegriffe in den gegenwärtigen Debatten bringt eine ganze Reihe von Problemen mit sich, die in unterschiedlicher Weise bearbeitet werden. So wird erstens immer wieder auf Äquivokationen im Zuge der Verwendung von Teilbegriffen jener kategorial inhomogenen Inbegriffe verwiesen, und man versucht entsprechend, das Problem definitorisch zu bereinigen. Daraus resultiert die erwähnte Vielfalt von Ansätzen, die sich untereinander nichts zu sagen haben, weil sie mit den Begriffen und nicht an den Begriffen arbeiten. Dramatischer gestaltet sich jedoch die Situation, wenn mit unterschiedlich fokussierten Teilbegrif17 Michel Foucault, Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978; hierzu Christoph Hubig, »›Dispositiv‹ als Kategorie«, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (2000), 34–47. 18 Hubig, Die Kunst des Möglichen, 240 ff. 19 Peter Janich, »Die Struktur technischer Innovationen«, in: Dirk Hartmann, Peter Janich (Hg.), Die kulturalistische Wende, Frankfurt/M. 1998, 129–177, hier 37 f. 20 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Sämmtliche Werke, hrsg. von K. F. A. Schelling, Bd. I/3, Stuttgart 1856–61, 510.
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Bild 1: Analogie der Inbegriffe Technik
Natur
Kultur
Potenzial
Fertigkeiten
Gesamtheit der Kräfte als Disposition
Schemata als Dispositive
Regelung des Prozessierens
Verfahren als types Gesetzmäßigkeiten von Verläufen
Institutionalisierungsprozesse
Repräsentation
Wissen über diese Verfahren
Hypothetische Naturgesetze
Kanonisiertes Orientierungswissen
Verwirklichung
Aktualisierung dieser Verfahren
Sich-Orientieren/ Eintretende WirStrategische kungen, einschl. derjenigen evolutio- Wiederauffüllung närer Prozesse
Ergebnisse (Wirklichkeit)
Gesamtheit künstlich produzierter Gebilde
Gesamtheit gewachsener Gebilde
Gesamtheit sinnhafter Gebilde (»Texte«)
fen jener Inbegriffe eine Modellierung von Verhältnissen zwischen jenen Bereichen des Technischen, des Natürlichen und des Kultürlichen vorgenommen wird. Objektstufige Abgrenzungen oder ein objektstufiger Aufweis von Einbettung, von Bedingtheit und »Wechselwirkungen« von Natur, Technik und Kultur lassen sich unschwer auf die jeweiligen Fokussierungen zurückführen und mit Hinweis auf das jeweils nicht Erfasste konterkarieren. Dies gilt etwa für technische, geregelte Systeme in ihrem Status als naturwissenschaftliche Experimente – Francis Bacons »vexatio naturae artis« – im Kontrast zu möglichen Störungen durch eine externe »ursprüngliche« Natur, oder den Aufweis zivilisatorisch-kultureller Bedingungen für dasjenige, was wir als die »Natur« unseres Leibes erfahren, oder die Modellierung von Supervenienzen, Auf- und Abwärtskausalitäten in der Gehirn-GeistInteraktion etc. In der Regel wird hierbei auf den eigenen Standpunkt, von dem aus die Modellierungen vorgenommen werden, in zu geringem Maße reflektiert, ja im Gegenteil: Es werden unter plausibel erscheinenden Grundannahmen dogmatische Systeme aufgebaut, wie sie insbesondere die philosophische Anthropologie prägen, und es wird dabei objektstufig ein jeweilig so oder so gefasstes Grundverhältnis zwischen Mensch als technischem Subjekt, seiner Natur und seiner A
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Kultur unterstellt. So erscheint mal der Mensch als biologisches Mängelwesen oder als kulturinitiierendes Überschusswesen (Arnold Gehlen vs. Ernst Kapp) oder Kultur und Technik erscheinen als Krönung oder als Katastrophe der Evolution (Jacques Ellul vs. Franz Wuketits). 21 Diese Meinungsvielfalt verdankt sich einem verborgenen Technomorphismus, in dessen Lichte der Mensch oder die Evolution als technisches Problem erscheinen, welches mittels Technik gelöst werden soll bzw. kann bzw. wird. Das spricht nicht gegen Technomorphismus überhaupt, sondern nur gegen dessen unreflektierte Hypostasierung. Letztlich scheitern jene monistischen Ansätze an der Unmöglichkeit der Selbstverortung des denkenden Subjektes im gedachten System und ersetzen das kantische »Bewundern« bestimmter Erkenntnisleistungen des Subjekts, die unter diesen Modellierungen möglich sind, durch ein blindes Vertrauen auf die Triftigkeit plausibilitäts- oder induktionsgestützter Generalisierungen. Versuchen wir daher, etwas weiter an den Begriffen zu arbeiten.
3.
Modale Inferenzen der korrelativen Grundbegriffe für Technik, Natur, Kultur
Innerhalb der Bereiche von Technik, Natur und Kultur wird das konkrete Prozessieren jeweils mit zwei korrelativen Grundbegriffen gefasst. Für die Technik scheinen mir dies Mittel und Zweck zu sein, für die Natur Ursache und Wirkung und für die Kultur Setzung und Resultat dieser Setzung: sinnhaftes Gebilde. Ich will dabei auf bestimmte modale Inferenzen abheben, die die Spezifik jener Bereiche näher zu erhellen erlauben, als es die für sich dastehenden Grundbegriffe m. E. vermögen. Denn diese Grundbegriffs-Paare, mit denen innerhalb dieser Teilbereiche operiert wird, erlauben für sich gesehen gerade nicht die Modellierung eines Verhältnisses zwischen den Teilbereichen Technik, Natur, Kultur. Ein flüchtiger Blick zeigt nämlich sogleich, dass Mittel als Ursachen und Zwecke als Wirkungen oder physische Ursachen als Mittel für Steuerungseffekte als Zwecke und kultürliche Setzungen wiederum als Mittel oder Ursachen zur Erzeugung sinnhaf-
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S. hierzu die Darstellung in: Hubig, Die Kunst des Möglichen, Kap. 2–3.
