Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur: Philosophische Studien zu Marx und zum westlichen Marxismus 9783495817704, 9783495490181


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Table of contents :
Inhalt
Vorwort (2018)
Vorwort (1984) Mensch und Natur – eine gefährdete Dialektik
I. Die Bestimmung der Natur bei Kant
1.
2.
3.
4.
II. Die Naturphilosophie Schellings
1.
2.
3.
III. Das Verhältnis Mensch und Natur bei Hegel und Schelling
1.
2.
IV. Die Dialektik von Mensch und Natur beim jungen Marx
1.
2.
V. Die Naturproblematik in der Kritik der politischen Ökonomie
1.
2.
3.
VI. Die Aporie der Naturfrage im Marxismus
1. Zum Naturwissenschafts- und Technikverständnis von Engels und Bucharin
Friedrich Engels
Nikolai Bucharin
2. Die Erneuerung der Dialektik unter Ausschluss der Natur – Lukács und Sartre
Georg Lukács
Jean-Paul Sartre
3. Das doppelte dialektische Verhältnis von Mensch und Natur – bei Marx
VII. Die produktiven Kräfte der Menschen und der Natur
1. Die natürlichen Quellen der Produktivität – zu Wittfogel und Adler
Karl August Wittfogel
Max Adler
2. Geschichtsmaterialistische Erkenntniskritik – Sohn-Rethel (und Marcuse)
Alfred Sohn-Rethel
Herbert Marcuse
3. Die Produktivität aus der Natur und für die Geschichte – Bloch und Lefebvre
Ernst Bloch
Henri Lefebvre
Anhang
VIII. Herbert Marcuse – Die »menschliche Natur«
1. Hegel und die Theorie der Geschichtlichkeit des Geistes
2. Marx und die Theorie der Geschichtlichkeit menschlicher Praxis
3. Eros oder die Triebstruktur und Bildsamkeit der menschlichen Natur
4. Kritische Genealogie der Eindimensionalität wissenschaftlich-technischer Rationalität
5. Antizipation einer »neuen Sinnlichkeit und Solidarität«
Schlussbemerkung
IX. Ernst Bloch – Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte und Kultur
I.
II.
III.
X. Prozess und Vollendung.
Vorbemerkung
1. Das Dilemma neuzeitlicher Wissenschaften und ihre Aufklärung durch Kant
2. Schelling und die Prozessualität der Natur
3. Die Aufgegebenheit der Geschichte
Schlussbemerkungen
Literatur
Personenregister
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Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur: Philosophische Studien zu Marx und zum westlichen Marxismus
 9783495817704, 9783495490181

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Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur Philosophische Studien zu Marx und zum westlichen Marxismus

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495817704

.

B

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur Philosophische Studien zu Marx und zum westlichen Marxismus

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik The Dialectical Relationship of Man to Nature Philosophical studies on Marx and Western Marxism Karl Marx is one of the first thinkers who recognized and deliberated the dangers of the present mode of production for the natural environment of man. Accordingly, the first edition of the book The Dialectical Relationship of Man to Nature (1984) attempted to elucidate Marx's dual natural dialectics by approaching this from the philosophical discursive context of Kant, Schelling and Hegel. But at the time, in the midst of the industrial competition of Western capitalism and real socialism, such a broadening of horizons hardly met with interest. Meanwhile, after the collapse of real socialism, the discussion has fundamentally changed, and the ecological crisis has dramatically worsened in the last three decades. It is becoming increasingly clear that attempts to counter the ecological crisis with economic incentives, political-legal laws and scientific-technical repair measures alone are not enough. In this respect, it seems appropriate to reintroduce the book The Dialectical Relationship of Man to Nature to the debate – extended by the discussion in Western Marxism: Adler, Wittfogel, Bloch, Marcuse, Sohn-Rethel, Lefebvre. For only a philosophical clarification of the double relationship between man and nature can show us a way out of the present endangerment of this dialectic. The Author: Professor Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, b. 1939, taught philosophy at the University of Kassel from 1971 to 2007 and has been living in Vienna since 2011. Most recently published by Karl Alber: Thinking Existence. Schelling's Philosophy from its Beginnings to his Late Work (2015) (Original title: Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk), The Diversity of Cultures and the Responsibility for the One Humanity (2017) (Original title: Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit) and Karl Marx – The Dialectic of Social Practice (2018) (Original title: Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis).

https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur Philosophische Studien zu Marx und zum westlichen Marxismus Karl Marx ist einer der ersten Denker, der die Gefahren der gegenwärtigen Produktionsweise für die natürliche Lebenswelt der Menschen erkannt und bedacht hat. Dementsprechend versuchte bereits die Erstauflage des Buches Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur (1984), die doppelte Naturdialektik bei Marx aus dem philosophischen Diskussionshorizont von Kant, Schelling und Hegel aufzuklären. Doch stieß damals mitten im industriellen Wettkampf des westlichen Kapitalismus und des real-existierenden Staatsozialismus eine solche Horizonterweiterung noch kaum auf Interesse. Inzwischen hat sich die Diskussion nach dem Zusammenbruch des real-existierenden Sozialismus grundlegend gewandelt und die ökologische Krise hat sich in den letzten drei Jahrzehnten dramatisch verschärft. Immer mehr wird deutlich, dass die Versuche zu kurz greifen, der ökologischen Krise allein mit ökonomischen Anreizen, politisch-rechtlichen Gesetzen und wissenschaftlich-technischen Reparaturmaßnahmen entgegenzuwirken. Insofern scheint es angebracht, das Buch Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur – erweitert um die Diskussion im westlichen Marxismus: Adler, Wittfogel, Bloch, Marcuse, SohnRethel, Lefebvre – erneut in die Debatte einzubringen. Denn nur eine philosophische Klärung des doppelten Verhältnisses von Mensch und Natur kann uns einen Weg aus der gegenwärtigen Gefährdung dieser Dialektik weisen. Der Autor: Prof. Dr. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, geb. 1939, lehrte von 1971 bis 2007 Philosophie an der Universität Kassel und lebt seit 2011 in Wien. Zuletzt erschienen im Verlag Karl Alber: Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015), Die Vielfalt der Kulturen und die Verantwortung für die eine Menschheit (2017) und Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (2018).

https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49018-1 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81770-4

https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Inhalt

Vorwort (2018) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Vorwort (1984) Mensch und Natur – eine gefährdete Dialektik .

21

I.

Die Bestimmung der Natur bei Kant

. . . . . . . . . . .

29

II.

Die Naturphilosophie Schellings

. . . . . . . . . . . . .

41

III.

Das Verhältnis Mensch und Natur bei Hegel und Schelling .

52

IV.

Die Dialektik von Mensch und Natur beim jungen Marx . .

61

V.

Die Naturproblematik in der Kritik der politischen Ökonomie .

83

VI. Die Aporie der Naturfrage im Marxismus . . . . . . . . . 1. Zum Naturwissenschafts- und Technikverständnis von Engels und Bucharin . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Erneuerung der Dialektik unter Ausschluss der Natur – Lukács und Sartre . . . . . . . . . . . . . 3. Das doppelte dialektische Verhältnis von Mensch und Natur – bei Marx . . . . . . . . . . . . . . . . . .

106

VII. Die produktiven Kräfte der Menschen und der Natur 1. Die natürlichen Quellen der Produktivität – Wittfogel und Adler . . . . . . . . . . . . . 2. Geschichtsmaterialistische Erkenntniskritik – Sohn-Rethel (und Marcuse) . . . . . . . . . 3. Die Produktivität aus der Natur und für die Geschichte – Bloch und Lefebvre . . . . . . .

107 119 130

. . . 137 . . . 138 . . . 147 . . . 155

7 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Inhalt

Anhang VIII. Herbert Marcuse – Die »menschliche Natur« . . . . . . .

171

IX. Ernst Bloch – Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte und Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

202

X.

Prozess und Vollendung. Wir und die unabgeschlossene Ganzheit von Natur und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Literatur

222

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

257

Meiner Tochter Dr. Daria Schmied-Menkhoff gewidmet, die zwar sicherlich nicht speziell an Marx interessiert ist, wohl aber als Mutter und Ärztin daran, dass auch die kommenden Generationen menschenwürdig auf dieser Erde leben können.

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Vorwort (2018)

Als das Buch Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur. Philosophiegeschichtliche Studien zur Naturproblematik bei Karl Marx 1984 im Verlag Karl Alber erstmals erschien, herrschte noch der Kalte Krieg zwischen den von den USA angeführten nordatlantischen Industriestaaten und den von der Sowjetunion dominierten Staaten des real-existierenden Sozialismus. Beide Blöcke setzten alles daran, sich nicht nur in der Waffentechnik, sondern ganz generell im wissenschaftlich-technischen Fortschritt zu übertrumpfen. Die sich in West und Ost in Industrie- und Reaktorunfällen offenbarenden Gefahren des Industrialisierungsprozesses für Mensch und Umwelt wurden einerseits der jeweiligen anderen Seite als fundamentale Systemfehler angelastet, die entweder der Profitgier des Privatkapitalismus oder der Inkompetenz sozialistischer Planwirtschaft zuzuschreiben seien, andererseits im jeweils eigenen Einflussgebiet als Fälle von technischem oder menschlichem Versagen heruntergespielt, die durch bessere Technik und strengere Disziplin in den Griff zu bekommen seien. Ein grundsätzlich philosophisches Bedenken des Verhältnisses des Menschen zur Natur fand weder hier noch dort statt; ja – es wurde, wo es doch aufkeimte, ins Abseits gedrängt oder sogar mundtot gemacht. Denn das, was sich damals im industriellen Wettkampf des westlichen Kapitalismus und des real-existierenden Sozialismus auf Kosten der Natur als unserer Lebensgrundlage abspielte und heute unter der alleinigen Regie des globalen Kapitalismus weitergeführt wird, trägt strukturell den wachsenden Widerspruch zwischen Mensch und Natur, zwischen der wertbestimmten Produktion und den ökologischen Regenerationsprozessen in sich. Die Unfälle und Katastrophen sind keine Versagens- oder Planungspannen, sondern sind strukturell in der Form unseres wertbestimmten theoretischen und praktischen Naturverhältnisses angelegt, das daher einer grundlegenden kritischen Aufklärung und Überwindung bedarf. Natürlich gab es mahnende Stimmen, die schon frühzeitig auf 11 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Vorwort (2018)

die grundlegende Bedrohung hinwiesen, die unsere gegenwärtige Einstellung und unser Umgang mit der Natur für uns selber bedeuten. So hat uns Günther Anders eindrücklich die Problematik, in der wir uns befinden, in seinem Buch Endzeit und Zeitenende (1972) 1 vor Augen geführt: »Mit dem 6. August 1945, dem Hiroshimatage, hat ein neues Zeitalter begonnen: das Zeitalter, in dem wir in jedem Augenblick jeden Ort, nein unsere Erde als ganze, in ein Hiroshima verwandeln können. […] Gleich wie lange, gleich ob es ewig währen wird, dieses Zeitalter ist das letzte: Denn […] die Möglichkeit unserer Selbstauslöschung kann niemals enden – es sei denn durch das Ende selbst. […] Unser Dasein definiert sich mithin als ›Frist‹ […]. Durch diese Tatsache hat sich die moralische Grundfrage verändert […]. ›Wir haben dafür zu sorgen, daß die Endzeit, obwohl sie jederzeit in Zeitenende umschlagen könnte, endlos werde; also, daß der Umschlag niemals eintrete.‹« 2 Diese Möglichkeit zur Selbstvernichtung der Menschen kann niemals mehr aus der Menschheitsgeschichte getilgt werden, deshalb spricht Edward P. Thompson von dieser Endzeit als dem Zeitalter des Exterminismus (exterminalism). 3 Wir können nur versuchen, pädagogisch und politisch daran zu arbeiten, dass wir diese Endzeit sittlich zu bestehen lernen. Obwohl wir uns erst seit wenigen Jahrzehnten in dieser Endzeit befinden, schreitet sie in unglaublicher Rasanz voran. Heute wissen wir bereits, dass es nicht nur die atomaren, chemischen und biologischen Vernichtungswaffen sind, die durch ihren Einsatz das katastrophale Ende der Menschheitsgeschichte herbeiführen können, sondern dass allein schon durch die Fortdauer, gar Expansion des wertbestimmten Industrialisierungsprozesses sowohl eine zunehmende Aufzehrung unserer Lebensgrundlage als auch eine anwachsende Vergiftung der gesamten Biosphäre stattfindet, die viel schleichender zwar, aber doch unaufhaltsam auf ein apokalyptisches Verenden der Menschheit zusteuert. Die Aufheizung der Atmosphäre, das Abschmelzen der Polkappen, das wachsende Ozonloch, die Abholzung der Regenwälder, die Vermüllung der Meere sind menschengemachte 1 Günther Anders, Endzeit und Zeitenende. Gedanken über die atomare Situation (1972). Alle Hinweise und Zitate werden in den Anmerkungen mit Namen, Titel bzw. Kurztitel, Ersterscheinungsjahr bzw. Bandnummer und ggf. Seitenzahl der zitierten Ausgabe genannt. Für die genaue Angabe siehe das Literaturverzeichnis. 2 Anders, Endzeit und Zeitenende (1972): 93. 3 Edward P. Thompson, »Der Exterminismus als letztes Stadium der Zivilisation«, in: Das Argument 127 (1981): 326 ff.

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Vorwort (2018)

Naturprozesse, die, wenn sie nicht in unserer Generation in ihrem exponentiellen Anwachsen gestoppt werden, unumkehrbar menschliches Leben auf Erden verschlechtern und auf lange Sicht nahezu verunmöglichen werden. Die Industrieunfälle von Majak/UdSSR (1957), Seveso/Italien (1976), Harrisburg/USA (1979), Bhopal/Indien (1984), Tschernobyl/UdSSR (1986), Chuandongbei/China (2003), Fukushima/Japan (2011), das sind die unübersehbaren Schriftzüge des Menetekels an unseren industriellen Palastwänden, aber es fällt den Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft schwer, die Zeichen überhaupt wahrzunehmen, geschweige denn richtig zu deuten. Angesichts dieser neuen, ja letzten Herausforderung für die Menschheitsgeschichte ist es ein Hohn, ist es bewusste ideologische Vernebelung, wenn Francis Fukuyama in erklärtem Gegensatz zu Marx und mit verdrehtem Rückbezug auf Hegel 4 – oder genauer mit modifizierendem Rückgriff auf Alexandre Kojèves eigenwillige Hegel-Deutung – die liberale Demokratie und Marktwirtschaft als das Ende der Geschichte ausruft, d. h. sie als die Epoche der Vollendung der Geschichte feiert, in der alle politischen und ökonomischen Widersprüche endgültig aufgehoben seien. 5 Doch nicht Fukuyama interessiert uns, denn seine ideologische Propaganda dient zu offensichtlich dazu, von den Problemen und Krisen des real-existierenden Kapitalismus abzulenken, sondern um uns mit dem wirklich bedrohlichen und unaufhaltsam auf uns zukommenden Ende der Menschheitsgeschichte gedanklich auseinandersetzen zu können, müssen wir grundlegender das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur und die vom Menschen »selbstverschuldete« (Kant) Entfremdung kritisch bedenken, wie sie von Karl Marx Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in ihren Grundzügen umrissen worden sind, da in ihnen eine radikale Klärung unserer heutigen viel dramatischeren Situation impliziert ist. Die Nennung des Namens von Karl Marx wird wohl manch ungläubiges Kopfschütteln oder gar verärgerten Kommunikationsabbruch hervorrufen, gilt doch Marx sowohl in den dogmatischen Marxismen als auch bei deren Gegnern als einer, der den wissen4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Werke in 20 Bden., 7: 511 f. und Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, 12: 524 ff. 5 Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? (1992); Alexandre Kojève, Hegel. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes (1947).

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Vorwort (2018)

schaftlich-technischen Fortschritt uneingeschränkt bejaht und die Natur als unsere Lebensgrundlage nicht weiter zur Kenntnis genommen hat. Nun ist überraschenderweise, wenn man unvoreingenommen die Texte von Marx von den Frühschriften bis zum Spätwerk liest, das Gegenteil der Fall. Kaum ein anderer Denker jener Zeit – sieht man von Friedrich W. J. Schellings Naturphilosophie einerseits und von Ludwig Feuerbachs anthropologischem Materialismus andererseits ab – hat sich wie er mit der Eingebundenheit des Menschen in die Natur und seiner Möglichkeit, in die Natur verändernd einzuwirken, so grundlegend auseinandergesetzt sowie die Gefährdungen antizipiert, die aus diesem Doppelverhältnis hervorgehen können. Warum ist dieser Aspekt im Denken von Marx so lange unentdeckt und unbedacht geblieben? Zum einen weil, dem allgemeinen Zeitgeist entsprechend, allen Denkrichtungen der letzten zweihundert Jahre die Erkundung der Natur allein den mathematischen Naturwissenschaften überlassen worden ist, mit deren Erkenntnissen all die unglaublichen technischen Errungenschaften hervorgebracht werden konnten, die unser Leben erleichtern. Daneben schien ein eigenes philosophisches Bedenken der Natur in ihrer eigenen wesenhaften Produktivität, der wir als Naturwesen selbst mit angehören, überflüssig geworden zu sein. Dies kennzeichnet die Schulrichtungen des Neukantianismus als der differenziertesten philosophischen Denkströmung zu Ende des 19. bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhundert in Europa genauso wie den eben in dieser Zeit aufkommenden Marxismus mit seinen verschiedenen Ausrichtungen. Hinzu kommt weiterhin, dass mit der russischen Revolution gerade jene marxistische Strömung dominant wurde, die sich am stärksten als produktivistischer Materialismus verstand, für den – ganz im Sinne des politischen Mottos von Wladimir I. Lenin: »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes« – soziale und wissenschaftlich-technische Fortschritte unabdingbar zusammengehören. So war es auch kein Wunder, dass von diesem dogmatischen Marxismus her jegliche ökologische Rücksichtnahmen nur als Verhinderungsstrategien für den gesellschaftlichen Fortschritt gesehen werden konnten und alle Denker, die auch nur andeutungsweise Marx ökologisch auszulegen versuchten, als Feinde unerbittlich verfolgt wurden. Diese dogmatische Marx-Exegese färbte schließlich auch auf die westeuropäische Denkrichtung der »kritischen Theorie« ab, die ursprünglich selbst aus einer philosophischen Marx-Rezeption hervor14 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Vorwort (2018)

gegangen war. So setzt sich beispielsweise Alfred Schmidt in seiner Dissertation Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (1962) zu Recht entschieden von der über die Dialektik der Natur von Friedrich Engels in der marxistischen Diskussion dominant gewordenen Ontologisierung der materialistischen Dialektik ab, gerät aber selbst in eine unkritische Interpretation, da er Marx unterstellt, bei ihm gäbe es »keinen grundsätzlichen methodischen Unterschied zwischen den Naturwissenschaften und der Geschichtswissenschaft«. 6 Daher sei Marx’ Forderung, die Menschen haben die Natur »den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen« 7, nicht als eine Kritik an der Naturzerstörung der kapitalistischen Ökonomie zu verstehen, sondern als eine Aufforderung zu noch mehr naturwissenschaftlichtechnischer Naturbeherrschung mit unabsehbaren Folgen für die menschliche Lebenswelt. Weiterhin wirft er Marx vor: »In Zukunft soll nicht die Ausbeutung der Natur aufhören, sondern die menschlichen Eingriffe in sie sollen so rationalisiert werden, daß auch ihre entfernteren Auswirkungen kontrollierbar bleiben.« Dagegen wirft er die mahnende Frage auf, »ob die künftige Gesellschaft nicht zu einer Mammutmaschinerie wird, [denn …] wie sollten die Menschen eine Überlistung und Übertölpelung der Natur als welche Hegel und Marx den zweckmäßigen Arbeitsprozeß beschreiben, künftig vermeiden können?« 8 In fast dieselbe Richtung argumentiert auch Jürgen Habermas in Erkenntnis und Interesse (1968), wobei er noch radikaler Marx unterstellt, dieser sei in einen »halbierten Positivismus« geraten, da er die gesellschaftliche Emanzipationsgeschichte der Menschen unter die Dominanz der wissenschaftlich-technischen Rationalität der Produktivkraftentwicklung stellt. Damit vermenge Marx zwei anthropologisch streng zu unterscheidende Dimensionen gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion: die »Arbeit« als zweckrationale Auseinandersetzung mit der Natur und das »kommunikative Handeln« als Basis gesellschaftlicher Praxis. »Marx nimmt für die Analyse der Entwicklung ökonomischer Gesellschaftsformationen einen Begriff des Systems gesellschaftlicher Arbeit in Anspruch, der mehr Ele-

Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (1962/1971): 43. Marx, Kapital III (1894), 25: 784. Karl Marx und Friedrich Engels werden jeweils nach dem Autor mit Kurztitel und Erscheinungs- bzw. Entstehungsjahr zitiert nach der Ausgabe: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke in 43 Bden. (1956 ff.). 8 Alfred Schmidt, Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx (1962/1971): 159 ff. 6 7

15 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Vorwort (2018)

mente enthält als in dem Konzept der sich selbst erzeugenden Gattung deklariert sind.« 9 Von daher lehnt Habermas alle jene Denkrichtungen ab – von Schelling über Marx bis zu Bloch und Marcuse sowie »die geheimeren Hoffnungen Benjamins, Horkheimers und Adornos« 10 –, die das Mensch-Natur-Verhältnis anders als in den zweckrationalen Kategorien der neuzeitlichen Wissenschaften und Technik zu denken versuchen. »So wenig die Idee einer Neuen Technik trägt, so wenig läßt sich die einer Neuen Wissenschaft konsequent denken, wenn anders Wissenschaft in unserem Zusammenhang die moderne, auf die Erstellung möglicher technischer Verfügbarkeit verpflichtete Wissenschaft heißen sollte: auch für ihre Funktion, wie für den wissenschaftlich-technischen Fortschritt überhaupt, gibt es kein Substitut, das ›humaner‹ wäre.« 11 Das war grob umrissen der Diskussionsstand, in den mein Buch Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur 1984 einzugreifen versuchte. In ihm versuchte ich die Problematik des Verhältnisses des Menschen zur Natur mit einem Rückgriff auf Kants Doppelthematisierung der Natur, auf die Natur- und Freiheitsphilosophie Schellings und auf die Kontroverse zwischen den Jugendfreunden Hegel und Schelling, philosophiegeschichtlich aus dem Vorurteil zu befreien, dass die Natur nur naturwissenschaftlich thematisiert werden dürfe. Erst vor diesem Hintergrund – vermittelt über Friedrich D. E. Schleiermacher und Ludwig Feuerbach 12 – wird die doppelte Dialektik des Menschen zur Natur verständlich, wie sie Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 grundlegend entwickelt und durch sein Gesamtwerk weiterverfolgt hat. Zwar löste das Buch Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur eine Wissenschaftsdebatte aus, die zunächst in dem Wissenschaftsstreit zwischen dem ökologisch orientierten Ökonomen Hans Immler 13 und mir ausgetragen wurde, dokumentiert in dem

Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse (1968): 71; siehe auch Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (1976): 144 ff. 10 Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie« (1968): 54. 11 Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie« (1968): 58. 12 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Ethik (1812–13/1981): 7 ff.; Ludwig Feuerbach, »Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie« (1843), in: Werke in 5 Bden, 3: 238 ff. 13 Hans Immler, Vom Wert der Natur. Zur Ökologischen Reform von Wirtschaft und Gesellschaft (1989). 9

16 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Vorwort (2018)

gemeinsam verfassten Buch Marx und die Naturfrage (1984/2011) 14, der dann in einer Tagung 1986 erweitert fortgeführt wurde. 15 Auch erschienen von dem Buch Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur Übersetzungen ins Koreanische 16 sowie – mit einer längeren Verzögerung – ins Portugiesische 17, und Teilabschnitte wurden auch ins Italienische, Kroatische und ins Französische übertragen. 18 Doch insgesamt gesehen kam mein Buch 1984 für die Marx-Diskussion zu spät und für die beginnende Ökologie-Debatte zu früh. Die in der Folge der Studentenbewegung aufbrechende Marx-Diskussion hatte in den 70er Jahren auch die Philosophie erreicht. Einerseits drangen wieder aufgelegte sowie neu erscheinende Bücher von Georg Lukács, Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Theodor W. Adorno und Alfred Sohn-Rethel bis in die Philosophischen Seminare vor. Aber schon Mitte der 80er Jahre wurde diese Euphorie für die kritische Theorie durch die neue Modewelle der französischen Postmoderne verdrängt. Andererseits begann zwar die »grüne« Protestbewegung gegen atomare Aufrüstung und gegen eine weitere Umweltzerstörung ebenfalls in den 80er Jahren zu erstarken, aber für eine philosophische Grundlagendebatte war die Bewegung noch nicht gerüstet, und von der Marxschen Praxisphilosophie erhofften sie sich noch am wenigsten Unterstützung. Inzwischen hat sich die Diskussion grundlegend geändert, die ökologische Krise hat sich in den letzten drei Jahrzehnten dramatisch verschärft, die globalen Folgen der menschlichen Eingriffe in die Biosphäre sind nicht mehr zu leugnen, sie sind inzwischen in die internaHans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die ›Kritik der politischen Ökonomie‹ (1984/2011). 15 Hans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Natur und marxistische Werttheorie (1988). 16 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur, ins Koreanische übersetzt von Lee, Chong-Kwan, Seoul 1994. 17 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur, ins Portugiesische übersetzt von Rosalvo Schütz, Sao Paulo 2018. 18 Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Il significato della critica marxiana per il padroneggiamento dei nostri attuali problemi ecologici«, in: Emilio Aggazi et al. (ed.), marx centouno. Rivista Internazionale di Dibattito Teorico (1985): 205 ff.; »Aporija problema prirode u marksizmu i njeno dijalekticko rjesenje kod Marxa«, in: Filozofska Istrazivanja, (l988): 241 ff.; »Le rapport dialectique de l’homme à la nature. Études de la problématique de la nature chez Karl Marx dans la perspective historico-philosophique«, in: Ulrich Brand/Michael Löwy (ed.), Globalisation et crise Écologique. Une critique de l’économie politique par des écologistes allemands (2011): 37 ff. 14

17 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Vorwort (2018)

tionale politische Diskussion vorgedrungen. Immer mehr wird deutlich, dass die Versuche, der ökologischen Krise mit ökonomischen Anreizen, politisch-rechtlichen Gesetzeswerken und wissenschaftlich-technischen Reparaturmaßnahmen entgegenzuwirken, zu kurz greifen, insofern sie alle im Rahmen kapitalistischer Wertlogik verbleiben. Daher haben sich in den letzten Jahrzehnten die Debatten um die Kapitalkritik sowie um eine kritische Ökologie schrittweise angenähert. 19 Insofern scheint mir jetzt der Zeitpunkt gekommen, mein Buch Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur in erweiterter Form nochmals herauszubringen. Dabei möchte ich ausdrücklich unterstreichen, dass es mir mit dieser Studie nicht so sehr um eine politisch-ökonomische Analyse der wertökonomisch bedingten ökologischen Krise geht 20, sondern – anknüpfend an mein Buch »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996) – um eine philosophiegeschichtlich zurückgreifende grundlagentheoretische Klärung des Mensch-Natur-Verhältnisses, da ich der Überzeugung bin, dass nur eine solche fundamentale philosophische Klärung uns einen Weg der Emanzipation aus dem gegenwärtig verkehrten Mensch-Natur-Verhältnis weisen kann. Der erste Teil mit seiner philosophiegeschichtlichen Verortung der Marxschen Natur- und Praxisphilosophie und der Konturen in seiner Dialektik gesellschaftlicher Praxis ist bis auf geringfügige sprachliche Verbesserungen und einige erweiterte Anmerkungen mit der Erstauflage von 1984 gleich geblieben, nur der zweite Teil, der sich der weiteren Debatte des Naturproblems im westlichen Marxismus zuwendet, ist gänzlich neu in die Zweitauflage aufgenommen worden, ebenso wie die drei Aufsätze im Anhang zu Ernst Bloch, Vgl. Rudolf Bahro, Rückkehr. Die In-Weltkrise als Ursprung der Weltzerstörung (1991); James O’Connor, Natural Causes. Essays in Ecological Marxism (1998); John B. Foster, Marx’s Ecology. Materialism and Nature (2000); Joel Kovel, The Enemy of Nature. The end of capitalism or the end of the world? (2002); Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik (2005); Michael Löwy, Ökosozialismus. Die radikale Alternative zur ökologischen und kapitalistischen Katastrophe (2011/2016); Christian Stache, Kapitalismus und Naturzerstörung. Zur kritischen Theorie des gesellschaftlichen Naturverhältnisses (2017); Gerhard Armanski, Monsieur de Capital und Madame la Terre. Blauer Planet im Würgegriff (2017). 20 Hierzu Hans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die ›Kritik der politischen Ökonomie‹ (1984/2011). 19

18 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Vorwort (2018)

Herbert Marcuse sowie eine philosophiegeschichtliche Abhandlung zum Problem unserer unterschiedlich konnotierten Einbezogenheit in Natur und Geschichte. Ich danke Herrn Lukas Trabert, dem Verlagsleiter des Verlags Karl Alber, für die Ermöglichung dieser erweiterten Neuauflage des Buches Das dialektische Verhältnis des Menschen zur Natur und hoffe, dass es ihr gemeinsam mit der erweiterten Neuauflage des Buches Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis im 200. Geburtsjahr von Karl Marx gelingen wird, einer erneuerten philosophischen Marx-Diskussion zum Durchbruch zu verhelfen.

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Mensch und Natur – eine gefährdete Dialektik Vorwort (1984)

1935 hielt Edmund Husserl in Prag und Wien seine berühmten Vorträge zur Krisis der europäischen Wissenschaften, in denen er aufzeigte, wie mit dem Fortschritt der neuzeitlichen Wissenschaften zugleich ein »Verlust ihrer Lebensbedeutsamkeit« einhergeht. Einst war in der Renaissance im Rückbezug auf die griechische Philosophie das Denken aufgebrochen, »die ganze menschliche Umwelt, das politische, das soziale Dasein der Menschheit aus freier Vernunft, aus den Einsichten einer universalen Philosophie neu zu gestalten« 1. Mit der immer stärkeren Festlegung der Wissenschaften auf die reine Objektivität dessen, was der Fall ist (Wittgenstein), verlieren sie jedoch den Bezug zum menschlichen Dasein. Das menschliche Subjekt wird systematisch ausgeklammert. Zwar kann man den Wissenschaften nicht abstreiten, dass ihren Erkenntnissen großartige technische Erfolge beschieden sind, aber ihre immer radikalere Einengung auf ihre selbst gesetzten wissenschaftlich-technischen Gültigkeits- und Erfolgskriterien stürzen zugleich die durch sie geprägten Menschen und Kulturen in eine immer tiefer ausgreifende Lebenskrise. »Demnach bedeutet Krisis der Philosophie die Krisis aller neuzeitlichen Wissenschaften als Glieder der philosophischen Universalität, eine zunächst latente, dann aber immer mehr zutage tretende Krisis des europäischen Menschentums selbst, in der gesamten Sinnhaftigkeit seines kulturellen Lebens, in seiner gesamten ›Existenz‹.« 2 Schärfer noch haben zehn Jahre später Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der Dialektik der Aufklärung (1947) den »Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts« in der »unaufhaltsamen Regression« der abendländischen Rationalität aufgewiesen. 3 Aufklä1 Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (1935/1977): 7. 2 Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften (1935/1977): 12. 3 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947/1969): 42. Vgl. Gerhard Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno zur Einführung (2009).

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Vorwort (1984)

rung, einst angetreten, die Menschen im Bedenken ihrer selbst und aus dem Lebenszusammenhang in der Natur zu vernünftigem und verantwortlichem Handeln zu befreien, reduziert sich in den neuzeitlichen Wissenschaften auf die Kenntnisse von Sachzusammenhängen, die sich anwenden lassen. »Technik ist das Wesen dieses Wissens«. »Die Beherrschung der Natur drinnen und draußen [wird] zum absoluten Lebenszweck« 4, und um diesem zu genügen, ordnet sich das Denken ganz einer mathematisch-empirischen Rationalität unter, durch die die Natur und die Menschen intellektuell wie technisch bestimmbar und manipulierbar werden. »Mit der Preisgabe des Denkens, das in seiner verdinglichten Gestalt als Mathematik, Maschine, Organisation an den seiner vergessenden Menschen sich rächt, hat Aufklärung ihrer eigenen Verwirklichung entsagt.« 5 So seines Selbstbewusstseins beraubt, wird das Denken zum willfährigen Instrument der Herrschaft industrieller Produktionsverhältnisse und ihrer naturwüchsigen Expansionsprozesse. »Die Absurdität des Zustandes, in dem die Gewalt des Systems über die Menschen mit jedem Schritt wächst, der sie aus der Gewalt der Natur herausführt, denunziert die Vernunft der vernünftigen Gesellschaft als obsolet.« 6 Hegel meinte, dass die Vernunft in der Weltgeschichte sich bereits aus sich heraus als »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« durchsetze, demgegenüber zeigen Horkheimer und Adorno, dass der dem naturwüchsigen Fortschritt der Rationalität sich eingliedernden Vernunft – und damit der Menschheit – eine ganz andere Zukunft bevorsteht: »Die Vernunft spielt die Rolle des Anpassungsinstruments […]. Ihre List besteht darin, die Menschen zu immer weiterreichenden Bestien zu machen […]. Seine [des Menschen] Vernichtungsfähigkeit verspricht so groß zu werden, daß – wenn diese Art sich einmal erschöpft hat – tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab.« 7 Soll es aus dieser »unaufhaltsamen Regression« einen Ausweg geben, so kann dieser – wie Horkheimer und Adorno betonen – nur in einer Aufklärung der Vernunft liegen, die sich auf sich selbst zurückwendet, die sich dabei zugleich gegen jenen Fortschritt stemmt, der 4 5 6 7

Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947/1969): 10 u. 38. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947/1969): 47 f. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947/1969): 45. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947/1969): 235 f.

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Vorwort (1984)

blindwütig über Mensch und Natur hinwegschreitet. Im Denken müssen die Menschen sich wieder selbst bedenken in ihrem Eingefügtsein in die Natur, nur so können sie zu Subjekten eines vernünftigen und verantwortlichen Handelns gegenüber ihren Mitmenschen und der Natur werden. »Durch solches Eingedenken der Natur im Subjekt, in dessen Vollzug die verkannte Wahrheit aller Kultur beschlossen liegt, ist Aufklärung der Herrschaft überhaupt entgegengesetzt« 8, sowohl der Herrschaft über andere Menschen als auch über die Natur. Dem blindwütigen Fortschritt der industriellen Produktionsweise kann nur durch eine veränderte Praxis der ihrer selbst bewusst gewordenen menschlichen Subjekte begegnet werden. »Umwälzende wahre Praxis aber hängt ab von der Unnachgiebigkeit der Theorie gegen die Bewußtlosigkeit, mit der die Gesellschaft das Denken sich verhärten läßt.« 9 Dies schrieben Horkheimer und Adorno 1944 – ein Jahr danach wurden Atombomben über den Städten Hiroshima und Nagasaki gezündet, und wir sind mit diesem Datum – wie Günther Anders in seinen philosophischen Essays Endzeit und Zeitenende (1972) 10 hervorhebt – in ein neues Zeitalter der Menschheitsgeschichte eingetreten, das Edward P. Thompson die Epoche des Exterminismus (exterminalism) nennt 11: in das Zeitalter unserer beginnenden Selbstvernichtung sowie der Zerstörung des irdischen Lebens. Angesichts der aufgehäuften Atomwaffen-Arsenale ist heute ein Weltkrieg gleichbedeutend mit einer Menschheitsvernichtung, und die immer ausgeklügelteren, sich selbst regulierenden Waffensysteme machen einen atomaren Krieg durch eine technische oder menschliche Fehlleistung unendlich wahrscheinlicher als ein geplantes menschliches Überleben der Menschheit. Aber das gebannte Starren auf diese Möglichkeit eines menschheitsvernichtenden Weltkrieges lässt uns übersehen, dass hinter unserem Rücken eine schleichende, aber unaufhaltsame Vergiftung und Lebenszerstörung am Werk ist, die unabhängig, ob es zum Krieg kommt oder nicht, allein in der Fortdauer unserer wertbestimmten industriellen Produktionsweise – in West und Ost und weltweit –

Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947/1969): 47. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung (1947/1969): 48. 10 Günther Anders, Endzeit und Zeitenende (1972). 11 Edward P. Thompson, »›Exterminismus‹ als letztes Stadium der Ziviliation«, in: Das Argument 127 (1981): 326 ff. 8 9

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Vorwort (1984)

nicht nur unser menschliches, sondern alles irdische Leben unumkehrbar ruiniert. Es ist dies keine Naturkatastrophe, die da auf uns zukommt, sondern ein von uns Menschen durch unsere wertbestimmte industrielle Produktionsweise in Gang gesetzter Zerstörungsprozess, der sich allerdings – einmal hervorgebracht – naturhaft verselbständigt. Die giftigen Abfälle, die der industrielle Produktionsprozess miterzeugt und die wir aus Eigennutz bedenkenlos der Luft, dem Meer, der Erde überantworten, verändern schrittweise, jedoch größtenteils irreversibel die Kreisläufe der Biosphäre. Am deutlichsten wird der Wahnsinn unseres Tuns dort, wo wir aus Interesse an einer gesteigerten Energieerzeugung für uns nicht davor zurückschrecken, das gefährlichste, der von uns selbst erzeugten Gifte, Plutonium 239, in massenhafter lebenauslöschender Konzentration herzustellen. Es ist zwar allen daran Beteiligten klar, dass dieses Gift und seine strahlenden Abfallprodukte für alle erdenklichen Zeiten durch eine absolute Abschirmung und Endlagerung von der Biosphäre ferngehalten werden muss, aber keiner kann sagen, wie wir dies bewerkstelligen sollen: Denn bei einer Halbwertszeit von 24.360 Jahren bedeutet das, dass bereits die bis jetzt erzeugten Mengen die ganze Menschheit auch ohne Krieg vernichten können, dass sie über Jahrhunderttausende – also länger als wir Menschen als homo sapiens auf Erden leben – absolut von der Biosphäre abgeschirmt und gegen jeden Störfall kriegerischer Art abgesichert oder von erdgeschichtlichen Veränderungen verschont bleiben müssen. Wer kann das garantieren? Hieran wird deutlich, dass wir – ganz gleich, ob es zu einem Krieg oder Unfall mit totaler Lebensweltvernichtung kommt oder nicht – um unseres Lebensgenusses willen den kommenden Generationen Lebensprobleme gigantischen Ausmaßes aufbürden, von denen wir nicht wissen, ob sie je bewältigt werden können. Aber noch versuchen wir uns einzureden, dass wir die industrielle Expansion trotz ihrer Gefährlichkeit in Kontrolle halten können, dass es sich bei den immer wieder eintretenden Unfällen nur um partielle und begrenzte Auswüchse handelt, die durch verstärkte wissenschaftlichtechnische Anstrengungen wieder in den Griff zu bekommen sind. Noch versuchen wir, vor uns zu verbergen, dass es sich hier um die ersten manifesten Folgeerscheinungen eines grundsätzlich gestörten und entfremdeten Verhältnisses unserer Denk- und Lebensweise gegenüber der Natur handelt. Noch wollen wir nicht sehen und wahrhaben, dass wir drauf und dran sind, unseren Kindern und Kindes24 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Vorwort (1984)

kindern die Möglichkeiten ihrer menschlichen Zukunft zu verschütten. In unglaublicher und unverantwortlicher Naivität bauen wir sowohl auf eine beherrschbare menschliche Rationalität als auch auf eine schier unermessliche Absorptionskraft der Natur. Doch die pausenlos fortschreitenden, ständig sich ausweitenden rücksichtslosen Eingriffe unserer wertbestimmten industriellen Produktionsweise in die natürlichen Lebensprozesse mit teilweise irreversiblen Auswirkungen potenzieren den grundlegenden Konflikt zwischen unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Praxis und unserer natürlichen Lebensgrundlage, der unausweichlich auf ein für uns, für unsere Nachkommen katastrophales Ende zusteuert, wenn er weiter so anhält und keine Aufhebung erfährt, die nur durch eine grundsätzliche Umkehr unserer gesellschaftlichen Praxis erreicht werden kann. Diesen widersprüchlichen Prozess können wir zwar in vielfachen Erscheinungen diagnostizieren, aber die bisher versuchten Gegenmaßnahmen, mit wissenschaftlich-technischen Mitteln ihm entgegenzuwirken, reichen bestenfalls aus, ihn etwas abzubremsen, können ihn aber grundsätzlich nicht anhalten und umwenden, da sie selber in unserer ökonomisch-industriellen Denk- und Produktionsweise wurzeln. Uns fehlen die philosophischen Voraussetzungen, um die hier immer deutlicher zutage tretende Entfremdung zwischen Mensch und Natur theoretisch aufdecken und praktisch bewältigen zu können. Was wir benötigen, ist eine grundlegende Kritik der wertbestimmten industriellen Produktionsweise und der mit ihr verknüpften wissenschaftlichen Rationalität, eine Kritik, die sich aus dem grundlegend zu klärenden Verhältnis von menschlicher Praxis und Natur zu begreifen hat und die daher sowohl die fortschreitende Entfremdung der gesellschaftlichen Entwicklung gegenüber der Natur analytisch aufzudecken als auch einer praktisch dieser Tendenz entgegentretenden revolutionären Bewegung zuzuarbeiten vermag. Dass wir eine solche kritische Philosophie der gesellschaftlichen Praxis im Verhältnis zur Natur noch nicht haben, ist bekannt. Gegenwärtig werden allenfalls erste Bruchstücke hierfür zusammengetragen. Einer der wichtigsten Ausgangspunkte wird dabei der Rückgriff auf die Marxsche Theorie und ihre praxisphilosophische Fortschreibung darstellen. 12 Vgl. Elisabet Romøren/Tor Inge Romøren, »Marx und die Ökologie«, in: Kursbuch 33 (1973); Wolfgang Methe, Ökologie und Marxismus. Ein Neuansatz zur Rekon-

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Dies mag viele überraschen: Schien doch die Ignoranz der Marxschen Theorie gegenüber der Natur, die sie vermeintlich nur als beliebig einsetzbares Material für die gesellschaftliche Produktion betrachtet, in vielen Abhandlungen zum Begriff der Natur in der Lehre von Marx 13 hinlänglich dargelegt worden zu sein. Fast durchweg wird die Marxsche Theorie als radikale Erbin des bürgerlichen Fortschrittsglaubens und als eine der ideologischen Triebkräfte des Industrialisierungsprozesses betrachtet – und damit als Ideologie grenzenloser Naturbeherrschung gefeiert oder verdammt. Mit Blick auf die Marxismen der Zweiten und Dritten Internationale und die Propagierung einer ungehemmten industriellen Expansion in den Staaten des real existierenden Sozialismus trifft diese Kennzeichnung auch sicherlich zu. Hier zeigt sich wieder einmal, wie schnell Anhänger und Kritiker – lediglich mit verkehrten Vorzeichen – sich über die Marxsche Theorie einig sind, ohne sie selber gründlich genug zur Kenntnis zu nehmen. Natürlich steht bei Marx die Naturproblematik nicht im Vordergrund seiner Theorie, sondern tritt hinter der sozialen Frage fast ganz zurück. Aber jeder eingehenderen Lektüre der Schriften von Marx – und zwar sowohl der frühen wie der späten Arbeiten – kann nicht verborgen bleiben, dass Marx neben der gesellschaftlichen Arbeit emphatisch auch die Natur als eine Quelle unseres Reichtums hervorhebt, die durch die gegenwärtige Produktionsweise in ihrer wertbestimmten Form genauso ruinös ausgebeutet wird wie die lebendige Arbeitskraft der im Produktionsprozess tätigen Menschen, und dass es auch in dieser Frage überlebensnotwendig darauf ankommt, zu einem gewandelten Verhältnis des Menschen zur Natur zu finden, durch die die wahre »Resurrektion der Natur« (Marx) allererst ermöglicht werden wird. Ein Anliegen der vorliegenden Abhandlung ist es, diesen sich bei Marx von den frühen philosophischen Manuskripten bis zum Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie durchziehenden Argumentationsstrang, der durch die nachfolgenden Marxismen verschüttet struktion der politischen Ökonomie unter ökologischen Krisenbedingungen (1981); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981/2018). 13 Das verdienstvolle Buch von Alfred Schmidt, Begriff der Natur in der Lehre von Marx (1962) steht hier nur namensgebend Pate für viele andere, zu denen auch Bücher wie Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ (1968) von Jürgen Habermas gehören.

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Vorwort (1984)

wurde, wieder sichtbar zu machen. Aber es geht um mehr als um die Rehabilitierung eines Gedankens von Marx. Es geht darum zu zeigen, dass die Marxsche Praxisphilosophie einen entscheidenden Ansatzpunkt für die uns aufgegebene theoretische und praktische Bewältigung der ökologischen Krise bietet. Die Marxsche Praxisphilosophie macht deutlich – wenn auch noch völlig rudimentär und von uns in kritischer Analyse weiter auszufüllen –, dass die in der ökologischen Krise zutage tretende Entfremdung von der Natur als etwas zu begreifen ist, was in der entfremdeten Form unserer gegenwärtigen, geschichtlich gewordenen gesellschaftlichen Praxis und ihrem Verhältnis zur Natur gründet – also gerade nicht an sich und unaufhebbar im Verhältnis des Menschen zur Natur selbst liegt; somit wird aber klar, dass es darauf ankommt, die entfremdete Formbestimmtheit unserer theoretischen und praktischen Umgangsweise mit der Natur kritisch aufzudecken, um dadurch befähigt zu werden, sie durch eine radikale Umwälzung unserer gesellschaftlichen Lebensverhältnisse praktisch aufzuheben. 14 Nun ist aber die daraus erwachsende Forderung nach einer radikalen Kritik von Naturwissenschaft und Technik etwas so Unvertrautes, dass wir es zunächst nicht nur nicht mit Marx in Verbindung bringen können, sondern überhaupt aus unserem philosophischen Problemhorizont verdrängen. Jetzt rächt sich, dass die Philosophie über anderthalb Jahrhunderte nur im Schlepptau der Naturwissenschaften über die Natur und das Verhältnis des Menschen zu ihr zu denken wagte. Dies reicht aber heute nicht mehr aus, da unser naturwissenschaftlicher Begriff der Natur selbst als Momente unseres entfremdeten Verhältnisses zur Natur in Frage steht. Wir müssen also vorweg versuchen, die naturphilosophische Diskussion dort wieder aufzunehmen, wo sie vor mehr als 200 Jahren liegengeblieben ist, um so überhaupt erst den Problemhorizont wieder zu vergegenwärtigen, der auch der Marxschen Theorie zugrunde liegt. Nach wie vor ist das hier angesprochene Problemfeld durch die entgegengesetzten Positionen eines nur halb rezipierten Kant und der Naturphilosophie Schellings markiert. Kant gilt nicht zu Unrecht als der erkenntnistheoretische Ahnvater der modernen Wissenschaften, denn er hat transzendentalphilosophisch die Bedingungen der MögVgl. Ulrich Hampicke, »Kapitalistische Expansion und Umweltzerstörung«, in: Das Argument 93 (1975); André Gorz, Ökologie und Politik. Beiträge zur Wachstumskrise (1977).

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Vorwort (1984)

lichkeit strenger gesetzeswissenschaftlicher Erkenntnis ermittelt, in denen sich weiterhin die objektivierenden Erkenntniswissenschaften bewegen und differenzieren – allerdings lässt sich Kants Naturverständnis keineswegs auf den naturwissenschaftlichen Begriff von der Natur allein reduzieren. Demgegenüber hat Schelling darauf bestanden, eine Philosophie der Natur zu entwerfen, die die Natur aus ihren eigenen Potenzen bedenkt. Schellings Versuch hat bisher kaum Nachfolger gefunden, gleichwohl gewinnt seine Naturphilosophie heute zunehmend an Bedeutung, da sie der letzte, vielleicht sogar der bisher einzige große Versuch ist, unser wirkliches In-der-Natur-Sein aus dem Wirklichkeitszusammenhang der Natur selbst zu begreifen. 15 Hieran knüpft Marx direkt an bzw. vermittelt über Ludwig Feuerbach und kommt so zu einer naturphilosophisch fundierten Philosophie der gesellschaftlichen Praxis, die er gerade nicht gegenüber der Natur absolutsetzt, sondern die er dialektisch in der Natur gründend und auf diese bezogen bestimmt. Wir werden also zunächst versuchen, das Naturverständnis von Kant und von Schelling herauszuarbeiten, um so überhaupt erst den Problemhorizont zu erreichen, von dem her Marx die Dialektik des Naturverhältnisses diskutiert. Nach einer darauf folgenden ausführlichen Entwicklung der naturphilosophischen Implikation der Marxschen Theorie, sowohl in den frühen philosophischen Manuskripten als auch in den späteren Schriften zur Kritik der politischen Ökonomie, soll sodann ausblickhaft gezeigt werden, dass die weitere praxisphilosophische Diskussion einiger Denker des »westlichen Marxismus« (Korsch) die Problemstellung zwischen Kant und Schelling – nun auf der Grundlage der Marxschen Praxisphilosophie – wieder erreicht, wenn auch noch nicht überhöht hat.

Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996): 66 ff.

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I. Die Bestimmung der Natur bei Kant

Kants Kritik der reinen Vernunft ist das umfassende Programm, die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Vernunft selbstkritisch aufzudecken, um so ein erkenntniskritisches Fundament für alle künftige systematische Philosophie zu schaffen. Dieses Programm realisiert Kant schrittweise in seinen drei Kritiken; in ihnen modifiziert sich auch – je nach ihrer thematischen Perspektive – der Begriff der Natur. So finden wir bei Kant nicht nur einen, sondern mehrere Bestimmungen der Natur. 1

1. Die erste Kritik – obwohl unter dem Gesamttitel der Kritik der reinen Vernunft erschienen – ist primär Kritik der theoretischen Vernunft; in ihr wendet sich Kant den Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher – insbesondere naturwissenschaftlicher – Erkenntnis zu. Kants transzendentalphilosophischer Frage liegt bereits das Selbstverständnis der neuzeitlichen mathematisch-empirischen Naturwissenschaft zugrunde. Der radikale Umbruch im Naturverständnis, wie er durch die seit der Renaissance aufblühenden systematischen Forschungen und mechanischen Künste vollzogen und durch den französischen Rationalismus einerseits und den angelsächsischen Empirismus andererseits philosophisch zu Bewusstsein gebracht wurde, bedarf bei Kant schon längst keiner Rechtfertigung mehr. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind objektive und allgemeingültige Gesetzesaussagen über Zusammenhänge des uns sinnlich Gegebenen. Mithin sind sie notwendig an unsere Sinneserfahrung – im empiristischen Sinne – gebunden und dürfen diese auch nicht über1 Immanuel Kant wird im Folgenden zitiert nach Werke in sechs Bänden, hg. v. Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1956 ff. jeweils mit Kurztitel, Jahreszahl, Band und Seitenangabe der Erst- (A) oder Zweitauflage (B).

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Die Bestimmung der Natur bei Kant

steigen. Gleichwohl stammen die allgemeinen Gesetze der Gegenstandsbestimmung und Gegenstandsverknüpfung nicht aus der Erfahrung, sondern liegen dieser immer schon zugrunde, und zwar im Akt unseres Erkennens als der synthetischen Verknüpfung der Eindrücke nach Gesetzen unserer Anschauungsformen und Denkkategorien. Wissenschaftliche Erkenntnis ist also insofern gegenstandskonstitutiv, als sie das uns sinnlich Erscheinende nach den Gesetzen unserer Anschauungs- und Denkformen zu objektiven Gegenständen und Gegenstandsbeziehungen verknüpft. Dabei bezieht sich die Objektivität der Erkenntnis – wie Kant ausdrücklich hervorhebt – nicht ontologisch auf die Wirklichkeit an sich, sondern allein auf die intersubjektive Gewissheit der wissenschaftlichen Verknüpfungsregeln der Erscheinungen, die durch unsere Anschauungs- und Denkformen a priori begründet ist: »Es sind daher objektive Gültigkeit und notwendige Allgemeingültigkeit (vor jedermann) Wechselbegriffe, und ob wir gleich das Objekt an sich nicht kennen, so ist doch, wenn wir ein Urteil als allgemeingültig und mithin notwendig ansehen, eben darunter die objektive Gültigkeit verstanden. Wir erkennen durch dieses Urteil das Objekt […] durch die allgemeingültige und notwendige Verknüpfung der gegebenen Wahrnehmungen.« 2 Auch von uns selber haben wir nur insofern theoretisch bestimmte Erkenntnisse, als wir das, was von uns sinnlich in Erscheinung tritt – das empirische Subjekt; besser: Objekt –, in den Kategorien wissenschaftlicher Vernunft bestimmen. Vor diesem erkenntnistheoretischen Hintergrund definiert Kant im Rahmen der theoretischen Vernunft »Natur« als den »Inbegriff aller Dinge, sofern sie Gegenstände unserer Sinne, mithin auch der Erfahrung sein können, worunter also das Ganze aller Erscheinungen, d. i. die Sinnenwelt, mit Ausschließung aller nicht sinnlichen Objekte, verstanden wird«. 3 Und als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis ist Natur »das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist«. 4 Kant spricht hiermit den Begriff der Natur aus, wie er den neuzeitlichen Naturwissenschaften zugrunde liegt: »Natur« ist nun ausdrücklich nicht als etwas an sich Wirkliches begriffen, sondern als das uns sinnlich Erscheinende bestimmt nach den allgemeinen Gesetzen unserer theoretischen Erkenntnis; und da2 3 4

Kant, Prolegomena (1783), III, A: 79. Kant, Metaphysische Anfangsgründe (1786), V, A: III. Kant, Prolegomena (1783), III, A: 72.

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Die Bestimmung der Natur bei Kant

her sind auch die »Naturgesetze« nicht Wirkgesetze der Wirklichkeit an sich, sondern die kategorialen Verknüpfungsbestimmungen der Erscheinungen zu Erkenntnisgegenständen und zu relationalen Erkenntniszusammenhängen. »Denn wir kennen Natur nicht anders, als den Inbegriff der Erscheinungen, d. i. der Vorstellungen in uns, und können daher das Gesetz ihrer Verknüpfung nirgends anders, als von den Grundsätzen der Verknüpfung derselben in einem Bewußtsein, welche die Möglichkeit der Erfahrung ausmacht, hernehmen. […] Der Verstand schöpft seine Gesetze (a priori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor.« 5 In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zeigt Kant grundlegend auf, dass alle wissenschaftlichen Bestimmungen der Materie, wie sie der Physik zugrunde liegen, letztlich Bestimmungen des uns Erscheinenden sind und an uns als erkennende Subjekte zurückgebunden bleiben: »Die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll, mußte Bewegung sein; denn dadurch allein können diese Sinne affiziert werden.« 6 Daher ist auch die letzte kategoriale Grundbestimmung der Bewegungslehre der Materie, der philosophischen Grundlagentheorie der Physik, wie sie Kant darlegt – nach der Phoronomie, der Dynamik und der Mechanik – die Phänomenologie, d. h. der Begriff der »Bewegung« der Materie »in Beziehung auf die Vorstellungsart […], mithin als Erscheinung äußerer Sinne, bestimmt«. 7 Dass die physikalischen Bestimmungen und Gesetze keine ontologischen Seinsaussagen implizieren, sondern lediglich Aussagen über Erscheinungszusammenhänge unter bestimmten methodischen und experimentellen Befragungsverfahren, die prinzipiell nicht vom erkennenden Subjekt zu lösen sind, ist heute jedem theoretisch bewussten Physiker völlig selbstverständlich. Dies aber war keineswegs immer so, es gab und gibt Wissenschaftler und auch Philosophen, die die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse für Bestimmungen der Wirklichkeit an sich halten. Mit seiner klaren Scheidung der Welt der Erscheinungen und der Welt der Dinge an sich hat Kant jedoch deutlich gemacht, dass die mathematisch-empirischen Naturwissenschaften immer nur die uns erscheinenden Sinneseindrücke nach den Kategorien des Verstandes – je nach ihrer wissenschaftlichen Metho5 6 7

Kant, Prolegomena (1783), III, A: 111 ff. Kant, Metaphysische Anfangsgründe (1786), V, A: XXI. Kant, Metaphysische Anfangsgründe (1786), V, A: XXI.

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Die Bestimmung der Natur bei Kant

de – zu einem gesetzmäßigen Zusammenhang zusammenfügen, niemals aber die Wirklichkeit an sich, d. h. die »Natur«, aus ihrem eigenen Wirkzusammenhang begreifen können.

2. Aber der Begriff des »Dinges an sich«, der Wirklichkeit an sich, impliziert bei Kant mehr als nur diese »negative« Grenze, dass all unsere kategorial bestimmte Erkenntnis immer nur auf das uns Erscheinende bezogen bleibt und niemals zur ontologischen Aussage des Ansich-Seienden hypostatiert werden darf. Die strenge Eingrenzung der bestimmenden theoretischen Erkenntnis auf die Welt der Erscheinungen hat eine zweite »positive« Bedeutung: sie gibt Raum für eine wissenschaftlich-theoretisch nicht erreichbare Wirklichkeit an sich, in der wir als frei uns entscheidende Subjekte, als »intelligible Subjekte«, gleichwohl immer schon praktisch stehen und gefordert sind. Denn Freiheit ist etwas, das in der Welt der Erscheinungen nicht vorkommt, und sie wäre überhaupt nicht möglich, wenn die erscheinende Wirklichkeit mit der Wirklichkeit an sich zusammenfiele: »Denn, sind Erscheinungen Dinge an sich selbst, so ist Freiheit nicht zu retten. Alsdenn ist Natur die vollständige und an sich hinreichend bestimmende Ursache jeder Begebenheit, und die Bedingung derselben ist jederzeit nur in der Reihe der Erscheinungen enthalten, die samt ihrer Wirkung, unter dem Naturgesetze notwendig sind. Wenn dagegen Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der Tat sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind.« 8 Wenn wir auch niemals die Wirklichkeit an sich wissenschaftlich-theoretisch erkennen können, so sind wir uns als sittlich Handelnde ihrer doch unmittelbar bewusst. Die »moralischen Gesetze« 9 ergehen an uns ganz unmittelbar ohne jegliche Vermittlung über die theoretischen Erkenntnisse der erscheinenden Welt, und sie fordern – kategorisch imperativ – von uns, dass wir uns frei aus sittlicher Einsicht entscheiden. Diese »Freiheit des Willens«, d. h. die Möglichkeit, unseren Willen allein aus der sittlichen Einsicht der Vernunft zu be8 9

Kant, KrV (1781), II, B: 564 f. Kant, KpV (1788), IV, A: 53.

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stimmen, ist »das einzige Faktum der reinen Vernunft« 10 – wie Kant in der Kritik der praktischen Vernunft ausführt –, auf das wir die praktisch-sittliche Bestimmung unseres Menschseins zu bauen vermögen. Damit sind wir aber als praktisch-sittliche »Wesen an sich« immer schon in die Wirklichkeit an sich hineingestellt. »Um [uns] selbst als praktisch zu denken« 11, reicht es nicht hin, uns in unserem empirischen Dasein in der Welt der Erscheinungen theoretisch wissenschaftlich zu bestimmen, sondern wir sind zugleich genötigt, uns als »Glieder einer intelligiblen Welt« – »d. i. das Ganze vernünftiger Wesen, als Dinge an sich selbst« 12 – zu begreifen. »Nun findet der Mensch in sich wirklich ein Vermögen, dadurch er sich von allen Dingen, ja von sich selbst, sofern er durch Gegenstände affiziert wird, unterscheidet, und das ist die Vernunft. […] Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst als Intelligenz nicht als zur Sinnen-, sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten, und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, einmal sofern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), zweitens, als zur intelligiblen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sein.« 13 Mit diesen Bestimmungen von uns als »intelligiblen Wesen« in einer »intelligiblen Welt« sind keinerlei theoretisch-empirische Erkenntnisse verknüpft, sondern sie sind »als praktische Begriffe, auch nur zum praktischen Gebrauche« 14 bestimmt; so ist auch in diesem Zusammenhang »die übersinnliche Natur« nichts anderes, als eine »Natur unter der Autonomie der reinen praktischen Vernunft«. 15 Gleichwohl kommen wir »in praktischer Absicht« nicht umhin, uns als »Glieder einer intelligiblen Welt« zu begreifen, ja mehr noch: dort wo wir frei aus sittlicher Einsicht uns entscheiden, erfahren wir uns unmittelbar praktisch als autonome Wesen in einer vernunftbestimmten Wirklichkeit an sich. »Denn es ist unsere Vernunft selber, die sich durchs höchste und unbedingte praktische Gesetz, und

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Kant, KpV (1788), IV, A: 56. Kant, Grundlegung (1785), IV, A: 119. Kant, Grundlegung (1785), IV, A: 111, 119. Kant, Grundlegung (1785), IV, A: 108 f. Kant, KpV (1788), IV, A: 9. Kant, KpV (1788), IV, A: 74.

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das Wesen, das sich dieses Gesetzes bewußt ist (unsere eigene Person), als zur reinen Verstandeswelt gehörig, und zwar sogar mit Bestimmung der Art; wie es als ein solches tätig sein könne, erkennt.« 16 Mithin sind wir »Bürger zweier Welten«, denn »in einem und demselben Subjekte« haben wir ein »empirisches Bewußtsein« von uns als »Erscheinung« in der wissenschaftlich bestimmbaren Welt der »Naturkausalität« und ein »reines Bewußtsein« von uns »als Wesen an sich selbst« in der Wirklichkeit an sich. 17 »Aber ebendasselbe Subjekt«, das als Erscheinung »nach dem Gesetz der Naturnotwendigkeit« bestimmbar ist, ist »sich anderseits auch seiner, als Dinges an sich selbst, bewußt [… und] betrachtet auch […] sich selbst […] nur als bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch Vernunft selbst gibt, und in diesem seinem Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung, sondern jede Handlung, und überhaupt jede dem inneren Sinne gemäß wechselnde Bestimmung des Daseins, selbst die ganze Reihenfolge seiner Existenz, als Sinnenwesen, ist im Bewußtsein seiner intelligiblen Existenz nichts als Folge, niemals aber als Bestimmungsgrund seiner Kausalität, als Noumens, anzusehen«. 18

3. Wir haben nun zwei völlig geschiedene Begriffe von Natur, den Naturbegriff der Naturwissenschaften als Inbegriff der gesetzlich bestimmten Erscheinungen und die intelligible Natur unserer praktisch-sittlichen Existenz. Da wir diesen beiden Welten angehören, deren Scheidung somit durch uns selbst hindurchgeht, gleichwohl keine dieser Welten in sich selbst genug ist, da die Welt der Erscheinungen eine Welt an sich voraussetzt und die Freiheit aus sittlicher Einsicht sich in die erscheinende Welt hinein realisieren soll, so muss es ein »Verbindungsmittel« geben, das diese »unübersehbare Kluft« zu überbrücken vermag, »und die Natur muß folglich auch so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen

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Kant, KpV (1788), IV, A: 189 f., Kant, KpV (1788), IV, A: 10. Kant, KpV (1788), IV, A: 175.

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zusammenstimme. Also muß es doch einen Grund der Einheit des Übersinnlichen, welches der Natur zum Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegriff praktisch enthält, geben«. 19 Wir müssen uns also noch einen erweiterten Begriff von der Natur als Totalität bilden, der uns als vernünftige Wesen mit zu umfassen vermag, und dies nicht nur um der praktischen Verwirklichung von Freiheit willen, sondern auch zur Fundierung der theoretischen Erkenntnis muss diese »Einheit notwendig vorausgesetzt und angenommen werden […], da sonst kein durchgängiger Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung stattfinden würde«. 20 Diese Vermittlungsproblematik behandelt Kant im zweiten Teil seiner dritten Kritik, der »Kritik der teleologischen Urteilskraft«; sie wird selber unter zwei Aspekten, einem theoretischen und einem praktischen, abgehandelt. Unsere Naturerkenntnis erschöpft sich keineswegs in der streng kausalen Bestimmung der Naturgegenstände gemäß der mathematisch-empirischen Gesetzeswissenschaft der Physik. Bei unseren Naturbetrachtungen stoßen wir vielmehr unausweichlich auf Phänomene des Organischen und von Lebenszusammenhängen, die sich überhaupt nicht kausal-mechanisch, d. h. mathematisch-empirisch, bestimmen lassen. So leitet die »Erfahrung« – wie Kant selber sagt, wobei er nun einen erweiterten Erfahrungsbegriff gebraucht, der nicht mehr nur den Aufweis von Sinnesdaten meint – »unsere Urteilskraft auf den Begriff einer objektiven und materialen Zweckmäßigkeit, d. i. auf den Begriff eines Zwecks der Natur«. 21 Diesen Begriff der Zweckmäßigkeit setzen wir überall dort schon voraus, wo wir Lebewesen – Pflanzen, Tiere und uns selber – gemäß ihres »inneren Zwecks« als »sich selbst organisierende Wesen« 22 zu verstehen versuchen. Der lebendige Organismus stellt für uns eine erfahrbare »objektive Realität« 23 dar, die jedoch gerade nicht durch physikalische, d. h. mathematisch-empirische Gesetze bestimmbar ist, sondern aus seinem eigenen inneren Zweckzusammenhang heraus verstanden werden muss. Sein Begriff »führt die Vernunft in eine ganz andere Ordnung der Dinge, als die eines bloßen Mechanism

19 20 21 22 23

Kant, KU (1790), V, B: XX. Kant, KU (1790), V, B: XXXIII. Kant, KU (1790), V, B: 279. Kant, KU (1790), V, B: 292. Kant, KU (1790), V, B: 295.

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der Natur, der uns hier nicht mehr genug tun will« 24, denn »die Erzeugung auch nur eines Gräschens« ist »aus bloß mechanischen Ursachen« nicht zu begreifen. 25 Nun werden wir aber durch die Vernunft genötigt, dieses »Prinzip der reflektierenden Urteilskraft«, Organismen aus ihrer eigenen »inneren Zweckmäßigkeit« heraus zu verstehen, auf die gesamte Natur auszudehnen und diese unter der »regulativen Idee« eines inneren Zusammenhangs zu reflektieren. Denn es ist uns – wie Kant hervorhebt – »unentbehrlich nötig, der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, wenn wir ihr auch nur in ihren organisierten Produkten durch fortgesetzte Beobachtung nachforschen wollen; und dieser Begriff ist also schon für den Erfahrungsgebrauch unserer Vernunft eine schlechterdings notwendige Maxime«. 26 Wir stoßen also hier in der teleologischen Urteilskraft auf eine erweiterte Idee der Natur: die »Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke« 27, in die wir Menschen als organisierte Wesen mit einbegriffen sind. Obwohl nun – wie Kant ausdrücklich betont – diese »Idee der gesamten Natur« auch »aller Mechanism der Natur nach Prinzipien der Vernunft […] untergeordnet werden muß« 28, gelingt es uns doch nicht, die physikalischen Naturgesetze »mit den teleologischen in der Erzeugung der Natur« in Einklang zu bringen bzw. die einen auf die anderen zurückzuführen; dennoch müssen wir ihre Einheit zu denken versuchen: »Gleich wie der Mechanism der Natur […] nicht zulangen kann, um sich die Möglichkeit eines organisierten Wesens danach zu denken, sondern […] einer absichtlich wirkenden Ursache ursprünglich untergeordnet werden muß: so langt eben so wenig der bloß teleologische Grund eines solchen Wesens hin, es zugleich als ein Produkt der Natur zu betrachten und zu beurteilen, wenn nicht der Mechanism des letzteren dem ersteren beigesellt wird. […] Die Möglichkeit einer solchen Vereinigung zweier ganz verschiedener Arten von Kausalität, der Natur in ihrer allgemeinen Gesetzmäßigkeit, mit einer Idee, welche jene auf eine besondere Form einschränkt […], begreift unsere Vernunft nicht; sie liegt im übersinnlichen Substrat der Natur, wovon wir

24 25 26 27 28

Kant, KU (1790), V, B: 297. Kant, KU (1790), V, B: 353. Kant, KU (1790), V, B: 334. Kant, KU (1790), V, B: 300. Kant, KU (1790), V, B: 300.

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nichts bejahend bestimmen können, als daß es das Wesen an sich sei, von welchem wir bloß die Erscheinungen kennen.« 29 Es wird also hier von Kant ganz klar herausgestellt, dass auch die erweiterte Idee von der Natur als organisierter Zweckzusammenhang, den wir reflektierend bilden müssen, um natürliche Lebenszusammenhänge und uns in ihnen zu verstehen, keineswegs zu einem theoretisch bestimmbaren Begriff der Natur an sich führt. Vielmehr werden wir gerade dadurch, dass die physikalische Erkenntnis der Natur als Kausalmechanismus und die »regulative Idee« von der Natur als einem Zweckzusammenhang theoretisch nicht aufeinander reduzierbar sind und doch gleichwohl offensichtlich zusammenstimmen, genötigt, ein gemeinsames »übersinnliches Substrat« einer Wirklichkeit an sich anzunehmen, obgleich wir dieses wissenschaftlich in keiner Weise bestimmen können und uns daher theoretisch mit Kants berüchtigten, aber meist missverstandenen »Alsob« zufriedengeben müssen. Nun enden an diesen theoretischen Grenzen jedoch noch nicht die Reflexionen Kants zur teleologischen Urteilskraft. Vielmehr haben wir, weil wir nicht nur »organisierte Wesen« in der Natur sind, sondern auch moralisch-vernünftige Wesen, die sich durch ihr Handeln in der Welt ihren sittlichen Zwecksetzungen gemäß zu verwirklichen versuchen, den Gesamtzusammenhang der Welt auch noch »in praktischer Absicht« zu reflektieren. Der »kategorische Imperativ«, wiewohl in uns als »intelligiblen Wesen« fundiert, ergeht doch an uns als Wesen, die wir uns als sittlich Handelnde in der Welt bewähren und verwirklichen sollen, d. h. er zielt auf die Verwirklichung des »höchsten Gutes« in der Welt, auf »ein weltbürgerliches Ganzes« 30, ein sittliches Zusammenleben der Menschen in Freiheit und Frieden. Um aber überhaupt die Hoffnung haben zu können, dass wir diese Aufgabe der Verwirklichung des »höchsten Gutes« auch nur erstreben können; müssen wir bereits voraussetzen, »daß nicht allein wir einen uns a priori vorgesetzten Endzweck haben, sondern auch die Schöpfung, d. i. die Welt selbst ihrer Existenz nach einen Endzweck habe«. 31 Dieser nun neu auftretende Begriff des Ganzen der Natur als Schöpfung ist nun keine theoretische Bestimmung, sondern ein 29 30 31

Kant, KU (1790), V, B: 374. Kant, KU (1790), V, B: 393. Kant, KU (1790), V, B: 430.

