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German Pages 432 [410] Year 1999
Achtzig Jahre
nach dem Kriegsende hat die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg in Europa und in den USA eine Renaissance er-
fahren. Im vorliegenden Tagungsband des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes kommen Historiker aus dem In- und Ausland zu Wort, die sich mit der ganzen Bandbreite des ersten in
Europa geführten „modernen" Krieges
So finden sich neben längerem erprobten Ansätzen zur Erforschung des „Großen Krieges" in diesem Band auch jüngste historiographische Zugänge, die mit Blick auf das
beschäftigen. seit
Kriegsgeschehen mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen aufgreifen.
Vorderes Umschlagbild Otto Dix, Der Krieg, Tnptychon (linke Tafel). Gemäldegalerie Neue Meister Dresden (1932/02)
Hinteres Umschlagbild Nach der erfolgreichen alliierten Offensive am 8. August 1918 bei Amiens führen Soldaten der USArmee deutsche Soldaten in die
Kriegsgefangenschaft (Bilderdienst Süddeutscher Verlag)
Oldenbourg
Die deutsche Offensive 21.3.1918 bis 17.7.1918 4. Armee
yixmuiden
Kriegsende J918
Beiträge zur Militärgeschichte Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Band 53
R.
Oldenbourg Verlag München 1999
Kriegsende 1918 Ereignis, Wirkung, Nachwirkung
Im Auftrag des
Militärgeschichtlichen Forschungsamtes
herausgegeben von
Jörg Duppler und Gerhard P. Groß
R.
Oldenbourg Verlag München 1999
Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme -
Kriegsende 1918 : Ereignis, Wirkung, Nachwirkung / im Auftr. Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Jörg Duppler und Gerhard P. Groß. München : Oldenbourg, 1999 (Beiträge zur Militärgeschichte ; Bd. 53)
des
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ISBN 3-486-56443-9 NE: Duppler, Jörg [Hrsg.]; GT
© 1999 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D 81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. -
Übersetzungen,
Satz: Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Karten und Diagramme: Daniela Borisch, Hannelore Mörig und Bernd Nogli, Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam Repro: CML DTP & Satzservice Potsdam GmbH, Teltow Druck und Bindung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München ISBN 3-486-56443-9
Inhalt Vorwort .VII
Einleitung Jörg Duppler Einführung.3 Alexandre Adler Der europäische Bürgerkrieg 1815-1945.7 Bruno Thoß Militärische Entscheidung und politisch-gesellschaftlicher Umbruch. Das Jahr 1918 in der neueren Weltkriegsforschung.17 I. Die militärischen
Operationen der Mittelmächte an der Westfront 1918
Rüdiger Schütz
Einführende Bemerkungen.41 Dieter Storz »Aber was hätte anders geschehen sollen?« Die deutschen Offensiven an der Westfront 1918.51 Wolfgang Etschmann Österreich-Ungarn zwischen Engagement und Zurückhaltung. K.u.k. Truppen an der Westfront.97 II. Die militärischen
Operationen der Entente an der Westfront 1918
Hew Strachan Einführende Bemerkungen.109 J.P. Harris Das britische Expeditionsheer in der Hundert-Tage-Schlacht vom 8. August bis 11. November 1918 .115 André Bach Die militärischen Operationen der französischen Armee an der Westfront Mitte 1917 bis 1918.135 Edward M. Coffman Militärische Operationen der US-Armee an der Westfront 1918.145 III. Der Alltag des
Krieges. Die Front
Gerd Krumeich Einführende Bemerkungen.161 Benjamin Ziemann Enttäuschte Erwartung und kollektive Erschöpfung. Die deutschen Soldaten an der Westfront 1918 auf dem Weg zur Revolution.165
Klaus Latzel Die mißlungene Flucht vor dem Tod. Töten und Sterben vor und nach 1918.183 André Bach Die Stimmungslage der an der französischen Front 1917 bis 1918 eingesetzten Soldaten nach den Unterlagen der Briefzensur.201 Michael Epkenhans: Die Politik der militärischen Führung 1918: »Kontinuität der Illusionen und das Dilemma der Wahrheit« .217 IV. Der Alltag des
Krieges. Die Heimat
Jean-Jacques Becker Einführende Bemerkungen.237 Christoph Jahr Bei einer geschlagenen Armee ist der Klügste, wer zuerst davonläuft. Das Problem der Desertion im deutschen und britischen Heer 1918.241 Volker Ullrich Zur inneren Revolutionierung der wilhelminischen Gesellschaft des Jahres 1918.273 François Cochet Vom Zweifel am Erfolg zum Ende der Schicksalsprüfung das Jahr 1918 im französischen Hinterland .285 Gabriele Werner Otto Dix Der Krieg.299 Sabine Behrenbeck Zwischen Trauer und Heroisierung. Vom Umgang mit Kriegstod und Niederlage nach 1918.315 —
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Kriegsende. Die unbewältigte Erinnerung Winfried Baumgart Einführende Bemerkungen.343 V. Das
Gerhard P. Groß Eine Frage der Ehre? Die Marineführung und der letzte
Flottenvorstoß 1918.349
Bernd Ulrich Die umkämpfte Erinnerung. zur Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges in der Weimarer Republik.367
Überlegungen
Friederike Krüger/Michael Salewski Die Verantwortung der militärischen Führung deutscher Streitkräfte in den Jahren 1918 und 1945.377 Die Autoren.399
Vorwort
Am Anfang seiner Lebenserinnerungen, die den bezeichnenden Titel »Die Welt von gestern« tragen, schreibt der große europäische Schriftsteller Stefan Zweig: »Wenn ich versuche, für die Zeit vor dem Ersten Weltkriege, in der ich aufgewachsen bin, eine handliche Formel zu finden, so hoffe ich, am prägnantesten zu sein, wenn ich sage: Es war das goldene Zeitalter der Sicherheit.« Heute wissen wir, wie tiefe Spuren gerade der Erste Weltkrieg im Bewußtsein der Massen hinterlassen hat. Von daher verwundert es nicht, daß Stefan Zweig und mit ihm viele seiner Zeitgenossen die vier Jahre dieses ersten alle bisherigen Dimensionen sprengenden Krieges als epochale Zäsur empfanden. Über die Schuld am Ausbruch dieser »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts«, wie es der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan formulierte, ist viel gestritten worden. Die Frage nach einer Standortbestimmung des Ersten Weltkrieges für die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert ist bis heute nicht abschließend beantwortet worden. Wie kaum ein Ereignis der Geschichte Europas hat der Erste Weltkrieg das Gesicht des europäischen Kontinentes verändert. Als Finale des »Großen Krieges« und als Anfang einer neuen Friedensordnung liegt das Jahr 1918, ebenso wie die Jahre 1648, 1815 und 1945, an der Schnittstelle zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit. Es ist daher nicht nur das Ende des »Großen Krieges«, sondern zugleich auch Ausgangspunkt für eine neue europäische Ordnung. Den Zeitgenossen wurde aber nur langsam bewußt, daß der Krieg als Katalysator nicht nur ökonomische und soziale Prozesse bis hin zur Oktoberrevolution beschleunigt, sondern auch weltpolitische Veränderungen, wie »die Selbstentmachtung des alten Kontinents«1 und die Geburt der Weltmacht USA, forciert hat. Andere Veränderungen waren für die Beteiligten offensichtlich. Als Folge der Niederlage stürzten die Throne in Berlin und Wien. Die Donaumonarchie löste sich auf, und in Rußland herrschten die Kommunisten. Nachdem der Krieg gewonnen war, galt es, den Frieden zu gewinnen und Europa neu zu ordnen. Dazu mußte mit erster Priorität über die Zukunft des revolutionären Rußland und des besiegten Deutschen Reiches entschieden und die Erbmasse der untergegangenen Kaiserreiche Rußland, und Deutschland räumlich neu geordnet werden. Über die Gestaltung der neuen europäischen Friedensordnung entstand sehr schnell ein grundlegender Dissens zwischen den Siegern. Die extremen Sicherheitsbedenken der Franzosen kollidierten mit den amerikanischen Vorstellungen —
Österreich-Ungarn
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Klaus Hildebrand, Das vergangene Reich. Deutsche 1871-1945, Stuttgart 1995.
Außenpolitik von Bismarck bis Hitler
VIII
Vorwort
Weltfriedensordnung, in der kollektive Sicherheit und nationale Selbstbestimmung die zentralen Punkte bildeten. Der Schlüssel zum Frieden sollte nach amerikanischem Willen ein Völkerbund sein. Der Versailler Friedensvertrag war dann ein Kompromiß beider Vorstellungen. Für Deutschland war das Kriegsende zugleich Ende und Auftakt. Niederlage und Zusammenbruch führten direkt zur Revolution und zum Friedensvertrag von Versailles, der über die Parteigrenzen hinweg als Diktatfrieden abgelehnt und so zu einer großen Hypothek für die sich etablierende Weimarer Republik wurde. Heute wird nicht mehr bestritten, daß der Zweite Weltkrieg ebenso wie das Scheitern der jungen deutschen Demokratie ohne den Ersten Weltkrieg und besonders dessen Ende nicht begriffen werden kann. Während in der Weltkriegsforschung der sechziger und siebziger Jahre schwerpunktmäßig politik-, sozial- und strukturgeschichthche Fragestellungen den wissenschaftlichen Diskurs dominierten2, hat sich, jenseits der älteren militärischen und politischen Perspektiven der Weltkriegsforschung »von oben und von außen«, seit den achtziger Jahren in Deutschland eine moderne Müitärgeschichtsschreibung etabliert, die den Krieg und die Soldaten, die ihn führten, zum Forschungsgegenstand nimmt. Die alltags- und mentalitätsgeschichtlichen Arbeiten der letzten Jahre entwerfen eine neue Sicht der Dinge nicht »von oben«, sondern »von unten«. Diese Arbeiten zeigen, daß gerade in der Militärgeschichte besonders in der Forschung zum Ersten Weltkrieg neue Methoden Einzug zu die Erkenntnissen weiteren über das haben, gehalten Kriegsende 1918 geführt einer
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haben. Daher war es nur konsequent, daß das Militärgeschichtliche Forschungsamt anläßlich der 80jährigen Wiederkehr des Weltkriegsendes die 40. Internationale Tagung für Militärgeschichte zum Thema »1918 Das Ende des Ersten Weltkrieges. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung« mit dem Schwerpunkt Alltags- und Mentalitätsgeschichte in Aachen durchführte. Neben seit längerem erprobten Ansätzen zur Erforschung des »Großen Krieges« finden sich im vorhegenden Tagungsband jüngste historiographische Zugänge, die mit Blick auf das Kriegsgeschehen mentalitätsgeschichtliche sowie kunst—
historische Fragestellungen aufgreifen. Die Tagung erfolgte in enger Zusammenarbeit mit dem französischen Part-
nerinstitut des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, dem Service Historique de l'Armée de Terre. Seinem Chef, Brigadegeneral André Bach, sei hierfür ausdrücklich gedankt. Mein Dank gilt auch den in- und ausländischen Fachkollegen, die als Referenten und Diskussionsteilnehmer Forschungsergebnisse vorgetragen und in kurzer Zeit zur Veröffentlichung vorgelegt haben.
Siehe hierzu Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Wolfgang Michalka, München, Zürich 1994 (= Serie Piper, Bd 1927).
Vorwort
IX
Den Organisatoren der Tagung und Herausgebern des vorhegenden Bandes, Kapitän zur See Dr. Jörg Duppler und Oberstleutnant LG. Dr. Gerhard P. Groß, danke ich für ihr großes Engagement. In diesen Dank beziehe ich mit ein alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, insbesondere die Lektoren Dr. Peter Schramm und Dr. Aleksandar-S. Vuletic, die zum Gelingen wesentlich beigetragen haben. Friedhelm Klein M.A. Oberst i.G. Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes
Einleitung
Jörg Duppler Einführung Der Erste Weltkrieg war der erste moderne, die ganze Welt einbeziehende Krieg der Menschheitsgeschichte und zugleich ein entscheidender Schritt hin zum »Totalen Krieg«. Die kriegführenden Staaten setzten moderne Waffensysteme, wie U-Boote, Gas, Flugzeuge, Panzer und Maschinenwaffen, ein, erprobten unter unge-
heuren Verlusten neue Taktiken und Strategien und bauten große militär-industrielle Komplexe auf. Während sich an den europäischen Fronten Millionenheere in gewaltigen Materialschlachten gegenüberstanden, kämpften Soldaten im Hochgebirge der Alpen, in den Wüsten und Dschungeln der Kolonien und in den Weiten des Osmanischen Reiches. Im Atlantik, Mittelmeer und in der Nordsee führten deutsche UBoote und allüerte Marinestreitkräfte einen erbittertem Zufuhrkrieg. Dieser führte sowohl zu Rationierungen in der Ernährungswirtschaft als auch zu einem zunehmenden Rohstoffmangel in den kriegführenden Staaten. Konsequenterweise entwickelten nun alle Kriegsparteien eine immer umfassendere Kriegswirtschaft, welche die Zivilbevölkerung in einem bis dahin nicht gekannten Maße in das Kriegsgeschehen einband. Bombenangriffe mit Flugzeugen gegen Industrieanlagen und Städte trafen unmittelbar die Zivilbevölkerung und eröffneten eine neue Dimension der Kriegführung. Der Krieg zwang die beteiligten Staaten zur Mobilisierung aller ökonomischen, personellen und geistigen Ressourcen. Es entwickelte sich ein Volkskrieg, der das Gesicht des Krieges veränderte und alle Schichten der Gesellschaft erfaßte. Ohne den Rückhalt in der eigenen Bevölkerung konnte der Krieg nicht gewonnen werden. Deren Beeinflussung und Mobilisierung waren daher für die kriegführenden Staaten von zentraler Bedeutung, so daß sie versuchten, die jeweilige Gegenseite innerpolitisch durch den Einsatz von Propaganda und revolutionären Bewegungen zu destabilisieren. Die Entwicklung der modernen Massenkommunikation bildete dafür die Voraussetzung. Millionen von Menschen, Soldaten und Zivilisten, wurden aus ihrem alltäglichen Leben gerissen. Nicht der prognostizierte kurze Krieg, sondern das lange Massensterben in den Materialschlachten prägte das tägliche Erleben der Frontsoldaten. In der Heimat fielen den Frauen neue Rollen zu mit weitreichenden Konsequenzen für die Nachkriegszeit. Und besonders bei den Mittelmächten beherrschte der Hunger das tägliche Leben gerade in der Heimat. das letzte Kriegsjahr des »Großen Krieges« bildet eine Schnittstelle 1918 zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit. Das Ende des Krieges und der Neuanfang in Europa haben ihren Anfang und ihr Ende in diesem Umbruchjahr. Folgerichtig beschäftigte sich die Weltkriegsforschung in bezug auf das Kriegsende vor —
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Jörg Duppler
allem mit den Friedensschlüssen von Brest-Litovsk und Bukarest, der Novemberrevolution sowie der Frage nach Kontinuität und Diskontinuität deutscher Großmachtpolitik nach 1918. Die Frage, was der Erste Weltkrieg den beteiligten Menschen, Zivilisten in der Heimat und Soldaten an der Front, bedeutete, wie er auf sie wirkte und sie veränderte, wurde lange Zeit in der historischen Forschung ausgespart, obwohl, wie Gerd Krumeich zurecht ausführt, er eine »der prägenden Erfahrungen dieses Jahrhunderts, vielleicht sogar die entscheidende« gewesen ist1. Die seit 1980 auch in Deutschland verstärkt einsetzende Hinwendung zur Alltags- und Mentahtätsgeschichte hat dem Ersten Weltkrieg im Zeitalter beider Weltkriege einen neuen Stellenwert beigemessen und deutlicher als zuvor aufgezeigt, in welchem Ausmaß der Erste Weltkrieg der »Vater aller Dinge« war. Bei jüngeren Historikern stehen nicht mehr die Kriegsschuldfrage und die Kriegszielpolitik im Mittelpunkt des Forschungsinteresses, sondern Kriegserlebnis und Verarbeitung des Krieges durch abgrenzbare soziale Gruppen oder einzelne Persönlichkeiten. Methodisch und inhaltlich wurden neue Ansätze entwickelt und so ein Ausweg aus der »Sackgasse strukturgeschichtlich-normativer Interpretation« (Krumeich) gewiesen. Zugleich füllen diese Ansätze die Strukturgeschichte mit dem bis dahin vernachlässigten Alltagsleben des »Normalbürgers«. Fast genau 80 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges griff das Militärgeschichtliche Forschungsamt mit der 40. Internationalen Tagung für Militärgeschichte zum Thema »1918 Das Ende des Ersten Weltkrieges. Ereignis, Wir-
kung, Nachwirkung« den Forschungsgegenstand Erster Weltkrieg mit dem Schwerpunkt Alltags- und Mentalitätsgeschichte auf. Inhaltlich deckte die Tagung drei miteinander verbundene Themenkomplexe —
ab:
Die Kampfhandlungen an der Westfront im Jahr 1918; der Alltag des Krieges an der Front und in der Heimat im letzten Kriegsjahr; das Kriegsende und die unbewältigte Erinnerung an den Weltkrieg. Die Ergebnisse dieser Tagung veröffentlicht das Militärgeschichtliche Forschungsamt mit dem vorhegenden Band, der sich thematisch angelehnt an den in sechs Abschnitte gliedert. Ablauf der Tagung Eröffnet wurde die Tagung durch einen öffentlichen Festvortrag des französischen Historikers und Publizisten Alexandre Adler zum Thema »Der europäische Bürgerkrieg 1815-1945«, der den Ersten Weltkrieg in die europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einband. Der Beitrag von Bruno Thoß über den Forschungsstand zum Ersten Weltkrieg speziell zum Kriegsende 1918 leitete thematisch die Tagung ein. Im Rahmen dieses Literaturberichts werden sowohl die Paradigmenwechsel als auch die -
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Gerd Krumeich, Kriegsgeschichte im Wandel S. 11, in: Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkrieges, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich in Verbindung mit Irina Renz, Essen 1993 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. Neue Folge, Bd 1). ...