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»Natur« und »Kultur«: Von Inbegriffen zu Reflexionsbegriffen
Bild 2: Grundbegriffe und modale Inferenzen korrelative Grundbegriffe Technik Mittel
–
Natur
Ursache
–
Kultur
Setzung
–
modale Interferenzen
Zweck Dienlichkeit Wirkung Kraft als Potenzial sinnhaftes Codierbarkeit/ Gebilde Sinnhaftigkeit, Schema
–
Herbeiführbarkeit
–
Disposition zur Aktualisierung jener Kraft
–
Intentionalität/ Fähigkeit zum Sich-Orientieren
ter Gebilde als Zwecke oder Wirkungen erachtet werden können. Wie dieses Erachten geartet ist, legt dann fest, was als worin eingebettet oder durch was bedingt gedacht wird. Betrachtet man hingegen modale Inferenzen dieser korrelativen Grundbegriffe, so kommen unterschiedliche Möglichkeitsräume in den Blick, die erlauben, diese Bereiche über einen jeweils unterschiedlichen Typ von Medialität genauer zu charakterisieren. Für die Technik heißt dies zunächst, dass Zwecke nur solche sind bei unterstellter Herbeiführbarkeit (sonst sprechen wir von bloßen Wünschen). Mittel sind nur solche bei unterstellter Dienlichkeit für einen Zweck, also nicht als Dinge oder Ereignisse per se. Herbeiführbarkeit und Dienlichkeit sind modale Inferenzen, die noch potenzierbar sind, wenn die Herbeiführbarkeit qua möglicher Mittel unterstellt wird bzw. die Dienlichkeit für mögliche Zwecke. Analog verhält es sich mit Ursache und Wirkung, sofern sie nicht als ceteris paribus regelmäßige Sukzession, sondern naturgesetzlich modelliert werden: Wirkung wird als Wirkung einer Ursache unter deren modaler Inferenz einer möglichen Kraft, als Potential, gedacht, die sich in der Wirkung aktualisiert, und dies nur unter der Bedingung, dass die Natur der Substanz, in der sich die Kraft aktualisiert, als Disposition, erlaubt, dass die Ursache diese Wirkung zeitigt. Die kultürliche Korrelation zwischen Setzung und ihrem Ergebnis, dem sinnhaften Gebilde zeigt für den Bereich der Kultur analoge modale Inferenzen für Setzung und sinnhaftes Gebilde. Eine Setzung gilt nur als eine solche, wenn sie innerhalb eines Schemas, eines Codes im weitesten Sinne als dessen Aktualisierung möglich ist, und ein Gebilde ist nur dann sinnhaft, wenn eine Einstellung als Verhältnis des Verstehens zu einem solchen Gebilde aktualisiert werden kann. Die dieses fundierende Möglichkeit ist diejenige der Intentionalität als A
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Fähigkeit zum Sich-Orientieren, des sich Ins-Verhältnis-Setzens zu (Sinn-)Optionen als Schemata. Die korrelativen Grundbegriffe sind in allen drei Bereichen also deshalb korrelativ, weil der eine Begriff jeweils eine Aktualisierung einer Möglichkeit ist, die als Potential unter dem jeweils anderen Begriff mit thematisiert ist. Mittel und Zwecke hängen zusammen qua Herbeiführbarkeit und Dienlichkeit, Ursache und Wirkung qua Kraft als Potenzial und Disposition zur Aktualisierung der Kraft, Setzung und sinnhaftes Gebilde qua Schema/Code und Intentionalität. Die drei Bereiche Technik, Natur, Kultur unterscheiden sich mithin durch unterschiedliche modale Inferenzen ihrer korrelativen Grundbegriffe; Inferenzen, die die Korrelation als eine jeweilig spezifische erscheinen lassen und allesamt durch Dispositionsprädikate bezeichnet werden. Ich schlage nun vor, für eine Untersuchung des Verhältnisses dieser drei Bereiche auf jene Dispositionen abzuheben. Hierfür bietet sich an, das Konzept der Medialität in Anschlag zu bringen, weil unter diesem Konzept klassischerweise jene Ermöglichungsverhältnisse material diskutiert werden.
4.
Medium als »eigentliche« und »absolute« Metapher
Was haben wir überhaupt zu erwarten, wenn nun »Medium« oder »Medialität« ins Felde geführt werden, um die Klärung weiterzubringen? Wenn von den Verfechtern der unterschiedlichen Medienphilosophien vorwurfsvoll darauf verwiesen wird, dass Medien »bislang den blinden Fleck der Philosophie abgegeben« hätten, wird gerade der Grund angesprochen, warum es keine buchstäbliche Medienphilosophie geben kann. 22 Unsere Intuition, die auf ein Vermittelndes abzielt, das jene vorhin angesprochenen Konnexe herzustellen vermag, wird enttäuscht, sofern wir uns von diesem Vermittelnden selbst eine Vorstellung machen wollen, wo es sich doch nur in seinen Resultaten zeigt. Beim Philosophieren müsste diese Vorstellung die Vorstellung ihrer eigenen Möglichkeit in Gänze mit einschließen. Dass wir uns mit Metaphern behelfen, wenn solche Möglichkeiten vorgestellt werden sollen, wie z. B. derjenigen des »Raumes des Möglichen«, führt diese Jochen Hörisch, »Der blinde Fleck in der Philosophie: Medien«, in: DZPhil 5 (2003), 888–890.