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»praktisches Postulat«, und als solchem kommt ihm nicht nur reflektierende Als-ob-Bestimmung, sondern die konstitutive Gewissheit der praktischen Vernunft zu. Denn wo immer wir ein Leben aus sittlicher Bestimmtheit zu verwirklichen streben – wie es die praktische Vernunft von uns verlangt –, da handeln wir immer schon aus dem Postulat, aus der praktischen Voraussetzung, einer voraus ermöglichten Vermittlung von Vernunft und Natur, von Sinn und Existenz, von Freiheit und Wirklichkeit – und d. h. für Kant letztlich, dass wir dort, wo wir uns als praktisch Handelnde in der Welt begreifen und bestimmen, immer schon praktisch in der Glaubensgewissheit des »Daseins Gottes« stehen, d. h. den Wirklichkeitszusammenhang von Natur und Geschichte als praktisch ermöglichten und aufgegebenen Sinnzusammenhang erfahren. Anders gesagt: Unser Handeln steht immer schon praktisch in der Hoffnung, dass unser Dasein Sinn habe (Unsterblichkeit), dass unsere sittlich bestimmte Freiheit sich verwirklichen lasse (Verwirklichung des höchsten Guts), beides aber setzt praktisch immer schon die ermöglichte Vermittlung von Sinn und Existenz, von »Vernunft und Natur« voraus – und das ist die praktische Gewissheit des »Daseins Gottes«. »Es sind [dies] Ideen, d. i. Begriffe« – wie Kant in der Kritik der Urteilskraft ausführt –, »denen man die objektive Realität theoretisch nicht sichern kann. Dagegen ist der von uns zu bewirkende höchste Endzweck, das, wodurch wir allein würdig werden können, selbst Endzweck einer Schöpfung zu sein, eine Idee, die für uns in praktischer Beziehung objektive Realität hat.« 32 Denn dort, wo wir sittlich und verantwortlich auf die Verwirklichung des höchsten Guts hin handeln, dort erfahren wir »in reiner praktischer Absicht« den Wirkzusammenhang der Natur an sich als Schöpfung, in der an uns als Geschöpfe der Auftrag ergeht, gerade durch die freie Verwirklichung der Sittlichkeit deren und unseren Endzweck zu erfüllen. Dies ist das Thema, das Kant, aufbauend auf den drei Kritiken, in einem vierten Schritt in seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft näher entfaltet. 33

Kant, KU (1790), V, B: 459. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999), darin: »Kant – Ethische Anthropologie und emanzipative Geschichtsphilosophie«: 40 ff.

32 33

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Die Bestimmung der Natur bei Kant

4. Halten wir nochmals zusammenfassend fest: Der Begriff der Natur ist bei Kant mehrschichtig. Er reicht vom Naturbegriff der modernen Physik als Inbegriff der kausal-bestimmten Erscheinungen über die Natur als inneren organischen Zweckzusammenhang zu einer intelligiblen Welt an sich und schließlich zu einem Sinnzusammenhang der Natur als Schöpfung, in die wir als sittlich Handelnde praktisch hineingestellt sind. Kant lässt keinen Zweifel daran, sondern betont durchgängig und unzweideutig, dass der praktischen Vernunft der Primat zukommt und dass der Begriff der Natur als Sinnzusammenhang in praktischer Absicht der umfassendere ist; denn auch unsere theoretischen Erkenntnisse stehen letztlich im Dienste unserer sittlich-praktischen Bewährung in der Welt. Es fragt sich allerdings, warum diese Mehrschichtigkeit in Kants Begriff der Natur eigentlich nie richtig zum Tragen gekommen ist, sondern fast ausschließlich nur sein Begriff der Natur als Inbegriff der kausal-bestimmten Erscheinungen rezipiert wurde, so dass er allein als Ahnvater der Wissenschaftstheorie der mathematisch-empirischen Naturwissenschaften in die Geschichte eingehen konnte. Kant selber hat dazu viel beigetragen, denn er spricht zwar den Primat der praktischen Vernunft aus, lässt ihn aber nicht in seinem eigenen Philosophieren wirksam werden. Trotz des eindeutig bekundeten Primats der praktischen Vernunft ist doch bereits bei Kant eine deutliche Vorrangstellung der gesetzeswissenschaftlichen Vernunft festzustellen, da diese allein objektive und allgemeingültige theoretische Erkenntnisse vorzuweisen vermag. Und so fordert er, im gleichen Atemzug, in dem er das Umgreifende des Zweckzusammenhanges der Natur ausspricht, »alle Produkte und Ereignisse der Natur, selbst die zweckmäßigsten, so weit mechanisch zu erkennen, als es immer in unserem Vermögen […] steht« 34, und er desavouiert immer wieder alle Begriffe der praktischen Vernunft, da ihnen nicht die gleiche theoretische Erkenntnisbestimmtheit zukommen kann wie den naturwissenschaftlichen Gesetzesaussagen. In dieser Dominanz der theoretischen Vernunft spricht sich bereits bei Kant im Grunde das aus, was sich seither materiell-praktisch durchgesetzt hat: der Siegeszug der wissenschaftlichen Rationalität und die Selbsteinschränkun-

34

Kant, KU (1790), V, B: 363.

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Die Bestimmung der Natur bei Kant

gen der Philosophie zur Hilfswissenschaft für jene – heute Wissenschaftstheorie genannt. Die Schwäche Kants und der Widerspruch in diesem Punkt liegen darin, dass er sein Werk der Kritik der reinen Vernunft nicht zu Ende führt. Sein geniales Unternehmen der dialektischen Selbstkritik der Vernunft an und durch sich selber vergisst am Ende, sich selbst zu thematisieren, zeigt zwar die Möglichkeiten und Grenzen unserer Vernunft auf, ohne abschließend jene philosophische Vernunft zu bedenken, die hier Möglichkeiten aufdeckt und Grenzen absteckt. Wie der Begriff der Natur bei Kant mehrschichtig, aber auch mehrdeutig bleibt, so wird auch das Subjekt, das wir sind, mehrfach thematisiert: als empirisches Subjekt und als organisiertes Wesen, als intelligibles Subjekt und als uns wirklich und geschichtlich verwirklichendes Wesen, schließlich als transzendentales Subjekt der philosophischen Erkenntnis. Doch Kant versäumt es, unsere wirkliche Identität von erkennendem, handelndem und philosophierendem Subjekt zu bedenken – jenes eine Subjekt, für das der eingesehene Primat der praktischen Vernunft zum Ausgangspunkt wirklicher Selbstbestimmung werden könnte. Fichte, Schelling, Hegel nehmen – wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten – den Kantischen Primat der praktischen Vernunft beim Wort und beziehen ihn auf die philosophische Vernunft selbst zurück, damit stellen sie nochmals entschieden die Philosophie in praktischer Absicht über die wissenschaftliche Rationalität. Wohl am radikalsten hat Fichte sein ganzes philosophisches Denken dem Primat praktischer Vernunft unterstellt: da er aber die kantische Thematik der »Kritik der teleologischen Urteilskraft« nicht rezipiert, gerinnt die Natur bei ihm als »Nicht-Ich« zum bloßen Material unserer Erkenntnis und Pflicht – daher ist der Fichtesche Ansatz für unsere Fragestellung hier nur von negativem Belang.

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II. Die Naturphilosophie Schellings

Von den drei großen »deutschen Idealisten« setzt sich Schelling am intensivsten mit Kant auseinander und knüpft auch am stärksten an Kant an. Jedoch durchgängig vom Primat praktischer Vernunft bestimmt, kommt er zu einer totalen Umgewichtung der einzelnen Schritte. Schellings ganze Philosophie – Früh- und Spätwerk – steht im Zeichen der letzten Kritik, der Kritik der Urteilskraft und ihrer Fortführung und Überhöhung in Kants Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, dem praxisphilosophischen Fazit einer kritischen Philosophie. 1 Ich will hier nur stichpunkthaft auf die Problemstellung der Naturphilosophie, der philosophisch reformulierten Kritik der Urteilskraft eingehen, nur am Rande werden wir Schellings praktische Geschichtsphilosophie berühren, die – ganz im Sinne der Religionsschrift Kants – immer zugleich auch Religionsphilosophie ist: denn wo unsere praktische Verwirklichung als sittliche Wesen thematisiert wird, dort kann dies – nach Schelling – nur im Horizont der Natur als Schöpfung und der Geschichte als offenbarwerdendem Auftrag erfolgen. 2

1. Auch die Naturphilosophie, d. h. die theoretische Erkenntnis der Welt, steht bei Schelling letztlich ganz im Primat der praktischen Vernunft – die meisten Missverständnisse gegenüber der Schellingschen Naturphilosophie beruhen darauf, dass dieser zentrale Punkt nicht beachtet wird. 3 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015). 2 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Sinn und Existenz in der Spätphilosophie Schellings (1963) und andere Schellingiana (2016). 3 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Na1

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Die Naturphilosophie Schellings

Schelling selber spricht dieses praktische Motiv seines Philosophierens schon in der Einleitung zu seinen Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 entschieden aus und deutet hier zugleich auch die Idee der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie an – eine Idee, die später Marx aufgegriffen und radikalisiert hat: »Sobald der Mensch sich selbst mit der äußeren Welt in Widerspruch setzt […], ist der erste Schritt zur Philosophie geschehen. Mit jener Trennung zuerst beginnt Reflexion: von nun an trennt er, was die Natur auf immer vereinigt hatte, trennt den Gegenstand von der Anschauung, den Begriff vom Bilde, endlich (indem er sein eigenes Objekt wird) sich selbst von sich selbst. Aber diese Trennung ist nur Mittel, nicht Zweck. Denn das Wesen des Menschen ist Handeln. […] Der Mensch ist nicht geboren, um im Kampf gegen das Hirngespinst einer eingebildeten Welt seine Geisteskraft zu verschwenden, sondern einer Welt gegenüber, die auf ihn Einfluß hat, ihre Macht ihn empfinden läßt, und auf die er zurückwirken kann, alle seine Kräfte zu üben. […] Die bloße Reflexion also ist eine Geisteskrankheit des Menschen, noch dazu, wo sie sich in Herrschaft über den ganzen Menschen setzt […]. Ihr entgegen steht die wahre Philosophie, die Reflexion überhaupt als bloßes Mittel betrachtet […]. Sie geht von jener ursprünglichen Trennung aus, um durch Freiheit wieder zu vereinigen, was im menschlichen Geiste ursprünglich und notwendig vereinigt war, d. h. um jene Trennung auf immer aufzuheben […] – so arbeitet sie in diesem Betracht zu ihrer eigenen Vernichtung.« 4 Der entscheidende Punkt, an den Schelling anknüpft, ist unsere Selbstgewissheit. Da Kant uns nicht als Subjekt der philosophischen Vernunft thematisiert, scheinen wir in seiner Philosophie in mannigfaltigen Gestalten auf: als empirisches, organisches, intelligibles, handelndes und transzendentales Subjekt, ohne doch je in der Addition dieser Thematisierungen uns als wirkliche Subjekte finden zu können. Ja, es hat sogar den Anschein – und dies wurde im Nachgang zu Kant vielfach so vertreten –, als könnten wir erst über die (wissenschaftliche) Selbstobjektivierung als empirische Subjekte von uns als wirklichen Subjekten etwas Bestimmtes und Bestimmendes wissen.

tur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996). 4 Schelling, Ideen 1797), II, 13 f. Schelling wird durchgängig mit Kurztiteln, Jahreszahl, Band- und Seitenangabe zitiert nach: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Sämtliche Werke in 14 Bdn., Stuttgart/Augsburg 1856 ff.

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Die Naturphilosophie Schellings

Kant jedenfalls lehnt ausdrücklich eine intellektuelle Anschauung von uns selber – und mehr noch, von der Wirklichkeit an sich – ab. Für Fichte dagegen wird die intellektuelle Anschauung zum Ausgangspunkt und Fundament all unserer Erkenntnis und all unseres Handelns, denn die unmittelbar angeschaute Selbstgewissheit des »Ich bin Ich«, die die philosophische Vernunft zwar erst bewusst einzuholen vermag, liegt doch gleichwohl aller produktiven Erkenntnis und allem Handeln des Ich immer schon zugrunde. Schelling knüpft hier an, aber geht zugleich bereits in seinen frühesten Schriften darüber hinaus – und das ermöglicht ihm den Zugang zur Natur. Für ihn umfasst die Gewissheit des »Ich bin Ich« nicht nur den selbstreflexiven Akt des Ich = Ich – wie bei Fichte –, sondern zugleich die Seinsgewissheit des »Ich bin«. Diese Selbstund Seinsgewissheit ist nicht über eine empirisch-sinnliche Selbstbetrachtung vermittelt, sondern ist jene unserem Bewusstsein konstitutive »intellektuelle Anschauung« von uns als wirklichem Subjekt, das zugleich aber als Wirkliches über sich hinausweist auf die Wirklichkeit selbst, in der wir immer schon sind. Indem wir uns im »Ich bin« nicht nur als Selbst, sondern auch als Seiende bewusst sind, erfahren wir – nicht sinnlich, sondern eben intellektuell – uns selbst als Wirkliches in der Totalität von Wirklichkeit. Bereits in den Philosophischen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus von 1795 schreibt Schelling über die »intellektuelle Anschauung«: »Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben. Diese Anschauung zuerst überzeugt uns, dass irgendetwas im eigentlichen Sinne ist, während alles Übrige nur erscheint, worauf wir jenes Wort übertragen. Sie unterscheidet sich von jeder sinnlichen Anschauung dadurch, dass sie nur durch Freiheit hervorgebracht und jedem andern fremd und unbekannt ist, dessen Freiheit, von der eindringenden Macht der Objekte überwältigt, kaum zur Hervorbringung des Bewusstseins hinreicht.« 5 Es ist also keineswegs so, dass wir keinen Zugang zu den »Dingen an sich«, zur Wirklichkeit an sich hätten und die Natur immer nur aus den wissenschaftlichen Einzelerkenntnissen des uns sinnlich Erscheinenden bestimmen können, sondern es ist genau umgekehrt – Kant hatte dies im Primat der praktischen Vernunft, die sich immer schon an uns als intelligible Subjekte in der Wirklichkeit an sich wen5

Schelling, Philosophischen Briefe (1795), I: 318.

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det, selber ausgesprochen, ohne doch die Konsequenzen daraus zu ziehen –, es ist also umgekehrt, wir haben zu uns selbst als wirklich handelnde Subjekte einen unmittelbaren Bezug, durch den wir uns aus dem existierenden Wirklichkeitszusammenhang erfahren. Eben diesen unmittelbaren, nichtsinnlichen Erfahrungsbezug nennt Schelling in seinen Frühschriften »intellektuelle Anschauung«, später in seinen Erlangener Vorlesungen spricht er dann von der »Ekstasis« 6, der Ekstase als dem Heraustreten des erkennenden Subjekts aus sich selbst, um sich aus dem unvordenklichen Existieren, in dem es selbst als Existierendes immer schon wirkt, zu erfahren. 7 Es ist klar, dass der Begriff der »unmittelbaren Erfahrung« von uns als Wirklichen in der Wirklichkeit etwas prinzipiell anderes anspricht als der Erfahrungsbegriff, wie ihn Kant in der Kritik der reinen Vernunft gebraucht. Nun zeigt Schelling, dass wir immer schon jene unmittelbare Erfahrung voraussetzen, und zwar nicht nur in unserer Selbsterfahrung, sondern auch in der Erfahrung aller Wirklichkeit, um überhaupt sinnliche Erfahrungen als bestimmte machen zu können. »Daß ich bin […] ist etwas, das ich wissen muß, wenn ich nur überhaupt etwas weiß« 8, denn die sinnliche Erfahrung von mir vermittelt mir weder Selbstbewusstsein noch Existenzgewissheit, sondern setzt diese bereits voraus, um etwas an mir zu erfahren. Aber auch »Sein, Leben […] außer mir« kann schlechterdings nicht durch empirische Erkenntnis ermittelt werden, – dies hat Kant selber durch die Einführung der Affektion durch die Dinge an sich eingestanden –, sondern setzt jene unmittelbare Erfahrung unseres praktischen Inder-Welt-Seins voraus. »Nun behaupte ich aber, daß von Sein und Leben nur ein unmittelbares Wissen möglich ist, und daß, was ist und lebt, nur insofern ist und lebt, als es vorerst und vor allem andern für sich selbst da ist, seines Lebens durch sein Leben sich bewußt wird. […] Auch ist offenbar, daß ich von einem Leben und Selbstsein außer mir nur praktisch überzeugt werde. Ich muß praktisch dazu genötigt sein, Wesen, die mir gleich seien, außer mir anzuerkennen. Wäre ich nicht genötigt, mit Menschen außer mir in Gesellschaft und Schelling, Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft (1821), IX: 230. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »›Von dem Endzwecke … der Schöpfung selbst‹. Einige bruchstückhafte Reflexionen zu Schellings lebenslangem Ringen mit Kants Kritik der Urteilskraft«, in: Michael Hofer/Christopher Meiller/Hans Schelkshorn/ Kurt Appel (Hg.), Der Endzweck der Schöpfung. Zu den Schlussparagraphen (§§ 84–91) in Kants Kritik der Urteilskraft. Für Rudolf Langthaler (2013): 64 ff. 8 Schelling, Ideen (1797), II: 51. 6 7

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in alle praktischen Verhältnisse, die damit verbunden sind, zu treten; […] wüßte ich endlich nicht, daß meine moralische Existenz erst durch die Existenz anderer moralischer Wesen außer mir Zweck und Bestimmung erhält, so könnte ich, der bloßen Spekulation überlassen, allerdings zweifeln, ob hinter jedem Antlitz Menschheit und in jeder Brust Freiheit wohne« 9 – aus der Empirie jedenfalls können wir es nicht ermitteln. Nun darf jedoch diese unmittelbare Erfahrung bzw. die intellektuelle Anschauung, wie Schelling sie aus dem Primat unseres praktischen In-der-Welt-Seins einführt, keineswegs mit irgendeiner lebensweltlichen Primärerfahrung verwechselt werden, wie sie im Anschluss an Edmund Husserl heute diskutiert wird. Die intellektuelle Anschauung spricht überhaupt nur den unmittelbaren Erfahrungsbezug zu uns als wirklich erkennenden und handelnden Subjekten in der Wirklichkeit aus, ohne damit bereits irgendwelche bestimmte vorwissenschaftliche, sinnliche Lebenserfahrungen festschreiben zu wollen, denn an dieses lebensweltliche Vorverständnis, das Schelling sehr wohl kennt und bedenkt, lässt sich der philosophische Begriff nicht anknüpfen: »Solange ich selbst mit der Natur identisch bin, verstehe ich, was eine lebendige Natur ist, so gut, als ich mein eigenes Leben verstehe; begreife, wie dieses allgemeine Leben der Natur in den mannigfaltigsten Formen, in stufenmäßigen Entwicklungen, in allmählichen Annäherungen zur Freiheit sich offenbart; sobald ich aber mich und mit mir alles Ideale von der Natur trenne, bleibt mir nichts übrig als ein totes Objekt, und ich höre auf, zu begreifen, wie ein Leben außer mir möglich ist.« 10 Die Philosophie kann weder bei dieser abstrakten Trennung stehenbleiben noch zur vorreflexiven Undifferenziertheit zurückkehren, sondern sie hat zu einer begreifenden Einheit von wirklicher Natur und uns in ihr voranzuschreiten. Genau so wenig wie die intellektuelle Anschauung bereits ein bestimmtes lebensweltliches Vorverständnis impliziert, darf sie als eine übersinnliche, spekulative Schau des Weltzusammenhangs missverstanden werden. Mit der intellektuellen Anschauung ist vielmehr nur die in unserem praktischen In-der-Welt-Sein wurzelnde existentielle Bedingung der Möglichkeit benannt, die Wirklichkeit an sich thematisieren zu können. Sie ist somit nur die Grundvoraussetzung 9 10

Schelling, Ideen (1797), II: 52 f. Schelling, Ideen (1797), II: 47 f.

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für die nun erst beginnende Aufgabe der Naturphilosophie, die Natur aus ihren eigenen wirklichen Potenzen zu begreifen. Eine Aufgabe, die schlechterdings nicht durch empirische Wissenschaften zu lösen ist, da diese immer nur – wie es Kant richtig herausgearbeitet hat – von den Kategorien des theoretischen Verstandes her die Natur in ihren erscheinenden Objekten bestimmen können, nicht aber aus ihren eigenen Potenzen des Wirklichseins. Im bewussten Gegensatz zu Kant schreibt also Schelling in der Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799): »Nicht also wir kennen die Natur, sondern die Natur ist a priori, d. h. alles Einzelne in ihr ist zum Voraus bestimmt durch das Ganze oder durch die Idee einer Natur überhaupt. Aber ist die Natur a priori, so muß es auch möglich sein, sie als etwas, das a priori ist, zu erkennen, und dies eigentlich ist der Sinn unserer Behauptung.« 11

2. In der Durchführung dieser Aufgabenstellung der Naturphilosophie, um die sich Schelling seit 1797 in immer wieder erneuten Anläufen und Durchführungen bemüht hat, geht es also keineswegs um eine Schau der Welt, sondern um die – alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Natur berücksichtigende – unnachgiebige Anstrengung des philosophischen Begriffs, die Natur aus den ihr zugrunde liegenden wirklichen Potenzen ihrer eigenen Produktivität gedanklich nachzukonstruieren: »Insofern wir das Ganze der Objekte nicht bloß als Produkt, sondern notwendig zugleich als produktiv sehen, erhebt es sich für uns zur Natur […]. Die Natur als bloßes Produkt (natura naturata) nennen wir Natur als Objekt (auf diese allein geht alle Empirie). Die Natur als Produktivität (natura naturans) nennen wir Natur als Subjekt (auf diese allein geht alle Theorie). Da das Objekt nie unbedingt ist, so muß etwas schlechthin Nichtobjektives in die Natur gesetzt werden, dieses absolut Nichtobjektive ist eben jene ursprüngliche Produktivität der Natur.« 12 Von dieser Voraussetzung aus geht Schelling jenen dialektischen Potenzen der Natur selber nach, die bestimmend sind für die beständig fortwirkende Reproduktion der Natur in ihrer Totalität, die jedoch 11 12

Schelling, Einleitung zu dem Entwurf (1799), III: 279. Schelling, Einleitung zu dem Entwurf (1799), III: 284.

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keineswegs statisch ist, sondern sich in einem sich selbst entfaltenden Prozess entwickelt, in dem die Natur aus sich selber fortschreitend immer differenziertere Gestaltungen des Selbstverhältnisses zu sich selbst hervorbringt, deren Endpunkt das Bewusstsein ist, das bewusste Verhältnis des Menschen zur Natur, in dem die Natur im und durch das Naturwesen Mensch zu einem bewussten Selbstverhältnis zu sich als Totalität kommt. Diese inzwischen wieder sehr aktuell gewordene Problematik wird heute unter dem Stichwort einer Selbstorganisation des Universums (Erich Jantsch) diskutiert. 13 Bereits in dem Verhältnis des Lichts zur Materie liegt ein Reflexionsverhältnis der Natur zu sich selbst vor – der Begriff der Reflexion stammt ja aus diesem Zusammenhang –, und doch ist das Licht der Materie noch völlig äußerlich. Anders im Organismus, hier kommt die Natur bereits im »Produzieren des Produzierens« zu einem realen Selbstverhältnis zu sich. »Die Organisation aber produziert sich selbst, entspringt aus sich selbst. […] Also liegt jeder Organisation ein Begriff zugrunde […]. Aber dieser Begriff wohnt in ihr selbst, kann von ihr gar nicht getrennt werden, sie organisiert sich selbst […]. Nicht ihre Form allein, sondern ihr Dasein ist zweckmäßig […]. Die Organisation aber ist nicht bloße Erscheinung, sondern selbst Objekt, und zwar ein durch sich selbst bestehendes, in sich selbst ganzes, unteilbares Objekt, und weil in ihm die Form von der Materie unzertrennlich ist, so läßt sich der Ursprung einer Organisation, als solcher, mechanisch ebensowenig erklären, als der Ursprung der Materie selbst.« 14 Auch das Bewusstsein wird aus dem organischen Prozess geboren, insofern ist das Bewusstsein etwas, was dem gesamten organischen Prozess, ja dem gesamten Naturprozess, als mögliche Potenz zugrunde liegt. Trotzdem tritt mit ihm, wo es im Menschen Gestalt annimmt, eine neue Potenz des Selbstverhältnisses der Natur zu sich selber auf, und es hebt mit ihm der neue Prozess der menschlichen Geschichte an: »Die verwirklichte Idee ist der Mensch, und er ist der Intention nach nur diese. In ihm soll das ursprünglich Außer-sichGesetzte wieder ganz in sich gesetzt und in sich gebracht sein. Auch das Tier schon ist ein seiner selbst Mächtiges, aber nur auf gewisse Vgl. Marie-Luise Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Naturphilosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissenschaften (1986). 14 Schelling, Ideen (1797), II: 40 f. 13

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Weise und partiell, der Mensch das unbedingt seiner selbst Mächtige. Das sich selbst ganz Besitzende ist das Bewußte. Bewußtsein ist Zusich-Gekommensein, und setzt daher ein Von- und Außer-sich-Gekommensein voraus. […] Aber eben damit, daß der Mensch nur wieder die Idee ist, haben wir ausgesprochen, daß ebenso, wie diese für uns der mögliche Ausgangspunkt alles Werdens war, der Mensch Anfangspunkt eines neuen Prozesses ist. […] Was uns bisher beschäftigte, war Naturphilosophie, aber der Mensch ist die Grenze der Natur, und mit einem neuen Anfang gehen wir notwendig zu einer neuen Welt fort. Diese Welt ist die geistige, die Welt des Geistes oder auch die ideale Seite des Universums.« 15 Wir können hier nicht im Einzelnen auf die unglaublich subtilen und dicht am Puls der damaligen Naturforschung formulierten Entwürfe zur Naturphilosophie eingehen, die Schelling Zeit seines Lebens in verschiedenen Ausgestaltungen entwickelt hat. Sie sind die einzigen bisher vorliegenden Versuche einer durchgeführten Naturdialektik. 16 Schellings Naturphilosophie ragt wie ein gewaltiger Monolith aus der Geschichte der Philosophie der Naturerkenntnis heraus, denn weder vor ihr – auch von Giordano Bruno nicht – noch nach ihr – auch nicht von Ernst Bloch – wird ihr differenziertes Problembewusstsein erreicht. Bis heute sind Schellings naturphilosophische Entwürfe nicht aufgearbeitet, geschweige denn am Puls der heutigen Naturforschung und unserer heutigen Krisenerfahrung weitergeführt.

3. Bevor wir uns der an die Naturphilosophie anschließenden Frage nach dem geschichtlichen Verhältnis der Menschen zur Natur zuwenden, gilt es zunächst jedoch noch ein gängiges Missverständnis auszuräumen: Schelling wird immer wieder – nicht nur von Naturwissenschaftlern, sondern auch von Philosophen – vorgeworfen, dass seine Naturphilosophie reine Spekulation jenseits aller Empirie sei. Nichts ist jedoch unzutreffender und ungerechter als dieser Vorwurf, Schelling, Geschichte der neueren Philosophie (1827), X: 388 f. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996): 66 ff. 15 16

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Die Naturphilosophie Schellings

denn Schelling war weit besser als irgendein anderer der damaligen Gelehrten mit den Naturwissenschaften seiner Zeit vertraut, hat sich immer für die empirische und experimentale Naturforschung interessiert und teilweise auch aktiv an ihr teilgenommen. Die Unverzichtbarkeit auf Empirie und die Notwendigkeit des Experiments werden auch durchgängig von ihm selber hervorgehoben: »Wir wissen nicht nur dies oder jenes, sondern wir wissen ursprünglich überhaupt nichts als durch Erfahrung, und mittelst der Erfahrung, und insofern besteht unser ganzes Wissen aus Erfahrungssätzen.« 17 Und über die experimentale Naturforschung schreibt er: »In die innere Konstruktion der Natur zu blicken, wäre nun freilich unmöglich, wenn nicht ein Eingriff durch Freiheit in die Natur möglich wäre. […] Ein solcher Eingriff in die Natur heißt Experiment. Jedes Experiment ist eine Frage an die Natur, auf welche zu antworten sie gezwungen wird. Aber jede Frage enthält ein verstecktes Urteil a priori […]. – Der erste Schritt zur Wissenschaft geschieht also in der Physik wenigstens dadurch, daß man die Objekte dieser Wissenschaft selbst hervorzubringen anfängt.« 18 Der Vorwurf, dass Schellings Naturphilosophie reine Spekulation sei, ist vor allem deshalb unsinnig und auch gefährlich, weil er unterstellt, Naturphilosophie und Naturwissenschaft seien nur als Subsumtionsverhältnis des einen unter das andere denkbar; d. h. hier wird vorausgesetzt, dass Naturphilosophie immer nur im Dienste der Naturwissenschaft möglich sei, und jede philosophische Position, die sich diesem Ansinnen nicht fügt, wird als ein Unternehmen diffamiert, das sich ihrerseits die Naturwissenschaften einzuverleiben versucht. Schelling dagegen hat sehr klar die getrennte Aufgabenstellung beider Bereiche und ihr Aufeinanderangewiesensein und Zusammenspiel herausgearbeitet; allerdings bei grundsätzlichem Primat der philosophischen Problemstellung: Obwohl es ohne Naturforschung überhaupt kein genaueres Wissen von der Natur geben kann, ist die Naturforschung ohne eine sie leitende naturphilosophische Fragestellung blind. Diese Fragestellung entspringt aber keineswegs von selbst aus der Anhäufung von Erfahrungsmassen, noch kann das Experiment Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), III: 278. 18 Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), III: 276. 17

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Die Naturphilosophie Schellings

zu einer Naturerkenntnis führen, wenn das klärende Problembewusstsein fehlt. Fragestellung und Problembewusstsein werden aber nicht durch Empirie und Experiment erzeugt, sondern erwachsen aus unserem praktischen In-der-Wirklichkeit-Sein, dieses klärt gerade die Naturphilosophie auf – nicht aber die Naturwissenschaft, die ja immer schon von der Trennung von Subjekt und Objekt her argumentiert. »Die absolute, in Ideen gegründete Wissenschaft der Natur [die Naturphilosophie] ist demnach das Erste und die Bedingung, unter welcher zuerst die empirische Naturlehre an die Stelle ihres blinden Umherschweifens ein methodisches, auf ein bestimmtes Ziel gerichtetes Verfahren setzen kann. Denn die Geschichte der Wissenschaft zeigt, daß ein solches Konstruieren der Erscheinungen durch das Experiment, als wir gefordert haben, jederzeit nur in einzelnen Fällen wie durch Instinkt geleistet worden ist, daß also um die Methode der Naturforschung allgemein geltend zu machen, selbst das Vorbild der Konstruktion in einer absoluten Wissenschaft erfordert wird. […] Wissenschaft der Natur [Naturphilosophie] ist an sich selbst schon Erhebung über die einzelnen Erscheinungen und Produkte zur Idee dessen, worin sie eins sind und aus dem sie als gemeinschaftlichem Quell hervorgehen. Auch die Empirie hat doch eine dunkle Vorstellung von der Natur als einem Ganzen, worin Eines durch Alles und Alles durch Eines bestimmt ist.« 19 Schelling lässt also keinen Zweifel daran, dass die Erforschung der Natur in ihren erscheinenden Produkten und das philosophische Bedenken der Natur als Produktivität aus sich selbst, in die wir selbst als wirkliche Subjekte mit einbezogen sind, zwei getrennte Aufgaben sind, die sich jedoch wechselseitig befruchten müssen. Die aus unserem praktischen In-der-Welt-Sein sich erhebende philosophische Fragestellung leitet im Grunde immer schon die Naturforschung an, obwohl dies bisher meist recht unbewusst geschieht; und die Naturforschung wiederum liefert das konkrete Erkenntnismaterial von den wirklichen Erscheinungen der Natur, ohne die keine konkrete naturphilosophische Fragestellung und Aussage möglich wäre. Bei diesem Wechselbezug erweist sich allerdings das philosophische Bedenken der Natur aus ihrem wirklichen Wirkzusammenhang als die übergreifende und zugleich fundierende Problemstellung, denn sie erwächst aus unserem praktischen In-der-Welt-Sein und ist auf dieses praktisch zurückbezogen. 19

Schelling, Methode des akademischen Studiums (1803), V: 323 f.

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Die Naturphilosophie Schellings

Nicht die Philosophie hat sich der wissenschaftlichen Rationalität unterzuordnen, wie es die Wissenschaftstheorie in immer einseitigerer Auslegung Kants fordert. Doch auch die Naturphilosophie kann keineswegs den Anspruch erheben, die Naturwissenschaft zu ersetzen, denn sie bedarf deren eigenständiger Forschungsarbeit. Wohl aber erweist die Naturphilosophie sich als die umgreifendere Frage, da sie den Wirklichkeitszusammenhang der Natur und unser Wirklichsein darin bedenkt. Von einer solchen Naturphilosophie her lässt sich dann erst der Stellenwert einzelner Naturerkenntnisse bestimmen und Forschungsfragen entwickeln, die uns die Natur aus ihr selber und in unserem wirklichen Verhältnis zu ihr begreifbar werden lassen. Sie ist auch die Instanz, von der her eine Kritik der Naturwissenschaft in ihrer bestimmten Form, eine Kritik unseres bestimmten Verhältnisses zur Natur entwickelt werden kann – hier wird somit der volle Sinn des Primats der praktischen Vernunft sichtbar. Doch können wir dies erst dann ganz darlegen, wenn wir auch noch eine zweite Problemstellung, nämlich das aktive Eingreifen des Menschen in die Natur, bedacht haben.

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III. Das Verhältnis Mensch und Natur bei Hegel und Schelling

Bisher haben wir mit Schelling zu zeigen versucht, dass wir berechtigt sind, über die wissenschaftliche Erkenntnis der Erscheinungswelt hinaus die Natur in ihrem Wirklichsein an sich zu bedenken, da wir durch unser eigenes Wirklichsein einen unmittelbaren Bezug zu ihr haben. Die Naturphilosophie steht somit vor der Aufgabe, die Natur aus den Potenzen ihrer eigenen Produktivität und in ihrem eigenen Gestaltungsprozess zu bedenken, beginnend bei der Potenz der Materie – »Die Materie ist das allgemeine Samenkorn des Universums, worin alles verhüllt ist, was in den späteren Entwicklungen sich entfaltet« – über die Potenzen der »dynamischen Prozesse« sowie des sich reproduzierenden »Organismus« bis hin zur Potenz des Bewusstseins, das ganz und gar aus der Natur geworden ist – »die Natur hat von ferne schon die Anlage gemacht zu dieser Höhe, welche sie durch die Vernunft erreicht«. 1 Sind wir aber einmal beim Bewusstsein angelangt, so beginnt – wie wir hörten – die neue Prozessreihe der menschlichen Geschichte, die nicht mehr in den Potenzen der Natur, sondern in den eigenen Potenzen des Bewusstseins zu bestimmen ist; die Naturphilosophie endet und geht in die Philosophie des Geistes über. Eigentümlicherweise hat Schelling diesen Teil seines Systems lediglich skizzenhaft angedeutet – am weitesten geht er auf die Philosophie des Geistes, die Philosophie der »idealen Welt und ihre Potenzen«, in seiner Würzburger Vorlesung von 1804 ein. 2 Doch behandelt er auch hier im »Wissen«, »Handeln« und der »Kunst« nur die Potenzen des »subjektiven Geistes«, während der »Staat« – und somit die Potenzreihe des »objektiven Geistes« (Hegel) – lediglich abschließend genannt wird. Leider hat Schelling niemals die grundsätzlichen Ausführungen zur Geschichtsphilosophie, die er bereits im System des transzendenSchelling, Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses (1800), IV: 76. Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804), VI: 131 ff. 1 2

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Das Verhältnis Mensch und Natur bei Hegel und Schelling

talen Idealismus (1800) vorgelegt hat, in eine Realphilosophie der menschlichen Praxis und Geschichte übersetzt. Denn ab der Schrift Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit von 1809 3 schwenkt Schelling ganz auf die Linie der Religionsschrift von Kant ein und thematisiert die geschichtliche Verwirklichung des Menschen nur noch im Kontext einer philosophischen Theologie. Aus diesem Grund ist es angezeigt, hier auf die Jenaer Systementwürfe von Hegel einzugehen.

1. Hegel hat – 1801 nach Jena kommend – sich unglaublich schnell in die damalige Kontroverse zwischen Fichte und Schelling eingearbeitet, Schellings Naturphilosophie in ihren Anfängen rezipiert und – von den gesellschaftsphilosophischen Implikationen seiner eigenen bisherigen religionsphilosophischen Arbeiten her und im völligen Einverständnis mit Schelling – sich vor allem in die Ausarbeitung des noch nicht ausgefüllten Systemteils der Philosophie des Geistes gestürzt. Wir können also mit Hegels Entwürfen gerade jene Lücke ausfüllen, die Schellings Schriften offenlassen. Gleich zu Beginn von Hegels frühen Vorlesungsmanuskripts zur »Philosophie des Geistes« von 1803/1804, die unmittelbar an die vorherigen Ausführungen zur Naturphilosophie anknüpfen, wird deutlich, dass es hier nicht um eine Bewusstseinsphilosophie des Individuums geht, sondern um die »organisierenden Momente« des menschlichen Bewusstseins schlechthin, die konstitutiv sind für den »lebendigen Geist des Volkes«, über dessen Entwicklung die Geschichte als gesellschaftliche Menschwerdung voranschreitet. So erweist sich die Realphilosophie des Bewusstseins bzw. Geistes bei Hegel von Anfang an als Gesellschaftsphilosophie oder genauer als Geschichtsphilosophie des Menschen als Gattungswesen. Zwar ist der Mensch, das Bewusstsein, aus der Natur hervorgegangen – dies hatte ja die Naturphilosophie gezeigt –, aber das geschichtliche Werden des Menschen zum Menschen ist doch ganz und gar seine eigene gesellschaftliche Tat, ist also nicht durch die Natur festgelegt. Im Gegenteil, die für die geschichtliche Menschwerdung konstitutiven Potenzen des Bewusstseins sind gerade dadurch ge3

Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), VII: 331 ff.

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Das Verhältnis Mensch und Natur bei Hegel und Schelling

kennzeichnet, dass sie sich durch Negation der Naturbestimmtheit aus dieser befreien. »Bisher in der Natur, worin der Geist nicht als solcher existiert, sind wir in unserm Erkennen der existierende Geist der Natur gewesen, der in ihr nicht als Geist existiert, sondern in ihr als verborgen, nur als ein andres seiner selbst ist. Was in der Sphäre des Geistes ist, ist seine eigne absolute Tätigkeit [… und] muß als ein Erkennen des Geistes selbst erkannt werden. Oder [ist] sein Werden, d. h. seine bloß negative Beziehung auf die Natur. Diese negative Beziehung auf die Natur, ist [die] negative Seite des Geistes überhaupt, oder wie er als dies Negative sich in sich organisiert.« 4 Die allem kulturellen Leben und geschichtlichen Werden zugrunde liegenden »organisierenden Momente« sind als Potenzen des Bewusstseins selbst Formen tätiger Negation jeder bloß naturhaften Bestimmtheit des menschlichen Lebens. Hegel nennt sie auch »Mitten« und meint damit sowohl die vermittelnde Auseinandersetzung des Bewusstseins mit der Natur – über die nun aufgebrochene Kluft hinweg – als auch die gesellschaftliche Vermitteltheit zwischen den Individuen, in der sich das Bewusstsein als Allgemeines realisiert. »Indem wir also die Gegliederung des Bewußtseins zu seiner Totalität erkennen, so erkennen wir […] an der Realität seiner Momente eine Organisation seiner Formen als Mitten. […] Jene erste gebundene Existenz des Bewußtseins als Mitte ist sein Sein als Sprache, als Werkzeug und das Gut. Oder als einfaches Einssein: Gedächtnis, Arbeit und Familie.« 5 Aus seinen tätigen Potenzen und in den Formen seiner Mitten organisiert das Bewusstsein seinen eigenen Lebenszusammenhang gleich einer zweiten Natur. Alles, was wir von der Natur wissen, was für uns Natur ist, kann dies immer nur vermittelt über die Erkenntnis, die Sprache, die Wissenschaft sein. Es gibt für uns kein Wissen von der Natur außerhalb des Bewusstseins und der Sprache. Aber nicht nur in den theoretischen Formen des Bewusstseins durch das tätige Denken und die Sprache als seiner realgewordenen Gestalt organisiert sich für uns das Wissen von der Welt, sondern ebenso findet in der tätigen Arbeit und dem Werkzeug als ihrer realgewordenen Gestalt eine praktische Aneignung und Gestaltung der Welt statt, und schließlich wird in den tätigen Formen des Zusammenlebens in Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Systementwürfe, 3 Bde., I (1803–04/1986): 190 f. 5 Hegel, Jenaer Systementwürfe, I (1803–04/1986): 191 ff. 4

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Das Verhältnis Mensch und Natur bei Hegel und Schelling

der Familie sowie in ihrem Besitz und ihrer Güterordnung der menschliche Zusammenhang als menschlicher strukturiert. Nur das Moment der Arbeit und des Werkzeugs sei an dieser Stelle in wenigen Strichen charakterisiert, da hieran unser praktischtechnischer Umgang mit der Natur reflektiert werden kann: Die Arbeit schiebt sich als bewusste Tätigkeit zwischen das Bedürfnis und seine Befriedigung und erhält im Werkzeug, in der materialisierten Arbeitstechnik der Produktionsmittel, ihre über die jeweilige Arbeitstätigkeit hinaus bleibende Gestalt. Durch die Arbeit wirkt der Mensch nicht nur verändernd auf die Natur ein – stellt also einen bewussten, seinen Zwecken dienenden Naturzusammenhang her –, sondern er verändert sich durch die Arbeit auch selber. 6 Bereits das Werkzeug, das selbst erarbeitete Arbeitsinstrument, ist eine List, mit der der Mensch seine natürliche Arbeitskraft vermehrt und gleichzeitig seine Anstrengung vermindern kann, aber dies verändert den Arbeitsvorgang »nur der Quantität nach«. Die eigentliche List setzt erst dort ein, wo die Erkenntnisse über Naturabläufe in einen Mechanismus umgesetzt werden, durch den die Naturkräfte, »die eigene Tätigkeit der Natur, Elastizität der Uhrfeder, Wasser, Wind angewendet« 7 werden – gemäß den Zwecksetzungen der Menschen. »Hier tritt der Trieb ganz aus der Arbeit zurück; er läßt die Natur sich abreiben, sieht ruhig zu, und regiert nur mit leichter Mühe das Ganze – List.« 8 Dadurch, dass die Natur in ihrem »blinden Tun zu einem zweckmäßigen gemacht wird; – zum Gegenteile ihrer selbst – [zum] vernünftigen Verhalten der Natur-Gesetze in ihrem äußeren Dasein« gebracht wird, dadurch widerfährt der Natur nichts Schlimmes. Ausdrücklich betont Hegel: »Der Natur selbst geschieht nichts – einzelne Zwecke des natürlichen Seins werden zu einem Allgemeinen. Vogel fliegt dahin –« 9. Unwillkürlich werden wir hier an ein Gleichnis von Martin Heidegger aus Die Technik und die Kehre 10 erinnert: Zu Hegels Zeiten wurde die Wassermühle noch in den Fluss gebaut, dem Fluss geschieht dabei nichts, auch nicht den Fischen und Vögeln, die im Fluss Hegel, Jenaer Systementwürfe, I (1803–04/1986): 208 ff. Hegel, Jenaer Systementwürfe, III (1805–06/1987): 190. 8 Hegel, Jenaer Systementwürfe, III (1805–06/1987): 190. 9 Hegel, Jenaer Systementwürfe, III (1805–06/1987): 190. 10 Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962). Hierzu auch Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (1979). 6 7

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Das Verhältnis Mensch und Natur bei Hegel und Schelling

ihre Lebensgrundlage haben, inzwischen werden Ströme in Kraftwerke eingebaut, und es geschieht der Natur sehr wohl etwas, und zwar eine sehr massive Zerstörung ihrer natürlichen Lebenskreisläufe, und die Fische und Vögel verenden. Doch davon wusste Hegel noch nichts, und ihn beschäftigen auch nicht die natur- und geschichtsphilosophischen Probleme, von denen her die Entfremdung des Menschen von der Natur damals schon hätten sichtbar gemacht werden können – wie sie Schelling sehr wohl sieht. Wohl aber beschäftigen ihn – im Anschluss an Adam Smith – politisch-ökonomische Probleme, die durch das Aufkommen der Maschinerie hervorgerufen werden – für die Schelling wiederum keinen Sinn hatte. Bisher haben wir nur ganz abstrakt das Verhältnis des Menschen zur Natur in Arbeit und Werkzeug bedacht, gleichsam nur vom Einzelnen her, der für sich und seine Familie produziert; aber in der gesellschaftlichen Entwicklung stellen sich die Probleme ganz anders dar – wie Hegel treffend herausarbeitet. Keiner arbeitet hier zur unmittelbaren Befriedigung seiner Bedürfnisse, sondern die mannigfaltigen Bedürfnisse erfordern eine differenzierte Arbeitsteilung. Jeder Einzelne arbeitet hier abstrakt für die mannigfaltigen Bedürfnisse in der Gesellschaft, und er tauscht sich für seine Arbeit die ebenso abstrakt produzierten Güter ein, deren er zur Befriedigung seiner Bedürfnisse bedarf: Die Ermöglichung dieses abstrakten Austausches liegt in der »realisierten Abstraktion« des Geldes. 11 Gesamtgesellschaftlich wird durch die Spezialisierung der Arbeiten und die Verfeinerung der Geschicklichkeit des Einzelnen, durch die Kooperation der Arbeiten und durch den Einsatz von Maschinen der Mensch »von seiner Abhängigkeit von der Natur« befreit, für den Einzelnen allerdings stellt sich das Verhältnis anders dar: Durch die fortschreitende »Vereinzelung der Arbeit« in immer kleinere Arbeitsverrichtungen, die dem einzelnen Arbeiter zufallen, wird nicht nur mehr produziert und dadurch der »Wert der Arbeit« verringert, sondern die Arbeit selbst »wird umso absolut toter, sie wird Maschinenarbeit […], und das Bewußtsein der Fabrikarbeiter wird zur letzten Stumpfheit herabgesetzt«. 12 Letztlich gerät also der einzelne Arbeiter in immer größere »blinde Abhängigkeit« von einem Geflecht gesamtgesellschaftlicher Mechanismen. Auch die Unabhängigkeit von der Mühsal der Arbeit durch die Maschine erweist sich für den Einzelnen als Betrug. 11 12

Hegel, Jenaer Systementwürfe, I (1803–04/1986): 229 f. Hegel, Jenaer Systementwürfe, I (1803–04/1986): 230.

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»In der Maschine hebt der Mensch [in der Gesamtgesellschaft] selbst diese seine formale Tätigkeit auf und läßt sie ganz für ihn arbeiten. Aber jeder Betrug, den er gegen die Natur ausübt, und mit dem er innerhalb ihrer Einzelheiten stehen bleibt, rächt sich gegen ihn selbst; was er ihr abgewinnt, je mehr er sie unterjocht, desto niedriger wird er selbst. Indem er die Natur durch mancherlei Maschinen bearbeiten läßt, so hebt er die Notwendigkeit seines Arbeitens nicht auf, sondern schiebt es nur hinaus, entfernt es von der Natur; und richtet sich nicht lebendig auf sie als eine lebendige, sondern es entflieht diese negative Lebendigkeit, und das Arbeiten, das ihm übrig bleibt, wird selbst maschinenmäßiger; er vermindert sie nur fürs Ganze, aber nicht für den einzelnen, sondern vergrößert sie vielmehr, denn je maschinenmäßiger die Arbeit wird, desto weniger Wert hat [sie], und desto mehr muß er auf diese Weise arbeiten.« 13 Die Widersprüche, die Hegel hier aufdeckt und die er später die »entzweite Sittlichkeit« der bürgerlichen Gesellschaft nennt, sind – wie er meint – notwendiges Produkt der gesellschaftlichen Entwicklung, der Differenzierung ihrer Arbeit zur Stillung »der ganzen unendlichen Masse der Bedürfnisse«. Diese Widersprüche, die auch in immer größere »Bequemlichkeit« und Reichtum einerseits und »Stumpfheit« und Armut andererseits treiben, können nicht beseitigt und überwunden werden, wohl aber gemildert und gesteuert durch die »Konstitution« und die Organisation des verfassten Staates. 14 »Das Bedürfnis und die Arbeit in diese Allgemeinheit erhoben, bilden so für sich in einem großen Volk ein ungeheures System von Gemeinschaftlichkeit und gegenseitiger Abhängigkeit, ein sich in sich bewegendes Leben des Toten, das in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin und her bewegt, und als ein wildes Tier einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf.« 15 Fassen wir den Gedankengang Hegels nochmals zusammen: Die menschliche Welt des Geistes kommt gerade dadurch zu sich selbst, dass sie sich zunächst aus ihren eigenen organisierenden Bewusstseinsmomenten in tätiger Negierung der Natur durch Erkenntnis, Arbeit und Familie ihren eigenen Lebens- und Weltzusammenhang aufbaut. Dies ist ein geschichtlicher Entwicklungsprozess, der bei fortschreitender gesellschaftlicher Entfaltung in Widersprüche gerät, 13 14 15

Hegel, Jenaer Systementwürfe, I (1803–04/1986): 228. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1970), 7: 339 ff. Hegel, Jenaer Systementwürfe I (1803–04/1986): 230.

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insbesondere durch die naturwissenschaftlich-technische Entwicklung im industriellen Maßstab. Die Widersprüche liegen für Hegel nicht im Verhältnis des Menschen zur Natur, sondern allein im gesellschaftlichen Verhältnis der Menschen untereinander. Diese Widersprüche können aber überhöhend gebunden werden durch den Staat; in ihm erst ist die Welt des Geistes ganz zu sich selbst gekommen.

2. Obwohl Schelling nirgends auch nur annähernd an den Problemreichtum der Hegelschen Gesellschaftsphilosophie herankommt, müssen wir doch gerade in der Frage nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur, das Hegel allzu schnell als problemlos hinter sich lässt, nochmals auf Schelling zurückgreifen. 16 Auch für Schelling ist das menschliche Bewusstsein aus der Natur emanzipierte Selbstheit; nichts darf ihm durch Natur festgelegt bleiben, alles muss es aus seinen eigenen Potenzen des Erkennens, Handelns und künstlerischen Schaffens heraus entwickeln. Das ganze kulturelle Sein der Menschen ist in seinem geschichtlichen Werden aus den eigenen Momenten des Bewusstseins konstituiert. Im stärker theologischen Kontext der Freiheitsschrift sagt daher Schelling: »Die Selbstheit als solche ist Geist, oder der Mensch ist Geist als ein selbstisches, besonderes (von Gott geschiedenes) Wesen, welche Verbindung eben die Persönlichkeit ausmacht. Dadurch aber, daß die Selbstheit Geist ist, ist sie zugleich aus dem Creatürlichen ins Übercreatürliche gehoben, sie ist Wille, der sich selbst in der völligen Freiheit erblickt, nicht mehr Werkzeug des in der Natur schaffenden Universalwillens, sondern über und außer aller Natur ist.« 17 Gleichwohl gilt weiterhin, was Schelling bereits in der Naturphilosophie aufzeigte: »weil jeder folgende Moment den vorhergehenden als den, auf welchem er ruht, festhält – wie die Materie den Stoff, der Organismus die Materie fesselt, so zieht auch die Vernunft wieder den Organismus nach sich – und dies ist der Grund, warum wir, obgleich auf der letzten Höhe, doch nicht reine Geister Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 133 ff. u. 179 ff. 17 Schelling, Wesen der menschlichen Freiheit (1809), VII: 364. 16

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sind. […] Der Idealist hat Recht, wenn er die Vernunft zum Selbstschöpfer von allem macht, denn dies ist in der Natur selbst gegründet – er hat die eigne Intention der Natur mit dem Menschen für sich, aber eben weil es die Intention der Natur ist […], ([…] daß der Mensch auf solche Art sich von ihr losreißt!) – wird jener Idealismus selbst wieder zum Schein.« 18 Wenn diese Doppelbestimmtheit des menschlichen Seins: aus und in den Gesamtzusammenhang der Natur und aus und durch die Selbstheit der eigenen Freiheit, in der Weise ignoriert wird, dass sich der Wille des Menschen schlechthin absolutsetzt, dann kommt es, wie Schelling in der Freiheitsschrift darlegt, nicht nur zu einer Entfremdung des Menschen von Natur und Gott, sondern diese Selbstsucht des Menschen erweist sich als das absolut Böse, das letztlich in seiner »Selbstvernichtung« enden muss: »Hieraus entsteht der Hunger der Selbstsucht, die in dem Maß, als sie vom Ganzen und von der Einheit sich lossagt, immer dürftiger, armer, aber eben darum begieriger, hungriger, giftiger wird. Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, daß er creatürlich zu werden strebt, eben indem er das Band der Creatürlichkeit vernichtet, und aus Übermut, alles zu sein, ins Nichtsein fällt.« 19 Überall, wo der Mensch die Freiheit seiner Selbstbestimmung in der Weise überzieht, dass er allein aus sich selbst sein will und sich nur vor sich selbst verantwortlich glaubt, was zugleich eine praktische Negation des lebendigen Gesamtzusammenhangs impliziert, aus dem heraus auch der Mensch lebt und in dem er seinen Auftrag als Mensch geschichtlich zu erfüllen hat – überall dort also entscheidet er sich für das Böse. Dies gilt nicht nur für den einzelnen Menschen und seine Entscheidungen, sondern auch – wie Schelling ausdrücklich hervorhebt – für den Staat, wo dieser allein als Menschenwerk begriffen wird und somit nur den absolutgesetzten kollektiven Willen der Menschen durchzusetzen strebt. 20 Nur dort kann dieser tödliche Widerspruch überwunden werden, wo der Mensch seine dialektische Doppelbestimmtheit aus Natur und Freiheit im Einklang mit dem umfassenderen Wirkzusammenhang der Natur und in Verantwortung für dieses Ganze zu verwirklichen sucht. »Nicht die erregte Selbstheit an sich ist das Böse, sondern nur 18 19 20

Schelling, Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses (1806), IV: 77. Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), VII:390 f. Schelling, Darstellung der rein-rationalen Philosophie (1846 ff.), XI: 530 ff.

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sofern sie sich gänzlich von ihrem Gegensatz, dem Licht oder dem Universalwillen, losgerissen hat. Aber eben dieses Lossagen vom Guten ist erst die Sünde. […] Schließt der Wille des Menschen die aktivierte Selbstheit mit der Liebe ein und ordnet sie dem Licht als dem allgemeinen Willen unter, so entsteht daraus erst die aktuelle, durch die in ihm befindliche Schärfe empfindlich gewordene Güte […]. Die Erregung des Eigenwillens geschieht nur, damit die Liebe im Menschen einen Stoff oder Gegensatz finde, darin sie sich verwirkliche.« 21 Was Schelling hier in einem primär theologischen Fragehorizont aufdeckt, in dem Möglichkeit und Grenzen menschlicher Freiheit im Schöpfungszusammenhang bedacht werden, klärt doch auch sehr grundsätzlich das Problem des Verhältnisses des Menschen zur Natur. Denn Schelling zeigt in der Freiheitsschrift auf, dass das Absolutsetzen des menschlichen Willens, der seine Herkunft aus der und seine Grundlage in der Natur verleugnet, der also die Natur – wie Schelling in deutlicher Anspielung gegen Fichte sagt, die aber auch vorgreifend auf Hegel bezogen werden kann – allein als Material für seine eigenen Zwecksetzungen nimmt, im letzten in einen sich selbst vernichtenden Widerspruch geraten muss.

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Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), VII: 400 f.

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IV. Die Dialektik von Mensch und Natur beim jungen Marx

In den sogenannten Ökonomisch-philosophischen Manuskripten oder auch Pariser Manuskripten von 1844 1, die die philosophische Grundlegung der Marxschen Theorie darstellen, auf der auch die spätere Kritik der politischen Ökonomie 2 aufruht, entwickelt Karl Marx die Dialektik von Mensch und Natur in einer Weise, die als die Synthesis der von uns aufgezeigten Hegelschen und Schellingschen Grundgedanken bezeichnet werden kann. Dabei konnte Marx direkt weder an die Jenenser Manuskripte von Hegel noch an die späte, ausgesprochen materialistische Wende der Schellingschen Philosophie anknüpfen, da beides zu jener Zeit noch völlig unbekannt war. 3 Wohl aber waren ihm die frühen Schriften von Schelling bestens vertraut, in denen allerdings die Entfremdungsproblematik noch nicht vorkommt, und ebenso die Systemschriften und großen Vorlesungen von Hegel, in denen jedoch die Problematik der produktiven Arbeit nur noch am Rande behandelt wird. Der große Einfluss Hegels auf Marx ist wohl unbestritten und bedarf keiner weiteren Hervorhebung. 4 Kaum beachtet wurde daKarl Marx wird im Folgenden mit Kurztitel, Erscheinungs- oder Entstehungsjahr, Band- und Seitenangabe zitiert nach Karl Marx/Friedrich Engels, Werke in 43 Bdn. (1956 ff.). 2 Unter dem Gesamttitel Kritik der politischen Ökonomie werden alle Manuskripte und Schriften von Marx ab 1858 zusammengefasst, in denen Marx sein nie zu Ende geführtes Mammutprojekt auszuarbeiten versucht. Richtig ausgeführt hat er davon nur den Teilband Das Kapital. Erster Band. Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals (1867). 3 Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (1972): 211 ff.; Manfred Frank, Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik (1975); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Ansätze einer materialistischen Kritik der Hegelschen Logik bei Schelling« (1979), in: Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 50 ff.; Rainer Zimmermann, Die Rekonstrukton von Raum, Zeit und Materie. Moderne Implikationen Schellingscher Naturphilosophie (1998). 4 Vgl. Andreas Arndt, Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie (1985). 1

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gegen bisher der tiefgründende Einfluss Schellings. Man überging meist die Hinweise, die Marx selber auf seine Schelling-Studien gegeben hat, weil sie von Marx als Durchgangsposition zu Hegel charakterisiert worden waren. Wir erinnern hier an den oft zitierten Brief von Marx an seinen Vater vom 10. November 1837, wo er von seiner ersten philosophischen Arbeit »Kleanthes, oder vom Ausgangspunkt und notwendigen Fortgang der Philosophie« berichtet: als »ein rüstiger Wanderer schritt ich ans Werk selbst, an eine philosophisch-dialektische Entwicklung der Gottheit, wie sie als Begriff an sich, als Religion, als Natur, als Geschichte sich manifestiert. Mein letzter Satz war der Anfang des Hegelschen Systems, und diese Arbeit, wozu ich mit Naturwissenschaft, Schelling, Geschichte einigermaßen mich bekannt gemacht, […] trägt mich wie eine falsche Sirene dem Feind [der Hegelschen Philosophie] in den Arm.« 5 Hier wird nicht nur die vor den Hegel-Studien liegende Auseinandersetzung mit Schelling ausdrücklich genannt, sondern die ganze Fragestellung und Anlage der eigenen Arbeit, die beim Absoluten beginnt und dann über die Natur zur Geschichte fortschreitet, atmet noch ganz den Geist der Schellingschen Systemphilosophie. Noch deutlicher lässt sich die Beeinflussung durch Schelling in der Dissertation Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie (1841) 6 aufzeigen; zwar ist die Themenstellung durch eine kritische Auseinandersetzung mit Hegels Geschichte der Philosophie motiviert, aber die zentrale, an Epikur diskutierte Dialektik von Natur und Freiheit verweist auf die Grundproblematik der Naturphilosophie Schellings. So trägt diese immer wieder unterstrichene, früheste Hinwendung von Marx zum antiken Materialismus ganz deutlich die Handschrift des naturphilosophischen Anliegens von Schelling. Etwas später, von Ludwig Feuerbachs anthropologischem Materialismus beeindruckt, erhofft sich Marx von Feuerbach eine materialistische Wendung und Fortschreibung der Schellingschen Naturphilosophie, da er sich selber schon ganz und gar der Geschichte und Kritik der Politik verschrieben hat – »Sie sind gerade dazu der Mann, weil Sie der umgekehrte Schelling sind. Der […] aufrichtige Jugendgedanke Schellings, der bei ihm ein phantastischer Jugendtraum geMarx, Brief an den Vater (1837), 40: 9. Marx, Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie (1841), 40: 257 ff.

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blieben ist, er ist Ihnen zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zu männlichem Ernst geworden.« 7 Marx’ Verhältnis zur Philosophie Schellings ist sicherlich ein schon sehr früh durch Hegel und später durch Feuerbach gebrochenes, und doch wirkt die naturphilosophische Position Schellings nachhaltig in seiner eigenen philosophischen Grundlegung weiter, wie wir im Folgenden an den entsprechenden Partien der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte darlegen wollen. 8

1. Für Marx ist die »produktive Tätigkeit der Menschen als Gattungswesen« die entscheidende Potenz, die in der Natur und Geschichte immer schon verknüpft ist, denn in ihr ist sowohl die Naturhaftigkeit des Menschen und seine Eingebundenheit in die Gesamtnatur gefasst als auch die schöpferischen Fähigkeiten der Menschen und ihre gesellschaftliche Verwirklichung in der Geschichte angesprochen. In der produktiven Lebenstätigkeit, der vergegenständlichenden Arbeit und der schöpferischen Praxis offenbart sich einerseits die ganze Besonderheit des Menschen in seiner naturbeherrschenden Potenz als auch andererseits gerade seine unauflösliche Verbindung mit der Natur, deren Teil er doch immer bleibt. Zugleich drückt der Begriff des Gattungswesens auch noch aus, dass der Mensch niemals als Einzelwesen bestimmt werden kann, denn sowohl als naturhaftes als auch als geschichtliches Wesen kann er sich immer nur in den lebenspraktischen Bezügen der Gattung behaupten und verwirklichen. 9 So ist die gesellschaftliche Praxis in ihren naturhaften und geschichtlichen Potenzen die materielle Basis der Bestimmung des Menschen; aber gerade sie schließt die Bestimmungen des Bewusstseins und der Freiheit menschlichen Handelns mit ein. »Die bewußte Lebenstätigkeit unterscheidet den Menschen unmittelbar von der tierischen Lebenstätigkeit. Eben nur dadurch ist er ein Gattungswesen. Marx, Brief an Feuerbach (1843), 27: 420 f. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis. Zur Genesis und Kernstruktur der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis (1981/2018): 145 ff. 9 Vgl. Friedrich Voßkühler, »Natur denken«, in: Heinz Eidam/Frank Hermenau/Dirk Stederoth (Hg.), Kritik und Praxis. Zur Problematik menschlicher Emanzipation (1999). 7 8

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Oder er ist nur ein bewußtes Wesen, d. h. sein eigenes Leben ist ihm Gegenstand, eben weil er ein Gattungswesen ist. Nur darum ist seine Tätigkeit freie Tätigkeit.« 10 Dort, wo der Mensch allein vom Bewusstsein, dem Geist, der Freiheit her bestimmt wird, da tritt nicht nur die Gefahr auf, dass man die sinnliche Basis des menschlichen Lebens vergisst, sondern auch übersieht, dass die menschliche Selbstverwirklichung sich allererst in der materiellen Gestaltung ihrer Lebenspraxis erfüllt; man ignoriert nicht nur die naturhaft-gesellschaftliche Grundlage des menschlichen Lebens, sondern auch die praktischen Aufgaben des Menschseins in Natur und Geschichte. Die Doppelbestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur, die in der produktiven Tätigkeit der Menschen als Gattungswesen impliziert ist, arbeitet Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten in ihren beiden Strängen deutlich heraus. Gleichsam die Hegelsche Argumentation aus dessen Jenenser Vorlesungen aufnehmend, zeigt Marx, dass die Menschen durch Arbeit und Praxis sich ihre Welt aufbauen und Natur für sie nur das ist, was sie in Wissenschaft und Produktion selber hervorgebracht haben. Somit erweist sich die produktive Tätigkeit der Menschen, ihre geistige und körperliche Arbeit, als das Übergreifende über die Natur: »Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens, d. h. eines Wesens, das sich zu der Gattung als seinem eigenen Wesen oder zu sich als Gattungswesen verhält. […] Eben in der Bearbeitung der gegenständlichen Welt bewährt sich der Mensch daher erst wirklich als ein Gattungswesen. Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint [!] die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit. Der Gegenstand der Arbeit ist daher die Vergegenständlichung des Gattungslebens des Menschen: indem er sich nicht nur wie im Bewußtsein intellektuell, sondern werktätig, wirklich verdoppelt und sich selbst daher in einer von ihm geschaffenen Welt anschaut.« 11 Wie sehr Marx die Bearbeitung und Beherrschung der Natur als die unaufgebbare »Bewährung des Menschen als eines bewussten Gattungswesens« auch betont, er selbst weiß – im Gegensatz zur späteren Ideologie des Marxismus und zur Praxis im real existierenden Sozialismus –, dass er hiermit nur die eine Seite des Verhältnisses von 10 11

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 516. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 516 f.

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Mensch und Natur ausspricht, was bereits in der zitierten Stelle durch das »erscheint« zum Ausdruck kommt. Auf der anderen Seite stellt sich das Verhältnis als die uns von Schelling her vertraute Eingebundenheit der produktiven Tätigkeit der Menschen in die Produktivität der Natur dar, in deren lebendigem Zusammenhang überhaupt erst menschliches Leben, Denken und Handeln möglich ist und der auch die gesellschaftliche Praxis in ihrer Geschichte nicht zu entfliehen vermag. »Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben. Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.« 12 Und fast schon wie eine nahezu wörtliche Übernahme der Grundgedanken Schellings klingt es, wenn Marx an anderer Stelle in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten fortfährt: »Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch seine wirklichen, gegenständlichen Wesenskräfte durch seine Entäußerung als fremde Gegenstände setzt, so ist nicht das Setzen Subjekt; es ist die Subjektivität gegenständlicher Wesenskräfte, deren Aktion daher auch eine gegenständliche sein muß. Das gegenständliche Wesen […] schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist. In dem Akt des Setzens fällt es also nicht aus seiner ›reinen Tätigkeit‹ in ein Schaffen des Gegenstandes, sondern sein gegenständliches Produkt bestätigt nur seine gegenständliche Tätigkeit, seine Tätigkeit als die Tätigkeit eines gegenständlichen natürlichen Wesens.« 13 Da für uns heute der aus der Hegelschen Phänomenologie des Geistes aufgenommene Begriff »gegenständlich« einen verdinglichten Beigeschmack hat, sollte er beim Wiederlesen dieser Stelle durch »wirklich« und »wirkend« ersetzt werden, dann kommt die Nähe der Argumentation von Marx zu Schelling erst ganz zum Ausdruck. Marx bestimmt hier die produktive Tätigkeit der Menschen aus der Produktivität der lebendigen Natur. Gleichwohl dringt Marx weder hier noch sonst irgendwo tiefer in die naturphilosophische Problemstellung Schellings ein, um den Naturprozess selber in den Potenzen 12 13

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seiner Selbstorganisation näher zu bestimmen – erst Engels hat, von Marx darin bestärkt, einen solchen Versuch unternommen, der jedoch kläglich scheitern musste, da Engels hierfür nicht über die naturphilosophischen Voraussetzungen verfügte. 14 Ähnlich wie Feuerbach führt Marx die grundlegend naturphilosophische Bestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur nicht am Gesamtprozess der Natur zum Menschen, sondern allein am Menschen aus, erläutert aber an ihm sein Übergriffensein durch die Natur. »Der Mensch ist unmittelbar Naturwesen. Als Naturwesen und als lebendiges Naturwesen ist er teils mit natürlichen Kräften, mit Lebenskräften ausgerüstet, ein tätiges Naturwesen; diese Kräfte existieren in ihm als Anlagen und Fähigkeiten, als Triebe; teils ist er als natürliches, leibliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ein leidendes, bedingtes und beschränktes Wesen, […] d. h. die Gegenstände seiner Triebe existieren außer ihm, als von ihm unabhängige Gegenstände. […] Daß der Mensch ein leibliches, naturkräftiges, lebendiges, wirkliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ist; heißt, daß er wirkliche, sinnliche Gegenstände zum Gegenstand seines Wesens, seiner Lebensäußerung hat oder daß er nur an wirklichen, sinnlichen Gegenständen sein Leben äußern kann.« 15 Anders als Feuerbach bleibt aber Marx nicht bei einer solchen anthropologischen Bestimmung des Menschen stehen, sondern versucht diese mit der geschichtlichen Bestimmung zu vermitteln, dass der Mensch gesellschaftlich und geschichtlich seine Welt selbst erst hervorbringt und dass nichts für ihn wirklich sein kann, was er sich nicht selbst theoretisch und praktisch erarbeitet hat. Marx geht es gerade darum, die Dialektik beider Verhältnisbestimmungen, die uns bei Schelling und Hegel in einseitiger Betonung entgegentraten, in ihrer unaufhebbaren Verschränkung aufzuweisen. Und so fügt er ganz bewusst zur eben zitierten Aussage, dass der Mensch »unmittelbar Naturwesen« sei, direkt anschließend die Gegenaussage hinzu, dass es für den Menschen überhaupt keine unmittelbare Natur, weder in ihm noch außer ihm geben kann, da die ganze menschliche Welt eine durch seine gesellschaftliche und geschichtliche Produktion immer schon selbst vermittelte ist. »Aber der Mensch ist nicht nur 14 Friedrich Engels, Dialektik der Natur (1886/1925), 20: 307 ff. Engels wird – wie Marx – mit Titel, Band- und Seitenangaben zitiert nach der Ausgabe Karl Marx/ Friedrich Engels, Werke in 43 Bdn. (1956 ff.). 15 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 578.

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Naturwesen, sondern er ist menschliches Naturwesen; d. h. für sich selbst seiendes Wesen, darum Gattungswesen, als welches er sich sowohl in seinem Sein als in seinem Wissen bestätigen und betätigen muß. Weder sind also die menschlichen Gegenstände die Naturgegenstände, wie sie sich unmittelbar bieten, noch ist der menschliche Sinn, wie er unmittelbar ist, gegenständlich ist, menschliche Sinnlichkeit, menschliche Gegenständlichkeit. Weder die Natur – objektiv – noch die Natur subjektiv ist unmittelbar dem menschlichen Wesen adäquat vorhanden. Und wie alles Natürliche entstehen muß, so hat auch der Mensch seinen Entstehungsakt, die Geschichte, die aber für ihn eine gewußte und darum als Entstehungsakt mit Bewußtsein sich aufhebender Entstehungsakt ist. Die Geschichte ist die wahre Naturgeschichte des Menschen. – (Darauf ist zurückzukommen.)« 16 Auch wir müssen darauf nochmals zurückkommen, doch bereits aus dem bisher in Erinnerung Gerufenen wird deutlich, dass Marx, ganz ähnlich wie der junge Hegel, die produktive Tätigkeit als die wirkliche, gesellschaftliche und geschichtliche Hervorbringung des Menschen und seiner Welt durch die Menschen begreift, wobei die produktive Tätigkeit als der Inbegriff aller drei von Hegel gesonderten Momente: der theoretischen Erkenntnis, der praktischen Hervorbringung und der zwischenmenschlichen Beziehungen, gefasst wird; die produktive Tätigkeit der Menschen, ihre gesellschaftliche Praxis, ist das Hervorbringende aller menschlichen Lebenszusammenhänge, und der Fortgang dieser bewussten, schöpferischen Produktion der Menschen ist es, was wir gemeinhin Geschichte nennen. Aber im Gegensatz zu Hegel und darin sehr viel stärker Schelling verbunden, erkennt Marx, dass die produktive Tätigkeit, die gesellschaftliche Praxis, nicht nur, indem sie das Menschliche hervorbringt, tätige Negation der Natur ist, sondern dass sie darin noch ein Teil der Produktivität der Natur selbst bleibt, dass die Geschichte als Gestaltung der Welt durch die Menschen doch immer Teil der sie übergreifenden Naturgeschichte ist, die in und durch den Menschen als Gattungswesen zu einem bewussten produktiven Verhältnis zu sich selbst kommt. Natur ist nicht nur das, was aller menschlichen Tätigkeit vorausliegt und gegenübersteht, sondern auch das, was in dieser selbst lebendig fortwirkt. So führt das Bewusstwerden der Menschen, dass sie es sind, die durch gesellschaftliche Praxis Geschichte machen, zugleich zu der Einsicht, dass sie dies nur können 16

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im Einklang mit der in ihnen selbst wirksamen Produktivität der Natur. Wir sind in der Interpretation der bisher vorgelegten Textstellen etwas vorausgeeilt; zunächst besagt der letzte zitierte Satz nur, dass der Mensch von der Natur zwar in die Potenz des Menschseins gestellt ist, diese Potenz jedoch erst wirklich durch die eigene produktive Tätigkeit der Gattung in der Geschichte bewusst hervorgebracht werden kann. Zwar liegt die Bestimmung des Menschseins als ein durch die gesellschaftliche Praxis selbst erst werdendes Wesen, worin sowohl die Verwirklichung der menschlichen Natur als auch die gesellschaftliche Menschlichkeit impliziert ist, der Substanz nach allem menschlichen Dasein und aller menschlichen Lebenstätigkeit zugrunde, ist aber unmittelbar noch keineswegs bewusst realisiert, d. h. die Menschen sind keineswegs naturwüchsig die bewussten Subjekte ihrer gesellschaftlichen Geschichte und daher auch nicht die Subjekte ihres naturhaften Seins in der Natur – dieses zu werden ist jedoch ihre Aufgabe. Gegenwärtig ist jedoch unser natürliches und gesellschaftliches Leben – bis hin zu den menschlichen Bedürfnissen und der menschlichen Sinnlichkeit, bis hin zur Aneignung der Natur und schöpferischen Produktion, bis hinein in die Beziehungen der Menschen zu den Menschen – noch geprägt durch eine Entfremdung der gesellschaftlichen Lebenstätigkeit, durch die »entfremdete Arbeit«. Diese entfremdete gesellschaftliche Praxis betrifft auch das Verhältnis des Menschen zur Natur, zu seiner eigenen und zur Gesamtnatur. Wir können an dieser Stelle nicht die ganze Problematik der Entfremdung der gesellschaftlichen Praxis und den revolutionären Auftrag ihrer Aufhebung darlegen, wie sie Marx in den Ökonomischphilosophischen Manuskripten entwickelt 17, sondern nur aufzeigen, dass die Entfremdung für Marx von Anfang an nicht nur ein gesellschaftliches Problem darstellt, sondern immer auch eine Entfremdung des Menschen von der Natur impliziert: »Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1. die Natur entfremdet, 2. sich selbst, seine eigene tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens […]. Die entfremdete Arbeit macht also: Vgl. Joachim Israel, Der Begriff Entfremdung. Zur Verdinglichung des Menschen in der bürokratischen Gesellschaft (1972/1985); Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981/2018): 76 ff.