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Einführung
Forschungsansätze in der deutschen und internationalen Weltkriegsforschung formuliert und weiterführende Fragen gestellt. Der Titel dieses Vortrages war zugleich auch Leitthema der Tagung: »Militärische Entscheidung und politisch-gesellschaftlicher Umbruch. Das Jahr 1918 in der neueren Weltkriegsforschung«. Bewußt wurde die militärische Komponente des Krieges als Thema in die Tagung eingebunden und an den Anfang der Veranstaltung gestellt; denn der Krieg und dessen Verlauf bildeten die Grundlage der Erfahrungen von Soldaten und Zivilisten. Die Wirklichkeit des »Schießkrieges« an der Front und seine Auswirkungen auf die Heimat sind notwendige Hintergrundinformationen, um das neueren
Handeln des Einzelnen, auch das des »kleinen Mannes«, und der Fabrikarbeite-
rin und Mutter zu verstehen. Dies trifft auf das Jahr 1918 im besonderen Maße zu. Denn gerade das Kriegsjahr 1918 zeigt, daß die Erfahrungen der Frontsoldaten mit den militärischen Erfolgen und Mißerfolgen in einem engen Zusammenhang stehen. So folgte auf deutscher Seite der Euphorie des Frühjahrs die Depression des Herbstes 1918. Im ersten und zweiten Kapitel des Tagungsbandes werden die militärischen Operationen der kriegführenden Parteien an der Westfront behandelt. Hier wird deutlich, daß die Betrachtung des »Schießkrieges« in all seinen Dimensionen für das Verständnis des Kriegserlebnisses von eminenter Bedeutung ist und auch auf
diesem Feld noch viele Fragen unbeantwortet sind. Zugleich wird offensichtlich, daß auch achtzig Jahre nach dem Kriegsende gelegentlich nationale Betrachtungsweisen die wissenschafthche Diskussion durchdringen und die Bewertung militärischer Operationen beeinflussen. Auch die Frage nach den pohtischen Zielvorstellungen der Obersten Heeresleitung ist letztlich noch nicht endgültig geklärt. Einen Schwerpunkt büden das dritte und vierte Kapitel des vorliegenden Bandes. Unter der Überschrift »Der Alltag des Krieges. Die Front« werden im dritten Kapitel die enttäuschten Erwartungen und die kollektive Erschöpfung der deutschen Soldaten sowie die Empfindungen und Erfahrungen der französischen Soldaten2 thematisiert. Dabei wird deutlich, daß die Erfahrungen und Empfindungen der französischen Soldaten in sehr vielen Bereichen denen ihrer deutschen Gegner ähnelten. Die tiefe physische und psychische Erschütterung durch das Kriegs- und Todeserlebnis der Soldaten und den zum Kriegsende hin immer stärker werdenden Realitätsverlust der militärischen Führung im Kaiserreich runden diesen Abschnitt ab. Das vierte Kapitel »Der Alltag des Krieges. Die Heimat« richtet das Interesse auf die Heimat und die Beziehungen zwischen Heimat und Front. Letzteres Thema wird am Beispiel der Desertion im deutschen und britischen Heer 1918 behandelt. Desertion war bezogen auf die Gesamtdauer des Krieges für die britische Armee ein marginales Problem. Dies gilt, trotz der seit 1917 unübersehbaren Desintegrationstendenzen, bis weit in den Sommer 1918 hinein auch für das deutsche Heer. Weder die militärische noch die politische Führung sahen in der Deser—
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Neuerdings dazu Jean Nicot, Les Poilus ont la parole. 1917-1918, Vincennes 1998.
Dans les tranchées: lettres du front
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Jörg Duppler
tion eine Gefahr für die
Disziplin der Truppe. Folglich waren die Militärstraferst im Zweiten Weltkrieg erfuhr die deutsche Militärjustiz jenen entscheidenden Schub der Radikalisierung und Enthumanisierung, der insbesondere in der heutigen Zeit die öffentliche und wisgesetze mehrfach gemildert worden, und
senschaftliche Diskussion beeinflußt. Der Kriegsalltag der Zivilbevölkerung in Deutschland und in Frankreich bildet den Schwerpunkt des vierten Kapitels. Für das Deutsche Reich wird dabei verstärkt auf die innere Revolutionierung der wimelminischen Gesellschaft im Jahr 1918 hingewiesen, während von französischer Seite die durch die deutschen Offensiven ausgelösten Ängste und Sorgen und die Auswirkungen des amerikanischen Eingreifens auf die Befindlichkeit der Franzosen thematisiert werden. Der Umgang mit Kriegstod und Niederlage im Deutschland der zwanziger und dreißiger Jahre sowie eine weltanschaulich-künstlerische Standortbestimmung des Werkes und des geistig-künstlerischen Umfeldes von Otto Dix beschließen diesen Abschnitt. Das abschließende Kapitel »Das Kriegsende. Die unbewältigte Erinnerung« setzt sich sowohl mit der kurz- als auch mit der langfristigen Perzeption des für viele Deutsche völlig unerwarteten Waffenstillstandes und Kriegsendes auseinander. Wie in der deutschen Nachkriegsgesellschaft um die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg gerungen, wie Erinnerungen gesteuert wurden und wer von den entstehenden Spannungen profitierte, wird in diesem Abschnitt thematisiert. Das Beispiel des geplanten Flottenvorstoßes im Oktober 1918 verdeutlicht, wie die militärische Führung des Kaiserreichs hier die Marineführung ihre Planungen und Handlungen am Kriegsende an der Zukunftssicherung der Seestreitkräfte ausrichtete, um ihre Stellung auch im Machtgefüge Nachkriegsdeutschlands zu sichern. Abschließend wird die Frage nach der Verantwortung der militärischen Führung deutscher Streitkräfte 1918 und 1945 behandelt. Hier wird deutlich, daß Adolf Hitler anders als Wilhelm II. bis zum Ende des »Dritten Reiches« nichts an Führungsautorität zugunsten des Militärs einbüßte, sondern sich durch die Vermengung von Politischem und Militärischem die unangefochtene oberste Befehlsgewalt sicherte. Die 40. Internationale Tagung für Militärgeschichte erbrachte eine Fülle wissenschaftlicher Erkenntnisse über das Kriegsende 1918 und seine Perzeption. Wenngleich auch Defizite in der Forschung z.B. in bezug auf die politischen Zielsetzungen der deutschen Offensivstrategie, die Legitimierungs- und Erinnerungspolitik und die Rückwirkungen des Kriegsendes auf die Gesellschaft der nachfolgenden deutschen Republik und ihres Militärs benannt wurden, ist es im Ergebnis der Tagung gelungen, den komplexen Zusammenhang von Militär, Kultur und Alltag herauszuarbeiten. Die mentalitätsgeschichtliche Betrachtungs—
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weise
ermöglichte es zudem, Fragen zu beantworten, die bei einem auf die rein
nationale Perspektive verengten diplomatie-, operations- und sozialgeschichtlichen Forschungsansatz bisher offen geblieben waren. Dies ist das Verdienst der Sektionsleiter und Referenten sowie der zahlreichen Fachhistoriker, welche die
40. Internationale Tagung für Militärgeschichte bestritten und mit qualifizierten Beiträgen bereichert haben. Ihnen allen gilt der besondere Dank der Herausgeber.
Alexandre Adler Der europäische
Bürgerkrieg 1815-1945
Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen? Warum haben wir sie nicht kommen sehen? Wodurch wurde das europäische Bewußtsein in die Irre geleitet, so daß es den Weg nicht sah, der am Abgrund des August 1914 hätte vorbei führen können? Dies sind bange Fragen, die für das Verständnis unseres gerade endenden 20. Jahrhunderts ausschlaggebend sind, und die wir nicht müde werden, uns auch heute noch zu stellen, nachdem sich bereits alle großen Autoren des Jahrhunderts verzweifelt um Klarheit bemühten, von Thomas Mann in »Der Zauberberg« bis Alexander Solschenizyn im »August 1914«, von Robert Musil bis James Joyce, es ist, als wollten wir der Geschichte im nachhinein noch einen letzten imaginären Aufschub abtrotzen. Die Antworten auf diese quälenden Fragen, so zahlreich sie auch sein mögen, bleiben unbefriedigend. Die einen wollten zu Recht die plötzlichen politischen Spannungen geltend machen, die sich gleichzeitig auf deutscher und auf russischer Seite zuspitzten, so daß beide diesmal in ihren kaum verhehlten kriegerischen Absichten voll übereinstimmten. Andere suchten die Gründe in den waghalsigen Bündnissen Frankreichs mit Rußland und in Deutschlands forciertem Flottenbau, durch den es sich endgültig mit England tödlich verfeindete. Diese beiden fatalen Konstellationen verhinderten, eine nach der anderen, die Eindämmung, Regionalisierung und Lösung der vom Attentat in Sarajevo heraufbeschworenen Krise. Eine dritte Theorie, die dem modernen systematischen Kausalitätsdenken verpflichtet ist, sieht die Gründe in der Jungtürken-Revolution von 1908/09, die zu einer unüberwindlichen Instabilität im östhchen Mittelmeerraum führte und fast gleichzeitig Italiens Ansprüche auf Libyen weckte, sowie fast automatisch in den beiden erdrutschartigen Balkankriegen 1912/13, in denen die Expansionspolitik der Russen die serbische Aggressivität zwangsläufig anstachelte. Und wenn wir die Ursachen von noch höherer Warte aus suchen, dann stoßen wir auf den frenetischen Rüstungswettlauf bei den Land- und Seestreitkräften und wahrscheinlich zwingender noch, auf den verblüffenden Erfolg des nationalistisch verbrämten Militarismus in der Bevölkerung, der die damaligen Regierungen unweigerlich dazu verführte, ihn zu nutzen, so wie sie sich später, freilich friedlicher, der Inflation bedienen sollten. Die Militärhistoriker weisen diese Interpretationen nicht zurück, die eine moderne kausale Auffassung als ergänzend gelten lassen und nicht für widersprüchlich halten. Sie wollen ganz natürlich lediglich die eigene Logik des »Kriegshandwerks«, wie es der bedeutende Historiker Gerhard Ritter Anfang der fünfziger
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Alexandre Adler
Jahre nannte, hervorheben; es ist nämlich die Entfaltung des Kriegshandwerks während des gesamten 19. Jahrhunderts, die paradoxerweise den großen Zusammenstoß im Sommer 1914 vorbereitet. Aber wieso
paradoxerweise? Aus einem ebenso einfachen wie einleuchtenden Grund: Die Kriegserklärungen von 1914 können nur als Ausdruck eines fest verwurzelten Rationalismus, gepaart mit Zuversicht, verstanden werden. Zu der größten irrationalistischen Ausschweifung der europäischen Geschichte kam es folgerichtig, wie zu einem selbstverständlichen Umschwung, so als ob der großartige Rationalismus Guiberts, Clausewitz' und des alten Moltke sich auf überraschende Weise verwirklichte. Das gesamte strategische Denken des vorausgegangenen Jahrhunderts ist in der Tat durchdrungen von den schrecklichen und zugleich schwärmerischen Erinnerungen an die Napoleonischen Kriege, auf ihrem Höhepunkt in der entscheidenden Völkerschlacht bei Leipzig 1813, die in Wirklichkeit aber nichts entscheidet, da noch viele andere und blutigere Schlachten bevorstehen. Zur Verhütung von derartigen fatalen Zuspitzungen beschreibt Carl v. Clausewitz das Kriegsgeschehen seiner Zeit und entwickelt seine Theorien. Er stellt in seinen Werken den Krieg und die Kriegführung aus Napoleons Sicht dar, so als wäre dessen Denken sein eigenes, mit seinem unerbittlichen Zug zum Extrem, der Odyssee des totalen Krieges, der Mobilmachung der Völker, der wirtschaftlichen Abschließung des europäischen Festlandes durch die Kontinentalsperre, der Verwischung der Grenzen zwischen Front und Hinterland, die sich auch in der Vendée, in Irland, Tirol, Spanien und schließlich in Rußland wiederholen, mit ihren aufblühenden Kleinkriegen. Er gelangt so, wie bei einer dramatischen Auflösung des Kräftespiels, von Schlacht zu Schlacht, von Trafalgar bis Austerlitz, von Jena bis Wagram und zu der Feuersbrunst, die weiterhin die Länder heimsucht und verheert. Aber als großer Politiker, als »Weltarzt«, wie Piaton sagte, begnügt sich Clausewitz nicht mit dieser Beschreibung, die man oft, leider zu oft, allein in seinem immensen Werk würdigt. Clausewitz erfindet auch und gestaltet dadurch die unmittelbare Zukunft: in seiner Theorie findet nämlich auch eine Rückkehr zum Frieden ihren Platz: es ist eine Rückbesinnung auf die Welt der Klassiker, die ihre Kriege unter Kontrolle hält, in der man die Gewalt in Schienen legt, wie einen gewöhnlichen Knochenbruch. Die Staaten wären damit vor irreparablen Katastrophen sicher, wie jener, die Preußen 1806 bei Jena/Auerstedt erlebte, und die schon einen Vorgeschmack auf das französische Desaster von 1940 gab, das ähnlich, aber weniger glorreich, verlaufen wird. Die theoretische Stärke eines Clausewitz liegt nicht so sehr in der schon bei François Guibert (1744-1790) vorhandenen Rehabilitierung der klassischen Definition des Krieges als politischen Krieg, eines Krieges, der wie ein reißender Sturzbach eingedämmt und vom Staat kalkuliert und ausgetüftelt werden kann, ohne daß er allein von der naturgemäß grenzenlosen Macht- und Ruhmesgier eines selbstgefälligen Kriegsherren bestimmt wird. Nein, hier hegt nicht Clausewitz' eigentliches Verdienst. Sein Genie beweist er durch die prophetische Sicht des immanenten zweckrationalen Prozesses, der im Laufe der Jahre auf den Krieg hinarbeitet: es sind diese Reibungskräfte, die
Der europäische Bürgerkrieg 1815-1945
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sich anstauen; es ist diese Logik, der niemand folgen kann, dieser »Extrempunkt der Offensive«, an dem die Feuerkraft jeder Truppenbewegung immer überlegen sein wird, dieser Prozeß der Gewöhnung des Gegners an die Gefahr und dessen Abhärtung, der nach jedem weiteren Kampf die gegnerische Taktik besser versteht, sich weniger gefügig zeigt. Das sind die Urkräfte, die aus der Logik des totalen Krieges entspringen und die dazu beitragen, daß dieser totale Krieg sich nach und nach selbst vernichtet, so wie er entstanden ist, nämlich als eine Anhäufung von Faktoren, nur diesmal mit umgekehrten Vorzeichen. Die Größe des Kriegsherrn besteht nun darin, das Unvermeidliche schnell zum Abschluß zu bringen, die Zeitspanne zwischen Austerlitz und Waterloo zu verkürzen, die Kriegslasten für jedermann zu erleichtern, um anschheßend die Macht zurück in die Hände der Politiker zu legen. Diesen modernen Krieg hätten sie wie ein einfaches Instrument wegwerfen können, sobald es keinen Zweck mehr erfüllte. Die Verschiebung erinnert ein wenig an die Episode mit Beethoven, der Napoleon die Widmung seiner 3. Symphonie, der »Heroika«, wieder entzog, um sie auf einen unbedeutenden enghschen Admiral, der Nelson nacheiferte, zu übertragen. Es ist eine große Schlacht des Seekrieges, der brutal und entscheidend in seinen Auswirkungen, erneut über das Schicksal der Massen entscheidet. Der Landkrieg kann, wenn er intelligent geführt wird, zum gleichen Resultat führen, nämlich wie ein rascher entschiedener Hieb mit dem Säbel, der gleich darauf wieder in der Scheide verschwindet und (so) den künftigen Frieden sichert, den die Diplomaten am Ende auszuhandeln haben. Clausewitz hat seine Wette gewonnen. Zumindest für ein Jahrhundert. Kein neuer Rußlandfeldzug, nur eine einzige Belagerung der Stadt Sevastopol' auf der Krim. Kein aufreibender Kleinkrieg, nur ein paar Barrikaden hier und da, von Paris bis Wien, und Garibaldis lustiger Freischarenzug in Sizilien. Und als Bismarck beschließt, auf deutschem Boden mit dem bonapartistischen Spuk aufzuräumen, wird nicht lange und zermürbend komplottiert, es genügen zwei abschließende Schlachten: in Königgrätz 1866 und in Metz 1870. Sie allein haben in zweimal zwei Wochen genügt, ein großes Reich zu begründen und Europas Schicksal zu wenden. Wie sollte ein deutscher Generalstab, dem seine gewaltigen Siege zu Kopf gestiegen sind, sich da nicht einbüden, er habe die mächtige Kriegsmaschinerie in ein machiavellistisches politisches Instrument umgewandelt? Ein politisches Instrument, das Bismarck im wesentlichen eine Rückkehr zum Kräftegleichgewicht des 18. Jahrhunderts erlaubt: er baut ein System der dynamischen Gegengewichte, in dem sich Rußland in seinem Expansionsdrang nach Asien bestätigt sieht, England Garantien für seine Weltmachtstellung erhält, innenpolitisch stabd bleibt und Italien sich zur Aufrüstung ermuntert fühlt. Nur Frankreich steht isoliert und verbittert draußen, es verfügt nicht über die entscheidenden Mittel, um an dem Verdikt zu rütteln, es wird aber auch nicht ernsthaft am Ausbau seiner Kolonialmacht gehindert, deshalb verlagert es seine Energien auf die Über-
Österreich-Ungarn
seegebiete.