22
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Schwierigkeiten vor. Und so ist auch Medium zunächst nichts als eine Metapher, und zwar eine technomorphe Metapher (wie der Begriff »Metapher« selbst), die einen Eindruck, wie er bei Herstellungs- oder Schöpfungsprozessen gezeitigt wird, auf andere Seinsbereiche überträgt. Freilich ist diese Metapher keine bloß ursprüngliche Metapher mit heuristischer Leistung, die dann in Begriffe übersetzbar wäre, sondern eher im Sinne von Bruno Snell und Josef König eine eigentliche Metapher als Ausdruck für eine Instanz erfahrener Wirkungen, eine absolute Metapher als Ausdruck für eine grundlegende Formierung unseres Denkens, der wir nicht entrinnen können. 23 In der Tradition wird diese Metapher eingesetzt zur Charakterisierung ursprünglicher basaler Vermittlungselemente äußerer Art der Natur (Wasser, Luft), auch des Leibes (z. B. bei Paracelsus), ferner aber auch und gerade, worauf Hegel hinweist, für innere oder geistige Vermittlungsinstanzen, wie sie beispielsweise die Sprache ausmacht im Bereich der Kultur. 24 Diese Doppelung findet sich bereits in der Ursprungsszene der Medialität, Platons Timaios, in der diese einerseits als Chora, Raum umherschweifender Ursachen bindungsloser Kausalität charakterisiert wird, andererseits als Schüttelsieb, nach Maßgabe dessen diese Ursachen überhaupt unterscheidbar werden. 25 Jedenfalls vermitteln diese Medien irgendwie zwischen Schöpfer und Schöpfung oder zwischen Schöpfung als Akt und Geschöpf als dessen Resultat, und sie aktualisieren sich als irgendwie geartete Botschaft ihrer Verfasstheit in der Wirklichkeit des Resultats. Sie sind, wie es im Timaios heißt, nur über einen »Bastard-Schluss«, 26 modern: eine Abduktion erschließbar, auf die, wie Hegel formuliert, »reale Möglichkeit […], worin diese Bestimmungen alle sind« 27 oder noch prägnanter bei ihm auf ein »Auch von Eigenschaften«, welche sich als Überraschung oder Enttäuschung, jedenfalls als Widerfahrnis im intendierten Resultat offenbaren. 28 Josef König, »Bemerkungen zur Metapher«, in: Kleine Schriften, hrsg. von Günter Dahms, Freiburg 1994, 156–176; Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 1946; Hans Blumenberg, Theorie des Unbegrifflichen, Frankfurt/M. 2007. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Frankfurt/M. 1969, 431. 25 Platon, »Timaiois«, in: Platons Werke (griechisch/deutsch), hrsg. von Fr. W. Wagner, Leipzig 1845, 51c. 26 Platon, Timaiois, 52b. 27 Hegel, Wissenschaft der Logik, 431. 28 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Hamburg 1957, 91. 23
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Die bislang vage charakterisierte unmittelbare, natürliche Medialität ist sowohl als äußere als auch als innere von alters her Gegenstand von Versuchen einer technischen Überformung, die ihr den Widerfahrnischarakter nehmen soll. Es entstehen, wie u. a. Hans Freyer nachgezeichnet hat, »sekundäre Systeme«, die die Sicherheit der Zielrealisierung, die Sicherheit des Gelingens überhaupt, gewährleisten sollen. So führt Hans Freyer neben anderem die Artifizialisierung der Stoffe und Kräfte (qua Wandlung und Speicherung) an, einschließlich unseres Körpers, wodurch die Effektivität der Zielrealisierung erhöht wird. Ferner verweist er auf die zunehmende Organisierung und Delegation der Arbeitsprozesse, unter der die Effizienz als Aufwandsminimierung vergrößert wird. Schließlich hebt er, ähnlich wie Heidegger, ab auf die damit verbundene Herausforderung an den Menschen selbst, die Zivilisierung als notwendige Unterdrückung und Transformation der Triebe einschließlich entsprechend funktionalisierter Triebausbrüche in Gestalt künstlicher Erlebniskulturen wie Abenteuerurlaub etc. – eine Funktionalisierung des Menschen, die in die Systemfunktionalität eingebunden sein muss, wollte man nicht auf die entsprechenden Systemleistungen verzichten. 29 Diese Dominanz des Technischen präge die moderne Kultur. Jene allgemeinen Charakterisierungen, verbunden mit den für die kulturpessimistische Szene der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts typischen durchaus scharfsinnigen Diagnosen und Prognosen, laden dazu ein, zu einer Analyse der Binnenstruktur der Medialität weiterzugehen, aus der vielleicht Impulse für eine weitere Klärung unserer Fragestellung resultieren könnten. Wie beim Einsatz derart allgemeiner Konzepte zu erwarten, haben wir bislang kein besonders spektakuläres Ergebnis. Der Versuch einer Systematisierung bestimmter Argumentationslinien der Medienphilosophien lässt jedoch deutliche Analogien zwischen den Binnenstrukturen der Medialität für die Bereiche der Technik, Kultur und der Natur ersichtlich werden, was nicht überrascht angesichts der technomorphen Verfasstheit der Naturkonzepte, sowohl – im weiteren Sinne – im theoria-Paradigma der Antike als auch – im engeren Sinne – im interventionistischen Paradigma Bacon’scher Naturwissenschaft. Deutliche Unterschiede werden jedoch erkennbar für den Bereich der Kultur, die in neuerer Zeit, z. B. bei Ernst Wolfgang
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Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Berlin 1955.