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3. das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungsvermögen, zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen.« 18 Solange die in Gesellschaft produzierenden Individuen, da ihre gesellschaftliche Praxis lediglich naturwüchsig, d. h. gesellschaftlich bewusstlos erfolgt und voranschreitet, sich nicht als die Produzenten ihrer eignen Lebensverhältnisse begreifen, sondern diese als sie bestimmende Gegebenheiten und Zwänge hinnehmen, können sie ihre schöpferischen Potenzen auch nicht im Einklang mit der Produktivität der Natur organisieren; vielmehr verkehren sich auch hier die naturwüchsig produzierten Lebensverhältnisse zu einem Mechanismus, dem sowohl die Natur der Subjekte als auch der natürliche Lebenszusammenhang unterworfen ist. Die Entfremdung des Menschen von der Natur zeigt sich nach Marx nun darin, dass die tägliche Arbeit nicht als schöpferische Entfaltung der eigenen Fähigkeiten und Wesenskräfte, sondern als eine bis zur Entselbstung fortschreitende Aussaugung und Ausbeutung der eigenen Kräfte erfahren wird, dass die produzierten Güter nicht eine bewusst menschliche Gestaltung der Natur, sondern vielmehr eine Zerstückelung natürlicher Lebenszusammenhänge darstellen, dass schließlich das eigene Gattungsleben nicht als eine geschichtlich menschheitliche Aufgabe begriffen wird, sondern bis in die natürlichsten Lebensverhältnisse der Geschlechter – im Doppelsinn dieses Begriffs – hinein einem mörderischen Eigeninteresse unterworfen wird. Da nun aber die Entfremdung nicht etwas ist, was den Menschen qua menschlicher Natur anhaftet, sondern durch ihre eigene gesellschaftliche Praxis – wenn auch bewusstlos, so doch durch sie selber – geschichtlich hervorgebracht ist, so kann sie auch nur durch die gesellschaftliche Praxis der bewusst und solidarisch handelnden Individuen aufgehoben werden – das eben nennt Marx »revolutionäre Praxis«. Diese revolutionäre Praxis ist nun nicht nur bewusster Neubeginn im Verhältnis des Menschen zum Menschen, sondern auch Neubeginn im Verhältnis des Menschen zur Natur: »Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen […] ist als voll18

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endeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen. […] Er ist das aufgelöste Rätsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.« 19 Und an anderer Stelle erläutert Marx: »Das menschliche Wesen der Natur ist erst da für den gesellschaftlichen Menschen; denn erst hier ist sie für ihn da als Band mit dem Menschen, als Dasein seiner für den andren und des andren für ihn, wie als Lebenselement der menschlichen Wirklichkeit, erst hier ist sie da als Grundlage seines eignen menschlichen Daseins. Erst hier ist ihm sein natürliches Dasein sein menschliches Dasein und die Natur für ihn zum Menschen geworden.« 20 Erst wo die Menschen ihrer gesellschaftlichen Praxis als geschichtlicher Aufgabe bewusst nachkommen, kann auch ihre Einbezogenheit in den lebendigen Naturzusammenhang als eine menschheitliche Aufgabe begriffen und erfüllt werden. In einer wahrhaft solidarischen Gesellschaft wird die bewusste produktive Tätigkeit der Menschen füreinander zugleich zu einer bewussten Erfüllung der Produktivität der Natur. Entscheidend hierbei ist, dass nur in bewusster gesellschaftlicher Praxis, letztlich also in einer menschlich verwirklichten Gesellschaft auch das entfremdete Verhältnis vom Menschen zur Natur aufgehoben werden kann, denn nur gesellschaftlich erfüllen wir bewusst unser Leben in der lebendigen Natur: »Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.« 21 Hier nun haben wir im Text eingeholt, was wir vorweg schon als die Aufhebung der geschichts- und naturphilosophischen Problemstellung durch die Marxsche Praxisphilosophie kennzeichneten. In der gesellschaftlich bewusst übernommenen Verantwortung für die gesellschaftliche Praxis durch die freie solidarische Assoziation der Individuen begreifen diese ihre produktive Tätigkeit nicht nur als gesellschaftlich Gewordenes, sondern zugleich in ihrer natürlichen Potenz aus dem lebendigen Zusammenhang der Natur, das aber be-

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Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 536. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 558. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 558.

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deutet, dass sie nun auch die Natur aus ihr selber begreifen und im Einklang mit ihr produktiv tätig werden können. Die hierin angesprochene Einheit von Natur und Menschlichkeit hat Marx beispielhaft am Verhältnis von Mann und Frau aufgewiesen: »Das unmittelbare, natürliche, notwendige Verhältnis des Menschen zum Menschen ist das Verhältnis des Mannes zum Weibe. In diesem natürlichen Gattungsverhältnis ist das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen, wie das Verhältnis zum Menschen unmittelbar sein Verhältnis zur Natur, seine eigene natürliche Bestimmung ist. In diesem Verhältnis erscheint also sinnlich, auf ein anschaubares Faktum reduziert, inwieweit dem Menschen das menschliche Wesen zur Natur oder die Natur zum menschlichen Wesen des Menschen geworden ist. Aus diesem Verhältnis kann man also die ganze Bildungsstufe des Menschen beurteilen. Aus dem Charakter dieses Verhältnisses folgt, inwieweit der Mensch als Gattungswesen, als Mensch sich geworden ist und erfaßt hat; das Verhältnis des Mannes zum Weib ist das natürlichste Verhältnis des Menschen zum Menschen. In ihm zeigt sich also, inwieweit das natürliche Verhalten des Menschen menschlich oder inwieweit das menschliche Wesen ihm zum natürlichen Wesen, inwieweit seine menschliche Natur ihm zur Natur geworden ist. In diesem Verhältnis zeigt sich auch, inwieweit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis, inwieweit ihm also der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist, inwieweit er in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist.« 22

2. Wenn tatsächlich nicht nur unsere gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse entfremdete sind, sondern auch unser Verhältnis zur Natur ein gestörtes ist, so muss dies auch und vor allem in Naturwissenschaft und Industrie als unseren modernen Formen der geistigen und materiellen Beherrschung der Natur zum Ausdruck kommen. Nun gilt Marx bekanntlich sowohl bei den dogmatischen Marxisten als auch bei deren Gegnern nicht nur als einer, der den wissenschaftlich-technischen Fortschrittsglauben der bürgerlichen Theorie beerbt, sondern diesen sogar noch zur Überzeugung gesteigert hat, 22

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dass bei Aufhebung der hemmenden gesellschaftlichen Verhältnisse sich die Produktivkräfte unbeschränkt expandieren werden; wobei unterstellt wird, dass Wissenschaft und Technik in ihrer gegenwärtigen Form die Produktivkräfte sind, die Marx dabei nur gemeint haben könne. Dass diese Behauptung eine totale Verdrehung der Marxschen Theorie darstellt, soll zunächst an einigen maßgeblichen Stellen aus Marx’ frühen Schriften aufgezeigt werden, um diese Frage danach nochmals im Kontext der Kritik der politischen Ökonomie aufzunehmen. Zur Industrie, den potenzierten, d. h. gegenständlich und gesellschaftlich gewordenen materiellen Produktivkräften der Menschen – also dem, was Hegel »Werkzeug« genannt hat –, sagt Marx in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten: »Man sieht, wie die Geschichte der Industrie und das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte […] ist, die bisher nicht in ihrem Zusammenhang mit dem Wesen des Menschen, sondern immer nur in einer äußern Nützlichkeitsbeziehung gefaßt wurde, weil man – innerhalb der Entfremdung sich bewegend – nur das allgemeine Dasein des Menschen, die Religion, oder die Geschichte in ihrem abstrakt-allgemeinen Wesen, als Politik, Kunst, Literatur etc., als Wirklichkeit der menschlichen Wesenskräfte und als menschliche Gattungsakte zu fassen wußte. In der gewöhnlichen, materiellen Industrie (– die man ebensowohl als einen Teil jener allgemeinen Bewegung fassen, wie man sie selbst als einen besonderen Teil der Industrie fassen kann, da alle menschliche Tätigkeit bisher Arbeit, also Industrie, sich selbst entfremdete Tätigkeit war –) haben wir unter der Form sinnlicher, fremder, nützlicher Gegenstände, unter der Form der Entfremdung, die vergegenständlichten Wesenskräfte des Menschen vor uns. […] Was soll man überhaupt von einer Wissenschaft denken, die von diesem großen Teil der menschlichen Arbeit vornehm abstrahiert und nicht in sich selbst ihre Unvollständigkeit fühlt, solange ein so ausgebreiteter Reichtum des menschlichen Wirkens ihr nichts sagt, als etwa, was man in einem Wort sagen kann: ›Bedürfnis‹, ›gemeines Bedürfnis!‹ ?« 23 Hier wird gegen zwei Entfremdungserscheinungen argumentiert, und das erschwerte wohl bisher das Verständnis dieser Textstelle. Zunächst wird gegen jene entfremdete Philosophie und Wissenschaft des Menschen polemisiert, die die schöpferische Praxis der 23

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Menschen immer nur in den Gestalten der Politik, Kunst, Literatur, Religion betrachtete und von der materiellen Produktion, diesem »großen Teil der menschlichen Arbeit« mit ihrem »so ausgebreiteten Reichtum des menschlichen Wirkens« einfach abstrahierte. Demgegenüber betont Marx, dass gerade in der produktiven Bearbeitung der Natur die Bewährung des Menschen als Gattungswesen zum Ausdruck kommt, dass »das gewordne gegenständliche Dasein der Industrie das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte« ist. Ja, man kann sogar sagen, dass die materielle Produktion nicht nur einen großen Teil der menschlichen Arbeit neben den anderen Tätigkeitsformen ausmacht, sondern dass sie die allgemeine Bewegung der Entwicklung der menschlichen Wesenskräfte selbst ist, an der jene anderen Gestaltungen menschlicher Tätigkeit letztlich teilhaben. Damit aber kommen wir nun zum zweiten hier angesprochenen Problem: Obwohl die produktive Bearbeitung der Natur die Bewährung des Menschen und Entfaltung seiner materiellen und geistigen Wesenskräfte darstellt, die der Substanz nach jeder Gesellschaft, jeder geschichtlichen Epoche zugrunde liegt, so ist sie doch in ihren bisherigen geschichtlichen Ausformungen, und zwar durchaus in steigendem Maße, sich selbst entfremdet: »In der gewöhnlichen, materiellen Industrie […] haben wir unter der Form sinnlicher, fremder, nützlicher Gegenstände, unter der Form der Entfremdung, die vergegenständlichten Wesenskräfte des Menschen vor uns.« Auch und gerade die kapitalistische Industrie wirkt in dieser Form der Entfremdung, und zwar nicht nur durch ihre Ausbeutung der Wesenskräfte der unmittelbaren Produzenten, sondern auch – wie Marx bereits 1843 an anderer Stelle über die »Herrschaft des Privateigentums« sagt – durch »die wirkliche Verachtung, die praktische Herabwürdigung der Natur«. 24 Die Doppelgestalt der Industrie, einerseits der Substanz nach die unaufhebbare Grundlage und das Vorantreibende der Entfaltung der menschlichen Wesenskräfte zu sein, andererseits aber in ihrer gegenwärtigen entfremdeten Gestalt »die Menschen wie die Natur auszubeuten«, diese Doppelgestalt hat Marx sehr deutlich in einer ca. 1845/1846 geschriebenen, jedoch erst 1972 erstmals veröffentlichten Rezension von Friedrich Lists Buch Das nationale System der politi-

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Marx, Zur Judenfrage (1843), l: 375.

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schen Ökonomie (1841) dargelegt 25: »Es ist allerdings möglich, die Industrie unter einem ganz andern Gesichtspunkt zu betrachten, als unter dem Gesichtspunkt des schmutzigen Schacherinteresses, worunter sie nicht nur der einzelne Kaufmann, der einzelne Fabrikant, sondern die fabrizierenden und handelnden Nationen heutzutage wechselseitig betrachten. Man kann sie betrachten als die große Werkstätte, worin der Mensch sich selbst, seine eignen und die Naturkräfte erst aneignet, sich vergegenständlicht, sie die Bedingungen zu einem menschlichen Leben geschaffen hat. Wenn man sie so betrachtet, so abstrahiert man von den Umständen, innerhalb deren heute die Industrie tätig ist, innerhalb deren sie als Industrie existiert, man steht nicht in der industriellen Epoche, man steht über ihr, man betrachtet sie nicht nach dem was sie heute für den Menschen ist, sondern nach dem, was der heutige Mensch für die Menschheitsgeschichte, was er geschichtlich ist, man erkennt nicht die Industrie als solche, ihre heutige Existenz an, man erkennt vielmehr in ihr die ohne ihr Bewußtsein und wider ihren Willen in ihr liegende Macht an, die sie vernichtet und die Grundlage für eine menschliche Existenz bildet. […] Die Anerkennung ist dann zugleich die Erkenntnis, daß ihre Stunde gekommen ist, abgeschafft zu werden oder die materiellen und gesellschaftlichen Bedingungen aufzuheben, innerhalb deren die Menschheit als ein Sklave ihre Fähigkeiten entwickeln mußte.« 26 Was Marx hier sagen will, ist gerade nicht, daß man die Doppelgestalt der Industrie legitimerweise in zwei getrennte Perspektiven zerlegen darf. Natürlich kann man – er nennt es später in der Einleitung zu den Grundrissen eine »verständige Abstraktion« 27 – von der gegenwärtigen entfremdeten Form der Industrie absehen und nur ihre Entfaltungsgeschichte betrachten, aber damit blendet man unweigerlich die brutale Form aus, die »sie heute für den Menschen« hat. Sieht man dagegen nur diese Form, nur die schmutzigen »Umstände, innerhalb deren heute die Industrie tätig ist«, so würde man – ob man will oder nicht – diese affirmieren, man würde nicht die »in ihr liegende Macht« erkennen, die über die gegenwärtige Form der

Karl Marx, »Über F. Lists Buch ›Das nationale System der politischen Ökonomie‹«, in: K. Marx/Fr. Engels, Kritik der bürgerlichen Ökonomie. Neues Manuskript von Marx und Rede von Engels über F. List (1845–46/1972): 31. 26 Marx, Über F. List (1845–46/1972): 27 f. 27 Marx, Grundrisse. Einleitung (1857), 42: 20. 25

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Industrie hinausdrängt, ihre Abschaffung ermöglicht und damit »eine menschliche Existenz« einleiten könnte. Genauso wenig wie es angeht, die Doppelgestalt der Industrie in zwei getrennte Perspektiven aufzulösen, dürfen aber die in ihr liegenden beiden Momente zu einem Einerlei zusammengeworfen werden: »Die saintsimonistische Schule hat uns ein lehrreiches Beispiel gegeben, wohin es führt, wenn man die produktive Macht, welche die Industrie wider ihren Willen und bewußtlos schafft, der heutigen Industrie zugute schreibt und beides verwechselt, die Industrie und die Mächte, die die Industrie bewußtlos und willenlos ins Leben beruft, die aber erst zu menschlichen Mächten, zur Macht des Menschen werden, sobald man die Industrie abschafft. Es ist dieselbe Abgeschmacktheit, als wollte der Bourgeois sich zugute schreiben, daß seine Industrie das Proletariat und im Proletariat die Macht einer neuen Weltordnung schaffe. Die Naturmächte und sozialen Mächte, welche die Industrie ins Leben beschwört (ruft), stehen ganz in demselben Verhältnis zu ihr wie das Proletariat. Heute noch sind sie seine Sklaven, in denen er nichts als Träger (Werkzeuge) seiner eigennützigen (schmutzigen) Profithabsucht sieht, zerbrechen sie morgen ihre Ketten und zeigen sich als Träger einer menschlichen Entwicklung, die ihn mit seiner Industrie in die Luft sprengt, die nur die schmutzige Hülle angenommen hatte, die er für ihr Wesen hielt, bis der menschliche Kern Macht genug gewonnen hatte, sie zu sprengen und in seiner eigenen Gestalt zu erscheinen.« 28 Allen jenen, die behaupten, Marx habe geglaubt, das Kapital oder die Industrie werde sich irgendwie durch sich selbst aufheben oder durch die Krisen, die es erzeugt, sich von ganz allein in die Luft sprengen, sei gerade diese Rezension zur dringenden Lektüre anempfohlen. Das Kapital und von ihm abhängig die Industrie – oder wie Marx später sagt: die Maschinerie – kann nur aufgehoben werden durch die bewusstgewordenen und gemeinsam handelnden Individuen, die sich die vergegenständlichten und vergesellschafteten Naturkräfte und sozialen Kräfte als ihre eignen Produktivkräfte gemeinsam aneignen und die dadurch zu »Trägern einer menschlichen Entwicklung« werden. Aber gerade dadurch, dass sich die Individuen die in der Industrie blind und ziellos gewachsenen Naturkräfte und sozialen Kräfte bewusst als ihre eigenen Produktivkräfte aneignen und in gemein28

Karl Marx, Über F. List (1845–46/1972): 29.

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samer gesellschaftlicher Verantwortung einsetzen, erkennen sie diese als ihre gesellschaftlichen Naturkräfte, die ihnen nicht nur aus der Natur zugewachsen sind, sondern die sie auch in Verantwortung für die Natur als produktiven Lebenszusammenhang zu erfüllen haben. Kehren wir, um diese Gedanken näher zu erläutern, erneut zu den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten an jene Stelle zurück, wo Marx nun nach dem Hinweis auf die Industrie als dem aufgeschlagenen Buch der menschlichen Wesenskräfte – allerdings »unter der Form der Entfremdung« – auf die Naturwissenschaften zu sprechen kommt; denn nicht erst in der Industrie treten wir der Natur und uns selber als gesellschaftlich Produzierende entfremdet entgegen: Bereits die Naturwissenschaften, deren Wissen ja die Natur der Industrie verfügbar macht, ist einerseits wirkliche Erkenntnis von der Natur, doch andererseits gegenwärtig in einer entfremdeten Gestalt: »Die Naturwissenschaften haben eine enorme Tätigkeit entwickelt und sich ein stets wachsendes Material angeeignet. Die Philosophie ist ihnen indessen ebenso fremd geblieben, wie sie der Philosophie fremd blieben. […] Aber desto praktischer hat die Naturwissenschaft vermittelst der Industrie in das menschliche Leben eingegriffen und es umgestaltet und die menschliche Emanzipation vorbereitet, sosehr sie unmittelbar die Entmenschung vervollständigen mußte.« 29 Auch hier lässt Marx keinen Zweifel daran, dass die Naturwissenschaften, wiewohl sie unser Wissen von der Natur enorm erweitern, in ihrer gegenwärtigen Form abstrakter, von uns losgerissener Naturgesetze, nicht nur »unmittelbar die Entmenschung vervollständigen«, sondern auch die Natur in ihren lebendigen Kräften denaturieren. Die Naturwissenschaften in ihrer gegenwärtigen Form verdinglichen unser Wissen von der Natur und von uns zu einer uns und der Natur fremden Gesetzlichkeit, die uns zu beherrschen scheint, obwohl sie Konstrukt unserer Wissenschaft ist, und die uns über unsere eigene Selbstunterwerfung unter dieses verdinglichte Wissen auch tatsächlich fremdbestimmt. Die abstrakt idealistischen Naturwissenschaften entfremden gerade in ihrer Reduktion auf eine objektive Gesetzmäßigkeit die Natur von uns und unser subjektivgesellschaftliches Leben von der Natur, sie spalten die lebendige Einheit, in der wir in der Natur sind und die Natur in uns ist, in Subjekt und Objekt auf, um Ersteres einem naturwüchsigen Expansions29

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 543.

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mechanismus zu überlassen, dem Letzteres willenlos unterworfen werden kann. Aber auch hier dürfen wir über der entfremdeten Form der gegenwärtigen Gestalt der Naturwissenschaft nicht übersehen, dass auch sie – wenn auch entfremdet – menschliche Erkenntnis von der Natur ist, d. h. dass auch sie aus produktiv geistiger Tätigkeit der Menschen und deren geschichtlichen Auseinandersetzungen mit der Natur erwächst, oder noch anders ausgedrückt: auch diese Form von Naturwissenschaft ist geistige Naturkraft der Menschen in bestimmter geschichtlich-gesellschaftlicher Formbestimmtheit. Gerade diese Einsicht in die Bestimmtheit der Naturwissenschaft aus der gesellschaftlichen Praxis, die selbst einbezogen ist in den lebendigen Naturzusammenhang, ermöglicht es, die Aufhebung der Naturwissenschaft in ihrer gegenwärtigen entfremdeten Gestalt in bestimmter Richtung zu antizipieren und zu betreiben. »Die Industrie ist das wirkliche geschichtliche Verhältnis der Natur und daher der Naturwissenschaft zum Menschen; wird sie daher als exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte gefasst, so wird auch das menschliche Wesen der Natur oder das natürliche Wesen des Menschen verstanden, daher die Naturwissenschaft ihre abstrakt materielle oder vielmehr idealistische Richtung verlieren und die Basis der menschlichen Wissenschaft werden, wie sie jetzt schon – obgleich in entfremdeter Gestalt – zur Basis des wirklich menschlichen Lebens geworden ist, und eine andre Basis für das Leben, eine andre für die Wissenschaft ist von vornherein eine Lüge.« 30 Erst dort, wo wir die Naturwissenschaften als geistige Arbeit aus dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Praxis und diese selber als einen in produktiver Auseinandersetzung mit der Natur werdenden Teilbereich der produktiven Natur begreifen, wird unser Wissen von der Natur zu einem Begreifen der Natur aus sich selber und von uns in ihr. Hier nun steigert sich Marx – wenn auch in Sprache und Argumentation unmittelbar an Feuerbach angelehnt – zur wahrhaft Schellingschen Vision einer auch die menschliche Geschichte mit umfassenden Naturphilosophie, die zugleich eine die Natur umfassende Geschichtsphilosophie ist. In der bewussten gesellschaftlichen Selbstverwirklichung der Menschen in einer befreiten Gesellschaft kommen die Menschen nicht nur zu einem befreiten Verhältnis zu sich selber als Teil der Natur im lebendigen Naturzusammenhang, sondern findet letztlich auch die Produktivität der Natur über die 30

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 543.

77 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

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menschliche Erkenntnistätigkeit zu einem Wissen von sich selbst: »Damit der ›Mensch‹ zum Gegenstand des sinnlichen Bewußtseins und das Bedürfnis des ›Menschen als Menschen‹ zum Bedürfnis werde, dazu ist die ganze Geschichte die Vorbereitungs-Entwicklungsgeschichte. Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später sowohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.« 31 Man hat diesen Satz von Marx oftmals aus dem Zusammenhang gerissen, auf die gegenwärtigen Naturwissenschaften bezogen und somit positivistisch missdeutet. Dabei schließen die nachfolgenden Erläuterungen im Grunde ein solches Missverständnis ausdrücklich aus, da im eklatanten Gegensatz zu den abstrakt idealistischen Naturwissenschaften hier von einer sinnlichen Erfahrung des Menschen in der Natur und der Natur im Menschen ausgegangen wird, die Grundlage für diese noch ausständige Natur-Geschichts-Theorie zu sein hat. »Der Mensch ist der unmittelbare Gegenstand der Naturwissenschaft; denn die unmittelbare sinnliche Natur für den Menschen ist unmittelbar die menschliche Sinnlichkeit […], unmittelbar als der andere sinnlich für ihn vorhandene Mensch; denn seine eigne Sinnlichkeit ist erst durch den andren Menschen als menschliche Sinnlichkeit für ihn selbst. Aber die Natur ist der unmittelbare Gegenstand der Wissenschaft vom Menschen. Der erste Gegenstand des Menschen – der Mensch – ist Natur, Sinnlichkeit, und die besonderen menschlichen sinnlichen Wesenskräfte, wie sie nur in natürlichen Gegenständen ihre gegenständliche Verwirklichung, können nur in der Wissenschaft des Naturwesens überhaupt ihre Selbsterkenntnis finden. Das Element des Denkens selbst, das Element der Lebensäußerung des Gedankens, die Sprache ist sinnlicher Natur. Die gesellschaftliche Wirklichkeit der Natur und die menschliche Naturwissenschaft oder die natürliche Wissenschaft vom Menschen sind identische Ausdrücke.« 32 Ohne Zweifel nimmt Marx hier Gedanken vorweg, die erst wieder Bloch im ausdrücklichen Rückbezug auf Schelling fortgeführt hat. Nach diesem Versuch, die Dialektik des Verhältnisses von Mensch und Natur nachzuzeichnen, wie sie in der philosophischen 31 32

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 544. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 544.

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Grundlegung der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx expliziert wird, seien drei Grenzen dieser Explikation markiert. 1) Obwohl Marx betont, dass der Mensch in seiner gesellschaftlichen Produktivität im Letzten aus der Natur zu begreifen ist, dass der Mensch nicht reines Subjekt seines schöpferischen Handelns ist, sondern aus der Subjektivität seiner natürlichen Wesenskräfte sich zu begreifen hat, so dass also die Wissenschaft der Natur – dort, wo sie nicht mehr entfremdet ist – Fundament der Wissenschaft vom Menschen sein wird, unternimmt Marx doch niemals selber auch nur ansatzweise einen naturphilosophischen Vorstoß, die Natur – wie dies Schelling unternimmt – aus den eigenen Potenzen ihrer Produktivität zu bestimmen. 1843 forderte er allerdings Feuerbach in einem emphatischen Brief auf, dieses grandiose Programm des jungen Schelling materialistisch auf die Füße stellend zu vollenden. Später hat dann Engels diese Aufgabe übernommen, wenn auch keineswegs auf der Höhe der Marxschen Dialektik und ohne Kenntnis der Schellingschen Naturphilosophie, lediglich gestützt auf den viel blasseren Abglanz von ihr in Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 33 und anknüpfend an die damals neueren Erkenntnisse der Naturwissenschaften. Statt mit einer Kritik der Naturwissenschaften zu beginnen, nimmt Engels das naturwissenschaftliche Wissen selbst schon für eine Explikation der Dialektik der Natur, die dadurch zu einer verdinglichten Ontologie des Naturund Geschichtsprozesses gerinnt. Marx jedoch, der sehr sensibel die Problemstellung der Schellingschen Naturphilosophie aufgenommen hat, verbleibt in seinen Explikationen der dialektischen Doppelbestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur thematisch in den Bahnen der materialistischen Anthropologie Feuerbachs, die er allerdings – wie angedeutet – dialektisch-geschichtsmaterialistisch überhöht. 2) Dadurch, dass Marx die Entfremdung von der Natur als Teilmoment der entfremdeten gesellschaftlichen Arbeit bestimmt – wogegen zunächst nichts einzuwenden ist –, verliert er jedoch bei seiner weiteren Analyse der Ausbeutung der Arbeitskräfte die Entfremdung von der Natur – zwar nicht gänzlich, wohl aber weitgehend – aus den Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften 3 Bde., II: Naturphilosophie, 9: 15 ff. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996): 176 ff.

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Augen. Er widmet ihr jedenfalls keine eigene Analyse und bezieht ihre aktive Überwindung nicht ausdrücklich in seine strategischen Überlegungen zur »revolutionären Praxis« mit ein. Um zu klären, ob die Entfremdung von der Natur so unmittelbar mit der gesellschaftlichen Entfremdung zusammenhängt, ist heute beispielsweise sehr viel genauer der Entstehung der neuzeitlichen naturwissenschaftlich-technischen Rationalität und ihrer Wurzeln in einer veränderten gesellschaftlichen Praxis nachzugehen. Aber selbst wenn beides einen gemeinsamen Ursprung hat, kann es – wie es Alfred Sohn-Rethel betont 34 – nicht darum gehen, dass die Problematik der Entfremdung der Natur aus der kritischen Analyse der Gegenwart ausgespart bleibt und dass daher lediglich implizit darauf gesetzt wird, dass eine soziale Umwälzung gleichsam implizit auch das gestörte Verhältnis des Menschen zur Natur wieder richten könne. Denn Entfremdungen können, da sie Entfremdungen der gesellschaftlichen Praxis sind, nur durch ein bewusstes gemeinsames Handeln der Subjekte aufgehoben werden, dies setzt aber eine explizierte kritische Analyse der Entfremdung voraus. Ist also die Praxis der Menschen zur Natur gestört, so kann diese Störung nur dadurch aufgehoben werden, dass sie zunächst bewusst gemacht wird, d. h. in ihren Gründen und Konsequenzen kritisch aufgeklärt wird, denn erst über ihre kritische Bewusstwerdung können die Subjekte ihre Praxis zur Natur radikal verändern. Gerade wenn – wie Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten ausführt – die Aufhebung der Entfremdung von der Natur mit der des Menschen vom Menschen zusammenhängt, so bedarf es einer gründlicheren kritischen Analyse der Konkretionsformen und Konsequenzen der Entfremdung von der Natur, denn erst wenn diese konkret in den Aufgabenhorizont der emanzipativen Bewegung einbezogen werden, kann konsequenterweise das Ziel einer solidarischen Gesellschaft in ökologischer Einbindung in die Natur antizipiert und angestrebt werden. 3) Marx zieht explizit theologische Folgerungen aus der von ihm postulierten Einheit von Natur und Mensch: »Indem aber für den sozialistischen Menschen die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit, als das Werden der Natur für den Menschen, so hat er also den anschaulichen, unwiderstehlichen Beweis von seiner Geburt Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis (1972). Siehe auch Kapitel VII, 2.

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durch sich selbst, von seinem Entstehungsprozeß. Indem die Wesenhaftigkeit des Menschen und der Natur, indem der Mensch für den Menschen als Dasein der Natur und die Natur für den Menschen als Dasein des Menschen praktisch, sinnlich anschaubar geworden ist, ist die Frage nach einem fremden Wesen, nach einem Wesen über der Natur und dem Menschen – eine Frage, welche das Geständnis von der Unwesentlichkeit der Natur und des Menschen einschließt – praktisch unmöglich geworden. Der Atheismus, als Leugnung dieser Unwesentlichkeit, hat keinen Sinn mehr, denn der Atheismus ist eine Negation des Gottes und setzt durch diese Negation das Dasein des Menschen; aber der Sozialismus als Sozialismus bedarf einer solchen Vermittlung nicht mehr; er beginnt von dem theoretisch und praktisch sinnlichen Bewußtsein des Menschen und der Natur als des Wesens. Er ist positives, nicht mehr durch die Aufhebung der Religion vermitteltes Selbstbewußtsein des Menschen.« 35 Mit diesem als praktisch deklarierten, aber letztlich doch rein theoretisch bleibenden Postulat kommt Marx nicht annähernd an die praktische theologische Problemstellung von Kant und Schelling heran, denn diesen ging es darum aufzuzeigen, dass alle menschliche Sinnhoffnung und Sinnverwirklichung praktisch immer schon aus dem Postulat des Daseins Gottes erfolgt. Denn die Synthesis von Dasein und Sinngebung, die der Mensch individuell oder gesellschaftlich in seiner Praxis zu verwirklichen versucht, steht immer schon im Horizont der vorausgesetzten Ermöglichung dieser Synthesis. Denn eine dialektische Einheit von Natur und Geschichte sind ohne eine solche Ermöglichung undenkbar. Dieses praktische Postulat kann weder theoretisch geleugnet noch bewiesen werden, es liegt vielmehr aller versuchten Sinngebung unseres Handelns praktisch zugrunde. Dadurch, dass Marx im Letzten gerade das Problem des Verhältnisses von Mensch und Natur nicht von der praktischen Verantwortlichkeit her bedenkt, sondern bestrebt ist, zu einer wissenschaftlichen Wesensbestimmung der Einheit von Mensch und Natur zu kommen, dadurch erhält seine ganze philosophische Grundlegung – sicherlich nicht intendiert – einen objektivistischen Zug, der sich über Engels verstärkt im ganzen Marxismus durchgesetzt hat. Erst Ernst Bloch durchbricht diesen Objektivismus, fragt wieder von der praktischen Verantwortlichkeit her und kann so einen Schritt tiefer zurückfinden sowohl zu einer materialistischen Wiederaufnahme der Naturphi35

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 546.

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Die Dialektik von Mensch und Natur beim jungen Marx

losophie Schellings als auch zu einer »atheistischen« Rehabilitierung der Religion. 36 Im Horizont dieser Fragen erst wird die Einheit von Natur und Geschichte zu einem praktischen Grundlagenproblem einer kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis.

Ernst Bloch, Atheismus im Christentum. Zur Religion des Exodus und des Reichs (1968). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »›Weit hinaus zu hoffen‹. Kritisches zu Blochs humanem Atheismus«, in: Francesca Vidal (Hg.), »Kann Hoffnung enttäuscht werden?« (1998): 12 ff.

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V. Die Naturproblematik in der Kritik der politischen Ökonomie

An der grundlegenden Dialektik des doppelten Verhältnisses von Mensch und Natur hat sich auch in Marx’ Spätschriften zur Kritik der politischen Ökonomie 1 nichts geändert, doch ist hier die Fragestellung allein auf die kritische Analyse der ökonomischen Basis der gegenwärtigen Gesellschaft in ihrer Negativität und Widersprüchlichkeit konzentriert, und so erscheint auch die Thematisierung der Natur unter dieser eingeschränkten Perspektive. Die Kritik der politischen Ökonomie fragt nicht mehr wie die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte nach den realen Bedingungen der Möglichkeit der Entfremdung, um dadurch die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Aufhebung zu ermitteln. Diese philosophische Grundlegung setzt Marx in der Kritik der politischen Ökonomie bereits als geklärt voraus. Nun geht es ihm darum, die Entfremdung der ökonomischen Basis der gegenwärtigen Gesellschaft in den Mechanismen ihrer Verkehrtheit konkret aufzudecken. Genauer: Marx will zeigen, dass unsere gesellschaftliche Praxis von ihrer ökonomischen Basis her durch das Kapital beherrscht wird. Die »in Gesellschaft handelnden Individuen« werden in ihrer produktiven Tätigkeit bestimmt durch den angesammelten Wert vergegenständlichter Arbeit – denn nichts anderes ist das Kapital –, der sich in der Verfügungsgewalt einzelner Individuen befindet. In dieser Verkehrung, dass die gesellschaftlich produzierenden Individuen vom Produkt menschlicher Arbeit beherrscht werden, liegt der grundlegende Widerspruch unserer gegenwärtigen Gesellschaftsformation. Da nun aber die bürgerliche Politische Ökonomie in Theorie und Praxis diesen grundlegenden Widerspruch ignoriert und die öko-

1 Nochmals sei darauf hingewiesen, dass unter Kritik der politischen Ökonomie die Gesamtheit der Schriften von Karl Marx ab 1858 verstanden wird: Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (1858); Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859); Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Buch I: Der Produktionsprozeß des Kapitals (1867) sowie alle weiteren dazugehörigen Manuskripte.

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Die Naturproblematik in der Kritik der politischen Ökonomie

nomische Basis der gegenwärtigen Gesellschaft als Menschheitsbestimmung schlechthin behandelt, erscheint das Kapital in seiner Wertlogik als das notwendig Bestimmende des gesellschaftlichen Zusammenlebens der Menschen. In der Kritik der politischen Ökonomie arbeitet Marx nun detailliert heraus, dass das Kapital in den Strukturund Bewegungsgesetze seiner Wertlogik, wie sie unserer gegenwärtigen Produktionsweise zugrunde liegen, sich weder aus sich selbst begründen kann, noch durch sich selbst zu erhalten vermag, sondern vielmehr in sich selbst widersprüchlich ist und im Prozess seiner eigenen Reproduktion und Akkumulation diese Widersprüchlichkeit regeneriert und sogar permanent steigert. Daher kann auch der grundlegende Konflikt zwischen den produzierenden Individuen und dem Kapital niemals durch die kapitalistisch bestimmte Politische Ökonomie, sondern grundsätzlich nur durch die sich dieser Widersprüche bewusstgewordenen und gemeinsam handelnden Individuen aufgehoben werden. Wir wollen nicht erneut auf den Stellenwert der Kapitalanalyse innerhalb der Marxschen Gesamttheorie eingehen 2, sondern hier nur so viel andeuten, dass man von der Kritik der politischen Ökonomie keine ontologischen Aussagen über die gesellschaftliche Praxis oder ihr Verhältnis zur Natur erwarten darf. Denn erstens ist die Kritik der politischen Ökonomie keine philosophische Grundlegung, sondern setzt diese – in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten teilweise ausgeführt – immer schon voraus. Bis auf einige wenige grundlegende Andeutungen beschränkt sich die kritische Analyse ganz bewusst allein auf die ökonomische Basis der gegenwärtigen Gesellschaft in ihrer Negativität und Verkehrtheit. Zweitens versteht sie sich vom ersten Satz an als Kritik der gegenwärtigen Ökonomie in der Logik ihrer Entfremdung, d. h. die positive Basis aller gesellschaftlichen Praxis, die ihr selbst natürlich zugrunde liegt, kann in ihr als kritischer Theorie in negativer Absicht selber nur indirekt zur Sprache kommen. Daher kommt es, dass in der Kritik der politischen

Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981/2018): 99 ff.; Hans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die »Kritik der politischen Ökonomie« (1984/2011); Werner Sesink, »Der Wert der Natur«, sowie Hassan Givsan, »›Daß die Natur Wert bilde‹ – Würdigung einer Entdeckung«, beide in: Hans Immler/ Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.). Natur und marxistische Werttheorie (1988).

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Ökonomie die gesellschaftliche Praxis und ihre Eingebundenheit in die Natur, die die substantielle Grundlage aller Gesellschaften ist, bei ihrer Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft nur negativ durch die Kritik hindurch als dasjenige zum Vorschein dringen kann, was das Kapital zu negieren sucht, ohne dies doch je vollständig zu können, da sich das Kapital sonst der eigenen lebendigen Grundlage berauben würde. Das hier nur indirekt zum Vorschein kommende positive Mensch-Natur-Verhältnis ist aber genau das, was in sich die Potenz enthält, die grundlegende Verkehrtheit der gegenwärtigen Verhältnisse durch eine radikale Umwälzung aufzuheben. Die Natur kann also in der Kritik der politischen Ökonomie entweder nur als vom Kapital ignorierte, aber grundsätzlich nicht eliminierbare Naturgebundenheit der menschlichen Arbeit als die unaufhebbare Grundlage allen gesellschaftlichen Lebens sichtbar werden, oder in ihrer Verfügbarkeit für das Kapitel bzw. ihrer Zurichtung durch das Kapital als Objekt der Ausplünderung bzw. des Abfalls in Erscheinung treten – also nie selber als Natur thematisch werden.

1. Wenn man in dieser Weise berücksichtigt, in welch eingeschränkter Perspektive überhaupt in der Kritik der politischen Ökonomie von der Natur die Rede sein kann, so ist man einerseits überrascht festzustellen, wie eindeutig und unübersehbar Marx selber in seinen späteren Schriften die grundlegende Bedeutung der Dialektik von gesellschaftlicher Praxis und Natur herausstellt, und andererseits erstaunt, wie wenig davon in die Marxismen aller Schattierungen Eingang gefunden hat, denn entweder wird in den Marxismen die Natur objektivistisch zum Material der gesellschaftlichen Praxis denaturiert – wie bei Plechanow, Kautsky, Bucharin und dem ganzen dogmatischen Marxismus –, oder sie wird idealistisch eskamotiert – wie bei Lukács, Sartre, Schmidt und einigen anderen kritischen Gesellschaftstheoretikern. So gilt nach wie vor auch gegen diese marxistischen Theoreme, was Marx selber gegen die bürgerliche Ideologie im sozialdemokratischen Vereinigungsprogramm von Gotha 1875 kritisch eingewandt hat: »Die Arbeit ist nicht die Quelle alles Reichtums. Die Natur ist ebensosehr die Quelle der Gebrauchswerte (und aus solchen besteht doch wohl der sachliche Reichtum!) als die Arbeit, die selbst nur die 85 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Die Naturproblematik in der Kritik der politischen Ökonomie

Äußerung der Naturkraft ist, der menschlichen Arbeitskraft.« 3 Nur sehr wenige marxistische Philosophen haben ausdrücklich die Dialektik von gesellschaftlicher Praxis und Natur bedacht und genauer herausgearbeitet; zu ihnen gehören Max Adler, Karl August Wittfogel, Herbert Marcuse, Henri Lefebvre und vor allem Ernst Bloch. Dort, wo Marx die Arbeit als substantielle Basis des gesellschaftlichen Lebens und seiner geschichtlichen Entwicklung einführt, stellt er zugleich auch ihre Eingebundenheit in die Natur heraus und unterstreicht die Dialektik dieses doppelten Verhältnisses: »Die Arbeit ist zunächst ein Prozeß zwischen Mensch und Natur, ein Prozeß, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte […] setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eignen Botmäßigkeit.« 4 Es ist bekannt, dass Marx seit der Deutschen Ideologie sich einer ausgesprochen antiphilosophischen, deftig konkreten Alltagssprache bedient, aber der dahinter verborgene praxisphilosophische Gedanke kann nicht verleugnet werden. Ihn gilt es nochmals im Hinblick auf Hegel und Schelling zu explizieren: In gewisser Weise kann das gesamte Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie von Marx als die Konkretion jener philosophischen Entwürfe gesehen werden, die der junge Hegel zur produktiven Arbeit in seinen Jenenser Manuskripten skizziert hat. In der tätigen Negation der Arbeit gestaltet der Mensch die Natur in seine menschliche Welt um und bildet dabei gleichzeitig seine eigene Natur in menschlicher Gestaltung aus: dies ist die Tat der menschlichen Arbeit in ihrer gesellschaftlichen Verflechtung und in ihrem geschichtlichen Werden. Auch Marx geht wie Hegel davon aus, dass die gesellschaftliche Arbeit allererst die menschliche Welt hervorbringt und den Menschen zum Menschen macht. Doch in jedem Satz, in dem er dies aussagt, flicht er zugleich jenen anderen Gedanken, der ihn mit Schelling verbindet, dass die gesellschaftliche Arbeit grundlegend immer in die Natur eingebunden bleibt, ja selber Natur 3 4

Marx, Kritik des Gothaer Programms (1875), 19: 15. Marx, Kapital I (1867), 23: 192.

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ist. »Der Arbeitsprozeß […] ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gleich gemeinsam.« 5 Nun wird man nicht behaupten können, Hegel habe bestritten, dass die ganze geistige Welt des Menschen aufruht auf der Eingebundenheit des Menschen in die Lebensprozesse der Natur. Sein Ausruf: »Vogel fliegt dahin« 6 drückt ja auch aus, dass der Mensch in seiner Umgestaltung und Beherrschung der Natur diese in ihrer lebendigen Substanz unbehelligt lässt. Trotzdem geht Marx – mit Schelling – noch einen Schritt weiter, indem er ausdrücklich die gesellschaftliche Arbeit unaufhebbar auch als eine Naturkraft begreift, wodurch das Ganze menschlicher Kulturschöpfungen eingebunden wird in das sie umgreifende Ganze der Natur: »Der Mensch kann in seiner Produktion nur verfahren, wie die Natur selbst, d. h. nur die Formen der Stoffe ändern. Noch mehr. In dieser Arbeit der Forschung selbst wird er beständig unterstützt von Naturkräften«. 7 So tritt der Mensch also nie und nirgends aus der Natur heraus. Diese Betonung der Naturhaftigkeit der produktiven Tätigkeit des Menschen ist nun kein Rückfall in einen naiven Naturalismus oder kruden Materialismus, denn sie tritt ja nicht allein und absolutgesetzt auf, sondern immer in dialektischer Verknüpfung mit der anderen Bestimmung der produktiven Tätigkeit des Menschen, das Hervorbringende der menschlichen Welt und damit der Geschichte zu sein. Die gesellschaftliche Arbeit erweist sich erst in dieser Doppelbestimmung als der Angelpunkt der Dialektik der Natur und der Dialektik der Geschichte, denn einerseits ist sie jene schöpferische Potenz, die alle Gestaltungen der menschlichen Welt, alle Lebensverhältnisse der Menschen hervorbringt, andererseits ist sie die lebendige Kraft des Stoffwechsels, die den Menschen in der lebendigen Natur erhält. Keines dieser beiden Momente kann durch das jeweils andere aufgehoben werden, in dialektischer Verschränkung bilden sie die Grundlagen allen menschlichen Lebens und durchwirken das ganze geschichtliche Werden der Menschheit, deren Ziel nicht die Auf5 6 7

Marx, Kapital I (1867), 23: 198. Hegel, Jenaer Systementwürfe, III (1805–06/1987): 190. Marx, Kapital I (1867), 23: 57 f. Vgl. Marx/Engels, Die heilige Familie (1845), 2: 49.

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Die Naturproblematik in der Kritik der politischen Ökonomie

hebung der Naturgebundenheit durch den reinen Geist sein kann, sondern vielmehr in der Bewusstwerdung der Menschen in der Dialektik der gesellschaftlichen Praxis mit ihren beiden Bestimmungsmomenten liegen muss. Diese Eingebundenheit menschlichen Lebens in die Natur nicht zu sehen, ist gerade ein Kennzeichen entfremdeten gesellschaftlichen Lebens: »Nicht die Einheit der lebenden und tätigen Menschen mit den natürlichen, unorganischen Bedingungen ihres Stoffwechsels mit der Natur, und daher ihrer Aneignung der Natur – bedarf der Erklärung oder ist Resultat eines historischen Prozesses, sondern die Trennung zwischen diesen unorganischen Bedingungen des menschlichen Daseins und diesem tätigen Dasein, eine Trennung, wie sie vollständig erst gesetzt ist im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital.« 8 Das positive Fundament der Mensch-Natur-Dialektik wird in der Kritik der politischen Ökonomie nicht ausdrücklich thematisiert, kann in ihr gar nicht thematisiert werden, weil sie in der kapitalistischen Produktionsweise immer schon eine Verkehrung erfahren hat. Sie kann daher nur dort zum Vorschein kommen, wo in der Kritik der Verkehrung das Wovon der Verkehrung benannt wird. Indirekt muss jedoch die Dialektik in ihrer Doppelbestimmung auch in der kritischen Analyse der gegenwärtigen Produktions- und Lebensverhältnisse zum Ausdruck kommen; oder genauer gesagt: es muss in ihr deutlich werden, dass die kapitalistische Produktionsweise nicht nur die lebendige Arbeit ausbeutet, sondern auch die lebendige Natur ausplündert, vergiftet und somit destruiert. Nun steht sicherlich außer Zweifel, dass Marx in der Kritik der politischen Ökonomie sein Hauptaugenmerk nicht auf das Problem der Zerstörung der Natur gerichtet hat; für ihn steht die soziale Problematik, die Ausbeutung der arbeitenden Menschen, wie sie im 19. Jahrhundert durch den gewaltig aufblühenden Kapitalismus brutal und massenhaft auftritt, im Zentrum seiner kritischen Untersuchungen. Die Zerstörung der Natur ist dagegen in ihrer ganzen Ausdehnung und Tragweite erst im 20. Jahrhundert, in ihrem lebensbedrohenden Ausmaß sogar erst in den letzten Jahrzehnten sichtbar geworden. Wenn wir dies vorab bedenken, dann allerdings ist man fasziniert von der Weitsichtigkeit, mit der Marx bereits in den fünfziger und sechziger Jahren des vorvorigen Jahrhunderts das Problem der Zerstörung der Natur durch unsere Produktionsweise benannt 8

Marx, Grundrisse (1858), 42: 397.

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Die Naturproblematik in der Kritik der politischen Ökonomie

und beschrieben hat: »Antizipation der Zukunft – wirkliche Antizipation – findet überhaupt in der Produktion des Reichtums nur statt mit Bezug auf den Arbeiter und die Erde. Bei beiden kann durch vorzeitige Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen Ausgabe und Einnahme, die Zukunft realiter antizipiert und verwüstet werden. Bei beiden geschieht es in der kapitalistischen Produktion.« 9 Hier wird nochmals der Gegensatz zu Hegel und die Gemeinsamkeit mit Schelling deutlich; denn während Hegel die menschliche Welt des Geistes – die natürlich unaufhebbar der lebendigen Natur als ihrer Grundlage bedarf – als die tätige Negation der Natur bestimmt, die aus sich selbst heraus – gleichsam naturwüchsig – den »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« in der Geschichte vorantreibt, sieht Marx – mit Schelling – in der naturwüchsigen Geschichte der Menschheit gleichzeitig die Entfremdung voranschreiten, deren Aufhebung eine noch ausstehende Aufgabe der Menschen ist – eine Entfremdung, die den Menschen auch von der Natur und die Natur vom Menschen trennt. Marx kommt in seinen Manuskripten zur Kritik der politischen Ökonomie verschiedentlich auf die Ausbeutung der Natur durch die kapitalistische Produktionsweise zu sprechen, am eindrücklichsten jedoch wohl in dem kleinen, aber wichtigen Kapitel »Große Industrie und Agrikultur« im ersten Band des Kapital. Schlaglichtartig beleuchtet Marx hier einige Folgen der Industrialisierung für Land und Stadt: »In der Sphäre der Agrikultur wirkt die große Industrie insofern am revolutionärsten, als sie das Bollwerk der alten Gesellschaft vernichtet, den ›Bauer‹, und ihm den Lohnarbeiter unterschiebt. […] Die Zerreißung des ursprünglichen Familienbandes von Agrikultur und Manufaktur […] wird durch die kapitalistische Produktionsweise vollendet. Sie schafft aber zugleich die materiellen Voraussetzungen einer neuen, höheren Synthese, des Vereins von Agrikultur und Industrie, auf der Grundlage ihrer gegensätzlich ausgearbeiteten Gestalten. Mit dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung […] häuft die kapitalistische Produktion einerseits die geschichtliche Bewegungskraft der Gesellschaft, stört sie andrerseits den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde, d. h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs- und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die phy9

Marx, Theorien über den Mehrwert (1862–63), 26/3: 303.

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Die Naturproblematik in der Kritik der politischen Ökonomie

sische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter. Aber sie zwingt zugleich durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandenen Umstände jenes Stoffwechsels, ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen. […] Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die gesteigerte Produktivkraft und größere Flüssigmachung der Arbeit erkauft durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst. Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in Steigerung seiner Fruchtbarkeit für eine gegebene Zeitfrist zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit. Je mehr ein Land, wie die Vereinigten Staaten von Nordamerika z. B., von der großen Industrie als dem Hintergrund seiner Entwicklung ausgeht, desto rascher dieser Zerstörungsprozeß. Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« 10 Wir haben aus diesem Kapitel so ausführlich zitiert, da wir meinen, dass dieser Text – repräsentativ auch für die vielen anderen Stellen im Gesamtwerk – sichtbar macht, wie Marx im Kontext seiner kritischen Analyse der kapitalistischen Produktionsweise neben der Ausbeutung der Arbeiter und ihrer menschlichen Verelendung auch den Zerstörungsprozess gegenüber der Natur als der lebendigen Grundlage des menschlichen Lebens herausarbeitet. Für Marx kann daher – im Gegensatz zur späteren marxistischen Ideologie – der Fortschritt einer sozialistischen Gesellschaft nicht in einer von den Schranken des Kapitalismus befreiten ungehemmten Naturausbeutung bestehen. Im Gegenteil: eine wirklich solidarische Gesellschaft muss auch das gegenwärtige Verhältnis der gesellschaftlichen Produktion zur Natur umwälzen, ihre bewusste gesellschaftliche Produktion muss in bewussten Einklang zur Produktivität der Natur gebracht werden. Ohne schon ganz die durch unsere Produktionsweise verursachte ökologische Krise antizipieren zu können, formuliert Marx diese Gedanken auf die kapitalistischen – und staatskapitalistischen – 10

Marx, Kapital I (1867), 23: 528 ff.

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Grundeigentumsverhältnisse bezogen im dritten Band des Kapital: »Ein Teil der Gesellschaft verlangt hier von den andern einen Tribut für das Recht, die Erde bewohnen zu dürfen, […] den Erdkörper, die Eingeweide der Erde, die Luft und damit die Erhaltung und Entwicklung des Lebens zu exploitieren. […] Vom Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen wie das Privateigentum eines Menschen an einem andern Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.« 11 Sowenig wie die solidarische Gesellschaft in einer intensivierten Ausbeutung der Natur ihre Befriedigung finden kann, so wenig kann ihre Erfüllung in einer Befreiung oder Loslösung von der Natur bestehen, wie einige Gesellschaftstheoretiker Marx interpretieren zu müssen meinten. Angesichts der Betonung des dialektischen Verhältnisses von Mensch und Natur durch Marx ist dies allerdings eine völlig absurde Unterstellung. Für Marx ist es vielmehr ein durch all seine Schriften sich durchhaltendes Anliegen, die Naturgebundenheit des menschlichen Lebens zu unterstreichen, denn die Naturgebundenheit wird auch durch wachsende Naturbeherrschung nicht aufgehoben, sondern nimmt nur andere Formen an. So kann auch die Zielbestimmung der gesellschaftlichen Praxis einer sozialistischen Gesellschaft nicht in der Befreiung von der Natur liegen, sondern ganz im Gegenteil, ihre Aufgabe ist es, den unaufgebbaren Stoffwechsel der Menschen mit der Natur bewusst zu gestalten, und dies verlangt, da hierin die Anerkennung ihrer selbst als Naturkraft impliziert ist, ihre bewusste Eingliederung in den lebendigen Zusammenhang der Natur. »Wie der Wilde mit der Natur ringen muß, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muß es der Zivilisierte, und er muß es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiet kann nur darin bestehen, daß der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Pro11

Marx, Kapital III (1894), 25: 782 ff.

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duzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehn. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit.« 12

2. Bisher haben wir versucht, nur die allgemeine doppelte Verhältnisbestimmung von Mensch und Natur als grundlegend auch für die Kritik der politischen Ökonomie nachzuweisen, nun sollten wir uns noch der kritischen Analyse von Wissenschaft und Technik zuwenden, den für die Gegenwart dominanten Formen unseres Verhältnisses zur Natur. Es ist erstaunlich, wie wenig die Marxsche Kritik an Wissenschaft und Technik in ihrer kapitalistischen Formbestimmtheit überhaupt zur Kenntnis genommen worden ist. Sowohl der dogmatische als auch der kritische Marxismus – bis auf ganz wenige Ausnahmen 13 – unterstellten bisher ganz einfach, dass Marx Wissenschaft und Technik als die vorwärtstreibenden Produktivkräfte nur positiv eingeschätzt habe; wohl vor allem deshalb, weil sie selber Anbeter der Fetische objektivistischer Wissenschaften und industrieller Maschinerie sind oder weil sie Wissenschaft und Technik für etwas Ansichseiendes halten, was außerhalb der Reichweite kritischer Gesellschaftstheorie liegt. Für Marx selber aber trifft beides nicht zu, für ihn sind Wissenschaft und Technik selbstverständlich Produkte gesellschaftlicher Praxis, die in ihrer gegenwärtigen Formbestimmtheit keineswegs von der kritischen Analyse ausgespart werden dürfen. Natürlich sind Wissenschaft und Technik Produktivkräfte der gesellschaftlichen Praxis, da aber die herrschenden Produktionsverhältnisse keinesfalls die Produktivkräfte unangetastet lassen, sind auch sie in ihrer gegenwärtigen Form entfremdet und können in dieser Form nicht kritiklos in eine solidarische Gesellschaft übernommen werden. Ohne hier nochmals von Grund auf eine rehabilitierende Richtigstellung der Marxschen Theorie gegenüber ihre Missdeutung 12 13

Marx, Kapital III (1894), 25: 828. Siehe dazu die Kapitel VI und VII sowie den Anhang in diesem Band.

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durch ihre Anhänger und Gegner vornehmen zu wollen, seien doch wenigstens jene zentralen kritischen Aussagen – aus der Deutschen Ideologie – über den Doppelcharakter der Produktivkräfte in der herrschenden kapitalistischen Produktionsweise in Erinnerung gerufen: »Es zeigen sich hier also zwei Fakta. Erstens erscheinen die Produktivkräfte als ganz unabhängig und losgerissen von den Individuen, als eine eigne Welt neben den Individuen, was darin seinen Grund hat, daß die Individuen, deren Kräfte sie sind, zersplittert und im Gegensatz gegeneinander existieren, während diese Kräfte andererseits nur im Verkehr und Zusammenhang dieser Individuen wirkliche Kräfte sind. Also auf der einen Seite eine Totalität von Produktivkräften, die gleichsam eine sachliche Gestalt angenommen haben und für die Individuen selbst nicht mehr die Kräfte der Individuen, sondern des Privateigentums, und daher der Individuen nur, insofern sie Privateigentümer sind. […] Auf der andern Seite steht diesen Produktivkräften die Majorität der Individuen gegenüber, von denen diese Kräfte losgerissen sind und die daher alles wirklichen Lebensinhalts beraubt, abstrakte Individuen geworden sind, die aber dadurch erst in den Stand gesetzt werden, als Individuen miteinander in Verbindung zu treten. Der einzige Zusammenhang, in dem sie noch mit den Produktivkräften und mit ihrer eigenen Existenz stehen, die Arbeit, hat bei ihnen allen Schein der Selbstbetätigung verloren und erhält ihr Leben nur, indem sie es verkümmert. […] Es ist also jetzt so weit gekommen, daß die Individuen sich die vorhandene Totalität von Produktivkräften aneignen müssen, nicht nur um zu ihrer Selbstbetätigung zu kommen, sondern schon überhaupt um ihre Existenz sicherzustellen. […] Die Aneignung dieser Kräfte ist selbst weiter nichts als die Entwicklung der den materiellen Produktionsinstrumenten entsprechenden individuellen Fähigkeiten. Die Aneignung einer Totalität von Produktionsinstrumenten ist schon deshalb die Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst. […] Erst auf dieser Stufe fällt die Selbstbetätigung mit dem materiellen Leben zusammen, was der Entwicklung der Individuen zu totalen Individuen und der Abstreifung aller Naturwüchsigkeit entspricht […]. Mit der Aneignung der totalen Produktivkräfte durch die vereinigten Individuen hört das [kapitalistische] Privateigentum auf.« 14 Ich glaube, eine erläuternde Kommentierung erübrigt sich, denn 14

Marx/Engels, Deutsche Ideologie (1845–46), 3: 67 f.

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bereits dieser Auszug aus dem sehr viel längeren Text spricht eindeutig für sich selbst. Diese prinzipielle Kritik an den von den Individuen losgerissenen und für sich verselbständigten Produktivkräften – der Wissenschaft, der Maschinerie, der Industrie –, die als solche vom Kapital in Dienst genommen werden, müssen wir immer gegenwärtig haben, wenn wir uns jetzt näher der Kritik der Wissenschaften und der Kritik der Maschinerie zuwenden. Wissenschaft und Technik sind nicht an sich selbständige Produktivkräfte, sondern nur losgerissen von den produktiven geistig und körperlich Arbeitenden erscheinen sie in der Hand bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse als verselbständigte Mächte. Um die Marxsche Kritik der Wissenschaft an einer ausführlichen, zusammenhängenden Stelle zu demonstrieren, gehen wir hier auf ein Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts geschriebenes Manuskript von Marx ein, das erst 1975 in Auszügen von Jürgen Jungnickel in der Zeitschrift Wirtschaftswissenschaft 15 veröffentlicht wurde. Ähnliche Bestimmungen der Wissenschaft finden sich allerdings bereits in den Grundrissen (1858), im Kapital (1867) und anderen Manuskripten aus dem Gesamtkonvolut der Kritik der politischen Ökonomie. Wir wollen auch hier die wichtigsten Stellen gerafft im Zusammenhang wiedergeben, um danach einiges erläuternd hervorzuheben: »Die Anwendung der natural agents – gewissermaßen ihre Einverleibung in das Capital – fällt zusammen mit der Entwicklung der Wissenschaft, als eines selbständigen Factors des Productionsprocesses. Wie der Productionsproceß zur Anwendung der Wissenschaft, wird umgekehrt die Wissenschaft zu einem Factor, so zu sagen zu einer Function des Productionsprocesses. […] Erst die capitalistische Productionsweise macht die Naturwissenschaften dem unmittelbaren Productionsproceß dienstbar, während umgekehrt die Entwicklung der Production die Mittel zur theoretischen Unterwerfung der Natur liefert. Die Wissenschaft erhält den Beruf, Productionsmittel des Reichtums zu sein; Mittel der Bereicherung. Erst in dieser Productionsweise stellen sich praktische Probleme dar, die nur wissenschaftlich gelöst werden können. Erst jezt [sind] die Erfahrung und Beobachtungen […] auf einer Stufenleiter, die wissenschaftliche ApJürgen Jungnickel, »Bemerkungen über Wissenschaft und Naturkräfte in einem bisher in Deutsch nicht veröffentlichen Manuskript von Karl Marx«, in: Wirtschaftswissenschaft, 23/6 (Juni 1975).

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plication erlaubt und nothwendig macht. Exploitation der Wissenschaft, des theoretischen Fortschritts der Menschheit. Das Capital schafft die Wissenschaft nicht, aber es exploitiert sie, eignet sie dem Productionsproceß an. Damit [bewirkt es] zugleich [die] Trennung der Wissenschaft, als auf die Production angewandter Wlissenschaft von der unmittelbaren Arbeit, während auf den früheren Stufen der Production beschränktes Maaß der Kenntniß und Erfahrung unmittelbar mit der Arbeit selbst verbunden ist, sich nicht als von ihr getrennte, selbständige Macht entwickelt […]. Hand und Kopf nicht getrennt […]. Wie die machinery hier als die ›masters machinery‹ bezeichnet wird und ihre Function als seine Function im Productionsproceß (the business of production), ganz so verhält es sich mit der Wissenschaft, die in dieser machinery verkörpert ist oder in den methods of producing, chemischen Processen etc. Die Wissenschaft erscheint als der Arbeit fremde, feindliche und sie beherrschende Potenz gegenüber und ihre Anwendung […] beruht ganz so auf der Trennung der geistigen Potenzen des Processes von dem Wissen, Kenntniß und Geschick des einzelnen Arbeiters, wie die Concentration und Entwicklung der Productionsbedingungen und ihre Verwandlung in Capital beruht auf der Entblößung – Trennung des Arbeiters von denselben. […] Die Entwicklung der Naturwissenschaften selbst […] wie alles auf den Productionsproceß bezüglichen Wissens, entwickelt sich selbst wieder auf Grundlage der capitalistischen Production, die ihr zum großen Teil erst die materiellen Mittel der Forschung, Beobachtung, Experimentierung schafft. Die men of science […] concurriren untereinander, praktische Anwendungen dieser Wissenschaft zu finden. Andererseits wird die Erfindung zu einem eignen métier. Mit der capitalitischen Production wird daher der wissenschaftliche Factor zuerst mit Bewußtsein und auf einer Stufenleiter entwickelt, angewandt und ins Leben gerufen auf einem Maaßstab von dem frühere Epochen keine Ahnung.« 16 Zunächst ist auch hier – ähnlich wie vorher im Zusammenhang mit der Natur – daran zu erinnern, dass von Marx innerhalb der Kritik der politischen Ökonomie keine Kritik der Wissenschaft als Wissenschaft erwartet werden darf, d. h., es geht allein um die Ortung ihrer Bestimmtheit im Rahmen der politischen Ökonomie, d. h. ihrer Marx, Auszug aus dem Heft XX aus dem Jahre 1863 über »Naturkräfte und Wissenschaft«, Originalpaginierung: 1261 ff. zitiert nach Jürgen Jungnickel, in: Wirtschaftswissenschaft, 23/6 (Juni 1975).

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Funktion innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise. In dieser Analyse geht es also vor allem darum zu zeigen, wie das Kapital sich auch die Wissenschaft unterwirft und sie ausbeutet, also den theoretischen Fortschritt der Menschen als seine Potenz sich einverleibt und sich damit teils die geistigen Kräfte einzelner Kopfarbeiter dienstbar macht und die Mehrzahl der Arbeiter geistig enteignet und sie damit steuerbar hält. Wenn wir also von dieser Analyse nicht zu viel an Aussagen über die theoretische Formbestimmtheit der Wissenschaften erwarten, dann erweist sie sich im Rahmen der begrenzten Problemstellung doch als sehr grundlegend. Sie macht sichtbar, dass Marx keineswegs von einer zeitlosen Gültigkeit der Wissenschaften ausgeht, sondern sehr wohl von ihrer Formbestimmtheit durch die kapitalistische Produktionsweise weiß. Zwar sagt Marx ausdrücklich, dass das Kapital die Wissenschaft nicht schafft, was besagt, dass die Wissenschaft ihrer Substanz nach das »allgemeine gesellschaftliche Wissen« ist, aber als gesellschaftliches Wissen wird es in der gegenwärtigen Produktionsweise weder bewusst hervorgebracht noch bewusst angeeignet. Eine entfremdete Formbestimmung geht in die Wissenschaft bereits in ihrer Trennung von der unmittelbaren Arbeit ein. Losgelöst von ihrer Basis in der gesellschaftlichen Praxis, wird sie zu einer den unmittelbaren Produzenten gegenüber »fremden, feindlichen und sie beherrschenden Potenz«, die sich das Kapital gerade in dieser Form schrittweise einverleibt, indem es sie zuerst formell unterwirft, später in ihrer ganzen Ausrichtung reell bestimmt. So ist die Wissenschaft nicht nur in ihrer Anwendung dem Kapital unterworfen, sondern in ihrer weiteren Entwicklung durch und durch von der Logik der gegenwärtigen Produktionsweise durchdrungen. Die neuzeitlichen Wissenschaften sind kein direktes Produkt der kapitalistischen Produktionsweise, trotzdem stehen beide in einer eigentümlichen Affinität, deren Gründe in der ihnen vorausliegenden gesellschaftlichen Praxis – sowohl historisch wie systematisch – zu suchen sind 17; von da an aber, wo sich die kapitalistische Produktionsweise die Wissenschaft reell einverleibt, beginnen sich beide, Forschung und Produktion, vollständig zu durchdringen: »Erst die capitalistische Productionsweise macht die Naturwissenschaften dem unmittelbaren Productionsprozeß dienstbar, während umgekehrt die 17 Vgl. Otto Ullrich, Technik und Herrschaft vom Handwerk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion (1977).

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Entwicklung der Production die Mittel zur theoretischen Unterwerfung der Natur liefert.« 18 So weit kommt Marx in seiner kritischen Analyse der Wissenschaften, und er ist damit ungeheuer weit gekommen in einer Zeit, die besessen war vom Erkenntnisfortschritt der Wissenschaften und diese einem Gott gleich anbetete. Indem Marx die Wissenschaften in ihrer durch die kapitalistische Produktionsweise bestimmten Form durchschaut, erkennt er ihre prinzipielle Schranke, die letztlich erst in einer Gesellschaft überschritten werden kann, in der sich die Individuen als bewusste Träger der gesellschaftlichen Praxis die Wissenschaft als ihre gemeinsame Produktivkraft aneignen und von ihren Bedürfnissen und ihrer gemeinsamen Verantwortung her diese produktiv umgestalten und weiterentwickeln. Was das für den Wissenschaftscharakter der Wissenschaften bedeutet, dies kann hier von Marx her noch nicht beantwortet werden, wie auch vorher nicht die Formbestimmtheit der Wissenschaft durch die kapitalistische Produktionsweise an der Form ihrer Wissenschaftlichkeit selbst aufgezeigt werden konnte – eine solche Erwartung wäre aber auch eine grundsätzliche Überforderung der Kritik der politischen Ökonomie und ihrer Möglichkeiten, die Wissenschaft zu thematisieren. Um dies alles an den neuzeitlichen Wissenschaften selbst aufzuzeigen, dazu bedarf es einer Kritik der Wissenschaften als Wissenschaften, eine kritische Analyse der Entwicklung der wissenschaftlichen Rationalität, ihrer grundsätzlichen Widersprüchlichkeit in der Subjekt-Objekt-Spaltung, konkret aufgewiesen an den Forschungsintentionen und Aussagesystemen jeder einzelnen Wissenschaft. Solches hat Marx nie unternommen. Nach bedeutenden Anläufen von Georg Lukács, Karl Korsch, Antonio Gramsci hat innerhalb der marxistischen Philosophie Alfred Sohn-Rethel den ersten umfassenderen Versuch in diese Richtung unternommen – darauf ist noch zurückzukommen. 19 Gehen wir nun abschließend noch auf die Maschinerie ein, jene vergegenständlichte Organisation von Produktionsprozessen durch den gesteuerten Einsatz von Naturkräften. 20 Dabei wollen wir uns

18 Marx, »Naturkräfte und Wissenschaft«: 1261 f. zitiert nach Jungnickel, in: Wirtschaftswissenschaft, 23/6 (Juni 1975). 19 Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis (1970/1972). Siehe Kapitel VII/2. 20 Marx, Kapital I (1867), 23: 407.