Bismarck und seine Mitstreiter können sich also in dem Glauben wiegen, Clausewitz' Programm verwirklicht zu haben: der Krieg ist zwar nicht gebannt, aber
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Alexandre Adler
unter Kontrolle. Dieses galoppierende Roß, das zu Napoleons Zeiten niemand zu bändigen vermochte, steht nun, gesattelt und beschlagen, bereit, um seinen Rei-
sicher zum gewünschten Ziel zu tragen. Dennoch teilt Moltke d. Altere, der einer der besten Reiter dieser neuen Apokalypse ist, keineswegs den Geschichtsoptimismus seiner Zeit, und seine Melancholie, von der uns Hans Delbrück in seiner »Geschichte der Kriegskunst im Rahmen der politischen Geschichte« berichtet, verbindet ihn über die Generationen hinweg, mehr noch als mit seinem Neffen Helmuth, dem Theoretiker der Offensive von 1914, mit seinem Großneffen, Helmuth James Graf v. Moltke, der aus politischen und ethischen Motiven die Widerstandsgruppe »Kreisauer Kreis« gründen und das Komplott gegen Hitler vorbereiten wird. Zu Clausewitz kommt mit Moltke d. Alteren noch ein halber Clausewitz hinzu, denn dieser vergißt gegen Ende seines Lebens die Heilung und meditiert über die Krankheit, er wertet die Verdienste des Sieges ab und faßt die Möglichkeit der Niederlage ins Auge: nach Metz gibt es und wird es auch künftig geben einen französischen Widerstand: Gambetta im Kampf gegen alle, Faidherbe in Bapaume, Garibaldi in Dijon. Dieser Widerstand ähnelt dem der preußischen Armeereste bei Eylau, bei Pultusk, die sich 1807/08 vergeblich, aber dennoch heroisch auf ihren letzten Terrainstreifen festkrallten, auf neue Verbündete warteten, trotz der entscheidenden Niederlagen bei Jena und Auerstedt. In Frankreich herrscht nun diese populäre Aufbruchstimmung, die Spanien 1809 und Deutschland 1813 bereits erlebten, die zu dem »Totentanz-Solo« der Pariser Kommune führt, kurz gesagt: es sind die Fragmente einer Zukunft, die das Blut erstarren lassen; alle Elemente des Ersten Weltkrieges sind schon vorhanden, von der Marneschlacht bis zur Oktoberrevolution in Rußland. Diese furchtbare europäische Zukunft wurde übrigens schon einmal auf einem anderen Kontinent geprobt, in Nordamerika: von 1861 bis 1865 standen sich genau so lange wie der Erste Weltkrieg dauerte zwei Armeen, aber auch zwei Gesellschaften in einem Kampf auf Leben und Tod gegenüber mit einem zermürbenden Stellungskrieg zwischen Washington und Richmond, einer Seeblokade, neuer Kriegstechnik (Panzerkreuzer), moderner Logistik dank der Eisenbahn und einer vorher nie dagewesenen Mobilmachung von Menschenmassen. Aber Amerika spielt für Europa zu Beginn unseres Jahrhunderts noch keine bedeutende Rolle: die enormen Verluste des Sezessionskrieges schreibt man hier dem Dilettantismus seiner Generäle, die kaum mehr als Zivilisten waren, zu, da wo man, inmitten der industriellen Revolution, die Vorwegnahme der immensen Tragik hätte sehen müssen, die 1914 auf Europa zukommt. Denn sehr bald geschieht in diesem Krieg nichts mehr, wie es vorgesehen war. Weder die rasche und unorganisierte Offensive der Franzosen, die noch viel raschere Generalmobilmachung der Russen noch der Schlieffenplan, nach dem die französischen Verteidigungsstellungen über Belgien umgangen werden sollten und der an der Marne »zum Stillstand kommt«, bringen die gewünschten Erfolge. Philosophisch gesehen, ist der Krieg (schon) Ende Oktober 1914 entschieden; es ist jetzt genau 84 Jahre her, daß die russische Armee im Schlamm der Schlacht ter
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bei
Tannenberg versank und mit ihr das Zarenreich, und das blutige Laub der Champagne fiel, welches das Ende des Trugbilds der deutschen Vorherrschaft in Europa sah. Leider wird dieser Krieg nicht mehr nach einer strengen Theorie geführt werden. Aus historischer Sicht steht er noch an seinem Anfang, denn er hat keine politischen Ziele mehr. Sagen wir es ruhig noch einmal deutlich: am 1. November 1914 beginnen die Schützengräben die territorialen Grenzen des Zusammenbruchs zu umreißen, denn Deutschland hat den Krieg schon verloren, den es führen wollte, Österreich-Ungarn und Rußland haben, tödlich verletzt durch ihre kriegerische Unfähigkeit, ihre wurmstichigen Monarchien verspielt. Vorsichtige Verhandlungspartner hätten alles daran gesetzt, die Agonie ihrer
beiden Reiche sanft abzuwickeln, und sie hätten zum Teil versucht, die deutsche Niederlage unter einem geordneten Rückzug zu vertuschen. Nichts davon geschieht: der Krieg hat seine Rolle als totaler Krieg zurückerobert, der nun die Welt wie eine unheilbare Krankheit zerfrißt. Aber anstelle Napoleons, Nelsons, Scharnhorsts, Blüchers, Erzherzog Karls oder Kutusovs, haben wir es mit gigantischen Militärbürokraten zu tun und auch schon mit den Vertretern des militärisch-industriellen Komplexes, die keine Schlachten mehr führen, sondern abstrakt über immer größere Massen verfügen, Massen an Material und jungen Leuten, die sie gefühllos hineinwerfen in das ungeheure Gemetzel, dessen Grauen sich Schritt für Schritt zu einem regelrechten Kriegsalltag entwickelt. »Erziehung vor Verdun« (1935) heißt der berühmte Roman von Arnold Zweig (Jahrgang 1887), den Siegmund Freud ganz besonders schätzte und der für ein ganzes Jahrhundert gültig ist und die Wertlosigkeit eines Menschenlebens beschreibt. Jeder weiß darüber Bescheid, spätestens seit der Rückkehr der ersten Frontkämpfer und dem Erscheinen der ersten Frontromane. Die weniger bemerkte, aber außerordentlich explosive Konsequenz dieser Lähmung der Kriegskunst ist der Standortwechsel, den sie verlangte, wenigstens für einige Zeit, je nach dem Gutdünken des Kriegsherrn. In diesem trostlosen Stellungskrieg, den Erich v. Falkenhayn vor Verdun analysiert, verändert sich die Kriegskunst in ihrem Wesen: es geht nicht mehr darum, wie in den Kriegen von Napoleon und Clausewitz, die Armeen zusammenzuziehen, die Stellungen zu wechseln, die Geländevorteile auszunutzen oder Überraschungsangriffe vorzubereiten; es handelt sich auch noch nicht darum, in das Kriegsgeschehen brandneue technische Errungenschaften einzuführen das geschieht erst ganz am Ende mit dem Einsatz von Panzern und Flugzeugen, aber zu spät, um dem Krieg noch eine andere Wende zu geben, und der Einsatz von Gas ist gar nicht mehr so neu. Nein, der gute Chef (Führer) dieses neuen mörderischen und zugleich abstrakten Krieges ist einer, der seine Soldaten zu kommandieren versteht, der sie durch Geschick und Charakterstärke mitreißt, der ihnen die Angst vor der Aufopferung nimmt und sie von der Notwendigkeit ihres eigenen Todes überzeugt, damit andere überleben. Erkennen wir darin nicht die Wurzeln des grausamen revolutionären Grundsatzes, der sich nach 1918 in Berlin, Madrid, Paris oder Mailand in so vielen Köpfen festset—
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wird? Die Aufopferung von Menschen bekommt einen ganz besonderen Stellenwert und besonders groß ist derjenige, der sie zu inszenieren vermag. Gerade die guten Generäle, die anscheinend väterlichen und vernünftigen, die Pétain, Monash und Hindenburg, haben diese zweifelhaften Werte verkörpert, und das ist der Grund, warum sich zwei von Ihnen im Moment der größten Verwirrung ihrer Staaten an der Spitze ihrer Völker wiederfinden, aber ihr Talent ist eigentlich mehr das von Kriegsherren, sie sind eher Redner, Industriekapitäne, Journalisten oder stellen einen gewissen Typ von Politiker dar. Ist es nicht gerade das, was Clausewitz predigte, als er die politische Instanz zur »Ultima Ratio« des Soldaten erhob? Nein, eigentlich nicht. Für Clausewitz für muß Guibert die wie Kriegführung immer untergeordnet bleiben unter die von die ihnen übertragen und am Ende abgelöst werden. Für politischen Ziele, die implizite Logik, die sich nach dem Beginn des Krieges von 1914-1918 durchsetzte, ist es der Krieg in seiner absoluten Logik, der sich nach und nach der Politik als Mittel bedient, und zwar als ein Mittel, das ihn ständig schürt und nährt. Weil Alfred v. Tirpitz den Krieg fortsetzen will, setzt er den U-Boot-Krieg durch, auch auf die Gefahr hin, daß Amerika dann in den Krieg eintritt; weil er den zivilen Bereich braucht, übernimmt Erich v. Ludendorff, nach der Verabschiedung von Theobald Bethmann v. Hollweg als Reichskanzler, nach und nach Regierungsfunktionen. Er verwandelt den diplomatischen Dienst und die zivile Staatsmaschinerie in ein Räderwerk der Militarisierung; so verschwindet hinter dem Spion der Botschafter und der Staatsdiener hinter dem Rüstungsingenieur. Freilich, die Konservativen wie Paul v. Hindenburg und die Liberalen wie Walther Rathenau oder Georges Clemenceau, die der nächsten Etappe in dieser fatalen Entwicklung zugestimmt haben, erkennen noch nicht, wie sich die Fachleute der Generalmobilmachung anstelle von Berufsmilitärs breitmachen, da in den trostlosen Materialschlachten ja ohnehin alle Kriegskunst abhanden gekommen ist. Während die Generäle, ständig zahlreicher und austauschbarer, zu Rädchen eines immensen bürokratischen Apparats verkommen, treten einzelne Männer vom Schlage der Mussolinis und Hitlers hervor, die »die Sprache des Volkes« sprechen: sie stülpen diesem Materialkrieg, der das Kriegshandwerk abwertet, ihre volkstümliche Frechheit über. Hier hat Frankreich mehr Glück, denn bei den Meutereien von 1917 genügt eine klassische republikanische Lösung, um den Zusammenhalt der Front und des Hinterlands zu garantieren. Die Mischung aus Schlauheit und Menschlichkeit eines Pétain, die jakobinischen Erziehungsmethoden eines Clemenceau tun ein Übriges. Aber dies geschieht auch zum letzten Mal. Die zu Leutnants avancierten Dorfschullehrer werden ihre Bauernsöhne, die sie ausgebildet haben, nicht mehr für das überwältigende Abendrot an der Front begeistern, sie werden für den Rest ihres Lebens Pazifisten bleiben. So ist es auch bei den Rechten, bei den »Feuerkreuzen« (Croix de Feu) des Obersten de la Rocque, der eine mittelmäßige Führungskraft und ein biederer Konservativer, arm an Ideen, besonders an subversiven, ist. Im Gegensatz dazu hat sich in Deutschland und in Italien der Krieg mit dem sozialistischen Kollektivismus der modernen Industriegesellschaft vermischt, er hat im Bewußtsein der Massen Spuren hinterzen
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lassen. Er hat für eine Generation, die Ernst Jünger in seinen Romanen und Essays verewigt, ein Bewußtsein des »todgeweihten Seins« hervorgebracht, wie es Martin Heidegger nennt, das die Kämpfer vom Hinterland entfremdet wie gewöhnliche Söldner. Was macht dazu die Etappe? Sie träumt von einer Rückkehr zum zivilen Alltagsleben und zur Normalität. Die meisten Matrosen, die eingepfercht in ihren Schlachtschiffen am Kai hegen, ohne einen Schuß abzufeuern, träumen seit der Skagerrakschlacht davon, an ihre Arbeit zurückzukehren. Sie alle, ob in Kronstadt, Cattaro, Kiel und später auch die französischen Matrosen auf dem Schwarzen Meer, meutern, jedoch nicht für die Revolution, wie einige behaupten, sondern einfach nur, um zurückzukehren zu den Zuständen vor dem August 1914. Sie wollen nur »zurück«, was »Revolution« im etymologischen Sinne ja auch bedeutet. Was tut hingegen der Berufsoffizier? Er denkt angestrengt darüber nach, wie er seinem geschmähten Beruf die Würde zurückgeben kann; er will zurück zur Bewegung, zu den geregelten Dienstabläufen des Krieges, um dem sinnlosen Gemetzel zu entgehen. In diesem Punkt ist der Offizier ein vorerst noch heimlicher Verbündeter derjenigen, die im erschütterten Europa die liberale Ordnung wiederherstellen wollen. In den Jahren nach 1918 erscheinen zahlreiche Werke und werden große Gedanken veröffentlicht, die eine Rückkehr zum Manöver suchen, das »Kriegshandwerk« gegen den totalen Krieg setzen: der Italiener Giulio Alfred Douhet erfindet den strategischen Luftangriff und belebt damit die indirekte Seestrategie des englischen Admirals Thayer Mahan wieder, und in der dritten Dimendem der Deutsche Erwin sion, auf dem Land, ist es der Rommel in seinem Buch über die Infanterie wieder zu Ehren verhilft, indem er die Erfahrungen der »Stoßtruppen« verallgemeinert, die mit leichten Waffen den Schützengraben verlassen. Der Engländer B.H. Liddell Hart denkt an Panzer, als Synthese der beiden napoleonischen Waffen: berittene Artillerie und schwere Kavallerie, die zusammen die Schlagkraft des revolutionären Krieges ausmachen. Amerika und Japan entwickeln mit den Flugzeugträgern ein modernes Mittel, um den Durchbruch zu erzwingen und das Patt der Seeblokade zu umgehen, das durch den Einsatz von gleichwertigen Panzerkreuzern entstanden war. Kein Zweig der militärischen Institutionen fehlt bei dieser großen intellektuellen Revolution, deren vielseitigste Repräsentanten die Deutschen Erich v. Manstein und Heinz Guderian, die Russen V.K. Triandafilov und M.N. Tuchacevski und natürlich der Franzose Charles de Gaulle sind. Die Erfahrung unseres de Gaulle erlaubt uns aber auch, in der Analyse etwas weiter zu gehen. Denn es gibt einen allgemeinen »Idealtyp« des großen Kriegsherren und militärischen Denkers des Zweiten Weltkrieges, man findet ihn insbesondere bei den Deutschen, den Japanern (Admiral I. Yamamoto), sogar bei den Engländern (A. Wavell zum Beispiel), doch alle Russen (Tuchacevski, Kaposnikov, I.D. Cernjachovski) leiden an Melancholie, einer Melancholie, gegen die de Gaulle selbst nicht völlig immun ist. Gewiß, die düsteren Zeiten, in denen sie leben, die schmählichen Niederlagen, die sie hinnehmen müssen, die politischen Verfolgungen, denen sie ausgesetzt waren, sind Gründe genug, um das zeitweilige Zögern bei ihren Unternehmun—
Überraschungsangriff,
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gen zu erklären. Ich für meinen Teil sehe eher noch etwas wie das Eingeständnis einer moralischen Niederlage, die immer am Horizont steht und die intellektuellen und Operationellen Erfolge abwertet. Und deswegen ist de Gaulle, der fast ein reiner Theoretiker geblieben ist, trotz seiner unbestreitbaren Fähigkeiten, die er in der Schlacht von Montcornet 1940 unter Beweis stellte, in jeder Hinsicht ihrer aller Revanche, indem er es vermocht hat, die Kriegskunst an ihre politische Quelle zurückzuführen, wozu allen anderen die intellektuelle Fähigkeit oder der Wille fehlte. Aber kommen wir jetzt auf den gemeinsamen Charakterzug dieser »Revolution in militärischen Angelegenheiten« der Jahre 1925-1935 zurück: sie ist bestimmt, seitens der besten Offiziere des Ersten Weltkrieges, durch eine in die Tat umgesetzte Kritik: am Stellungskrieg zugunsten der Manöver, an der Technik zugunsten des wahren Waffenhandwerks. Man wird es bei Tuchacevski unter dem Begriff »Tiefenschlacht« finden, als Wiederergreifen der Initiative bei Rommel und als professioneller Einsatz mechanisierter Kräfte bei de Gaulle, der sich mit einem Schlag vom Konzept der defensiven Kriegführung Pétains befreit. Es handelt sich bei allen Formen um dieselbe Sache, nämlich darum, die Dynamik, Beweglichkeit und Intelligenz des Krieges wiederzufinden. Und diese Dimension der militärischen Revolution ist wirklich geglückt: der Zweite Weltkrieg kennt wirklich die Rückkehr zur napoleonischen Reinheit des Kampfes, einige seiner rein militärischen Phasen sind wieder prägend und großartig wie ehedem: die von Manstein 1940 vorbereitete Operation zur Niederwerfung der Westmächte erinnert erstaunlich deutlich an die Dreikaiserschlacht von 1806; Pearl Harbor führt unweigerlich zu Vergleichen mit der Vernichtung der dänischen Flotte in Kopenhagen; und Midway ist nichts anderes als eine Trafalgar-Schlacht mit Luft- und Seestreitkräften, die Amerika ermöglichen wird, sich auf seine Westfront zu konzentrieren. Manchmal gehen die Ähnlichkeiten bis ins Detail, und zwar trotz der enormen technologischen Fortschritte, die seither gemacht worden sind. Im Zweiten Weltkrieg gab es gewiß eine Rückbesinnung auf Napoleon, sogar bis zur mit strategischen Verblendungen, so bei der falschen Einschätzung des Faktors Seekrieg, aber durch eine Rückkehr zu Clausewitz trotz aller gegenläufigen Traditionen, besonders in Deutschland und zur Betonung der politischen Faktoren des Kampfes. Sagen wir es einfach und schematisch: die Militärs und besonders die besten unter ihnen, die Deutschen, sind auf halbem Wege stehen geblieben. Sie haben einen anderen Krieg möglich gemacht, einen barbarischen, weniger grausamen Krieg, indem sie das Primat der Offensive und der Bewegung wiederherstellten. Sie waren aber gleichzeitig unfähig, die politische Struktur zu kritisieren, die sie vom Ersten Weltkrieg geerbt hatten, das war schlimmer noch, als einen Pakt einzugehen, wie Goethes Faust mit dem Teufel: sie hatten in technischen Dingen Handlungsfreiheit, wenn sie nur passiv die von anderen ausgearbeiteten Strategien verwirklichten, die auf Vernichtung hinausliefen, auf allgemeine Menschenverluste, Kriegswirtschaft und am Ende auf Völkermord. Sie haben das Problem nur zugespitzt, bis zur endgültigen Vereitelung einer Lösung. Mit anderen Worten, sie haben das algebraische Mittel von Teülö-
Übertreibung
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sungen geliefert zu einer völligen Ausweglosigkeit, die aus dem Wahn von 1914 herrührte. Was hatte Hitler vor? Er versuchte auf die kleinliche Art eines Gefreiten, der über eine außerordentliche Rednergabe verfügt, Ludendorffs Plan zu aktualisieren und anzuwenden. Wir wissen, daß 1914 ein Krieg war, in dem es auf Menschenführung ankam und der dadurch Chefs mit den Gaben eines Hitler in den Vordergrund spielte, Chefs (Führer), die durch eine Mischung aus Zynismus und romantischer Schwärmerei in der Lage waren, von ihren Untergebenen Opferbereitschaft zu fordern. Wir wissen, daß 1914 die überschwenglichen Reserveoffiziere und Dilettanten angesichts des allgemeinen Schwindens der Kriegskunst triumphierten. Wir wissen schließlich, daß die vier Jahre Stellungskrieg und der daraus resultierende totale Krieg ein strategischer Irrtum ohne Zukunftschancen waren; nur das Ausmaß an Menschenleben, die eine ganze Generation dem Krieg geopfert hat, bewahrte ihn davor, daß er ab 1918 voll und ganz verurteilt wurde. Denn es sind dieselben absurden Konzeptionen, getragen von dieser Revolution der Unter- und Reserveoffiziere von 1914, die das faschistisch /nationalsozialistische Moment im europäischen Bewußtsein sein werden, das sich um 1935 absolut durchsetzt, durch die Energie der einen und das lasche Einverständnis der anderen. Hier erreicht der faschistische Zauber seinen Höhepunkt. Entgegen den Erwartungen von Ludwig Beck, der es 1938 noch für möglich hält, mit Hilfe der Wehrmacht gegen Hitler zu putschen, stolpert der Führer nicht sofort über die militärischen Fehler, wie ein Vierteljahrhundert vorher die liberale Macht der Bethmann Hollwegs und Rathenaus. Es müssen erst die Stümperei eines Göring in der Luftschlacht um England hinzukommen und die mangelnde Vorbereitung der italienischen Streitkräfte in Albanien, Libyen bis hin nach Äthiopien, damit die ersten Warnungen ausgesprochen werden, zu wenige, zu vereinzelt, um die äußerste Katastrophe abzuwenden, den Barbarossa-Plan selbst. Man muß viel weiter zurückgehen, bis in die Jahre 1932-1934, um einen vergessenen großen Strategen wiederzufinden, den wirklich politischen Reichswehrminister General Kurt v. Schleicher, den letzten Reichskanzler vor der Sturzflut von 1933; dieser wäre imstande gewesen, die deutsche Armee umzugestalten. Unter ihm hätte die Armee, gestützt auf politische Konzeptionen, der Begrenzung von Konflikten oder bei der Verstärkung der eingesetzten Mittel zu einer Verdichtung der Ziele gedient. Denkwürdig ist seine Niederlage. Er wird zusammen mit seiner Frau in der »Nacht der langen Messer« im Juni 1934 ermordet und quasi unter gleichen Umständen, wie als Pendant dazu, kommt Tuchacevski um. Er wird 1937 von Stalin verhaftet und erschossen, zu einem Zeitpunkt, als die Sowjetunion beschließt, den Plänen Hitlers keine nennenswerten Hindernisse —
mehr in den Weg zu legen. Mit diesen beiden furchtbaren Morden wird der Krieg für einige Zeit nicht mehr die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sein, er wird deren aktive Verneinung. Und so kommt es, daß die Barbarei, die an der Front abnimmt, bis hin zu einer quasi reinen »haßfreien« Kriegführung, die sich in der menschenleeren libyschen Wüste abspielt, nur das grenzenlose Feld öffnet für menschliche
lft
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Greueltaten, die sich im Hinterland ausbreiten, mit der Einleitung der »Endlö-
sung« durch die Sonderkommandos sofort nach dem Einmarsch in die Sowjetunion. Zum ersten Mal seit dem Dreißigjährigen Krieg steigt die Zahl der zivilen
Kriegsopfer, die abgesehen von der des Seekrieges im Ersten Weltkrieg noch unbedeutend war, beträchtlich. Wenn Manstein angeblich steht er Schleicher zu nahe 1934 nach Breslau geschickt wird, wenn der Oberbefehlshaber des Heeres Fritsch 1938 kaltgestellt wird, wird es keinen »deutschen Gaullismus« geben, der dem Wahnsinn eines totalen Krieges mit der Rationalität einer politischen Konzeption entgegentritt. Es stimmt sicher, daß die Aufgabe de Gaulies 1940 als heldenhafter Einzelgänger die Vergeblichkeit der hitlerschen Weltherrschaftspläne erneut deutlich sichtbar zu machen leichter, wenn nicht gar ein—
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facher war, als ein, aus dem Inneren der deutschen militärischen Institutionen heraus geführter, ähnlicher Versuch. Aber dennoch hatte dieser militärische Widerstand nach einigen schüchternen Versuchen von 1938 spätestens 1941 sehr wohl begonnen, Fuß zu fassen. Er rettete mit tragischem Ausgang die Ehre, wenn auch nicht das Leben, derer, die daran teilnahmen und die oft zu den besten in der deutschen Wehrmacht gehörten. Waren Stauffenberg und seine Mitstreiter deutsche Gaullisten? In ihren Gedanken übten sie jedenfalls in der extremen sie der am in sich befanden radikale Kritik totalen Lage, Krieg, sie wollten die der die für den Rechte, Wiederherstellung politischen strategischen Denker der sicherste Weg zur Gesundung der zivilisierten Welt darstellt. Wir haben uns von diesem langen europäischen Alptraum befreit, aber nicht gegen die Generation von 1914, sondern mit ihr, denn Konrad Adenauer, Robert Schumann, Aleide de Gasperi oder Jean Monnet sind allesamt Überlebende dieser Tragödie und Zeugen der großen Massaker. Seit einem halben Jahrhundert wird dieser breitangelegte kollektive Selbstmordversuch, in seinem Wesen von europäischen Wissenschaftlern analysiert. Wir haben aus dieser Unglücksspirale erst herausgefunden durch die in umgekehrter Reihenfolge vorgenommene Erprobung dessen, was unsere Verfahren in die Katastrophe hineingestürzt hat: Ziviles Leben vor Müitarismus, Wirtschaft vor »Großer Politik«, Befriedigung individueller Bedürfnisse vor der Aufopferung für das Vaterland. Vom Westen her hat sich der Kontinent tatsächlich von diesem explosiven Zwang zur Kriegswirtschaft und Verplanung ganzer Generationen für vorbestimmte Zwecke befreit, von dem sich die Sowjetunion und ihr sozialistisches Lager nie kritisch zu distanzieren vermochten. Am Horizont des Jahres 1989 stand der Sieg der Freiheit über den kasernierten Sozialismus, der des Rationalismus der III. Französischen Republik und der Weimarer Republik beide endlich vereint über den kriegerischen Neuromantismus, der inzwischen senil geworden war, wie die letzten Kommunisten. —
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Ja, wir haben vor knapp 10 Jahren gesiegt. Endlich! Aber vielleicht ist es geradeswegen jetzt an der Zeit, da wir uns von den Schlacken unserer jüngsten Vergangenheit gereinigt haben, die Bedingungen eines besseren Einsatzes im de
Einklang von Recht und Vernunft der unweigerlich sich büdenden Macht zu überdenken, die jetzt durch die europäische Einigung entsteht. Das ist unsere gemeinsame Aufgabe, die der Deutschen und der Franzosen. —
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Entscheidung und politischgesellschaftlicher Umbruch.