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Orth, ebenfalls als Medium modelliert wird. 30 Beginnen wir mit dem einfachen Fall technischer Medialität, orientiert am technischen Handlungsvollzug. Auf einer ersten Ebene wird ein Möglichkeitsraum als Raum der Realisierung möglicher Zwecke unterstellt, und zwar zunächst im Sinne einer potenziellen Ermöglichung. Diese basiert als äußere Medialität auf der Unterstellung von Ursächlichkeit angeboten, den »umherschweifenden Ursachen« der platonischen Chora, »lose gekoppelten Ursachen«, wie Niklas Luhmann in Übernahme der Formulierung Fritz Heiders sie nennt, 31 als Möglichkeitsraum zunächst der Trennung von Ursachen. Die Unterscheidbarkeit dieser trennbaren Ursachen macht die Dimension innerer Medialität auf dieser Ebene aus. Platons Metapher des Schüttelsiebs als Ordnungsinstanz steht für das vom Subjekt bzw. den Demiurgen in Anschlag gebracht Instrument, nach Maßgabe dessen die umherschweifenden Ursachen identifizierbar werden. Neben dieser ersten Ebene potenzieller Ermöglichung liegt nun eine zweite Ebene des Medialen, die als Wirklichkeitsraum der Realisierung möglicher Zwecke, also der realen Ermöglichung, zu erachten ist. Im medientheoretischen Jargon spricht man hier von einer »Performanz des Medialen«; gemeint ist seine Verfasstheit in konkreten technischen Systemen. 32 Als Beispiel für den Übergang von der ersten zur zweiten Ebene sei aus dem künstlerisch-technischen Bereich das Verhältnis der dreidimensionalen Perspektive, unter der Größen, Abstände und Bewegungsdauern identifiziert werden, hin zur Installation einer Guckkasten-Bühne oder eines Fotoapparates erwähnt, die einen realen Möglichkeitsraum für die Wahrnehmung entsprechend überformter und modifizierter Effekte abgibt. Die äußere Seite derartiger medialer Performanz ist durch die Infrastruktur der jeweiligen technischen Systeme (einschließlich der messtechnischen Systeme, die die experimentelle Naturforschung ermöglichen) gegeben, ihre innere Seite durch entsprechend unterstellte Funktionsideen. (Wenn wir dies einmal auf ein prosaisches und elementares Beispiel technischer Medialität herErnst Wolfgang Orth, Was ist und was heißt »Kultur«? Dimensionen der Kultur und Medialiät der menschlichen Orientierung. Würzburg 2000, 29 ff. 31 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft Bd. 1, Frankfurt/M. 1998; vgl. Hubig, Die Kunst des Möglichen, 155 f. 32 Sybille Krämer, »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Dies. (Hg.), Medium, Computer, Realität, Wirklichkeitsvorstellungen und neue Medien, Frankfurt/M. 2000, 29. 30
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unter buchstabieren, würde sich etwa für ein Schienenverkehrssystem als Element einer Kultur des Reisens folgendes ergeben: Ein solches System ermöglicht das Erreichen von bestimmten Reisezielen und verunmöglicht das Erreichen anderer Ziele unter Nutzung der im System bereitgestellten Mittel zu anderen als den vorgesehenen Zeitpunkten. Ein solches System sei ein Medium des entsprechenden Verkehrs. Auf der Ebene potenzieller Ermöglichung (1) ist seine äußere Medialität gegeben u. a. durch die maximale Steigfähigkeit des Verkehrsmittels, seine innere Medialität durch den Stand des jeweiligen technischen Knowhows. Auf der Ebene realer Ermöglichung (2) wäre die äußere Medialität u. a. durch die Verfasstheit des realen Schienennetzes und den Zustand der Fahrzeuge realisiert, die innere Medialität u. a. durch die – etwa im Fahrplan ausgedrückten – Funktionsideen. Zu ergänzen wäre diese Aufzählung durch die Angabe der institutionellen und organisatorischen Verfasstheiten der Betreiber und Nutzer des Systems.) Dieser Raum der Realisierung möglicher Zwecke macht, um einen beliebten aber undifferenziert verwendeten Topos in der Medialitätsdiskussion anzubringen, die »Spuren für …« einer Realisierung aus, die »Bahnen« – einem Vorschlag Eugen Finks folgend. 33 In diesem Raum findet qua instrumentellem Handeln eine Aktualisierung der Möglichkeiten statt, eine, wie Niklas Luhmann es ausdrückt: »feste Kopplung« zwischen den medialen Elementen (so wie im natürlichen Medium der Luft beim Versuch akustischer Kommunikation die lose gekoppelten Luftmoleküle angestoßen und dirigiert werden, um das Beispiel des Aristoteles 34 zu erwähnen). Ergebnis dieser Aktualisierung (3) ist die Erfahrung einer Differenz zwischen dem intendierten und dem realisierten Zweck (Hegel spricht hier von einer Differenz zwischen dem subjektiven und dem objektiven Zweck), 35 wobei in dieser Differenzerfahrung die Medien Spuren hinterlassen im Sinne einer »Spur von …«. Diese Enttäuschung veranlasst einen abduktiven Schluss (4) auf die Verfasstheit des Mediums, seine Surplus-Eigenschaften (Hegels »Auch von Eigenschaften«) und seine Restriktionen, und veranlasst im Bereich des Technischen dann ggf. eine weitere Überformung und Umarbeitung der technischen Systeme als Medien. Eugen Fink, Nähe und Distanz, Freiburg 1976, 184–186. De Anima, 435b 25–435a 10. 35 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik, Frankfurt/M. 1969, 3. Buch, 2. Abschn., 3. Kap. Teleologie. 33 34
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»Natur« und »Kultur«: Von Inbegriffen zu Reflexionsbegriffen