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wieder – auf einen größeren – für viele andere repräsentativen – Textzusammenhang, diesmal aus den Grundrissen, stützen: »In der Maschinerie tritt die vergegenständlichte Arbeit der lebendigen Arbeit im Arbeitsprozeß selbst als die sie beherrschende Macht gegenüber, die das Kapital als Aneignung der lebendigen Arbeit seiner Form nach ist. […] Der Produktionsprozeß hat aufgehört Arbeitsprozeß in dem Sinne zu sein, daß die Arbeit als die ihn beherrschende Einheit über ihn übergriffe. […] Die Tätigkeit des Arbeiters, auf eine bloße Abstraktion der Tätigkeit beschränkt, ist nach allen Seiten hin bestimmt und geregelt durch die Bewegung der Maschinerie, nicht umgekehrt. Die Wissenschaft, die die unbelebten Glieder der Maschinerie zwingt durch ihre Konstruktion zweckgemäß als Automat zu wirken, existiert nicht im Bewußtsein des Arbeiters, sondern wirkt durch die Maschinerie als fremde Macht auf ihn, als Macht der Maschine selbst. […] Die Entwicklung des Arbeitsmittels zur Maschinerie ist nicht zufällig für das Kapital, sondern ist die historische Umgestaltung des traditionell überkommenen Arbeitsmittels als dem Kapital adäquat umgewandelt. Die Akkumulation des Wissens und des Geschicks, der allgemeinen Produktivkräfte des gesellschaftlichen Hirns, ist so der Arbeit gegenüber absorbiert in dem Kapital und erscheint daher als Eigenschaft des Kapitals […]. Insofern ferner die Maschinerie sich entwickelt mit der Akkumulation der gesellschaftlichen Wissenschaft, Produktivkraft überhaupt, ist es nicht in der Arbeit, sondern im Kapital, daß sich die allgemein gesellschaftliche Arbeit darstellt. […] Der Produktion wissenschaftlichen Charakter zu geben ist daher die Tendenz des Kapitals und die unmittelbare Arbeit ist herabgesetzt zu einem bloßen Moment dieses Prozesses […], so zeigt sich bei der näheren Entwicklung des Kapitals, daß es einerseits eine bestimmte gegebene historische Entwicklung der Produktivkräfte voraussetzt – unter diesen Produktivkräften auch die Wissenschaft –, andererseits sie vorantreibt und forciert.« 21 Wissenschaft und technische Arbeitsmittel sind als solche keine Erfindungen der kapitalistischen Produktionsweise, aber reell unter das Kapital subsumiert, werden sie zu einem vom Kapital bestimmten automatischen System der Maschinerie, das sich gegenüber den unmittelbaren Produzenten völlig verselbständigt, die dadurch zum »bloßen lebendigen Zubehör dieser Maschinerie« herabgewürdigt werden. Natürlich stellen gerade Wissenschaft und Maschinerie ge21

Marx, Grundrisse (1858), 42: 593 ff.

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sellschaftliche Produktivkräfte dar, und zwar durchaus in sehr viel konzentrierterer Form, als es jemals zuvor möglich war, denn in ihnen hat sich das Wissen und Geschick vieler schöpferischer Aktivitäten vergegenständlicht, aber in ihrer von den Subjekten der gesellschaftlichen Praxis verselbständigten Form werden sie nicht nur formell der Bestimmungsgewalt des Kapitels unterstellt, sondern nehmen im Laufe ihrer weiteren Entwicklung selber die Gestalt des Kapitalinteresses an. So wird die Maschinerie gerade nicht in die Richtung weiterentwickelt, um den Produzenten die Arbeit zu erleichtern und ihre Arbeitszeit zu verkürzen, sondern im Gegenteil in jene Richtung, die dem Kapital seine größtmögliche Verwertung garantiert. Trotzdem kann nicht übersehen werden, dass das Kapital in Wissenschaft und Maschinerie – sosehr diese in ihrer gegenwärtigen Form der Ausbeutung der Arbeiter und der Natur dienen – zugleich jene gesellschaftlichen Produktivkräfte hervortreibt, die »der emanzipierten Arbeit zugute kommen und […] die Bedingung ihrer Emanzipation« sein werden. 22 Insofern erweist sich auch hierin das Kapital – wenn auch »ganz unabsichtlich« – als »der prozessierende Widerspruch«: »Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur, wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit, und sie einbannen in die Grenzen, die erheischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten. Die Produktivkräfte und gesellschaftlichen Beziehungen – beides verschiedne Seiten der Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums – erscheinen dem Kapital nur als Mittel, und sind für es nur Mittel, um von seiner bornierten Grundlage aus zu produzieren. In fact aber sind sie die materiellen Bedingungen, um sie in die Luft zu sprengen.« 23 Das Kapital treibt in Wissenschaft und Maschinerie Kräfte hervor, die, wenn sie von den Individuen als ihre eigenen Produktivkräfte angeeignet werden, die gegenwärtig herrschenden Produktionsverhältnisse umwälzen können. Die sich ihrer Produktivkräfte bewusst gewordenen und frei assoziierten Individuen können dann in ge22 23

Marx, Grundrisse (1858), 42: 598. Marx, Grundrisse (1858), 42: 602.

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meinsamer Verantwortung beginnen, eine neue solidarische und ökologische Gesellschaft zu errichten. »In dieser Umwandlung ist es weder die unmittelbare Arbeit, die der Mensch selbst verrichtet, noch die Zeit, die er arbeitet, sondern die Aneignung seiner eignen allgemeinen Produktivkraft, sein Verständnis der Natur und die Beherrschung derselben durch sein Dasein als Gesellschaftskörper – in einem Wort die Entwicklung des gesellschaftlichen Individuums, die als der große Grundpfeiler der Produktion und des Reichtums erscheint. […] Damit bricht die auf dem Tauschwert ruhende Produktion zusammen, und der unmittelbare materielle Produktionsprozeß erhält selbst die Form der Notdürftigkeit und Gegensätzlichkeit abgestreift. Die freie Entwicklung der Individualitäten, und daher nicht das Reduzieren der notwendigen Arbeitszeit um Surplusarbeit zu setzen, sondern überhaupt die Reduktion der notwendigen Arbeit der Gesellschaft zu einem Minimum, der dann die künstlerische, wissenschaftliche etc. Ausbildung der Individuen durch die für sie alle freigewordne Zeit und geschaffenen Mittel entspricht.« 24 Man hat diese Textstelle, aus dem Zusammenhang gerissen, als eine Aussage missverstanden, in der beschrieben wird, wie Wissenschaft und Technik aus sich selbst heraus von der kapitalistischen in eine postkapitalistische Gesellschaft hinübertreiben. Doch das Gegenteil ist von Marx gemeint – wie aus dem Textzusammenhang eindeutig hervorgeht –, denn so sehr auch das Kapital in Wissenschaft und Maschinerie die wissenschaftlichen und technischen Bedingungen der Möglichkeit für eine befreite Gesellschaft selber hervorbringt, so kann es doch niemals die Befreiung selber erzeugen. Denn einerseits – und darin liegt ja sein »prozessierender Widerspruch« – wendet das Kapital Wissenschaft und Maschinerie einzig und allein im eigenen Interesse an, gibt ihnen eine Form und Richtung, die sicherlich nur seine eigene Erhaltung und Ausbreitung intendiert, andererseits kann die Verkehrung der kapitalistischen Produktionsweise, die darin besteht, dass die vergegenständlichte Arbeit über die lebendige herrscht, überhaupt nur durch die sich ihrer gesellschaftlichen Möglichkeiten und Aufgaben bewusst werdenden Subjekte als Träger der gesellschaftlichen Praxis aufgehoben werden. Durch die sich vermehrenden und verschärfenden Widersprüche der gegenwärtig herrschenden Produktionsweise können allenfalls die von den Individuen erlebten Konflikte so unerträglich werden, dass diese dadurch schnel24

Marx, Grundrisse (1858), 42: 601.

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ler wachgerüttelt werden; die Befreiung kann aber immer nur die gemeinsame Tat der gesellschaftlich bewussten und frei assoziierten Individuen sein. Die Aufhebung der kapitalistischen Produktionsweise, die Aneignung von Wissenschaft und Maschinerie durch die Individuen wird auch jene in ihrer Form umwälzen, so wie sie auch die Individuen selbst verändern wird: »Die Ersparung von Arbeitszeit gleich Vermehren der freien Zeit, d. h. Zeit für die volle Entwicklung des Individuums, die selbst wieder als die größte Produktivkraft zurückwirkt auf die Produktivkraft der Arbeit. […] Daß übrigens die unmittelbare Arbeitszeit selbst nicht in dem abstrakten Gegensatz zu der freien Zeit bleiben kann – wie sie vom Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie aus erscheint – versteht sich von selbst. […] Die freie Zeit, die sowohl Mußezeit als Zeit für höhre Tätigkeit ist – hat ihren Besitzer natürlich in ein andres Subjekt verwandelt und als dies andre Subjekt tritt er dann auch in den unmittelbaren Produktionsprozeß. Es ist dieser zugleich Disziplin, mit Bezug auf den werdenden Menschen betrachtet, wie Ausübung, Experimentalwissenschaft, materiell schöpferische und sich vergegenständlichte Wissenschaft mit Bezug auf den gewordnen Menschen, in dessen Kopf das akkumulierte Wissen der Gesellschaft existiert. Für beide, soweit die Arbeit praktisches Handanlegen erfordert und freie Bewegung, wie in der Agrikultur, zugleich exercise.« 25 Gerade erst in ihrer neuen Formbestimmtheit wird bewusst zum Tragen kommen, was der Substanz nach für Wissenschaft und Maschinerie gleich in welcher Form gilt, dass sie nämlich die selber gesellschaftlich produzierten geistigen und körperlichen Produktivkräfte der Individuen sind. Was sie in naturwüchsigen Gesellschaften nur der Substanz nach sind, werden sie durch die Subjekte einer solidarischen Gesellschaft bewusst und gemeinsam vollbringen. »Die Natur baut keine Maschinen […]. Sie sind Produkte der menschlichen Industrie; natürliches Material, verwandelt in Organe des menschlichen Willens über die Natur oder seiner Betätigung in der Natur. Sie sind von der menschlichen Hand geschaffne Organe des menschlichen Hirns; vergegenständlichte Wissenschaft. Die Entwicklung des capital fixe zeigt an, bis zu welchem Grad das allgemeine gesellschaftliche Wissen, knowledge, zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist, und daher die Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses 25

Marx, Grundrisse (1858), 42: 607.

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selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen, und ihm gemäß umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses.« 26 Wenn vorher vom »Verständnis der Natur« und ihrer »Beherrschung« die Rede war und jetzt vom »menschlichen Willen über die Natur«, so kann dies für Marx niemals Ausbeutung oder Zerstörung der Natur bedeuten, denn er fügt ja gleich hinzu: »oder seine Betätigung in der Natur«, was sogleich den Menschen und seine ganze gesellschaftliche und geschichtliche Welt wiederum in den lebendigen Naturzusammenhang bindet. Bewusste Beherrschung der Natur, in deren Lebenszusammenhang wir selber mit hineingestellt sind, kann also nur in Analogie zur Selbstbeherrschung unserer eigenen Natur gemeint sein, auch sie ist keine Ausbeutung oder Zerstörung unserer Leiblichkeit, sondern ihre bewusste Durchdringung, der konzentrierte Einsatz ihrer Kräfte, die intensive Entfaltung ihrer Sensibilität. So muss auch eine solidarische Gesellschaft mit der Natur, der sie selbst mit angehört, umzugehen lernen. Ganz in diesem Sinne wirft Marx die denkanregende Frage auf: »In fact aber, wenn die bornierte bürgerliche Form abgestreift wird, was ist der Reichtum anders, als die in universellem Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen? Die volle Entwicklung der menschlichen Herrschaft über die Naturkräfte, die der sogenannten Natur sowohl, wie seiner eigenen Natur? Das absolute Herausarbeiten seiner schöpferischen Anlagen, ohne andre Voraussetzung als die vorhergegangene historische Entwicklung, die diese Totalität der Entwicklung […] zum Selbstzweck macht? Wo er sich nicht reproduziert in einer Bestimmtheit, sondern seine Totalität produziert? Nicht irgend etwas Gewordnes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens ist?« 27 Dass hier nicht der Mensch im Gegensatz zur Natur gemeint ist, sondern das menschliche Werden aus der Natur und in deren Werden, geht aus dem Textzusammenhang hervor, ebenso wie hier auch nicht vom vereinzelten Individuum gesprochen wird, das sich gegen die anderen und auf deren Kosten durchzusetzen versucht, sondern von jenen solidarischen Subjekten, denen die Voraussetzung für den 26 27

Marx, Grundrisse (1858), 42: 602. Marx, Grundrisse (1858), 42: 395 f.

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ganzen gesellschaftlichen und natürlichen Werdeprozess zum eigenen Bedürfnis und Zweck der Selbstverwirklichung geworden ist; denn »als Subjekte desselben erscheinen nur die Individuen, aber die Individuen in Beziehung aufeinander, die sie ebenso reproduzieren, wie neuproduzieren«. 28

3. Deutlich wird hier, dass Marx auch in seinem Spätwerk der Kritik der politischen Ökonomie seine philosophische Position aus der Zeit der Emigration in Paris 1844 beibehalten hat, dass er sich nach wie vor von der Verwirklichung einer solidarischen Gesellschaft auch die Resurrektion der Natur erhofft. 29 Dass Marx in dieser Richtung vieles noch nicht so klar gesehen und ausgesprochen hat, was uns heute nach intensivierter Naturzerstörung durch Wissenschaft und Technik der herrschenden Produktionsweise sehr viel drastischer und dringlicher vor Augen steht, braucht eigentlich nicht eigens betont zu werden. Man sollte sich aber davor hüten, das Bild des Wissenschafts- und Maschinerie-Fetischisten zu übernehmen, das Anhänger und Gegner von Marx entworfen und tradiert haben. Die Texte von Marx sprechen von den frühen bis zu den späten Manuskripten sehr viel feiner die Dialektik des doppelten Verhältnisses von Mensch und Natur aus, ja sie zeigen oft sogar eine für die damalige Zeit ganz erstaunliche Sensibilität für ökologische Probleme. Bezüglich der grundlegenden Dialektik des MenschNatur-Verhältnisses steckt in der Marxschen Theorie noch ein reiches philosophisches Potential, das der aktuellen Wiederentdeckung und Weiterentwicklung bedarf. Fassen wir nochmals das Grundlegende der Marxschen Aussagen zusammen: Im Gegensatz zu Hegel erkennt Marx, dass die Entwicklung der industriellen Produktionsweise in ihrer kapitalistischen Formbestimmtheit nicht nur negative Folgen für die »an die Arbeit gebundene Klasse« (Hegel) 30, sondern auch zerstörende AuswirkunMarx, Grundrisse (1858), 42: 608. Siehe hierzu ausführlicher Hans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die »Kritik der politischen Ökonomie« (1984/2011). 30 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), 7: 389. Vgl. Marx, Kapital III (1894), 25: 782 ff. 28 29

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gen auf die lebendige Natur hat. Weder durch wissenschaftlich-technische noch durch politisch-staatliche Gegenmaßnahmen kann dieser doppelte Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise gegenüber Arbeit und Natur grundlegend behoben werden, da der Widerspruch in der Formbestimmtheit dieser Produktionsweise selbst wurzelt und auch all ihre Instrumente durchherrscht. Nur eine radikale Umwälzung der gesamten kapitalistischen Produktionsweise, und zwar nicht nur die Abschaffung der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, sondern auch die revolutionäre Umstrukturierung der industriellen Produktion selbst – mit den Wissenschaften und der Technik in ihrer gegenwärtigen Formbestimmtheit –, können aus der immer mehr zum Destruktionsprozess gewordenen Entwicklung befreien. Ist dies aber nicht eine bodenlose Utopie? Natürlich haben wir nicht die Gewissheit, dass uns eine solche radikale Revolutionierung unseres gesamten ökonomisch-industriellen Reproduktionssystems je gelingen wird. Entscheidend aber ist, dass Marx die prinzipielle Möglichkeit einer solchen revolutionären Selbstbefreiung der Menschen aufzuzeigen vermag. Da Marx gerade nicht wie Hegel die menschliche Praxis allein aus der Negation zur Natur bestimmt, also in grundsätzlicher Antinomie zu ihr begreift, sondern mit Schelling aufdeckt, dass sie nicht nur ursprünglich mit der Natur verknüpft ist, sondern ihre Erfüllung nur erreichen kann, wenn wir sie im Einklang mit der Natur zu gestalten vermögen, so wird klar, dass der gegenwärtige Widerspruch, die gegenwärtig sich zuspitzende Entfremdung von gesellschaftlicher Produktion und Natur nicht ein naturnotwendiger, unaufhebbarer Konflikt zwischen Mensch und Natur, sondern ein durch gesellschaftliche Praxis – wenn auch bewusstlos – selbst hervorgebrachter ist, der daher auch grundsätzlich durch die revolutionäre Praxis derer aufgehoben und überwunden werden kann, denen bewusst geworden ist, dass nur noch eine grundsätzliche Umkehr uns retten kann. Mit der letzten Äußerung überziehen wir allerdings die Marxsche Aussage. Zwar arbeitet Marx heraus, dass grundsätzlich nur eine radikale Revolutionierung der kapitalistischen Produktionsweise durch die Gegenmacht der assoziierten Produzenten zu einer freien solidarischen und mit der Natur versöhnten Gesellschaft zu führen vermag; aber er rechnet dabei noch mit »unabsehlichen Zeiten« (Kant). Marx sieht zwar die Möglichkeit eines Scheiterns dieser revolutionären Hoffnungen; wenn die revolutionäre Gegenbewegung 104 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

Die Naturproblematik in der Kritik der politischen Ökonomie

nicht erfolgreich ist, so kann der kapitalistische Selbstzerstörungsprozess auch zu einem Rückfall in die Barbarei führen, und alles muss – wie Marx unterstreicht – wieder von vorne beginnen. Gerade das aber wird – wie wir heute wissen – nicht möglich sein, denn nach einer ökologischen Katastrophe wird der Menschheit nicht mehr die Chance gegeben sein, nochmals von vorne zu beginnen.

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VI. Die Aporie der Naturfrage im Marxismus

Der dogmatische Marxismus hat das Naturproblem bekanntlich nicht von Marx aufgenommen – die Manuskripte, in denen Marx ausführlicher hierauf eingeht, sind ja auch erst 1932 veröffentlicht worden –, sondern von Friedrich Engels, der – wenn auch ungewollt und von seinem Freund Marx unbemerkt – ein völlig anderes Wissenschaftsund Naturverständnis verfolgt. Für Engels spiegeln die positiv-genetischen Wissenschaften bereits die Dialektik wider, d. h. die Prozessgesetze der Natur bilden die Dialektik ab. Zwar erscheinen seine unvollendeten Studien zur Dialektik der Natur erst lange nach seinem Tode 1925, aber die Grundlinien dazu hatte er schon im Anti-Dühring (1878) niedergelegt 1, und in dieser Form fanden sie über Georgi W. Plechanow, Wladimir I. Lenin, Nikolai I. Bucharin bis hin zu Josef W. Stalin Eingang in das dogmatische Selbstverständnis des Dialektischen und Historischen Materialismus. 2 Die Problematik der Dialektik degeneriert darin zunehmend zur Weltanschauung einer natur- und gesellschaftsgeschichtlichen Prozessualität, deren »dialektische« Gesetzmäßigkeit die »dialektischen« Wissenschaften abzubilden haben, um sie technisch beherrschen zu können. Sehen wir von den frühen Ansätzen einer philosophischen Wiederentdeckung des Marxschen Denkens bei Antonio Labriola und Max Adler ab 3, so setzt die große Wiedererneuerung der Marxschen Friedrich Engels, Dialektik der Natur (1886/1925), 20: 307 ff.; Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (Anti-Dühring) (1878), 20: 9 ff. 2 Georgi W. Plechanow, Zur Frage der Entwicklung der monistischen Geschichtsauffassung (1895/1975); Wladimir I. Lenin, Materialismus und Empiriokritizismus (1908/1962); Nikolai I. Bucharin, Theorie des historischen Materialismus. Gemeinverständliches Lehrbuch der marxistischen Soziologie (1922); Josef W. Stalin, Über Dialektischen und Historischen Materialismus (1938/1956). 3 Antonio Labriola, Über den Historischen Materialismus (1896/1974); Max Adler, Marxistische Probleme. Beiträge zur Theorie der materialistischen Geschichtsauffassung und Dialektik (1913). Vgl. Helmut Fleischer, Marx und Engels (1970). 1

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Dialektik fast schlagartig mit den beiden Büchern Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) von Georg Lukács sowie Marxismus und Philosophie (1923) von Karl Korsch ein. 4 Der Marxschen Dialektik geht es nicht um die Abbildung einer an-sich-seienden Prozessualität, sondern – geradezu umgekehrt – um ein kritisch-revolutionäres Durchbrechen schicksalsmäßig verhängter gesellschaftlicher Prozesse. Im Zentrum dieser Dialektik stehen die arbeitenden Menschen, die sich der sie ausbeutenden und unterdrückenden ökonomischen Verhältnisse bewusst werden und sie daher in gemeinsamer Aktion umzuwälzen beginnen. Die enge Verbindung, die der Begriff der Dialektik hier mit der Selbsterkenntnis der Menschen in ihrer gesellschaftlichen Praxis eingeht, führt jedoch dazu, dass die Erkenntnis der Natur aus der Dialektik ausgegrenzt und damit allein den positivistischen Naturwissenschaften überantwortet wird. 5

1.

Zum Naturwissenschafts- und Technikverständnis von Engels und Bucharin

Friedrich Engels Noch zu Lebzeiten von Marx – und von diesem vielfach ermuntert – hat sich Engels (1820–1895) in weitläufigen Studien mit dem Problem einer Dialektik der Natur, der dialektischen Darstellung von Naturprozessen auseinandergesetzt. 6 Engels unternimmt dabei den Versuch – hierin, aber auch nur hierin, der Naturphilosophie Schellings vergleichbar, mit der er sich nicht beschäftigt hat –, die Natur als einen kosmischen Gesamtprozess aus den ihr eigenen dialektischen Bewegungs- und Gestaltungsgesetzen zu begreifen, wobei er sich insbesondere auf einige damals noch ganz neue naturwissenschaftliche Entwicklungstheorien wie vor allem die Evolutionstheorie von Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein. Studien über marxistische Dialektik (1923/1970); Karl Korsch, Marxismus und Philosophie (1923/1966). 5 Siehe dazu Peter Bulthaup, Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften (1973); Herbert Hörz, Marxistische Philosophie und Naturwissenschaften (1974); Hans Jörg Sandkühler, (Hg.), Marxistische Wissenschaftstheorie. Studien zur Einführung in ihren Forschungsbereich (1975). 6 Vgl. B. M. Kedrow (Hg.), Friedrich Engels über die Dialektik der Naturwissenschaften (1979). 4

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Charles Darwin 7 stützt, die er – ähnlich wie Herbert Spencer 8 – universalisiert. Er nimmt hierin Tendenzen vorweg, die heute unter dem Titel Selbstorganisation des Universums (Erich Jantsch) 9 diskutiert werden. »Es ist ein ewiger Kreislauf, in dem die Materie sich bewegt, […] ein Kreislauf, in dem die Zeit der höchsten Entwicklung, die Zeit des organischen Lebens und noch mehr die des Lebens selbst- und naturbewusster Wesen ebenso knapp bemessen ist wie der Raum, in dem Leben und Selbstbewusstsein zur Geltung kommen; ein Kreislauf, in dem jede endliche Daseinsweise der Materie […] gleicherweise vergänglich, und worin nichts ewig ist als die ewig sich verändernde, ewig sich bewegende Materie und die Gesetze, nach denen sie sich bewegt und verändert.« 10 Marx unterstützt diese naturwissenschaftlichen Studien seines Freundes, hatte er doch bereits Jahrzehnte vorher Ludwig Feuerbach dazu bringen wollen, Schellings Naturphilosophie dialektisch-materialistisch fortzuführen. Auch jetzt drängt er Engels, die Hegelsche Naturphilosophie durchzuarbeiten, damit er so das kritisch-kategoriale Rüstzeug gewinne, die naturwissenschaftlichen Detailerkenntnisse dialektisch zu durchdringen. Leider ist Engels dieser Aufgabe ganz und gar nicht gewachsen. So liest Engels, weniger aus wirklichem naturphilosophischen Problemverständnis, sondern um einen systematischen Durchblick durch die Stofffülle der naturwissenschaftlichen Literatur zu gewinnen, die Naturphilosophie Hegels und extrahiert daraus einige recht äußerlich bleibende Leitsätze zur Dialektik, wobei er sich bemüht – Marx nachahmend, aber auch gründlich missverstehend – Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dies missrät zu einem kläglichen Purzelbaum: »Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Sie sind eben nichts andres als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst. Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei: das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durch7 Charles Darwin, Über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn (1859/1860). 8 Herbert Spencer, Die Principien der Sociologie (1874/1877). 9 Erich Jantsch, Die Selbstorganisation des Universums: Vom Urknall zum menschlichen Geist (1979). 10 Engels, Dialektik der Natur (1886/1925), 20: 327.

108 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

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dringung der Gegensätze; das Gesetz von der Negation der Negation. Alle drei sind von Hegel in seiner idealistischen Weise als bloße Denkgesetze entwickelt […]. Der Fehler liegt darin, daß diese Gesetze als Denkgesetze der Natur und Geschichte aufoktroyiert, nicht aus ihnen abgeleitet werden.« 11 Engels handhabt hier den Begriff »Dialektik« ganz naiv positivwissenschaftlich – so als hätte es keine Kantische Transzendentalphilosophie gegeben, aber auch keine Naturphilosophie Schellings, keinen Hegel, keinen Marx. Er geht schlicht davon aus, dass die Bewegungsgesetze in Natur und Gesellschaft die Dialektik seien, die von den positiv-genetischen Wissenschaften der Natur und der Gesellschaft nur richtig widerzuspiegeln sind. Die positiven Wissenschaften darin anzuleiten ist Aufgabe der Dialektik als Erkenntnistheorie, die – wundersamer- und erfreulicherweise – an ihren eigenen Bewegungsgesetzen des Denkens die gleiche Dialektik aufweist wie Natur und Gesellschaft. Engels hat nicht nur keinen Begriff von dem, was Dialektik der Natur heißen könnte, sondern missversteht ebenso die Dialektik der Marxschen Praxisphilosophie bezogen auf die Geschichte. Dieses doppelte Missverständnis ist dann in den dogmatischen Marxismus eingegangen, denn das, was dort unter dialektischem und historischem Materialismus abgehandelt wird, knüpft nicht an Marx, sondern an Engels an. Die theoretische Differenz zwischen der Dialektik der Marxschen Praxisphilosophie und dem wissenschaftlichen Positivismus von Engels ist deshalb nicht so leicht aufzufinden und blieb daher so lange – auch den beiden Freunden selber – verborgen, da Engels sich immer bemüht hat, in seinen Darstellungen die Theorie seines Freundes möglichst dicht an dessen Gedanken nachzuzeichnen. Engels’ Stärke lag überhaupt in der darstellenden Methode, so sind seine Beschreibungen von den Wandlungsprozessen in der griechischen Polis über die Bauernkriege bis hin zur Lage der arbeitenden Klasse in England ganz hervorragende historisch-empirische Darstellungen. In gleicher Weise sind auch seine Ausführungen zur Dialektik der Natur, dort nämlich, wo sie die Prozesshaftigkeit der Natur beschreibend darstellen, positiv zu würdigen – sie stehen hierin den heutigen Darstellungen zur Selbstorganisation des Universums lediglich in der Faktenfülle nach, nicht aber substantiell. 11

Engels, Dialektik der Natur (1886/1925), 20: 348.

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Die Differenz zwischen Marx und Engels liegt in der methodischen Struktur ihres theoretischen Fragens. Bereits in dem unredigierten ersten Kapitel der Deutschen Ideologie treten, von den Autoren selber und von den späteren Rezipienten lange Zeit unbeachtete, entscheidende Differenzen zu Tage. Engels schreibt dort den für die Rezeptionsgeschichte der Marxschen Theorie verhängnisvollen Satz: »Da, wo die Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, beginnt aber die wirkliche, positive Wissenschaft […]. Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium.« Bis hierher könnte man noch Marxsche Gedanken hineininterpretieren, doch Engels fährt fort: »An ihre Stelle kann höchstens eine Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate treten, die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen [und auch der Natur] abstrahieren lassen. Diese Abstraktionen […] können nur dazu dienen, die Ordnung des geschichtlichen Materials zu erleichtern, die Reihenfolge seiner einzelnen Schichten anzudeuten.« 12 Dass von diesem Selbstverständnis positiver Wissenschaften und ihrer darstellenden Zusammenfassung her Marx seine Kritik der politischen Ökonomie nie hätte schreiben können, ist wohl hinlänglich klar. Marx selber formuliert denn auch wenige Seiten später, gegen Feuerbach gerichtet, seine grundlegende Kritik an der positiven Wissenschaft, die »nur ein richtiges Bewußtsein über ein bestehendes Faktum hervorbringt, während es dem wirklichen Kommunisten [oder »praktischen Materialisten«] darauf ankommt, das Bestehende [als eine verkehrte Wirklichkeit] umzustürzen […], die bestehende Welt zu revolutionieren, die vorgefundnen Dinge praktisch anzugreifen und zu verändern«. 13 Dadurch, dass Engels nicht etwa in Analogie zur Marxschen Kritik der politischen Ökonomie eine Kritik der naturwissenschaftlichen Naturerkenntnis vornimmt – was allerdings eine naturphilosophische Grundlegung voraussetzen würde, um die sich Engels nicht bekümmert –, sondern lediglich jenen naturwissenschaftlichen Aussagen affirmativ nachgeht, die die Bewegungs- und Gestaltungsprozesse der Natur von den »wirbelnden, glühenden Dunstmassen« bis zu »ihrer höchsten Blüte, dem denkenden Geist« beschreiben, erliegt Engels natürlich selber dem Gesetzesobjektivismus der neuzeitlichen 12 13

Engels, Deutsche Ideologie (1845–46), 3: 27. Marx, Deutsche Ideologie (1845–46), 3: 42.

110 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

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Wissenschaften. Dies überträgt sich dann auch ungewollt und trotz vieler gegenteiliger Beteuerungen von Engels und sogar korrigierender Eingriffe von Marx – bezogen auf den Anti-Dühring 14 – auf das Geschichtsverständnis von Engels. Am nächsten kommt Engels der Marxschen Mensch-Natur-Dialektik noch in der Teilstudie Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. 15 Obwohl auch daran gezeigt werden kann, wie das, was bei Marx bewusste Explikation eines doppelten dialektischen Verhältnisses ist, bei Engels zu einem naiven Einerlei von naturgeschichtlicher Menschwerdung aus den Tätigkeitsformen der Vorfahren der Menschen (aufrechter Gang, Hand, Sprache) und geschichtlicher Menschwerdung der Menschen durch die gesellschaftliche Praxis vermengt wird und so zu einer Verobjektivierung der gesellschaftlichen Entwicklungsgeschichte führt: »Die Rückwirkung der Entwicklung des Gehirns und seiner dienstbaren Sinne, des sich mehr und mehr klärenden Bewußtseins, Abstraktions- und Schlußvermögens auf Arbeit und Sprache gab beiden immer neuen Anstoß zur Weiterbildung, einer Weiterbildung, die nicht etwa einen Abschluß fand, sobald der Mensch endgültig vom Affen geschieden war, sondern die seitdem bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten verschieden nach Grad und Richtung, stellenweise selbst unterbrochen durch örtlichen und zeitlichen Rückgang, im ganzen und großen gewaltig vorangegangen ist; einerseits mächtig vorangetrieben, andererseits in bestimmtere Richtungen gelenkt durch ein mit dem Auftreten des fertigen Menschen neu hinzutretendes Element – die Gesellschaft.« 16 Ganz im Sinne auch dieses Zitats versteht Engels unter dialektischer Erkenntnis die zusammenfassende Darstellung der Forschungsergebnisse der positiven Wissenschaften, und zwar nicht nur in Bezug auf die Natur, sondern ebenso in Bezug auf die Gesellschaft. Es ist daher nicht richtig, wenn man behauptet, der wissenschaftliche Positivismus käme bei Engels durch die ungerechtfertigte Ausweitung der Dialektik auf die Naturprozesse, vielmehr beherrscht der wissenschaftliche Positivismus genauso auch seine Darstellung von Gesellschafts- und Geschichtsprozessen; dies sei an einer längeren, für En14 Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (AntiDühring) (1878), 20: 9 ff. Vgl. den Briefwechsel zwischen Engels und Marx von 1875 bis 1880, Marx/Engels, 34: 5 ff. 15 Engels, »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« (1876/1896), 20: 444 ff. 16 Engels, »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen« (1876/1896), 20: 448.

111 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

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gels zentralen Textpassage demonstriert: »Mit dem Menschen treten wir ein in die Geschichte. Auch die Tiere haben eine Geschichte […]. Aber diese Geschichte wird für sie gemacht, und soweit sie selbst daran teilnehmen, geschieht es ohne ihr Wissen und Wollen. Die Menschen dagegen, je mehr sie sich vom Tier im engeren Sinne entfernen, desto mehr machen sie ihre Geschichte selbst, mit Bewußtsein, desto geringer wird der Einfluß unvorhergesehener Wirkungen, unkontrollierter Kräfte auf die Geschichte, desto genauer entspricht der geschichtliche Erfolg dem vorher festgestellten Zweck. Legen wir aber diesen Maßstab an die menschliche Geschichte […], so finden wir, daß hier noch immer ein kolossales Mißverständnis besteht. […] Erst eine bewußte Organisation der gesellschaftlichen Produktion, in der planmäßig produziert und verteilt wird, kann die Menschen ebenso in gesellschaftlicher Beziehung aus der übrigen Tierwelt herausheben, wie dies die Produktion überhaupt für die Menschen in spezifischer Beziehung getan hat. […] Von ihr wird eine neue Geschichtsepoche datieren, in der die Menschen selbst, und mit ihnen alle Zweige ihrer Tätigkeit, namentlich auch die Naturwissenschaften, einen Aufschwung nehmen werden, der alles Bisherige in tiefen Schatten stellt.« 17 Besser als es Engels hier selbst ausspricht, lässt sich sein positivistisches Wissenschaftsverständnis, seine Fortschrittsgläubigkeit und seine Planwirtschaftsideologie, die den dogmatischen Marxismus der Zweiten und Dritten Internationale beherrschen wird, nicht charakterisieren. Der geschichtliche Fortschritt liegt in der wissenschaftlichen Erkenntnis der Bedingungen und Gesetze der Natur- und Gesellschaftsprozesse, so dass diesen Erkenntnissen gemäß die gesellschaftliche Praxis als soziale und der Natur gegenüber geplant und organisiert werden kann. Hierin liegt aber eine totale objektivistische Verkehrung der Dialektik der Marxschen Praxisphilosophie, denn die Kritik der politischen Ökonomie von Marx ist gerade nicht eine positiv-ökonomische Wissenschaft, die die Prozessgesetze der Politischen Ökonomie abbildet und dialektisch zusammenfasst, um darauf aufbauend eine sozialistische Planwirtschaft errichten zu können – wie die Marxsche Theorie bis in den real-existierenden Sozialismus hinein missverstanden wurde –, sondern sie ist radikale Kritik der bestehenden wertökonomisch bestimmten Produktionsweise – und somit übrigens 17

Engels, Dialektik der Natur (1886/1925), 20: 323 f.

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auch des real-existierenden Sozialismus. Sie deckt in kritischer Analyse auf, dass der herrschenden wertökonomisch bestimmten Produktionsweise ein prinzipieller, sich steigernder Widerspruch zugrunde liegt: einerseits reproduziert diese tagtäglich unsere ökonomische Lebensgrundlage, andererseits tut sie dies in einer völlig verkehrten Form, indem sie die produzierenden Menschen immer mehr zu Anhängseln des von ihnen in Gang gesetzten, inzwischen verselbständigten Wirtschafts- und Industrieprozesses degradiert und somit verhindert, dass die Menschen zu Subjekten ihres gemeinsam zu gestaltenden menschlichen Lebens und ihrer Geschichte werden können. Nun hatte Marx – wie oben gezeigt – bereits in den Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten von 1844 das bestehende gesellschaftliche Naturverhältnis in Wissenschaft und Industrie einer kritischen Analyse unterzogen: Einerseits sind – so führt Marx dort aus – Naturwissenschaft und Industrie die menschlichen Produktivkräfte, durch die die Menschen den lebensnotwendigen gesellschaftlichen Auseinandersetzungsprozess mit der Natur fortschreitend entfalten, andererseits tun sie dies gegenwärtig in völlig entfremdeter Form. Ausdrücklich betont Marx, dass sowohl die rein auf die Nützlichkeit reduzierte Industrie als auch die positivistischen Naturwissenschaften in ihrer gegenwärtigen Form »die Entmenschung« der Menschen »vervollständigen«. 18 Erst dort, wo Industrie und Wissenschaft in ihrer gegenwärtig entfremdeten Gestalt aufgehoben sind, wird es möglich werden, ein neues menschliches Verhältnis zur Natur in Wissenschaft und Industrie zu verwirklichen. In diesem Sinne sagt Marx auf die Zukunft bezogen: »Die Geschichte selbst ist ein wirklicher Teil der Naturgeschichte, des Werdens der Natur zum Menschen. Die Naturwissenschaft wird später ebensowohl die Wissenschaft von dem Menschen wie die Wissenschaft von dem Menschen Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein.« 19 Dass damit keine objektivistischen Wissenschaften gemeint sind, sondern eine umfassende kritische Natur- und Praxisphilosophie, wurde bereits unterstrichen und soll später nochmals hervorgehoben werden. Um die Differenz zwischen der kritischen Dialektik der Marxschen Praxisphilosophie und dem positiven Wissenschaftsver18 19

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 543. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 544.

113 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

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ständnis von Engels an einem letzten Punkt deutlich zu machen, sei noch die unterschiedliche Strategie zur Lösung ökologischer Probleme von Marx und Engels aufgezeigt. Eingebettet in die Beschreibung des menschlichen Entwicklungsprozesses hat Engels – ebenfalls auf Anregung von Marx 20 – in einer neuerdings vielzitierten Passage sehr verdienstvoll auf die Entstehung ökologischer Krisen, verursacht durch naturwüchsig voranschreitende gesellschaftliche Produktion, hingewiesen. Marx war bei seinen kritischen Studien zur politischen Ökonomie verschiedentlich auf das Problem der Umweltzerstörung durch den Industrialisierungsprozess gestoßen, am eindrucksvollsten stellt er dieses Problem am Kapitel »Große Industrie und Agrikultur« im ersten Band des Kapital dar; und in den Theorien über den Mehrwert schreibt er – wie schon einmal zitiert: »Antizipation der Zukunft – wirkliche Antizipation – findet überhaupt in der Produktion des Reichtums nur statt mit Bezug auf den Arbeiter und die Erde. Bei beiden kann durch vorzeitige Überanstrengung und Erschöpfung, durch Störung des Gleichgewichts zwischen Ausgabe und Einnahme, die Zukunft realiter antizipiert und verwüstet werden. Bei beiden geschieht es in der kapitalistischen Produktion.« 21 Für Marx ist völlig klar, dass der ökologischen Gefahr nur durch eine radikale Umwälzung kapitalistischer Produktionsweisen begegnet werden kann; das impliziert aber auch eine Umwälzung der gegenwärtigen Formbestimmtheit von Wissenschaft und Industrie. Für Engels dagegen, der durch Marx auf diese ökologische Problematik hingewiesen wurde, stellt sich die Lösungsstrategie ganz anders dar: »Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. […] Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, daß sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten […]. Die spanischen Pflanzer in Kuba, die die Wälder an den Abhängen niederbrannten und in der Asche Dünger genug für eine Generation höchst rentabler Kaffeebäume vorfanden – was lag ihnen daran, daß nachher die tropischen Regengüsse die nun schutzlose Dammerde herabschwemmten und nur nackten Fels hinterließen? […] Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß 20 21

Marx, Brief an Engels (1868), 32: 52 f. Marx, Theorien über den Mehrwert (1862–63), 26/3: 303.

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wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht –, sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsere ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen anderen Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.« 22 So großartig und weitsichtig diese Ausführungen von Engels auch sind und wie grundlegend sie unsere lebensnotwendige Einbezogenheit in die Natur auszusprechen vermögen, sie können doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch hier Engels im Gegensatz zu Marx gerade nicht mit einer Kritik an der wertökonomischen Formbestimmtheit der gegenwärtigen Wissenschaft und industriellen Naturbeherrschung ansetzt, sondern ganz naiv wissenschaftsund industriegläubig auf noch mehr objektivistisches Wissen und technologische Planung baut – ganz ähnlich übrigens, wie er dies auch für den gesellschaftlichen Bereich fordert. Denn bei Engels erwächst diese Aufgabe nicht aus einer naturphilosophischen Grundlegung, die dialektisch begreift, wie wir Menschen in unserer gesellschaftlichen Praxis die Natur beherrschend übergreifen und gleichwohl von dieser zugleich lebendig umgriffen werden, sondern Engels spricht hier seine positivistisch-materialistische Wissenschaftsgläubigkeit aus: Die Wissenschaften decken fortschreitend die Entwicklungsgesetze von Natur und Geschichte auf, denen wir uns zunehmend einzufügen und unterzuordnen haben. Dieses Grundverständnis wird überall dort besonders deutlich, wo Engels, statt eine revolutionäre Umwälzung unserer selbst und unserer verkehrten Verhältnisse zu fordern, technologische Strategien der Lebensmeisterung anbietet, sowohl im ökonomischen als auch im ökologischen Bereich – auch die Revolution ist ihm ein solcher technologischer Eingriff zur Beseitigung von Eigentumsverhältnissen, die einer planvollen Gesellschaftsentwicklung im Wege stehen: »Aber auch auf diesem Gebiet lernen wir allmählich, durch lange, oft harte Erfahrung und durch Zusammenstellung und Untersuchung des geschichtlichen Stoffs, uns über die mittelbaren, entfernteren gesellschaftlichen Wirkungen unserer produktiven Tätigkeit Klarheit zu verschaffen, und damit wird uns die Möglichkeit gegeben, auch diese Wirkungen zu beherrschen und zu regeln.« 23 22 23

Engels, Dialektik der Natur (1886/1925), 20: 452 f., 455, 453. Engels, Dialektik der Natur (1886/1925), 20: 454.

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So sieht Engels das Ziel des Sozialismus nicht wie Marx in der Befreiung der arbeitenden Menschen aus den verselbständigten wertbestimmten Produktionsprozessen, sondern in der Einfügung der Individuen in die von den Wissenschaften erkannten objektiven Gesetzmäßigkeiten der Natur und der Gesellschaftsentwicklung sowie deren planvollen Anwendung zur Steigerung des Industrialisierungsprozesses und zur Errichtung eines organisierten Sozialismus. Insofern liegen hier bereits die Wurzeln zur positivistischen Umdeutung der Marxschen Praxisphilosophie, wie sie später im dogmatischen Marxismus noch viel deutlicher werden. So sehr Engels selbst vielfach versucht hat, dem positivistischen Materialismus entgegenzuwirken, der in noch handfesterer Form von jungen sozialdemokratischen Theoretikern der Zweiten Internationale vertreten wird, so sehr bereitet er selbst doch einem solchen Materialismus zugleich durch sein positivistisches Wissenschaftsverständnis den Boden vor. Es geht uns nicht darum, Engels als Person und Denker zu diffamieren – war er doch von den beiden Freunden der menschlich feinere Kerl, der Marx verschiedentlich aus selbstverschuldeten Patschen geholfen hat, ohne von Marx den rechten Dank dafür zu erhalten. Auch war Engels stärker der Politiker der kommunistischen Bewegung, ohne den Marx niemals diesen theoretischen Einfluss auf die Arbeiterbewegung hätte gewinnen können –, sondern es geht uns an dieser Stelle nur darum zu zeigen, dass Engels nicht deshalb zu einem objektivistischen Naturverständnis kommt, weil er die Dialektik auf die Natur ausweitet, sondern Engels hat von vornherein ein positivistisches Wissenschaftsverständnis, das ihm genauso die Natur als auch die Gesellschaftsgeschichte zu einem objektiven Gesetzesgeschehen gerinnen lässt. Dies haben jene Kritiker des dogmatischen Marxismus – beginnend mit Georg Lukács bis hin zu Jean Paul Sartre – verkannt, die glaubten, nur dadurch die Marxschen Dialektik retten zu können, dass sie diese auf die Geschichte eingrenzen, während sie die Natur den positiven Wissenschaften überlassen können – worauf gleich noch einzugehen sein wird.

Nikolai Bucharin Wenn nun schon einer der »Ahnväter« des »Wissenschaftlichen Sozialismus« und noch dazu gerade der, der sich – wie er selber im Vorwort zum Anti-Dühring schreibt – bei ihrer gemeinsamen Arbeits116 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

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teilung speziell der Dialektik der Natur im Verhältnis zum Menschen gewidmet hat, ein solch abgespanntes Abbild der Marxschen Dialektik vermittelt, wie soll man da von den weiteren Nachfolgern, die ja nur Bruchstücke der Manuskripte von Marx kannten und keinerlei philosophische Vorbildung besaßen, ein tieferes Eindringen in die Naturproblematik erwarten können; noch dazu, wenn man bedenkt, dass auch die bürgerliche Philosophie der damaligen Zeit – bis auf einige Außenseiter –, gebannt von den Erfolgen der Naturwissenschaften die Natur als philosophisches Problem für über ein Jahrhundert aus ihrem Fragehorizont verdrängt hat. So setzt sich auch im Marxismus der Zweiten und Dritten Internationale der Positivismus und Objektivismus ungehindert durch. Die materialistische Geschichtsauffassung (1927) von Karl Kautsky und die Theorie des historischen Materialismus (1922) von Nikolai Bucharin können als Gradmesser für das Anwachsen dieses unkritischen Wissenschafts- und Technikverständnisses genommen werden, das schließlich im von Stalin verordneten Marxismus-Leninismus seinen ideologischen Höhepunkt erfuhr. 24 Wir wollen uns hier nicht allzu tief in die verdrehte Rezeptionsgeschichte der Marxschen Theorie vertiefen 25, sondern nur kurz noch auf die Theorie des historischen Materialismus (1922) von Nikolai Bucharin (1888–1938) eingehen, die wohl am nachhaltigsten das verkehrte verdinglichte Verständnis von Wissenschaft und Technik im dogmatischen Sowjetmarxismus geprägt hat. 26 Bucharin ist keineswegs der Erfinder der mechanistischen Theoreme von Basis und Überbau, des verdinglichten Verständnisses der Produktivkräfte und des gesetzlichen Geschichtsverlaufs, wohl aber hat sein in alle Weltsprachen übersetztes »gemeinverständliches Lehrbuch« zur weltweiten Verbreitung dieser Verballhornung des Marxschen Denkens entscheidend beigetragen. 27 Josef W. Stalin, Über Dialektischen und Historischen Materialismus (1938). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981/2018): 284 ff. 26 Vgl. Oskar Negt, »Marxismus als Legitimationswissenschaft. Zur Genese der stalinistischen Philosophie«, in: Abram Deborin/Nikolai Bucharin, Kontroversen über dialektischen und Mechanistischen Materialismus (1969). 27 Mit dieser Kritik soll keineswegs Nikolai Bucharin, ein aufrechter Revolutionär, als Person diffamiert werden. Sein tragisches Ende als Opfer der stalinistischen Schauprozesse 1938 verdient in Erinnerung gehalten zu werden. Vgl. Arthur Koestler, Sonnenfinsternis (1940) sowie Maurice Merleau-Ponty, Humanismus und Terror (1947). 24 25

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Wie schon Georgi W. Plechanow 28, von dem der Begriff des »dialektischen Materialismus« stammt, versteht auch Bucharin die Natur- und Menschengeschichte als einen ›dialektisch‹ objektivistisch ablaufenden Prozess, dessen widersprüchliches Vorantreiben es wissenschaftlich abzubilden gilt, damit der in sie eingefasste Mensch sich mit Bewusstsein ihr einzufügen vermag. »Wir wissen aus den Naturwissenschaften, daß der Mensch ein Produkt der Natur […] ist. […] Zuerst war Materie, die nicht denken konnte. Aus ihr entwickelte sich denkende Materie, der Mensch. […] Die menschliche Gesellschaft ist ein Produkt der Natur […]. Sie ist von dieser Natur abhängig und kann nur dann bestehen, wenn sie aus dieser Natur die für sie nützlichen Gegenstände herauspumpt. […] Sie tut es aber keineswegs immer bewußt. Bewußt geschieht es lediglich in der organisierten Gesellschaft, wo alles planmäßig verläuft.« 29 Dieses objektivistische Verständnis des ›dialektischen‹ Naturprozesses erzwingt geradezu ein ebensolches Verständnis des ›dialektischen‹ Geschichtsprozesses. Nicht die Menschen machen ihre Geschichte, sondern diese sind eingebunden in einen ›dialektischen‹ Prozess gesellschaftlicher Entwicklung, den sie durch ihre individuellen Interessen entweder abbremsen oder durch wissenschaftliche Einsicht in seiner Notwendigkeit befördern können. Hauptmotor des ›dialektischen‹ Gesellschaftsprozesses ist der Widerspruch zwischen den Produktivkräften – worunter Bucharin vor allem die wissenschaftlich geführte Technik versteht – und den Produktionsverhältnissen – worunter die gesellschaftlich-ökonomischen Herrschaftsstrukturen zu verstehen sind. Dieser Widerspruch wird durch die sie repräsentierenden Klassen ausgefochten. »Der Widerspruch zwischen den Produktivkräften und den Eigentumsverhältnissen der betreffenden Gesellschaft entsteht doch nicht auf einmal […]. Er macht sich bemerkbar und äußert sich lange vor der Revolution, entwickelt sich lange Zeit hindurch und endet infolge dieser Entwicklung mit einem Sprengen jener Produktionsverhältnisse, die sich als Fessel für die Weiterentwicklung der Produktivkräfte erweisen.« 30 Diesem mechanistischen Materialismus – der zur Weltanschauung dogmatisiert, fast ein Jahrhundert lang den main stream des Marx-Verständnisses seiner dogmatischen Anhänger und ebenso 28 29 30

Georgi W. Plechanow, Beiträge zur Geschichte des Materialismus (1896). Bucharin, Theorien des historischen Materialismus (1922): 50, 58. Bucharin, Theorien des historischen Materialismus (1922): 295.

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dogmatischen Gegner beherrschte – setzt Antonio Gramsci in seinen Gefängnisheften (1929–35) ganz entschieden die Philosophie der Praxis entgegen. 31 Bucharins »gemeinverständliches Lehrbuch« – so notiert Gramsci – gründet auf einer Philosophie des »evolutionistischen Positivismus« und ist der »Versuch, historische und politische Fakten schematisch zu beschreiben und zu klassifizieren nach Kriterien, die nach dem Modell der Naturwissenschaften konstruiert sind.« 32 Dadurch wird aber die »Philosophie der Praxis« von Marx auf »eine Weltauffassung«, »ein mechanische[s] Formelwerk« reduziert, das gerade eine bewusst emanzipative Praxis der »subalternen Massen« verhindert. 33

2.

Die Erneuerung der Dialektik unter Ausschluss der Natur – Lukács und Sartre

Auf Anregung von Karl Korsch veranstaltete das eben gegründete Institut für Sozialforschung der Universität Frankfurt, zu deren ersten Gründungsdirektor Carl Grünberg aus Wien berufen wurde, 1923 eine Woche lang ein erstes denkwürdiges Theorieseminar, das – wie die Gründung des Instituts selbst – ebenfalls von Felix Weil gesponsert wurde. 34 An dieser Arbeitswoche nahmen unter anderen Eduard Ludwig Alexander, Béla Fogarasi, Fukumoto Kazuo, Karl Korsch, Georg Lukács, Friedrich Pollock, Karl August Wittfogel teil. Mit diesem Theorieseminar wurde nicht nur ein Zeichen gesetzt, dass anknüpfend an die Marxsche Praxisphilosophie politisch engagierte sozial-ökonomische und sozial-geschichtliche Forschungen in Angriff genommen werden können, sondern erstmals seit den vorausgehenden Arbeiten von Antonio Labriola und Max Adler wurden auch wieder philosophische Grundlagenprobleme ernsthaft aufge31 Antonio Gramsci, Gefängnishefte, 10 Bde., hg. v. Klaus Bochmann/Wolfang Fritz Haug (1991 ff.), Bd. 6: Philosophie der Praxis. Vgl. auch Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, hg. v. Christian Riechers (1967). 32 Gramsci, Philosophie der Praxis (1929–36/1991), 6: 1426. 33 Gramsci, Philosophie der Praxis (1929–36/1991), 6: 1423. Vgl. Armin Bernhard, Antonio Gramscis Politische Pädagogik (2005). 34 Vgl. Michael Buckmiller, »Die Marxistische Arbeitswoche 1923 und die Gründung des Instituts für Sozialforschung«, in: Gunzelin Schmid Noerr/Willem van Reijen (Hg.): Grand Hotel Abgrund. Eine Photobiographie der Kritischen Theorie (1988): 141 ff.

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Die Aporie der Naturfrage im Marxismus

worfen und den Versimpelungen des dogmatischen Marxismus entgegengestellt. Davon zeugen insbesondere die beiden noch im gleichen Jahr 1923 erscheinenden Arbeiten von Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein, und Karl Korsch, Marxismus und Philosophie 35, durch die vollends die Rückkehr des marxistischen Denkens in die Philosophie vollzogen wird.

Georg Lukács Dass Georg Lukács (1885–1971) in Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) 36, also noch vor Entdeckung der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte von Marx – eine großartige Wiedererneuerung der Dialektik der Marxschen Theorie bezogen auf die Geschichte gelingt, wird man immer wieder rühmend hervorheben müssen. Im Werk Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) von Georg Lukács erreicht der Marxismus erneut das Niveau der großen Philosophie; es ist nicht nur zweifellos die grundlegendste philosophische Arbeit innerhalb der marxistischen Tradition nach Marx, sondern diese Arbeit gehört auch zu den bedeutendsten philosophischen Schriften des frühen 20. Jahrhunderts. 37 Was ermöglicht es der Marxschen Theorie, »revolutionäre Dialektik« zu sein? Das ist die philosophische Frage, die Lukács im Eingangskapitel von Geschichte und Klassenbewußtsein aufwirft und die es ihm ermöglicht, die letzten Begründungszusammenhänge des durch Marx neuartig aufgeworfenen Anspruchs einer aus der Praxis erwachsenden und zugleich in die Praxis eingreifenden Theorie aufzuspüren: »Es müssen vielmehr sowohl in der Theorie, wie in der Art der Ergreifung der Massen jene Momente, jene Bestimmungen aufgefunden werden, die die Theorie, die dialektische Methode zum Vehikel der Revolution machen; es muß das praktische Wesen der Wolfgang Zimmermann, Korsch zur Einführung (1978). Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923/1970). 37 Vgl. Furio Cerutti u. a. (Hg.), Geschichte und Klassenbewusstsein heute. Diskussion und Dokumentation (1971); Istvan Mészáros (Hg.), Aspekte von Geschichte und Klassenbewußtsein (1972); Gvozden Flego/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Georg Lukács – Ersehnte Totalität. Band I des Bloch-Lukács-Symposiums 1985 in Dubrovnik (1986); Rüdiger Dannemann, Georg Lukács zur Einführung (1997); Marek J. Siemek, Von Marx zu Hegel. Zum sozialpolitischen Verständnis der Moderne (2002): 31 ff. 35 36

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Theorie aus ihr und ihrer Beziehung zu ihrem Gegenstand entwickelt werden.« 38 Die den Naturwissenschaften nachgebildeten positivistischen Sozialwissenschaften sind von ihrer Wissenschaftsmethodologie her sicherlich nicht in der Lage, das Ganze der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu erfassen oder gar nach Handlungsperspektiven im Hinblick auf den Sinnhorizont menschlicher Geschichte zu fragen. Sie weisen vielmehr eine eigentümliche Affinität zur Logik des Kapitals auf, insofern auch sie die Gegenstände ihrer Erkenntnis zu Einzeltatsachen verdinglichen, die nur in einem äußeren, von der wissenschaftlichen Methodologie hergestellten Gesetzes- und Systemzusammenhangs stehen. »Das auf den ersten Anblick Bestechende einer solchen Methode liegt darin, daß die kapitalistische Entwicklung selbst die Tendenz hat, eine Struktur der Gesellschaft hervorzubringen, die solchen Betrachtungsweisen sehr weit entgegenkommt. Aber wir bedürfen gerade hier und gerade deshalb der dialektischen Methode, um dem so produzierten gesellschaftlichen Schein nicht zu erliegen, um hinter diesem Schein doch das Wesen erblicken zu können.« 39 Die Marxsche Gesellschafts- und Geschichtstheorie setzt gerade nicht bei den methodisch isolierten Einzeltatsachen an, sondern fragt nach der »konkreten Totalität« menschlicher Praxis, d. h. sie bedenkt die geschichtliche »Wirklichkeit als gesellschaftliches Geschehen«. Dadurch werden alle Kategorien ihrer Gesellschafts- und Geschichtsanalyse auf das »wirkliche Substrat« der gesellschaftlich kooperierenden und geschichtlich handelnden Menschen in ihren gelebten Beziehungen zurückgeführt. »Denn dadurch, daß in jeder ökonomischen Kategorie eine bestimmte Beziehung zwischen den Menschen auf einer bestimmten Stufe ihrer gesellschaftlichen Entwicklung zum Vorschein kommt, bewußt gemacht und auf ihren Begriff gebracht wird, kann erst die Bewegung der menschlichen Gesellschaft selbst in ihrer inneren Gesetzlichkeit, zugleich als Produkt der Menschen selbst und von Kräften, die aus ihren Beziehungen entstanden, sich ihrer Kontrolle entwunden haben, begriffen werden.« 40 Bereits Hegel hatte herausgearbeitet, dass das Begreifen der Geschichte ein Selbstbewusstwerden der durch die Geschichte voran38 39 40

Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923/1970): 59. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923/1970): 65. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923/1970): 79.

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drängenden Praxis sei. Aber bei Hegel bleibt dieses Selbstbewusstsein der menschlichen Geschichte ein nachträgliches, das niemals soweit gelangen kann, bewusst in die Geschichte einzugreifen. »Hegel vermochte nicht zu den wirklich treibenden Kräften der Geschichte durchzudringen.« 41 Gerade aber hierin führt Marx die Hegelsche Dialektik praktisch zu Ende, die dadurch eine revolutionäre wird, denn indem die Menschen sich selbst geschichtlich in der Totalität menschlicher Geschichte begreifen, ist dies nicht mehr nur ein Nachverstehen ihres Gewordenseins aus der Geschichte, sondern zugleich ein Gewahrwerden der Geschichte als praktischer Aufgabe ihrer gegenwärtigen Praxis. Dies »bedeutet ein Bewußtwerden des Menschen über sich als Gesellschaftswesen, über den Menschen als – gleichzeitiges – Subjekt und Objekt des gesellschaftlich-geschichtlichen Geschehens«. 42 Dieses Selbstbewusstwerden des Menschen in ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Praxis setzt jedoch einen vorausgehenden Geschichtsprozess voraus, der sowohl die materiellen Bedingungen für eine bewusste gesellschaftliche Lebensgestaltung hervorgebracht hat als auch die subjektive Einsicht in die Notwendigkeit einer bewussten gesellschaftlichen Lebensgestaltung reifen lässt, da der bisherige naturwüchsige gesellschaftliche Entwicklungsprozess in immer unlösbarere gesellschaftliche Konflikte hineinführt. So ist ein solches Bewusstwerden der Menschen als Subjekte ihrer gesellschaftlich-geschichtlichen Praxis – wie Lukács betont – materiell erst »auf dem Boden des Kapitalismus« möglich, aber zur subjektiven Bewusstwerdung, »als geschichtliche Träger diese Umwälzung« zu fungieren, ist wiederum nur eine Klasse fähig: das Proletariat. »Erst mit dem Auftreten des Proletariats vollendet sich die Erkenntnis der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Und sie vollendet sich eben, indem im Klassenstandpunkt des Proletariats der Punkt gefunden ist, von wo aus das Ganze der Gesellschaft sichtbar wird. […] Die Einheit von Theorie und Praxis ist also nur die andere Seite der geschichtlich-gesellschaftlichen Lage des Proletariats, daß von seinem Standpunkt Selbsterkenntnis und Erkenntnis der Totalität zusammenfallen, daß es zugleich Subjekt und Objekt der eigenen Erkenntnis ist.« 43 Damit ist keineswegs gesagt – das hebt Lukács ausdrücklich hervor –, dass 41 42 43

Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923/1970): 83. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923/1970): 86. Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923/1970): 87.

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»dem Proletariat als Klasse« diese Einsicht »unmittelbar und natürlich gegeben wäre«, vielmehr setzt auch dies eine Bewusstwerdungsgeschichte voraus, in der sich Theorie und Praxis gegenseitig durchdringen müssen. 44 Damit sind wir klärend und fundierend bei der Beantwortung der Ausgangsfrage angelangt: Die Dialektik der Marxschen Theorie versteht sich als Moment der Bewusstwerdung gesellschaftlich-geschichtlicher Praxis im revolutionären Umschlagpunkt aus der Bewusstlosigkeit bisheriger Gesellschaftsgeschichte heraus auf eine bewusste gesellschaftliche Verantwortung für die Geschichte hin. Da diese Umwälzung aber nur von den wirklichen Trägern gesellschaftlicher Produktion praktisch vollbracht werden kann, begreift sich die Theorie als revolutionäre Dialektik, die der Bewusstwerdung der proletarischen Emanzipationsbewegung dient. »Erst wenn das Bewußtwerden den entscheidenden Schritt bedeutet, den der Geschichtsprozeß seinem eigenen, sich aus Menschenwillen zusammensetzenden, aber nicht von menschlicher Willkür abhängigen, nicht vom menschlichen Geiste erfundenem Ziele entgegen tun muß; wenn die geschichtliche Funktion der Theorie darin besteht, diesen Schritt praktisch möglich zu machen; wenn eine geschichtliche Situation gegeben ist, in der die richtige Erkenntnis der Gesellschaft für eine Klasse zur unmittelbaren Bedingung ihrer Selbstbehauptung im Kampfe wird; wenn für diese Klasse ihre Selbsterkenntnis zugleich eine richtige Erkenntnis der ganzen Gesellschaft bedeutet; wenn demzufolge für eine solche Erkenntnis diese Klasse zugleich Subjekt und Objekt der Erkenntnis ist und auf diese Weise Theorie unmittelbar und adäquat in den Umwälzungsprozeß der Gesellschaft eingreift: wird die Einheit von Theorie und Praxis, die Voraussetzung der revolutionären Funktion der Theorie möglich.« 45 So großartig es Lukács gelingt, aufzuzeigen, dass Dialektik nicht etwas ist, was dem Geschichtsprozess an sich als Gesetzmäßigkeit anhaftet, dem sich dann die Individuen einzufügen haben, sondern dass sich Dialektik nur über das Bewusstwerden der Subjekte über ihre geschichtliche Klassenlage und ihre revolutionäre Praxis im Hinblick auf ihre geschichtlichen Aufgaben zu ereignen vermag, und so Recht

Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923/1970): 89. Vgl. hierzu auch Karl Korsch, Marxismus und Philosophie (1923/1966). 45 Lukács, Geschichte und Klassenbewußtsein (1923/1970): 60. 44

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er hat, Engels vorzuwerfen, dass er den Kern der Marxschen Dialektik verfehlt, so hat er doch darin nicht Recht, die Naturproblematik apodiktisch aus der dialektischen Theorie auszuschließen: »Diese Beschränkung der Methode auf die historisch-soziale Wirklichkeit ist sehr wichtig. Die Mißverständnisse, die aus der Engels’schen Darstellung der Dialektik entstehen, beruhen wesentlich darauf, daß Engels – dem falschen Beispiel Hegels folgend – die dialektische Methode auch auf die Erkenntnis der Natur ausdehnt. Wo doch die entscheidenden Bestimmungen der Dialektik: Wechselwirkung von Subjekt und Objekt, Einheit von Theorie und Praxis, geschichtliche Veränderung des Substrats der Kategorien als Grundlage ihrer Veränderung im Denken etc. in der Naturerkenntnis nicht vorhanden sind.« 46 Durch diese Ausklammerung der Natur aus dem Horizont der Dialektik werden alle Probleme unserer eigenen Einbezogenheit in den Lebenszusammenhang der Natur und unserer Verantwortung für die Natur als einen uns mitumfassenden Produktivitätszusammenhang der objektivierenden Erkenntnis der Naturwissenschaften und der Planungsstrategie der Industrie überantwortet, mit verheerenden Folgen für das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen. Diese schroffe Kritik an Engels Dialektik der Natur hätte Georg Lukács beinahe das Leben gekostet, nur seine mehrfache öffentliche Selbstkritik und sein Rückzug in die Literaturkritik und die Ästhetik ermöglichte es ihm, dem Terror des Stalinismus zu entgehen. 47 Gegen die verordnete Weltanschauung des Dialektischen und Historischen Materialismus durfte sich niemand, der sich im Machtbereich des Sowjetmarxismus aufhielt, auflehnen, aber die Diskussion flackerte nach dem Tod Stalins zwischen östlichen und westlichen Marxisten wieder auf. Einer der entschiedensten Gegner einer Dialektik der Natur war hierbei Jean-Paul Sartre, der in seiner Kritik der dialektischen Vernunft (1960) Lukács’ Ausgrenzung der Natur aus der Dialektik geschichtlicher Praxis fortsetzte. 48

Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein (1923/1970): 63. Vgl. Oskar Negt: »Marxismus als Legitimationswissenschaft. Zur Genese der stalinistischen Philosophie«, in: Nikolai Bucharin/Abram Deborin, Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus (1974). 48 Jean-Paul Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft, 1. Band: Theorie der gesellschaftlichen Praxis (1960/1967). 46 47

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Jean-Paul Sartre Im Eingangskapitel zur Kritik der dialektischen Vernunft stellt sich Sartre (1905–1980) dem Anspruch einer kritischen Selbstbegründung der dialektischen Vernunft, denn im Gegensatz zur wissenschaftlichen Rationalität, die er beispielhaft an der physikalischen Erkenntnis erörtert, muss sich die dialektische Vernunft kritisch selbst begründen, oder es gibt sie überhaupt nicht: »Der moderne Wissenschaftler betrachtet die Vernunft als unabhängig von jedem besonderen rationalen System. Für ihn ist die Vernunft der Geist als eine Art vereinigtes Vakuum. […] Ganz im Gegensatz dazu ist die Dialektik eine Methode und eine Bewegung im Gegenstand. […] Wir Dialektiker behaupten in einem, daß der Erkenntnisprozeß von dialektischer Ordnung ist, daß die Bewegung der Objekte […] selbst dialektisch ist und daß diese beiden Dialektiken ein und dieselbe sind.« 49 Aber in diesem erkenntnistheoretischen Selbstbegründungsanspruch scheint – so argumentiert Sartre – auch eine aporetische Falle zu liegen, die entweder in den absoluten Idealismus – wie bei Hegel – führt oder zu einem dogmatischen Materialismus – wie er handgreiflich bei Engels bzw. Bucharin vorliegt. Während dem dogmatischen Materialismus die behauptete Einheit nur dadurch gelingt, dass er die Selbständigkeit des Erkenntnisprozesses aufopfert und alles in die Bewegung des Objekts verlagert, welche jener nur abbildend widerzuspiegeln vermag, erreicht Hegel die Einheit, indem er die wirkliche Bewegung in Natur und Geschichte als Selbstentäußerung des absoluten Geistes fasst, die die philosophische Erkenntnis nachbegreifend wieder im Selbstbewusstsein des absoluten Geistes einholt; so werden ihm der Prozess des Werdens in Natur und Geschichte und seine Bewusstwerdung im Nachbegreifen zu Momenten des Zusichselberkommens des absoluten Geistes. Notwendigerweise impliziert jedoch diese idealistische Struktur der dialektischen Vernunft – wie Hegel selber unterstreicht –, ein immer nur abschließendes Begreifen eines zu Ende gelangten Prozesses – oder wie Sartre sagt: »Die Totalisierung ist also abgeschlossen, es bleibt nur noch der Schlussstrich zu ziehen.« 50 Einer noch ausstehenden Praxis und Geschichte hat diese idealistische Dialektik jedoch nichts zu sagen. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 21; Mohamed Turki, Freiheit und Befreiung. Zur Dialektik philosophischer Praxis bei Jean-Paul Sartre (1986). 50 Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 22. 49

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Das Große an Marx – so hebt Sartre hervor – liegt nun darin, dass er den für uns notwendig immer offenen Horizont von Praxis und Geschichte betont, indem er zeigt, dass alles Begreifen unseres Gewordenseins aus der Geschichte nicht Abschluss ist, sondern bewusstwerdende Bestimmung unserer Praxis auf die noch ausstehende Geschichte hin. »Die Originalität von Marx besteht darin, einerseits unabweisbar gegen Hegel ins Feld zu führen, daß die Geschichte in Bewegung ist, daß das Sein auf das Wissen unreduzierbar bleibt, und andererseits die dialektische Bewegung im Sein und im Wissen beibehalten zu wollen.« 51 Mit dieser Fassung der Dialektik entgeht Marx sowohl dem absoluten Idealismus als auch dem dogmatischen Materialismus, denn die Einheit von dialektischem Erkenntnisprozess und dialektischer Wirklichkeitsbewegung liegt weder in einem hypostasierten Selbstbegreifen des absoluten Geistes noch in der blinden Prozesshaftigkeit des Seins an sich, sondern hier begreift sich die Erkenntnis als Moment der praktischen Wirklichkeit selbst, wie diese wiederum die Erkenntnis als Moment in sich hat. Dieser »realistische Materialismus«, diese von Marx entwickelte dialektische Vernunft ist – wie Sartre sagt – »das Denken des in der Welt situierten Menschen« 52; sie ist keineswegs abstrakte Dialektik, die die Welt von außen betrachtet, sondern sie lebt nur aus der Erfahrung der Menschen in ihrer materiellen Situiertheit in der Welt, gerade darin aber wurzelt die Freiheit des Entwurfs ihrer Existenz. Hier nun verschränken sich Theorie und Praxis zur lebendigen Einheit, insofern »die Dialektik […] nur von einem im Innern ›situierten‹ Beobachter erkannt werden kann«, gleichzeitig jedoch »als lebendige Logik der Aktion« sich nur »bei ablaufender Praxis« erschließt 53; darüber hinaus verschränken sich hier auch Erfahrungen des je eigenen »persönlichen Geschicks« im gesellschaftlich bedingten Gefüge von Geschichte mit einem Bewusstsein »der ganzen Epoche« und der Gefordertheit individueller Praxis. Diese Andeutungen sollen durch zwei Zitate etwas verdeutlicht werden: »Wenn die dialektische Vernunft als Geschick aller und als Freiheit eines jeden […] möglich sein soll, […] wenn wir sie als Rationalität der Praxis, der Totalisierung und der gesellschaftlichen Zu51 52 53

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 23. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 30. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 39.