Militärische
Das Jahr 1918 in der neueren Weltkriegsforschung Eine Serie internationaler Fachtagungen1, umfassende Forschungsberichte zur 80. Wiederkehr des Kriegsausbruchs von 19142 und die Aufnahme einer eigenen Sektion über das Jahr 1918 auf dem Historikertag 1998 in Frankfurt/Main3 verweisen auch für das zurückhegende Jahrzehnt auf eine ungebrochene »Hochkonjunktur«4 für die wissenschaftliche Erforschung des Ersten Weltkrieges. Einmal mehr ist dieser andauernde Forschungsboom allerdings begleitet von einem erneuten Paradigmenwechsel. Die beiden vorausgegangenen Schübe hatten den Weltkrieg in den 60er Jahren zunächst in revisionistisch-pohtikgeschichtücher und daran unmittelbar anknüpfend in den 70er Jahren in Struktur- und sozialgeschichtlicher Perspektive neubewertet. Seit den 80er Jahren dominieren dagegen auch hierzulande alltags- und mentalitätsgeschichtliche Ansätze, die erfahrungs- und kulturgeschichtliche Fragestellungen aus der westeuropäischen auf die deutsche Weltkriegsforschung übertragen haben. Anders als dies eine Anthologie zum »Krieg des kleinen Mannes«5 suggeriert, ist 1
Als Wichtigste seien genannt: Sidney 1981 über die literarische und gesellschaftliche Verarbeitung des Krieges, Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, hrsg. von Bernd Hüppauf, Königstein/Ts. 1984 (= Hochschulschriften. Literaturwissenschaft, Bd 61); Cambridge 1983 über Familienstrukturen, Arbeitsverhältnisse und Sozialpolitik, The Upheavel of War. Family, Work and Welfare in Europe, 1914-1918, ed. by Richard Wall and Jay Winter, Cambridge 1988; Nanterre und Amiens 1988 über die europäischen Gesellschaften im Kriege, Les sociétés européennes et la guerre 1914-1918. Publié sous la direction de Jean-Jacques Becker et Stéphane Audoin-Rouzeau, Nanterre, Paris 1990; Stuttgart 1991 zur Alltags- und Mentalitätsgeschichte, Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hrsg. von Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich, Essen 1993 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. N.F., Bd 1); Péronne 1992 zur Kriegskultur, Guerre et cultures, 1914-1918, Paris 1994. Abgedr. in: Neue Politische Literatur, 39 (1994), und zwar zu Deutschland: Gerd Krumeich (S. 187-202), zu Frankreich: Stéphane Audoin-Rouzeau (S. 203-217), zu England: Jay Winter (S. 218-223), zu Italien: Holger Afflerbach (S. 224-246). 1918: Das Ende des Weltkrieges?, in: Intentionen Wirklichkeiten. 42. Deutscher Historikertag. Frankfurt am Main. 8.-11. September 1998. Programmheft, München 1998, S. 84. So der zutreffende Befund von Andreas Wirsching, Nationale Geschichte und gemeineuropäische Erfahrung. Einige neuere westeuropäische Publikationen zur Geschichte des Ersten ...
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Weltkrieges, in: Francia, 19/3 (1992), S. 175; vgl. auch neuerdings Michael Epkenhans, Neue-
re
Forschungen zur Geschichte des Ersten Weltkrieges, in: Archiv für Sozialgeschichte, 38
(1998), S. 458-487.
Der Krieg des kleinen Mannes. Eine te, München, Zürich 1992.
Militärgeschichte von unten, hrsg. von Wolfram Wet-
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mit solcher Geschichte des Kriegsalltages freilich wesentlich mehr als eine »Militärgeschichte von unten« intendiert. Der Versuch, über verfeinerte methodische Instrumentarien nunmehr auch die historisch noch weitgehend sprachlosen Unterschichten erfahrungsgeschichtlich »zum Sprechen« zu bringen, ist nur ein Zugang auf einer wesentlich breiteren Palette: Komparatistische Studien analysieren im Vergleich Gemeinsamkeiten und Abweichungen im Erleben und Verarbeiten nationaler Kriegserfahrungen; schichtenspezifische Forschungen spüren den besonderen Verarbeitungsformen des Kriegserlebnisses in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen nach, so etwa bei Land- und Stadtbevölkerung, bei Frauen oder religiösen Minderheiten; Regionalstudien blicken nach Möglichkeiten, im überschaubaren Raum Politik-, Sozial- und Alltagsgeschichte miteinander zu verbinden; moderne Militärgeschichte markiert die unterschiedlichen Kriegswirklichkeiten im »Krieg der Politiker«, im »Krieg der Generale«, im »Krieg der Soldaten« und im »Krieg der Zivilisten«6, die erst in ihrer Zusammenschau das ergeben, was wir unter dem Begriff des »totalen Krieges« zu fassen gewohnt sind. Und über alledem bewerten umfassende Deutungen den historischen Ort des
Gesamtphänomens Weltkrieg im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert. War er wesenthch jene »Ur-Katastophe«7, in der sich die politische und gesellschaftliche Brutalisierung unseres Jahrhunderts Bahn brach? Oder brachte vielmehr diese gewaltsame Entladung aufgestauter Konflikte und der politisch-gesellschaftliche Zusammenbruch Alteuropas erst eigentlich den »Durchbruch der Moderne«8? Am plausibelsten erscheint eine Kombination aus beidem, die den Krisen- und Umbruchcharakter gleichermaßen im Bild von der »Zivilisationskrise und Zeitenwende« begrifflich zu fassen sucht9. Gegenüber solchen Großdeutungen, die den Weltkrieg in seiner Wirkung als Gesamtereignis begreifen, nimmt sich allerdings die Betrachtung eines Ausschnittes wie des Jahres 1918 einigermaßen sperrig aus: Der lange Zermürbungskrieg endete mit dem unerwartet plötzlichen Zusammenbruch einer Seite; die scheinbar unbezwingbare Feuerwirkung des Stellungskrieges wurde 1917 erst an den Neben6
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Dieses Gliederungsprinzip geht zurück auf die überzeugende Kombination von Text und Bild bei Jay M. Winter, The Experience of World War I, London 1988. Einen gelungenen Versuch zur historischen Bildkunde hat auch das Münchener Stadtarchiv mit seiner Fotoausstellung zum Revolutionsjahr 1918/19 unternommen: Rudolf Herz und Dirk Halfbrodt, Revolution und Fotografie. München 1918/19, Berlin 1988. George F. Kennan, Bismarcks europäisches System in der Auflösung. Die französisch-russische Annäherung 1875 bis 1890, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1981, S. 12. Modris Eksteins, Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg, Reinbek bei Hamburg 1990. Seine These einer Beschleunigung der Modernisierung im gesellschaftlichen Bewußtsein durch den Weltkrieg ist inzwischen freilich heftiger Kritik ausgesetzt, vgl. etwa Jay Winter, Cultural politics and the First World War, in: Neue Politische Literatur, 39 (1994), S. 218-223, für den der Weltkrieg »created not modernism, but a form of political atavism« (S. 222). Eine Welt von Feinden. Der Große Krieg 1914-1918, hrsg. von Wolfgang Kruse, Frankfurt a.M.
1997, S. 7.
Militärische Entscheidung und
politisch-gesellschaftlicher Umbruch
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fronten, 1918 schließlich auch an der westlichen Hauptfront mit den Mitteln des Bewegungskrieges unterlaufen; nicht ein weithin erwarteter Kompromißfrieden
allgemeiner Erschöpfung, sondern die zunächst von den Mittelmächten und nach deren Niederlage von der Entente extensiv genutzte Möglichkeit zum Siegfrieden beendete schließlich den Krieg und belastet damit die Nachkriegsentwicklung. Deshalb gilt es, eingangs eine historische Ortsbestimmung für dieses Jahr im Rahmen der Weltkriegsgeschichte vorzunehmen, die es dann erlaubt, nach der Widerspie1918 in der neueren Forschung zu fragen. gelung des End- und Schon ein kursorischer Blick auf die Ereignisstrukturen läßt das Jahr 1918 an der Schnittstelle zwischen Kriegs- und Nachkriegszeit ansiedeln. In seinen beiden zentralen Phasen überlappen sich Kriegsende und Umbruch, wobei die Form des einen untrennbar vernetzt ist mit der Qualität des daraus hervorgehenden anderen. Diese Brechung von Ende und Neuanfang ist indes so überraschend nicht: 1918 teilt sie mit ähnlichen End- und langer Kriegsperioden wie etwa den Jahren 1648,1815 oder 1945. In der historiographischen Erfassung wurden und werden solche Umbruchjahre denn auch je nach Themenstellung als Endjahre von Kriegsperioden bzw. als und Einstiegsjahre in die Nachkriegsordnungen begriffen und analysiert. Typisch dafür ist etwa die Anlage der »dtv-Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts«, in deren erstem Band 1918 unter dem Aspekt des Kriegsendes beschrieben ist, während es im zweiten Band als Zentraljahr und Voraussetzung für die in den Pariser Vorortverträgen geschaffene Nachkriegsordnung erneut thematisiert wird10. Klar konturiert erscheint der Stellenwert von 1918 in den beiden ersten Schüben der neueren Weltkriegsforschung. In der Kontroverse über Fritz Fischers Thesen zum Kriegsausbruch von 191411 war die Beweisführung schnell von der Kriegsschuld- auf die Kriegszielproblematik ausgeweitet worden. In diesem Kontext mußten die Friedenschlüsse des Jahres 1918 in Bukarest und Brest-Litovsk zentrale Bedeutung erlangen, konnten sie doch als Indikatoren für die Umsetzung von Kriegszielprogrammen in konkrete Neuordnungspolitik im Falle eines deutschen Sieges gelten. In den Arbeiten zur deutschen Ost- und Randstaatenpolitik12 geriet dabei frühzeitig ein Raum in den Blick, auf den auch der zweite Anlauf deutscher Weltpolitik im Nationalsozialismus zielte. Wirkungsgeschichtlich gewann 1918 aus
Übergangsjahres
Übergangsphasen Übergangs—
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Vgl. Hans Herzfeld, Der Erste Weltkrieg, München 1968 (= dtv
Weltgeschichte des 20. Jahr-
hunderts, Bd 1) und Gerhard Schulz, Revolutionen und Friedensschlüsse 1917-1920, München 1967 (= dtv Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, Bd 2). —
Die Fischer-Kontroverse ist inzwischen selbst mehrfach Gegenstand historischer Analyse gewesen: Volker R. Berghahn, Die Fischer-Kontroverse —15 Jahre danach, in: Geschichte und Gesellschaft, 6 (1980), S. 403-419; James Joli, The Origins of the First World War, 2. ed., London, New York 1992; Gregor Schöllgen, Griff nach der Weltmacht? 25 Jahre Fischer-Kontroverse, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft, 106 (1986), S. 386-406. Zentral dazu: Winfried Baumgart, Deutsche Ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, München, Wien 1966; zum Baltikum: Hans-Erich Volkmann, Die deutsche Baltikumspolitik zwischen Brest-Litovsk und Compiègne. Ein Beitrag zur »Kriegszieldiskussion«, Köln, Wien 1970. —
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neben 1933 damit eine Scharnierfunktion in der Diskussion um Kontinuität und Diskontinuität deutscher Großmachtpolitik im 20. Jahrhundert13. Die Kontinuitätsdiskussion markierte allerdings auch den Wechsel von der vorrangig politkgeschichtlichen zur sozial- und strukturgeschichtlichen Schwerpunktverlagerung in der Weltkriegsforschung. Nicht mehr hauptsächhch die Weltpolitik des späten Wilhelminismus im Kriege, sondern die Strukturdefizite des verspäteten National- und Verfassungsstaates im Kaiserreich insgesamt bestimmten von nun an den Hauptweg historiographischer Analyse14. Zog man die gesellschaftlichen Verwerfungen des Kaiserreiches im langen Bogen der Debatte um einen »deutschen Sonderweg«15 innerhalb der europäischen Verfassungs- und Gesellschaftentwicklung über die teils ungewollte, teils unvollendete Republik von Weimar hinaus und weiter bis in die nationalsozialistische Diktatur, dann mußte auch das Jahr 1918 unter einem neuen Blickwinkel aufscheinen. In dieser Betrachtung hatte die Novemberrevolution von 1918/19 für einen kurzen historischen Moment die Tore aufgestoßen für einen durchgreifenden Wandel als Voraussetzung für den Erfolg des demokratischen Neuanfangs in Deutschland und seine dauerhafte Einbindung in die westeuropäische Entwicklung. Den Auftakt dazu büdeten die heftigen Auseinandersetzungen um einen Streitpunkt, den Arthur Rosenberg bereits am Ende der Weimarer Republik16 aufgeworfen hatte: Präfixierte das Steckenbleiben der deutschen Novemberrevolution nicht schon in seinen Anfängen das Scheitern des Republikexperiments von Weimar? Aus verfassungsgeschichtlicher Sicht erschien freilich gerade die Revolution als »Unglück«17, da mit der gewaltsamen Entladung der Systemkrise der spätestens mit den Oktober-Reformen von 1918 eingeleitete Weg einer »stillen Parlamentarisierung« des Reiches abgebrochen worden sei18. Untersuchte man dagegen den zu erwartenden Elitenwandel in einer Revolution in den pohtischen Führungs- und administrativen Verwaltungsstrukturen, dann verschwand das Bild vom histori13
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Als wichtigste Stimmen dazu: Andreas Hillgruber, Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, Düsseldorf 1969 (= Kleine Schriften, H. 674); Thomas Nipperdey, 1933 und Kontinuität der deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift, 227 (1978), S. 86-111; Fritz Fischer, Bündnis der Eliten. Zur Kontinuität der Machtstrukruren in Deutschland 1871-1945, Düsseldorf 1979. Diesen Perspektivenwandel markierte am deutlichsten die Kontroverse um Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871-1918, Göttingen 1973 (= Deutsche Geschichte, Bd 9) und die vehemente Kritik daran von Thomas Nipperdey, Wehlers »Kaiserreich«. Eine kritische Auseinandersetzung, in: Geschichte und Gesellschaft, 1 (1975), S. 539-560. Die Debatte darüber ist zusammengefaßt in: Helga Grebing, Der »deutsche Sonderweg« in Europa 1806-1945. Eine Kritik, Stuttgart [u.a.] 1986. Vgl. Arthur Rosenberg, Entstehung und Geschichte der Weimarer Republik, hrsg. von Kurt Kersten, Frankfurt a.M. 1955. So Golo Mann in seinem Vorwort zu Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, neu hrsg. von Golo Mann und Andreas Burckhardt, Stuttgart 1968, S. 48. Hauptvertreter dieser These: Manfred Rauh, Die Parlamentarisierung des Deutschen Reiches, Düsseldorf 1977 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd 60) und Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd 5: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung, 1914-1919, Stuttgart 1978.