Die jeweilige Unterscheidung zwischen Mittel und Medium, wobei Mittel die Aktualisierung des Mediums ist, ist allerdings abhängig vom eingenommenen Standpunkt der Betrachtung und Wertung: Ein Haus kann als geeignetes manifestes Mittel zum Schutz vor Witterung und zugleich als ungeeignetes Medium – Möglichkeitsraum – des Wohnens als »Kultur« erachtet werden. Eine E-mail ist ein Mittel zu Überbringung einer Beileidsbekundung und zugleich ein Medium, das bestimmte Dimensionen des Austauschs persönlicher Anteilnahme restringiert. Bezüglich der Konzeptualisierung von Natur als Medium lassen sich nun deutliche Analogien zu jenem Vierer-Schritt feststellen; die Analogie fällt enger oder weiter aus, je nachdem, ob Natur im interventionistischen Paradigma seit Bacon als experimentell-technomorph verfasste Natur gedacht wird, oder in ontologischer Konzeptualisierung als »experimentierend«-evolutionärer Gesamtorganismus. Die Ebene potenzieller Ermöglichung, hier von Wirkungen überhaupt, wäre in gleicher Architektonik zu entfalten wie für die Technik. Für die Ebene realer Ermöglichung, diejenige medialer Performanz, wäre im interventionistischen Paradigma die experimentelle Anordnung als technisches System anzusetzen, unter der Wirkungen als Effekte auftreten können; ihre Aktualisierung wäre das kausale Prozessieren selbst, und die Störungen, die dann einschlägige Abduktionsschlüsse und eine Reflexion auf die Systembedingungen provozieren, wären die nicht exhaurierbaren abweichenden Resultate. Im ontologisch-evolutionistischen Paradigma wäre auf einer Ebene medialer Performanz von natürlichen Systemen, etwa Organismen, zu sprechen, deren äußere Medialität durch die einschlägigen adaptions- oder präadaptionsfähigen Infrastrukturen, ihre innere Medialität durch die unterstellten funktionalen Erfordernisse (»Überleben«) der Adaption begriffen wird. Ergebnis ihrer Aktualisierung im kausalen Prozessieren wäre die Reaktion auf Störungen des entsprechenden Fließgleichgewichts, welche entweder zu dessen Wiederherstellung oder zum Untergang des Organismus führt. Analog zur standpunktabhängigen Unterscheidung zwischen Mittel und Medium im Bereich der Technik findet sich hier die standpunktunabhängige Unterscheidung zwischen Ursache und Medium: Stickstoffhypertrophie ist eine Ursache für das Ableben eines Baumes und Medium der Regeneration des Waldes. Je nachdem nun, ob Natur als Medium im weiteren Sinne technomorph gedacht wird als das jedem technisch orientierten Zugriff Vorausliegende, oder im enA
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geren Sinne technomorph als in ihrem So-Sein technisch induziert, stellt sich das Verhältnis natürlicher Medialität zu technischer Medialität unterschiedlich dar. Dies schließt die Option ein, die Medialität der Natur als Konzept für dasjenige zu reservieren, was sich als unbestimmte Alterität in Gestalt der Störungen, Überraschungen, Hemmungen bemerkbar macht. Ein solches Konzept ist seinerseits negativ technomorph: Das nicht Verfügbare erscheint im Lichte von Ansprüchen auf technischen Zugriff. Nichtverfügbarkeit absolut und ggf. als normativ geladenes Konzept – etwa im Sinne einer »Ehrfurcht vor der Schöpfung«, als Tabu etc. – zu thematisieren, ist in dieser Konstellation nicht möglich. Wir werden hierauf später zurückkommen. Wenn wir unter dieser Architektonik als Leitfaden nun weiter suchen im Bereich einer als Medium konzeptualisierten Kultur, wie sie – wie bereits erwähnt – Ernst W. Orth in phänomenologischer Absicht entwickelt hat, ergibt sich ein komplexeres Bild. Die Frage richtet sich nach den medialen Voraussetzungen eines Sich-Orientierens, welches als Aktualisierung jener Möglichkeiten begriffen wird. Auf der ersten Ebene, derjenigen potenzieller Ermöglichung, wäre dies der Raum potenzieller Bedeutungsträger, dessen äußere Medialität durch das, was überhaupt tradiert ist (im Unterschied zum nicht Tradierten und Vergessenen), und dessen innere Medialität angelegt ist in den Kriterien, unter denen wir Sinnhaftes von Sinnlosem unterscheiden. Die Performanz dieser Medialität als realer Ermöglichung wäre gegeben durch die realen, epistemischen und normativen Schemata oder Dispositive (Foucault), als in ihrer Einheit anschaubare Regeln, zu denen man in ein Verhältnis treten kann. 36 Der Übergang exemplifiziert sich etwa im Unterschied zwischen bloßen »Räumen« hin zu traditionsgeladenen »Orten« (– eine Leitdifferenz wie sie neuerdings fruchtbar für die Analyse des Cyberspace eingesetzt wird, in dem lediglich noch Räume bereitgestellt werden, was manche veranlasst, hier von einem Kulturverlust, mindestens aber von einer Deinstitutionalisierung zu sprechen). Wenn nun die Möglichkeit, zu solchen Schemata in ein Verhältnis zu treten, in der Wirklichkeit des Sich-Orientierens aktualisiert ist, dann wird im Unterschied zu den bisher besprochenen Bereichen Widerständigkeit in ganz unterschiedlicher Weise erfahrbar: Sie kann zunächst auftreten in Gestalt von Sanktionen derjenigen Institutionen, die als Dispositive der Macht das Überschreiten der bereitgestellten Möglich36
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Vgl. Anmerkung 16.
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keitsräume bekämpfen, kompensieren, die Räume immunisieren. Es kann aber auch und gerade Widerständigkeit erfahren werden seitens einer Natur, auch derjenigen unseres Leibes, die sich – als Leid – unvermittelt zu Wort meldet. Und schließlich kann Widerständigkeit auftreten in Gestalt des »Einspruchs« anderer Kulturen, wie es Dirk Baecker nennt, infolge dessen die Orientierung sich als Bedrohung anderer Orientierungen erfährt, als störende Umwelt einer anderer Kultur. 37 Die hierdurch provozierte Reflexion lässt die Eigenart der medialen Verfasstheit der je eigenen Kultur ersichtlich werden, was zu Modifikationen, Destruktionen oder einer ggf. gewaltsamen Affirmation derjenigen Tradition führt, die für die entsprechende Kultur konstitutiv ist. Schließlich finden wir auch hier die standpunktabhängige Einschätzung des Orientierungsaktes als Mittel oder Medium: Er kann Manifestation, z. B. des Ignorierens einer Sanktion, sein und auch zugleich in seiner Intentionalität Medium für das Aushöhlen einer Tradition oder ihre Transformation, etwa im Zuge der von Foucault so bezeichneten »strategischen Wiederauffüllung« 38 von Leerstellen der Macht durch individuelle Subjekte mit abweichenden Intentionen (z. B. die Entstehung krimineller Milieus in den Haftanstalten). Unsere Überlegungen bezüglich einer Auffassung von Technik, Natur und Kultur als Medien sind insgesamt gesehen bislang genauso objektstufig geblieben wie der Einsatz der einschlägigen Inbegriffe. Freilich wurde in Berücksichtigung der jeweiligen modalen Inferenzen der Definitionsbereich erweitert und strukturiert. In Abhängigkeit der jeweiligen Charakterisierung vom erkennenden Standpunkt kann etwas jeweils als Mittel oder technisches Medium, Ursache oder Medium der Natur, Orientierung oder kultürliches Medium erachtet werden. Dann wird in jeweils spezifischer Weise versucht, eine Wirklichkeit des Produzierens, des kausalen Prozessierens oder des Sich-Orientierens einzusetzen, um abduktiv eine partielle Vorstellung derjenigen Instanzen zu gewinnen, die diese Verwirklichung ermöglichen. Solcherlei verweist uns darauf, dass hier Unterscheidungen nicht zwischen Gegenständen und Gegenstandsbereichen, sondern an bestimmten Ge-