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kunft begründen, [… so] müssen wir durch uns selbst die ›situierte‹ Erfahrung ihrer Apodiktizität realisieren.« 54 »Unser Problem ist ein kritisches, und zweifellos ist dieses Problem selbst von der Geschichte aufgeworfen worden. Aber es geht eben gerade darum, in der Geschichte und in diesem Augenblick der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft die Instrumente des Denkens, durch die die Geschichte sich denkt, als gleichzeitig praktische Instrumente, durch die sie sich schafft, zu prüfen, zu kritisieren und zu begründen.« 55 Nun haben aber – so führt Sartre weiter aus – die Marxisten nach Marx, »mangels einer Neudurchdenkung der Dialektik«, wie sie oben skizziert wurde, »das Spiel der Positivisten gespielt« 56, allen voran Friedrich Engels mit seiner Dialektik der Natur. Durch diese Übertragung der Dialektik auf die Natur, also auf einen Prozess, der von sich aus dialektisch sein soll, aber nicht sein kann, wurde dann diese positivistische Sicht auch auf den geschichtlichen Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung als ein von sich aus ›dialektischer‹ – was immer das heißen mag – rückübertragen, den es positiv wissenschaftlich zu erkennen gilt, um den erkannten Gesetzmäßigkeiten entsprechend das gesellschaftliche Handeln planen zu können. »Durch einen solchen Materialismus von außen wird die Dialektik als Exteriorität aufgezwungen: die Natur des Menschen liegt außer seiner selbst in einem apriorischen Gesetz, in einer außermenschlichen Natur, in einer Geschichte, deren Anfänge sich im Nebelhaften verlieren […], alles verweist immer auf die Totalität der Naturgeschichte, von der die menschliche Geschichte nur ein Teilgebiet ist.« 57 So treffend Sartres Kritik an Engels’ Dialektik der Natur in ihrer objektivistischen Veräußerlichung auch ist, so sehr missversteht er doch die Ursache für diese Veräußerlichung. Ähnlich wie Lukács meint auch Sartre, dass sie nicht durch einen beschränkten erkenntnistheoretischen Standpunkt hereinkommt, sondern durch die Natur als Gegenstand der Erkenntnis, und er unterstreicht deshalb, dass für ihn nur im Bereich geschichtlicher Praxis dialektische Vernunft zu verwirklichen sei: »Wenn es so etwas wie eine dialektische Vernunft gibt, enthüllt und begründet sie sich für Menschen, die in einer be54 55 56 57

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 40. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 42. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 23. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 28.

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stimmten Gesellschaft und in einem bestimmten Moment ihrer Entwicklung situiert sind, in und vermittels der menschlichen Praxis. […] Eine materialistische Dialektik hat nur dann Sinn, wenn sie innerhalb der menschlichen Geschichte den Vorrang materialer Bedingungen feststellt, so wie die Praxis des situierten Menschen sie entdeckt und erleidet. [… W]enn es so etwas wie einen dialektischen Materialismus gibt, muß es ein historischer Materialismus sein, das heißt ein Materialismus von innen […]. Genau deshalb kann dieser Materialismus, wenn er existiert, nur in den Grenzen unseres gesellschaftlichen Universums Wahrheit haben.« 58 Dass Jean-Paul Sartre hier die Bedingungen der Möglichkeit dialektischer Vernunft in seltener Klarheit auf den entscheidenden Punkt bringt, sei ausdrücklich zugestanden. Aber was berechtigt ihn, die Natur aus dieser Problemfassung auszuschließen? Gehört nicht unsere Natur zur Praxis des situierten Menschen, und ist sie nicht wiederum materiell, d. h. lebenspraktisch mit der gesamten lebendigen Natur verknüpft? Und hat nicht Sartre mehrfach davon gesprochen, dass »die dialektische Erfahrung […] die Erfahrung des Lebens selbst [sei], weil Leben Handeln und Erleiden heißt«? 59 Und hat er nicht an anderer Stelle noch deutlicher expliziert: die dialektische Vernunft sei »das Denken des in der Welt situierten Menschen, der von allen kosmischen Kräften durchströmt wird und der vom materiellen Universum spricht, als von dem, was sich nach und nach durch eine Praxis in ›Situation‹ enthüllt«? 60 Wie unsicher Sartre gerade in dieser Frage ist, hat er selber ausgesprochen. Er ahnt, dass er inkonsequent ist, wenn der die Natur aus der menschlichen Situiertheit ausklammert, und findet doch nicht den Punkt, wie er selber die Natur in seinen Ansatz dialektischer Vernunft einbeziehen könnte, denn zu sehr verbaut ihm das Vorurteil, dass über die Natur nur die Naturwissenschaften adäquate Erkenntnisse erbringen können, den Zugang zur Naturhaftigkeit unserer Existenz, Praxis und Geschichte. Es gehört zur Größe Sartres, dass er seine Unsicherheit und Hilflosigkeit in diesem Punkt zu erkennen gibt. Einerseits kann er von seiner Kennzeichnung der dialektischen Vernunft als Situiertheit des Menschen in der Welt nicht abstreiten, dass die Natur zu dieser 58 59 60

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 34. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 40. Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 30.

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Situiertheit unabdingbar mit hinzugehört, andererseits sieht er keine Möglichkeit, wie die Naturwissenschaften die Natur anders als äußerlich bestimmen könnten, es sei denn, das naturwissenschaftliche Denken würde eine totale Umwendung erfahren, aber genau diese letzte Konsequenz, die Sartre zwar als eine zukünftige Möglichkeit anspricht, getraut er sich nicht mehr zu Ende zu denken, so sehr steht er selbst noch – auf die Natur bezogen – im Primat der wissenschaftlichen Rationalität. »Muß man daher die Existenz von dialektischen Verbindungen innerhalb der ungelebten Natur leugnen? Keineswegs. […] Wir akzeptieren die Idee, daß der Mensch ein materielles Wesen unter anderen ist und als solches keine privilegierte Stellung genießt, wir lehnen nicht einmal a priori die Möglichkeit ab, daß eines Tages eine konkrete Dialektik der Natur entdeckt werden kann, was bedeutet, daß die dialektische Methode dann auch in den Naturwissenschaften eine heuristische sein und von den Wissenschaftlern selbst und unter Kontrolle der Erfahrung angewandt werden würde. Wir sagen lediglich, daß die dialektische Vernunft noch einmal umgedreht werden muß, daß man sie da aufsuchen muß, wo sie sichtbar wird, anstatt sie sich dort zu erträumen, wo wir noch nicht die Mittel zu ihrer Erkenntnis haben. […] Es bleibt jedem überlassen, zu glauben oder nicht zu glauben, daß die physikalisch-chemischen Gesetze eine dialektische Vernunft zum Ausdruck bringen. In jedem Fall ist die Behauptung der Dialektik im Bereich der Fakten der anorganischen Natur eine außerwissenschaftliche Behauptung.« 61 Diese Ausführungen von Sartre machen hinlänglich klar, dass die Naturproblematik nicht aus der Logik der dialektischen Vernunft notwendigerweise herausfällt, im Gegenteil, eigentlich müsste sie darin situiert sein; vielmehr wird sie nur deshalb ausgeklammert, weil Sartre den Naturwissenschaften und ihrer wissenschaftlichen Rationalität eine Priorität in der Erkenntnis der Natur einräumt; in ihnen aber kann die Natur schlechterdings nicht dialektisch, d. h. von innen her begriffen, sondern allenfalls nur von außen an sie herangetragen werden. Hätte sich Sartre auf diese Weise von der wissenschaftlichen Rationalität der Wissenschaften vom Menschen (Psychologie, Soziologie, Historie) einschüchtern lassen, so hätte er auch für Praxis und Geschichte jegliche dialektische Vernunft leugnen müssen. Für diesen Bereich geschichtlicher Praxis hat jedoch Sartre sehr treffend die Begrenztheit, ja sogar Inadäquatheit wissenschaftlicher Rationalität 61

Sartre, Kritik der dialektischen Vernunft (1960/1967): 33 ff.

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aufgewiesen; vor der Heiligkeit der Naturwissenschaften jedoch scheut er zurück.

3.

Das doppelte dialektische Verhältnis von Mensch und Natur – bei Marx

Dieser Aporetik zwischen Engels/Bucharin sowie Lukács/Sartre, die für viele andere des dogmatischen Marxismus einerseits und der kritischen Theorie andererseits stehen, sei hier nochmals thesenhaft die in den Eingangskapiteln dargelegte dialektische Argumentation von Karl Marx aus seinen Ökonomisch-Philosophischen Manuskripten gegenübergestellt. Dabei werden einige zentrale Zitate aus dem ersten Teil bewusst nochmals aufgenommen, um daran auch die folgenden Ansatzpunkte würdigend und eingrenzend bemessen zu können, die insgesamt Basiselemente für eine von uns weiterzutreibende natur- und praxisphilosophische Erörterung unserer heutigen ökologischen Problematik darstellen. 62 (1) Für Marx ist die produktive Tätigkeit der Menschen als Gattungswesen der entscheidende Ausgangspunkt seiner Theorie, denn in ihr ist sowohl die Naturhaftigkeit des Menschen und seine Eingebundenheit in die Gesamtnatur als auch die schöpferische Potenz der gesellschaftlichen Verwirklichung der Menschen in der Geschichte gefasst. In der produktiven Lebenstätigkeit in Arbeit und Praxis offenbart sich einerseits die ganze Besonderheit des Menschen in seiner naturbeherrschenden Potenz, insofern er mit seinen Produktivkräften – Wissenschaft und Industrie – gesellschaftlich im Laufe der Geschichte sich selber seine Welt aufbaut: »Das praktische Erzeugen einer gegenständlichen Welt, die Bearbeitung der unorganischen Natur ist die Bewährung des Menschen als eines bewußten Gattungswesens. […] Diese Produktion ist sein werktätiges Gattungsleben. Durch sie erscheint die Natur als sein Werk und seine Wirklichkeit.« 63 Andererseits drückt sich in der produktiven Lebenstätigkeit des Menschen seine unauflösliche lebendige Verbindung mit der Natur Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik gesellschaftlicher Praxis (1981/2018): 145. 63 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 516 f. 62

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aus, deren Teil die menschliche Produktion doch immer bleibt: »Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist sein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben. Daß das physische und geistige Leben des Menschen mit der Natur zusammenhängt, hat keinen anderen Sinn, als daß die Natur mit sich selbst zusammenhängt, denn der Mensch ist ein Teil der Natur.« 64 An dieser Doppelbestimmung des Verhältnisses von Mensch und Natur wird deutlich, dass Marx nicht nur, ähnlich wie vor ihm Hegel, die produktive Tätigkeit als die wirkliche gesellschaftliche und geschichtliche Hervorbringung der ganzen menschlichen Welt begreift, sondern zugleich – in Anlehnung an die Naturphilosophie Schellings – aufzeigt, dass die produktive Tätigkeit des Menschen doch immer zugleich Teil der Produktivität der Natur bleibt; dass die Geschichte als Gestaltung der Welt durch die Menschen selber noch Teil der sie übergreifenden Naturgeschichte ist, die in und durch den Menschen zu einem bewussten produktiven Verhältnis zu sich selbst kommt. Natur ist nicht nur das, was aller menschlichen Tätigkeit vorausliegt und gegenübersteht, sondern auch das, was durch diese selbst lebendig fortwirkt. So führt das Bewusstwerden der Menschen, dass sie es sind, die durch gesellschaftliche Praxis Geschichte machen, im letzten zur Einsicht, dass sie das nur können im Einklang mit der durch sie selbst wirksamen Produktivität der Natur. (2) Mit dieser Aussage haben wir aber in Gedanken der erst zu verwirklichenden Geschichte vorausgegriffen, denn gegenwärtig ist unser natürliches und gesellschaftliches Leben – bis hin zu den menschlichen Bedürfnissen und zur menschlichen Sinnlichkeit, bis hinein in die produktive Aneignung der Natur durch Wissenschaft und Technik, bis hinein in die Beziehungen der Menschen zueinander – geprägt durch eine Entfremdung der gesellschaftlichen Lebenstätigkeit. Diese entfremdete gesellschaftliche Praxis betrifft auch das Verhältnis des Menschen zur Natur, zu seiner eigenen und zur Gesamtnatur. So sagt Marx ganz ausdrücklich, wo er die Entfremdung kennzeichnet: »Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1. die Natur entfremdet, 2. sich selbst, seine eigene tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung […]. Die entfremdete Arbeit macht also: 3. das Gattungswesen des Menschen, sowohl die Natur als sein geistiges Gattungsvermögen, zu einem ihm 64

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 516.

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fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eigenen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen.« 65 Wo jeder Einzelne auf sich selbst zurückgeworfen wird, um seine Lebenserhaltung für sich und gegen andere zu betreiben, da geht ihm der Verantwortungshorizont nicht nur für die Gesellschaft als Ganzes verloren, sondern ebenso sehr für den das Leben der Menschen tragenden Naturzusammenhang. An die Stelle eines bewussten Gattungslebens in Verantwortung für die gesellschaftlich und im Einklang mit der Natur zu bewältigenden Aufgaben treten naturwüchsige, d. h. gesellschaftlich-bewusstlos hervorgebrachte Produktionsund Herrschaftsverhältnisse, die rücksichtslos gegen Mensch und Natur diesen ihre blinden Entwicklungsgesetze aufdrücken. (3) Da nun aber die Entfremdung nicht etwas ist, was dem MenschNatur-Verhältnis naturnotwendig anhaftet, sondern durch die gesellschaftliche Praxis – wenn auch bewusstlos – hervorgebracht ist, so kann sie auch prinzipiell durch die gesellschaftliche Praxis der bewusst und solidarisch handelnden Individuen aufgehoben werden – eben dies ist der revolutionstheoretische Grundgedanke der Marxschen Praxisphilosophie. Die revolutionäre Praxis ist nun nicht nur Umwälzung der sozialen Verhältnisse und bewusster Neubeginn solidarischer Gesellschaftskonstitution, sondern muss auch Umwälzung und bewusster Neubeginn im Verhältnis der gesellschaftlichen Produktion zur Natur sein: »Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung […] ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits zwischen dem Menschen mit der Natur und mit dem Menschen«. 66 Erst wo die Menschen ihrer gesellschaftlichen Praxis als geschichtlicher Aufgabe bewusst nachkommen, kann auch ihre Einbezogenheit in den lebendigen Naturzusammenhang als eine menschheitliche Aufgabe begriffen und erfüllt werden. Ausdrücklich unterstreicht Marx, dass in der menschlichen, menschheitlichen Gesellschaft auch das Verhältnis der menschlichen Produktion zur Natur ein völlig neues sein wird. In der gesellschaftlich bewusst übernommenen Verantwortung für die gesellschaftliche Praxis durch die

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Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 516 f. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 536.

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freie solidarische Assoziation der Individuen begreifen diese ihre produktive Tätigkeit nicht nur als gesellschaftliche Potenz, sondern zugleich in ihrer natürlichen Produktivität aus dem lebendigen Zusammenhang der Natur; das aber bedeutet, dass sie nun in eine bewusste Allianz mit der Natur eintreten. (4) Von hier aus entwickelt Marx seine Konzeption der Kritik der Naturwissenschaften und der Industrie, d. h. der geistigen und praktischen Produktivkräfte in ihrer gegenwärtig entfremdeten Form; denn anders als der dogmatische Marxismus glaubt Marx nicht, dass allein eine Beseitigung der kapitalistischen Produktions- und Eigentumsverhältnisse bereits zu einer solidarischen Gesellschaft führen werde, sondern es gilt, die gesamte Produktionsweise mit den ebenfalls von der Entfremdung betroffenen Produktivkräften – also Wissenschaft und Industrie – grundlegend umzuwälzen. Wir gehen an dieser Stelle abschließend nur noch auf die Naturwissenschaften ein. Für Marx ist nicht erst ihre Anwendung in der Industrie entfremdet, sondern sie selbst sind in ihrer Thematisierung der Natur durch ihre Indienstnahme durch die wertökonomisch bestimmte Produktionsweise entfremdete. Aber auch hier wieder geht es Marx mit seiner Kritik nicht um eine einfache Negation, sondern um die Negation der Negation ihrer gegenwärtig entfremdeten Form, d. h. es gilt ein Doppeltes an den Naturwissenschaften aufzudecken: einerseits vollzieht sich in ihnen die geistige Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur, und so schreitet durch sie die theoretische Aneignung der Natur in der Menschheitsgeschichte fort, aber diese unaufhebbare und unaufgebbare Potenz der Naturwissenschaften vollzieht sich andererseits gegenwärtig in einer entfremdeten Gestalt, die nicht nur die Natur zum Objekt menschlicher Willkür degradiert, sondern auch fortschreitend den Menschen »entmenschlicht«. »Die Naturwissenschaften haben eine enorme Tätigkeit entwickelt und sich stets wachsendes Material angeeignet. Die Philosophie ist ihnen indessen ebenso fremd geblieben, wie sie der Philosophie fremd blieben. […] Aber desto praktischer hat die Naturwissenschaft vermittelst der Industrie in das menschliche Leben eingegriffen und es umgestaltet und die menschliche Emanzipation vorbereitet, sosehr sie unmittelbar die Entmenschung vervollständigen mußte.« 67

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Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 543.

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Die Aporie der Naturfrage im Marxismus

Die Naturwissenschaften in ihrer gegenwärtigen Form verdinglichen unser Wissen von der Natur und von uns zu einer für sich seienden fremden Gesetzlichkeit, die uns durch unsere eigene Selbstunterwerfung unter sie in unserem Denken und Handeln fremdbestimmend beherrscht. Die »abstrakt idealistischen Naturwissenschaften« entfremden gerade in ihrer Reduktion auf eine objektive Gesetzmäßigkeit einerseits die Natur von uns und andererseits unser subjektiv-gesellschaftliches Leben von der Natur, sie spaltet die lebendige Einheit, in der wir in der Natur sind und die Natur in uns ist, in Subjekt und Objekt auf und betreibt gerade darin zunehmend die Destruktion beider. Aber auch hier dürfen wir über der entfremdeten Form der gegenwärtigen Naturwissenschaften nicht übersehen, dass sich durch sie – wenn auch entfremdet – die produktiv geistige Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur vollzieht. Gerade diese Einsicht in die Bestimmtheit der Naturwissenschaften aus der gesellschaftlichen Praxis, die selbst einbezogen ist in den lebendigen Naturzusammenhang, ermöglicht die Kritik der Naturwissenschaften in ihrer gegenwärtig entfremdeten Gestalt und die Antizipation ihrer bestimmten Aufhebung in eine neue Wissenschaft von Mensch und Natur, was natürlich nur Hand in Hand mit der Umwälzung auch des praktischen Verhältnisses der Menschen zur Natur in der Industrie gelingen kann. »Die Industrie ist das wirkliche geschichtliche Verhältnis der Natur und daher der Naturwissenschaft zum Menschen; wird sie daher als exoterische Enthüllung der menschlichen Wesenskräfte gefaßt, so wird auch das menschliche Wesen der Natur oder das natürliche Wesen des Menschen verstanden, daher die Naturwissenschaft ihre abstrakt materielle oder vielmehr idealistische Richtung verlieren und die Basis der menschlichen Wissenschaften werden, wie sie jetzt schon – obgleich in entfremdeter Gestalt – zur Basis des wirklichen menschlichen Lebens geworden ist, und eine andere Basis für das Leben, eine andere für die Wissenschaft ist von vornherein eine Lüge.« 68 * * * Erst dort, wo wir die Naturwissenschaft als geistige Arbeit aus dem Zusammenhang der gesellschaftlichen Praxis und diese selber als 68

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 543.

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Die Aporie der Naturfrage im Marxismus

einen Teilbereich der produktiven Natur begreifen, wird unser Wissen von der Natur zu einem Begreifen der Natur aus sich selber und von uns in ihr. Hier nun steigert sich Marx – in deutlichem Bezug zu Schelling – zu einer auch die menschliche Geschichte mitumgreifenden Naturphilosophie, die zugleich eine die Natur mitumgreifende Praxis – und Geschichtsphilosophie ist. Denn je mehr die Menschen sich in ihrer Gesellschaftlichkeit aus dem Lebenszusammenhang der Natur begreifen und ihr gesellschaftliches Leben in Allianz mit der Natur verwirklichen werden, umso mehr kommt die Natur im Naturwesen Mensch zum Selbstbewusstsein und zur Selbstbeherrschung ihrer lebendigen Potenzen. »Also die Gesellschaft ist die vollendete Wesenseinheit des Menschen mit der Natur, die wahre Resurrektion der Natur, der durchgeführte Naturalismus des Menschen und der durchgeführte Humanismus der Natur.« 69 Andeutungsweise sei das Problem nochmals so umschrieben: Sosehr die Bestimmtheit all unseres Wissens Produkt der gesellschaftlichen Produktivität ist, und wir kein Wissen und keinen Umgang mit der Natur haben, außer eben in der Bestimmtheit unserer entwickelten gesellschaftlichen Praxis, so ist doch diese Praxis selber als Auseinandersetzung mit der Natur immer schon vorweg in einer natürlichen Produktivität vermittelt, eine Grundlage, von der wir uns niemals lossagen können; wo wir es doch zu tun versuchen, wie in der Hybris unseres gegenwärtigen Naturumgangs, bedrohen wir zwar nicht die Natur im kosmischen Maßstab, sind aber auf dem besten Wege, die Natur als unsere eigene Lebensgrundlage und damit uns selbst zu zerstören. Was hier erforderlich ist, ist eine »metaphilosophische Praxis« (Henri Lefebvre) – eine Ekstasis, um mit Schelling zu sprechen –, ein Heraustreten aus einem absolutgesetzten und verselbständigten wertgetriebenen Produktionswillen, der sich gegen Mensch und Natur richtet, um uns stattdessen in bewusster Allianz mit der Natur zu verwirklichen. Damit wird keineswegs der Erkenntnis- und Gestaltungswille der Menschen zurückgenommen, sondern nur in den weiteren Bewusstseinshorizont ihres Lebens in der Natur eingebettet. Es geht hier um unsere Bewusstwerdung als gesellschaftliche Produzenten in der Totalität des produktiven Werdens der Natur, in die wir praktisch immer schon mit der Aufgabe hineingestellt sind, in eine bewusste Allianz mit ihr zu kommen, um uns und sie dadurch selbst zu erfüllen. 69

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 538.

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Die Aporie der Naturfrage im Marxismus

Ob dies dem Menschengeschlecht je gelingen wird, vermag niemand zu sagen – wie Henri Lefebvre zu Recht betont 70 –, aber ohne eine solche Bewusstwerdung kann es kein Überleben der Menschen, keine Unsterblichkeit des menschlichen Geistes im kosmischen Maßstab geben.

70 Henri Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena (1965/1975): 345 f. Vgl. Gajo Petrović/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Die gegenwärtige Bedeutung des Marxschen Denkens. Marx-Symposion 1983 in Dubrovnik (1985) sowie Horst Müller, Praxis und Hoffnung. Studium zur Philosophie und Wissenschaft gesellschaftlicher Praxis von Marx bis Bloch und Lefebvre (1986).

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VII. Die produktiven Kräfte der Menschen und der Natur

Die dialektische Eingebundenheit der menschlichen Produktivität in die Produktivität der Natur wird erst Anfang der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts durch Max Adler und Karl August Wittfogel wiederentdeckt und im Verfolg von Anregungen aus den Schriften von Marx – soweit diese Ende der zwanziger Jahre bekannt waren – geschichtsmaterialistisch konkretisiert. 1 Aber trotz dieses Durchbruchs bleibt hierbei das philosophische Fundament der doppelten Dialektik im Verhältnis des Menschen zur Natur weitgehend unerörtert, weshalb diese Ansätze auch nur bedingt zu einer Kritik der gegenwärtigen Form des Naturverhältnisses vorstoßen. Parallel dazu beginnt die philosophische Aneignung der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte nach deren Erstveröffentlichung 1932, wodurch die Diskussion um das Naturproblem erneut auf ein dialektisches Fundament gestellt wird. Dies ist vor allem Herbert Marcuse 1932 ff. und Henri Lefebvre 1938 ff. zu verdanken. 2 Sie erobern schrittweise die philosophischen Grundlagen der Marxschen Theorie zurück. Dabei gewinnt für beide die menschliche Praxis in ihrer natürlichen Verankerung eine fundierende Rolle, wodurch die Phänomene der Entfremdung weit über den aufs Ökonomische verengten Gesichtskreis des dogmatischen Marxismus hinaus in den Blick genommen werden können. So vermögen beide die herrschende eindimensionale Rationalität umfassender in allen Poren unserer Gesellschaft aufzuspüren und erhoffen sich auch, dass der Widerstand

Max Adler, Soziologie des Marxismus. II: Natur und Gesellschaft (1930/1965); Karl August Wittfogel, Marxismus und Wirtschaftsgeschichte. Aufsätze (1929–32/1970) mit Originalpaginierung der Erstveröffentlichungen. Vgl. auch Maurice Godelier, Natur, Arbeit, Geschichte. Zu einer universalgeschichtlichen Theorie der Wirtschaftsformen (1984/1990). 2 Herbert Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932), in: Herbert Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft (1969); siehe auch Henri Lefebvre, Der dialektische Materialismus (1940/1966). 1

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Die produktiven Kräfte der Menschen und der Natur

gegen eine den Menschen wegrationalisierende Rationalität von allen davon unmittelbar betroffenen Subjekten ausgehen werde. Mit dieser Weiterentwicklung des Naturproblems tritt die dialektische Praxisphilosophie wiederum in den großen Spannungsbogen: Kant – Schelling ein, wie er parallel dazu auch in der »bürgerlichen« Philosophie zwischen dem Neukantianismus und der Phänomenologie aufgebrochen war. Marx hat zwar nicht selber die Natur aus den Potenzen ihrer eigenen Produktivität zu bestimmen versucht und auch nicht die Kritik der Wissenschaften bis in die Formen ihrer wissenschaftlichen Rationalität zurückverfolgt, aber doch beides als Horizonte der Kritik in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten angedeutet. Diese Aufgabenstellung versuchen nun Ernst Bloch im Rückgang auf die Naturphilosophie Schellings einerseits und Alfred Sohn-Rethel im Rückgang auf die Erkenntniskritik Kants andererseits in die geschichtsmaterialistische Praxisphilosophie einzuholen. 3 In groben Umrissen sollen im Folgenden einige dieser Weiterführungen in etwas anderer Zusammenstellung und Akzentuierung nachgezeichnet werden.

1.

Die natürlichen Quellen der Produktivität – zu Wittfogel und Adler

Karl August Wittfogel In zwei Artikelserien »Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxismus« (1929) und »Die natürlichen Ursachen der Wirtschaftsgeschichte« (1932) nimmt sich Karl August Wittfogel (1896–1988) erstmals und entschieden gegen Georg Lukács gerichtet der »Rolle des Naturmoments in der Marxschen Geschichtskonzeption« an. 4 Ohne noch die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx aus dem Jahre 1844, die 1932 erstmals erschienen, kennen zu können, kommt er bei seinem Versuch einer »neuen ›Vervollständigung‹ des

Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (1972); Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis (1970/1972). 4 Wittfogel, »Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxismus« (1929), 4: 500 ff. 3

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Marxismus« zu einer ganz ähnlichen Grundlegung der dialektischen Eingebundenheit des Menschen in die Natur wie Marx. Grundlage einer sowohl materialistisch wie dialektisch fundierten Geschichtskonzeption ist die gesellschaftliche Arbeit als Einheit der »unlöslich ineinander greifenden Momente« der gesellschaftlichen, politischen und geistigen Aktivitäten der Menschen, die gemeinsam ermöglichen, dass die Menschen ihr Leben erhalten und gestalten. Doch gerade dieser Grundgedanke löst den Menschen nicht aus der Natur, sondern im Gegenteil, offenbart seine Eingebettetheit in die Natur. »So steht der Mensch, als ihr Teil, mitten in der Natur. Als aktives Element, als ein auf eine ganz spezifische Art aktives Element steht er ihr, der ihn umgebenden Natur, zugleich sich auf dem Wege des Arbeitsprozesses ständig mit ihr auseinandersetzend, gegenüber.« 5 In allen drei Momenten des Arbeitsprozesses erweist sich die Arbeit in die Natur einbezogen. (1) Schon die menschliche Arbeitskraft ist durch natürliche Momente geprägt: Geschlechter, Lebensalter, körperliche und geistige Talente, (2) die Rohstoffe, und zwar sowohl die Bodenschätze als auch alle pflanzlichen und tierischen Eigenschaften und den aus ihnen zu gewinnenden Materialien (3) die Produktionsmittel in den verschiedenen Einsatzmöglichkeiten ihrer Naturkräfte wie Wasser, Wind und Wärme. All diese Momente gehen bestimmend in die geschichtliche Produktivkraftentwicklung ein, und zwar keineswegs immer nur in zunehmender oder abnehmender Form ihrer jeweiligen Naturbestimmtheit, sondern im Wechselspiel aller gesellschaftlichen Arbeitsorganisations- und Naturmomente können sie abwechselnd an Bedeutung gewinnen oder nehmen nur eine untergeordnete Stellung in der Produktionskraftentfaltung ein. So hat beispielsweise das Entdecken und Sammeln natürlich wachsender Pflanzen sowie die Erprobung ihrer Zubereitung und Einsatzmöglichkeiten, die neben dem Jagen die Grundlage der frühgeschichtlichen Produktivkraftentwicklung bestimmte, dann aber nur noch im Hintergrund eine Rolle spielte, heute für die global agierenden Pharmakonzerne erneut eine wesentliche Bedeutung, um über Patente für die Zusammenstellung von Medikamenten zeitweise Monopolvorteile vor der Konkurrenz zu bekommen. Oder man denke an die von der Dampfkraft verdrängten Wind- und Wassermühlen, die Wittfogel, »Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxismus« (1929), 4: 506.

5

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Die produktiven Kräfte der Menschen und der Natur

heute als Windkrafträder oder in Form von Wasserkraftwerken erneut produktiv als Naturkräfte eingesetzt werden. Insgesamt aber lässt sich jedoch sagen, dass keineswegs die Produktivkraftentwicklung als ein Zurückdrängen des Naturmoments durch das Moment der Arbeit umschrieben werden kann, denn jede Befreiung von einer bestimmten Naturabhängigkeit bringt eine neue, völlig anders geartete, jedoch meist komplexere Naturabhängigkeit hervor. »Mit dem Wachstum der gesellschaftlichen Bedingungen (Kräfte) des Produktionsprozesses wächst auch die Bedeutung des Naturmoments; die Entfaltung der gesellschaftlichen und der naturbedingten Produktivkräfte geht Hand in Hand. […] Die Abhängigkeit von Naturverhältnissen nimmt einen immer vermittelteren Charakter an, aber die Abhängigkeit selbst bleibt«. 6 Für den dialektischen Materialismus, wie er der Kritik der politischen Ökonomie von Marx zugrunde liegt – so betont Wittfogel –, stellen die »Aktivität des Menschen« und die »natürlichen Bedingungen« keine Gegensätze dar, sondern Momente, die grundsätzlich aufeinander angewiesen sind und bleiben, wobei es vielmehr darauf ankommt, dass die Menschen sich dieser Eingebundenheit in die Natur zunehmend bewusster werden, um sie gezielter und verantwortungsvoller planen und gestalten zu können. »Wenn Marx nun für die Aera des Kommunismus ein immer reicheres Strömen der Quellen des sachlichen Reichtums unterstellt […], so eben deshalb, weil mit der vollen Entfaltung der gesellschaftlichen Produktivkräfte auch ganz neue Naturproduktivkräfte […] erschlossen werden können. Damit endet […] das Ringen mit der Natur, ›das Reich der Naturnotwendigkeit‹ 7 nicht. Im Gegenteil, es ›erweitert sich‹ mit den steigenden gesellschaftlichen Bedürfnissen, wie die Produktivkräfte, die diese Bedürfnisse befriedigen.« 8 Von diesen Grundüberlegungen her entwickelt Wittfogel sodann die Konturen einer historisch vergleichenden Geschichte der Produktivkraftentwicklung. Der Motor dieser Produktivkraftentwicklung liegt selbstverständlich nicht in den Naturkräften, sondern in den gesellschaftlich gebündelten körperlichen und geistigen Pro-

Wittfogel, »Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxismus« (1929), 5: 698 f. 7 Marx, Kapital III (1894), 25: 828. 8 Wittfogel, »Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxismus« (1929), 5: 706. 6

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duktivkräften der menschlichen Individuen, aber diese können sich nur gemäß den natürlichen Bedingungen oder »natürlichen Produktivkräften« entfalten. »Der dialektische Materialist Marx sieht den gesellschaftlichen Arbeitsprozeß in Abhängigkeit von seinem letzten Substrat, d. h. der Natur, vor sich gehen. Hier entscheidet es sich, ob und in welcher Richtung Veränderungen im Arbeitsprozeß zustande kommen. Daher die Bedeutung der naturbedingten Produktivkräfte. Daher die Bedeutung der Produktionsweise, als der Einheit aller Produktivkräfte, der aktiven gesellschaftlichen der passiven richtungsgebenden, natürlichen.« 9 Von daher wird verständlich, dass sich die Geschichte der Produktivkraftentwicklung geographisch ungleichzeitig vollziehen muss, wobei aber auch die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse beschleunigend oder stagnierend wirken können. Historisch gesehen, lassen sich drei große Produktionsweisen unterscheiden: (1) die »primitiven Gesellschaften«, der »Sammler, Jäger und Fischer«, die »wesentlich auf der extraktiven Aneignung wildwachsender Tiere und Pflanzen beruhen«, (2) die aus den nomadisierenden Feldbau- und Hirtenvölkern hervorgegangenen »agrikolen Klassengesellschaften« mit systematisiertem Ackerbau und systematisierter Viehzucht sowie (3) der »industrielle Kapitalismus«, der durch Wissenschaft und Technik zu einer globalen Aneignung und Beherrschung der Naturkräfte, gleichwohl in neuer Weise abhängig wird von der Erschließung und von Transportmöglichkeiten der Naturressourcen und der Verteilung der erzeugten Waren. 10 Diese drei großen Produktionsweisen lassen sich selbst noch mehrfach differenzieren, wobei die gesellschaftlichen Verhältnisse und die natürlichen Bedingungen in ihrer wechselweisen Durchdringung eine entscheidende Rolle spielen. Bezogen auf die »primitiven Gesellschaften« verweist Wittfogel auf die bei Marx und Engels zu findenden frühgeschichtlichen Entwicklungen, wobei ihm in den 30er Jahren die Anmerkungen von Marx über die »Formen, die der kapitalistischen Produktion vorhergehen«, aus den Grundrissen 11 sowie die umfangreichen Ethnologischen Exzerpthefte von Marx, die erst

Wittfogel, »Die natürlichen Ursachen der Wirtschaftsgeschichte« (1932), 4: 479. Wittfogel, »Geopolitik, geographischer Materialismus und Marxismus« (1929), 4: 521 f. 11 Marx, Grundrisse (1858), 42: 383 ff. 9

10

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Wittfogels Schüler Lawrence Krader 1972 herausgegeben hat, noch nicht bekannt waren. 12 Von größerer Bedeutung sind Wittfogels Darlegungen über »asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen«. 13 Vor allem seine beiden großen auf China bezogenen Untersuchungen zur »asiatischen Produktionsweise« Wirtschaft und Gesellschaft Chinas (1931) und Die orientalische Despotie (1957) gehören bis heute zu den Pionierleistungen differenzierter Erforschung gesellschaftlicher und natürlicher Potenzen komplexer Gesellschaftsformationen. Für die »asiatische Produktionsweise« Chinas erweist sich die große organisatorische Leistung der »hydraulischen Wasserregulierung« als die tragende Grundlage für die Errichtung von Großreichen mit unglaublichen kulturellen Entwicklungsmöglichkeiten, gleichzeitig erweist sich die hochentwickelte bürokratische Organisation als ein in Stagnation führendes Hemmnis für die Entfaltung der materiellen und intellektuellen Produktivkräfte der Individuen. Demgegenüber konnte sich aus den feudalen Produktionsverhältnissen, die es auch in der Frühzeit Chinas gab, in den Städten Europas über die sich aus feudalen Bindungen befreiten Handwerker und Händler einerseits und den freien Arbeitskräften andererseits die gesellschaftlichen Voraussetzungen der kapitalistischen Produktionsweise herausbilden, die sich allerdings erst über die blutigen frühbürgerlichen Revolutionen vom 12. und 13. Jahrhundert bis hin zu den großen bürgerlichen Revolutionen im 17. und 18. Jahrhundert durchsetzen mussten, wie Wittfogel in seiner Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft (1924) darlegt. 14 Gerade diese vergleichenden Untersuchungen der »agrikolen Klassengesellschaften« in China von den feudalen Anfängen zur »orientalen Despotie« der »asiatischen Produktionsweise« einerseits und der europäischen Entwicklung vom Feudalismus über die frühbürgerlichen Klassenkämpfe zum Kapitalismus zeigen, wie unterschiedlich sich gesellschaftliche Produktionsverhältnisse auf das Zusammenspiel von Produktiv- und Naturkräften auswirken können. Karl Marx, Die ethnologischen Exzerpthefte, hg. v. Lawrence Krader (1972/1976). Vgl. Lawrence Krader, Ethnologie und Anthropologie bei Marx (1973) sowie Maurice Godelier, Ökonomische Anthropologie. Untersuchungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Gesellschaften (1973). 13 Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie (1859), 13: 9. 14 Karl August Wittfogel, Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Von ihren Anfängen bis zur Schwelle der großen Revolution (1924/1976). 12

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Nicht nur, weil diese Thesen Wittfogels dem mechanistischen Geschichtsschema der Stufenfolge von Gesellschaftsformationen im Sowjetmarxismus widersprachen, sondern auch weil die Parallelen der »orientalen Despotie« mit der Zwangsplanwirtschaft des Aufbaus des »Sozialismus in einem Lande« zu eklatant waren, wurde die Debatte um die »asiatische Produktionsweise« bereits seit 1931 in der Sowjetunion untersagt. Dagegen beharrt Wittfogel darauf, dass eine sozialistische Gesellschaft nur aus der völligen Befreiung der Produktivkräfte der Menschen aus der Knebelung durch die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse hervorgehen könne. »Demgegenüber bedeutet der sozialistische Aufbau eine maximale Entfesselung aller Kräfte der Arbeitsproduktivität, an der seit der Frühzeit der Geschichte der unmittelbare Produzent zum ersten Male wieder in einer durch keinen Ausbeutungsmechanismus gelähmten Weise interessiert ist. Daß die Aktivität des arbeitenden Menschen auch im Sozialismus durch ›äußere Zweckmäßigkeit‹, durch ›die Gesetze der äußeren Welt, die Natur‹, in ihrer jeweiligen Richtung bestimmt wird, bedarf keiner Erläuterung.« 15 Doch insgesamt bleiben Wittfogels Andeutungen zum Übergang vom Kapitalismus zu einer sozialistischen Gesellschaft zu vage und zweideutig, gerade auch weil er die Thesen von Georg Lukács zu einer »revolutionären Dialektik« so vehement ablehnt. Wittfolgels Stärke ist die historische Analyse der Bedeutung des Naturfaktors für die Produktivkraftentwicklung, nicht die praxisphilosophische Diskussion politischer Perspektiven. 16

Max Adler Auch Max Adler (1873–1937) betont in seinem Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung (1930) die Unaufhebbarkeit der »Naturfaktoren« in der Produktivkraftentwicklung, denn die Natur ist in mannigfaltiger Weise »Bedingung« für das menschliche Leben und die gesellschaftliche Produktion. 17 Adler unterstreicht aber zu-

Wittfogel, »Die natürlichen Ursachen der Wirtschaftsgeschichte« (1932), 6: 713 f. Vgl. Serge Moscovici, Versuch über die menschliche Geschichte der Natur (1968/ 1982); Dieter Hassenpflug, Die Natur der Industrie. Philosophie und Geschichte des industriellen Lebens (1990). 17 Adler, Natur und Gesellschaft (1930/1964), II: 73 f. 15 16

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gleich – in entschiedenem Gegensatz zu Nikolai Bucharin –, dass »die materialistische Geschichtsauffassung überall den tätigen, nach Plänen und Ideen handelnden Menschen in den Mittelpunkt ihrer Begriffe stellt und ohne diese Grundtatsache gar nicht denkbar ist.« 18 Allerdings ist hiermit nicht der »vereinzelte Mensch« gemeint, sondern der »ökonomisch vergesellschaftete Mensch«, oder anders gesagt: In der bisherigen Geschichte handelten die Menschen im jeweiligen Rahmen ihrer natürlichen, sozialen und ökonomischen Bedingungen zwar durchaus individuell bewusst, aber diese natürlichen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen – obwohl selbst durch gesellschaftliche Praxis hervorgebracht – haben sich gleichsam »naturwüchsig«, »hinter ihrem Rücken« gebildet, waren ihnen gesellschaftlich-bewusstlos entstanden. Ziel der sozialistischen Bewegung aber ist es, dass die handelnden Individuen ihre soziale Entwicklung und ihre Auseinandersetzung mit der Natur in bewusster gesellschaftlicher Praxis gemeinsam und solidarisch in ihre Hände nehmen. Entschieden wehrt sich Adler dagegen, die einzelnen Momente des Entwicklungsprozesses der Menschheit zu »verobjektivieren« und aus ihrem Wechselbezug geschichtliche Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, die zwangsläufig zu einem mechanistischen Geschichtsverständnis führt, wie dies bei Nikolai Bucharin geschieht, bei dem die Technik als das vorantreibende Moment der Geschichte, aus den Fesseln der kapitalistischen Ökonomie befreit, gesetzmäßig den Sozialismus herbeiführen wird. Weder die »Technik« noch die »Wissenschaften« sind Größen, die für sich bestehen und von sich aus agieren, sondern sie sind Entwicklungsmomente, die wechselseitig aufeinander bezogen in die Produktivkraft der gesellschaftlich handelnden Menschen eingehen, gleichzeitig aber von den selbst gesellschaftlich hervorgebrachten Produktionsverhältnissen bestimmt werden. »›Die Technik‹ selbst tut nichts und bewirkt nichts. […] Nur in einer durch das Profitinteresse geleiteten Industrie erzeugt die Technik die Wirkungen, welche die kapitalistische Entwicklung zeigt: Nur innerhalb einer solchen Wirtschaftsweise wird die Maschine ein Ausbeutungsinstrument und sogar der stärkste Motor dieser Ausbeutung. Dieselbe Technik in einer sozialistischen Produktionsweise müßte ganz an-

18 Adler, Natur und Gesellschaft (1930/1964), II: 17. Vgl. Alfred Pfabigan, Max Adler. Eine politische Biographie (1982).

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dere Wirkungen hervorbringen.« 19 Was allerdings von den richtungssetzenden Entscheidungen der bewusst und solidarisch handelnden Menschen abhängt. Gleiches lässt sich von den Wissenschaften sagen, insbesondere von den modernen Naturwissenschaften, die in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung auf die technische Verfügbarkeit der Natur von Anfang an mit dem Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise verbunden sind. »Es wäre sehr verlockend, […] zu zeigen, wie die moderne Naturwissenschaft durchaus das Produkt einer neuen ökonomischen Struktur der Gesellschaft ist, nämlich der kapitalistischen Produktionsweise […]. Es genügt in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, daß die Entwicklung der modernen Naturauffassung, des Begriffes des Naturgesetzes und damit der Naturwissenschaften gleichzeitig mit der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise vor sich geht.« 20 Es wäre daher geradezu absurd zu hoffen und zu fordern, dass Wissenschaft und Technik in ihrer gegenwärtigen kapitalistischen Ausrichtung eine sozialistische Gesellschaft herbeiführen könnten. Ebenso wie es Folge der kapitalistischen Verkehrung ist, dass in der bürgerlichen Ökonomie nicht die in die Natur eingebundenen und gemeinsam arbeitenden Menschen sich als die Subjekte ihrer Geschichte verstehen können, sondern die Wertlogik des Kapitals zum »absoluten Subjekt« (Marx) der geschichtlichen Entwicklung stilisiert wird und so auch über die ökonomischen Entscheidungen fungiert, ebenso werden auch Wissenschaft und Technik zu »absoluten Subjekten« stilisiert. »Damit eröffnet sich tatsächlich eine Perspektive, in welcher die Entwicklung der Beherrschung der Naturfaktoren durch die menschliche Wissenschaft und Technik den Menschen aus dem ursprünglichen Sklaven der Naturgewalten zu einer fast gottähnlichen Macht über die Natur werden läßt.« 21 Allerdings nur in der verobjektivierten Kollektivgestalt der Wissenschaft und der Technik, die in Wahrheit die bestimmte Ausrichtung kapitalistisch angeeigneter »privatwirtschaftlicher Naturbeherrschung« repräsentiert. Diese ideologische Verklärung einer zeitlos gültigen Wissenschaft und Technik verschleiert zum einen die unaufhebbare Gebun19 20 21

Adler, Natur und Gesellschaft (1930/1964), II: 35. Adler, Natur und Gesellschaft (1930/1964), II: 58. Adler; Natur und Gesellschaft (1930/1964), II: 80.

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denheit der Menschen an die Natur sowohl in ihren Lebensvollzügen als auch in ihrer gesellschaftlichen Produktion, diese mag noch so sehr wissenschaftlich-technisch überformt sein. »Es bleibt ein unaufhebbarer Rest von Gebundenheit des Menschen an Naturwirkungen«. 22 Zum anderen ist diese Betrachtung der Entwicklungsgeschichte der Menschheit – wie dies Marx schon kritisch 1844 anmerkt – nur auf die positive Seite fokussiert und unterschlägt, dass die kapitalistisch gesteuerten Produktivkräfte längst schon in Destruktivkräfte wider Mensch und Natur geworden sind, zu einer »Gefahrenquelle«, die »manchmal sogar katastrophale Wirkungen hervorruft«. 23 »Zunächst muß man sich hüten, in die übliche und gedankenlose Verherrlichung des technischen Fortschrittes zu verfallen, wie sie die bürgerliche Welt zu ihrer Berühmung und Rechtfertigung liebt. Ihr gegenüber hat Marx immer wieder darauf verwiesen, wie trotz der fortschreitenden Beherrschung der Naturkräfte in der modernen Technik gerade die kapitalistische Produktionsweise auf eine Schranke stößt, die es ihr unmöglich macht, diese gewaltige Naturbeherrschung zu einem wirklich allgemeinen Kulturaufbau zu verwenden. Diese Schranke liegt in dem Profitziel, das für den Kapitalismus wesentlich ist und allein entscheidend, wofür die technischen Errungenschaften angewendet, ja sie überhaupt ausgenutzt werden.« 24 Die sozialistische Bewegung bedarf also zur Konkretisierung ihrer revolutionären Ziele nicht nur einer Kritik der politischen Ökonomie, sondern ganz wesentlich auch einer Kritik der Technik und der Wissenschaften, inklusive der Naturwissenschaft in ihrer gegenwärtigen Formbestimmtheit, um sich die Horizonte für Wissenschaft und Technik in einer künftigen »solidarischen Gesellschaft« zu erarbeiten. Gerade dadurch, dass Marx begonnen hat, den Gesamtbereich der gesellschaftlichen Praxis, wozu nicht nur die ökonomischen Verhältnisse, die politischen Auseinandersetzungen und die geistigen Dimensionen des kulturellen Lebens gehören, sondern auch das Verhältnis der Menschen zur Natur, hat er den Grundstein gelegt für die proletarische Befreiungsbewegung. Denn kein anderer – und schon gar nicht ein mechanistischer – Weg führt zu einer »solidarischen Gesellschaft«, in der die Menschen in ihren Beziehungen und 22 23 24

Adler, Natur und Gesellschaft (1930/1964), II: 83. Adler, Natur und Gesellschaft (1930/1964), II: 82 f. Adler, Natur und Gesellschaft (1930/1964), II: 81.

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ihr Verhältnis zur Natur zum Leitziel ihres gesellschaftlichen Handelns werden, als die bewusste Einsicht in die Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise und ihre gezielte und solidarische Überwindung. In den bestehenden Widersprüchen selbst ist der Klassenkampf angelegt, der nicht eine Erfindung des Proletariats ist, sondern in den verkehrten kapitalistischen Produktionsverhältnissen selbst steckt. Denn die kritische Analyse der bestehenden kapitalistischen Produktionsverhältnisse macht den Proletariern erst mit letzter Gewissheit deutlich, dass durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Klassengegensätze mit Notwendigkeit erzeugt werden, deren Leidtragende sie sind, und dass es nur eine Möglichkeit sowie nur »ein Mittel zur Überwindung des Klassenkampfes« gibt: den »proletarisch-revolutionären Klassenkampf selbst und seinen Sieg«. 25 So wird den Proletariern durch die dialektische Gesellschaftsanalyse erkennbar, dass es für den ihnen durch die Verhältnisse aufgezwungenen Klassenkampf keine andere Alternative geben kann als den bewusst siegreich zu Ende geführten Klassenkampf selbst, denn erst über ihren Sieg kann es zu einer »Beseitigung der Ursachen der Klassenspaltung überhaupt« kommen. 26 Auf dieses letzte sozialethische Ziel der Errichtung einer alle Menschen umfassenden »solidarischen Gesellschaft« ist alle »revolutionäre Klassenpolitik« ausgerichtet. 27

2.

Geschichtsmaterialistische Erkenntniskritik – Sohn-Rethel (und Marcuse)

Alfred Sohn-Rethel Alfred Sohn-Rethel (1899–1990) macht in seinem Buch Geistige und körperliche Arbeit (1970) 28 auf jenes seltsame Phänomen aufmerksam, dass die Marxismen aller Schattierungen es bisher versäumt haben, die Naturwissenschaften in ihre kritische Analyse mit einzubeziehen, stattdessen billigen sie ihnen immer schon vorweg eine Max Adler, Die solidarische Gesellschaft = Soziologie des Marxismus III (1964), III: 106. 26 Adler, Die solidarische Gesellschaft = Soziologie des Marxismus III (1964), III: 109. 27 Vgl. Iring Fetscher, Überlebensbedingungen der Menschheit (1981). 28 Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis (1970/1972). 25

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absolute außerzeitliche Gültigkeit zu. »Diese geschichtsmaterialistische Auslassung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisfragen hat zu einer höchst fragwürdigen Zweigleisigkeit des Denkens im marxistischen Lager geführt. Auf der einen Seite wird nichts von dem, was die Bewußtseinswelt an Phänomenen bietet, geboten hat oder noch bieten wird, anders denn in seiner Geschichtlichkeit verstanden und dialektisch als zeitgebunden gewertet. Auf der anderen Seite hingegen sind wir in der Frage der Logik, der Mathematik und der Objektwahrheit auf den Boden zeitloser Normen versetzt. Ist ein Marxist also Marxist für die Geschichtswahrheiten, aber Idealist für die Naturwahrheiten? […] Ihre [der Zweigleisigkeit] Überwindung ist in der jetzigen Epoche eine Lebensfrage für die sozialistische Theorie und Praxis.« 29 Und noch entschiedener als Aufgabe formuliert fügt er hinzu: »Zur Schaffung des Sozialismus wird verlangt, dass es der Gesellschaft gelingt, sich die moderne Entwicklung von Naturwissenschaft und Technologie zu subsumieren. Wenn die naturwissenschaftlichen Denkformen und der technologische Aspekt der Produktivkräfte sich aber der geschichtsmaterialistischen Betrachtungsweise wesensmäßig entziehen, so ist eine solche Subsumtion unmöglich. Dann geht die heutige Menschheit nicht dem Sozialismus, sondern der Technokratie entgegen, einer Zukunft also, in der nicht die Gesellschaft über die Technik, sondern die Technik über die Gesellschaft herrscht. Wenn es dem Marxismus nicht gelingt, der zeitlosen Wahrheitstheorie der herrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnislehren den Boden zu entziehen, dann ist die Abdankung des Marxismus als Denkstandpunkt eine bloße Frage der Zeit.« 30 Mit seiner geschichtsmaterialistischen Erkenntniskritik geht es Sohn-Rethel darum, die Denkformen, d. h. die Kategorien und Methoden wissenschaftlicher Rationalität aus ihrer selbstgenügsamen verklärten Idealität herauszuholen und sie in den Kontext gesellschaftlicher Praxisformen einzubeziehen. Eine solche geschichtsmaterialistische Analyse der Denkformen wissenschaftlicher Rationalität ist notwendige Kritik an den Wissenschaften in ihrer gegenwärtigen Formbestimmtheit, jedoch nicht als einfache Negation der Abschaffung der Wissenschaften verstanden, sondern – ganz wie das Marx gefordert hat – als Negation der Negation ihres zeitlos objekti29 30

Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit (1970/1972): 15 f. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit (1970/1972): 167.

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vistischen Scheins hin zu einem Begreifen des wissenschaftlichen Denkens als Teilmoment menschlicher Praxis – dieser verpflichtet und verantwortlich. Was Sohn-Rethel unternimmt, ist der Versuch, die erkenntnistheoretische Fragestellung nach den kategorialen Bedingungen der Möglichkeit unserer Erkenntnis selbst noch einmal aus der gesellschaftlichen Praxis zu begründen, d. h. die Entwicklung der Denkformen geschichtsmaterialistisch aus der Entwicklung der gesellschaftlichen Praxisformen zu begreifen. Ohne im Folgenden eine detaillierte Diskussion der Analysen von Sohn-Rethel vorlegen zu können, seien hier lediglich in groben Konturen seine Schlussfolgerungen für die Naturerkenntnis und Naturbeherrschung nachgezeichnet, wobei der Gesamthintergrund seines erkenntnistheoretisch-geschichtsmaterialistischen Ansatzes nur sehr allgemein angedeutet werden können. 31 In der kantischen und neukantianischen Erkenntnistheorie wird zwischen der Geltung einer Erkenntnis, d. h. der Evidenz einer wissenschaftlichen Aussage, und der Genesis, d. h. dem Forschungsprozess ihrer Entdeckung, streng unterschieden. Gemäß seinem geschichtsmaterialistischen Ansatz versucht Sohn-Rethel – hier durchaus an seinen Lehrer Ernst Cassirer anknüpfend – aufzuzeigen, dass die Geltungsfragen selber genetisch bedingt sind. Dies ist nicht etwa als simple Auflösung von Geltungsfragen auf ihre Genesis hin gemeint, sondern dialektisch: Die Evidenz oder Geltung bestimmter Aussagen hängt von den ihnen zugrundeliegenden Denkformen ab, diese sind ihrerseits aber genetisch geschichtsmaterialistisch von der gesellschaftlichen Praxis abhängig, aus der sie erwachsen. So hat Ernst Cassirer bereits die geschichtlich-gesellschaftliche Geltung des mythischen Denkens aus deren Einbettung in die Lebensformen archaischer Gesellschaften erklärt, hatte dann aber im Widerspruch dazu die Erkenntnisform der modernen Wissenschaften aus einer zeitlosen Rationalitätsstruktur des menschlichen Geistes abzuleiten versucht. 32 Alfred Sohn-Rethel will nun geschichtsmaterialistisch darüber hinausgelangen, indem er die Geltung und die Denkformen der neuzeitlichen Wissenschaften geschichtsmaterialistisch aus den herrschenden Gesellschaftsverhältnissen und deren Naturverhältnis abVgl. Rudolf Heinz/Jochen Hörisch (Hg.): Geld und Geltung. Zu Alfred Sohn-Rethels soziologischer Erkenntnistheorie (2005). 32 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde. (1923–29). 31

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leitet. Dabei dient seine kritische Analyse dazu, mit der sozialistischen Überwindung des Kapitalismus auch zu neuen Denkformen eines aus gesellschaftlicher Praxis vermittelten »sozialistischen« Naturverständnisses und -verhältnisses zu finden. Sohn-Rethel beginnt seine geschichtsmaterialistische Rekonstruktion der Gesellschafts- und Denkgeschichte bei den archaischen Gesellschaften, die er Arbeitsgesellschaften und manchmal auch unbegründeter Weise »urkommunistische« Gesellschaften nennt. Es handelt sich hierbei um verwandtschaftlich strukturierte Gruppen, deren gesellschaftliches Leben noch ganz durch die von allen geleistete gemeinsame Arbeit des Jagens und Sammelns strukturiert ist. 33 Erst mit den entstehenden Stadtkulturen tritt ein radikaler Wandel in der Gesellschaftsstruktur, in der gesellschaftlichen Synthesis ein, der in der Umwälzung der Arbeitsgesellschaft zur Aneignungsgesellschaft besteht. Unter Aneignungsgesellschaften versteht SohnRethel alle Gesellschaftsformationen von den frühen Stadt-Kulturen bis zum Kapitalismus. Sie alle beruhen auf der Ausbeutung der unmittelbaren Produzenten. Hier bestimmt nicht die gemeinsame Arbeit der Menschen die Gesellschaft, sondern umgekehrt, hier diktiert die ausbeutende und aneignende Gesellschaftsstruktur die Arbeitsverhältnisse – so herrscht im Kapitalismus das Wertgesetz der Mehrwertakkumulation über die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse. Der systematische Ackerbau entsteht erst unter dem Druck einer theokratischen Zentralgewalt, die über das Eigentumsrecht an Grund und Boden die Felderbewirtschaftung regelt, die Güter einzieht und die Verteilung der Güter auch an die von der Produktion freigestellten Priester und Krieger übernimmt. Über die theokratischen Zentralgewalten (orientalische Despotien) kommt es zu Schatzbildungen, die auch für einen ersten Luxushandel der Herrschenden untereinander genutzt werden. Mit dieser zentralen Aneignungsregelung des gesellschaftlichen Reichtums und den damit verbundenen Kontrollfunktionen bilden sich auch die ersten Wissenschaftsformen heraus – vor allem die Mathematik, die aber auch noch ganz anwendungsbezogen bleibt: Feldvermessung, Abgabenberechnungen etc. – sowie die systematisch-philosophische Mythologie. Am Rande der orientalischen Despotien entsteht dann im griechischen Ionien die antike Gesellschaftsformation. Ermöglicht wird ihre Entstehung durch die Herausbildung 33

Alfred Sohn-Rethel, Soziologische Theorie der Erkenntnis (1985).

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des gemünzten Geldes um 700 v. u. Z., wie Sohn-Rethel im Anschluss an den englischen Althistoriker George Thomson aufzeigt. 34 Mit dem gemünzten Geld als herrschendem Aneignungsinstrument, dem man seine Ausbeutungsgeschichte, aus der es erwächst, nicht mehr ansieht, vermag nun jeder Bürger der herrschenden Eigentümerklasse frei über sein Eigentum zu verfügen. Mit dem gemünzten Geld kann ihm alles zur Ware werden: erzeugte Güter, Grund und Boden, verfügbare Menschen (Sklaven). Die sich hier vollziehende gleichzeitige Generalisierung und Individualisierung der Dominanz der Aneignung über die Produktion, wie sie durch das gemünzte Geld ermöglicht wird, beruht auf der grundlegenden Klassenscheidung zwischen produzierender Sklavenbevölkerung – Heloten, Leibeigene, persönliche und Arbeitssklaven – und den von der Produktion freigestellten freien Bürgern. 35 Auf diesem Boden universalisierter und individualisierter Aneignung als gesellschaftlicher Synthesis, gesellschaftlicher Abstraktion, bilden sich nun die Denkformen der reinen Rationalität, der reinen Mathematik und reinen Philosophie, heraus – also die Formen der Denkabstraktion. So wie man dem gemünzten Geld, jenem real-abstrakten Ding, das jeder bei sich in der Tasche zu tragen vermag, ihre Entstehungsgeschichte nicht mehr ansieht, aus der es geschichtlich erwächst, sondern es für etwas an-und-für-sich-Seiendes hält, das die universelle Macht gesellschaftlicher Synthesis und die individuelle private Verfügbarkeit über alle Dinge in sich selbst verkörpert, so scheint nun auch die reine Mathematik ihre abstrakte, zeitlose Geltung allein in sich selbst als System zu haben. Aus diesem rein rationalen Selbstverständnis mathematischer Strukturen sind die rein operationalen geistig-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Natur, aus denen sie erwachsen sind, gänzlich weggeblendet. Auch die reine theoretische Philosophie (Aristoteles) glaubt, sich aus sich selbst begründen zu können und von sich her alle Gegenstände der Welt bestimmen zu können. Vergessen wir jedoch nicht, dass diese reinen Rationalitätsformen, ihre idealistische Selbstbegründung von Bürgern entwickelt wurden, die völlig vom gesellschaftlichen Produktionsprozess abgekoppelt waren und in der reinen Sphäre herrschender Aneignung (gesellschaftliche Synthesis) agierten. 34 35

Vgl. George Thomson, Die ersten Philosophen (1955/1961). Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform (1936/1978): 103 ff.

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Erneut am Rande der Ausläufer der untergegangenen antiken Gesellschaftsformation entsteht aus einer feudalen Übergangszeit die kapitalistische Gesellschaftsformation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass die gesellschaftliche Synthesis der Aneignung sich nun endgültig aller Lebensbereiche bemächtigt. Das Geld wird im engeren Sinne zum Kapital, in dem es alle Momente des Produktionsprozesses unter sich subsumiert. Insbesondere die Arbeit selbst als stundenweise, kaufbare Ware Arbeitskraft wird dem Verwertungs- und Vermehrungsprozess des Kapitals einverleibt; aber auch die tradierten gesellschaftlichen Lokalbereiche werden dem Zirkulationsprozess des Kapitals subsumiert und das gesellschaftliche Gesamtgefüge wird zu einem einzigen großen Warenmarkt – wie dies Marx gezeigt hat. 36 Das Kapital, d. h. das Wertgesetz, wird hier zur absoluten gesellschaftlichen Synthesis, der nun auch die lebendige Arbeit und die Natur selbst warenförmig einverleibt werden. Was sich hier in gesellschaftlicher Abstraktion vollzieht, findet seine kurz darauf folgende Entsprechung in der Rationalitätsform der neuzeitlichen Naturwissenschaften. Die Rationalitätsform der reinen Mathematik bemächtigt sich der Erfahrung, indem der Erfahrungszusammenhang in Sinnesdaten zertrümmert wird, um diese dem mathematischen Zugriff verfügbar zu machen. Alles was die Wissenschaften in ihren Erkenntnishorizont einbeziehen, wird zum methodologisch bestimmten Objekt und die ganze Welt oder die Natur – wie Kant bereits sagt 37 – zum »Inbegriff aller Gegenstände unserer Erkenntnis«, die ihren Vermittlungszusammenhang nicht in sich, sondern im Erkenntnissubjekt haben. Dieses transzendentale Erkenntnissubjekt aber ist – wie sich an Hegels dialektischer Logik des absoluten Geistes demonstrieren lässt – geschichtsmaterialistisch gesehen nichts anderes als die innere Reflexionsform des Kapitals, des absoluten Subjekts der gesellschaftlichen Synthesis unserer wertbestimmten Gesellschaft. 38 Dies sei – so betont Alfred Sohn-Rethel – bereits bei Marx angedeutet. Was will Alfred Sohn-Rethel mit seiner geschichtsmaterialistischen Rückbindung der Denkformen an die Formen gesellschaftlicher

Marx, Kapital III (1894), 25: 33 ff. Immanuel Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (1783), A: 71 ff. 38 Vgl. Helmut Reinicke, Ware und Dialektik (1974): 119 ff. 36 37

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Synthesis (Mathematik = Geld/absoluter Geist, Logik = Kapital) erreichen? Zunächst einmal geht es um die Einsicht, dass alle Erkenntnis-, Denk- und Wissensformen selber aus gesellschaftlicher Praxis erwachsen und geschichtsmaterialistisch daraus zu begreifen sind. Die Denkformen sind – wie dies Marx bereits in seiner Kritik an Hegels Logik gezeigt hat 39 – Produkte geistiger Arbeit, die aber dort, wo sie losgelöst aus dem Gesamtzusammenhang gesellschaftlicher Praxis nur aus sich selbst begründet werden, notwendig eine entfremdete Gestalt annehmen. Zum Zweiten, dass die Verselbständigungsformen der reinen Rationalität, Theorie, Mathematik und Philosophie, die sich idealistisch rein aus sich selbst zu begründen versuchen und alles von sich aus begreifen zu können vorgeben, sowohl einer radikalen Trennung von Handarbeit und Kopfarbeit einerseits als auch der Herrschaft der gesellschaftlichen Aneignung über die gesellschaftliche Produktion andererseits geschuldet sind. Zum Dritten reflektiert sich in der scheinbaren, zeitlosen Geltung der wissenschaftlichen Rationalität die scheinbare, zeitlose Geltung des Wertgesetzes unserer kapitalistischen Gesellschaftsformation. Damit stellt sich die Aufgabe einer Kritik der neuzeitlichen Wissenschaften, die sich gerade als zeitlos aus sich selbst begründet begreifen können. 40 Sohn-Rethels Forderung einer »neuen Logik« der Wissenschaften darf nicht als eine abstrakte Negation und Beseitigung der bestehenden Wissenschaften missverstanden werden, an deren Stelle dann positiv einfach etwas Neues gesetzt wird, sondern kann nur bedeuten, dass die Wissenschaften in ihrer abstrakt-idealistischen Negation der gesellschaftlichen Grundlage negiert werden, eine Negation der Negation, die – wie es Marx in seiner Kritik der Hegelschen Logik andeutete 41 – nun erst ermöglicht, dass sich Wissenschaften bewusst in ihrem gesellschaftlichen Auftrag und ihrer gesellschaftlichen Verantwortung verwirklichen können. Kritik meint hier – wie in der Kritik der politischen Ökonomie – kritische Analyse der den Wissenschaften eigentümlichen Logik in ihrer Widersprüchlichkeit, die darin besteht, dass auch die neuzeitlichen Wissenschaften, wie alles mensch-

Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 571. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis, (1981/ 2018): 217 ff. 40 Sohn-Rethel, Warenform und Denkform (1936/1978): 127 ff. 41 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskritpte (1844), 40: 583 ff. 39

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liche Erkenntnisstreben notwendig in der geistigen Auseinandersetzung der Menschen mit der Natur, eben in der gesellschaftlichen Praxis, gründen, dass sie aber andererseits in der Form ihrer Methodologie genau dieses Fundament verleugnen, was sich in der Abstraktheit des Erkenntnissubjekts genauso zeigt wie in der objektivistischen Erkenntnisverdinglichung. So wie es dem Marxismus um eine grundlegende Umwälzung des Kapitalismus geht, d. h. um die Aufhebung der Herrschaft des Wertgesetzes über die lebendige Arbeit und die lebendige Natur, so geht es auch erkenntnistheoretisch um eine grundlegende Umwälzung des herrschenden rein rationalen Wissenschaftsverständnisses. Es geht Sohn-Rethel um eine neue Logik, eine neue Rationalität, ein neues Denken, das sich gerade nicht zeitlos aus sich selbst zu begründen versucht, sondern aus der gesellschaftlichen Praxis und ihrer tätigen Auseinandersetzung mit der Natur begreift und sich daher auch gesellschaftlich verantwortlich weiß für die mit der Natur vermittelten Lebensbedürfnisse der Menschen. Was Alfred Sohn-Rethel seit 1936 42 in immer wieder neuen Entwürfen skizziert hat, sind leider nur Entwürfe geblieben. Ihm fehlte lebensgeschichtlich die Möglichkeit, als reiner Geistesarbeiter an einer Universität wirken und seine Theorie philosophisch vollenden zu können. Die einzelnen Entwürfe stimmen nicht bruchlos miteinander überein; im Hauptteil des Buches Geistige und körperliche Arbeit vermag er letztlich nur Strukturaffinitäten zwischen der Logik gesellschaftlicher Aneignung und der Logik reiner Rationalität aufzuweisen. Trotz all dieser – hier nur behauptend hingeworfenen – Einwände ist sein Ansatz eine unglaubliche Herausforderung an uns, an deren Bewältigung sich nicht nur das Schicksal des Marxismus – wie er sagt –, sondern das Schicksal der Menschheit hängt, denn solange wir der zeitlosen Geltung der reinen Rationalität der neuzeitlichen Wissenschaft aufsitzen, wird die wissenschaftliche Naturentfremdung und die daraus folgende Naturzerstörung kein Ende nehmen. Aber auch hier müssen wir ergänzend hinzufügen, dass Alfred Sohn-Rethel mit seiner geschichtsmaterialistischen Erkenntniskritik wiederum nur die eine Seite der uns aufgegebenen Problematik zu behandeln vermag. Seine Kritik der naturwissenschaftlichen Denkformen kann immer nur die Erkenntnis an die gesellschaftliche Praxis 42

Sohn-Rethel, Warenform und Denkform (1936/1978): 7 ff.

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zurückbinden. Allein für sich betrachtet, liegt in der von Sohn-Rethel angeregten geschichtsmaterialistischen Erkenntniskritik die Gefahr eines bodenlosen Relativismus. Darüber hinaus bietet sie keine Möglichkeit, das gesellschaftliche Naturverhältnis selbst, in dem die wissenschaftliche Erkenntnis begründet ist, einer Kritik zu unterziehen. Die Natur als Wirklichkeitszusammenhang, in den wir selbst gestellt sind, kann dieser Ansatz grundsätzlich nicht erörtern, so erweist er sich als hilflos gegenüber den Problemen der ökologischen Krise.

Herbert Marcuse Hier nun ist auf Herbert Marcuse (1898–1979) einzugehen, dessen geschichtsmaterialistische Analyse des »eindimensionalen Denkens« seit der Antike über die Neuzeit bis zum gegenwärtigen »Triumph des positiven Denkens« in seinem Buch Der eindimensionale Mensch (1964) 43 die notwendigen Ergänzungen und Differenzierungen zu den Ausführungen von Sohn-Rethel liefert. Da auf den Naturbegriff bei Herbert Marcuse im Anhang VIII ausführlich eingegangen wird, empfehlen wir dem Leser an dieser Stelle zunächst mit dem Anhang VIII, Kapitel 4: »Kritische Genealogie der Eindimensionalität wissenschaftlich-technischer Rationalität« fortzufahren und erst danach wieder zu den folgenden Ausführungen zu Bloch und Lefebvre in diesem Textabschnitt zurückzukehren. 44

3.

Die Produktivität aus der Natur und für die Geschichte – Bloch und Lefebvre

Ernst Bloch Ernst Bloch (1885–1977) ist der einzige marxistische Philosoph, der – Marxens Anregung gegenüber Feuerbach folgend – die Schellingsche Naturphilosophie aufgenommen und materialistisch gewendet hat. 45 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970). Siehe das nächste Kapitel in diesem Band Kapitel VIII »Herbert Marcuse – Die ›menschliche Natur‹«, 4. »Kritische Genealogie der Eindimensionalität wissenschaftlich-technischer Rationalität«: 186–193. 45 Vgl. Helmut Reinicke, Materie und Revolution. Eine materialistisch-erkenntnistheoretische Untersuchung zur Philosophie von Ernst Bloch (1974); Rainer Zimmer43 44

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Im Gegensatz zu Lukács, der ausdrücklich die Natur aus dem Zusammenhang dialektischer Geschichtsphilosophie ausklammert und sie damit aus dem Lebenszusammenhang der Menschen ausgrenzt, bezieht Bloch – hierin den Grundgedanken einer Dialektik der Natur von Engels allererst ausführend – die Natur in seine dialektische Philosophie mit ein. Die Naturdialektik von Ernst Bloch tritt nicht wie bei Engels – obwohl er diese positiv würdigt – von außen an die Natur heran, sondern nimmt – wie die Naturphilosophie Schellings – ihren Ausgang von der inneren Situiertheit unserer naturhaften Existenz. Begreifen wir aber einmal die Dialektik der Natur an uns selbst, so können wir nicht mehr dabei stehen bleiben, unsere menschliche Natur in die Dialektik der Geschichte hinüberzuziehen und die »äußere« Natur undialektisch allein dem Zugriff der objektivierenden Rationalität zu überlassen, sondern wir müssen zu begreifen beginnen, dass wir – in unserer geschichtlichen Praxis – vielfältig verflochten sind mit den lebendigen Vermittlungszusammenhängen der Natur, die wir selbst wiederum nur begreifen können, wenn wir die Natur – von innen her – als einen sich selbst produzierenden unabgeschlossenen Totalitätszusammenhang begreifen, in den wir mit unserer unabgeschlossenen Geschichte – praktisch gefordert – hineingestellt sind. In diesem Sinne lautet das Motto von Blochs Das Materialismusproblem: »Neuer Materialismus wäre einer, der sich nicht nur auf den Menschen als Frage und die Welt als ausstehende Antwort, sondern vor allem auch auf die Welt als Frage und den Menschen als ausstehende Antwort versteht.« 46 Schon seine Thematisierung unserer Selbstsuche im Frühwerk Geist der Utopie (l918) führt Bloch nicht zur idealistischen Selbsterkenntnis als begründendem Ausgangspunkt, sondern zum existentiellen »Bin«, das wir je selber sind, zu unserem naturhaft verwurzelten produktiven Sein, das erkennend niemals eingeholt zu werden vermag, da es als gelebter Augenblick allem nachträglichen Reflexionsbemühen unaufhörlich und unvordenklich vorauspulst. 47 Diemann, Subjekt und Existenz. Zur Systematik Blochscher Philosophie (2001). Siehe auch im Anhang das Kapitel IX »Ernst Bloch – Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte und Natur«. 46 Ernst Bloch, Das Materialismusproblem (1972): 1. 47 Ernst Bloch, Geist der Utopie (1918/21923/1964). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie, darin: »Bloch – Suche nach uns selbst ins Utopische« (1999): 210 ff.