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sehen Bruch schnell hinter dem Übermaß geseUschaftlich-personeller Kontinuität19. Als Begründung dafür darf neben der verpaßten Gelegenheit im Innern seitens der Mehrheitssozialisten vorgezeichnet in ihrer Burgfriedenspolitik im Kriein der Revolution und domiverschärft ihre »Bolschewismusfurcht« durch ge, nierend in ihrer Suche nach einem Klassenkompromiß mit dem Bürgertum zur Stabilisierung der jungen Republik20 freilich auch die behindernde Rolle der Entente nicht außer Betracht bleiben. Die Dominanz eigener Sicherheits- und Wirtschaftsziele verführte insbesondere Frankreich zu einer Politik weiterer Destabilisierung Deutschlands in den revolutionären Umbruchmonaten21. Als schärfste Waffe wirkte dabei die über das Kriegsende hinaus aufrechterhaltene Seeblockade als Mittel zur Erzwingung der alliierten Kriegsziele in Versailles. Die damit verbundene Desillusionierung über einen verhandelbaren Frieden mußte aber umgekehrt die Vertreter einer grundsätzlichen außenpolitischen Neuorientierung weg von kontinental-imperialem Blockdenken und hin zu einer außenwirtschaftlichen Einpassung in den Welthandel in der deutschen Diplomatie und Wirtschaft desavouieren22. Gegen eine allzu alternativlose Fixierung in der Weltkriegsforschung auf den immer rigoroseren Kriegskurs aller Kriegführenden wurde indes die Vielzahl von Initiativen unterschiedlichster Couleur für einen Verständigungsfrieden ins Feld geführt23. Wie gering freilich gerade 1917/18 die Spielräume für eine realisierbare internationale Verständigung geworden waren, läßt sich beispielhaft an der neuerdings aufgelebte Kontroverse um die sogenannte »Sixtus-Affäre« als einem —
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Nach wie vor zentral für den mißlungenen Umbau von Regierung und Verwaltung: Wolfgang Eiben, Das Problem der Kontinuität in der deutschen Revolution. Die Politik der Staatssekretäre und der militärischen Führung vom November 1918 bis Februar 1919, Düsseldorf 1965 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd 31); für die ungebrochene Kontinuität rechter Sammlungspolitik: Dirk Stegmann, Die Erben Bismarcks. Parteien und Verbände in der Spätphase des wilhelminischen Deutschlands. Sammlungspolitik 1897-1918, Köln 1970; für die militärischen Eliten: Wolfgang Sauer, Die Reichswehr, in: Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtzerfalls in der Demokratie, 3., verb, und erg. Aufl., Villingen 1960 (= Schriften des Instituts für politische Wissenschaft, Bd 4), S. 237-246. Susanne Miller, Burgfrieden und Klassenkampf. Die deutsche Sozialdemokratie im Ersten Weltkrieg, Düsseldorf 1974 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd 53); Peter Lösche, Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903-1920, Berlin 1967 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität, Bd 29); Heinrich August Winkler, Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, Bd 1 : Von der Revolution zur Stabilisierungs. 1918 bis 1924, Berlin, Bonn 1984. Vgl. Henning Köhler, Novemberrevolution und Frankreich. Die französische Deutschlandpolitik 1918-1919, Düsseldorf 1980; zum Vergleich der Kriegsziele von Entente und Mittelmächten: Georges-Henri Soutou, L'or et le sang. Les buts de guerre économiques de la Pre-
miere Guerre mondiale, Paris 1989. Leo Haupts, Deutsche Friedenspolitik 1918-19. Eine Alternative zur Machtpolitik des Ersten Weltkrieges, Düsseldorf 1976. Diesen Gedanken verfolgte insbesondere Wolfgang Steglich in einer Reihe von Editionen und Darstellungen, für das Jahr 1918: Ders., Die Friedenspolitik der Mittelmächte 1917/18,
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eigenständigen Versuch zur Friedensanbahnung zwischen Österreich-Ungarn und Frankreich ablesen24. Der Vorstoß scheiterte nicht nur an den Begleitumständen dieses Aktes »fürstlicher Amateurdiplomatie«25, den die französische Regierung lediglich dazu nutzte, um den Zusammenhalt im Lager der Mittelmächte abzuklopfen. Er gab auch einmal mehr den Blick frei auf den Gestaltwandel dieses Krieges bei den Mittelmächten zum einseitig »deutschen Krieg«, in dem die Donaumonarchie frühzeitig und dauerhaft die Fähigkeit zu eigenständiger Kriegführung und damit auch zu selbständiger Friedenssuche verloren hatte26.
Von der Friedensfrage ging indes ein weiterer Forschungsimpuls aus, der bereits in neuere Fragestellungen über Stimmungen und Stimmungswandel überleitete. Im Gegenzug zur Herausstellung der zum Kriegsende hin anwachsenden Zahl der Friedensfühler verwies die Analyse wechselseitiger Gegnerwahrnehmung und der daraus abgeleiteten Beeinflussungsstrategien gerade für 1918 darauf, wie sehr die durch die Ideologisierung des Krieges verhärteten »Images« vom Kriegsgegner die Feindbilder in den nationalen Kriegsgesellschaften bestimmten27. Im Krieg zwischen »Zivilisation und Barbarei« mußten deshalb selbst die Friedensorganisationen in den angelsächsischen Ländern jede Hoffnung auf eine Verständigung mit dem Gegner auf die Zeit nach dem Kriege vertagen28. Der Blick auf den Gegner war indes nur die eine Seite der Medaille. Die exorbitanten Verlustziffern, die Länge des Krieges und die Versorgungsschwierigkeiten mit ihren Auswirkungen auf einen rapiden Legitimitätsverfall der Regierungen und Verwaltungen ließen die Führungseliten zunehmend besorgter auf die kontinuierlich anwachsende Kriegsmüdigkeit bei den mobilisierten Massen an der Front und in der Heimat reagieren. Meutereien bei den Truppen, Hungerrevolten in den Städten und insbesondere die revolutionären Umbrüche in
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Bd 1, Wiesbaden 1964. Vgl. auch Wilhelm Ribhegge, Frieden für Europa. Die Politik der deutschen Reichstagsmehrheit 1917/18, Essen 1988. Gegen die positive Bewertung von Tamara Griesser-Peiar, Die Mission Sixtus. Österreichs Friedensversuch im Ersten Weltkrieg, Wien, München 1988 stehen die jetzt edierten Aufzeichnungen des Verbindungsmanns zwischen dem österreichischen Kaiser und seinem Außenminister: August Demblin, Minister gegen Kaiser. Aufzeichnungen eines österreichischungarischen Diplomaten über Außenminister Czernin und Kaiser Karl, hrsg. und bearb. von Alexander Demblin, Wien, Köln, Weimar 1997. So das Verdikt von Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des Militarismus, Bd 3: Die Tragödie der Staatskunst. Bethmann Hollweg als Kriegskanzler (1914-1917), München 1964, S. 457. Zentral dazu Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg, Graz, Wien, Köln 1993 sowie neuerdings Holger H. Herwig, The First World War. Germany and Austria-Hungary, 1914-1918, London [u.a.] 1997. Joachim Kuropka, Image und Intervention. Innere Lage Deutschlands und britische Beeinflussungsstrategien in der Entscheidungsphase des Ersten Weltkriegs, Berlin 1978 (= Historische Forschungen, Bd 14). So Heinrich Timmermann, Friedenssicherungsbewegungen in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien während des Ersten Weltkrieges, Frankfurt a.M. [u.a.] 1978 (= Moderne Geschichte und Politik, Bd 7).
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Rußland 1917 taten ein übriges, um eine weitverbreitete Revolutionsfurcht für den Fall eines unbefriedigenden Kriegsausganges auszulösen. Das Festhalten am Siegfriedenskurs auf beiden Konfliktseiten war daher auch vom Gedanken an eine innere Restabihsierung mitbestimmt. Dabei hoffte man, mit der Aussicht auf eine möglichst umfassende Kriegsbeute die erbrachten Opfer im Kriege rechtfertigen und materielle Verbesserungen der Lage für die unruhigen Unterschichten nach Kriegsende gleichermaßen sicherstellen zu können29. Wie wenig solche Versuche zur Stimmungsbeeinflussung gegenüber dem dominiernden Friedenswillen bei den Soldaten und in der Zivilbevölkerung allerdings 1918 noch fruchteten, hat für den deutschen Fall inzwischen eine ausdifferenzierte Regionalforschung nachgewiesen. Danach erreichte zwar die annexionistische Propaganda der mitgliederstarken Deutschen Vaterlandspartei, die 1917 ausdrücklich als Sammlungsbewegung zur politischen und publizistischen Unterstützung des Siegfriedenskurses der III. Obersten Heeresleitung (OHL) gegründet worden war, im Frühjahr 1918 ihren Höhepunkt. Entgegen ihren selbstgesteckten Zielen wirkte sie aber bei der überwiegenden Bevölkerungsmehrheit durchgängig kontraproduktiv, heizte sie mit ihren ausufernden Forderungen doch die wachsende Verbitterung über die Länge des Krieges zusätzlich an30. Vertrauen bei den Mannschaften und Motivation für die Fortsetzung des Krieges das lassen Analysen zur Wirkung der breitgefächerten Kriegspropaganda generell wie zum institutionalisierten »Vaterländischen Unterricht« im besonderen erkennen konnten nur noch dann erzielt werden, wenn sie mit der Abstelkonkreter Mißstände oder mit der Aussicht auf eine letzte große Anstrenlung gung zur Kriegsbeendigung gekoppelt waren31. Entsprechend rapide sank die —
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Für die Entente stellt diesen Zusammenhang Arno J. Meyer, Politics and Diplomacy of Peacemaking. Containment and Counterrevolution at Versailles, 1918-1919, New York 1967 besonders heraus. Auf deutscher Seite wird er eingehend dokumentiert in: Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914 bis 1918, bearb. von Wilhelm Deist. T. 1.2, Düsseldorf 1970 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Reihe 2: Militär und
Politik, Bdl). 30
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Aus der Fülle regionalgeschichtlicher Studien seien exemplarisch genannt: Karl-Ludwig Ay, Die Entstehung einer Revolution. Die Volksstimmung in Bayern während des Ersten Weltkrieges, Berlin 1968 (= Beiträge zu einer historischen Strukturanalyse Bayerns im Industriezeitalter, Bd 1 ); Hans-Ulrich Ludewig, Das Herzogtum Braunschweig im Ersten Weltkrieg. Wirtschaft, Gesellschaft, Staat, Braunschweig 1984 (= Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Geschichte, Bd 26); Klaus-Peter Müller, Politik und Gesellschaft im Krieg. Der Legitimitätsverlust des badischen Staates 1914-1918, Stuttgart 1988 (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B, Bd 109); eine detailliertere, vor allem auch die Stadtgeschichte einbeziehende Auswertung enthält der Literaturbericht von Gerd Krumeich, Kriegsalltag vor Ort. Regionalgeschichtliche Neuerscheinungen zum Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Neue Politische Literatur, 39 (1994), S. 187-202. Zur eingegrenzten Wirkung von Kriegspropaganda und »Vaterländischem Unterricht«: Dirk Stegmann, Die deutsche Inlandspropaganda 1917/18. Zum innenpolitischen Machtkampf zwischen OHL und ziviler Reichsleitung in der Endphase des Kaiserreiches, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 12 (1972), S. 75-116 und Günther Mai, »Aufklärung der Bevölkerung« und »Vaterländischer Unterricht« in Württemberg 1914-1918, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, 36 (1977), S. 199-235.
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noch einmal hochgeputschte Stimmung denn auch sofort, als für die Soldaten schnell erkennbar die Frühjahrsoffensiven trotz ihrer erheblichen Anfangserfolge das Ende der Kämpfe nicht nur nicht nähergebracht hatten, sondern im Gegenteil mit der Aussicht auf eine erneute Kriegsverlängerung verbunden waren. Die Droge extrem hochgesteckter Erfolgserwartungen über die letzte große Schlacht war mithin um den Preis ihrer vorhersehbaren desillusionierenden Antiwirkung im Falle von Teil-oder gar Mißerfolgen verabreicht worden. Das letzte Stimmungshoch seit dem Sieg über Italien Ende 1917 und den Friedensschlüssen von Bukarest und Brest-Litovsk hatte die Fronttruppen Anfang 1918 noch in überwiegender Ablehnung der Januarstreiks in der Heimat verharren lassen. Die erneut extrem hohen Verlustzahlen und die Drohung einer weiteren Kriegsverlängerung waren dagegen jetzt im Sommer 1918 konstitutiv für jenen »verdeckten Militärstreik«, der schließlich mit einem breiten Fächer unterschiedlichster Verweigerungsformen zum bis dahin unerwarteten schnellen Kriegsende durch den Zusammenbruch der Mittelmächte führte32. Eine Fernwirkung dieses militärischen Kollapses sollte noch 1944 zu spüren sein, als die allnerte Führung an der Westfront nach dem Zusammenbruch der deutschen Verteidigung in Frankreich und dem eigenen Vorstoß an die Reichsgrenze einen »sudden death« des Dritten Reiches analog zu 1918 erwartete33. Der endgültige Stimmungsumschlag im Sommer 1918 leitete freihch nicht nur einen kaum noch steuerbaren Auflösungsprozeß des militärischen Instrumentes ein; er machte von nun an auch alle Gedankenspiele obsolet, die Systemstabilität mit autoritären Mitteln wiederherstellen zu können. Bis zur Kriegswende hatten in den neoabsolutistischen Kaiserreichen nach dem kontinuierlichen Legitimitätsverfall von Regierungen und Administrationen immerhin noch zwei Strategien zur Systemanpassung an die politisch-gesellschaftlichen Herausforderungen totaler Kriegführung und Massenmobilisierung offengestanden: ein Entgegenkommen an die parlamentarischen Kräfte auf dem Wege einer schrittweisen »Demokratisierung« oder die konsequente »Militarisierung« der Systeme34. Die auf der deutschen Rechten noch das ganze Jahr 1918 hindurch diskutierten Plan—
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Das Wechselspiel hochgesteckter Erfolgserwartungen und extremer Desillusionierung danach ist erstmals eingehend analysiert bei Wilhelm Deist, Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der »Dolchstoßlegende«, in: Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, hrsg. von Ursula Büttner, Bd 1 : Ideologie, Herrschaftssystem, Wirkung in Europa, Hamburg 1986 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd 21), S. 101-129. Die weitreichendste Verweigerungsform in der Fahnenflucht analysiert jetzt Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918, Göttingen 1998 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd 123). Diese »Kollapstheorie« beschreibt Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands, München 1995 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd 27), S. 98 f. Diese Systematisierung nahm Gottfried Schramm, Militarisierung und Demokratisierung: Typen der Massenintegration im Ersten Weltkrieg, in: Francia, 3 (1975), S. 476^497 vor, als er Möglichkeiten zur Systemstabilisierung im Vergleich von Zarismus und Wilhelminismus untersuchte.
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spiele einer möglichen Militärdiktatur waren freilich an das intakte Prestige der OHL gebunden, und eben dies war mit dem Ausbleiben des militärischen Erfolges seit Sommer 1918 ebenfalls schwer angeschlagen. Weder den an sie herangetragenen Diktaturplänen, noch Walther Rathenaus Werben für eine »levée en masse« in letzte Stunde wohnten daher im Sommer und Herbst 1918 noch irgendwelche
Realitätsnähe inne. Vor dieser Erkenntnis verharrte denn auch die deutsche Führung insgesamt in einem Zustand latenter Unschlüssigkeit, bis militärische Lage und innere Revolutionierung ihr das Heft endgültig aus der Hand nahmen35. Im Vergleich dazu entwickelte sich die Stimmung beim französischen Hauptgegner 1918 charakteristisch anders, und dies nicht erst seit den militärischen Erfolgen in der zweiten Jahreshälfte. Zwar ist in allen kriegführenden Ländern eine kontinuierliche Verschlechterung der Stimmung nach dem Ende der Illusionen über einen kurzen Krieg ab 1915 zu konstatieren. Gerade in Frankreich nahmen dabei 1917 Meutereien bei den Fronttruppen als Antwort auf die schlecht vorbereitete und verlustreiche Nivelle-Offensive besorgniserregende Ausmaße an36. In Großbritannien reichten die Nachwehen dieser durchgängigen Stimmungsverschlechterung unter den Soldaten sogar noch über das siegreiche Kriegsende hinaus, als sich der körperliche und psychische Überdruck aus dem Kriege schon bei geringfügigen Verzögerungen der Demobilmachung in offenen Meutereien entlud37. Keines dieser deutlichen Symptome für Erschöpfung und dominierende Kriegsmüdigkeit reichte indes so tief, daß es das Durchhaltevermögen der alliierten Soldaten generell und insbesondere der französischen Soldaten ernsthaft auflöste. Trotz des prozentual höchsten Blutzolls im Vergleich aller am Weltkrieg beteiligten Armeen und der erheblichen militärischen Rückschläge im Frühjahr 1918 blieb in der französischen Armee ein »ausgesprochen starker, defensiver Patriotismus«38 als verhaltensstabilisierendes Element erhalten, für den die Situation durchgängiger Verteidigung des eigenen Territoriums eines der Hauptmotive bereithält. Obwohl mithin in den Ereignisabläufen politische Absichten und militärische Optionen, Kriegssituation und Systemzustand, militärische Lage und Stimmungsentwicklung an den Fronten und innerhalb der Gesellschaften ein untrennbares Ganzes bilden, wurden speziell in der deutschen Weltkriegsforschung nach 35
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Zu den Vorstößen für eine Militärdiktatur Bruno Thoß, Nationale Rechte, militärische Führung und Diktaturfrage in Deutschland 1913-1923, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 42 (1987), S. 27-76. Rathenaus Vorstöße für eine »levée en masse« sind dokumentiert bei: Adjutant im preußischen Kriegsministerium Juni 1918-Oktober 1919. Aufzeichnungen des Hauptmanns Gustav Böhm, hrsg. von Heinz Hurten und Georg Meyer, Stuttgart 1977 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd 19). Vgl. Guy Pedroncini, Les mutineries de 1917, Paris 1967 (= Publications de la Faculté des Lettres et Sciences humaines de Paris-Sorbonne. Série »Recherches«, T. 35). Wie sehr dabei das Autoritätsgefüge in der britischen Armee aus den Fugen geriet, belegt die Edition The Military Correspondence of Field-Marshal Sir Henry Wilson 1918-1922, ed. by Keith Jeffery, London 1985. So die Qualifizierung von Stéphane Audoin-Rouzeau, Von den Kriegsursachen zur Kriegskultur. Neuere Forschungstendenzen zum Ersten Weltkrieg in Frankreich, in: Neue Politische Literatur, 39 (1994), S. 206; dort auch die breitgefächerte Literatur zum »Durchhaltevermögen« des französischen Soldaten.