Dirk Baecker, »Kommunikation im Medium der Information«, in: Rudolf Maresch, Niels Weber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt/M. 1999, 174–191, hier 59 f.; Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Frankfurt/M. 1999, 48. 38 Foucault, Dispositive der Macht, 126. 37
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genständen vorgenommen werden. Was ist der logische Ort dieser Unterscheidungen an Gegenständen? Aus der Verwendung der Inbegriffe von Technik, Natur, Kultur konnten wir entnehmen, dass ein einheitliches Interesse oder Bemerken unterstellt werden muss. Dieses Interesse ist dasjenige an einer Bestimmung jeweils spezifischer Faktoren einer Sicherung des Verhältnisses zwischen dem Subjekt und seinem Gegenstandsbereich. Es geht also um ein Verhältnis zu einem Verhältnis. Objektstufige Charakterisierungen sind abkünftig und stehen unter dieser Einheitlichkeit des Bemerkens. Es sind Vorstellungen, die unter jenen Verhältnissen produziert werden. Wie kommen diese Verhältnisse zu den Verhältnissen zustande? Entsprechend der anfangs erwähnten Aporie könnte die erste Antwort eines Naturalismus, der hier in die »überschwängliche Metaphysik« Schellings umschlägt, lauten: Die Natur liegt »als äußere Welt vor uns aufgeschlagen, um in ihr die Geschichte unseres Geistes wiederzufinden«. 39 Ihr Ganzes ist so beschaffen, dass es die Struktur des Ich »als Verhältnis eines Verhältnisses im Verhältnis zu sich und zu anderen und zur Welt zu stehen« hervorgebracht hat und einschließt. 40 Die zweite Seite des Dilemmas, die die Unhintergehbarkeit reflexiver Distanz herausstellt, findet sich passgenau in der Formulierung des Schelling-Kritikers Kierkegaard: »Der Mensch ist Geist. Doch was ist Geist? Geist ist das Selbst. Doch was ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder es ist in diesem Verhältnis jenes, dass dieses zu sich selbst verhält; das Selbst ist nicht das Verhältnis, sondern dass sich das Verhältnis zu sich selbst verhält. […] Ein solches Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, ein Selbst, muss sich entweder selbst gesetzt haben oder durch ein Anderes gesetzt sein. Ist das Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, durch ein Anderes gesetzt, dann ist das Verhältnis zwar das Dritte, doch dieses Verhältnis, das Dritte, ist dann wiederum ein Verhältnis und verhält sich zu dem, was das ganze Verhältnis gesetzt hat«. 41 Kurz: Es bleibt das sich potenzierende Verhältnis. Verhältnisse dieser Art lassen sich nun näher untersuchen, und zwar mit Blick auf 39 Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur, Historisch-kritische Ausgabe Bd. I, 4, Stuttgart 1988, 110. 40 Baumgartner, Natur aus der Perspektive spekulativer und kritischer Philosophie, 252. 41 Søren Kierkegaard, Die Krankheit zum Tode, Stuttgart 1997, 13 f. (Herv. C. H.)
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ihre vorstellungsermöglichende Kraft. Diese zu erfassen, werden so genannte Reflexionsbegriffe eingesetzt, und zwar in zweifacher Weise.
5.
»Technik«, »Kultur« und »Natur« als Reflexionsbegriffe
Zunächst setzen wir Termini ein, die lebensweltliches (oder natur- oder kulturwissenschaftliches) Handeln und lebensweltliche (oder wissenschaftliche) Erkenntnisgewinnung, bei der ja vielfältige Prädikate eingesetzt werden, unter bestimmten tertia comparationis beschreiben. Sie sortieren als Metaprädikate unsere Vorstellungen, die dem objektstufig-prädikativen Begriffsgebrauch, der sich auf dasjenige richtet, »was es gibt«, zugrunde liegen. Entsprechend der Kantischen Terminologie handelt es sich um einen Typ logischer Reflexionsbegriffe als conceptus comparationis. Dabei lässt sich, folgt man Peter Janich, Armin Grunwald und Yannik Julliard 42 eine erste Unterscheidung, diejenige nämlich zwischen »Technik« und »Natur« einziehen: »Technik« als Reflexionsterminus zeigt dieser Auffassung von Reflexion gemäß an, »ob wir uns sprachlicher Mittel bedienen, die unser eigenes poietisch-handwerkliches wie sprachlich-begriffliches Handeln betreffen«, eben Methoden zur Absicherung, Regelung des Steuerns. Der Begriff »Natur« dagegen zeige an, dass wir »solche (sprachliche) Mittel benutzen, die das Widerfahrnishafte, am Gelingen und Misslingen unserer technischen Handlungen Gelernte« betreffen, das, was das technisch Mögliche und das technisch Unmögliche (im prädikativen Sinne) bestimmt. In dieser Fassung drücken Reflexionsbegriffe also höherstufige Vorstellungen von denjenigen Vorstellungen aus, die durch prädikative Ausdrücke vermittelt werden. Reflexion, so könnte man auch sagen, wird als Auffinden von Metaprädikaten aufgefasst. »Natur« und »Technik« sind demnach Begriffe für die Konzeptualisierung von Operationen an Gegenständen, nicht Begriffe der Unterscheidung zwischen Gegenständen. Es wird ferner deutlich, dass »Natur« in ihrer Konzeptualisierung abhängt von »Technik« als primärem Reflexionsbegriff, weil sie ex negativo charakterisiert wird. Was das »Technische« betrifft, kann dann unterschieden werden zwischen nicht tradiertem Peter Janich, Kultur und Methode, Frankfurt/M. 2006, 44 f.; Armin Grunwald, Yannik Julliard, »Technik als Reflexionsbegriff – Überlegungen zur semantischen Struktur des Redens über Technik«, in: Philosophia naturalis 42, 127–157.