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ser produktive Kern in unserem existentiellen Dasein und Wirken, der sich gesellschaftlich als die Produktivität menschlicher, geschichtlicher Arbeit darstellt, wird – wie schon Schelling und Marx betonen – idealistisch, selbstherrlich missverstanden, wenn er nicht aus der Produktivität der Natur begriffen wird. Die menschliche Produktivität in der gesellschaftlichen Arbeit ist keine Selbstschöpfung des Menschen, sondern es ist die Form, zu der die produktive Natur im Naturwesen Mensch gelangt ist und gefunden hat. Der geschichtliche Selbstorganisationsprozess gesellschaftlichen Überlebens des Menschen ist selbst Teilmoment der Selbstorganisation des durch die Menschheitsgeschichte hindurch wirkenden kosmischen Naturprozesses. Weder ist die gesellschaftlich-geschichtliche Praxis etwas, was jenseits des Naturzusammenhangs denkbar wäre, noch ist unser menschliches Bewusstwerden in der Welt vollständig, wenn wir die Natur aus dem Weltwerdungsprozess ausschließen. Die Totalität der Geschichte wird erst dort vollkommen befragt, wo sie die Totalität der Natur mit umfasst, ebenso wie erst die Totalität der Natur dort ganz bedacht wird, wo sie die Geschichte mit umgreift; denn weder hört der Naturprozess mit der menschlichen Geschichte auf, noch kann sich Geschichte erfüllen, wenn sie im Widerspruch mit der Natur steht. Vielmehr ist die Produktivität der gesellschaftlichen Praxis, wie schon Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten betont 48, nur aus dem Kontext der Produktivität der Natur zu begreifen. So führt Bloch in Experimentum Mundi aus: »Die Welt ist eine einzige noch unablässige Frage nach ihrem heranzuschaffenden Sinn […]. Der erkennende Mensch darin hat hierbei gerade mit der Selbsterkenntnis als der Realfrage der Welt nach sich selber genau die Funktion, daß er eben an der Front des Weltprozesses stehend, dessen Realfrage immer qualitativ verstärkt.« 49 Ausgangspunkt bei Bloch ist das Begreifen der gesellschaftlichen Arbeit als bewusstgewordenes Moment einer dialektisch produktiven Natur, einer Natur, die – wie unbewusst auch immer – aus sich heraus die bewusste Produktivität der Menschen hervorgebracht hat. Daraus ergeben sich nach Bloch folgende philosophische Probleme: Erstens gilt es, die Natur so aus ihrer eigenen Produktivität zu erfassen, dass Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 577. Ernst Bloch, Experimentum mundi. Frage, Kategorien des Herausbringens, Praxis (1975): 248, 246. 48 49

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die menschliche Praxis selber als Produkt der natürlichen Produktivität begriffen werden kann, als ein Produkt, in dem die Natur zu sich selbst in ein bewusst erkennendes und gestaltendes Verhältnis zu sich selbst tritt – dies ist aber nicht objektivistisch in naturwissenschaftlicher Gesetzlichkeit konstatierbar, sondern nur aus der Natürlichkeit der menschlichen Lebenspraxis und ihrer unaufhebbaren Verbundenheit mit dem gesamten kosmischen Werdenszusammenhang der Natur zu ermitteln. Zweitens liegt jedoch in der bewussten Selbständigkeit der menschlichen Praxis die Möglichkeit, dass diese mit der Natur – in ihr und außer ihr – in Widerspruch geraten kann und auch gerät, dass sie dort, wo sie sich nicht bewusst aus der Natur begreift und verwirklicht, sondern allein auf ihre menschlichen Potenzen setzt, ihre eigenen Produktivkräfte nur als ihre eigenen versteht und entfaltet, in einen zunehmenden Konflikt mit der Natur – in ihr und außer ihr – hineinstrudelt. Daraus ergibt sich drittens die Aufgabe, die menschliche Praxis in bewussten Einklang mit der Natur zu bringen, die »Technik der Vergewaltigung« (Bloch) und die »Entmenschung« der Naturwissenschaft (Marx) zu überwinden und die gesellschaftliche Praxis in bewusster Allianz mit der Natur zu gestalten. Eine solche Allianz wird sich jedoch nicht von selbst einstellen, sondern muss in revolutionärer Praxis erkämpft werden; nur in einer um und um gewälzten gesellschaftlichen Praxis, die sich selbst in ihrer eigenen Natur bedenkt und erlebt, ist auch eine Allianz mit den Kräften der äußeren Natur zu erreichen – hier erst wird freigesetzt werden können, was an Potenzen in Natur und Mensch schlummert. Daraus erwächst aber auch der menschlichen Praxis eine Verantwortung für ihren Umgang mit der Natur. Dort, wo sich die gesellschaftliche Praxis allein aus sich selbst begründet glaubt und die Natur als bloßes Material ihrer Erfüllung behandelt, gerät sie in einen Gegensatz zur Natur, der im Letzten negativ auf sie selber zurückfällt – wie dies Schelling schon herausgearbeitet hat, und Marx ist ihm darin gefolgt. Solchen Widerspruch zwischen Produktionsweise und Natur gilt es ebenso in revolutionärer Praxis aufzuheben wie den Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit. Im geschichtlichen Horizont einer sozialistischen Gesellschaft liegt somit auch die Allianz mit der lebendigen Produktivität der Natur: »Die echte Theorie-Praxis entnimmt methodisch die Ziele des Handelns einer Analyse der jeweils zu verändernden Umwelt, und Sozialismus ist dieser Praxis die conditio sine qua non zum Endziel. Derartige Praxis kann sich nicht 158 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

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darauf beschränken, das Verhältnis des Menschen zum Menschen in einer klassenlosen Gesellschaft von Entfremdung zu befreien; sie geht weiter verändernd in das Verhältnis des Menschen zur Natur hinein. So daß der Mensch in der Natur nicht mehr zu stehen braucht wie im Feindesland, mit dem technischen Unfall als ständiger Drohung […]. Ein anderes nicht ausbeutendes Verhalten zur Natur wurde schon der objektiv-realen Möglichkeit nach bedeutet als befreundete, konkrete Allianztechnik […]. Das wird um so notwendiger, als sich der Unfall ja längst ausgewachsen hat zu drohender Selbstausrottung des Menschen, gründlicher Zerstörung seiner natürlichen Existenzbedingungen durch Mißachtung der Ökologie.« 50 Aber Bloch erweitert die dialektische Geschichtsphilosophie von Lukács nicht nur um die Dimension der Natur, sondern auch dahin, dass er die anstehende Umwälzung des unheilvollen Systemzusammenhangs der kapitalistischen Welt stärker von der Zielperspektive einer solidarischen Gesellschaft her denkt. Nun widersprechen sich hierin Bloch und Lukács keineswegs, doch während Lukács den Akzent auf die Not legt, die zu wenden dem Proletariat für sich und für die Menschheit aufgegeben ist, betont Bloch das konkret-utopisch sichtbar werdende Ziel, auf das hin die revolutionäre Wendung gewagt werden muss und kann. Dieser konkret-utopische Zielhorizont, dieser »Traum nach vorwärts«, auf den uns Karl Marx in seinen Ökonomisch-philosophischen Manuskripten 51 hingewiesen hat, ist die »Menschlichkeit«, wie Bloch im letzten Kapitel seines Hauptwerks Das Prinzip Hoffnung ausführt: »Eben die Menschlichkeit selber ist der Entmenschlichung ihr geborener Feind, ja indem Marxismus überhaupt nichts anders ist als Kampf gegen die kapitalistisch kulminierende Entmenschlichung bis zu ihrer völligen Aufhebung, ergibt sich auch e contrario, daß echter Marxismus seinem Antrieb wie Klassenkampf, wie Zielinhalt nach nichts anderes ist, sein kann, sein wird, als Beförderung der Menschlichkeit […]; denn nur er [der Marxismus] ist noch Erbe dessen, was im früheren, revolutionären Bürgertum an Humanum intendiert war. […] Das Erzhumanistische sozialer Revolution hebt die Decke der Selbstentfremdung von der gesamten Menschheit schließlich weg.« 52 Nach Ernst Bloch hat der Marxismus das Erbe der ganzen abend50 51 52

Bloch, Experimentum Mundi (1975): 251. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripten (1844), 40: 535 ff. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 1607.

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ländischen Philosophie angetreten, indem er sie als in die Praxis gewendeten gesellschaftlichen und geschichtlichen Auftrag begreift, allerdings haben wir damit nur die eine Seite der menschlichen Produktivität, ihre existentielle Einbezogenheit in die Naturproduktivität, angesprochen. Auf der anderen Seite gilt es zu sehen, dass die sich selbst organisierende Naturproduktivität im Menschen die völlig neue Form bewusster Produktivität annimmt. Die Menschen gestalten ihren gesellschaftlichen Überlebensprozess durch bewusstes Handeln und verwandeln ihn dadurch geschichtlich selber, sowohl durch Innovation im Arbeitsprozess als auch durch strukturale soziale Veränderungen. Mit dem Hinweis auf das menschliche Bewusstsein ist nur gesagt, dass alles menschliche Handeln über Erkenntnisse und Entscheidungen vermittelt erfolgt, keineswegs aber behauptet, dass die Menschen bisher ihre Geschichte in gesellschaftlicher, gar menschlicher Perspektive geplant hätten. Vielmehr stellt sich die geschichtliche Entwicklung durch die bewussten Handlungen der Individuen hindurch – hinter deren Rücken und Bewusstsein – gleichsam naturwüchsig her, d. h. gesellschaftlich bewusstlos. Nun besteht in der bewussten menschlichen Produktivität, deren gesellschaftliche Entwicklungsergebnisse sich bewusstlos einstellen, nicht nur die Tendenz, dass sie sich gänzlich unabhängig vom Naturprozess wähnt, sondern sich wie wir heute immer deutlicher erkennen – geradezu gegen die lebendige Natur entwickelt, die doch ihre unaufhebbare Lebensgrundlage bildet. In extremer Weise geschieht dies – wie Bloch unterstreicht – im Kapitalismus, in der wertbestimmten industriellen Produktionsweise, weil sich hier – unter dem Diktat des Wertgesetzes – der Vergesellschaftungsprozess gegenüber den in den lebendigen Naturzusammenhang eingebetteten sozialen Lebensbezügen völlig verselbständigt hat. Bloch hat dieses feindliche Verhältnis der kapitalistischen Produktionsweise gegenüber der Natur als Ausbeutungs- und Vergewaltigungsverhältnis umschrieben und somit lange schon vor Beginn der eigentlichen Debatte um die ökologische Krise, deren Wurzeln in der Abtrennung und Gegnerschaft des Vergesellschaftungsverhältnisses vom und gegenüber dem Naturprozess aufgezeigt. Diesem »feindlichen« Naturverhältnis in der kapitalistischen Produktionsweise stellt Bloch als konkret zu erkämpfende Hoffnungsperspektive eines wahren Sozialismus die Allianz von Natur 160 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

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und Geschichte entgegen. »Die endgültig manifestierte Natur liegt nicht anders wie die endgültig manifestierte Geschichte im Horizont der Zukunft, und nur auf diesen Horizont laufen auch die künftig wohl erwartbaren Vermittlungskategorien konkreter Technik zu. Je mehr gerade statt der äußerlichen eine Allianztechnik möglich werden sollte, eine mit der Mitproduktivität der Natur vermittelte, desto sicherer werden die Bildkräfte einer gefrorenen Natur erneut freigesetzt.« 53 Trotz dieser Einsicht hat Bloch in den 50er Jahren in erstaunlich unkritischer Weise gemeint, dass der real-existierende Sozialismus bereits auf dem Wege zu einem neuen Naturverhältnis sei. Ein dialektisch-materialistisches Verständnis der modernen Physik und gar die radioaktive Strahlentechnologie können – so meint Bloch – dort, wo sie friedlich-sozialistisch angewendet werden, Wüsten in fruchtbare Gärten verwandeln. Durch die Überwindung des Kapitalismus werden Naturwissenschaft und Technik aus ihrer entfremdeten Anwendung befreit und dem Aufbau des Sozialismus in seiner Allianz mit der Natur dienstbar gemacht werden können. Dies ist nicht nur eine tragische Verblendung Blochs in den 50er Jahren gegenüber dem sowjet-marxistischen System, sondern auch eine grundlegende Schwäche seiner Analyse der Entfremdetheit der bestehenden bürgerlichen Gesellschaft in all ihren Dimensionen. Insbesondere Naturwissenschaft und Technik sind keineswegs zeitlos geltende, wertneutrale Gebilde, die lediglich durch ihre kapitalistische Vereinnahmung eine ausbeutende destruktive Form annehmen und unter sozialistischer Regie ihre substantielle Reinheit zurückgewinnen. Ein solch unkritisches Verhältnis zu Naturwissenschaft und Technik ist uns seit Alfred Sohn-Rethels – an Kant und Marx anknüpfende – dialektische Erkenntniskritik verwehrt. Zwar behaupten auch wir nicht, dass Naturwissenschaft und Technik als solche entfremdet wären, aber es ist nicht nur ihre kapitalistische Anwendung, die sie der Natur entfremden – dies ist uns nicht erst durch die Katastrophe von Tschernobyl erschreckend deutlich geworden. Die Wurzeln liegen tiefer in der undialektischen Formbestimmtheit ihrer objektivistischen Erkenntnis- und Anwendungsstruktur, die Mensch und Natur auseinanderreißen und voneinander entfremden sowie sie schließlich dem kapitalistischen bzw. real-sozialistischen Verwertungsinteresse unterwerfen. Daher liegt gerade in der vielgerühmten 53

Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 807.

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Zweckfreiheit von Naturwissenschaft und Technik der Grund dafür, dass sie sich jedweder wertbestimmten Konkurrenz dienstbar machen lassen.

Henri Lefebvre Diese entfremdete Formbestimmtheit von Naturwissenschaft und Technik, die sie mit vielen anderen Systemen bürgerlicher Gesellschaft gemein hat, sei nun abschließend noch in Anschluss an Henri Lefebvre (1901–1991) umrissen, der dabei erneut auf die philosophische Grundlegung der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx zurückgreift. Diese Position ist gar nicht so weit von Blochs naturphilosophischen Motiven entfernt, rückt aber – ähnlich wie Herbert Marcuse – entschiedener die Kritik der gegenwärtig verkehrten gesellschaftlichen Praxis, zu der auch Wissenschaft und Technik gehören, in den Fokus ihrer Analyse. 54 In seinem Buch Metaphilosophie (1965) 55 versucht Henri Lefebvre, das Marxsche Diktum von der Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie einzulösen. Marx kritisiert die Philosophie, insbesondere die Philosophie Hegels, die er gleichzeitig als den höchsten Ausdruck dialektischen Zusichkommens der Philosophie schätzt, da sie die Welt – allerdings nur in Gedanken – aufhebt und verwirklicht. 56 Er fordert dagegen die Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie in die Praxis der gesellschaftlich und geschichtlich handelnden Menschen. 57 Unter Aufhebung der Philosophie ist dabei keineswegs ihre schlichte Abschaffung zu verstehen, sondern eher eine Transformation in bewusste Praxis der geschichtlich handelnden Menschen; deshalb spricht Lefebvre auch in einem Kapitel von der »Suche nach den Erben« angesichts der »Krisis der Philosophie« – Vgl. Helmut Fahrenbach, »Henri Lefebvres ›Metaphilosophie‹ der Praxis«, in: Michael Grauer/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Grundlinien und Perspektiven einer Philosophie der Praxis (1982); Ulrich Müller-Schöll, Das System und der Rest. Kritische Theorie in der Perspektive Henri Lefebvres (1999); Wolfdietrich SchmiedKowarzik, »Kritische Philosophie im Primat gesellschaftlicher Praxis«, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg.), Bild und Gedanke (2017), 277 ff. 55 Henri Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena (1965/1975). 56 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 333 ff. 57 Lefebvre, Metaphilosophie (1965/1975): 25 ff. 54

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die Philosophie hat sich als bloßes Begreifen der Welt überlebt, aber sie hat noch keine Nachfolge unter den Menschen gefunden, die sie in ihre Praxis hinein aufheben und verwirklichen könnte. Ausdrücklich kann dies – nach Lefebvre – nicht das Proletariat allein sein, jedenfalls nicht einfach als Klasse. Vielmehr können alle Menschen, insofern sie an der gesellschaftlichen Praxis teilnehmen, potentiell zu Erben der Philosophie werden, indem sie ihre Verwirklichung betreiben. Zunächst aber sind die meisten Menschen – die Proletarier nicht minder als alle anderen auch – in ihren Berufen, in ihren Freizeitbeschäftigungen, in ihren Lebensstrategien eingebunden in die entfremdeten Systemzwänge des Kapitalismus, der Industrie, der Wissenschaft, des Kulturbetriebs, die die Menschen fremdbestimmen. Entfremdung meint bei Marx die Fremdbestimmung der Menschen durch die verselbständigten Produkte ihrer eigenen gesellschaftlichen Praxis. Es ist klar, dass Entfremdung bereits ein kritischer Begriff ist, d. h. eine die Entfremdung des gesellschaftlichen Lebens in ihren mannigfaltigen Formen aufdeckende Gesellschaftsanalyse ist kritisch an den Möglichkeiten und Potenzen ihrer Aufhebung interessiert. Heute ist die Frage nach der Möglichkeit der Aufhebung und Überwindung der Entfremdung umso dringlicher geworden, »als wir inzwischen in das Stadium der Entfremdung zweiten Grades eingetreten sind: der Entfremdung nicht nur durch die Sache, sondern durch den Blick auf die Sache, […] nicht mehr bloß durch die subjektive Illusion über die Objektivität, sondern durch die Subjektivität selbst«. 58 Der kapitalistische Systemzusammenhang kann zwar immer enger, fester und bedrückender werden, aber er kann doch niemals die eigentlichen lebendigen Zentren menschlicher Praxis völlig in sich aufsaugen, ohne dabei seine eigene Daseinsgrundlage zu zerstören. Vermittelt über den bürgerlichen Staat – auf dessen Funktion hier nicht näher eingegangen werden kann 59 – findet heute eine immer stärkere Integration der Teilbereiche der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur in den kapitalistischen Systemzusammenhang statt. So hat der fortgeschrittene Kapitalismus »sich nicht nur ihm fremde und ältere Sektoren untergeordnet, sondern auch neue Sektoren proLefebvre, Metaphilosophie (1965/1975): 68. Henri Lefebvre, De l’Etat, 4 Bde. (1976 ff.). Vgl. Hajo Schmidt, Sozialphilosophie des Krieges. Staats- und subjekttheoretische Untersuchungen zu Henri Lefebvre und Georges Bataille (1990).

58 59

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duziert, indem er das historisch Vorgegebene umformt und die entsprechenden Organisatoren und Institutionen von Grund auf umkrempelt. Das gilt auch für die ›Kunst‹, für die Wissenschaft, für die ›Freiheit‹, für die städtische Wirklichkeit und für die Wirklichkeit des Alltags«. Diese Sektoren werden dabei zu Instrumenten umstrukturiert, die »die Produktionsverhältnisse aktiv reproduzieren«. 60 Trotzdem kann die Entfremdung nie total und absolut werden – wie Lefebvre eindringlich gegen das Theorem eines totalen Verblendungszusammenhangs der Kritischen Theorie unterstreicht –, denn eine solche wäre der Tod der Menschen, der Gesellschaft und somit natürlich auch der Systeme, die ja alle nur von den wirklichen Kräften der Menschen und der Natur leben. Überall gibt es »Residuen« des menschlichen Lebens, Denkens und Handelns, die sich nie ganz den Systemzwängen unterwerfen lassen. So behaupten sich »Residuen« menschlicher Praxis »mitten in der Reduktion, denn die menschliche Natur eingebettet in den natürlichen und sozialen Lebenszusammenhang, die Subjekte mit ihren Bedürfnissen und Erfahrungen« lassen sich niemals vollständig zu bloßen Anhängseln des Getriebes umformen. »[A]ls Basis jeder Praxis und jeder Reproduktion widersetzt sich der menschliche Leib der Reproduktion der unterdrückenden Verhältnisse […]. Verwundbar gewiss, aber auch unmöglich zu zerstören ohne Vernichtung des Gesellschaftskörpers selber, bleibt uns der irdische, fleischliche Leib in seiner alltäglichen Gegenwart. Er ist die Zuflucht und das Rettende, und nicht der ›Logos‹ oder ›das Humane‹ …«. 61 In der Lebensbasis der menschlichen Praxis liegt die Potenz der sich gesellschaftlich bewusstwerdenden Individuen für ihren Widerstand gegen die zunehmend bedrohlichere Destruktion durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Diese Residuen können zu Potenzen der Kritik und des Widerstandes gegen die Systemzwänge werden. Die politisch gesteuerte Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse erreicht zwar ein »Überleben des Kapitalismus«, und dies unter Einbeziehung immer weiterer Lebensbereiche, aber sie reproduziert dabei auch den grundsätzlichen Widerspruch und -stand der Subjekte all dieser Lebensbereiche gegen die Vereinnahmung Henri Lefebvre, Die Zukunft des Kapitalismus (1973/1974): 99 f. Lefebvre, Die Zukunft des Kapitalismus (1973/1974): 107; hier kommen die Ausführungen von Lefebvre denen von Herbert Marcuse ganz nah – siehe dazu das folgende Kapitel VIII »Hebert Marcuse – Die ›menschliche Natur‹«. 60 61

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durch die kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Es geht hier nicht mehr nur um die Arbeiterbewegung allein, sondern ausdrücklich werden von Lefebvre auch all die anderen Revolten genannt, die sich gegen die bedrückenden Systemzwänge wenden: die Frauenbewegung, die Jugendrevolte, die Ökologiebewegung, die Proteste gegen die Bedrohung durch einen nuklearen Vernichtungskrieg. Aber die vereinzelten und zeitungleich aufflackernden Revolten einzelner gesellschaftlicher Gruppen können durch Gegenstrategien des kapitalistischen Systems und durch Zugeständnisse in Teilaspekten leicht wieder überwältigt werden. Daher kommt – wie Henri Lefebvre in seiner Metaphilosophie ausführt – der Philosophie der Praxis die große Aufgabe zu, durch »metaphilosophische Meditation als handelndes Denken«, d. h. durch ein praxisbezogenes und phantasieforderndes Denken die verschiedenen widerständigen Residuen menschlicher Praxis zu verknüpfen und zu bündeln, nicht äußerlich organisatorisch, sondern von ihrem inneren Zusammenhängen und Anliegen her. »Im Laufe dieser theoretischen und praktischen Versammlung müssen die residualen Elemente einander begegnen und anerkennen. Sie müssen sich auch verändern: durch Konvergenz und Kampf gegen die Systeme, von denen sie ausgestoßen und durch den Ausstoß bestimmt werden. Das kann nicht durch bloße Koalition oder Addition möglichst vieler Residuen geschehen […]. Die metaphilosophische Meditation als handelndes Denken erneuert die philosophische Reflexion über die Freiheit. Der geschichtliche Kampf um die Freiheit und die erkämpfte Freiheit in der Geschichte gewinnen in ihr einen neuen Sinn.« 62 Indem nun aber die Kritik alle gesellschaftlichen Bereiche, globalen Konflikte und auch das Verhältnis der Wissenschaften und Industrie zur Natur in ihren Widersprüchen zu erfassen versucht, begegnen ihr nicht nur die bereits praktisch hervorgetretenen Protestund Emanzipationsbewegungen, sondern ihre kritische Analyse ist selbst Teil der Bewusstwerdung dieser Bewegungen – und insofern ist die Kritik bereits metaphilosophisches Denken und Selbstbewusstwerdung der diese Bewegung tragenden Menschen. Bisher aber flackern alle diese aus den verschiedensten Bereichen residualen Widerstands erstehenden Protestbewegungen in geschichtlicher Ungleichzeitigkeit auf, daher sind sie auch schnell wieder ins System integrierbar – dies gelang mit der Arbeiterbewegung, mit der Studen62

Lefebvre, Metaphilosophie(1965/1975): 336.

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tenrevolte, und es scheint auch mit der Ökologiebewegung zu gelingen. Daher ist eine ganz große Aufgabe des metaphilosophischen Denkens die Versammlung und Vernetzung dieser Widerstandspotentiale und ihre gemeinsame Orientierung auf das große Projekt bewussten Menschseins: »Unsere Residuen-Methode enthält mehrere Schritte: Man spürt die Residuen auf, man setzt auf sie, man enthüllt ihre kostbare Essenz, man faßt sie zusammen, man organisiert ihre Revolte und totalisiert sie. Jedes Residuum ist ein Nichtreduzierbares, das man sich anzueignen hat. Poiesis geht, hier und jetzt, vom Residualen aus. […] Die Residuen versammeln und zusammenbündeln – das ist ein revolutionärer Gedanke, ein handelndes Denken. […] Die metaphilosophische Meditation als handelndes Denken erneuert die philosophische Reflexion über die Freiheit. Der geschichtliche Kampf um die Freiheit und die erkämpfte Freiheit in der Geschichte gewinnen in ihr einen neuen Sinn.« 63 Hier hat das »metaphilosophische« Denken – ein Denken, das die Philosophie in sich aufgehoben hat und im praktischen Leben zu verwirklichen versucht – anzuknüpfen, um mit ihnen an dem großen Projekt bewussten solidarischen Menschseins weiterzubauen, deren Teilstücke diese Protest- und Emanzipationsbewegung sind. »Es ist die Aufgabe des metaphilosophischen Denkens, neue Formen zu ersinnen und vorzuschlagen – oder eher noch einen Stil, der sich praktisch erschaffen lässt und der das philosophische Projekt verwirklicht, indem er die Alltäglichkeit verwandelt. Aufhebung der Philosophie, Verknüpfung dieser Themen mit Veränderung in der Praxis […] – dies ist ein erster Sinn des Ausdrucks Metaphilosophie. Das Projekt einer radikalen Veränderung der Alltäglichkeit ist nicht abtrennbar von der Aufhebung der Philosophie und ihrer Verwirklichung.« 64 Die Marxsche Praxisphilosophie ist zunächst dadurch Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie in die Praxis, insofern sie zur radikalen Kritik wird, denn indem sie sich praktisch in die wirklichen Kämpfe der Gegenwart einmischt, versteht sie sich als Teil dieser praktischen Auseinandersetzungen und greift auch wirklich in sie ein. Dieser Kritikansatz muss – so betont Lefebvre – über Marx hinaus ausgeweitet werden: »Zur radikalen Negativität gelangt man erst wieder und nur durch die radikale Kritik der Alltäglichkeit […]. Die Alltäglichkeit und ihre Ablehnung stellen die Gesamtheit der 63 64

Lefebvre, Metaphilosophie (1965/1975): 334 ff. Lefebvre, Metaphilosophie (1965/1975): 125 f.

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modernen Welt Stück um Stück radikal in Frage: die Kultur, den Staat, die Technik, die Institutionen, die Strukturen, die konstituierenden Gruppen, das analytische und operationale Denken, die Trennungen, auf denen alles beruht usw. Die derart privilegierte Kritik macht Schluß mit der Fragmentierung des Ganzen; sie rekonstruiert es zu einer neuen Gesamtheit. Dabei inkriminiert sie den bestehenden Kapitalismus und auch (wenngleich nicht in derselben Weise) den bestehenden Sozialismus, also die (gebrochene) Totalität insgesamt.« 65 In Henri Lefebvres Fortentwicklung der Marxschen Praxisphilosophie universalisiert sich die revolutionäre Praxis als der nie abschließbare, immer aufgegebene Horizont des totalen Projekts des menschlichen Überlebens der Menschen in solidarischer Gemeinschaft miteinander und in Allianz mit der Natur. Wir haben keine Gewissheit, ob es uns gelingen wird, aber wenn es nicht gelingt, dann scheitert das Projekt der Menschheitsgeschichte insgesamt. »Das metaphilosophische Denken umfaßt die fragmentierte und gebrochene Totalität, die sich auf dem Wege zu etwas anderem befindet: zu einer neuen, einer planetarischen Totalität. […] Der Mensch ist total. Sein und Denken, oder, wenn man so will, Natur und Praxis werden einander erkennen und zusammenfinden in ihrer gegenseitigen Zugehörigkeit und wechselseitigen Aneignung; nicht ohne Konflikte. […] Was wir mit unserem Schema vorschlagen, ist nur ein Projekt, ein ›Modell‹. Seine Möglichkeit ist eine Gewißheit, nicht aber seine Verwirklichung. […] Die Theorie der nahezu totalen, aber nie als Totalität vollendeten Entfremdung bleibt nach wie vor das Gegenstück zur Theorie des totalen Menschen, d. h. des aus der Entfremdung befreiten und durch den Kampf gegen Entfremdung sich realisierenden Menschen. […] Wir stehen gleichsam vor einer Wende – nicht, wie Hegel gesagt hätte, vor einer des reinen Begriffs, sondern vor einer Wende des Handelns.« 66 Ziel dieser praxisphilosophischen Bewusstwerdungsarbeit, die mehr ist als von außen kommende Belehrung, da sie an die durch alltägliche Unterdrückungsmechanismen verdrängten lebendigen Kräfte menschlicher Praxis anknüpft und diesen zu bewusstem und entschiedenem Denken und Handeln hervorzutreten verhilft 67, ist die 65 66 67

Lefebvre, Metaphilosophie (1965/1975): 330 f. Lefebvre, Metaphilosophie (1965/1975): 341, 345, 347, 349. Vgl. Paulo Freire, Pädagogik der Unterdrückten (1970/1971).

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Bündelung all dieser schöpferischen Momente menschlicher Praxis zu einem neuen gemeinsamen »Projekt des Menschseins« und der Menschwerdung in der Welt. Ein solches Projekt ist nicht etwa eine erbauliche Utopie, sondern es wird angesichts der immer bedrohlicher werdenden Tendenzen einer globalen Menschheits- und Lebensvernichtung zu der Herausforderung für unsere Zeit und an unsere Generation schlechthin. »Wir können die Hypothese eines kolossalen Abortus der menschlichen Geschichte, eine Katastrophe in planetarischem Maßstab nicht ausschließen. […] Weder der totale Fehlschlag der Menschheitsgeschichte noch die nukleare Vernichtung des Planeten lassen sich aus der Liste der Möglichkeiten streichen.« 68 Angesichts dieser Bedrohung, nicht nur eines nuklearen Krieges, sondern weit gefährlicher, da nicht so deutlich sichtbar, einer fortschreitenden Vergiftung und Verseuchung der Biosphäre durch die ungehemmte wertbestimmte industrielle Expansion, ist das Projekt eines bewussten und massenhaften Widerstandes der Betroffenen – und das sind wir alle – die einzige uns noch mögliche Alternative zur so real existierenden wie fortschreitenden Destruktion. Dieses Projekt gemeinsamer Menschwerdung erwächst aus dem bewusst und solidarisch gebündelten Widerstand gegen die fortschreitende Destruktion durch das herrschende System, in dem zugleich aber auch schon Formen alternativer Produktions- und Lebensweisen in Anfängen erahnbar werden – dies ist es, was Marx mit der »revolutionären Praxis« meint. »Diese Situation (menschheitlicher Bedrohung) fordert ein globales und konkretes Projekt einer neuen, qualitativ anderen Gesellschaft. […] Ein solches Projekt läßt sich nur erarbeiten unter Mobilisierung aller Kräfte der Erkenntnis und der Phantasie. Grundsätzlich revidierbar, kann es sehr leicht scheitern, denn es verfügt über keinerlei gesellschaftliche Wirksamkeit und keinerlei politische Macht.« 69 Und doch liegt einzig und allein in ihm das »militante Hoffen« (Ernst Bloch) auf eine noch rechtzeitige Wende.

68 69

Lefebvre, Metaphilosophie (1965/1975): 345. Lefebvre, Die Zukunft des Kapitalismus (1973/ 1974): 109.

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Anhang

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VIII. Herbert Marcuse – Die »menschliche Natur« 1

Innerhalb der Kritischen Theorie, der ursprünglichen Frankfurter Schule, hat wohl kein anderer das Marxsche Denken so sehr aus dessen Kernanliegen einer kritischen Theorie revolutionärer Praxis verstanden und fortentwickelt wie Herbert Marcuse. 2 Dies rührt sicherlich daher, dass Marcuse – aus der phänomenologischen Schule Heideggers herkommend und mit Marx bereits vertraut 3 – nach seiner großen daseinsanalytischen Hegel-Deutung Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit, die 1932 als Buch erschien, als einer der Ersten die im gleichen Jahr erstmals veröffentlichten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte des jungen Marx aus dem Jahre 1844 in ihrer grundlegenden philosophischen Bedeutung erkannte und kommentierte. 4 So ist es auch keineswegs verwunderlich, dass Marcuse 1937 in Philosophie und kritische Theorie 5 viel fundamentaler als ein Jahr vor ihm Max Horkheimer 6 die Grundlinien einer dem Marxschen Denken verpflichteten »kritischen Theorie« zu skizzieren und 1941 in seinem zweiten Hegel-Buch – oder besser: Hegel-Marx-Buch – Rea1 Zuerst erschienen in Gvozden Flego/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Herbert Marcuse – Eros und Emanzipation. Marcuse-Symposion 1988 in Dubrovnik, Gießen 1989: 251 ff. 2 Vgl. Hauke Brunkhorst/Gertrud Koch, Herbert Marcuse. Eine Einführung (1997); Roger Behrens, Übersetzungen. Studien zu Herbert Marcuse. Konkrete Philosophie, Praxis und kritische Theorie (2000). 3 Herbert Marcuse, »Beiträge zu einer Phänomenologie des Historischen Materialismus« (1928), in: Herbert Marcuse/Alfred Schmidt, Existenzialistische Marx-Interpretation (1973): 41 ff. 4 Herbert Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932), in: Herbert Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft (1969): 7 ff. 5 Herbert Marcuse, »Philosophie und kritische Theorie« (1937), in: Herbert Marcuse, Kultur und Gesellschaft 1, (1965): 102 ff. 6 Max Horkheimer, »Kritische und traditionelle Theorie« (1936), in: Max Horkheimer, Kritische Theorie, 2 Bde. (1968), II: 137 ff.

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son and Revolution 7 die erste umfassende philosophische Explikation der negativen Dialektik der »kritischen Theorie« vorzulegen vermochte. Unter »negativer Dialektik« versteht er dabei die negative Selbstbegrenzung der Philosophie gegenüber der geschichtlichen Praxis, eine Aufgabe – wie Marcuse 1932 bereits schreibt –, »die die Philosophie […] lösen kann, wenn sie sie als praktische Aufgabe fasst, also: sich als nur-theoretische Philosophie ›aufhebt‹ ; d. h. aber wieder: sich als Philosophie erst eigentlich ›verwirklicht‹«. 8 Auch in diesem Beitrag hat Marcuse die von Marx her geführte Debatte um die Naturproblematik tiefer und differenzierter als die übrigen Vertreter der Kritischen Theorie aufgegriffen. Zwar geht er nicht so weit wie Ernst Bloch, der – einen alten an Feuerbach gerichteten Wunsch von Marx erfüllend – sogar das Projekt einer dialektisch-praktischen Naturphilosophie in ihren Grundzügen entwickelt, vielmehr verbleibt Marcuse ganz in der Dialektik der »menschlichen Natur«, wobei hiermit sowohl die dem Menschen eigene Natur als auch die Natur für und durch den Menschen gemeint ist. Das Naturproblem ist ein zentrales Thema der Marx-Aneignung und Marx-Weiterführung, mit dem Marcuse seit 1932 bis zu seinen letzten Schriften ringt, hierbei schrittweise immer tiefer in Marx eindringend und zugleich immer präziser zu seiner eigenen Position einer kritischen Theorie findend. So sagt Marcuse 1972 auf dem Höhepunkt seines Schaffens in »Natur und Revolution« und dabei erneut auf die frühen Manuskripte von Marx verweisend: »Das subversive Potential der Sinnlichkeit und die Natur als ein Bereich der Befreiung sind zentrale Themen der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx. […] Ich glaube, daß diese Schriften trotz ihres ›vorwissenschaftlichen‹ Charakters und des Vorherrschens des Feuerbachschen philosophischen Naturalismus die radikalste und umfassendste Idee des Sozialismus verfechten und daß gerade hier ›Natur‹ den ihr zukommenden Platz in der Theorie der Revolution findet.« 9 Um das Naturproblem bei Herbert Marcuse zu entfalten, wollen

Herbert Marcuse, Vernunft und Revolution. Hegel und die Entstehung der Gesellschaftstheorie (1941/1962). 8 Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/ 1969): 45. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981/2018): 304 ff. 9 Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte (1973): 77 f. 7

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wir versuchen, seine Entwicklung seit 1932 in groben Umrissen nachzuzeichnen.

1.

Hegel und die Theorie der Geschichtlichkeit des Geistes

Beginnen wir mit Marcuses Buch Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit 10, da sowohl die darin entfaltete daseinsanalytische Deutung der Hegelschen Philosophie als eine Theorie der Geschichtlichkeit als auch die dabei angemerkte Fehlanzeige des Naturproblems die entscheidenden Voraussetzungen und Motive für Marcuses begeisterte Aufnahme der neuentdeckten Ökonomischphilosophischen Manuskripte des jungen Marx bilden. Im ersten Teil seines Buches zeigt Marcuse in einer systematischen Interpretation der Hegelschen Logik auf, dass diese im »Begriff des Lebens« gipfelt: »Die Idee des Lebens selbst nun steht nicht am Anfang, sondern am Ende der ontologischen Explikation, die am Leitfaden des allgemeinen einheitlichen Seinsbegriffs alle Stufen vom daseienden Etwas bis zum lebendigen Individuum umspannt. […] Damit aber rückt das Sein des Menschen, das Leben, in das Zentrum der Ontologie.« 11 Um nun zu erläutern, dass Hegel mit dem Begriff des Lebens den ontologischen Schlüssel zum Verständnis der Geschichtlichkeit des menschlichen Seins liefert, die das Zentralthema seiner ganzen Philosophie darstellt, verfolgt Marcuse im zweiten Teil den Begriff des Lebens von Hegels Theologischen Jugendschriften bis zur Phänomenologie des Geistes als Einleitung zu seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Schon in den Theologischen Jugendschriften bezieht sich der Begriff des Lebens – obwohl er hier »zunächst noch ganz allgemein die Weise des Seins des Wirklichen« bezeichnet – »auf das menschliche Leben« als das sich seiner selbst und der Welt bewusste Leben. Allein in den Jenenser Vorlesungen, in denen Hegel ja am stärksten von Schelling beeinflusst war, worauf Marcuse nicht weiter eingeht, wird der »Begriff des Lebens […] zu Beginn der ›Naturphilosophie‹ entHerbert Marcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit (1932/ 1968). 11 Marcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit (1932/1968): 216, 218. 10

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wickelt […]: hier ist Leben eine alle einzelnen ›Systeme‹ der Natur übergreifende Bestimmung für das Sein der Natur überhaupt, für ›ihr Wesen von ihr selbst‹, ihre ›Materie‹«. 12 Aber schon in der Phänomenologie des Geistes wird dieser Naturbezug im Begriff des Lebens von Hegel gänzlich wieder aufgegeben und das Leben allein mit der Geschichtlichkeit identifiziert: »Der Lebensbegriff der Phaenomenologie des Geistes ist entsprechend der Absicht des Werkes […] ausdrücklich auf das ›Leben als Geist‹ zentriert, auf das Leben als wissendes und bewußtes, ›sichselbsterkennendes‹ Sein. Damit rückt das menschliche Leben von Anfang an in die Mitte der Phaenomenologie: Leben wird als ›Selbstbewußtseyn‹ eingeführt, das Selbstbewußtsein kommt in seine Wahrheit durch das Für- und Gegeneinander von ›Selbständigkeit‹ und ›Unselbständigkeit‹, ›Herrschaft und Knechtschaft‹, diese Gegensätze einigen sich in der ›Bildung‹ und ›Arbeit‹ […]. All dies sind Seinsbestimmungen des menschlichen Lebens in seiner vollen Geschichtlichkeit, in seinem konkreten Geschehen in der Welt.« 13 Die hier in drei Sätzen zusammengefasste Deutung des Grundanliegens der Phänomenologie Hegels wird von Marcuse detailliert an einigen Grundproblemen expliziert, dabei unterstreicht er zum einen, dass sich die Geschichtlichkeit des menschlichen Lebens nur im wir-haften Gattungsleben zu seinem Selbstbewusstsein kommen kann – die »Freilegung des wir-haften Geschehens des Lebens als Fürund Gegeneinander verschiedener Selbstbewußtsein(e) […] ist vielleicht die größte Entdeckung Hegels« 14 – und zum Zweiten, dass sich die geschichtliche Weltentfaltung und Selbstgestaltung des menschlichen Lebens in einer Dialektik der Entäußerung und Vergegenständlichung sowie deren Erinnerung und Aneignung vollzieht. Allerdings, so fügt Marcuse erläuternd und einschränkend hinzu, kann diese erinnernde und aneignende Einholung der entfalteten geschichtlichen Wirklichkeit nur im »absoluten Wissen« erfolgen, im nachbegreifenden Wissen des sich in der Geschichtlichkeit seines Lebens erfassenden Geistes. »Solche Einheit und Freiheit in der Differenz ist nur als eine ausgezeichnete Weise des Wissens möglich, in dem der Geist die Entäußerung als seine Entäußerung weiß und wisMarcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit (1932/1968): 247 f. 13 Marcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit (1932/1968): 257. 14 Marcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit (1932/1968): 280. 12

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send setzt, und so in ihr sich nicht entfremdet und verfängt, sondern nur bei sich selbst bleibt.« 15 Ohne seine Kritik ausdrücklich hervorzuheben, werden doch – durch alle Emphase hindurch, mit der Marcuse die Entdeckung der Geschichtlichkeit bei Hegel feiert – zwei Einwände sichtbar: 1. Die Abgrenzung des menschlichen Lebens als Geschichtlichkeit vom Leben der organischen Natur, wie sie der Hegelschen Philosophie explizit zugrunde liegt, führt dazu, dass man »der Natur gleichsam neben der eigentlichen Geschichte […] ein eigenes Werden« zusprechen muss, »in welchem Werden die Substanz als Seinfür-Anderes, als ›Seyn‹ geschieht« 16 – was im Letzten eine Zerrissenheit des menschlichen Seins bedeutet. 2. Zwar erfährt sich der sich in seiner Geschichtlichkeit wissende Geist als »Subjekt der Geschichte«, aber nur als nachbegreifendes Subjekt seines immer schon Gewordenseins, nicht aber als tätiges Subjekt der erst noch werdenden Geschichte. So wird bei Hegel »auf dem Grund der Geschichtlichkeit […] die Geschichtlichkeit stillgestellt«, ihr letztes Wort ist gerade nicht die werdende, noch ausstehende, sondern die »begriffene Geschichte«. 17

2.

Marx und die Theorie der Geschichtlichkeit menschlicher Praxis

Was Marcuse nun bei seiner Entdeckung und ersten Besprechung der eben erst veröffentlichten Ökonomisch-philosophischen Manuskripte so begeistert, ist, dass der junge Marx bereits Hegels Theorie der Geschichtlichkeit nicht nur voll erkannt und anerkannt hat, sondern sie in seiner eigenen Fortentwicklung durch den materiell-praktisch gefassten Begriff der »Arbeit« aus ihrer Einengung auf das sich wissende Selbstbewusstsein befreit hat. Von daher gelingt es Marx, zugleich die Dimension der Natur und die tätig aufgegebene Geschichte ganz anders als Hegel in die Theorie der Geschichtlichkeit menschlicher Praxis einzubeziehen: »Die Ökonomisch-philosophischen MaMarcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit (1932/1968): 348 f. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 241 ff. 16 Marcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit (1932/1968): 356. 17 Marcuse, Hegels Ontologie und die Theorie der Geschichtlichkeit (1932/1968): 354, 362. 15

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nuskripte liefern den unmittelbaren Beweis dafür, daß die Marxsche Praxisphilosophie im Mittelpunkt der philosophischen Problematik Hegels verwurzelt ist.« Gerade aus der »Auseinandersetzung Marxens mit Hegels Phänomenologie des Geistes« erwächst dessen eigene »philosophische Interpretation des menschlichen Wesens und seiner geschichtlichen Verwirklichung«, die die ökonomisch-politische Basis der Theorie der Revolution« darstellt. 18 Die Dialektik der Vergegenständlichung, die Hegel bereits an der Arbeit, wenn auch nur an der »geistigen Arbeit«, entwickelt hatte, wird nun von Marx auf die Arbeit als materieller »Selbstverwirklichung, ›Selbsterzeugung‹ des Menschen« in der Geschichte ausgeweitet: »In der Tat erwächst der Grundbegriff der Marxschen Kritik: der Begriff der entäußerten Arbeit, in der Auseinandersetzung mit Hegels Kategorie der Vergegenständlichung, die in der Phänomenologie des Geistes am Begriff der Arbeit erstmals entwickelt wird.« 19 Nun ist der Begriff der Arbeit bei Marx gegenüber dem der geistigen Arbeit bei Hegel zweifach materiell-praktisch erweitert und konkretisiert: Zum einen kommt an ihm die tätige Naturbezogenheit der menschlichen Praxis zum Ausdruck: »als natürliches Wesen ist der Mensch ein ›gegenständliches Wesen‹, d. h. für Marx ein ›mit gegenständlichen, i. e. materiellen Wesenskräften ausgerüstetes und begabtes Wesen‹, ein Wesen, das […] ›nur an wirklichen, sinnlichen Gegenständen sein Leben äußern kann‹«. 20 Und mit ausführlichen Zitaten von Marx erläutert Marcuse die Naturbezogenheit aller menschlichen Lebensäußerungen näher hin an der »Sinnlichkeit« und den »Bedürfnissen« des Menschen. Dabei sei hier schon angemerkt, dass die Zitate von Marx in Bejahung der Naturbezogenheit weiter reichen als die Erläuterungen von Marcuse – hierauf kommen wir noch zurück. Gerade von dieser Grundlage her erweist sich die Arbeit aber auch zum Zweiten als »die Grundbestimmung des praktischen und gesellschaftlichen Seins« und damit der materiellen Geschichtlichkeit der menschlichen Praxis: »Das gegenständliche Werk ist die Wirklichkeit des Menschen; so wie er sich im Gegenstand der Arbeit verMarcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/1969): 17 f. 19 Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/1969): 17. 20 Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/1969): 22 f.. 18

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wirklicht, so ist der Mensch. […] Das Gegenstandsfeld der Arbeit ist gerade das Feld gemeinsamer Lebenstätigkeit […]. Alle Arbeit ist Arbeit mit und für und gegen Andere, derart, daß die Menschen untereinander und gegenseitig sich jetzt erst als das zeigen, was sie wirklich sind. […] Ist so die gegenständliche Welt ihrer Totalität als ›gesellschaftliche‹, als die gegenständliche Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft und damit als menschliche Vergegenständlichung begriffen, dann ist sie dadurch auch schon als geschichtliche Wirklichkeit bestimmt.« 21 Auf der Grundlage dieser Doppeltbestimmtheit der menschlichen Praxis, die nicht als ein Nebeneinander misszuverstehen ist, sondern als die durch die Arbeit vermittelte »Einheit von Mensch und Natur« im Geschichtsprozess 22, erfährt nun auch Hegels Dialektik der Vergegenständlichung und Entfremdung durch Marx eine grundlegende Modifikation. Es ist hier nicht der Ort, auf die prinzipiellen Differenzen zwischen Vergegenständlichung und Verdinglichung, Entäußerung und Entfremdung einzugehen, die Marcuse einerseits anmerkt, andererseits aber auch wieder vermengt. 23 Für unseren Zusammenhang entscheidend ist nur die von Marcuse im Übergang von Hegel zu Marx selbst vollzogene radikale Veränderung des Status der Philosophie zur »kritischen Theorie« zu unterstreichen. »Entfremdung« meint, dass die Menschen unter den Zwang von Verhältnissen geraten, die sie fremdbestimmen, sie ausbeuten und unterdrücken. Aber auch die entfremdeten Verhältnisse sind im letzten Produkte, Vergegenständlichungen menschlicher Arbeit. »In der kapitalistischen Gesellschaft produziert die Arbeit nicht nur Waren […], sondern sie produziert auch ›sich selbst und den Arbeiter als eine Ware‹« 24 und sie entmenscht dadurch die arbeitenden Menschen. Da nun aber die entfremdeten, entmenschenden Verhältnisse des Kapitalismus keine Naturgegebenheiten, sondern selbst durch

Marcuse, »Neue Quellen (1932/1969): 28 f. 22 Marcuse, »Neue Quellen (1932/1969): 22. 23 Marcuse, »Neue Quellen (1932/1969): 15 f., 42. 24 Marcuse, »Neue Quellen (1932/1969): 14. 21

zur Grundlegung des Historischen Materialismus« zur Grundlegung des Historischen Materialismus« zur Grundlegung des Historischen Materialismus« zur Grundlegung des Historischen Materialismus«

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menschliche Arbeit geschichtlich hervorgebrachte Verhältnisse sind, können sie auch grundsätzlich wieder durch menschliche Praxis radikal verändert und aufgehoben werden. Allerdings, da es sich um materielle Verhältnisse handelt, nicht einfach theoretisch durch einen erkennenden Bewusstseinsakt, sondern nur praktisch durch die bewusste und gemeinsame Aktion der arbeitenden Menschen, »die Durchbrechung der Verdinglichung kann nur (ihr) Werk sein«. 25 Die kritische Aufdeckung der Entfremdung als ein Produkt der menschlichen Arbeit begründet die Möglichkeit und Notwendigkeit der Umwälzung der bestehenden kapitalistischen Verhältnisse durch die Arbeiterklasse. »Wenn nun Situation und Praxis unter dem Aspekt der Wesensgeschichte des Menschen gesehen werden, so macht dieser Aspekt den akut-praktischen Charakter der Kritik nur schärfer und schneidender: dass durch die kapitalistische Gesellschaft nicht nur ökonomische Tatsachen und Objekte, sondern die ganze ›Existenz‹ des Menschen, die ›menschliche Wirklichkeit‹ in Frage gestellt ist, das ist für Marx der entscheidende Rechtsgrund der proletarischen Revolution als einer totalen und radikalen Revolution.« 26 Im Gegensatz zu Hegels »Theorie der Geschichtlichkeit« des Geistes kann die von Marx entwickelte Theorie der Geschichtlichkeit menschlicher Praxis nicht im affirmativen Nachbegreifen der gewordenen Geschichte aufgehen, sondern wird als Kritik der bestehenden Entfremdung selbst zu einer »praktischen Theorie« im Dienste der noch ausstehenden, praktisch aufgegebenen Geschichte. So »erweist sich also die aus der philosophischen Kritik und Grundlegung der Nationalökonomie erwachsende Theorie als praktische Theorie, als eine Theorie, deren immanenter […] Sinn eine bestimmte Praxis ist« 27: eine revolutionäre Praxis, die die arbeitenden Menschen zu den bewussten Subjekten ihrer Geschichte werden lässt. 28 Kehren wir nach unserer Kurzbeschreibung dieser faszinierenden ersten Interpretation der Ökonomisch-philosophischen ManuMarcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/1969): 45. 26 Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/1969): 14. 27 Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/1969): 45. 28 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981/2018): 306. 25

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skripte durch Marcuse nochmals zu dem darin skizzierten Naturproblem zurück. So großartig Marcuse den philosophischen Kern der Marxschen Theorie als einer Geschichtsdialektik der menschlichen Praxis herauszuschälen vermag und so entscheidend für ihn dabei auch die Naturbezogenheit der menschlichen Arbeit ist, es kann doch nicht übersehen werden, dass Marcuse hier 1932 die Naturproblematik – noch ganz im Bann Hegels stehend – nur unter dem Primat der Geschichtlichkeit zu thematisieren vermag. »Und in der Geschichte ›wird‹ nicht nur der Mensch, sondern auch die ›Natur‹, sofern sie kein vom menschlichen Wesen getrenntes ›Außen‹ ist […]: ›die Weltgeschichte‹ ist ›das Werden der Natur für den Menschen‹.« 29 Der sich hier äußernde Primat der Geschichtlichkeit hat zwei Aspekte: 1. Der eine beruht darauf, dass Marcuse die nicht mit dem menschlichen Wesen zu vermittelnde (kosmische) Natur völlig aus seinem Denkhorizont ausschließt. Ihn interessiert nur die Natur des Menschen in dem Doppelsinn: als die dem Menschen eigene Natur, Leiblichkeit, Sinnlichkeit, gegenständliche Tätigkeit einerseits und die Natur für den Menschen andererseits, d. h. die Lebenswelt des Menschen, also die mit und durch den Menschen vermittelte Natur. »Der Mensch ist nicht in der Natur, die Natur ist nicht eine Außenwelt […], sondern der Mensch ist Natur; die Natur ist seine ›Äußerung‹, sein Werk und seine Wirklichkeit. Wo immer die Natur in der Geschichte des Menschen begegnet, ist sie ›menschliche Natur‹, während der Mensch seinerseits immer auch ›menschliche Natur‹ ist.« 30 An dieser Konzentration seines Naturinteresses an der »menschlichen Natur« hat Marcuse Zeit seines Lebens festgehalten, und er kann sich dabei durchaus auch auf einige verwandte Äußerungen von Marx berufen. Wenn diese Konzentration auf die »menschliche Natur« nicht zur allein möglichen Thematisierung von Natur erklärt wird, so ist dagegen auch nichts einzuwenden, und sie kann – wie wir noch sehen werden – zu fruchtbaren Differenzierungen des Naturproblems führen. Fundamentalphilosophisch gesehen reicht allerdings diese Konzentration auf die »menschliche Natur« nicht aus, Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/1969): 29. 30 Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/1969): 22. 29

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denn letztlich geht es philosophisch auch darum aufzuzeigen, wie die »menschliche Natur« aus dem und im produktiven Ganzen der (kosmischen) Natur vermittelt ist, und eine solche Problemstellung lässt sich nur über die Wiederaufnahme der Thematik einer Naturphilosophie behandeln, wie sie Ernst Bloch – ebenfalls mit Berufung auf Marx und im Anschluss an Schelling – umrissen hat. 31 2. Doch wenn wir von dieser weiterreichenden Problematik einer Naturphilosophie einmal ganz absehen und uns mit Marcuse allein auf die Diskussion der »menschlichen Natur« einlassen, so zeigt sich in dessen erster Auseinandersetzung mit Marx’ Ökonomisch-philosophischen Manuskripten noch eine einseitige Thematisierung der Natur von der Geschichtlichkeit her, wie sie bei Marx nicht auftritt, und die auch Marcuse später überwinden wird. Dies zeigt sich beispielsweise dort sehr deutlich, wo Marcuse ausdrücklich den Zusammenhang von Natur und Geschichtlichkeit thematisiert und dabei zwar die unaufgebbare Abhängigkeit der menschlichen Lebensbezüge von der Natur betont, diese aber gleichzeitig der Freiheit menschlicher Produktion unterordnet: »Die These vom Mittelcharakter der Natur für den Menschen meint nicht etwa nur, daß der Mensch, um überhaupt physisch existieren zu können, auf die gegenständliche organische und unorganische Natur als sein ›Lebensmittel‹ angewiesen ist, daß er unter dem unmittelbaren Zwang des ›Bedürfnisses‹ seine gegenständliche Welt ›produziert‹ [… Sondern mehr noch:] Eben deswegen ist die Universalität des Menschen – im Unterschied zu der wesentlichen Beschränktheit des Tieres – Freiheit, weil das Tier ›nur unter der Herrschaft des unmittelbaren physischen Bedürfnisses‹ produziert, während der Mensch ›erst wahrhaft produziert in der Freiheit von demselben‹.« 32 Zwar ist die Erläuterung des Unterschiedes tierischer Lebensvollzüge und menschlicher Produktion durchaus zutreffend, was wir jedoch bei Marcuse – im Gegensatz zu Marx – ganz vermissen, ist, dass er die Natur der »menschlichen Natur« in ihrer eigenständigen Dimensioniertheit menschlicher Sinnlichkeit, menschlicher Bedürfnisse und ihrer Vermitteltheit mit der Natur als Lebenswelt ernsthaft ins Blickfeld rückt. Was wir meinen, wird wohl am besten durch zwei Zitate von Marx deutlich, die Marcuse selber heranzieht, ohne sie Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (1972). Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/1969): 21.

31 32

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doch in seiner ersten Besprechung schon voll auszuschöpfen. Marx schreibt: »Das gegenständliche Wesen […] würde nicht gegenständlich wirken, wenn nicht das Gegenständliche in seiner Wesensbestimmung läge. Es schafft, setzt nur Gegenstände, weil es durch Gegenstände gesetzt ist, weil es von Haus aus Natur ist.« »Sinnlich sein, d. h. wirklich sein, ist Gegenstand des Sinns sein, sinnlicher Gegenstand sein, also sinnliche Gegenstände außer sich haben, Gegenstände seiner Sinnlichkeit haben.« 33 Im Kontext bei Marx sind beide Aussagen noch wesentlich kräftiger – »Wenn der wirkliche, leibliche, auf der festen wohlgerundeten Erde stehende, alle Naturkräfte aus- und einatmende Mensch […].« »Daß der Mensch ein leibliches, naturkräftiges, lebendiges, wirkliches, sinnliches, gegenständliches Wesen ist […]« –, doch schon in der zitierten Fassung bei Marcuse wird deutlich, dass Marx hier die »menschliche Natur«, Sinnlichkeit, gegenständliche Wirksamkeit in ihrer lebendigen Naturvermitteltheit anspricht. Erst wenn beiden Seiten: die menschliche Natur und Sinnlichkeit sowie die menschliche Geschichtlichkeit und Vernunft je in ihrer eigenständigen Vermitteltheit begriffen werden, kann nach ihrer Einheit und wechselseitigen Vermittlung gefragt werden, ohne dass die eine durch die andere Seite vorschnell unterjocht wird. Genau diese Thematik greift Marcuse später in Eros and Civilisation (1955) auf und erschließt sich dadurch einen ganz neuen Zugang zum Naturproblem der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte von Marx.

3.

Eros oder die Triebstruktur und Bildsamkeit der menschlichen Natur

In der gut zwanzig Jahre nach seiner Wende von Hegel zu Marx erschienenen kritischen Auseinandersetzung mit Freud und der Psychoanalyse Eros and Civilisation (1955) 34 kommt die für Marcuses’ spätere Arbeiten so zentrale Anerkennung der eigenständigen Triebstruktur, Eigendynamik und Bildungsfähigkeit der menschlichen Natur erstmals zum Ausdruck. Wir können hier nicht auf die FreudMarx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40, 577 ff. – zitiert bei Marcuse, »Neue Quellen zur Grundlegung des Historischen Materialismus« (1932/ 1969): 23. 34 Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971). 33

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Interpretation von Marcuse eingehen, sondern wollen nur insoweit die Argumentationszusammenhänge sichtbar machen, als sie für das Verständnis der weiteren Gedankengänge von Bedeutung sind. 35 Schon allein, dass Freud die Triebstruktur des Menschen – also den dem »belebten Organismus innewohnenden Drang« 36 – aufdeckt, die trotz aller rationalen Überformung durch das Bewusstsein unaufhebbar im Unbewussten fortwirkt und die Lebensvollzüge des Menschen mitbestimmt, bringt die Naturseite des menschlichen Lebens in ihrer eigenständigen Dimension und Bedeutsamkeit zur Sprache. Dieser grundlegende Wandel in der Thematisierung der Naturseite des Menschen wird jedoch von Marcuse nicht weiter expliziert, sondern nun gleichsam als selbstverständlich vorausgesetzt. Ihm geht es in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Freud und der Psychoanalyse um etwas anderes – und wir können darin auch eine Spur von unausgesprochener Selbstkritik gegenüber der Einseitigkeit seiner früheren Theorie der Geschichtlichkeit sehen. Marcuse wendet sich in Eros and Civilisation – noch weitgehender als Freud die Partei der Naturseite ergreifend – gegen die Grundvoraussetzung der Freudschen Kulturtheorie 37, »daß Kultur und Zivilisation auf der permanenten Unterwerfung der menschlichen Triebe beruhen«. 38 Die Naturtriebe allein können das Überleben des Menschen nicht garantieren; nur als sozialer Verband vermag sich der Mensch gegen die äußeren Naturgewalten zu behaupten; dies macht die Errichtung einer bewusstgewordenen gesellschaftlichen Ordnung erforderlich; nur indem die kulturelle Vernunft die natürlichen Triebenergien formt, kanalisiert, reguliert und kontrolliert, ist ein kulturelles Überleben des Menschen zu sichern. Allerdings werden dadurch die natürlichen Triebenergien nicht restlos in ihre kulturellen Sublimierungen aufgehoben, führen vielmehr – ins Unbewusste verdrängt – ein Eigenleben, das durch Träume und Wünsche das menschliche Leben mitbestimmt. Wäre diese antagonistische Bestimmung der menschlichen Kultur – die auf der unterjochenden Beherrschung der Natur durch die kulturelle Vernunft beruht, sowohl der Beherrschung der lust-

35 Siehe Gvozden Flego/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg), Herbert Marcuse – Eros und Emanzipation. Marcuse-Symposion 1988 in Dubrovnik, (1989). 36 Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971): 29. 37 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930/1953). 38 Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971): 9.

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bestimmten Lebensenergien durch das vernunftgesteuerte Realitätsprinzip als auch der Beherrschung der gesamten menschlichen Lebenswelt durch ökonomisch regulierte gesellschaftliche Produktion – so wäre letztlich, wie Marcuse hier schon andeutet und später noch präziser ausführt, die Selbstvernichtung der Menschheit eine unabwendbare Konsequenz. Denn in den fortgeschrittenen industriellen Gesellschaften bedrohen nicht die Triebe, sondern die zivilisatorische Realität den Fortbestand der Menschheit. »Konzentrationslager, Massenvernichtung, Weltkriege und Atombomben sind kein ›Rückfall in die Barbarei‹, sondern die hemmungslose Auswirkung der Errungenschaften der modernen Wissenschaft, Technik und Herrschaftsform über Menschen.« 39 Der Antagonismus zwischen menschlicher Natur und »kultureller Rationalität«, wie ihn Freud seiner Kulturtheorie zugrunde gelegt hat, ist also – wie Marcuse unterstreicht – eine durchaus zutreffende Bestimmung des gegenwärtigen Verhältnisses der herrschenden gesellschaftlichen Organisationsform gegenüber der »menschlichen Natur«, der Natur im Menschen und der Natur als Lebenswelt, aber dieses Verhältnis drückt eine entfremdete, eine gestörte Beziehung von Vernunft und Natur aus, daher gilt es in kritischer Analyse dieses gestörten Verhältnisses die Möglichkeit und Notwendigkeit einer Kultur, die auf der vermittelten Einheit von Vernunft und Natur beruht, aufzuzeigen. Marcuse versucht also, unter Beibehaltung der Freudschen Kategorien zweifach herauszuarbeiten, weshalb die Kulturtheorie Freuds nur den Zustand der gegenwärtigen entfremdeten Kultur widerspiegelt. Zum einen berücksichtigt Freud bei seiner Einführung des »Realitätsprinzips« dessen geschichtliche Formbestimmtheit nicht. Was er diagnostiziert und als Prinzip schlechthin ausgibt, ist nur das »geltende Realitätsprinzip«, das in der gegenwärtigen Kultur herrschende repressive »Leistungsprinzip«. »Das Leistungsprinzip erzwingt eine immer vollständigere repressive Organisation der Sexualität und des Destruktionstriebs.« 40 Aber keineswegs hat das »Leistungsprinzip« in allen Kulturen geherrscht, und es ist auch nicht unabdingbar erforderlich für den Erhalt menschlicher Kultur – im Gegenteil: eine Befreiung zu einer menschlicheren Kultur hin wird nur über ihre Durchbrechung gelingen. 39 40

Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971): 10. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971): 130.

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Zum anderen wendet sich Marcuse gegen die These Freuds, dass eine Formung der Triebenergien nur durch eine repressive Sublimierung erfolgen könne. Auch hier sitzt Freud der Formbestimmtheit des gegenwärtigen Verhältnisses von Vernunft und Natur auf. Es gibt durchaus eine nicht unterdrückende Formung und Bildung der »menschlichen Natur«, sowohl eine repressionsfreie Selbstsublimierung »der Sexualität in den Eros« als auch eine nicht ausbeutende Gestaltung der Natur für den Menschen. Marcuse spricht in diesem Zusammenhang von der Möglichkeit einer »Erotisierung des Gesamtorganismus« 41 und fährt etwas später fort: »die Natur wird nicht als Objekt der Herrschaft und Ausbeutung, sondern als ›Garten‹ erfahren, der wachsen kann, während er menschliche Wesen wachsen läßt.« 42 Worauf Marcuse mit seiner Kritik der Freudschen Psychoanalyse und Kulturtheorie hinaus will, ist die Möglichkeit einer menschlichen Kultur aufzuweisen, in der Natur und Freiheit, Sinnlichkeit und Vernunft ohne Unterjochung in vermittelter Einheit sich entfalten und erfüllen können. Eine solche Verwirklichung menschlicher Kultur hat es bisher im menschlichen Leben immer nur in augenblickshaften Erfüllungen gegeben, aber die Erinnerungen daran bilden den Hoffnungshorizont unseres Menschseins. So wird beispielsweise die Erinnerung an die Möglichkeit versöhnter Einheit von Natur und Freiheit in den »Urbildern von Orpheus und Narziß« festgehalten: »Der Gegensatz zwischen Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, ist überwunden. Das Sein wird als Befriedigung erfahren, die Mensch und Natur eint, so daß die Erfüllung des Menschen gleichzeitig ohne Gewaltsamkeit die Erfüllung der Natur ist.« 43 Aber es geht nicht nur um die erinnerte Erfahrung von kindlichen oder geselligen Augenblicken erfüllter Einheit von Freiheit und Natur, sondern angesichts der herrschenden und fortschreitenden Zerrissenheit beider um Strategien ihrer Verwirklichung im großen gesellschaftlichen Maßstab. In diesem Zusammenhang kommt Marcuse auf Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen 44 zu sprechen, dessen politische Stoßrichtung ihn schließlich

Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971): 205. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971): 213. 43 Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971): 164. 44 Friedrich Schiller, Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), in: Sämtliche Werke XVIII (1826). 41 42

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wieder – um die volle Naturdimension bereichert – zu den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von Marx zurückführt. Die Krankheit der gegenwärtigen Kultur liegt darin, wie Schiller bereits erkannte, dass die Trennung, ja Zerreißung von Natur und Freiheit, von Sinnlichkeit und Vernunft zu einem unversöhnlichen »Konflikt zwischen beiden« ausartet, der in einer zunehmenden »Tyrannei der Vernunft über die Sinnlichkeit« gipfelt. Hier nun kommt der ästhetischen Erziehung, der Bildung der Sinnlichkeit durch die Kunst eine bedeutende Rolle zur Errichtung einer beide Momente versöhnenden Kultur zu. »Die vermittelnde Funktion wird durch die ästhetische Fähigkeit ausgeübt, die, der Sinnlichkeit verwandt, den Sinnen zugehört. Infolge dessen bedeutet die ästhetische Versöhnung gleichzeitig eine Stärkung der Sinnlichkeit gegen die Tyrannei der Vernunft und fordert letzten Endes die Befreiung der Sinnlichkeit aus dieser unterdrückenden Herrschaft.« 45 In Schillers Konzeption der ästhetischen Erziehung kommt der Kunst keine bloß kompensatorische Funktion für anfallende Zivilisationsschäden zu, sondern sie hat eine eminent politische Bedeutung, sie formt und bündelt in der »Phantasie« die subversiven sinnlichen Kräfte zur »Großen Weigerung« gegen das destruktive Getriebe der naturfeindlichen und lebensverachtenden Zivilisation und sie setzt damit die »kulturschöpferische Macht des Eros« 46 frei. »In Schillers Gedanken eines ›ästhetischen Staates‹ ist die Vision einer unterdrückungsfreien Kultur auf der Ebene einer reifen Zivilisation konkretisiert […]. Unter diesen Bedingungen ist die Möglichkeit einer repressionslosen Kultur nicht auf den Stillstand des Fortschritts gegründet, sondern auf seiner Befreiung – so daß der Mensch sein Leben im Einklang mit seinem voll entwickelten Wissen ordnen kann.« 47 Von dieser konkret-utopischen Vision einer Kultur, in der »menschliche Natur« und menschliche Freiheit in erfüllter Weise vermittelt sind, können wir uns nun dem politischen Aspekt des Naturproblems zuwenden, wie ihn Marcuse – stärker wieder an Marx orientiert – in seinen späteren Schriften entwickelt. Es geht dabei um die Überwindung der gegenwärtig herrschenden und ständig wachsenden Kluft zwischen der »menschlichen Natur« und der Rationalität der gesellschaftlichen Produktion und Organisation; dementspre45 46 47

Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971): 178. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971): 208. Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft (1955/1971): 195 f.

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chend nimmt Marcuse das Problem zangenförmig von zwei Seiten her in Angriff: zum einen in einer kritischen Genealogie der Eindimensionalität wissenschaftlich-technischer Rationalität und zum andern in der Antizipation einer »neuen Sinnlichkeit und Solidarität«.

4.