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1945 die Einflüsse des Kriegsverlaufes und insbesondere das militärische Geschehen an den Fronten »auffallend in den Hintergrund« gerückt39. Dabei war die Entstehungsgeschichte der letzten beiden Bände des Reichsarchivwerkes über die Kriegsjahre 1917/18, die lange Zeit den Forschungsstand repräsentierten, alles andere als unproblematisch. Sie waren noch während des Zweiten Weltkrieges 1942/43 abgeschlossen, aber erst 1956 im Kern unverändert und ledighch mit einem distanzierenden Vorwort zur Rolle Ludendorffs versehen durch das Bundesarchiv veröffentlicht worden40. Mehr als drei Jahrzehnte blieb denn auch ein Aufsatz des ersten Amtschefs des Mihtärgeschichtlichen Forschungsamtes die einzige ernstzunehmende Auseinandersetzung in der westdeutschen Militärgeschichtsschreibung mit der operativen Planung und dem militärischen Verlauf der deutschen Frühjahrsoffensiven von 191841. Ledighch der Disput über die politische und militärische Verantwortung für die Führung und Beendigung des Krieges konnte frühzeitig zu überzeugenden Ergebnissen geführt werden42. Wer dagegen nach einer quellengesättigten Analyse der deutschen Kriegführung 1918 suchte, war entweder auf die Forschung der DDR verwiesen43, oder mußte die beide Konfliktseiten einbeziehenden, neueren angelsächsischen Darstellungen zur »Kaiserschlacht« bzw. zum militärischen Gesamtverlauf des Krieges im Westen 1918 zu Rate ziehen44. —
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So Deist, Der militärische Zusammenbruch (wie Anm. 32), S. 101, der diesen generellen Befund über die westdeutsche Weltkriegsforschung nach 1945 bei Bruno Thoß, Weltkrieg und Systemkrise. Der Erste Weltkrieg in der westdeutschen Forschung 1945-1984, in: Neue Forschungen zum Ersten Weltkrieg. Literaturberichte und Bibliographien, hrsg. von Jürgen Rohwer, Koblenz 1985 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. N.F., Bd 25), S. 31-80 auf das Kriegsjahr 1918 überträgt. Der Weltkrieg 1914-1918, Bd 13 und 14. Im Auftrage des Oberkommandos des Heeres bearb. und hrsg. von der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres, Neuaufl., hrsg. vom Bundesarchiv Koblenz, Frankfurt a.M. 1956. Hans Meier-Welcker, Die deutsche Führung an der Westfront im Frühsommer 1918. Zum Problem der militärischen Lagebeurteilung, in: Die Welt als Geschichte, 21 (1961), S. 164-184; neuere biografische Versuche wie Wolfgang Venohr, Ludendorff. Legende und Wirklichkeit, Berlin, Frankfurt a.M. 1993 oder Franz Uhle-Wettler, Erich Ludendorff in seiner Zeit. Eine Neubewertung, 2. Aufl., Berg 1996 fallen demgegenüber wegen ihrer apologetischen Tendenz weit hinter den Forschungsstand zurück. Gegen die verschwommene Darstellung von Wolfgang Foerster, Der Feldherr Ludendorff im Unglück. Eine Studie über seine seelische Haltung in der Endphase des Ersten Weltkrieges, Wiesbaden 1952 stellten Siegfried A. Kaehler, Studien zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Aufsätze und Vorträge, hrsg. von Walter Bußmann, Göttingen 1961 und Eberhard Kessel, Ludendorffs Waffenstillstandsforderung vom 29. September 1918, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 4 (1968), S. 65-86 die eindeutig beim Ersten Generalquartiermeister zu verortende Verantwortlichkeit klar. Deutschland im Ersten Weltkrieg. Bd 3: November 1917 bis November 1918, Berlin (Ost) 1969. Den Planungsprozeß dokumentiert Helmut Otto, Strategisch-operative Planungen des deutschen Heeres für die Frühjahrsoffensive 1918 an der Westfront, in: Militärgeschichte, 17 (1978), S. 463-480. Zur Märzoffensive: Martin Middlebrook, Der 21. März 1918. Die Kaiserschlacht, Berlin, Frankfurt a.M., Wien 1979; zur Kriegführung 1918 insgesamt: Rod Paschall, The Defeat of Imperial Germany, 1917-1918, Chapel Hill 1989.
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Dabei hält gerade das militärische Geschehen vom Frühjahr bis Herbst 1918 eine Fülle von Fragen bereit, ohne deren Beantwortung weder der Zusammenbruch der Mittelmächte noch seine Nachwirkungen angemessen zu bewerten sind. Einige davon seien etwas näher skizziert. Das beginnt bereits bei über mögliche Alternativen einer offensiven oder defensiven Kriegführung der Mittelmächte für das Jahr 1918. Viel zu lange begnügte man sich mit der Feststellung des militärischen Sachverständigen im Untersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages über die Ursachen der deutschen Niederlage, Hermann v. Kühl, der die Frühjahrsoffensiven zur militärischen Notwendigkeit erklärt hatte45. Das läßt sich nur dann aufrechterhalten, wenn man die dahinter steckenden Grundannahmen der deutschen Führung akzeptiert, wie sie Hindenburg Anfang Januar 1918 gegenüber dem Kaiser fixiert hatte: »Um uns die politische und wirtschaftliche Weltstellung zu sichern, deren wir bedürfen, müssen wir die Westmächte schlagen46.« Unter solcher politischer Zielsetzung stand in der Tat nur noch ein enges Zeitfenster zur offensiven Kriegsentscheidung offen, diktiert von der physischen und psychischen Erschöpfung der eigenen Ressourcen und dem kontinuierlichen Anwachsen der gegnerischen Kräfte durch das Wirksamwerden der amerikanischen Verstärkungen. Die bereits erheblich überdehnten Fronten nach den Erfolgen des Jahres 1917, die labile militärische und innenpolitische Lage bei den Verbündeten und die unübersehbaren Krisensymptome aus Hunger und Erschöpfung im eigenen Lande ließen demgegenüber verantwortungsbewußte Patrioten darauf drängen, die deutschen Offensiworbereitungen zumindest mit einem politischen Verständigungsangebot an die Entente zu verbinden47. Politische Zielsetzungen und nicht militärische Notwendigkeiten bestimmten mithin die
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Vgl. dazu seine Stellungnahme zum Für und Wider einer deutschen Westoffensive in: Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1930. Verhandlungen, Gutachten, Urkunden. Unter Mitwirkung von Eugen Fischer, Walther Bloch, Berthold Widmann im Auftrag des Reichstages hrsg. von Walter Schücking, Peter Spahn, Johannes Bell, Rudolf Breitscheid, Albrecht Philipp, 4. Reihe: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918. Unter Mitwirkung von Eugen Fischer, Walther Bloch hrsg. von Albrecht Philipp, 12 Bde, Berlin 1925-1929 (im Folgenden zitiert als WUA), Bd 3: Gutachten des Sachverständigen
General der Inf. a.D. von Kühl, Berlin 1925, S. 87 ff. Schreiben an Wilhelm II., 7.1.1918, zit. nach Der Weltkrieg 1914-1918 (wie Anm. 40), Bd 14, S. 15. Daß der Kaiser voll hinter diesem unbedingten Siegfriedenskurs stand, macht seine zeitgleiche Marginalie deutlich: »Der Sieg der Deutschen über Rußland war Vorbedingung für die Revolution, diese die Vorbedingung für Lenin, dieser für Brest! Dasselbe ist für den Westen maßgebend! Erst Sieg im Westen mit Zusammenbruch der Entente, dann machen wir die Bedingungen, die sie annehmen muß! Und die werden rein nach unserem Interesse zugeschnitten«, zit. nach Schulz, Revolutionen und Friedensschlüsse (wie Anm. 10), S. 119. Eingabe Friedrich Naumanns, Professor Jäckhs, Dr. Robert Boschs und anderer an General Ludendorff, 11.2.1918, abgedr. in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart, Bd 2: Der militärische Zusammenbruch und das Ende des Kaiserreichs, Berlin o. ]., S. 245-250.
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deutschen Offensivplanungen und ihr Umsetzung ohne Rücksicht auf die »nicht mehr regenerierbaren Ressourcen«48. Extreme Schwerpunktbildung, neue taktische Angriffsverfahren und eine bereits an anderen Fronten erprobte Feuertechnik und -taktik der Artillerie in engster Abstimmung mit der vorgehenden Infanterie brachten seit dem Frühjahr 1918 tatsächlich »die Lösung des Knotens mit einer erneuten Bewegung«49 auf dem Gefechtsfeld. Die selbst für die deutsche Führung überraschend großen Anfangserfolge trugen indes auch bereits die Gründe für das letzthche militärische Scheitern in sich: Die nicht mehr zu ersetzenden Verluste von annähernd einer Million Mann auf deutscher Seite entsprachen ziemlich genau dem Kräftezuwachs, den die amerikanischen Verstärkungen im gleichen Zeitraum für die Entente bereitzustellen vermochten. Die logistische Absicherung der Offensiven hielt nicht Schritt mit der verbesserten Angriffstaktik, so daß die schnellen Vorstöße in die Tiefe des gegnerischen Stellungssystems regelmäßig ihren Anfangsschwung verlieren mußten, sobald Artillerie und Versorgungstruppen dem nicht mehr zu folgen vermochten. Die gewonnenen weiten Frontausbuchtungen ohne hinreichende Absicherung der Flanken boten nach Erschöpfung des deutschen Angriffsschwungs die Ansatzpunkte für die erfolgreichen Gegenoffensiven der Alliierten ab Sommer 191850. In der Anlage und Durchführung der deutschen Offensiven im Vergleich mit den allüerten Gegenoffensiven zeigen sich aber 1918 auch zwei über den engeren militärischen Bereich hinausreichende Unterschiede zwischen den Mittelmächten und der Entente. Das einseitig zugunsten der Obersten Heeresleitung verschobene Verhältnis von politischer und militärischer Führung ließ eine Kriegführung ohne Rücksicht auf den Ressourcenverbrauch zu, die konstitutiv für die anfänglichen Erfolge, aber auch für das schließliche Scheitern der deutschen Offensiven war. Im Gegensatz dazu standen die allüerten Befehlshaber unter ständiger politischer Kuratel und mußten deshalb Rücksicht auf deren Forderungen nach Minimierung der Verluste und Begrenzung des Ressourcenverbrauchs nehmen. Sie entwicklten daher und dies machte sie natürhch im Frühjahr 1918 zunächst verwundbarer ihre personellen und materiellen Kräfte methodischer und brachten sie auch ab Sommer 1918 dosierter zum Einsatz51. Daneben reagierten aber auch beide Allianzen unterschiedlich auf die Notwendigkeiten zu bündnisinterner Koordination und Kooperation. Die überragende Bedeutung des deutschen wirtschafthchen und militärischen Potentials gipfelte bei den Mittelmächten spätestens seit 1916 in einer Bündnisstruktur mit —
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Deist, Der militärische Zusammenbruch (wie Anm. 32), S. 103. Eksteins, Tanz über Gräben (wie Anm. 8), S. 222.
Eingehend analysiert bei Meier-Welcker, Die deutsche Führung (wie Anm. 41), Deist, Der militärische Zusammenbruch (wie Anm. 32) und Paschall, The Defeat of Imperial Germany (wie Anm. 44). Vgl. dazu Robin Prior and Trevor Wilson, What Manner of Victory? Reflections on the Termination of the First World War, in Revue internationale d'Histoire militaire, 72 (1990), S. 80-96.
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absoluter Dominanz der Führungsmacht. Die damit mögliche Konzentration auf die entscheidungsuchende Offensive in Frankreich ohne Rücksichtnahmen auf kritische Lagen bei den Verbündeten öffnete nach dem Scheitern im Westen freilich genau diese Schwachstellen für alliierte Einbrüche. Umgekehrt reagierten die Ententemächte auf ihre Niederlagen im Frühjahr 1918 mit einer wirksamen, wenn auch durchaus nicht konfliktfreien Koordination ihrer weiteren Kriegführung, zu deren Gunsten selbst vor der Verabschiedung des dagegen opponierenden britischen Generalstabschefs nicht Halt gemacht wurde52. Diese Fähigkeit zu politischer und militärischer Abstimmung unterschiedlicher Operationspläne und Bündnisinteressen hatte sich im übrigen schon zwischen Sommer 1917 und Frühjahr 1918 auf einem anderen Kriegsschauplatz günstig für die Entente ausgewirkt, der in deutschen Betrachtungen zu sehr in den Hintergrund tritt: bei der Schlacht im Nordatlantik. In britisch-amerikanischer Zusammenarbeit konnten hier die UBoot-Abwehr verbessert, der Zerstörerbau abgestimmt erhöht und ein gemeinsames Konvoisystem durchgesetzt werden, alles Maßnahmen, die in ihrer Summe noch vor dem Einsetzen den deutschen Frühjahrsoffensiven eine wichtige Vorentscheidung zur See für das Kriegsjahr 1918 erbrachten53. Doch nicht nur in der Führung der Feldzüge 1918 wichen beide Allianzen erheblich voneinander ab; auch in ihrer Auswertung nach dem Kriege gingen die militärischen Führungen beider Seiten charakteristische Eigenwege, die ihr Führungsverhalten, ihre Ausbildungsvorstellungen und ihre Gefechtsdoktrinen in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg nachhaltig beeinflussen sollten. Die offenen Gesellschaften Westeuropas standen in der Nachbetrachtung noch ganz unter dem Schock der verheerenden Verluste im Weltkrieg. Die Suche nach verlustmindernden Militärdoktrinen bestimmten deshalb auch in den militärischen Stäben die Diskussionen. Im britischen militärischen Denken führte dies zur Favorisierung sogenannter »indirekter Strategien«, bei denen nach militärischen Optionen möglichst ohne den Einsatz personalintensiver und damit verlustempfindlicher Massenarmeen gesucht wurde. Darin nahm der Luftkrieg und hier insbesondere der Bombenkrieg eine herausragende Stellung ein54. Ohne die bevorzugte geografische Lage der britischen Inseln war Frankreich dagegen auf den Schutz seiner gegen Invasionen offenen Ostgrenze verwiesen. In Auswertung der überlegenen Feuerwirkung über die Bewegung auf dem Gefechtsfeld setzte sich hier deshalb eine stark defensiv ausgerichtete, den Schutz des eigenen Territoriums und der eigenen Soldaten in modernen Festungswerken betonende Denkrichtung durch55. 52
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Zur vergleichenden Koalitionsforschung: Coalition Warfare. An Uneasy Accord, ed. by Keith Neilson and Roy A. Prête, Waterloo, Ontario 1983; zu den innerbritischen Auseinandersetzungen zwischen Lloyd George und Feldmarschall Robertson: The Military Correspondence of Field-Marshall Sir William Robertson, Chief of the Imperial General Staff, December 1915February 1918, ed. by David R. Woodward, London 1989. Zusammenfassung des Forschungsstandes dazu bei Paschall, The Defeat of Imperial Germany (wie Anm. 44), S. 195-197. The First World War and British Military History, ed. by Brian Bond, Oxford 1991. Zum sogenannten »Maginot-Denken« in Frankreich: Volker Wieland, Zur Problematik der
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Deutsches militärisches Denken mußte sich eigentlich bei allen durch operative Flexibilität erreichten Teilerfolgen im Weltkrieg im Kern mit den Problemen einer Kriegführung mit begrenzten Ressourcen auseinandersetzen. Das überragende Potential der Gegner hatte die Mittelmächte von Kriegsbeginn an in ihrer zwar militärisch erweiterbaren, aber nicht nach außen aufbrechbaren und nur schwer zu versorgenden Festung auf dem europäischen Kontinent eingeschlossen. Mit operativen Mitteln ließen sich denn auch lediglich kriegsverlängernde, operative Ziele, aber keine kriegsentscheidenden, strategischen Wirkungen erreichen, sieht man einmal vom Sieg an der wichtigsten Nebenfront in Rußland ab. Die wirtschaftlichen und personellen Ressourcen des Deutschen Reiches diesen Befund sollte der Zweite Weltkrieg trotz seiner noch größeren operativen Anfangserfolge nachdrücklich unter Beweis stellen reichten nicht zur erfolgreichen Führung eines großen Krieges aus. Eigenständige militärische Optionen waren wie zwischen 1864 und 1871 daran gebunden, daß die politische Führung internationale Konstellationen zu begrenzter Kriegführung schuf oder nutzte. In Falle eines allgemeinen europäischen Krieges oder der Vorbereitung darauf blieb dagegen nur die Option, eigenes ungenügendes Potential durch die Juniorpartnerschaft im Bündnis mit einem Größeren auszugleichen. Diese Lehre zogen beide deutsche Staaten und ihre militärischen Führungen indes erst nach 1945 im Zuge des Kalten Krieges. Die Dominanz des Operativen im militärischen Denken wie in der Offizierausbildung verstellte den militärischen Eliten dagegen nach 1918 in Deutschland den Blick für die Begrenztheit ihrer Handlungsmöglichkeiten aufgrund ungenügender Potentiale. Und dabei spielte die Phase der militärischen Erfolge von 1917/18 eine wesentliche Rolle, glaubte man doch gerade während dieser Feldzüge den Nachweis geführt zu haben, daß sich ressourcenmäßige Unterlegenheit durch höhere Operationskunst unterlaufen ließ. Die noch im Kriege bewiesene, partielle Innovationsfähigkeit bei der Wiederbeweglichmachung des Gefechts verführte dazu, daß man den eigenen mihtärischen Professionalismus ungebrochen für überlegen hielt und deshalb die operativ-führungstechnischen Erfahrungen aus dem Weltkrieg konsequent weiterentwickelte. Die mangelhafte Wahrnehmung dieser spezifisch deutschen Lehren aus der Endphase des Ersten Weltkrieges durch die Westmächte war dagegen ursächlich dafür, daß sie 1939 erneut von der technisch weiterentwickelten Operationsführung der Deutschen für den Bewegungskrieg überrascht wurden56. Zu verarbeiten war freilich auch der extrem beschleunigte Zusamminenbruch der mihtärischen Autorität seit Sommer 1918. Der Mythos von einer alle Schichten des Feldheeres verbindenden Schützengrabenkameradschaft konnte schon seit der Kriegsmitte erhebliche Vertrauenseinbrüche zwischen Offizier und Mann gerade auch an der Front nicht mehr verdecken, die sich in der letzten Kriegs—
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französischen Militärpolitik und Militärdoktrin in der Zeit zwischen den Weltkriegen, Boppard a.Rh. 1973. Darauf verweist Bruce I. Gudmundsson, Stormtroop Tactics. Innovation in the German Army, 1914-1918, New York, Westport, London 1989.