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und nicht geregeltem poietischem nennendem Zugriff auf Gegenstände und tradiertem und geregeltem poietischen und (dann) begrifflichem Zugriff. Tradiert und geregelt werden solche Zugriffe unter dem Interesse, Bedingungen eines weiteren Disponierens bereitzustellen. Solche Bedingungen machen dann die oben erwähnten realen, epistemischen und normativen Schemata des objektstufigen Handelns aus. Die Gesamtheit dieser Schemata ist dann als »Kultur« im Sinne eines eben solchen logischen Reflexionsbegriffes, also als Metaprädikat zu begreifen. Während die erwähnten Metaprädikate als logische Reflexionsbegriffe gemeinsame Intensionen von Unterscheidungen an Gegenständen benennen, führt Kant einen weiteren Typ von Reflexionsbegriffen ins Feld, die sich nicht direkt auf Vorstellungen beziehen und deshalb in seiner Liste von Vorstellungen nicht auftauchen. 43 Es handelt sich nicht um Titel- und Sortierworte, sondern Namen für Regeln eines bestimmten Gebrauchs von Erkenntnisvermögen als Ensemble von Strategien, unter denen jenes Vergleichen von Vorstellungen (bei den logischen Reflexionsbegriffen) stattfindet. Solcherlei ist Thema einer »transzendentalen Reflexion«, als derjenigen Überlegung bzw. Handlung, die (irgendwie) gegebene Vorstellungen mit den Bedingungen ihrer Möglichkeit, also den jeweiligen Erkenntniskräften bzw. -vermögen »zusammenbringt«. Eine solche transzendentale Reflexion ist also Voraussetzung der logischen Reflexion; den Katalog der Hinsichtnahmen in Zuordnung zu den Erkenntniskräften als rationalem und empirischem Vermögen, also Verstand und Sinnlichkeit, bezeichnet Kant als transzendentale Topik. Unter ihren Gesichtspunkten kann ein Gegenstand der Erkenntnis in Hinsicht auf die Erkenntniskräfte, die seine Identifizierung ermöglichen, diskutiert werden – dies betrifft mithin unseren theoretischen Naturbezug. Hier »bewundern« wir die Leistung unserer Erkenntniskräfte, die uns eine »Als-ob-Natur« als quasi rational agierende, teleologisch verfasste Ganzheit vorzustellen erlauben. Da »Technik« und »Kultur« nun nicht einen theoretischen, sondern einen praktischen Weltbezug meinen, ist an dieser Stelle Kant unter Beibehaltung seiner Architektur zu ergänzen bzw. zu modifizieren: Es wäre hier also der Bezug dieser Reflexionsbegriffe zu unserem Handlungsvermögen als Vermögen der Freiheit herzustellen bzw. zu unseren Vorstellungen hiervon. Die basale Vorstellung im Zu43
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Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 376.
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sammenhang mit »Handeln« ist die Vorstellung der Disponibilität von Mittel- und Zwecksetzungen. Einen empirischen Nachweis des Vermögens der Freiheit kann es gar nicht geben, will man nicht der von Kant aufgezeigten Amphibolie der Reflexionsbegriffe, hier: der Verwechslung des transzendentalen mit dem empirischen Gebrauch, der »Sensifizierung der Begriffe« – wie sie den Psychologisten und Neurologen unterläuft – erliegen. Dass wir subjektive Freiheit als Konzept unterstellen, erfahren wir daran, dass wir beim Handeln Hemmungen als Provokation empfinden. »Technik« als transzendentaler Reflexionsbegriff würde ausdrücken, dass wir Verfahren, Fähigkeiten, Vollzüge und deren Resultate nach Maßgabe ihrer Disponibilität bzw. Verfügbarkeit relativ zu unserem Freiheitsanspruch identifizieren – Hegels »List der Vernunft«, 44 die sich auf diese Weise erfährt. Wenn aber nun diese Disponibilität im Lichte einer Reflexion auf unseren Freiheitsanspruch mit ihren Grenzen konfrontiert wird, kann das Andere ihrer selbst ebenfalls mit einem Reflexionsbegriff belegt werden, der zunächst das Negative von Disponibilität ausdrückt. Sowohl »Natur« als auch »Kultur« stehen für dasjenige, was prima facie im singulären Akt technischer Realisierung als nicht disponibel erscheint, freilich in unterschiedlicher Weise. Im ersten Falle, im Falle von »Natur«, handelt es sich um abduktiv erschlossene (mithin unsicher unterstellte) Wirkschemata bezüglich der Realisierung unseres Freiheitsanspruchs. Kant denkt diese Dimension (in der Kritik der Urteilskraft) unter dem Titel des »Erhabenen«, das unsere Erkenntnisvermögen und unsere Handlungsmacht übersteige und sich in der »Lust an der Unlust« artikuliert, die wir verspüren, wenn wir nicht real unterliegen, sondern ein Unterliegen nur als möglich – aus der Distanz – betrachten. Die aktuale Einschätzung eines solchen Unterliegens ist jedoch relativ zum Stand der (Intellektual-und Real-)Technik und der Ausprägung der Kultur: Was früher »als unvorgreiflich« oder als natürliches Schicksal erachtet wurde, erscheint im Lichte neuer Optionen des Modellierens und Handelns als gestaltbar bzw. in seinen Wirkungen ggf. als Resultat eines Unterlassens, welches ebenfalls ein Handeln ist. Der Aufweis von Determinanten unseres Kalkulierens, Fühlens und Agierens setzt uns sogleich in ein neues Verhältnis zu diesen mit der Maßgabe, die Disponibilität der Determinanten zu reflektieren. (Im Kapitel »Beobachtende Vernunft« von Hegels 44
Hegel, Wissenschaft der Logik, Kap. Teleologie. A
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Phänomenologie des Geistes wird gezeigt, wie der Geist in Reflexion seiner Naturbeobachtung seine eigenen Ansprüche an seinen Naturbezug freilegt und im Zuge dieser Arbeit über eine Diagnose seiner Klassifikationskriterien und Modellierung von Entwicklungsstufen der Organismen – Naturgeschichte – auf die eigenen normativen Grundlagen seiner Systembildung stößt. Im zweiten Falle, im Falle von »Kultur«, geht es um Schemata der Mittel-Zweck-Verknüpfung, unter denen bestimmte gewünschte Sachverhalte allererst als Handlungszwecke so oder so denkbar werden. Die Anerkennung solcher Schemata kann verweigert werden, sofern Handlungszwecke nicht gesetzt oder Gratifikationen (bzw. Sanktionen) als unerheblich erachtet werden. Wenn auf Handlungsfreiheit verzichtet wird, können jene institutionalisierten Schemata ignoriert werden und die »Geburt der (Handlungs-)Freiheit aus der Entfremdung« der Institutionen (Arnold Gehlen) findet nicht statt. Mit »Natur« liegt mithin eine abgrenzende, mit »Kultur« eine affirmative Selbstbeschreibung derjenigen Handlungssysteme vor, in denen Technik eingesetzt wird nach jeweiliger Maßgabe unserer (situativen) Auffassung subjektiver positiver Handlungsfreiheit. »Technik«, (ex negativo-) »Natur« und »Kultur« als transzendentale Reflexionsbegriffe drücken mithin den Bezug einschlägiger Vorstellungen zu unserem Handlungsvermögen aus. Die Anerkennung von etwas als nicht disponibel (»Natur«), bedingt nicht disponibel, sofern die Realisierung eines konkreten Zweckes für erforderlich gehalten wird (»Kultur«), und disponibel (»Technik«) beruht auf einer Entscheidung, da sie selbst nicht erkenntnismässig zu fundieren ist, wie Kant für die Domäne der Erkenntnisvermögen bereits betont. Eine solche Entscheidung ist in unserem Fall nur unter normativen Gesichtspunkten zu rechtfertigen. Dass solche Rechtfertigungen unter unterschiedlicher normativer Orientierung erfolgen können, erklärt, warum im Zuge der Problem- und Ideengeschichte unter einer wechselnden Bewertung von wechselnden Erfahrungen der Disponibilität oder Nicht-Disponibilität »Natur«, »Technik« und »Kultur« jeweils unterschiedlich gefasst wurden, letztlich als Manifestation reflexiver Kultur.