Kritische Genealogie der Eindimensionalität wissenschaftlich-technischer Rationalität 48

In seinem Buch The One Dimensional Man (1964) 49 versucht Herbert Marcuse, eine kritische Analyse der »fortgeschrittenen Industriegesellschaft« zu geben, einer Gesellschaft, der es in vorher ungeahnter Weise gelingt, die Protestpotentiale, die sich gegen sie richten, so zu integrieren, dass sie ihrer Stabilisierung dienen, ohne dass sie gleichwohl von ihrer Ausbeutung von Mensch und Natur lassen muss, ja diese in sublimierter Form sogar zu steigern vermag – ein »Hasardspiel […] anwachsender Produktivität und anwachsender Zerstörung«, die »Erhaltung des Elends angesichts eines beispiellosen Reichtums«. 50 Dies alles erschwert und kompliziert die Konzeption einer »kritischen Theorie«, von der Marx noch hoffte, dass die erstarkende Arbeiterbewegung, von ihr ergriffen, sie praktisch verwirklichen werde. Solche Hoffnung auf eine baldige und problemlose Verwirklichung ist uns heute verwehrt, aber dies kann für die »kritische Theorie«, wenn sie sich nicht selber von dem herrschenden System vereinnahmen lassen will, nur bedeuten, dass sie ihre Aufgabe der Kritik noch grundlegender ansetzen muss. Wir können hier nicht auf alle Aspekte und Dimensionen dieser wohl bedeutendsten Schrift von Marcuse eingehen, sondern wollen nur auf das für das Naturproblem entscheidende zweite Kapitel »Das eindimensionale Denken« eingehen, in dem Marcuse eine kritische Genealogie der herrschenden wissenschaftlich-technischen Rationalität entwirft, die gegenwärtig in einer beispiellosen Naturzerstörung gipfelt: »Als ein technologisches Universum ist die fortgeschrittene

Dieser Abschnitt kann auch als Ergänzung zu dem vorangehenden Kapitel VII, 2. »Geschichtsmaterialistische Erkenntniskritik – Sohn-Rethel (und Marcuse)« gelesen werden – siehe: 155. 49 Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970). 50 Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970): 15. 48

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Industriegesellschaft ein politisches Universum – die späteste Stufe der Verwirklichung eines spezifischen geschichtlichen Entwurfs – nämlich die Erfahrung, Umgestaltung und Organisation der Natur als des bloßen Stoffes von Herrschaft.« 51 Es geht darum aufzuzeigen, dass die herrschenden Wissenschaften und Technologien keineswegs an sich »politisch neutrale« Mittel menschlicher Problembewältigungen sind, die allenfalls durch ihre Anwendung im Dienste des Kapitals an der Ausbeutung und Destruktion teilhaben, sondern dass in ihnen selbst die gleiche Naturund Menschenverachtung angelegt ist wie in der Logik des Kapitals, dass sie der gleichen entfremdeten Rationalität gehorchen. »Angesichts der totalitären Züge dieser Gesellschaft läßt sich der traditionelle Begriff der ›Neutralität‹ der Technik nicht mehr aufrechterhalten. Technik als solche kann nicht von dem Gebrauch abgelöst werden, der von ihr gemacht wird; die technologische Gesellschaft ist ein Herrschaftssystem, das bereits im Begriff und Aufbau der Techniken am Werk ist.« 52 Gleiches gilt auch von den neuzeitlichen Wissenschaften – den Natur- und den Sozialwissenschaften –, die allein schon durch ihr Objektivitätsideal nicht nur die zu erkennende Wirklichkeit zu Gegenständen berechenbarer Verfügung entwirklichen, sondern auch das erkennende Subjekt aus allen Wirklichkeitsbezügen abstrahieren. Bereits Marx hatte in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten auf die entfremdete Form der gegenwärtigen Naturwissenschaften und der Industrie hingewiesen, die »die Entmenschung vervollständigen«. 53 Marcuse nimmt nun dieses Thema auf, um durch eine kritische Genealogie der Entstehung der Entfremdung der wissenschaftlich-technischen Rationalität und ihre verheerenden Folgen die Bedingungen und die Notwendigkeit ihrer praktischen Überwindung einzuklagen: »Das totalitäre Ganze technologischer Rationalität ist die letzte Umbildung der Idee der Vernunft. In diesem und dem folgenden Kapitel werde ich versuchen, einige der Hauptstufen der Entwicklung dieser Idee zu bestimmen – den Prozeß, wodurch Logik zur Logik der Herrschaft wurde.« 54

51 52 53 54

Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970): 18. Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970): 18. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 543. Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970): 139.

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In seiner kritischen Genealogie des eindimensionalen Denkens durchschreitet Marcuse drei große Etappen: die vortechnische Rationalität der Antike, die technische Rationalität der Herausbildung der neuzeitlichen Wissenschaften und schließlich die totalisierte technologische Rationalität der Gegenwart. Anders als Heidegger, für den der Bruch zwischen ursprünglichem und metaphysischem, in der Technologie gipfelndem Denken zwischen der Vorsokratik und Platon liegt, zieht Marcuse – sehr viel überzeugender – die erste Trennlinie zwischen Platon und Aristoteles. 55 Im Folgenden sei diese Grunddifferenz in einigen Thesen zu Platon und Aristoteles zusammengefasst, ohne sie im Einzelnen an Texten zu belegen. 56 1. Platons Philosophie steht insgesamt unter dem Primat sittlich-politischer Praxis; selbst die Naturerkenntnis und die Erkenntnistheorie sind dieser Idee des Guten unterstellt. Sie ist nicht nur der Form nach, sondern grundsätzlich dialektische Philosophie als dialogische Selbst- und Wahrheitssuche. Zwar betont Platon in der Anamnesislehre, dass jeder zur Wahrheit nur selber vorzudringen vermag, sie durch eigenes Denken wiedererinnern muss, aber er bedarf dazu durchaus der maieutischen Hilfe des Gesprächs mit dem Anderen. Die gleiche Problematik von der anderen Seite her formulierend, betont Platon im Siebenten Brief und auch im Dialog Phaidros, dass man niemals einem anderen die selbst erkannte Wahrheit zwingend übermitteln kann, weder durch beweisende Argumentation noch gar durch schriftliche Mitteilung. Nur im Eros des Gesprächs vermag der Funke der Einsicht auf den anderen überzuspringen. Dieses Moment des Eros gehört unabdingbar zum Logos der Philosophie hinzu, wie Platon insbesondere im Symposion darlegt. 57 In ihm offenbart sich jedoch auch die sittlich-politische Verpflichtung der Philosophie. Das Höhlengleichnis aus der Politeia weist nicht nur den Weg der periagogē zur höchsten Einsicht der Idee des Guten, sondern spricht auch die praktische Aufgabe der Befreiung der in der Höhle Zurückgebliebenen an. Und aus dem achten und neunten Buch der Politeia wird deutlich, dass die Frage nach der Gerechtigkeit nicht Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970): 140. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung (1999), darin: »Platon – Die Idee des Guten«: 26 ff. 57 Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970): 143. 55 56

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nur als die radikale Kritik aller bestehenden Verfassungen gemeint ist, sondern auch die praktische Aufgabe eines revolutionären Eingriffs herausfordert. Demgegenüber wird von Aristoteles der praktische Primat aufgegeben: die theoretische Philosophie erhält den Vorrang vor der praktischen Verpflichtung, die dadurch im Letzten auf eine Pragmatik zurückgedrängt wird. Natürlich stellen Aristoteles’ Ethiken sowie seine Politik gegenüber dem nachfolgenden Verlust der praktischen Philosophie noch bedeutende Werke dar, aber methodisch bleiben sie der theoretischen Philosophie nachgeordnet und inhaltlich schränkt Aristoteles insbesondere seine Politik auf eine begreifende Versöhnung mit den bestehenden Verfassungen ein. Die Dialektik wird zugunsten der Apodeiktik der Logik aufgegeben; durch den Beweis beherrscht der Erkennende nicht nur die erkannten Dinge, sondern auch die anderen Menschen, denn die Anerkennung bewiesenen Wissens kann von jedem anderen logisch eingeklagt werden. Solches Wissen ist schwarz auf weiß fixierbar und verliert durch Übertragung oder Aufbewahrung nichts an seiner Gültigkeit. Dies ist die Geburtsstunde des Herrschaftsanspruchs der Logik. 58 Der Eros als das Band der Menschen untereinander wird aufgegeben und durch die Absolutsetzung der Logik als Herrschaft über die Dinge und das Wissen der Menschen ersetzt. »Lange bevor der technische Mensch und die technische Natur als Objekt rationaler Kontrolle und Kalkulation aufkamen, wurde der Geist für die abstrakte Verallgemeinerung empfänglich gemacht. […] Unterschieden wurde zwischen der allgemeinen, kalkulierbaren ›objektiven‹ und der besonderen, nichtkalkulierbaren, subjektiven Dimension des Denkens; diese ging in die Wissenschaft nur durch eine Reihe von Reduktionen ein.« 59 Doch noch schimmert auf dieser »vortechnischen« Stufe des eindimensionalen Denkens bei Aristoteles – den Marcuse selbstverständlich als großen Philosophen sehr schätzt – die Einbezogenheit des Menschen in die Physis und in die Polis durch; aber dennoch sind, ähnlich wie mit der Vergesellschaftung des Geldes – worauf Alfred

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Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970): 152 f. Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970): 153.

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Sohn-Rethel eindringlich verweist 60 – die entscheidenden Weichen für die folgende Entwicklung gestellt. 2. Um zu begreifen, was an Einsichten von der Einbezogenheit des Menschen in die Natur durch die neuzeitlichen Wissenschaften verloren geht, wäre es gut, in der Platon-Nachfolge auf die Renaissance-Philosophie von Nikolaus von Kues, Carolus Bovillus und Giordano Bruno einzugehen, aber wir überspringen mit Marcuse diese wichtige Gegenbewegung und schreiten gleich zur technologischen Rationalität der neuzeitlichen Wissenschaften als zweiter, potenzierter Stufe der Eindimensionalität fort. Zweifach wird sie durch eine radikale Zerstörung eingeleitet: durch die Zersetzung des sinnlichen Erfahrungszusammenhangs, wie sie im sogenannten englischen Empirismus vollzogen wird 61 und durch die Zerstückelung ganzheitlichen Denkens in mathematisierbare Wissenselemente im sogenannten französischen Rationalismus. Durch diese zweifache Zerstörung des Erfahrungs- und Denkzusammenhangs, dem der Erfahrende und Denkende mit angehört, wird Empirie und Rationalität dem technologischen Apriori verfügbar gemacht. »Die Wissenschaft von der Natur entwickelt sich unter dem technologischen Apriori, das die Natur als potentielles Mittel, als Stoff für Kontrolle und Organisation entwirft. […] Das technologische Apriori ist insofern ein politisches Apriori, als die Umgestaltung der Natur die des Menschen zur Folge hat.« 62 Bereits Descartes hat dieses technologische Apriori klar als sein Leitziel reiner Wissenschaftlichkeit ausgesprochen. Sammeln wir an Descartes einige Merkmale der potenzierten Eindimensionalität: a. Die Gewinnung der reinen wissenschaftlichen Rationalität setzt die Zerschlagung der sinnlich-lebensweltlichen Erfahrung voraus, die sogenannte Empirie zerlegt das sinnlich Wahrgenommene in isolierte Sinnesdaten, die in berechenbare Bezüge zueinander gesetzt werden. Siehe A. Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis (1970). 61 Vgl. Marx/Engels, Die heilige Familie (1845), 2: 135 f. »In Baco, als seinem ersten Schöpfer, birgt der Materialismus noch auf eine naive Weise die Keime einer allseitigen Entwicklung in sich. Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an. […] In seiner Fortentwicklung wird der Materialismus einseitig. Hobbes ist der Systematiker des baconischen Materialismus. Die Sinnlichkeit verliert ihre Blume und wird zur abstrakten Sinnlichkeit des Geometers.« 62 Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970): 168. 60

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b. Die allen neuzeitlichen Wissenschaften bis heute zugrunde liegende radikale Scheidung von res cogitans und res extensa reißt den wirklichen Zusammenhang von erkennendem Subjekt und erkannter Objektivität so auseinander, dass es keiner der Wissenschaften je gelingen kann, ihn wieder herzustellen. c. In der Welt der Objekte gibt es einerseits niemals etwas, was Subjekt sein könnte, obwohl es natürlich keine erkannten Objekte geben kann ohne erkennende Subjekte. Das erkennende Subjekt ist andererseits kein wirkliches Subjekt, sondern nur Ort logisch-mathematisch geltender Begriffe, Urteile und Schlüsse. d. Sowohl Objekt als auch Subjekt als auch und vor allem ihre Vermittlung können nicht aus sich selbst begriffen werden, sondern Halt ihrer Faktizität und ihrer Vermittlung ist Gott, wie Descartes ausdrücklich betont, allerdings ist auch er nur ein abstrakter Schematismus. 3. Die dritte Stufe zweifach potenzierter Eindimensionalität der wissenschaftlich-technischen Rationalität ist dort erreicht, wo die Wissenschaften und Technologien jegliches Fragen nach einem Wozu ihres Denkens und Tuns in Bezug auf den Menschen und die Natur restlos aufgegeben und sich als Instrumente bedingungslos der Zwecksetzung des Kapitals ausgeliefert haben. Zu ihrer Kennzeichnung sei gleich aus den zusammenfassenden Ausführungen von Marcuse selbst zitiert: »Zusammenfassend können wir jetzt versuchen, das verborgene Subjekt der wissenschaftlichen Rationalität und die verborgenen Zwecke in ihrer reinen Form klarer zu bestimmen. Der wissenschaftliche Begriff einer allseitig kontrollierbaren Natur entwarf Natur als endlose Materie in Funktion, als bloßen Stoff von Theorie und Praxis. In dieser Form ging die Objektwelt in den Aufbau eines technologischen Universums ein – eines Universums geistiger und materieller Instrumente, von Mitteln an sich. Sie ist dadurch ein wahrhaft ›hypothetisches‹ System, das von einem bestätigenden und verifizierenden Subjekt abhängt. […] Das ›hypothetische‹ System von Formen und Funktionen wird abhängig von einem anderen System – einem vorgegebenen Universum von Zwecken, in dem und für welches es sich entwickelt […]; reine Objektivität offenbart sich als Objekt für eine Subjektivität, die als Telos, die Zwecke bereitstellt […]; der Prozess technologischer Rationalität ist ein politischer Prozess. Nur im Medium der Technik werden Mensch und Natur ersetzbare Objekte der Organisation. […] Mit anderen Worten, die Technik ist zum gro191 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

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ßen Vehikel der Verdinglichung geworden – der Verdinglichung in ihrer ausgebildetsten und wirksamsten Form. […] Die Welt tendiert dazu, zum Stoff totaler Verwaltung zu werden, die sogar die Verwalter verschlingt. Das Gewebe der Herrschaft ist zum Gewebe der Vernunft selbst geworden, und die Gesellschaft ist verhängnisvoll darein verstrickt.« 63 Es ist schade, dass Marcuse seine wirklich großartige Genealogie des eindimensionalen Denkens in der dritten Stufe nicht erläuternd an Hegels Logik expliziert. Ihn hält wohl die Pietät vor diesem großen Dialektiker, dem er selber so viel verdankt, von einem solchen letzten Schritt ab. Aber so wie schon Aristoteles nicht als Denker diffamiert wird, wenn man die verborgenen Bezüge seines Organon mit der Realabstraktion des Geldes aufdeckt, so wird auch Hegel nicht als Denker geringer, wenn aufgewiesen wird, dass seine Logik die Logik des Kapitals im Denken widerspiegelt. 64 Marx hat diese letzte Konsequenz, vor der Marcuse zurückschreckt, gezogen. In seiner Hegel-Kritik innerhalb der Ökonomisch-philosophischen Manuskripte notiert er: »Die Logik – das Geld des Geistes, der spekulative, der Gedankenwelt des Menschen und der Natur – ihr gegen alle wirkliche Bestimmtheit vollständig gleichgültig gewordenes und darum unwirkliches Wesen – das entäußerte, daher von der Natur und dem wirklichen Menschen abstrahierende Denken; das abstrakte Denken.« 65 Sehen wir von diesem letzten Punkt ab, so ist die Gesamtintension der Kritik bei Marx und Marcuse die gleiche. Es geht nicht darum, Wissenschaft und Technik einfach zu negieren, sondern sie in ihrer entfremdeten Formbestimmtheit aufzudecken. In ihrer gegenwärtigen Form haben sie sich gegenüber den Menschen, ihren eigentlichen Produzenten, verselbständigt und fungieren im Dienste der Logik des Kapitals als Instrumente der Ausbeutung von Mensch und Natur. Erst wo ihre entfremdete Formbestimmtheit aufgebrochen wird, wo sie wieder als geistige und materielle Produktivkräfte der Menschen begriffen werden, können sie in neuer Form ihrer Begründung, ihres systematischen Aufbaus und ihrer Legitimation Vehikel Marcuse, Der eindimensionale Mensch (1964/1970): 182 f. Vgl. Alfred Sohn-Rethel, Warenform und Denkform (1936/1978) sowie Helmut Reinicke, Ware und Dialektik (1974). 65 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 571 f. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 17 ff. 63 64

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der menschlichen Emanzipation werden. Erstaunt und verärgert darüber, dass dieser Grundgedanke dialektischer Wissenschafts- und Technikkritik der »kritischen Theorie« immer wieder – auch von befreundeten Denkern, wie beispielsweise von Jürgen Habermas 66 – missverstanden werden, fragt Marcuse in Versuch über die Befreiung (1969): »Ist es immer noch nötig zu wiederholen, dass Wissenschaft und Technologie die großen Vehikel der Befreiung sind und dass es nur ihr Gebrauch und ihre Restriktion in der repressiven Gesellschaft sind, die sie zu einem Vehikel der Herrschaft machen?« 67

5.

Antizipation einer »neuen Sinnlichkeit und Solidarität«

Wir nehmen hier das Problem der menschlichen Natur nicht mehr fundamentalphilosophisch auf, wie es von Marcuse andeutungsweise in Eros and Civilisation (1955) diskutiert wurde, sondern in der bestimmteren politischen Frage nach der »menschlichen Natur« als »Verbündeter« im Kampf gegen gesellschaftliche Unterdrückung, Deformation und Destruktion. Nur eines gilt es zur fundamentalphilosophischen Problematik noch nachzutragen bzw. zu erinnern: Wenn von »menschlicher Natur«, Sinnlichkeit, Bedürfnis und Eros die Rede ist, so sind damit niemals Naturgrößen an sich gemeint, sondern sie alle bilden sich immer nur in sozialen Beziehungen, aber in diesen sozialen Bezügen bilden sie sich gerade auch als natürliche. D. h. in ein und demselben Prozess der »Sozialisation« oder der Bildung kommt die Natur der »menschlichen Natur« zur Entfaltung als auch die gesellschaftliche und kulturelle Formbestimmtheit der »menschlichen Natur«. Doch wenden wir uns nach dieser grundsätzlichen Erinnerung der politischen Problematik zu, wobei wir neben dem Versuch über die Befreiung (1969) vor allem auf »Natur und Revolution« 68 bezugnehmen, da Marcuse in dieser Studie erneut – vierzig Jahre nach seiner ersten Besprechung – direkt an die Ökonomisch- philosophischen Manuskripte von Marx anknüpft. Siehe Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie« (1968). Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung (1969): 27. Vgl. Hans Dieter Bahr, Kritik der ›Politischen Technologie‹. Eine Auseinandersetzung mit Herbert Marcuse und Jürgen Habermas (1970). 68 Herbert Marcuse, »Natur und Revolution«, in: Herbert Marcuse, Konterrevolution und Revolte (1972). 66 67

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In der Suche nach einer »neuen Sinnlichkeit« und »neuen Solidarität« geht es um die Bildung und Stärkung der »menschlichen Natur«, wobei darunter – wie bereits gesagt – nicht eine angebliche reine Natürlichkeit zu verstehen ist, die es gar nicht gibt, sondern die menschliche Natürlichkeit und natürliche Menschlichkeit. Wahrscheinlich führt uns in die Doppelproblematik von »neuer Sinnlichkeit« und »neuer Solidarität« am besten ein längeres Marx-Zitat ein, das gleichsam unausgesprochen das Motto zu allen späteren Arbeiten Marcuses darstellt: »Das unmittelbare, natürliche, notwendige Verhältnis des Menschen zum Menschen ist das Verhältnis des Mannes zum Weibe. In diesem natürlichen Gattungsverhältnis ist das Verhältnis des Menschen zur Natur unmittelbar sein Verhältnis zum Menschen, wie das Verhältnis zum Menschen unmittelbar sein Verhältnis zur Natur, seine eigene natürliche Bestimmung ist. In diesem Verhältnis erscheint also sinnlich, auf ein anschaubares Faktum reduziert, inwieweit dem Menschen das menschliche Wesen zur Natur oder die Natur zum menschlichen Wesen des Menschen geworden ist. […] In diesemVerhältnis zeigt sich auch, inwieweit das Bedürfnis des Menschen zum menschlichen Bedürfnis, inwieweit ihm also der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis geworden ist, inwieweit er in seinem individuellsten Dasein zugleich Gemeinwesen ist.« 69 Wenn Marcuse von der »neuen Sinnlichkeit« spricht, so geht es ihm darum, das in der »menschlichen Natur« – Leiblichkeit, Erfahrungs- und Beziehungsfähigkeit – schlummernde ungeheure Widerstandspotential gegen die herrschende gesellschaftliche Repression zu aktivieren, denn in der »menschlichen Natur« wurzelt letztlich die Kraft revolutionärer Praxis. 70 Die Aktivierung der Sinnlichkeit muss unter drei Gesichtspunkten bedacht werden: Zum Ersten müssen die Menschen lernen, mit all ihren Sinnen ihre »menschliche Natur« zu erfahren und zu bejahen. Die Bildung der Sinne, von der auch Marx in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten spricht, ist zumal in einer repressiven Gesellschaft keineswegs eine Selbstverständlichkeit. »›Radikale Sensibilität‹ : Dieser Begriff betont die tätige, konstitutive Rolle der Sinne bei der Formung des Verstandes, d. h. derjenigen Kategorien, mittels Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40:535. Vgl. dazu auch die Parallelenausführungen von Henri Lefebvre, Der dialektische Materialismus (1940/1966).

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deren die Welt geordnet, erfahren und verändert wird. […] Unsere Welt entsteht nicht nur in den reinen Formen von Zeit und Raum, sondern auch und gleichzeitig als eine Totalität sinnlicher Qualitäten – als Objekt nicht nur des Auges […], sondern aller menschlicher Sinne […]. Eben diese qualitative, elementare, […] vorbewußte Konstitution der erfahrenen Welt […] muß sich radikal verändern, soll gesellschaftliche Veränderung radikale, qualitative Veränderung sein.« 71 Wo die sinnliche Erfahrung und die Bejahung der »menschlichen Natur« ausgebildet sind, können zweitens auch die mannigfachen Beschädigungen der eigenen Lebensmöglichkeiten sensibel als Gefahren und Bedrohungen erlebt werden, und das ist sehr viel mehr als nur intellektuell von jenen zu wissen. Erst hieraus erwächst die Kraft des Widerstandes gegen die fortschreitenden Destruktionen des herrschenden Industriesystems. »Die Entwicklung einer radikalen, nonkonformistischen Sinnlichkeit gewinnt erhebliche politische Bedeutung angesichts des beispiellosen Ausmaßes der vom fortgeschrittenen Kapitalismus ausgeübten sozialen Kontrolle – einer Kontrolle, die bis in die triebmäßige und physiologische Schicht des Daseins hinabreicht. Umgekehrt sind Widerstand und Rebellion ebenfalls bestrebt, diese Schicht im Menschen zu aktivieren, in ihr wirksam zu werden.« 72 Aber die »neue Sinnlichkeit« steht nicht nur für die Wiederentdeckung unserer Lebensgrundlage in der »menschlichen Natur« gegen das zunehmend menschenverachtende und naturzerstörende kapitalistische Industriesystem, sondern drittens vor allem auch für den Zielhorizont eines kulturellen Zusammenlebens erfüllter Natürlichkeit und erfüllter Menschlichkeit. Die noch ausstehende solidarische Gesellschaft, für die es zu kämpfen gilt, wird nicht nur Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit auf ihre Banner geschrieben haben, sondern auch Glück, Geschwisterlichkeit und Befriedung. »Die neue Sensibilität ist eben deswegen Praxis geworden; sie entsteht gegen Gewalt und Ausbeutung, in einem Kampf für wesentlich neue Weisen und Formen des Lebens; sie impliziert die Negation des gesamten Establishments, seine Moral, seine Kultur; die Behauptung des Rechts, eine Gesellschaft zu errichten, in der die Abschaffung von Armut und Elend Wirklichkeit wird und das Sinnliche, das Spieleri71 72

Marcuse, Konterrevolution und Revolte (1972): 76. Marcuse, Konterrevolution und Revolte (1972): 76.

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sche, die Muße Existenzformen und damit zur Form der Gesellschaft selbst werden.« 73 »Sinnlichkeit« hat in der deutschen Sprache einen Doppelsinn, der von Marx und von Marcuse ausdrücklich mitgemeint ist. Die »menschliche Natur« kann nur im Miteinander der Menschen entfaltet und gebildet, befriedigt und erfüllt werden. So sprach Marx – wie oben zitiert – vom Menschlichwerden des Bedürfnisses des Menschen, insofern ihm »der andre Mensch als Mensch zum Bedürfnis« wird 74, und Marcuse fügt dem noch die Perspektive der »Erotisierung« aller menschlichen Beziehungen, die Entfaltung einer »libidinösen Moral« hinzu. So ist in der »neuen Sinnlichkeit« die »neue Solidarität« bereits angelegt, aber das Konzept der »neuen Solidarität« impliziert noch mehr. Wir können hier nicht ausführlicher auf die von Marcuse zu Recht vorgetragenen Begründungen eingehen, weshalb die »kritische Theorie« die von Marx vollzogene Einengung auf das Proletariat als alleiniges Subjekt der Revolution aufgeben muss. Diese Revision ist nicht nur von den geschichtlichen Gegebenheiten des Spätkapitalismus her, sondern auch aus fundamentalphilosophischen Gründen geboten. Zwar wird die Emanzipation der Lohnarbeiter immer ein Eckpfeiler für eine das Kapital selbst aufhebende Umwälzung sein, da ja das Kapital auf der Ausbeutung der Lohnarbeiter beruht, aber da es der »kritischen Theorie« im Letzten um die »menschliche Emanzipation« (Marx) geht, sind alle Menschen, die als Menschen diskriminiert, unterdrückt, geknechtet und ausgebeutet werden, angesprochene Subjekte ihrer Befreiung. Die »kritische Theorie« wendet sich gegen alle Formen der Unterdrückung von Menschen, ihr geht es um das »wahrhafte Gesamtinteresse der Unterdrückten«. »Wie gegen Herrschaft von Klassen und Nationalinteressen, die dieses Gesamtinteresse unterdrücken, ist die Revolte gegen die alten Gesellschaften wirklich international: eine neue, spontane Solidarität entsteht […]; es ist der Kampf ums Leben – um ein Leben nicht als Herren und nicht als Knechte, sondern als Männer und Frauen.« 75 Natürlich kommt der arbeitenden Bevölkerung in den fortgeschrittenen Industrienationen eine entscheidende Rolle im revolutionären Kampf zu, denn sie sind am ehesten in der Lage, den Unter73 74 75

Marcuse, Versuch über die Befreiung (1969): 45 f. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 535. Marcuse, Versuch über die Befreiung (1969): 80 f.

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drückungs- und Destruktionszusammenhang des herrschenden Systems zu durchschauen und haben allein die Macht, die Herrschaft des Systems zu brechen, aber das Ziel der »menschlichen Emanzipation«, um das hier gekämpft wird, erlaubt kein partielles Gruppeninteresse der Arbeiterklasse, sondern erfordert eine »neue Solidarität« sowohl mit den Hungernden in der Dritten Welt als auch mit den diskriminierten Minderheiten in den Industrienationen, sowohl mit den verfolgten Völkern, Rassen, Kulturen und Religionsgruppen als auch mit allen in ihrem individuellen Elend Alleingelassenen. Ohne die Ausbildung einer »neuen Sensibilität« für das von Menschen Menschen zugefügte Leid und die Einübung einer »neuer Solidarität« im Rahmen des auch im herrschenden System Möglichen, wird jede nur proletarische Revolution zu einem neuen Herrschafts- und Unterdrückungssystem, das nicht zur »menschlichen Emanzipation« hinführt. »Die Umgestaltung ist nur als die Weise denkbar, in der freie Menschen (oder vielmehr Menschen, die praktisch dabei sind, sich selbst zu befreien) ihr Leben solidarisch gestalten und eine Welt aufbauen, in welcher der Kampf ums Dasein seine häßlichen und aggressiven Züge verliert.« 76 Weil es um die »menschliche Emanzipation« geht, kommt nach Marcuse – im Sinne des obigen Marx-Zitats – dem Beziehungsverhältnis von Mann und Frau eine fundamentale Rolle für die Formung der »neuen Solidarität« zu. Auch hier sind es drei Aspekte, die diese Frage paradigmatisch für die »menschliche Emanzipation« werden lassen und wodurch »die Frauenbefreiungsbewegung«, durch die jene akut ins Bewusstsein gebracht wird, »derzeit die vielleicht wichtigste und potentiell radikalste politische Bewegung ist«. 77 Das Beziehungsverhältnis von Mann und Frau ist erstens das grundlegendste Verhältnis, an dem sich das fundamentale Ineinander von Natürlichkeit und Menschlichkeit offenbart. Der Mensch ist gleichsam immer nur halb: entweder Mann oder Frau, und er bedarf der anderen Hälfte, um ganz Mensch zu sein. Nur gemeinsam zeugen und bilden Mann und Frau die neue Generation von heranreifenden Jungen und Mädchen. Zweitens hat die »ursprünglichste Arbeitsteilung« (Marx) zwischen den Geschlechtern unter kultureller Ausnutzung der tragenden Rolle der Frau bei Geburt und Kindererziehung 76 Marcuse, Versuch über die Befreiung (1969): 72. Vgl. Johannes Ernst Seiffert, Pädagogik der Sensitivierung (1975): 112. 77 Herbert Marcuse, Zeit-Messungen (1975): 9.

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zur Unterdrückung der Frau geführt, der ältesten und tiefsitzendsten Form der Ausbeutung der »menschlichen Natur« in der männlich beherrschten Gesellschaft. Der Kampf um ihre Aufhebung wird drittens auch zur »Emanzipation der weiblichen Sinnlichkeit und Intelligenz: Versinnlichung der Intelligenz« 78 führen, denn gerade die natürlich-menschliche Sinnlichkeit und Solidarität sind Lebensformen, die die repressive und aggressive männliche Herrschaft zu unterdrücken verstand. So wird im Letzten – wie es Marx bereits sagt – die Verwirklichung des natürlich-menschlichen Verhältnisses von Mann und Frau zum Maßstab für den Entwicklungsgrad einer wahren solidarischen Gesellschaft werden. Auf dem Wege dorthin – so führt Marcuse aus – »wird die Freiheitsbewegung der Frauen […] in dem Maße zu einer radikalen Kraft, wie sie die gesamte Sphäre aggressiver Bedürfnisse und Leistungen, die gesamte gesellschaftliche Organisation und Arbeitsteilung überschreitet. Mit andren Worten: die Bewegung wird in dem Maße radikal, wie sie sich nicht nur für Gleichheit innerhalb der Arbeits- und Wertstruktur der bestehenden Gesellschaft (was auf gleiche Entmenschlichung hinausliefe) einsetzt, sondern für eine Veränderung der Struktur selbst (wofür die grundlegenden Forderungen nach Chancengleichheit, gleicher Bezahlung und angemessener Befreiung von Haushaltsarbeit und der Betreuung der Kinder Vorbedingungen sind).« 79 Und im Vortrag »Marxismus und Feminismus« fügt Marcuse verdeutlichend noch hinzu: »Auf dieser Stufe ›jenseits der Gleichberechtigung‹ beinhaltet Befreiung den Aufbau einer Gesellschaft, die von einem anderen als dem bisherigen Realitätsprinzip geprägt ist, einer Gesellschaft, in der die bestehende Dichotomie Mann-Frau in den neuen sozialen und personellen Beziehungen überwunden ist. In diesem Sinne meint die Bewegung selbst die Vorstellung nicht nur neuer gesellschaftlicher Institutionen, sondern auch eines differenten Bewußtseins und einer differenten Triebstruktur in Männern und Frauen, die von den Erfordernissen der Herrschaft und Ausbeutung frei sind.« 80

Marcuse, Zeit-Messungen (1975): 15. Marcuse, Konterrevolution und Revolte (1972): 91. 80 Marcuse, Zeit-Messungen (1975): 11. Vgl. Friedrich Voßkühler, Subjekt und Selbstbewusstsein. Ein nicht mehr unzeitgemäßes philosophisches Plädoyer für Vernunft und soziale Emanzipation (2010). 78 79

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Schlussbemerkung Unsere Darstellung des Naturproblems bei Herbert Marcuse versuchte zum einen den Entwicklungsgang seines Bewusstwerdens aufzuzeigen: beginnend beim angemerkten Fehlen des Naturproblems bei Hegel über die Entdeckung des Naturproblems beim jungen Marx, die aber anfänglich noch ganz unter dem Primat der Geschichtlichkeit steht, bis zur Gewinnung einer eigenständigen Wertigkeit der »menschlichen Natur« in der kritischen Auseinandersetzung mit Freud. Auf dieser Grundlage kommt dann dem Naturproblem im gesamten Spätwerk von Marcuse eine zentrale Rolle zu, wobei gleichzeitig auch immer deutlicher die Affinität zu den frühen philosophischen Manuskripten von Marx hervortritt. Systematisch ging es darum zu zeigen, dass im Denken Marcuses nur die »menschliche Natur« Relevanz hat, wobei »menschliche Natur« sowohl die dem Menschen eigene Natur als auch die Natur als Lebenswelt des Menschen meint; die kosmische Natur bleibt aus seinem Denken ausgeschlossen. 81 Gerade wenn von der »menschlichen Natur« in diesem Doppelsinne die Rede ist, kann eine Dichotomie Natur-Geschichte grundsätzlich nicht gemeint sein. Es gibt keine Natur an sich – weder phylo- noch ontogenetisch –, die dann gesellschaftlich umgeprägt wird, sondern in ein und demselben geschichtlichen Werdeprozess entfaltet sich die »menschliche Natur« und die »menschliche Kultur«. Die Einheit dieser beiden Momente macht gerade das Menschliche aus. 82 Allerdings wird der Einheit beider Momente, die unabdingbar allem menschlichen Leben zugrunde liegt, nicht immer in gleicher Weise Rechnung getragen, vielmehr kommt es in der Geschichte der Menschheit zur kulturellen Repression der »menschlichen Natur« bis hin zu den heute immer bedrohlicher werdenden Formen der Deformation und Destruktion der »menschlichen Natur« in ihrer Doppelgestalt. Daher ist für uns heute die »Entdeckung […] der Natur als einer Verbündeten im Kampf gegen die ausbeuterische Gesellschaft, in der die Vergewaltigung der Natur die Vergewaltigung des Menschen verschärft«, von so entscheidender Bedeutung. 83

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Marcuse, Konterrevolution und Revolte (1972): 72. Marcuse, Konterrevolution und Revolte (1972): 73. Marcuse, Konterrevolution und Revolte (1972): 72.

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Es wäre völlig falsch zu meinen, Marcuse wolle das Marxsche Projekt einer »kritischen Theorie« gänzlich in der Strategie der »neuen Sinnlichkeit und Solidarität« aufgehen lassen. Vielmehr ist es so, dass er – im Rückgang auf Marx’ Ökonomisch-philosophische Manuskripte und entsprechend der postulierten Einheit von Natur und Vernunft als Grundlage des Menschseins und als Zielhorizont politischen Kampfes – eine Doppelstrategie entwickelt. Einerseits treibt Marcuse die von Marx begonnene Kritik der politischen Ökonomie weiter, um weitere gesellschaftliche, kulturelle und psychische Dimensionen in die Kritik des fortgeschrittenen wertbestimmten Industriesystems einzubeziehen – sein Buch Der eindimensionale Mensch legt Zeugnis davon ab, aber auch seine Schrift Soviet-Marxism (1957) 84 muss von diesem Zusammenhang her verstanden werden –, andererseits erkennt Marcuse, dass aus der bloß rationalen Kritik der bestehenden Herrschaftssysteme noch keine verändernde Praxis erwächst, dass die Triebkräfte von Protestbewegungen gegen die fortgeschrittene wertbestimmte Industriegesellschaft viel tiefer in der unterdrückten und bedrohten »menschlichen Natur« verankert sein müssen, diese Potenzen gilt es aufzudecken und zu aktivieren. Diese konkret-utopische Linie hat Marcuse unter den Leitgedanken der »neuen Sinnlichkeit« und »neuen Solidarität« vor allem in seinen späten Essays Versuch über die Befreiung, Konterrevolution und Revolte, Zeit-Messungen u. a. skizziert. Dabei stehen sich diese beiden Strategien der »kritischen Theorie« nicht bezuglos gegenüber, sondern bedingen und fordern sich wechselweise, denn die Kritik gründet nicht nur in der »menschlichen Natur«, sondern würde auch ohne Hoffnung auf eine »neue Sinnlichkeit und Solidarität« im Pessimismus enden müssen, ebenso ist das Projekt einer »neuen Sinnlichkeit und Solidarität« undenkbar ohne Einsicht in die Notwendigkeit radikaler Kritik des herrschenden kapitalistischen Industriesystems, gerade erst von daher versteht sich das Projekt selbst als Teil der daraus resultierenden »revolutionären Praxis« (Marx). Durch die Zangenbewegung von beiden Seiten »kritischer Theorie« bleibt diese ihrer praktischen Aufgabe im Dienste der »menschlichen Emanzipation« treu. Im Aufweis der zentralen Rolle, die dabei der

Herbert Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus (1957/ 1964).

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»menschlichen Natur« zukommt, hat uns Herbert Marcuse Wege gewiesen, die wir weiter zu beschreiten haben. »Aber erst in der Marxschen Konzeption tritt – unter Bewahrung des kritischen, transzendierenden Elements des Idealismus – der materielle, geschichtliche Boden für die Versöhnung von menschlicher Freiheit und natürlicher Notwendigkeit, von subjektiver und objektiver Freiheit ins Bewusstsein. Diese Vereinigung setzt Befreiung voraus: revolutionäre Praxis, welche die Institutionen des Kapitalismus abschaffen und durch sozialistische Institutionen und Verhältnisse ersetzen soll. Bei diesem Übergang muss jedoch die Emanzipation des Bewußtseins mit der der Sinne einhergehen, die Totalität des menschlichen Daseins umfassen. Die individuellen Triebe und Sinne als solche müssen sich ändern, bevor die Individuen fähig sind, gemeinsam eine qualitativ andere Gesellschaft aufzubauen.« 85

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Marcuse, Konterrevolution und Revolte (1972): 89.

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IX. Ernst Bloch – Hoffnung auf eine Allianz von Geschichte und Kultur 1

Ernst Bloch gehört sicherlich zu den großen Philosophen unseres Jahrhunderts. Er ist jenen impulsgebenden Denkern zuzurechnen, die neue existentielle Fragen aufwerfen und in das Zentrum unseres Bewusstwerdens rücken. Die Frage, die bei Ernst Bloch aufbricht und allgegenwärtig seine Werke durchwirkt, ist das uns existentiell betreffende und angehende Problem der Zukunft in all seinen Aspekten und Schattierungen. Unser Leben ist kein Zustand, sondern ein unaufhörliches Fortschreiten und Sichverändern, und es ist selbst hineingestellt in einen gesellschaftlichen Werdeprozess, den wir Geschichte nennen; diese aber steht wiederum in dem noch umfassenderen Prozesszusammenhang des kosmischen Werdens. Aber wir sind diesem unaufhörlichen Vorwärtsschreiten weder bewusstlos noch teilnahmslos ausgeliefert, ganz im Gegenteil: Wir begreifen diesen Prozess durch unsere gegenwärtige Lebenspraxis hindurch, in unserem Erinnern wirkt Vergangenes fort, und unser Hoffen drängt auf das Noch-Ausständige der Zukunft hin. Diese in der vorhergehenden Philosophie vernachlässigte Perspektive auf die Zukunft hin denkend zu erhellen, ist die Aufgabe, die Ernst Bloch von Geist der Utopie (1918/1923) an über Das Prinzip Hoffnung (1959) bis zur letzten Arbeit Experimentum Mundi (1975) unablässig verfolgt und immer grundlegender zu umschreiben versucht.

Zuerst erschienen in: Gvozden Flego/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Ernst Bloch – Utopische Ontologie. Band II des Bloch-Lukács-Symposiums 1985 in Dubrovnik, Bochum 1986: 219 ff.

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I. Die Tübinger Einleitung in die Philosophie beginnt mit den bekannten Worten Blochs: »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.« 2 Ausgangspunkt des Blochschen Philosophierens ist das »Ich bin« oder besser das »Bin«, jenes unvordenkliche Existieren, das wir immer schon sind und dem wir nie habhaft werden können, weil es als Existierendes dem Denken immer unergründlich vorausbleibt, jedoch selber das uns Drängende ist. Es – und damit uns – denkend wie handelnd zu bestimmen und so im Werden voranzuschreiten, ist Aufgabe unseres Philosophierens. Dieses »Bin« ist nicht fassbar, ist das »Dunkel des gelebten Augenblicks«, das all unser Selbstsein begleitet, ja drängend vorwärtstreibt. »Daß man lebt, ist nicht zu empfinden. Das Daß, das uns als lebendig setzt, kommt selbst nicht hervor. Es liegt tief unten, dort, wo wir anfangen, leibhaft zu sein«. 3 Was uns hier so uranfänglich antreibt und lebendig drängt, ist noch nicht das Selbst, in dem wir uns zu haben versuchen, sondern ist das Existierende, das sich Regende und Treibende unseres lebendigen Leibes; so ist der »Hunger« dasjenige, womit gleichsam alles anfängt. Aber der Trieb der Selbsterhaltung des Leibes, der sich im Hunger äußert, bleibt – wie alle anderen Treibe auch – nicht starr, sondern wandelt sich mit der Art und den Inhalten, wie er Befriedigung erhält, und dies nicht nur individuell-lebensgeschichtlich, sondern ebenso gesellschaftlich-kulturgeschichtlich. »So bedeutet Selbsterhaltung letzthin den Appetit, unserem sich entfaltenden, erst in und als Solidarität sich entfaltenden Selbst angemessenere und eigentlichere Zustände parat zu halten. Rücken diese Zustände heran, so bereitet sich an ihnen Selbstbegegnung vor«. 4 Damit sind wir aber bereits bei dem »Prinzip Hoffnung«, das unserem Leben einen Zielinhalt gibt, solange wir leben. Diese Hoffnung ist nichts von außen Hinzukommendes und auch nicht etwas, dem wir uns entziehen können, sondern es ist die Grundgerichtetheit unseres menschlichen Lebens auf ein erfülltes Dasein für uns als InErnst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie (1963/1970): 13. Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 49. Vgl. Rainer Zimmermann, Subjekt und Existenz. Zur Systematik Blochscher Philosophie (2001). 4 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 77. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999), darin: Bloch – Suche nach uns selbst ins Utopische: 210 ff. 2 3

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dividuen und als Menschheit. Dort, wo die Hoffnung für den Einzelnen und bezogen auf die anderen total zusammenbricht, da entzieht sich der Mensch auch dem Weiterleben durch den Tod. Insofern ist das »Prinzip Hoffnung« die nach vorne, in die Geschichte gerichtete Hoffnung unseres nach Erfüllung drängenden Menschseins. »Hoffnung, dieser Erwartungs-Gegenaffekt gegen Angst und Furcht, ist deshalb die menschlichste aller Gemütsbewegungen und nur Menschen zugänglich, sie ist zugleich auf den weitesten und den hellsten Horizont bezogen.« 5 Aus der Hoffnung unseres Existierens heraus »bilden sich Tagträume. Sie kommen allemal von einem Mangel her und wollen es abstellen, sie sind allesamt Träume von einem besseren Leben«. 6 Aber sie kämen nicht weit, blieben sie Träume und Wunschbilder eines nicht voll in das Bestehende integrierten Bewusstseins, wäre die Wirklichkeit bereits eine in sich abgeschlossene und fertig gewordene. Das Gegenteil trifft zu: Unser antizipierendes Bewusstsein, das auf das ihm Noch-Nicht-Bewusste ausgreift, ist Teil unseres lebendigen, nach Erfüllung drängenden Existierens und vermag dieses daher in der Richtung seiner hervorbringenden Produktivität anzuleiten. All dies aber nur deshalb, weil unser lebendiges Existieren selbst Teil einer existierenden Wirklichkeit ist, die ein noch ganz und gar unabgeschlossener Prozess ist, den wir Welt nennen, und in den wir in unserer menschlichen Weise des Existierens und hervorbringenden Eingreifens selbst als ein Moment des noch offenen Prozesses hineingestellt sind. Auch der Gesamtprozess der Welt hat eine Zukunft vor sich, die noch nicht festgestellt ist, in ihm liegen noch Latenzen und wirken Tendenzen, zu denen die Menschheitsgeschichte als eine gehört, die aber insgesamt noch nicht entschieden sind. »Vieles in der Welt ist noch unabgeschlossen. Freilich ginge auch inwendig nichts um, wäre das Auswendige völlig dicht. Draußen aber ist das Leben so wenig fertig wie im Ich, das an diesem Draußen arbeitet. […] Das Wirkliche ist Prozeß; dieser ist die weitverzweigte Vermittlung zwischen Gegenwart, unerledigter Vergangenheit und vor allem: möglicher Zukunft.« 7

5 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 83 f. Vgl. Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken (1988/1997): 188 ff. 6 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 85. Vgl. Burghart Schmidt, Kritik der reinen Utopie. Eine sozialphilosophische Untersuchung (1988). 7 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 225.

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Bloch knüpft hier an die Naturphilosophie Schellings an, und er ist damit einer der ganz wenigen Denker, die sich nicht vom Strom des Zeitgeistes mitreißen lassen, denn seit mehr als 180 Jahren wagt die Philosophie nicht mehr philosophisch die Natur zu bedenken, sondern hat diese gänzlich dem theoretischen und experimentellen Zugriff der Naturwissenschaften überlassen. Durch deren Zugriff allerdings gerinnt die Natur zu einem objektivierten Gesetzesgefüge, wodurch zwar ermöglicht wird, dass wir uns die Natur technisch verfügbar machen können, wodurch gleichzeitig aber die Natur für uns jeglichen eigenen Lebensimpulses beraubt wird, mit zunehmend verheerenden Folgen für uns. Ganz anders bedenkt Schelling die Natur, und Bloch schließt sich ihm hierin völlig an. Er versucht die Natur aus ihrem eigenen Produzieren und existentiellen Wirklichsein zu begreifen. 8 Wir sind dazu befähigt, da wir selbst in die Natur existentiell miteinbezogen sind, ja in unserem eigenen menschlichen Produzieren in ganz spezifischer Weise teilhaben am Produzieren der Natur. Unser eigenes Wirklichsein wäre unverständlich, könnten wir es nicht aus dem Wirklichsein der Natur begreifen, durch das wir nicht nur hervorgebracht sind, sondern das weiterhin sowohl außer uns als auch in uns selbst noch wirksam ist. So sagt Bloch auf Schelling Bezug nehmend: »Wie anders aber wirkt ein Empfinden nun ein, das ganz einfühlend sich ins Draußen wandte. Und nicht nur einfühlend, sondern so kräftig wie lebendig mitmachend, um in einem derart sich einschwingenden Denken so untrocken zu bleiben wie der Fluß der Dinge selber. Der frühe Schelling gab dazu das zustimmende Zeichen […]. So setzte er die Natur, wo sie erstarrt, auch völlig quantifiziert schien, in ihren krafthaften, schöpferischen, ja vorkörperlichen Fluß. […] Die ersten Schriften Schellings (bis 1801) befassen sich ausschließlich mit diesem Mitwissen des erzeugenden, gärenden tätigen Wegs, der zur Materie führt und zugleich deren Weg ist. Schelling will die Materie aus den Kräften dieser Urtätigkeit, den anziehenden und abstoßenden, nochmals entstehen lassen, gleichsam vor den Augen des Lesers, doch

Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996): 66 ff. sowie Rainer Zimmermann, Die Rekonstruktion von Raum, Zeit und Materie. Moderne Implikationen Schellingscher Naturphilosophie (1998).

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ebenso im Objekt selber; er glaubt also die Materie ›einleuchtend zu machen‹.« 9 Die Naturphilosophie hat die Natur, und zwar bereits die sogenannte anorganische Materie, so in den ihr zugrundeliegenden dynamischen Potenzen zu begreifen, dass daraus verstehbar wird, wie sie aus sich selbst heraus lebendige Organismen hervorbringen konnte und kann. Im Organismus tritt die Produktivität der Natur in der Gestalt eines potenzierten Produzierens hervor in der Gestalt des sich selbst regulierenden Produzierens. Aber erst im menschlichen Bewusstsein bringt die Natur aus sich selbst – bewusstlos zwar – eine Potenz hervor, in der nicht nur der Mensch zu sich selbst kommen, in ein selbstbewusstes Verhältnis zu sich als Individuum und als kulturelle Gemeinschaft treten kann, sondern mit der auch erstmals eine aus der Natur produzierte Gestalt der Natur auftritt, von der her auch die ganze Natur in ihrem vorausgehenden Werdeprozess begriffen werden kann. »Damit« – so führt Bloch in der Tübinger Einleitung aus – ergibt sich »auch der Begriff einer gärenden, vor allem prozeßhaften Materie, die sich physisch zum Licht, organisch zum Bewußtsein zu organisieren versteht. Der junge Schelling ging den leider bald vergessenen Weg dieses neu-epikurischen und, über Paracelsus, zugleich neu-alchymischen Begriffs; mit dem Menschenkind als eigenem Kind der Materie selber, worin sie ein Auge aufschlägt, sich reflektiert.« 10 Worauf aber Bloch mehr noch als Schelling insistiert, ist, dass dieser Gesamtprozess der Natur als hervorbringendes Existieren und Werden auch naturhaft noch keineswegs abgeschlossen ist, sondern noch Möglichkeiten, Latenzen und Tendenzen in sich birgt, die ihr einen offenen Zukunftshorizont verleihen. »[E]s gibt eben deshalb solche Real-Chiffern, weil der Weltprozeß selber eine utopische Funktion ist, mit der Materie des objektiv Möglichen als Substanz. Die utopische Funktion der menschlich bewußten Planung und Veränderung stellt hierbei nur den vorgeschobensten, aktivsten Posten der in der Welt umgehenden Aurora-Funktion dar: des nächtlichen Tags, worin alle Real-Chiffern, das heißt Prozeßgestalten noch geschehen und sich befinden.« 11 Ernst Bloch, Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Substanz (1972): 216. 10 Bloch, Tübinger Einleitung (1963/1970): 203. 11 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 203. 9

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Damit sind wir erneut auf uns als Menschen zurückverwiesen, jedoch nun nicht auf das existentielle »Bin« jedes Einzelnen von uns, sondern auf das »Wir« gesellschaftlich-geschichtlicher Praxis. Denn gerade durch die Potenz des Bewusstseins sind die Menschen nicht nur in der Lage, die Welt als einen Prozess, in den sie einbezogen sind, zu erkennen, sondern auch in ihn – nach Maßgabe ihrer sich geschichtlich erweiternden Produktivkräfte – bewusst verändernd einzugreifen. »Der Mensch ist dasjenige, was noch vieles vor sich hat. Er wird in seiner Arbeit und durch sie immer wieder umgebildet. Er steht immer wieder vorn an Grenzen, die keine mehr sind, indem er sie wahrnimmt, er überschreitet sie. Das Eigentliche ist im Menschen wie in der Welt ausstehend, wartend, steht in der Furcht vereitelt zu werden, steht in der Hoffnung zu gelingen. Denn was möglich ist, kann ebenso zum Nichts werden wie zum Sein: das Mögliche ist als das nicht voll Bedingte das nicht Ausgemachte.« 12 Gerade weil das Kommende nicht ausgemacht ist, sondern in den in unserer Macht stehenden Momenten in die Mitentscheidung des Menschen gestellt ist, kann Bloch den schöpferisch tätigen, den auf eine bessere Welt hin »arbeitenden Menschen«, als den eigentlichen »archimedischen Punkt« bezeichnen. Gemeint sind natürlich nicht die vereinzelten Einzelnen, sondern die solidarisch auf das gemeinsame Ziel einer besseren Zukunft hin kooperierenden Menschen – und sie können auch keineswegs beliebig die Welt aus den Angeln heben, sondern jeweils nur nach den ihnen eigentümlichen Potenzen, den geschichtlich erschlossenen menschlichen Produktivkräften. »Der Mensch und seine Arbeit ist derart im historischen Weltvorgang ein Entscheidendes geworden; mit der Arbeit als Mittel zur Menschwerdung selber, mit den Revolutionen als Geburtshelfern der künftigen Gesellschaft, womit die gegenwärtige schwanger ist […]. [Er steht] an der Front des Weltprozesses, wo die Entscheidungen fallen, neue Horizonte aufgehen. Und der Prozeß in diese Zukunft ist einzig der der Materie, die sich durch den Menschen als ihrer höchsten Blüte zusammenfaßt und zu Ende bildet.« 13

12 13

Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 284 f. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 286, 285.

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II. Mit keinem Philosophen hat sich Ernst Bloch so intensiv auseinandergesetzt wie mit Hegel, keinen bewundert er mehr als ihn – vielleicht Marx ausgenommen – und von keinem Denkansatz möchte er sein Philosophieren doch so entschiedener abgehoben wissen wie gerade von dem Hegels. Eines seiner philosophischen Hauptwerke Subjekt-Objekt ist allein der Auseinandersetzung mit Hegel gewidmet 14, aber auch das Grundlegungskapitel »Das antizipierende Bewußtsein« seines Hauptwerks Das Prinzip Hoffnung will eine Gegenperspektive zu Hegels Phänomenologie des Geistes eröffnen, und seine drei systematischen Schriften: Das Materialismusproblem, Naturrecht und menschliche Würde sowie Experimentum Mundi sind so etwas wie Gegenstücke zur Naturphilosophie, Gesellschaftsphilosophie und zur logischen Kategorienlehre – in bewusster Umreihung ihrer Folge bei Hegel. Für Bloch ist Hegels System insgesamt eine Prozess-Philosophie, aber eine Prozess-Philosophie, für die der Prozess bereits abgeschlossen und begrifflich vorwegentschieden ist und den die Philosophie daher nur noch nachzuvollziehen hat, während es Bloch um ein Denken zu tun ist, das sich aus dem Prozess, mitten in ihm und ihn voranbringend zu verstehen versucht. Deshalb kritisiert er – im ausdrücklichen Anschluss an den späten Schelling –, dass Hegel sein System mit der Logik beginnt. 15 Denn wenn die Logik – wie bei Hegel – als die Bewegung der Kategorien des reinen Denkens, in denen alles Seiende begriffen wird, bereits der Natur- und Geistesphilosophie vorgeordnet wird, so versteht es sich von selbst, dass diese kategorialen Vorgriffe den realen Prozessen von Natur und Geschichte keinen Raum für ein Werden von Neuem lassen, sondern diese immer schon als geschlossene nehmen, bevor sie überhaupt in ihrer Prozesshaftigkeit bedacht worden sind. Bloch reiht daher in Experimentum Mundi seine Kategorienlehre bewusst seinen natur- und gesellschaftsphilosophischen Überlegungen nach und fasst die Kategorienlehre auch nicht als Begriff des Seins, denn auch ein solcher Begriff würde festlegen, was als Prozess noch offen ist, vielmehr versucht er die Kategorien als Explikationsformen Ernst Bloch, Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel (1949/1962). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Existenz denken. Schellings Philosophie von ihren Anfängen bis zum Spätwerk (2015): 262 ff., 341 ff.

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eines Denkens zu bestimmen, das sich selber als Moment des noch offenen Werdeprozesses versteht; so endet auch die Kategorienlehre mit der Kategoriengruppe »Realisierung: Theorie – Praxis«. Die philosophische Systematik beginnt für Bloch dagegen – auch hier zeigt er große Verwandtschaft mit Schelling – mit der naturphilosophischen Problematik, der noch unabgeschlossenen Produktivität der Natur oder der noch werdenden Materie. Auch Hegel ordnet – angeregt von Schelling – seiner Philosophie des Geistes eine Naturphilosophie vor, dies rechnet ihm Bloch auch sehr hoch an, denn die Natur wird hier – nicht so dynamisch wie bei Schelling, aber immerhin – als »dialektische Entwicklungsgeschichte zum Menschen« 16 verstanden. Aber bei Hegel ist – im Gegensatz zu Schelling – die Natur mit der Entstehung der geistigen Welt in ihrem Werden vorbei und abgetan, ist nur noch Grundlage, Material und Stoff für das geschichtliche Werden des Menschen. So zitiert Bloch als eine ihm total entgegenstehende Einstellung zum Kosmos den Satz von Hegel: »Das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mut des Erkennens Widerstand leisten könnte, es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Tiefen ihm vor Augen legen und zum Genusse bringen.« 17 Bloch antwortet dem entschieden entgegentretend: »Recht im Gegenteil dazu heißt der Träger des Prozesses Materie und ist ein Wesen, das keineswegs an sich schon, gleich der sogenannten Weltidee, das Subjekt mit dem Objekt zusammenschließt, es sei denn, in Gefolge harter, eben durch Mühe des Widerstands geschärfter Arbeit. Das noch verschlossene Wesen des Universums, das gerade als Materie noch in einem unabgeschlossenen Prozeß seiner Objektivierungen liegt, läßt sich am wenigsten als bereits Fertiges, gar überschwenglich Sonnenklares abspiegeln oder deklarieren. […] Das Weltgeheimnis selber liegt nicht in einer Art kosmoanalytischer Abfallgrube, sondern im Horizont der zu gewinnenden Zukunft.« 18 Eigentlich erfüllt nur Hegels Philosophie des Geistes und hier wiederum die Gesellschafts- und Geschichtsphilosophie das Kriterium, Prozess-Philosophie zu sein. Aber auch hier »kreist« Hegel – wie Bloch kritisiert – »das Werden der Zukunft aus, weil sie nicht

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Bloch, Subjekt – Objekt (1949/1962): 207. Zitiert von Bloch nach G. W. F. Hegel, Werke, Berlin 1840, VI: XL. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 148.

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gleich dem Vergangenen erinnerbar und betrachtend wißbar ist.« 19 Hegel selbst hat immer wieder hervorgehoben, dass Philosophie nur den vergangenen Prozess erkennen könne und als gewordenen zu rechtfertigen habe. Diesem Verständnis der Philosophie als bloßem Begreifen im Nachhinein eines bereits abgeschlossenen Prozesses stellt Bloch sein ganzes Werk entgegen – und hier nun ruft er Marx als Zeugen an –, so vor allem im Kapitel »Weltveränderung oder die elf Thesen von Marx über Feuerbach« in Das Prinzip Hoffnung. 20 Unter dem Stichwort »Wissen nicht nur auf Vergangenes, sondern wesentlich auf Heraufkommendes bezogen« führt Bloch aus: »Es herrscht die Gegenwart zusammen mit dem Horizont in ihr, der der Horizont der Zukunft ist, und der dem Fluß der Gegenwart den spezifischen Raum gibt, den Raum neuer, betreibbar besserer Gegenwart. Also wurde die beginnende Philosophie der Revolution, das ist, die Veränderbarkeit zum Guten, allerletzt aus und im Horizont der Zukunft eröffnet; mit Wissenschaft des Neuen und Kraft zu seiner Leitung. […] Erst der Horizont der Zukunft, wie ihn der Marxismus bezieht, mit dem der Vergangenheit als Vorraum, gibt der Wirklichkeit ihre reelle Dimension.« 21 Die ganze Schärfe des Gegensatzes zwischen Hegel und dem Marxismus, wie ihn Bloch vertritt, wird uns jedoch erst dort deutlich, wo wir die Gesamtheit der Menschheitsgeschichte auf ihr mögliches Ende hin bedenken. Diese Fragestellung ist ja auch eine, die Blochs Philosophieren von Anbeginn bewegt – so heißt das letzte Kapitel von Geist und Utopie bereits »Karl Marx, der Tod und die Apokalypse«. 22 Doch versuchen wir zunächst eine Skizze der Hegelschen Konzeption der Weltgeschichte zu geben. Bekanntlich bestimmt Hegel die Weltgeschichte sehr hoffnungsvoll als die »schwere, lange Arbeit« des Geistes zum »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit«. 23 Dieser »Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit« wird von den geschichtlich handelnden Individuen oder einzelnen Staaten nicht eigentlich intenBloch, Subjekt – Objekt (1949/1962): 227. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 179 ff. 21 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 329, 332. 22 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Bildung, Emanzipation und Sittlichkeit. Philosophische und pädagogische Klärungsversuche (1993), darin »Wider Barbarei und Apokalypse. Zu Ernst Blochs Philosophie des aufrechten Gangs«: 223 ff. 23 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, 12: 32. 19 20

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diert und gewollt hervorgebracht, sondern er setzt sich als »List der Vernunft« hinter dem Rücken der Absicht der Handelnden durch, jedoch gleichwohl von deren Taten und Entscheidungen vorangetrieben. Für Hegel ist es daher unmöglich, auf ein weltgeschichtliches Ziel hin zu agieren, die höchste Identifikation des handelnden Individuums ist die mit seinem Volk und seinem Staat. Aber auch die Staaten können sich immer nur in ihrem eigenen sittlichen Zusammenleben intendieren und nach außen gegen andere Staaten behaupten, ohne Möglichkeit einer gewollten Einflussnahme auf die Weltgeschichte. Gleichwohl vollzieht die Weltgeschichte unerbittlich ihr Weltgericht – wie Hegel sagt – über die Handlungen der Individuen und Staaten, durch das, was daraus wird; von den geschichtlichen Folgen her, vom Aufstieg und Untergang der Staaten und ihrer sittlichen Verfassung her vermag die Philosophie dieses Weltgericht, das die Geschichte selber vollzieht, nachzubegreifen. 24 Bloch wehrt sich nun keineswegs gegen die Grundkonzeption der Hegelschen Geschichtsphilosophie, dass die Weltgeschichte die listig voranschreitende Bewusstwerdung und Verwirklichung von Freiheit sei; im Gegenteil: Gerade dies unterstreicht das von ihm hervorgehobene »Prinzip Hoffnung« als treibendes Motiv in uns und im Prozess der Geschichte. Wogegen sich Bloch wendet, ist, dass nach Hegel die Weltgeschichte und ihr Weltgericht – für die handelnden Individuen immer nur Schicksal bleiben soll, dass es hier bei Hegel nur eine von der Philosophie nachzuvollziehende »Verwirklichung des allgemeinen Geistes«, aber keinen Fortschritt im weltgeschichtlichen Bewusstsein und gesellschaftlichen Handeln der Individuen geben soll. Hier nun sieht Bloch die entscheidende Leistung der revolutionär-kritischen Philosophie von Marx, die nicht nur die List der weltgeschichtlichen Vernunft als die gesellschaftliche Produktionsgeschichte entlarvt, sondern darüber hinaus durch seinen philosophischen Ansatz die Menschen in die Aufgabe und Verantwortung weltgeschichtlicher Praxis beruft. »Marx nahm sie [Hegels Lehre von der List der Vernunft] mutatis mutandis auf, stellte sie, gleich der Dialektik, auf materielle Füße. Die List der Vernunft wird hier konkret als die sich immer wieder durchsetzende Macht des ProduktionsproVgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999), darin: »Vom Sinn und Ende der Geschichte. Fragen an Hegel und Marx angesichts des Exterminismus«: 290 ff.

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zesses: dieser ist der materialistischen Dialektik der wirkliche Drahtzieher der bisherigen Geschichte, ist das bisher undurchschaute historische ›Schicksal‹. […] In dieser Dialektik, hinter dem Rücken der Individuen und ihres unmittelbaren Bewußtseins, lebt nun das Lebendig-Wirkliche der Hegelschen Geschichtsphilosophie fort. Sowohl in Ansehung der List der Vernunft wie besonders der Freiheit, die sich darin schließlich durchsetzt. […] ›Fortschritt im Bewußtsein‹ ist das wachsende Dabeisein des Menschen bei der Erzeugung der Geschichte als seiner von ihm gemachten, begriffenen und eigenen.« 25 Hier wird deutlich, dass für Bloch die Weltgeschichte ein Vorwärtsschreiten auf Befreiung hin immer schon war und immer sein wird, darin weiß er sich mit Hegel einig, aber wir, die wir die Weltgeschichte als diesen Prozess durch uns hindurch begreifen, können sie nicht mehr sich selbst überlassen, sondern sind aufgerufen, bewusst auf dieses Ziel der Befreiung, der Solidarität unter den Menschen und der Allianz mit der Natur in weltgeschichtlichem Maßstab hinzuwirken. Dies ist für Bloch die Botschaft der Marxschen Thesen über Feuerbach: »Das Ergebnis ist nicht abgeschlossen, denn es ist selber ein einziges Vorwärts in der veränderbaren, Glück implizierenden Welt. So bekundet die Gesamtheit der ›Elf Thesen‹ : die vergesellschaftete Menschheit im Bunde mit einer ihr vermittelteten Natur ist der Umbau der Welt zur Heimat.« 26 Mit Recht tritt hier, wo die Totalität menschlicher Geschichte als noch offener Prozess betrachtet wird, erneut die Natur in den Horizont der Problemanalyse, denn menschliche Geschichte ist als Ganzes selbst eingebettet in den nicht abgeschlossenen Prozess der Natur. Geschichte könnte nicht verändernder Umbau der Welt sein, hätte nicht die »Natur« in uns Produktivkräfte zur bewussten Umgestaltung freigegeben; aber auch nur über unsere geschichtlich gebildeten Produktivkräfte kann ein bewusster Umbau der Welt zum Frieden gelingen, auf den hin der Prozess der Weltwerdung immer schon drängte – dies ist der tiefste Kern der Blochschen Ontologie des Noch-Nicht-Seins. »Ohne Materie ist kein Boden der (realen) Antizipation, ohne (reale) Antizipation kein Horizont der Materie erfaßbar. Die reale Möglichkeit wohnt derart in keiner fertig gemachten Ontologie des Seins des bisher Seienden, sondern in der stets neu zu begründenden Ontologie des Seins des Noch-Nicht-Seienden, wie sie 25 26

Bloch, Subjekt – Objekt (1949/1962): 236 f. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 334.

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Zukunft selbst noch in der Vergangenheit entdeckt und in der ganzen Natur.« 27 Bloch ist einer der ersten Denker, der im Rückgriff auf Schelling und Marx noch vor Ausbruch der allgemeinen Debatte um die ökologische Krise das Problem einer Allianz zwischen Mensch und Natur – vor allem im Kapitel »Wille und Natur« in Das Prinzip Hoffnung – aufgreift und durchdenkt. So wie dort, wo die Geschichte noch nicht als die gemeinsame Arbeit auf eine solidarische Gesellschaft hin begriffen ist, Produktionsverhältnisse dominant werden, die den arbeitenden Menschen unterdrücken und ausbeuten und sich somit hemmend dem Fortschritt des Geschichtsprozesses zur Freiheit in den Weg stellen, so treten auch dort, wo wir die Natur nicht mehr und noch nicht wieder als werdenden Prozess begreifen, wissenschaftlich-technische Verhaltensformen auf, die die Natur als beliebig auszubeutenden und manipulierbaren Stoff behandeln. Aber diese zunehmende Entfremdung des Menschen von der ihn selber tragenden lebendigen Basis der Natur schlägt letztlich auf den Menschen selbst zurück: Die Menschheitsgeschichte kann sich nicht gegen den alles umgreifenden Naturprozess durchsetzen, sondern sich nur nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten menschlicher Praxis in Allianz mit ihm verwirklichen; letztes Ziel von Geschichte und Naturprozess ist daher – wie Bloch im Anschluss an den jungen Marx formuliert – die »Naturalisierung des Menschen und Humanisierung von Natur«: »An Stelle des Technikers als bloßen Überlisters oder Ausbeuters steht konkret das gesellschaftlich mit sich selbst vermittelte Subjekt, das sich mit dem Problem des Natursubjekts wachsend vermittelt. Wie der Marxismus im arbeitenden Menschen das sich real erzeugende Subjekt der Geschichte entdeckt hat, wie er es sozialistisch erst vollends entdecken, sich verwirklichen läßt, so ist es wahrscheinlich, daß Marxismus in der Technik auch zum unbekannten, in sich selbst noch nicht manifestierten Subjekt der Naturvorgänge vordringt: die Menschen mit ihm, es mit den Menschen, sich mit sich vermittelnd.« 28 Naturwissenschaft und Technik haben in unserem Jahrhundert einen gigantischen Schritt nach vorne gemacht – so hebt Bloch hervor: Quantentheorie und Strahlungstechnologie kommen nahe an die subatomaren Produktivkräfte heran, die unser Weltall erbaut haben, 27 28

Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 274. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 787.

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aber sie dringen an ihren theoretischen und praktischen Fronten in diesem Bereich vor, ohne doch zu wissen, mit was sie es eigentlich zu tun haben und ohne daher auch die verantwortliche Kontrolle über ihr Tun ausüben zu können. In der modernen Naturwissenschaft und Technik zeigt sich wachsend ein innerer Widerspruch; einerseits dringen sie immer tiefer in die innersten Geheimnisse der Natur ein – gleichsam in Erfüllung der kühnsten Träume der Magier und Alchimisten vergangener Jahrhunderte –, andererseits hat sich Wissenschaft und Technik in einer lebensbedrohenden Weise von Mensch und Natur entfernt, hat sich ihnen entfremdet. Der Widerspruch der modernen Naturwissenschaft und Technik zum natürlichen und menschlichen Lebenszusammenhang vergrößert sich immer mehr und nimmt in den technischen Unfällen immer gigantischere Ausmaße an; immer mehr geht der Anschluss der wissenschaftlich-technischen Entwicklung zu den menschlichen Bedürfnissen und den natürlichen Lebenskreisläufen verloren. Wenn wir dieser entfremdeten Gestalt unseres gegenwärtigen bewusstlosen »Fortschritts«, der darin zugleich auch Rückschritt ist, entkommen wollen, so bedarf es einer grundsätzlichen Umkehr = Revolutionierung auch unseres wissenschaftlichen Denkens und technischen Handelns. Die Möglichkeiten dazu sind uns durchaus gegeben und kommen an gewissen Grenzerfahrungen der gegenwärtigen Naturwissenschaft und Technik selbst – wenn auch noch sehr bewusstlos – zum Vorschein. Um denkerisch die Anknüpfungspunkte für eine Umkehr zu gewinnen, müssen wir uns zunächst stärker auf unser eigenes wirkliches Natursein im gesamten Lebens- und Produktivitätszusammenhang besinnen. Diesen ersten Schritt behandelt Bloch in dem Abschnitt: »Elektron des menschlichen Subjekts und Willenstechnik«, worin er vor allem an ostasiatische Körper- und Bewusstseinsbeherrschungstechniken erinnert, aber auch an den RenaissanceDenker und Mediziner Paracelsus (Theophrastus Bombast von Hohenheim). Gerade die ausschließliche Konzentration auf rationalistische Wissenschaften und äußere Naturbeherrschung in unserer europäischen Tradition hat die Zugangsweise zur Natur in uns selber verkümmern lassen oder gar ganz verschüttet. »Daß in der menschlichen Materie eine schlafende Potenz sei, die ihre Kräfte selber nicht kennt, die zwar in tausendfachen ungeregelten Erfahrungen, aber in keiner einzigen angemessenen Theorie vorkommt. Hier steckt Zukunft, ein legitimes Problem der Zukunft, es gibt in der Tat einen 214 https://doi.org/10.5771/9783495817704 .

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ungeheuren Kraftbehälter, der auf dem Gipfel unseres Bewußtseins liegt. […] Das mögliche Aktionsfeld des Menschen in der Natur ist zuverlässig umfangreicher, unabgeschlossener; und es kann das sein auf Grund jenes möglichen Subjekts der Natur, das nicht bloß subjektiv, auch objektiv sich ausgebärt und utopisch dynamisiert.« 29 Aber dies ist nur der eine Zugang zur Lebendigkeit der Natur, der uns unsere eigene Natur erschließt. Der andere Weg führt uns dahin, dass wir die Natur als Ganzes nicht mehr nur als einen gesetzmäßigen Mechanismus missverstehen, sondern – wie die Naturphilosophie von Leibniz bis Schelling – wieder als einen sich selbst produzierenden Zusammenhang erfassen. Dies diskutiert Bloch im Abschnitt: »Mitproduktivität eines möglichen Natursubjekts oder konkrete Allianztechnik«. Schließlich ist es doch die Natur selber, die aus sich heraus Leben hervorgebracht hat und innerhalb des Lebens das menschliche Bewusstsein, das nun in der Lage ist, die Natur zu erkennen und bewusst produktiv in sie einzugreifen. In unserer bloß mechanischen Konstruktion der Welt leugnen wir diesen Produktionszusammenhang, zerstören aber gerade dadurch die natürlichen Potenzen des Lebens und des Bewusstseins. »In Wirklichkeit aber hat sie [die Natur] weder ausgeblüht, noch ist die menschliche Geschichte, in ihrer Leiblichkeit, Umgebung und vor allem in ihrer Technik, der Natur nur als einer vergangenen verbunden. Konträr: Die endgültig manifestierte Natur liegt nicht anders wie die endgültig manifestierte Geschichte im Horizont der Zukunft, und nur auf diesen Horizont laufen auch die künftig wohlerwartbaren Vermittlungskategorien konkreter Technik zu. Je mehr gerade statt der äußerlichen eine Allianztechnik möglich werden sollte, eine mit der Mitproduktivität der Natur vermittelte, desto sicherer werden die Bildekräfte einer gefrorenen Natur erneut freigesetzt. Natur ist kein Vorbei, sondern der noch nicht geräumte Bauplatz, das noch gar nicht adäquat vorhandene Bauzeug für das noch gar nicht adäquat vorhandene Haus. […] Darum ist es sicher, daß das menschliche Haus nicht nur in der Geschichte steht und auf dem Grund der menschlichen Tätigkeit, es steht vor allem auch auf dem Grund eines vermittelten Natursubjekts und auf dem Bauplatz der Natur.« 30

29 30

Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 801. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 807.