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phase und in den revolutionären Übergangswochen nicht selten bis zu offenem »Offiziershaß«57 steigerten. Die anerzogene Distanz zwischen Offizieren und Mannschaften vor dem Kriege, soziale Privüegierung im Kriege und die Unerfahrenheit
der jungen
Reserveoffiziere, die seit dem schweren Aderlaß im aktiven Offizier-
korps zu Kriegsbeginn die Hauptlast der Führung an der Front zu tragen hatten, waren dafür hauptsächlich verantwortlich. Wollte man daher nach dem Kriege die Truppen wieder in die Hände ihrer militärischen Führer bekommen, dann mußten die aus der Soldatenratsbewegung drohende »Demokratisierung« in einer angedachten »Volkswehr« abgewehrt, die in Krieg und Bürgerkrieg beeinträchtigte Homogenität des Offizierkorps wiederhergestellt und gleichzeitig eine Modernisierung in der Menschenführung eingeleitet werden. Die von außen durch die Versailler Bestimmungen erzwungene Verkleinerung der Streitkräfte tat ein übriges zur innermilitärischen Stabilisierung in der Reichswehr, eröffnete sie doch personalpolitisch die Chance extensiver Auswahl der Längerdienenden aus den
»national erwünschten« Kreisen der Weimarer Gesellschaft58. Damit ließ sich zwar ein kleiner, militärisch intakter Kern zusammenhalten; den anhaltenden Schock darüber, daß man aus Sicht wesentlicher Teile des Offizierkorps das Heft 1918 militärisch »fünf Minuten vor zwölf« aus der Hand geben mußte, machte dies indes kaum erträghcher. Eine Schuldverschreibung dafür ging an die Adresse einer zu mild urteilenden Militärjustiz, die frühzeitig erkennbare nicht diziplinäre Aufweichungstendenzen rechtzeitig bekämpft und damit ab Sommer 1918 lawinenartig anschwellen lassen habe. Die Debatte darüber in der deutschen Militärpublizistik nach 1918 und ihr Fortwirken bis in die Exzesse deutscher Militärjustiz im Zweiten Weltkrieg59 steht für die Zwischenkriegszeit historiographisch erst in ihren Anfängen. Die Erfahrungen von 1918 verwiesen indes auf ein weit gravierenderes Dilemma. Erkannte man nämlich die Tatsache der Niederlage als wirkliches Unterliegen nicht an, dann stand für einen auf der deutschen Rechten schneU virulent werdenden Revanchismus die Frage auf der Tagesordnung, wie man die gesamte deutsche Gesellschaft im Falle eines künftigen 57
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Der Freiburger Universitätsprofessor und Unteroffizier d. R. Hermann Kantorowicz hatte davor schon 1916 in einer Denkschrift gewarnt, die er 1919 unter dem Titel Der Offiziershaß im deutschen Heer, Freiburg 1919 publizierte. Vor dem Untersuchungsausschuß des Deutschen Reichstages hatte der Mitgutachter Martin Hobohm dies zu dem Vorwurf genereller »sozialer Heeresmißstände« erweitert, WUA, 4. Reihe, Bd 11.1: Gutachten des Sachverständigen Dr. Hobohm, Soziale Heeresmißstände als Teilursache des deutschen Zusammenbruchs von 1918, Berlin 1929. Zum gesamten Kanon dieser Maßnahmen im Bruno Thoß, Menschenführung im Ersten Weltkrieg und im Reichsheer, in: Menschenführung im Heer, Herford, Bonn 1982 (Vorträge zur Militärgeschichte, Bd 3), S. 113-138; zur Rolle der Soldatenräte: Ulrich Kluge, Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19, Göttingen 1976 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd 14). Auf diesen Zusammenhang hat Manfred Messerschmidt, Deutsche Militärgerichtsbarkeit im Zweiten Weltkrieg, in: Die Freiheit des Anderen. Festschrift für Martin Hirsch, hrsg. von Hans Jochen Vogel, Helmut Simon und Adalbert Podlech, Baden-Baden 1981, S. 111-142 erstmals eindringlich hingewiesen.
Ubergangsheer:
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Krieges widerstandsfester machen konnte, als dies dem Kaiserreich gelungen war. Die noch in der Endphase des Krieges erfundene »Dolchstoß«-Legende von einer kriegsmüden Heimat, die einer im Felde stehenden Armee in den Rücken gefallen sei, mochte sich trefflich als Schuldzuweisung gegen den innenpolitischen Gegner in den Trägerparteien der Weimarer Republik wenden lassen60. Wollte man indes gegen die gesellschaftlich dominierende Antikriegsstimmung gegensteuern, dann mußte man Einfluß nehmen auf die Verarbeitungsprozesse des Kriegserlebnisses in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen. Der größte Erklärungsbedarf ging dabei in allen am Kriege beteiligten Gesellschaften vom Massensterben an den Fronten und den wirtschaftlichen Kriegsfolgen für die Heimat aus. Das Kriegsende brachte nicht nur für mehrere hunderttausend Kriegsgefangene die Entlassung, deren Behandlung in den Lagern abgesehen von der administrativen Überforderung in Rußland61 vergleichsweise anständig gewesen war62, wobei das Erlebnis der Gefangenschaft selbst immer noch der Untersuchung harrt. Der Krieg entließ aber vor allem die Millionenheere von Frontsoldaten in die Demobilmachung63, die schon in den zurückliegenden Kriegsjahren immer drängender nach dem Sinn ihres Massenopfers gefragt hatten. Sie stellten nicht nur erhebliche Probleme bei ihrer Wiedereingliederung in Beruf und Gesellschaft sowie mit ihren Versorgungsansprüchen dar. In ihren vielfältigen Organisationsformen von Veteranen-, Kriegsopfer- und Wehrverbänden wurden sie auch zu zahlenmäßig erheblich ins Gewicht fallenden Größen der Innenpolitik64. Von der Französischen Nationalversammlung sprach man wegen der Dominanz ehemaliger Soldaten unter ihren Abgeordneten in den ersten Nachkriegsjahren geradezu von einer »chambre horizon bleu«. In den Staaten der ehemaligen Entente blieb immerhin auch nach 1918 der Grundkonsens aus den Kriegsjahren erhalten, daß man in einem aufgezwungenen Krieg gestanden habe, durch den allein man das eigene Territorium vor den hegemonialen —
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Absichten des Deutschen Reiches schützen konnte. Mit diesem breiten nationalen
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Friedrich Frhr. Hiller von Gaertringen, »Dolchstoß«-Diskussion und »Dolchstoßlegende« im Wandel von vier Jahrzehnten, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 13 (1963), Nr. 16, S. 25-48 und Deist, Der militärische Zusammenbruch (wie Anm. 32). Vgl. Gerald H. Davis, Deutsche Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg in Rußland, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 31(1982), S. 37-50. Eine vergleichende Studie dazu hat Richard Speed, Prisoners, Diplomats, and the Great War. A Study of Captivity, Westport, Conn. 1991 vorgelegt. Zu den Demobilmachungsproblemen im internationalen Vergleich: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 9 (1983), S. 153-277. Vorbildlich für ihre Untersuchung nach wie vor: Antoine Prost, Les anciens combattants et la Société française (1914-1939), 3 Bde., Paris 1977. Demgegenüber hat sich die deutsche und österreichische Forschung wesentlich auf die paramilitärischen Verbänden konzentriert, wobei in beiden Fällen nach einer Serie von Detailstudien zu den Einzelverbänden inzwischen immerhin zusammenfassende Gesamtdarstellungen vorgelegt wurden: James M. Diehl, Paramilitary Politics in Weimar Germany, London 1977 und Walter Wiltschegg, Die Heimwehr. Eine unwiderstehliche Volksbewegung? München 1985 (= Studien und Quellen zur österreichischen Geschichte, Bd 7).
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Konsens verbunden gewesen war im übrigen zugleich die Hoffnung nationaler und rehgiöser Minderheiten auf ihr Hineinwachsen in den nationalen Staat aufgrund ihres Kriegseinsatzes65. Darin unterschied sich letztlich die Motivation deutscher Katholiken und Juden zum Kriegseinsatz kaum von den Verhältnissen in den Ententestaaten66. Die territoriale Umgestaltung Mittel- und Osteuropas nach 1918 heß allerdings das gemeinsame Kriegserlebnis der verschiedenen religiösen und ethnischen Gruppen in diesem Raum schnell verblassen. Ungelöste Minderheitenfragen, unverarbeitete Niederlage und eine dem Judentum angelastete Umsturzerfahrung verschärften hier die Lage im Gegenteil noch erhebhch zu einer wesentlich ethnisch bestimmten Abgrenzungspolitik in der Zwischenkriegszeit67. Doch auch in dem von Kriegseinwirkungen am härtesten betroffenen Frankreich machte sich nach 1918 schnell Enttäuschung darüber breit, daß die Ergebnisse nicht den vorher geweckten Hoffnungen auf einen »allerletzten« Krieg und eine daraus hervorgehende erneuerte Gesellschaft entsprachen. An die Stelle des nationalen Verteidigungskonsenses im Kriege trat daher nach dem Kriege eine an die Kriegsmüdigkeit der langen Erschöpfungsphase seit 1915 anknüpfende und die Gesellschaft als nationale Kampfeinheit wieder in Frage stellende pazifistische Mehrheitsstimmung68. Gesellschaftlich konsolidierende Erwartungen gingen dagegen überall in Europa anders als beim SonderfaU USA mit ihrem erheblich geringeren Mobilisierungsgrad69 von den Erfahrungen mit einer staatlich gelenkten Kriegswirtschaft aus. Nicht nur Frankreichs bedeutendster Gewerk—
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Für die französischen Juden und Katholiken: Philippe Landau, Les Juifs de France et la Grande Guerre. Un patriotisme républicain, 1914-1941, Paris 1993 und Jacques Fontana, Les catholiques français pendant la Grande Guerre, Paris 1990; zu den Formen und Wirkungen des sogen. ANZAC-Mythos, mit dem innerhalb der unfertigen australischen Nation nach 1918 der eigene Einsatz an den Dardanellen als identitätsstiftendes Mittel verklärt wurde: Wendy M. Mansfield, Krieg, ANZAC-Tradition und nationaler Gründungsmythos. Versuch einer Neubewertung, in: Ansichten vom Krieg (wie Anm. 1), S. 31-52; zu den enttäuschten Hoffnungen der Francokanadier auf Autonomiegewinne nach dem Kriege durch freiwilligen Kriegseinsatz: Jean-Pierre Gagnon, Le 22e bataillon (canadien-français) 1914-1919, Ottawa 1986. Zu den Hoffnungen der Katholiken: Heinrich Lutz, Demokratie im Zwielicht. Der Weg der deutschen Katholiken aus dem Kaiserreich in die Republik 1914 bis 1925, München 1963 und Richard van Dülmen, Der deutsche Katholizismus und der Erste Weltkrieg, in: Francia, 2 (1974), S. 347-376; zur Lage der Juden: Egmont Zechlin, Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1969 und Deutsche Jüdische Soldaten. Von der Epoche der Emanzipation bis zum Zeitalter der Weltkriege. Eine Ausstellung des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes in Zusammenarbeit mit dem Moses Mendelssohn Zentrum, Potsdam, und dem Centrum Judaicum, Berlin, bearb. von Frank Nägler, Hamburg, Berlin, Bonn 1996. So führt Jay Winters, Cultural politics (wie Anm. 8), S. 222 gegen die Modernisierungsthese von Modris Eksteins zu Recht ins Feld: »The Great War created not modernism, but a form of political atavism«. So Audoin-Rouzeau, Von den Kriegsursachen (wie Anm. 38), S. 212 bzw. 209 mit Blick auf die bahnbrechende Untersuchung von Jean-Jacques Becker, Les Français dans la Grande Guerre, Paris 1980. Vgl. dazu Ronald Schaffer, America in the Great War. The Rise of the War Welfare State, New York 1991.
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schaftsführer Albert Thomas sah darin Elemente eines Wirtschaftsmodells, das über die Demobilisierung hinaus generelle wirtschaftsreformerische Impulse setzen konnte. Die in vielfältiger Weise in die kriegswirtschaftlichen Regelungsorgane eingebundenen Führer der gemäßigten Arbeiterparteien und Gewerkschaften konnten sich generell mit ihrem Reformismus gegenüber linkssozialistischen oder kommunistischen Konkurrenten durchsetzen70. Die krisenhafte Entwicklung im vom Kriegsende zu den Zwischenkriegsjahren ließ jedoch solche Ansätze zu einer neue gesellschaftliche Identität stiftenden Verarbeitung des Kriegserlebnisses bei den Verlierern wie bei den nicht voll Saturierten rasch verblassen, oder sie wurden in die Kanäle extremistischer Sammlungsbewegungen
Übergang geleitet.
Politische und wirtschaftliche Instabilitäten mit ihren gesellschaftlichen Spaltungswirkungen standen aber auch Pate bei einer öffentlichen und künstlerischliterarischen Verarbeitung von Kriegserfahrungen, die das authentische Kriegserlebnis der Vielen in die Sinnstiftungen der kulturellen Eliten umzudeuten begannen71. Dazu hatte schon im Kriege auf allen Seiten neben den verschiedenen Formen einer öffentüchen Heldenverehrung und einer religiösen Opferdeutung ein wesentlich weitgespannterer und wirkungsvollerer »Prozeß der Trivialisierung«72 und »Banalisierung«73 eingesetzt, der den Krieg etwa über Postkarten, Nippes oder Spiele auf etwas scheinbar Normales reduzierte. In solcher Verkitschung wurde er nicht nur für die öffentliche Wahrnehmung verharmlosbar; sie denaturierte auch das Belastende zum Alltäglichen und trug dadurch zur Gewöhnung an das scheinbar —
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Unabänderliche bei. Tendenzen zu solcher Popularisierung des Kriegserlebnisses setzten sich unmittelbar nach Kriegsende in Westeuropa und den USA in Serien von Siegesfeiern fort, gipfelnd in einem neuen und bis in unsere Gegenwart zelebrierten Natio70
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Einen Vergleich für Frankreich und England hat John N. Home, Labour at War. France and Britain 1914-1918, Oxford 1991 angestellt. Für die Entwicklung »staatssozialistischer« Vorstellungen in Deutschland ist neben den SpezialStudien von Friedrich Zunkel, Industrie und Staatssozialismus. Der Kampf um die Wirtschaftsordnung in Deutschland 1914-1918, Düsseldorf 1974 (= Tübinger Schriften zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd 3) und Hans Gotthard Ehlert, Die wirtschaftlichen Zentralbehörden des Deutschen Reiches 1914 bis 1919. Das Problem der »Gemeinwirtschaft« in Krieg und Frieden, Wiesbaden 1982 (= Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd 19) immer noch zentral: Gerald D. Feldman, Army, Industry and Labour in Germany 1914-1918, Princeton, N.J. 1966. Wegen seines weitgefächerten Ansatzes immer noch wichtig: Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, hrsg. von Klaus Vondung, Göttingen 1980; mit ihren neueren alltagsgeschichtlichen Zugängen methodisch wesentlich darüber hinausgehend jetzt: Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges, hrsg. von Gerhard Hischfeld, Gerd Krumeich, Dieter Langewiesche und Hans-Peter Ulimann, Stuttgart 1997 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. N.F., Bd 5). In vergleichender Perspektive: George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993. Diesen Begriff entwickelte Jean-Jacques Becker, Les Français (wie Anm. 68) mit Blick auf die französische Gesellschaft im Kriege.
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nalfeiertag der Franzosen am Waffenstillstandstag des 11. November74. Bei den Besiegten entsprach dem eine ebenso große Zahl festlicher Empfänge in allen Städten für die Kriegsheimkehrer. Die folgenden Jahre sahen dann einen aufblühenden Tourismus zu den Schlachtfeldern und einen schwunghaften Devotionalienhandel mit Erinnerungsstücken aus dem Kriege. Zu den eigentlichen Stätten öffentlicher Erinnerung an den Krieg wurden aber die riesigen Soldatenfriedhöfe auf den Kriegsschauplätzen und die Gefallenendenkmäler bis ins letzte Dorf. Während dabei in Frankreich entsprechend der verbreiteten pazifistischen Grundstirnmung eher das Moment der Trauer um die gefallenen Söhne im Vordergrund
stand, nahm in deutschen Denkmälern und Ehrenhainen neben der Trauer ein Gefallenenkult Gestalt an, der den Opfer- und Heldentod zum Vermächtnis und zu einer den künftigen Wiederaufstieg suchenden Verpflichtung für die Lebenden hochstüisierte75. Unter dem Eindruck von Niederlage und Umbruch gewannen allerdings in Deutschland auch die innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen um den Sinn der erbrachten Massenopfer und um die Schuld am Kriege wie an seinem Ausgang in der Öffentlichkeit schnell an Härte. Das zeigte sich nicht nur an den Gegenstimmen, die schon im Kriege gegen die dominante Heroisierung des Soldatentodes einer »Entsakralisierung« das Wort geredet hatten76, und die sich jetzt nach dem Kriege gegen die Woge kriegsverherrlichender Literatur des sogenannten »Frontsoldatentums« stemmten77. Auf die Forderungen nach Rechenschaft aus der Öffenthchkeit reagierte schon 1919 der Deutsche Reichstag mit der Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, der die Ursachen für die Niederlage und den Zusammenbruch von 1918 aufkären sollte. Sein Schicksal in über zehnjähriger Arbeit ist freüich eine Indikator dafür, wie schnell sich die Verantwortlichen schon 1919 vom Schock der Niederlage erholt und in der Folgezeit die öffentliche Deutungsmacht über den Weltkrieg zurückgewonnen hatten78. 74
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Darauf verweist ein Artikel über die Fülle von Gedenkveranstaltungen zum Kriegsende vor 80 Jahren in Frankreich: Christian Müller, Frankreich im Gedenken an die »Grande Guerre«, in: Neue Zürcher Zeitung, Nr. 221 vom 24.9.1998. Eingehend analysiert bei George L. Mosse, Soldatenfriedhöfe und nationale Wiedergeburt. Der Gefallenenkult in Deutschland, in: Kriegserlebnis (wie Anm. 71), S. 241-261. Den deutschfranzösischen Vergleich stellt Reinhart Koselleck, Kriegsdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Identität, hrsg. von Odo Marquard und Karlheinz Stierle, München 1979, S. 255-276 an. Vgl. dazu Ulrich Linse, »Saatfrüchte sollen nicht vermählen werden!« Zur Resymbolisierung des Solda ten tods, in: Kriegserlebnis (wie Anm. 71), S. 262-274. Karl Prümm, Die Literatur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918-1933). Gruppenideologie und Epochenproblematik. Bd 1.2, Kronberg/Ts. 1974 (= Theorie, Kritik, Geschichte, Bd 3) und Hans-Harald Müller, Der Krieg und die Schriftsteller. Der Kriegsroman der Weimarer Republik, Stuttgart 1986 für die sogen. Frontsoldatenliteratur; zum Pazifismus: Pazifismus in der Weimarer Republik. Beiträge zur historischen Friedensforschung, hrsg. von Karl Holl und Wolfram Wette, Paderborn 1981. Besonders deutlich wird dies an der »Ludendorff-Kontroverse« im Untersuchungsausschuß, Ulrich Heinemann, Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik, Göttingen 1983, S. 179 ff.