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Hinweise zu den Autoren
Jochen Brüning, Studium der Mathematik und Physik in Marburg; Professuren für Mathematik in München, Duisburg und Augsburg; seit 1995 Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 1999 Direktor des Hermann von Helmholtz-Zentrums für Kulturtechnik, seit 2002 o. Mitglied der BBAW. Volker Gerhardt, geb. 1944, ist Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie (Schwerpunkt: Rechts- und Sozialphilosophie) an der Humboldt-Universität zu Berlin. Mitglied im Nationalen und im Deutschen Ehtikrat (seit 2001); Vors. der Wissenschaftlichen Kommission der Deutschen Akademien. Veröffentlichungen u. a.: Selbstbestimmung (1999), Individualität. Das Element der Welt (2000), Partizipation. Das Prinzip der Politik (2007), Öffentlichkeit. Die politische Form des Bewusstseins (2012). Christoph Hubig, geb. 1952, nach Professuren für Praktische Philosophie/Technikphilosophie in Berlin, Karlsruhe und Leipzig 1997 bis 2009 Professor für Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie an der Universität Stuttgart, dort Direktor des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung, Honorarprofessor an der University of Technology Dalian/China, seit 2010 Professor für Philosophie der wiss.-techn. Kultur an der TU Darmstadt. 1992 Sonderpreis der IGIP, 2010 Ehrenmedaille des VDI. Julian Nida-Rümelin ist Inhaber eines Lehrstuhls für Philosophie (Schwerpunkte: Rationalitätstheorie, Ethik und Politische Philosophie) an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Letzte BuchVeröffentlichungen: Die Optimierungsfalle. Philosophie einer humanen Ökonomie (Irisiana 2011); Verantwortung (Reclam 2011), Philosophie und Lebensform (Suhrkamp 2009), Demokratie und Wahrheit (C. H. Beck 2006). A
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Hinweise zu den Autoren
Ana María Rabe, 2007 an der HBK Braunschweig promoviert, lehrt z. Z. Philosophie und Kunsttheorie in Berlin und Halle und forscht im Rahmen zweier am Forschungszentrum CCHS/CSIC in Madrid angesiedelter Forschungsprojekte zu den zeitlich-räumlichen Grundlagen des Erinnerns und der Gedenkkultur. Veröffentlichungen u. a.: Les arts en l’época de léspai – Las artes en la época del espacio – Die Künste in der Epoche des Raumes (Hg., 2010), Das Netz der Welt. Ein philosophischer Essay zum Raum von Las Meninas (2008). Stascha Rohmer, geb. 1966, ist Habilitand am Philosophischen Seminar der Humboldt-Universität Berlin und war 2008–2011 Research Fellow am »Instituto de Filosofía« (CSIC) in Madrid. Veröffentlichungen u. a.: Whiteheads Synthese von Kreativität und Rationalität (Alber 2000), Whitehead: Denkweisen (Hg., Suhrkamp 2001), Ortega y Gasset: Der Mensch ist ein Fremder (Hg., Alber 2008), Liebe – Zukunft einer Emotion (Alber 2008), zugl.: Amor – El porvenir de una emoción (Herder Barcelona, 2012). Dieter Thomä, geb. 1959, ist Professor für Philosophie an der Universität St. Gallen. Er war Fellow u. a. am Getty Research Institute, Los Angeles, und am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Erzähle dich selbst (1998), Vom Glück in der Moderne (2003), Heidegger Handbuch (Hg., 2003); Totalität und Mitleid (2006), Väter. Eine moderne Heldengeschichte (2008), Glück. Ein interdisziplinäres Handbuch (Mithg., 2011). Íngrid Vendrell Ferran, geb. 1976, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für theoretische Philosophie an der Philipps Universität Marburg und Lehrbeauftragte an der Universität Luzern. Autorin der Monographie: Die Emotionen. Gefühle in der realistischen Phänomenologie (2008), Aufsätze u. a.: »Über den Neid. Eine phänomenologische Untersuchung« (2006), »Emotionen und Sozialität« (2008), »Ästhetische Erfahrung und Quasi-Gefühl« (2010), »Can Literature be Moral Philosophy?« (2011). Reiner Wiehl, * 14. November 1929 in Frankfurt a. M.; † 30. Dezember 2010 in Heidelberg, war Professor für Philosophie in Hamburg und Heidelberg. Er war Präsident der Internationalen Karl-Jaspers-Stiftung in Basel (1993–2006). Veröffentlichungen u. a.: Metaphysik und Erfah228
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Hinweise zu den Autoren
rung (Suhrkamp 1996), Zeitwelten (Suhrkamp 1998), Subjektivität und System (Suhrkamp 2000), Von der inneren Unfreiheit des Menschen. Philosophische Aufsätze über Emotionen (Alber 2012).
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