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III. Nachdem wir nun das Auseinander und Miteinander von Natur und Geschichte bedacht haben, wobei auch hier der menschlichen Arbeit und Praxis die Aufgabe der hervorbringenden Vermittlung zufällt, drängt sich uns heute jedoch die immer bedrohlicher werdende Frage auf: Kann uns diese Allianz überhaupt gelingen, haben wir überhaupt noch genug Zeit, sie zu erreichen angesichts der rasend auf uns zurückenden Katastrophen? Ernst Bloch rechnete nach dem Zweiten Weltkrieg mit einer rascheren Expansion des Sozialismus und hoffte vor allem auf eine innere Wandlung der sozialistischen Gesellschaften bis hin zur Konzeption einer neuen konkreten »Technik ohne Vergewaltigung«. Beides ist ausgeblieben, stattdessen hat sich in immer rasenderer Entwicklung weltweit eine wertgetriebene industrielle Produktionsweise durchgesetzt, deren Folgeerscheinungen immer beängstigender werden, da sie die Grundlage unseres und allen höheren Lebens auf dieser Erde bedrohen. Die Möglichkeit einer Weltvernichtung ist inzwischen zu einer realen Tendenz in unserer Geschichte geworden, und sie wird daraus nie mehr verschwinden. 31 Angesichts der aufgehäuften Atomwaffenarsenale ist heute ein Weltkrieg fast schon gleichbedeutend mit einer Vernichtung unserer Welt, zwar versuchen beide Machtblöcke durch Aufrüstung mit verfeinerten Erstschlagtechnologien sich selbst aus der Vernichtung auszunehmen, doch ist durch die hierbei entwickelte und sich selbst regulierende Technologie gleichzeitig die ungewollte Selbstvernichtung der Menschheit durch eine technische Fehlleistung unendlich wahrscheinlicher geworden als ein geplantes menschliches Überleben der Menschheit. Neben Ernst Bloch hat sich fast zeitgleich auch Martin Heidegger in Vorträgen, die in dem Büchlein Die Technik und die Kehre (1962) 32 erschienen sind, diesem Problem unseres wissenschaftlichtechnischen Umgangs mit der Natur und der darin implizierten Gefahr gestellt. Bloch und Heidegger beziehen sich dabei auf einen Hölderlin-Vers aus der Hymne Patmos: Vgl. Günther Anders, Endzeit und Zeitenende, München 1972. Edward P. Thompson, »›Exterminismus‹ als letztes Stadium der Zivilisation«, in: Das Argument 127 (1981): 326 ff. 32 Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962). 31

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»Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« 33 Kann uns heute noch aus dem Bedenken dieses Hölderlin-Wortes Hoffnung und Kraft erwachsen für das Rettende? Martin Heidegger nennt die Technik in ihrer gegenwärtigen Entwicklung eine Gefahr für den Menschen und nicht nur für ihn; wobei »das Gefährlichste der Gefahr« darin liegt, dass sie uns verhüllt bleibt, dass sie uns die Einsicht in das Gefährdende verstellt, da »es immer noch und immer wieder« so aussieht, – wie Heidegger sagt – »als sei die Technik ein Mittel in der Hand des Menschen«, die er nach seiner Willkür und seinen beliebigen Zwecksetzungen zu handhaben vermag. »In Wahrheit ist jetzt das Wesen des Menschen dahin bestellt, dem Wesen der Technik an die Hand zu gehen« 34, denn das Wesen der Technik – nicht ihre gegenwärtige technische Gestalt – ist das Hervorbringen und das Entbergen der Möglichkeiten des Seins. In der gegenwärtigen Anwendung und im Selbstverständnis der Technik und ihres gesamten Mechanismus, den Heidegger »Gestell« nennt, liegt also eine grundlegende Verkehrung. »Sagt dies, der Mensch sei der Technik ohnmächtig auf Gedeih und Verderb ausgeliefert? Nein. Es sagt das reine Gegenteil«. 35 Denn »das Gestell«, die Technik, »ist, obzwar verschleiert, noch Blick, kein blindes Geschick im Sinne eines völlig verhangenen Verhängnisses.« 36 Daher ist auf eine »Kehre« zu hoffen. Aber die »Kehre« ist nicht etwas, was wir technisch erwirken können, oder die wir willkürlich in menschlicher Selbstherrlichkeit vollziehen können. Zum Wandel der Technik werden wir nicht technisch als blinde Handlanger der Technik gebracht, sondern als Menschen, die das Wesen des Seins und sich darin gewahr werden, die sich besinnen auf das Wesenhafte ihres Existierens, die merken, »daß alles bloße Wollen und Tun nach der Weise des Bestehens (der Technik) in der Verwahrlosung beharrt.« 37 Um die Kehre zu ermöglichen, sind Menschen gefordert, die sich dem Getriebe »verweigern«, die das Getriebenwerden in sich anhalten, die sich auf ihr Wesen besinnen und dem Anspruch des Seins zu Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in 3 Bdn., hg. v. Michael Knaupp (1998), I: 447 34 Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962): 37. 35 Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962): 37. 36 Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962): 45. 37 Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962): 45. 33

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entsprechen versuchen. »Dies alles vermögen wir nur, wenn wir vor der anscheinend immer nächsten und allein als dringlich erscheinenden Frage: Was sollen wir tun, dies bedenken: Wie müssen wir denken? Denn das Denken ist das eigentliche Handeln, wenn Handeln heißt, dem Wesen des Seins an die Hand zu gehen. […] Denkend lernen wir erst das Wohnen in dem Bereich, in dem sich […] die Verwendung des Gestells (der Technik) ereignet.« 38 Hiermit wird also klargestellt, dass eine Wandlung der Technik, die der Gefahr in ihr begegnet, die eine Gefahr im Menschensein selbst ist, nicht durch technisches Wollen und Tun erwirkt werden kann, sondern nur durch ein »Sichkehren« des Menschen, der versucht, »dem Sein und dessen Anspruch zu entsprechen und im Entsprechen dem Sein zu gehören«. Dieses »Sichkehren« ist selbst aber kein rationalistisch gesteuerter Willensakt, sondern ereignet sich »blitzartig«, wo uns erstmals »die Gefahr […] als die Gefahr, die sie ist, eigens ans Licht kommt«. 39 Somit wird deutlich, was Heidegger mit dem Hölderlin-Vers anspricht; er führt dazu aus: »Wo die Gefahr als die Gefahr ist, gedeiht auch schon das Rettende. Dieses stellt sich nicht nebenher ein. Das Rettende steht nicht neben der Gefahr. Die Gefahr selber ist, wenn sie als die Gefahr ist, das Rettende. Die Gefahr ist das Rettende, insofern sie aus ihrem verborgenen kehrigen Wesen das Rettende bringt. Was heißt ›retten‹ ? Es besagt: lösen, freimachen, freien, schonen, bergen, in die Hand nehmen, wahren.« 40 Die Kehre ist etwas, was sich in uns ereignen muss, jedoch nicht erzeugt aus rationeller Entscheidung und geplantem Willensakt, sondern dem denkenden Menschen zuwächst im Ansichtigwerden der Gefahr. »Vielleicht stehen wir bereits im vorausgeworfenen Schatten der Ankunft dieser Kehre. Wann und wie sie sich geschicklich ereignet, weiß niemand. Es ist auch nicht nötig, solches zu wissen. Ein Wissen dieser Art wäre sogar das Verderblichste für den Menschen, weil sein Wesen ist, der Wartende zu sein, der das Wesen des Seins wartet, indem er es denkend hütet.« 41 Nur wenn er »dem menschlichen Eigensinn entsagt«, und ganz »Hirte des Seins« ist, entspricht der Mensch in seinem Wesen dem Anspruch des »Seins«. 42

38 39 40 41 42

Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962): 40. Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962): 40. Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962): 41. Heidegger, Die Technik und die Kehre (1962): 1. Heidegger, Die Technik und die Kehre, 445 (1962): 41.

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Diesem des denkend und wartend auf das Sein zurückgewandten Blicks stellt Ernst Bloch sein Konzept des Prinzips der Hoffnung entgegen: »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.« »[… D]ieser Hölderlinvers« – so sagt Bloch – »gibt schlechthin das positiv-dialektische Wendemoment an, dem die Furcht der Todesstelle verschwunden ist. […] Gefahr und Glaube sind die Wahrheit der Hoffnung, dergestalt, daß beide in ihr versammelt sind und die Gefahr keine Furcht, der Glaube keinen trägen Quietismus in sich hat. Die Hoffnung ist derart zuletzt ein praktischer, ein militanter Affekt, sie wirft Panier auf.« 43 Anders als bei Heidegger bleibt hier bei Bloch das Sichkehren angesichts der Gefahr nicht bei einem Sich-dem-Getriebe-Verweigern stehen, das denkend sich dem Sein zuwendet, um von dort her das Rettende zu erwarten, sondern nach Bloch wächst uns aus der Gefahr eine praktische, eine militante Hoffnung zu, die uns zu einer bewussten und gemeinsamen revolutionären Praxis ermutigt. Revolutionäre Praxis ist keine technische, auch sie verweigert sich dem Getriebe, die den Menschen zum Anhängsel einer verselbständigten Entwicklung macht; sie ist aber mehr als ein auf das Wesen des Seins gewendetes Denken, sie ist vielmehr der praktische und gemeinsame Versuch, das bestehende Verhältnis des Menschen zum anderen Menschen und zur Natur grundlegend zu verändern. Der ermöglichende Grund und der Glaube für dieses praktische Hoffen erwächst uns einerseits aus uns selbst; denn in uns ist – trotz der unser Denken und Tun verformenden Verhältnisse – noch sehr viel »Träumen nach vorwärts«, was uns über das Schlecht-Bestehende hinaustreibt. »Sich ins Bessere denken, das geht zunächst nur innen vor sich. Es zeigt an, wieviel Jugend im Menschen lebt, wieviel in ihm steckt, was wartet,« verwirklicht zu werden. 44 Andererseits ist die Welt – sowohl die natürliche als auch die gesellschaftliche – keine bereits abgeschlossene und in ihrem Entwicklungsprozess bereits vorweg determinierte, vielmehr ist sie voller Potenzen – Latenzen und Tendenzen –, die ihrer über die menschliche Praxis zu erschließenden Verwirklichung harrt. »Was 43 44

Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 127. Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 224.

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heraufkommt, ist noch nicht entschieden, was als Sumpf steht, kann durch Arbeit ausgetrocknet werden. Durch das Doppelte von Mut und Wissen kommt die Zukunft nicht als Geschick über den Menschen, sondern der Mensch kommt über die Zukunft und tritt mit dem Seinen in sie ein.« 45 Dies begründet aber nur die Verankerung des Hoffens im Möglichen in uns und im Weltprozess, deren Teil wir selbst sind. Dies gibt uns jedoch noch keineswegs die Gewissheit, dass uns je die Verwirklichung einer besseren Zukunft den bestehenden Verhältnissen und Entwicklungsmechanismen zum Trotz erreichbar sein wird. Gerade darin haben wir die Gefahr zu sehen, dass wenn wir den Geschichtsprozess allein dem Getriebe der gegenwärtigen Entwicklung überlassen, ganz sicher die Zukunft als ein katastrophales Geschick über uns kommt. Da der »Geschichtsprozeß«, »infolge eines noch nicht verwirklichten Treibens- und Ursprungs-Inhalts, noch ein unentschiedener ist, kann seine Mündung ebensowohl das Nichts wie das Alles, das totale Umsonst wie die totale Gelungenheit sein.« 46 Deshalb aber ist der »arbeitende Mensch«, der revolutionärpraktische Mensch selber notwendig der »archimedische Punkt«, durch den sich die Not wenden kann; nicht – gerade nicht – die sich selbst, d. h. den herrschenden Mächten überlassene Welt kann sich zum Besseren wenden, nur durch die revolutionäre Praxis derer, die die Gefahr erkennen und sich ihr entgegenstellen, besteht Hoffnung auf eine humanere Gesellschaft und ein versöhntes Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Mit der Gefahr wächst, in der revolutionären Praxis derer, die sie erkennen und ihr entgegentreten, das Rettende. »Dadurch hat der vorgerückte Zustand des Nichts, der in der Geschichte immer stärker ausbrechende« Zustand möglicher Weltvernichtung, »der Dialektik zum Alles selber konstitutive Macht gegeben. Utopie dringt vor, im Willen des Subjekts wie in der TendenzLatenz der Prozeßwelt«. 47 Solange wir leben und leben wollen, werden wir auch das Hoffen nicht in uns tilgen können, es ist dies ein Hoffen nicht auf Hilfe von außen, sondern auf die noch nicht ausgeschöpften Potenzen in uns in Vermittlung mit den noch nicht ausgeschöpften realen Möglichkeiten Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 227. Vgl. Ulrich Sonnemann, Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals (1969). 46 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 222. 47 Bloch, Das Prinzip Hoffnung (1959/1967): 363. 45

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im Natur- und Geschichtsprozess. Aber angesichts der wachsenden Bedrohung reicht dieses Hoffen nicht aus, es muss zum militanten Hoffen einer revolutionären Gegenbewegung gegen das drohende Unheil werden. »Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch, das ist die beste Hoffnung, doch wo das Rettende ist, wächst auch die Gefahr, das gehört gleichfalls zum Ende und macht die geprüfte Hoffnung aus, die keineswegs bereits garantierte, sondern eben militante […]. Das Vorhandensein des Widersacherischen […] ruft genau und unnachlaßlich das rebellierend Prometheische hervor […]. Es gibt keinen anderen Optimismus als einen militanten und dementsprechend erst recht keinen sonst so verdächtig lähmenden Pessimismus außer einen militanten […] Denn das Reale enthält in seinem Sinn die Möglichkeit eines Seins wie Utopie, das es gewiß noch nicht gibt, doch es gibt den fundierten, fundierbaren Vor-Schein davon und dessen utopischprinzipiellen Begriff, so politisch wie ethisch wie ästhetisch wie metareligiös.« 48 Somit zeigt Ernst Bloch auf, dass wo die Gefahr wächst – die Gefahr eines absoluten Umsonst der menschlichen Geschichte –, in uns selber auch die revolutionäre Potenz für eine Rettung wachsen kann. Er zeigt damit die Möglichkeit eines Militantwerdens der Hoffnung auf – ob wir sie ergreifen und verwirklichen werden, hängt nun von uns allen ab.

Ernst Bloch, Experimentum Mundi. Fragen, Kategorien des Herausbringens, Praxis (1975): 238.

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X. Prozess und Vollendung. Wir und die unabgeschlossene Ganzheit von Natur und Geschichte 1

Vorbemerkung Gegen Ende der Einleitung seiner Ideen zu einer Philosophie der Natur von 1797 wirft der 22-jährige Schelling die Frage auf: »Was ist denn nun jenes geheime Band, das unsern Geist mit der Natur verknüpft, oder jenes verborgene Organ, durch welches die Natur zu unserm Geist oder unser Geist zur Natur spricht?« 2 Wir kennen das geheime Band nicht, und doch tragen wir es in uns selbst. Daher fährt Schelling fort: »Wir lassen den Menschen zurück, als das sichtbare, herumwandernde Problem aller Philosophie, und unsere Kritik endet hier an denselben Extremen, mit welchen sie angefangen hat.« 3 Sind wir heute über Schellings Fragestellung hinausgelangt? Keineswegs, vielmehr stellt sie sich uns nur extrem radikaler dar. Wir beherrschen die Natur in nie zuvor gekannter Weise. Mit raffinierter List – um mit Hegel 4 zu sprechen – lauschen wir der Natur jedes ihrer Geheimnisse ab und verfügen souverän über ihre Kräfte gemäß unserer Zwecksetzungen. Und es ist auch keine grundsätzliche Grenze abzusehen, an der unsere Verfügung über die Natur je ein Ende finden könnte. Wir dringen in das mikrokosmische und makrokosmische Universum ein, nutzen energetische Gewalten und atomare Bindungen zur Herstellung nie dagewesener Stoffe und Prozesse, die die Natur in alle möglichen Richtungen künstlich erweitert. Wir beginnen – natürlich unter Voraussetzung des Lebens selbst –

1 Zuerst erschienen in: Kristian Köchy/Martin Norwig (Hg.), Umwelt-Handeln. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Umweltethik, Freiburg/München 2006: 233 ff. 2 Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), II: 55. 3 Schelling, Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797), II: 54 4 Hegel, Jenaer Systementwürfe, III: Naturphilosophie und Philosophie des Geistes (1805–06/1987), III: 189 f.

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auch die Lebensprozesse wissenschaftlich zu durchdringen und technisch zu beherrschen. Kein Staat, kein Gericht, keine Ethikkommission kann verhindern, dass die biologische Forschung schon bald an Embryonen experimentieren wird und dass die daran gefundenen Verfahren patentiert von der Pharma- bzw. Bioindustrie für allerlei Heilverfahren und gar manches darüber hinaus verwertet werden. Keineswegs sollten wir dies bejammern, denn sicherlich ist ein Experimentieren an Embryonen weitaus humaner als die gegenwärtige Praxis, Kinder und Arme in der Dritten Welt als lebende Organspendebanken zu nutzen. Man glaube auch nicht, dass die wissenschaftliche Beherrschung der Natur bei den Lebensprozessen Halt machen wird. Noch lächeln wir Philosophen, wenn die Neurowissenschaften – erfreut über den Rummel, den ihre Thesen in den Medien verursachen, – stolz verkünden, dass die Willensfreiheit des Menschen eine Illusion sei. Bald wird uns allen das Lächeln vergehen, denn diese Verleugnung hat Methode. Sind erst einmal patentierbare und kommerziell verwertbare Verfahren gefunden, dann wird es keine Skrupel geben, in ganz anderem Stil als heute mit Pharmaka und anderen Eingriffen auf menschliche Gehirne einzuwirken. Da es doch keine Willensfreiheit gibt und schon gar nicht ein Ich, so brauchen wir uns auch nicht davor zu scheuen, Gehirne umzupolen. Schließlich ist es doch sicherlich humaner, die Menschen im Sinne von Aldous Huxleys Brave New World 5 glücklich zu machen, als sie in der Einsicht ihrer elenden Verhältnisse zu belassen. So rosig diese unermesslichen Aussichten wissenschaftlicher und technischer Naturbeherrschung dem einen oder anderen auch erscheinen mögen, man unterschätze nicht die Gefahren, die sie gleichzeitig in sich bergen. Die Menschen beginnen sich als Menschen abzuschaffen, sie ruinieren ihre eigenen Lebensgrundlagen, sie zerstören den nachfolgenden Generationen ein menschenwürdiges Leben und arbeiten an der Vernichtung jeglichen Lebens auf Erden. All das können wir Menschen inzwischen durch das Auslösen bestimmter Katastrophen durch atomare, biologische und chemische Waffen, aber wir haben nicht nur die Potenz zu diesem Zerstörungswerk, sondern wir arbeiten – schleichender und unmerklicher zwar, aber nicht minder unaufhaltsam – bereits tagtäglich an seiner Erfül-

5

Aldous Huxley, Brave new world, London 1932.

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lung – allein schon durch die Formbestimmtheit unseres wertgetriebenen industriellen Umgangs mit der Natur. 6 Doch wollen wir an dieser Stelle nicht weiter als negativ sehende und schwarz malende Apokalyptiker auftreten, sondern möchten zunächst den durch die neuzeitlichen Wissenschaften aufgekommenen doppelten Naturbegriff und Naturbezug thematisieren, um dann mit Rückbezug auf Schelling von zwei Seiten her – der Naturphilosophie und der Gesellschaftstheorie – auf mein Thema Prozess und Vollendung eingehen zu können.

1.

Das Dilemma neuzeitlicher Wissenschaften und ihre Aufklärung durch Kant

Zwar ist das mit Schelling eingangs benannte Problem des geheimen Bandes in uns schon in der Antike bekannt. – Welches philosophische Problem ist nicht in der griechischen Antike aufgebrochen? – Wir erinnern hier nur an Aristoteles’ Umschreibung des nous thyrathein 7, des zu unserer naturhaften Seele von außen noch hinzutretenden Geistes. Aber durch das Aufkommen der neuzeitlichen objektivierenden Wissenschaften verschärft sich dieses Problem, da sich jetzt eine Kluft zwischen der gegenständlichen Welt und dem vergegenständlichenden Geist auftut, die zwar einerseits in nie zuvor geahnter Weise zu mathematisch bestimmbaren Erkenntnissen und damit technischen Verwertbarkeiten führt, die aber andererseits – philosophisch betrachtet – gleichzeitig das erkennende Subjekt unüberbrückbar von der objektiv erkannten Welt trennt. Descartes ist der erste, der in diesem Sinne die Grundlagen der neuzeitlichen Wissenschaften aufdeckt und zugleich in die Aporie gerät, aus der die neuzeitlichen Wissenschaften bis heute nicht mehr herauszukommen vermögen. Alle Gewissheit unserer Erkenntnis gründet in unserem Geist, da er allein sich unmittelbar seiner selbst gewiss ist. Aber wie kommt der Geist dazu, die Körperwelt außer ihm – und auch der eigene Körper gehört zu dieser Außenwelt des Geistes – bestimmen zu können? Descartes glaubt, die grundsätzliche Kluft Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Die Machtlosigkeit kritischer Praxisphilosophie«, in: Reinhard Brunner/Franz-Josef Deiters (Hg.), Die Geschichtlichkeit des Utopischen (2001): 225 ff. 7 Aristoteles, Von der Seele: 429 a1 ff. 6

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zwischen diesen beiden Welten des Subjektiven und des Objektiven über Gott vermitteln zu können, der nicht nur beide Welten, sondern auch ihr Aufeinanderbezogensein geschaffen hat 8, so dass, wenn unserem Körper etwas zustößt, unser Bewusstsein Schmerz empfindet und wenn wir uns etwas vornehmen, unser Körper dies auch ausführt. Der vermittelnd eingreifende Gott wurde bald in der weiteren Entwicklung der Erkenntnistheorie gestrichen, und so bleibt bis heute nur die Unüberbrückbarkeit der Subjekt-Objekt-Spaltung. Dabei sind sich die Wissenschaften dieses Problems gar nicht bewusst, denn sie sehen nur die reine Objektivität der Dinge in ihren kausalen Gesetzeszusammenhängen. In dieser Welt reiner Objektivitäten kommt kein Geist, kein erkennendes Subjekt vor. Darauf sind sie – durchaus mit Recht – stolz, denn gerade darin liegt der Erfolg ihrer Erkenntnisse und deren technische Anwendbarkeit begründet. Dabei bedenken sie nicht, dass alle ihre wissenschaftlichen Aussagen und Formeln sich in der reinen Subjektivität des Verstandes bewegen, die sie durch die Behauptung der Geistlosigkeit der Welt in prekärer Weise verleugnen. So schließt die eine Aussage die andere aus, denn weder kann in der reinen Objektivität der Dinge etwas Subjektives vorkommen noch in der reinen Subjektivität des Verstandes etwas Objektives. Die heutigen Wissenschaften helfen sich darüber hinweg, indem sie das Problem selbst einfach ignorieren. Die meisten Wissenschaftler – von den Physikern bis zu den Neurowissenschaftlern – sind naive Ontologen, d. h. sie glauben, dass die Welt, so wie sie sie methodisch bestimmen, auch wirklich ist. Der große Albert Einstein, dessen wissenschaftliche Leistungen wir mit Recht immer wieder ehrten, ist ein solcher naiver Ontologe gewesen. Er glaubte, dass die Welt wirklich so ist, wie die mathematische Physik sie berechnend erfasst und hielt sein eigenes Erleben für Illusion. Den wissenschaftlichen Ontologen stehen eine geringere Zahl von Wissenschaftlern gegenüber – wie etwa Niels Bohr und Werner Heisenberg 9 –, die etwas kritischer zwar einsehen, dass all unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse nur berechenbare Theoriemodelle der Wirklichkeit darstellen, nicht aber diese selbst wiedergeben können. Jedoch auch sie stellen sich nicht der 8 René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie (1644/1972): 26 ff. 9 Werner Heisenberg, Physik und Philosophie (1972): 27 ff.

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Frage nach dem Zusammenhang von wissenschaftlichem Modell und Wirklichkeit, in der wir leben. Nach wie vor ist die Kantische Analyse der Grundlagen und Grenzen der neuzeitlichen Wissenschaften die differenzierteste Aufhellung des Problems. Im Alltagsverstand sind wir alle empirische Realisten, dort aber, wo wir erkenntnistheoretisch die Bedingungen der Möglichkeit unserer wissenschaftlichen Erkenntnis befragen, sind wir transzendentale Idealisten, d. h. wir sehen ein, dass wir die Kriterien der Gewissheit unserer Erkenntnis allein aus unserer Erkenntnis selbst haben. 10 Beides kann gut nebeneinander bestehen, wenn wir aus theoretischer Vernunft einsehen, dass all unsere wissenschaftliche Erkenntnis niemals das Ding an sich, die Wirklichkeit selbst zu erfassen vermag. Innerhalb der Grenzen der theoretischen Vernunft scheint das Problem des Dings an sich, der Wirklichkeit selbst, nur als negativer Grenzbegriff auf. Gleichwohl haben wir auch einen positiven Bezug zur Wirklichkeit selbst, nämlich dort, wo wir in unserer Freiheit aus praktischer Vernunft gefordert sind. In der Freiheit, aus eigener praktischer Vernunft handeln zu können, begegnen wir uns – zwar nicht theoretisch, jedoch sittlich-praktisch – unmittelbar als Wesen an sich. 11 Und daraus ergibt sich für uns ein Primat der praktischen vor der theoretischen Vernunft, denn nur dem praktischen Selbst- und Wirklichkeitsbezug vermögen wir auch die wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrer negativen Begrenztheit unterzuordnen, niemals aber umgekehrt. Trotz des Primats der praktischen Vernunft können wir bei dem bezuglosen Nebeneinander von wissenschaftlichen Erkenntnissen einerseits, die uns in unserem sittlich-praktischen Wirklichsein niemals zu erreichen vermögen, und unserem unmittelbaren Wirklichkeitsbezug als frei uns sittlich selbstbestimmende Wesen andererseits, von dem wir aber keinerlei theoretische Erkenntnis haben, nicht stehen bleiben. Daher fragt Kant in der Kritik der Urteilskraft nach der vermittelnden Einheit, in der wir sind und die wir sind. 12 Auch die Frage nach der Einheit stellt sich zweifach. Zunächst ist es die Frage nach der Einheit der Natur, der wir selbst mit zugehören. Diese Frage können die neuzeitlichen Wissenschaften grundsätzlich 10 11 12

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), II: B 125 ff. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft (1788), IV: A 261 f. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), V: B 267 ff.

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nicht einmal aufwerfen. Denn da sie nach der reinen Objektivität der Erkenntnisgegenstände und ihren kausalgesetzlichen Beziehungen zueinander fragen, können sie immer nur bis zu einem Inbegriff aller objektiven Gegenstände unserer Erkenntnis gelangen, niemals aber zu einem Begriff einer aus sich selbst seienden Natur vordringen, der wir als denkende Wesen mit zugehören. Nun finden wir aber in jedem lebenden Organismus eine aus sich selbst seiende Natur vor, und wir sind selbst ein solcher aus sich selbst seiender Organismus. Daher sind wir – wie Kant betont – unweigerlich genötigt, die Natur insgesamt als eine sich selbstorganisierende Einheit, der wir selbst mit angehören, zu reflektieren. Wir sind also grundsätzlich in die dialektische Aporie zweier Naturbegriffe gestellt: Einerseits dem Naturbegriff der wissenschaftlichen Naturerkenntnisse, durch den wir zwar mit Bestimmtheit naturgesetzliche Kausalbeziehungen zwischen Objekten herstellen und daher auch technisch nutzbar machen, aber doch niemals die Einheit der Natur thematisieren können. Sowie andererseits der Idee der Einheit der Natur als einem sich selbstorganisierenden Ganzen, das uns mit umgreift, von dem wir zwar niemals etwas kausal Bestimmtes aussagen können, das wir aber doch notwendig reflektieren müssen, um allein schon alle Organismen und auch uns selbst als Organismus aus dem Lebenszusammenhang heraus begreifen zu können. Doch müssen wir uns bewusst halten, wie Kant im berühmtberüchtigten »als ob« deutlich macht, dass die Idee der sich selbstorganisierenden Natur uns keinerlei objektive Erkenntnis der Wirklichkeit an sich beschert, sondern immer nur eine reflektierende Deutung des uns mit umfassenden Gesamtzusammenhangs der Natur zu geben vermag, der wir uns zwar nicht entziehen können, die aber trotzdem immer nur Deutung bleibt. Gerade dieses Nebeneinander zweier Naturbegriffe treibt uns aber zu einer weiteren uns mit umfassenden Einheitsproblematik voran, denn wir gehören nicht nur zu den lebendigen Organismen, sondern wir wirken als praktisch selbstbestimmt handelnde Wesen in die Geschichte hinein. Und als Geschichte mit hervorbringende und mit gestaltende Wesen sind wir genötigt, die Einheit der Geschichte als regulative Idee, als noch ausständige und durch unser Handeln noch zu vollendende Einheit reflektierend zu thematisieren. 13 Die Ziele

13

Kant, KU (1790), V: B 396 ff.

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dieses von uns Menschen zu erstrebenden und zu realisierenden sittlichen Reichs auf Erden sind uns zwar mit praktischer Bestimmtheit durch die praktische Vernunft unumstößlich vorgegeben – Freiheit, Gerechtigkeit, Friede, Weltbürgertum –, aber ihre geschichtliche Verwirklichung gilt es immer wieder neu gegen die bestehenden Hemmnisse, gegen die von Menschen begangene unmenschliche Barbarei und Bestialität zu erkämpfen. Und doch – so führt Kant in seinen geschichtsphilosophischen Schriften aus – erschließt sich uns aus dieser geschichtlichen Verantwortung, in die wir Menschen gestellt sind, nicht nur das Postulat des Dasein Gottes – was nichts anderes bedeutet, als dass wir überall, wo wir uns für ein sittliches Reich kämpfend einsetzen, die Idee des Dasein Gottes bereits immer schon vorausgesetzt haben –, sondern im Horizont dieser geschichtlichen Verantwortung schließt sich allererst der Kreis der Kantischen Philosophie, insofern wir erst in ihm »hoffend« die Wirklichkeit an sich erfassen aus der und auf die hin wir selbst sind – diesem Primat hat sich auch alle wissenschaftliche Erkenntnis einzufügen. 14 Was bei Kant bereits als regulative Ideen von Prozess und Vollendung aufscheint, sei nun etwas näher an Schellings Naturphilosophie mit einem Ausblick auf Marx’ kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis konkretisierend erläutert.

2.

Schelling und die Prozessualität der Natur

Schellings Naturphilosophie dürfen wir nicht als eine Alternative zur Naturwissenschaft missverstehen, sondern ganz im Sinne von Kants Kritik der (teleologischen) Urteilskraft als eine zweite, eben philosophische Thematisierung der uns mit umgreifenden Einheit der Natur. Die Naturphilosophie bleibt, wie Schelling ausdrücklich in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums 15 ausführt, auf die wissenschaftliche Naturforschung angewiesen, sie kann diese nicht ersetzen, aber die Naturphilosophie steht grundsätzlich im Pri-

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999), darin: »Kant – Ethische Anthropologie und emanzipative Geschichtsphilosophie«: 40 ff. 15 Schelling, Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803), V: 317 ff. 14

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mat gegenüber aller Naturforschung, denn nur die Naturphilosophie kann die Einheit der Natur und uns als einen Teil von ihr reflektieren. Um möglichen Missverständnissen bereits im Vorfeld zu begegnen, sei ausdrücklich vermerkt, dass die Naturphilosophie keine Kausalbeziehungen zwischen Naturgegenständen herzustellen versucht, weshalb ihr Naturbegriff auch für die technische Naturbeherrschung völlig unbrauchbar ist. Sie kann und will nur die Natur als Einheit begreifen, indem sie die Teile aus dem Ganzen und das Ganze aus den Teilen verstehbar macht. Die Naturphilosophie erzeugt auch keine isolierten Objekterkenntnisse, denen unaufgedeckt ein erkennendes Subjekt gegenübersteht, sondern sie reflektiert einen Gesamtprozess, der das diesen Gesamtprozess begreifende Naturwesen Mensch, das wir sind, mit umschließt. 16 Überall dort, wo wir heute im Sinne einer kritischen Ökologie unsere menschliche Einbezogenheit in die Natur und unser praktisches Verhältnis zur Natur bedenken, bewegen wir uns in naturphilosophischen Fragestellungen. Eine kritische Ökologie kann und muss Erkenntnisse einer objektivierenden Ökologie als Naturwissenschaft verwenden, aber sie steht dieser in ihrer Fragestellung grundsätzlich kritisch entgegen. Denn einer philosophischen Ökologie geht es nicht darum, ökologische Kreisläufe berechenbar und manipulierbar zu machen, sondern sie besinnt sich reflektierend darauf, dass wir Menschen unabdingbar in Naturprozesse eingebunden sind, aber gegenwärtig drauf und dran sind, in diese zerstörend – teilweise unumkehrbar und für uns und für unsere Nachkommen folgenreich – einzugreifen. Zurück zu Schellings Naturphilosophie. 17 Wie vermögen wir die Natur als sich und alles in ihr selbst hervorbringende Einheit zu begreifen? Zunächst dadurch, dass wir sie als eine alles – auch uns – durchwirkende Prozessualität erfassen. Aber das Prinzip der Prozessualität reicht nicht aus, um die Vielfalt der Gestaltungen, die die Natur aus sich hervorbringt, verstehbar zu machen. Es bedarf noch eines der Prozessualität entgegenwirkendem Prinzips, das auf Bestimmtheit und Gestaltwerdung drängt. Beide Prinzipien schließen

16 Vgl. Kristian Köchy, Perspektiven des Organischen. Biophilosophie zwischen Natur- und Wissenschaftsphilosophie (2003): 73 ff. 17 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Natur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996): 66 ff.

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sich in ihrer Entgegensetzung aus, und wir könnten weder eine Natur in ihrer prozessualen Vielfalt wahrnehmen noch sie begreifen, wenn nicht ein drittes Prinzip hinzukommt, das beständig beide anderen Prinzipien vermittelt. Was wir also als Einheit der Natur ununterbrochen und überall wahrnehmen und begreifen, ist ein unendlicher Prozess, der sich in jeder der aus ihm selbst hervorgebrachten Gestaltungen beständig vernichtet und zugleich erneuert. Schelling hat dies im Bild eines stetigen Stromes umschrieben, der dort, wo er einen Widerstand findet, einen sich aus sich selbst erneuernden Wirbel bildet. Was wir als Natur erfahren, uns selbst in unserer organischen Leiblichkeit mit inbegriffen, ist dieser unablässig sich in erneuernden Wirbeln vollbringende Strom. 18 Nun sind die bisher besprochenen Prinzipien nichts anderes als die regulativen Voraussetzungen, unter denen wir allein so etwas wie die Selbstorganisation des Kosmos begreifen können. Der Anspruch der Naturphilosophie Schellings ist aber viel konkreter, er möchte unter Zugrundelegung aller nur verfügbaren Naturerfahrungen, Naturbeobachtungen und Naturerkenntnisse den Naturprozess – von der Materie bis zum menschlichen Bewusstsein – aus ihm selbst heraus begreifen. Dies wollen wir kurz mit einigen Stichworten aus der Fülle und Differenziertheit der Darlegungen Schellings umreißen: Zwar gibt es nichts in der Natur, was nicht aus jenen oben genannten Prinzipien der Prozessualität, der Gegenwirkung und der vermittelnden Reproduktion konstituiert ist, aber in der Konkretion des Naturprozesses tritt jeweils eines der Prinzipien real dominant hervor, und diese realen Naturgestalten nennt Schelling die Potenzen der Materie, des Lichts und des Organismus. Nun haben wir – so betont Schelling – gleich zu Beginn mit der Materie eines der schwersten Probleme zu lösen. Denn wenn wir die Natur als eine sich selbstorganisierende Einheit begreifen wollen, dann können wir die Materie nicht – wie Aristoteles oder Descartes – als vorhandene Gegebenheit nehmen, sondern die Materie muss selbst als etwas aus dem Naturprozess Werdendes erfasst werden können. Und so erfahren wir auch die Materie von den Galaxien bis

Schelling, Einleitung zu dem Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), III: 289. Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Der wirbelnde Strom des Werdens«, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie XXXVII (2005): 187 ff.

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zu den Atomen immer in bestimmter Bewegtheit und Erneuerung, immer als Werdendes. Aber wie können wir ihr Werden begreifen, denn dieses liegt doch vor aller Erfahrbarkeit? Schelling greift hier vor über 200 Jahren zu einem Gedankenbild, das uns im 20. und 21. Jahrhundert sehr vertraut ist, damals aber sicherlich revolutionär war: Stellen wir uns eine von einem Punkt ausgehende Explosion vor – also einen Urknall. Diese Explosion wäre im Augenblick ihres Geschehens auch schon verpufft, wenn ihr nicht von jedem Moment ihrer Peripherie her eine Gegenkraft entgegenwirkte. Jedoch erst aus ihrer wechselweisen Bindung entsteht überall die sich gemeinsam selbsttragende Materie in den erst durch sie ausgespannten Raum- und Zeitdimensionen. Diese sich selbsttragende Bewegtheit bewegter Materien ist das, was wir als siderisches Himmelsgeschehen beobachten können. Was wir aber nur deshalb beobachten können, weil wir zwar nicht ihr Werden selbst, wohl aber das bewegte Ergebnis dieses Materieprozesses in seinen Erscheinungsformen der Schwere, des Lichtes und deren wechselweisen Auslöschung und Erneuerung erfahren. 19 Der Materieprozess geht unendlich weiter. Es gibt für ihn keine Grenze in Raum und Zeit, denn Raum und Zeit sind für sich selbst genommen nichts, sondern nur Formsetzungen des Materieprozesses selbst. Wohl aber gibt es eine Grenze für den Materieprozess in seinem Gravitationsgeschehen, und diese liegt in dem quer dazu hervortretenden Dominantwerden der zweiten Potenz des Lichts. Auch dies ist für uns heute leichter zu verstehen als für die Zeitgenossen von Schelling vor 200 Jahren. Schelling geht davon aus, dass alle Phänomene des Magnetismus, der Elektrizität und der chemischen Prozesse auf eine gemeinsame energetische Wurzel zurückzuführen sein müssen, für die er erklärtermaßen keinen Namen hat, deren Erscheinungsform uns aber im Phänomen des Lichtes gegeben ist. Das Entscheidende dieser zweiten Potenz des Lichtes ist, dass hier die Materie ihre Schweredominanz verlieren und einer neuen Dominanz unterworfen wird, eben den magnetischen, elektrischen und chemischen Bindungs- und Lösungs-, Ladungs- und Entladungs-, Verkettungsund Entkettungsprozessen. Auch hier gehen die dynamischen Prozesse ins Unendliche fort, und sie haben keine andere Grenze als die

Schelling, Allgemeine Deduktion des dynamischen Prozesses oder der Kategorien der Physik (1800), IV: 5 ff.

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quer zu ihrer Dominanz hervortretende dritte Potenz des Organismus. In der Potenz des Organismus tritt das Prinzip der reproduzierenden Vermittlung in die Dominanz und unterwirft sich alle Materie und alle dynamischen Prozesse. So wie die dynamischen Prozesse die Materie voraussetzen, so setzt der Organismus sowohl in als auch außer sich Materie und dynamische Prozesse voraus. Es kann überhaupt keinen Organismus für sich geben, denn seine beständigen Reproduktions- und Regenerationsprozesse sind auf einen kontinuierlichen Stoffwechsel, Materie- und Energieaustausch, des Organismus mit der anorganischen Natur angewiesen. Im Organismus hat sich die selbstorganisierende Natur ein sich selbst reproduzierendes Abbild im Kleinen hervorgebracht und sich darin gewissermaßen in ihren Potenzen vollendet. 20 Schelling spricht zunächst vom Organismus als von einem Gesamtprozess, oder anders gesagt, alles, was auf Erden Organismus ist – und wir kennen vorerst nur den Organismus auf Erden 21 – hängt als ein einziger Organismusprozess miteinander zusammen. Die Reproduktion des Organismus gründet zunächst auf zwei korrespondierenden Prozesszusammenhängen: erstens dem Stoffwechsel mit der Außenwelt, der selbst wiederum die Irritabilität, die Reizbarkeit durch die Umwelt, und die Sensibilität, die Wahrnehmung der Umwelt zugrunde liegen, und zweitens der regenerativen Erhaltung des Gesamtorganismus, die in Pflanzen- und Tierwelt in eine zweigeschlechtliche Individuation führt – organische Individuen, die über den gemeinsamen Zeugungsprozess die Art fortpflanzen und selber absterben. Oder noch komplexer umschrieben: die ökologisch sich gegenseitig bedingenden Pflanzen- und Tierorganismusprozesse regenerieren sich dadurch, dass sie sich in je eigenen Pflanzen und Tierorganismen geschlechtsverschieden individuieren, sich vereinigen und so über die dann wieder absterbenden Individuen den Gesamtorganismus erhalten. 22 Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804), VI: 371 ff. 21 Nebenbei bemerkt, Schelling schließt ausdrücklich die Möglichkeit von Organismen außerhalb der Erde nicht aus, auch sie wären dann sich reproduzierende Prozesse, aber sie könnten auch anders organisiert sein als auf Erden. Schelling, Darstellung des Naturprocesses (1843/44), X: 369 ff. 22 Schelling, System der gesamten Philosophie und der Naturphilosophie insbesondere (1804), VI: 406 f. 20

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Auf der Grundlage dieser beiden organischen Grundprozesse lässt sich als Drittes der Evolutionsprozess, die Ausdifferenzierung und Höherbildung der organischen Arten, begreifen. Während Kant noch 1790, den von Blumenbach vertretenen evolutionären Bildungsprozess der Arten, als ein »gewagtes Abenteuer der Vernunft« 23 nennt, ist für Schelling bereits 1799 die Evolution von den Polypen bis zu den Menschen ein ganz selbstverständlicher Gedanke, allerdings – so erläutert er – darf man die Evolution nicht äußerlich von den Produkten, den Arten, her zu erklären versuchen, wie dies letztlich ein halbes Jahrhundert später auch noch Darwin versucht, sondern wir müssen diese Differenzierungen und Höherbildungen aus der Prozessualität der organischen Selbstproduktivität begreifen 24. Der organische Evolutionsprozess strebt aus seiner inneren Logik heraus – jedenfalls was die Tierwelt betrifft – zu immer selbständigeren Individuierungsformen, die ihre Umwelt immer differenzierter wahrnehmen und nutzen können. Auch dieser Evolutionsprozess schreitet im Rahmen seiner Bedingungen ins Unendliche fort. Halten wir hier kurz inne. Im Organismus findet nach Schelling der Naturprozess seine Vollendung, doch darf Vollendung auf den Naturprozess bezogen nicht als Ende, als Beendigung missverstanden werden, vielmehr liegt die Vollendung des Naturprozesses darin, alle Potenzen ausschöpfend, sich in unendlicher Reproduktion seiner Produktivität zu erfüllen. Was die Naturphilosophie Schellings von der heutigen Selbstorganisationsdebatte unterscheidet, ist, dass sie nicht erst im Nachhinein die Ergebnisse naturwissenschaftlicher Erkenntnis in einen narrativen Geschehensablauf einbettet, sondern dass sie alle Gestaltungen aus der sich selbst produzierenden und prozessierenden Ganzheit heraus begreifbar macht. Der Naturprozess ist weder ein einliniges Geschehen noch eine Wiederkehr des Gleichen, vielmehr erfüllt sich seine Selbstorganisation nur durch ihre sich unendlich erneuernden selbstreproduzierenden Gestaltungen hindurch. Kant, Kritik der Urteilskraft (1790), V: A 366. Schelling, Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie (1799), und Einleitung zum ersten Entwurf (1799). Die Begriffsverwendung von Evolution in unserem heutigen Sinne war vor 200 Jahren noch nicht üblich. Schelling spricht gelegentlich (III: 287 ff.) von einer »unendlichen Evolution«, wo er die unendliche Produktivität der Natur insgesamt hervorhebt. Während er auf die Evolution des Organismus bezogen von einer »Stufenfolge der Produktivität« spricht (III: 54), jedoch damit genau das meint, was wir heute im weiteren Sinne – nicht darwinistisch verengt – unter Evolution verstehen. 23 24

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Nur eine Naturphilosophie, die die Natur in dieser Weise aus sich selbst begreift, kann die Naturforschung orientierend anleiten, d. h. kritisch bedenken und begrenzen.

3.

Die Aufgegebenheit der Geschichte

Kehren wir zum Schlussgedanken von Schellings Naturphilosophie zurück, denn diese endet erst dort, wo die Natur – nicht zeitlichräumlich gemeint – über sich hinausgeht: Für den unendlich organischen Evolutionsprozess gibt es keine andere Grenze als das quer zu ihm liegende Hervortreten des menschlichen Bewusstseins oder Geistes. Wiewohl das menschliche Bewusstsein selbst aus dem Evolutionsprozess, ja aus dem gesamten Selbstorganisationsprozess der Natur geworden ist, endet in ihm die Evolution und der Naturprozess grundsätzlich und geht in eine neue Prozessreihe über: die ideelle Welt und ihre Geschichte. Man verstehe dies nicht falsch: Wie schon Kant hält auch Schelling den Menschen ausdrücklich nicht für den Endzweck der Natur, wohl aber hat die Natur im Menschen ein Wesen hervorgebracht, das, obwohl es an die Natur zurückgebunden bleibt, mit der völlig neuen Prozessreihe des Geistes, dem Erkennen, dem freien Willen und der Gestaltung, die alle keine Naturprozesse mehr sind, der Natur gegenübertritt und zu neuen Ufern aufbricht. Ganz in dem Sinne wie Kant – metaphorisch – sagt: »Die Natur hat gewollt, dass der Mensch alles, was über die mechanische Anordnung seines tierischen Daseins geht, gänzlich aus sich selbst herausbringe.« 25 Dieses Herausbringen bezieht sich – bei Kant wie bei Schelling – nicht auf das einzelne Individuum, sondern auf das gesamte Menschengeschlecht. So sind auch die drei Potenzen des menschlichen Bewusstseins oder Geistes bei Schelling auf die Menschheitsgeschichte insgesamt bezogen. Die Potenz des Erkennens meint also den menschheitlichen Prozess des Erkennens und Wissens überhaupt, der in der menschlichen Sprachentwicklung seine Grundlage hat und sich in den Wissenschaften von der Natur, von der menschlichen Welt und der Thematisierung des Absoluten ausdifferenziert – ein durch diese Ausgestaltungen fortschreitender unendlicher Prozess. Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), VI: A 390.

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Nur so ist das von Schelling aus der Renaissance aufgenommene und von Bloch weitertradierte Bild zu verstehen, dass die Natur im menschlichen Bewusstsein ihre Augen aufschlägt. 26 Unter der Potenz des Willens werden von Schelling – wenn auch nur in Konturen – die in der menschlichen Freiheit gründenden, Gerechtigkeit stiftenden rechtlichen und staatlichen Verfassungen thematisiert, die es durch menschliches Handeln hervorzubringenden gilt, dessen Zielperspektive in einem gerechten und befriedeten menschlichen Zusammenleben zu erblicken ist. 27 In der die beiden vorhergehenden Potenzen vermittelnden Potenz der Gestaltung wird schließlich die menschliche Geschichte als der sich selbst gestaltende und sich selbst aufgegebene unendliche Reproduktionsprozess geschichtlicher Menschwerdung und Humanisierung angesprochen, auf den hin alles menschlich-menschheitliche Handeln unendlich und unabschließbar bezogen ist. 28 Nun kann aber der Zusammenhang von Prozess und Vollendung hier, wo die Einheit und Ganzheit von Geschichte bedacht wird, nicht mehr in der Weise behandelt werden wie beim Naturprozess bzw. bei dem organischen Evolutionsprozess, denn obwohl Schelling auch hier die Einheit und Ganzheit des menschlichen Bewusstseins und Geistes als einen unendlichen Prozess thematisiert, so ist doch nun die Problemstellung eine völlig andere, ja sogar umgekehrt akzentuierte. Hatten wir beim Evolutionsprozess davon gesprochen, dass dieser auf immer selbständigere organische Individuen hindrängt, so sind jetzt überhaupt die bewussten und freien menschlichen Individuen die eigentlichen Zentren, Träger und Akteure des menschheitlichen Geschichtsprozesses und nur über sie kann die Vollendung der Geschichte als Aufgegebenheit angestrebt werden. Genau in dieser Zentrierung auf das je gegenwärtige Handeln der Individuen liegt die Strukturiertheit menschlicher Geschichte als Gespanntheit der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft begründet, wobei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft keinen linearen Prozess des Ineinanderübergehens meint, wie Schelling in den Weltaltern darlegt, sondern die Vergangenheit benennt den immer

26 Ernst Bloch, Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie (1950–1956), 4 Bde. (1985), IV: 200. 27 Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800), III: 581 ff. 28 Schelling, Zur Geschichte der neueren Philosophie (1827/33), X: 115 ff.

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vorausliegenden Grund und die Zukunft die immer ausständige Perspektive je gegenwärtiger Handlungspraxis. 29 Die Vollendung der Geschichte kann daher nie im Erreichen einer bestimmten Zukunft liegen, denn ein solches Ende wäre der Tod menschlicher Geschichte schlechthin, sondern die Vollendung liegt in der nie enden wollenden Aufgegebenheit geschichtlicher Menschwerdung. Der Prozess menschheitlicher Geschichte kann überhaupt nur über Bewusstheit und Freiheit der Individuen antizipiert und vollbracht werden, und daher kann das Ziel menschheitlicher Geschichte auch nur in der solidarisch zu vollbringenden unendlichen Aufgabe menschlicher Emanzipation liegen. Menschliche Emanzipation meint dabei Bewusstwerdung und Befreiung der Individuen zu der nur gemeinsam zu erfüllenden Aufgabe menschheitlicher Geschichte. Nun steckt in der doppelten Spannung von individueller und menschheitlicher Bewusstheit und Freiheit sowie in der je gegenwärtigen Bewusstwerdung und Befreiung aus den vorfindlichen Gegebenheiten auf die ausständigen Aufgegebenheiten hin ein grundsätzlicher Antagonismus, den Platon bereits im Symposion treffend umschrieben hat und den Kant zunächst der List der Natur anrechnete, bis er sich im Mutmaßlichen Anfang der Menschengeschichte (1786) zu einer Vorwegnahme des Gedankens der »Dialektik der Aufklärung« durchringt. 30 Nämlich zu der Einsicht, dass es der sich aus der Natur befreiende Geist selbst ist, der die perversesten und barbarischsten Formen der Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen hervorbringt, dass es aber auch nur der Geist sein kann, der im geschichtlichen Prozess der Menschwerdung wieder aus diesen Formen der Entfremdung herauszuführen vermag, indem er die »selbstverschuldeten« negativen Hemmnisse menschlicher Emanzipation negativ bekämpft. Diesen Grundgedanken Kants hat Fichte dann in seinem geschichtsphilosophischen Hauptwerk Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806) als den dialektischen Prozess des Zusichselberkommens menschheitlicher Vernunft im notwendigen Durchgang durch Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling, Die Weltalter. Fragmente (1811–13/ 1946): 82 ff. 30 Kant, Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786), VI: 85 ff. Siehe Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1947/1969). Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Denken aus geschichtlicher Verantwortung. Wegbahnungen zur praktischen Philosophie (1999): 40 ff. 29

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die Entfremdung hindurch entfaltet. 31 Im Prozess des Zusichselberkommens der Vernunft, der nur über die Individuen erreicht werden kann, muss der Geschichtsprozess durch das Extrem der Absolutsetzung individueller Freiheit, die Absolutsetzung privat-egoistischer Interessen gegen die menschheitliche Gemeinschaft hindurchschreiten. In diesem Extrem »vollendeter Sündhaftigkeit« befinden wir uns nach Fichte im gegenwärtigen Zeitalter, aus dem wir nur durch eine »Revolutionierung der Denkungsart« – um mit Kant zu sprechen 32 – zu der nur gemeinsam zu vollbringenden, vernünftigen und verantwortlichen Gestaltung menschlicher Geschichte finden können. Ohne die von Kant und Fichte hervorgehobenen Entfremdungsphänomene abstreiten zu wollen, versucht Schelling einen noch tieferen Grund für die gegenwärtige Entfremdung aufzudecken. Die vollendete Sündhaftigkeit liegt – so klagt Schelling nun Fichte an – nicht nur in der Absolutsetzung der individuellen Vernunft gegenüber der menschheitlichen, sondern in der Absolutsetzung der menschlichen Vernunft selbst, in ihrer theoretischen wie praktischen Lostrennung von der Natur. 33 Der menschliche Geist ist aus der Natur geworden, er bleibt an die Natur gebunden, er ist ihr gegenüber verpflichtet und verantwortlich. Aber weil der menschliche Geist in ganz eigenen von der Natur unabhängigen Potenzen des Erkennens, Wollens und Gestaltens operiert, steht er in der Gefahr, sich einzubilden und sich aufzuspielen, als wäre er völlig unabhängig von der Natur, als wäre die Natur nur Gegenstand seiner Erkenntnis und Material seiner Zwecksetzungen. Es besteht nicht nur die Gefahr dazu, sondern die neuzeitlichen Wissenschaften und die Technik betrachten und behandeln die Natur in dieser Weise. Es bringt Schelling in Rage, dass ein ihm so nahestehender Denker wie Fichte nicht nur die Natur zum Nicht-Ich stilisiert, sondern sie für nichtig erklärt. Es grämt und kränkt ihn tief, dass sein Jugendfreund Hegel nach den ersten Jahren ihrer Zusammenarbeit in Jena die Natur ebenfalls als das bloße Außersichsein des Geistes abtut. 34

Johann Gottlieb Fichte, Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806), in: Ausgewählte Werke, 6 Bde. (1962), IV: 393 ff. 32 Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793), IV: 698 ff. 33 Schelling, Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophie zur der verbesserten Fichteschen Lehre (1806), VII: 91 ff. 34 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, »Von der wirklichen, von der seyenden Na31

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Aus diesem Zorn heraus spricht er 1809 in den Philosophischen Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit die geradezu prophetische Warnung aus, die mehr denn je wohl gerade für uns Geltung hat: »So ist denn der Anfang der Sünde, daß der Mensch aus dem eigentlichen Seyn in das Nichtseyn […] übertritt, um selbst schaffender Grund zu werden, und mit der Macht des Centri, das er in sich hat, über alle Dinge zu herrschen. […] Hieraus entsteht der Hunger der Selbstsucht, die in dem Maß, als sie vom Ganzen und von der Einheit sich lossagt, immer dürftiger, armer, aber eben darum begieriger, hungriger, giftiger wird. Es ist im Bösen der sich selbst aufzehrende und immer vernichtende Widerspruch, dass es creatürlich zu werden strebt, eben indem es das Band der Creatürlichkeit vernichtet, und aus Uebermuth, alles zu seyn, ins Nichtsseyn fällt.« 35 Nun hat zwar Schelling mit diesen prophetischen Worten den Kern des Problems getroffen, aber er hat die Gestalten der Entfremdung des Menschen von der Natur noch nicht konkret entfaltet. Daher müssen wir in unserer Problemskizze einen Schritt weiter zu Karl Marx gehen, der wie kein anderer Denker den nachfolgenden Generationen prägnant alle drei von Kant, Fichte und Schelling genannten Momente der Entfremdung, als in der gegenwärtigen wertbestimmten Produktionsgestalt der kapitalistischen Ökonomie vollendet, aufzuzeigen vermag. 36 Ausgangspunkt von Marx’ Problementfaltung ist die gesellschaftliche Arbeit, Praxis und Produktion der Menschen, durch die sie sich durch die Geschichte hindurch in fortschreitender Differenziertheit am Leben erhalten. Durch die gesellschaftliche Produktion wird nicht nur der für den Menschen lebensnotwendige Stoffwechsel gewährleistet, sondern noch viel prinzipieller betrachtet ist die menschliche Produktion nur auf der Grundlage der organischen Produktivität der Natur begreifbar. 37 Die gesellschaftliche Produktion hat somit unabdingbar zwei Komponenten: über die gesellschaftliche Arbeit erhalten sich die Menschen in ihrem mit der Natur zusammen-

tur«. Schellings Ringen um eine Naturphilosophie in Auseinandersetzung mit Kant, Fichte und Hegel (1996): 122 ff. u. 149 ff. 35 Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), VII: 390 f. 36 Vgl. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Hegel in der Kritik zwischen Schelling und Marx (2014): 201 ff. sowie Karl Marx – Die Dialektik der gesellschaftlichen Praxis (1981/2018): 201 ff. 37 Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 577.

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hängenden organischen Leben, und gleichzeitig gestalten sie durch die gesellschaftliche Arbeit ihr soziales Zusammenleben. Unaufhebbar ist die gesellschaftliche Produktion, ja der Mensch – wie Marx in deutlichem Rückbezug auf Schelling darlegt – einerseits selbst rückgebunden an die Natur, auch dann und dort, wo er andererseits in die Natur einwirkt, sie seinen Zwecken unterwirft. Durch die gesellschaftliche Produktion gestaltet der Mensch sowohl die Natur um, ohne doch je seine Rückbindung an die Natur aufgeben zu können, als auch sich selbst, seine gesellschaftlichen Verhältnisse und sein menschliches Selbstverständnis. So ist das Reich der Freiheit, dem der Mensch zustrebt, keineswegs als völlige Loslösung vom Reich der Notwendigkeit, von der Arbeit zu verstehen – was für Marx ein Ungedanke wäre –, sondern als ein gesellschaftlich verantwortlicher und solidarisch geregelter Umgang mit den natürlichen und gesellschaftlichen Lebensnotwendigkeiten, auf deren Grundlage allen Menschen die Muße der Teilnahme am Reich der Freiheit des Geistes allererst ermöglicht werden kann. 38 Nun leben wir aber gegenwärtig in ökonomischen Produktionsverhältnissen, in denen nicht die Oikonomia im Aristotelischen Sinne in natürlichen und mitmenschlichen Zusammenhängen regulatives Ziel ist, sondern in denen das Verhältnis der Menschen untereinander und ihr Verhältnis zur Natur diktiert wird durch die Logik des Privateigentums, des Kapitals, des Wertgesetzes, also von etwas, was die Menschen zwar selbst hervorgebracht haben, was aber verselbständigt und verabsolutiert auf sie fremdbestimmend zurückwirkt. Unter diesem Diktat kommt es nicht nur zur Ausbeutung der Arbeitskraft des Menschen, denn einzig und allein aus ihr zieht das Kapital die Potenz seines Mehrwertes, sondern auch zur Ausplünderung und gleichzeitig zur Verseuchung der Natur. Denn die Natur ist dem Kapital nicht nur Nicht-Wert, sondern auch nichts wert. Sie ist eine zum Nulltarif zu habende Gratiszugabe, wo das Kapital sie zu seiner Verwertung als Rohstoff in der Produktion braucht, und sie wird abgestoßen, wo das Kapital keinen Nutzen mehr aus ihr zu ziehen vermag. 39 So schreibt Marx bereits in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von 1844 – und wenn wir genau hinhören, hören wir Marx, Kapital (1894) III, 25: 828. Hans Immler/Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Marx und die Naturfrage. Ein Wissenschaftsstreit um die »Kritik der politischen Ökonomie« (1984/2011).

38 39

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darin auch Kant, Fichte und Schelling heraus –: »Indem die entfremdete Arbeit [unter dem Diktat des Privateigentums bzw. Kapitals] dem Menschen 1. die Natur entfremdet, 2. sich selbst, seine eigne tätige Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung […]. Die entfremdete Arbeit macht also: 3. das Gattungswesen des Menschen, zum Mittel seiner individuellen Existenz. Sie entfremdet dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen. 4. Eine unmittelbare Konsequenz davon, dass der Mensch dem Produkt, seiner Arbeit, seiner Lebenstätigkeit, seinem Gattungswesen entfremdet ist, ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen.« 40 Nun ist es nicht nur so, dass die Entfremdung des Menschen vom Menschen und von der Natur etwas wäre, was, erst einmal durchschaut, durch Einstellungsänderung vom einzelnen Menschen aufzuheben wäre, denn die Verkehrtheit, dass nicht die Menschen ihre Verhältnisse, sondern vielmehr die wertbestimmten Verhältnisse die Menschen bestimmen, hat sich in alle Bereiche der Industrie und auch der Wissenschaften eingeschrieben. Es bedarf also solidarischer theoretischer und praktischer Anstrengungen der Menschen, dieser Verkehrtheit der Verhältnisbeziehung entgegenzuwirken – es bedarf einer »revolutionären Praxis«, in der die Menschen die sie fremdbestimmenden verkehrten Verhältnisse und sich selbst in ihren theoretischen und praktischen Einstellungen zu verändern beginnen. Ausdrücklich verweist Marx in diesem Zusammenhang nicht nur auf die Industrie, die in ihrer verkehrten Form unter dem Diktat der Wertökonomie die Ausbeutung der arbeitenden Menschen und die Ausplünderung der Natur betreibt, sondern klagt auch die Naturwissenschaften an, die in ihrer gegenwärtigen »entfremdeten Gestalt«, die Entsinnlichung der Natur und die »Entmenschung« des Menschen vorantreibt. 41 Erst dort wird eine Aufhebung der entfremdeten Form der Wissenschaften möglich, wo der Zusammenhang von Mensch und Natur wieder bedacht und verantwortlich gestaltet, wo – wie Marx hinzufügt – der Mensch zum ersten Gegenstand der Naturwissenschaft und die Natur zum ersten Gegenstand der Wissenschaft vom Menschen erhoben sein wird.

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Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 517. Marx, Ökonomisch-philosophische Manuskripte (1844), 40: 543 f.

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Daher bedarf es nicht nur einer Revolutionierung der wertbestimmten Produktionsverhältnisse, sondern auch eine grundlegende Revolutionierung der theoretischen und praktischen Einstellungen der Menschen – einer Revolutionierung der Denkungsart, in der die Menschen zu durchschauen beginnen, unter welch verkehrten, ja verrückten und lebensbedrohenden Verhältnissen sie sich selbstverschuldet fremdbestimmen lassen, und daher anfangen, solidarisch auf ihre Befreiung hin zu arbeiten. Lange genug hat ein entfremdeter dogmatischer Marxismus, der sich realer Sozialismus nannte, nicht nur das Verständnis des Marxschen Denkens verzerrt, sondern ganz besonders die Marxsche Kritik an Wissenschaft und Industrie in deren verkehrtem Verhältnis zur Natur ignoriert und tabuiert. Es wird Zeit, dass wir wieder auf Marx selber hören: »Vom Standpunkt einer höhern ökonomischen Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball ganz so abgeschmackt erscheinen wie das Privateigentum eines Menschen an einem andern Menschen. Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.« 42

Schlussbemerkungen Treten wir nochmals – das Ganze im Zusammenhang bedenkend – aus der nachbeschreibenden Darstellung zurück. Natur und Geschichte sind beide unendliche Prozessualitäten, in die wir Menschen – unterschiedlich zwar – selber miteinbezogen sind. Wollen wir die prozessuale Einheit beider bedenken, so können wir dies nur – wie dies Kant bereits in der Kritik der Urteilskraft zeigte – aus dem Primat unserer geschichtlichen Mitverantwortung für sie erfüllen. Anders als im Naturprozess, dessen Vollendung sich in der selbst hervorgebrachten Reproduktion seiner Produktivität erfüllt, kann die Vollendung des Geschichtsprozesses nur über die menschlichen Potenzen erreicht werden, sie ist grundsätzlich ein ausständiges, zu erstrebendes regulatives Ziel menschlicher Menschwerdung.

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Marx, Kapital (1894) III: 25: 784.

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Da der Prozess menschlicher Geschichte, grundsätzlich über das Bewusstsein und Handeln der Menschen vermittelt ist, und diese sich in ihren natürlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen verfehlen können, steht er in der prinzipiellen Möglichkeit einer entfremdeten Verkehrung, durch die die Menschen – einer von ihnen selbst hervorgebrachten Realabstraktion globaler Kapitalverwertung und Weltbeherrschung unterworfen – sich vermeintlich lostrennen können von der Natur, ablösen können von allen sozialen Bindungen und uneingedenk ihrer geschichtlichen Verantwortung ihren eigenen Untergang betreiben – und daher »aus Uebermuth, alles zu seyn, ins Nichtsseyn« fallen. 43 Aber es muss nicht so kommen. Es liegt an uns – die »selbstverschuldete« Entfremdung umwälzend –, die Prozesse von Natur und Geschichte in Allianz miteinander voranzubringen und auf die uns geschichtlich aufgegebene menschliche Vollendung sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen hinzuarbeiten. Dies kann uns aber nur in bewusster und solidarischer Praxis gegen die uns fremdbeherrschende Wertlogik des Kapitals gelingen.

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Schelling, Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809), VII: 390 f.

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Dannemann, Rüdiger 120 Darwin, Charles 108 Deborin, Abram 117, 124 Deiters, Franz-Josef 224 Demokrit 62 Descartes, René 190–191, 224–225 Eidam, Heinz 63 Einstein, Albert 225 Engels, Friedrich 15, 66, 74, 79, 81, 106, 107–116, 117, 124, 125, 127, 130, 141, 156, 190 Epikur 62 Fahrenbach, Helmut 162 Fetscher, Iring 147 Feuerbach, Ludwig 14, 16, 28, 62, 63, 66, 77, 108, 172, 210 Fichte, Johann Gottlieb 40, 43, 53, 60, 236–238 Flego, Gvozden 120, 171, 182, 202 Fleischer, Helmut 106 Fogarasi, Béla 119 Foster, John B. 18 Frank, Manfred 61 Freire, Paulo 167 Freud, Sigmund 181–185 Fukuyama, Francis 13 Givsan, Hassan 84 Godelier, Maurice 137, 142 Gorz, André 27 Gramsci, Antonio 97, 119 Grauer, Michael 162 Grünberg, Carl 119

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Personenregister Habermas, Jürgen 15–16, 26, 193 Hampicke, Ulrich 27 Hassenpflug, Dieter 143 Haug, Wolfgang Fritz 119 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 13, 15, 16, 22, 40, 52–60, 61–63, 65–67, 72, 79, 86–87, 89, 103–104, 108– 109, 121–122, 124, 125, 152–153, 162, 171, 173–178, 192, 208-209, 210–213, 222 Heidegger, Martin 55, 188, 216–219 Heinz, Rudolf 149 Heisenberg, Werner 225 Hermenau, Frank 63 Heuser-Keßler, Marie-Luise 47 Hobbes, Thomas 190 Hölderlin, Friedrich 216-217, 218219 Hörisch, Jochen 149 Hörz, Herbert 107 Hofer, Michael 44 Horkheimer, Max 16, 21–23, 171 Husserl, Edmund 21, 45 Huxley, Aldous 223 Immler, Hans 16–18, 84, 103, 239 Israel, Joachim 68 Jantsch, Erich 47, 108 Jonas, Hans 55 Jungnickel, Jürgen 94–95, 97 Kant, Immanuel 13, 16, 27, 29–40, 41–43, 46, 51, 53, 81, 104, 138, 152, 161, 224, 226–228, 233, 234, 236– 238, 241 Kautsky, Karl 117 Kazuo, Fukumoto 119 Kedrow, B. M. 107 Knaupp, Michael 217 Koch, Gertrud 171 Köchy, Kritstian 222, 229 Koestler, Arthur 117 Kojève, Alexandre 13 Korsch, Karl 97, 107, 119–120, 123

Kovel, Joel 18 Krader, Lawrence 142 Labriola, Antonio 106, 119 Langthaler, Rudolf 44 Lee, Chong-Kwan 17 Lefebvre, Henri 86, 135–137, 162– 168, 194 Leibniz, Gottfried Wilhelm 215 Lenin, W. I. 14, 106 List, Friedrich 73–74 Löwy, Michael 17–18, 204 Lukács, Georg 17, 97, 107, 119, 120– 124, 127, 130, 156, 159 Marcuse, Herbert 16, 17, 19, 86, 137, 147, 155, 164, 171–201 Marx, Karl 13–19, 25–28, 61–82, 83–105, 106–116, 117–118, 120– 124, 126–127, 130–135, 137, 138–142, 145–147, 148–149, 152–153, 157–159, 161, 162–163, 166–168, 171–172, 173, 175-181, 186–187, 190, 192, 193–198, 199–201, 210–213, 220–221, 228, 238-240, 241 Meiller, Christopher 44 Merleau-Ponty, Maurice 117 Mészáros, Istvan 120 Methe, Wolfgang 25 Moscovici, Serge 143 Müller, Horst 162 Müller-Schöll, Ulrich 162 Negt, Oskar 117, 124 Nikolaus von Kues 190 Norwig, Martin 222 O’Connor, James 18 Petrović, Gajo 136 Paracelsus (Theophrastus Bombast von Hohenheim) 206, 214 Pfabigan, Alfred 144 Platon 188–190, 236 Plechanow, Georgi W. 106, 118 Pollock, Friedrich 119

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Personenregister van Reijen, Willem 119 Reinicke, Helmut 152, 155, 192 Riechers, Christian 119 Romøren, Elisabet 25 Romøren, Tor Inge 25 Sandkühler, Hans-Jörg 107 Sartre, Jean Paul 124, 125–129, 130 Schelkshorn, Hans 44 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 14, 16, 27–28, 40, 41–51, 52–60, 61–63, 65–66, 77, 79, 81–82, 86–87, 89, 104, 107–108, 135, 138, 155– 157, 180, 205–206, 208–209, 213, 215, 222, 224, 228-233, 234-238, 239, 242 Schiller, Friedrich 184–185 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 16 Schmid Noerr, Gunzelin 119 Schmidt, Alfred 15, 26, 171 Schmidt, Burghart 204 Schmidt, Hajo 163 Schmied-Menkhoff, Daria 9 Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (Publikationsverweise) 17, 18, 26, 28, 38, 41, 45, 48, 58, 61, 63, 68, 79, 82, 84, 103, 117, 120, 130, 153, 156, 162, 171, 172, 175, 182, 188, 192, 202, 203, 205, 208, 210, 211, 224, 228, 229, 230, 237, 238, 239 Schütz, Rosalvo 17

Schweppenhäuser, Gerhard 21, 162 Sesink, Werner 84 Siemek, Marek J. 120 Smith, Adam 56 Sohn-Rethel, Alfred 17, 80, 97, 138, 147–155, 161, 190, 192 Sonnemann, Ulrich 220 Spencer, Herbert 108 Stache, Christian 18 Stalin, Josef W. 106, 117 Stederoth, Dirk 63 Thompson, Edward P. 12, 23, 216 Thomson, George 151 Trabert, Lukas 18 Turki, Mohamed 125 Ullrich, Otto 96 Vidal, Francesca 82 Voßkühler, Friedrich 63, 198 Weil, Felix 119 Weischedel, Wilhelm 29 Wittfogel, Karl August 86, 119, 137, 138–143 Wittgenstein, Ludwig 21 Zimmermann, Rainer 61, 155–156, 203, 205 Zimmermann, Wolfgang 120

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