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Dazu trug ganz wesentlich die Enttäuschung über die Friedensbestirnmungen des Versailler Vertrages und hier insbesondere der von der überwiegenden Mehrheit des politischen Weimar abgelehnte »Schmachparagraph« über die alleinige Kriegsschuld des Deutschen Reiches, aber auch die Forderung nach Auslieferung deutscher »Kriegsverbrecher« an die Entente79, bei. In einer vom Schuldreferat des Auswärtigen Amtes als Zentralstelle gelenkten Kampagne dominierte daher von nun an nicht mehr die Suche nach den Verantwortlichen im Kaiserreich, sondern die Abwehr des Schuldvorwurfs seitens der Entente die öffentüche Debatte in Deutschland um den Weltkrieg80. Berechtigte Skepsis ist allerdings inzwischen darüber angemeldet worden, ob eine Akzeptanz der Schuldfrage, die sicherlich das politische Bmnenklima Weimars nicht so weitgehend an die deutsche Rechte freigegeben hätte, auch von der Entente entsprechend honoriert worden wäre. Dazu war wohl in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Einfluß der Gemäßigten in Paris viel zu gering81. Die Wahrnehmung von Niederlage und Revolution war freilich durchaus nicht so einheitlich, wie dies ein Blick auf das nationalgesinnte Bürgertum und seine Eliten die politisch-kulturellen suggeriert, bald wieder die politische Öffentlichkeit der Weimarer Zeit dominierten. Die neuere Alltags- und Mentalitätsforschung zeigt vielmehr, daß in der unmittelbaren Nachkriegszeit diese Verarbeitung in den verschiedenen Gesellschaftsschichten sehr unterschiedlich verlief, wobei gerade im Bürgertum die Erfahrungen von Niederlage und Revolution eine untrennbare Mixtur eingingen. Dies zeigen Feinanalysen am Beispiel Baden-Württembergs, wo etwa bei den Tübinger Professoren, aber auch im Protestantismus schon die Niederlage mit Begriffen wie »unglücklich«, »traurig« oder »niederschlagend« belegt wurde82. Solche noch eher defensive Negativbilder verschärften sich unter den Erfahrungen des Bürgerkrieges 1918/19 schnell zu einem neuen einheitsstiftenden Deutungsmuster im Bürgertum, das den Kriegsausgang und die Revolu79
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Schwengler, Völkerrecht, Versailler Vertrag und Auslieferungsfrage. Die Strafverfolgung wegen Kriegsverbrechen als Problem des Friedensschlusses 1919/20, Stuttgart 1982 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd 24). Neben Wolfgang Jäger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914-1980 über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1984 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd 61) und Heinemann, Die verdrängte Niederlage (wie Anm. 78) hat Imanuel Geiss, Die manipulierte Kriegsschuldfrage. Deutsche Reichspolitik in der Julikrise 1914 und deutsche Kriegsziele im Spiegel des Schuldreferats des Auswärtigen Amtes, 1919-1931, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 34 (1983), S. 31-60 Themen und Organisationsstruktur dieser gelenkten Debatte untersucht. Zu diesem Urteil kommt Gerd Krumeich, Vergleichende Aspekte der »Kriegsschulddebatte« nach dem Ersten Weltkrieg, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, von Walter
hrsg. Wolfgang Michalka, Weyarn 1997, S. 913-928 in seiner Kritik an Hans Mommsen, Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918 bis 1933, Berlin 1989 (= Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd 8), S. 63 ff. Dafür stehen in dem Sammelband Kriegserfahrungen (wie Anm. 71) die Beiträge von Sylvia Palitschek, Tübinger Hochschullehrer im Ersten Weltkrieg: Kriegserfahrungen an der »Heimatfront« Universität und im Feld (S. 83-106) und Michael Trauthig, Wider »jene satanisch beeinflußte Mentalität«: Das Bild der Weltkriegs-Feinde in der evangelischen Publizistik Württembergs zur Zeit der Weimarer Republik (S. 371-387).
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gleichermaßen unter antibolschewistischen Vorzeichen als Werk einer Verschwörung linker Umsturzkräfte subsummierte83. Wie wenig Widerhall solche Umdeutungsversuche allerdings zunächst noch in der Bevölkerungsmehrheit und bei den heimkehrenden Soldaten fanden, wird jetzt aus einer eingehenden erfahrungsgeschichtlichen Studie zur südbayerischen Landbevölkerung erkennbar84. Unter Einsatz interdisziplinärer sozialwissenschaftlicher Methoden und der umfassenden Auswertung unmittelbarer wie mittelbarer erfahrungsgeschichtlicher Quellen gelingt dabei nicht nur die Widerlegung der These für die Kriegszeit, daß »zwischen den Erfahrungssituationen >Front< und >HeimatUnsere militärische Lage war niemals so günstig, wie sie jetzt ist.< Redner würdigt die Verdienste des deutschen Heeres und seiner Führer, er warnt die Entente davor, die von deutscher Seite wiederholt ausgesprochene Friedensbereitschaft als einen Freibrief zu einer immer weiteren Verlängerung des Krieges zu betrachten und schließt mit dem Appell: >Stehen wir zusammen, Regierung und Volk, und der Sieg wird unser sein, ein guter Friede wird und muß kommenHeimkriegern< eine scharfe Absage erteilen, die bereit seien, >den letzten Tropfen Blut der anderen zu opfern< und für die Menschen >billig wie Brombeeren< seien6.« Scheidemann forderte die Regierung auf, »mit Rußland einen leicht erreichbaren Frieden ohne offene und versteckte Annexionen abzuschließen und dann >mit der Offensive des Weltfriedensgedankens< gegen den Westen vorzugehen«. Zugleich bestand er auf der klaren Zusage der Regierung, »Belgien wiederherzustellen«, erklärte dabei aber ähnlich wie Erzberger es am Vortage getan hatte ebenso eindeutig ElsaßLothringen »als unverzichtbar«7.
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Ebd. Der Hauptausschuß des Deutschen Reichstags 1915-1918, eingel. von Reinhard Schiffers, bearb. von Reinhard Schiffers und Manfred Koch in Verbindung mit Hans Boldt, 4 Bde, Düsseldorf 1981-1983, Bd 4 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Reihe 1: Bd 9.4), S. 1923. Vgl. zu Hertlings Ausführungen auch Schulthess' Europäischer Geschichtskalender, Neue Folge, hrsg. von Wilhelm Stahl, Jg. 34,1918, Bd 1, München 1922 (Nachdr. Nendeln 1977), S. 19-25, hier S. 24 f. Die Rede von Lloyd George, ebd., Bd 2, S. 142-147, die von Wilson, ebd., Bd 2, S. 556-562. Zum Gesamtkomplex »Siegfrieden oder Verständigung« vgl. auch Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des »Militarismus« in Deutschland, Bd 4: Die Herrschaft des deutschen Militarismus und die Katastrophe von 1918, München 1968, S. 236-256. Zit. nach Der Hauptausschuß (wie Anm. 5), S. 1924. Ebd., S. 1925.
Einführende Bemerkungen
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Zwei Tage später gab David für die SPD im gleichen Ausschuß zu bedenken: »Wenn eine Offensive im Westen einsetze, so könne uns das vielleicht große lokale Erfolge bringen, aber ein Endsieg, der die anderen dazu zwinge, einen alldeutschen Frieden zu akzeptieren, sei vollständig ausgeschlossen. Ein Verständigungsfriede sei vielleicht möglich, aber ein alldeutscher Friede nie und nimmer. Redner warnt deshalb davor, die eingeschlagene gute Friedenspolitik durch den Versuch einer militärischen Entscheidung zu stören. Es seien jetzt gute Möglichkeiten vorhanden, dem Frieden sowohl im Osten wie im Westen näher zu kommen, und es wäre deshalb unverantwortlich, wenn sich unsere Staatsmänner durch Hoffnungen und Illusionen anderer Art verführen lassen wollten, diese Gelegenheit nicht mit ganzem Ernst und Geschick wahrzunehmen. Niemand könne die Verantwortung dafür auf sich nehmen, statt dessen das Glück der Waffen unter erneutem Einsatz furchtbarer Opfer zu versuchen. Gäbe es einen gangbaren Weg, vorher zum Frieden zu kommen, so müsse es versucht werden. [...] Belgien sei das große Mittel, mit dem heute noch das englische Volk zum Durchhalten angefeuert werde. Wenn unsererseits ein Verzicht auf Belgien klar ausgesprochen würde, falle dieser Grund weg8.« Die gleichen Absichten wie die Mehrheitsparteien verfolgte auch eine Eingabe von Friedrich Naumann, Alfred Weber, Prof. Ernst Jäckh, Robert Bosch und anderen an Ludendorff vom 11. Februar 1918, in der es unter anderem hieß: »Die gegenwärtige Stimmung in den breiten Massen wird in den Kriegsfragen vor allem von zwei Faktoren beherrscht: von der Frage nach der ferneren Dauer des Krieges und von der Frage nach der Notwendigkeit und Bedeutung der kommenden Offensive im Westen. An eine rasche Beendigung des Kampfes durch den U-Bootkrieg wird nicht geglaubt. Man erwartet von einer Fortsetzung nur die Schwächung des Angriffs Amerikas und bestenfalls die Hinauszögerung von dessen wirksamen Kriegseintritt bis zum Jahre 19199.« Nachdrücklich wurde »eine unzweideutige 8
Ausschußsitzung vom 26.1.1918, zit. nach ebd., S. 1934 und 1937. Diese Forderung wurde
der SPD auch nach Beginn der Westoffensive konsequent weiter erhoben. So u.a. in der Fraktionssitzung am 21.6.1918: »Von allen Rednern wurde betont, daß von der Regierung das offene und ehrliche Bekenntnis zum Verzicht auf Belgien, überhaupt zum annexionslosen Verständigungsfrieden verlangt werden und daß unser Standpunkt in der Kriegspolitik mit aller Schärfe betont werden müsse.« Die Reichstagsfraktion der deutschen Sozialdemokravon
tie 1898 bis 1918, bearb. von Erich Matthias und Eberhard Pikart, 2 Bde, Düsseldorf 1966, Bd 2 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Reihe 1 : Bd 3.2), S. 406. Zugleich aber lehnte die SPD ebenso entschieden jeglichen »Gewaltfrieden« von Seiten der Ententemächte ab. So äußerte Scheidemann am 23.9.1918 in der Fraktion: »Der Ernst der militärischen, innerpolitischen und wirtschaftlichen Lage Deutschlands, [...] die unverkennbare Absicht der Feinde, dem deutschen Volk nach einer zerschmetternden Niederlage einen Gewaltfrieden aufzuzwingen, der seine Ehre schändet, seine Selbständigkeit zerstört und seine Zukunft vernichtet alles das zwingt uns, in kürzester Frist die überhaupt mögliche materielle und moralische Höchstleistung unseres Volkes in der Abwehr der Feinde auszulösen. [...] wir haben die nationale Verteidigung zu organisieren, solange bis der Frieden zu haben ist. Das ist der rote Faden unserer ganzen Kriegspolitik von Anfang an.« Zit. nach ebd., S. 426 und 428. Abgedr. in: Ursachen und Folgen (wie Anm. 1), S. 245-249, hier S. 246. —
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Erklärung über die zukünftige Wiederherstellung der Souveränität und Integrität Belgiens« gefordert mit der Begründung, daß dann Lloyd George genötigt wäre, »öffentlich zu erklären, daß er um Elsaß-Lothringen willen den Krieg fortsetzen will. So lange noch Zweideutigkeit in der belgischen Frage besteht, gelingt es ihm immer noch, den Massen glaubhaft zu machen, dieser Krieg würde eigentlich noch um Belgien geführt. So täuscht er den Verteidigungscharakter des englischen Krieges vor. [...] Ein Friedensschluß heute würde ein staatsfrohes deutsches Volk in den Frieden hineinführen, das der Armee gegenüber jene Gesinnung bewahren würde, wie sie notwendig ist, um in der Zukunft stark zu bleiben. Diese Gesinnung muß unrettbar verloren gehen, wenn die Suggestion weiterfrißt, daß die Oberste Heeresleitung, und unter ihrem Druck die deutsche Regierung, die Verantwortung für die Fortsetzung des Krieges trägt10.« Da auch der Reichskanzler das Problem der Belgien-Frage nicht länger umgehen konnte, erklärte er in seiner Reichstagsrede vom 25. Februar 1918 zumindest formal die deutsche Bereitschaft zu Verhandlungen über diese Frage mit dem
Hinweis: »Zu wiederholten Malen ist von dieser Stelle aus gesagt worden, daß wir nicht daran denken, Belgien zu behalten, den belg. Staat zu einem Bestandteil des Deutschen Reichs zu machen, daß wir aber [...] vor der Gefahr behütet bleiben müssen, daß das Land, mit dem wir nach dem Kriege wieder in Frieden und Freundschaft leben wollen, zum Gegenstande oder zum Aufmarschgebiet feindlicher Machenschaften würde. Über die Mittel, dieses Ziel zu erreichen und damit dem allgemeinen Weltfrieden zu dienen, sollte [...] verhandelt werden11.« Zugleich betonte Hertling den defensiven Charakter der deutschen Kriegführung: »Unser Kriegsziel ist von Anfang an die Verteidigung des Vaterlandes gewesen, die Aufrechterhaltung unserer territorialen Integrität und die Freiheit unserer wirtschaftlichen Entwicklung nach allen Richtungen hin. Unsere Kriegführung, auch wo sie aggressiv vorgehen muß, ist ihrem Ziele nach defensiv12.« In der Kontroverse, ob der militärischen Offensive im Westen eine auf einen
Verständigungsfrieden abzielende politische Offensive vorausgehen sollte, setzten sich letztlich die Oberste Heeresleitung und der Kaiser durch. Ludendorff, der bereits im Frühjahr 1917 den Gedanken einer entscheidungssuchenden Offensiim Westen erwogen hatte13, vertrat im Kronrat vom 2. Januar 1918 die Auffassung, »daß in Rücksicht auf einen Schlag im Westen ein baldiger Frieden im Osten
ve
Ebd., S. 247 f. und 249. Vgl. hierzu auch die Schilderung bei Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Berlin, Leipzig 1927, S. 225-248: »Mein Kampf für die Einleitung der politischen Offensive«, ebd. S. 233-235 auch zu o.a. Eingabe an Ludendorff. Max von wie er schreibt Baden suchte den Kanzler auf, um »ihn für eine Friedensoffensive zu gewinnen, die jedenfalls die militärische Offensive in ihrer Wirkung steigern, wenn nicht gar sie unnötig machen würde«, ebd., S. 231. Schulthess' Europäischer Geschichtskalender (wie Anm. 5), Bd 1, S. 86. Ebd., S. 88. Zum Problemkomplex der belgischen Frage vgl. auch Wolfgang Steglich, Die Friedenspolitik der Mittelmächte 1917/18, Bd 1, Wiesbaden 1964, S. 263-270 und 340-353. Vgl. Peter Graf Kielmansegg, Deutschland und der Erste Weltkrieg, Frankfurt a.M. 1968, —
S. 629.
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Einführende Bemerkungen
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erforderlich sei«14. In seinen »Kriegserinnerungen« schreibt er dazu: »Die Oberste Heeresleitung stand im Spätherbst vor der entscheidenden Frage: Konnte sie die im Frühjahr bestehende Gunst der Verhältnisse zu einem großen Schlage im Westen ausnutzen oder sollte sie sich, ohne diesen Versuch zu machen, planmäßig auf die Verteidigung beschränken und nur Nebenangriffe, etwa in Italien oder Mazedonien, ausführen? [...] Die Lage bei unseren Bundesgenossen und bei uns sowie die Verhältnisse des Heeres erheischten einen Angriff, der eine baldige Entscheidung brachte. Das konnte nur an der Westfront der Fall sein. Alles Vorhergehende war allein Mittel zum Zweck gewesen, eine Kriegslage herbeizuführen, die ihn ermöglichte. [...] Der Angriff ist die stärkste Kampfform, nur er bringt eine Entscheidung. Das beweist die Kriegsgeschichte auf jedem ihrer Blätter. Er ist das Sinnbild der Überlegenheit über den Feind. Ein Abwarten hätte nur ihm Nutzen gebracht, da er auf sichere Verstärkungen rechnete. Daß der Angriff im Westen eine der schwersten Operationen der Weltgeschichte werden mußte, darüber war ich mir vollständig klar. Ich machte kein Hehl daraus. Auch das deutsche Volk mußte alles hergeben. [...] Die Rücksicht auf die amerikanische Gefahr ließ es geboten erscheinen, im Westen so früh wie möglich zu
schlagen15.«
Auch der Kaiser sprach sich für die militärische Offensive im Westen aus und gegen eine erneute Friedensinitiative. So kommentierte er im Januar 1918 Überlegungen zu einer Verständigung mit England mit der bezeichnenden Bemerkung: »Gibt's nicht mehr! Einer muß runter! Und das ist England16!« Im gleichen Monat umriß er die politischen Ziele der geplanten Westoffensive in einer seiner charakteristischen Randbemerkungen mit den Worten: »Der Sieg der Deutschen über Rußland war Vorbedingung für die Revolution, diese die Vorbedingung für Lenin, dieser für Brest! Dasselbe ist für den Westen maßgebend! Erst Sieg im Westen mit Zusammenbruch der Entente, dann machen wir die Bedingungen, die sie annehmen muß! Und die werden rein nach unserem Interesse zugeschnitten17.« Als Ludenforff in einem Schreiben vom 22. Februar 1918 an Friedrich Naumann zur Eingabe vom 11. Februar Stellung nahm, ließ er keinen Zweifel an seiner Entscheidung, wenn er im Hinblick »auf die Frage nach der Notwendigkeit und Bedeutung einer Offensive« bemerkte: »Wir haben nicht die Wahl zwischen Frieden und Krieg, solange wir ein wirtschaftlich starkes und gesichertes Vaterland erstreben. Aber wir haben im Westen zum ersten Male seit dem Einmarsch in Frankreich die Wahl zwischen Verteidigung und Angriff. Sie darf nicht schwer fallen, auch wenn die Aufgabe eine gewaltige ist. Nur Handeln bringt Erfolg. Das haben die Waffenerfolge auf den anderen Kriegsschauplätzen bewiesen und jetzt der Vormarsch [im Osten] nach Ablauf des Waffenstillstandes. Darum wollen und 14
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Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, 3. Aufl., Berlin 1919, S. 438. Ebd., S. 432 und 435 f. Zit. nach Leo Haupts, Deutsche Friedenspolitik 1918-19. Eine Alternative zur Machtpolitik des Ersten Weltkrieges, Düsseldorf 1976, S. 146. Zit. nach Fritz Fischer, Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18, 3. verbesserte Aufl., Düsseldorf 1964, S. 828.
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dürfen wir nicht abwarten, bis die Entente sich mit amerikanischer Hilfe stark genug fühlt, uns anzugreifen. Der Krieg wird dadurch abgekürzt, Geld und auch Blut gespart werden. [...] Der Angriff ist noch immer die Fechtweise des Deutschen gewesen. Das deutsche Heer, das den Frieden genau so will, wie die deutsche Heimat, freut sich der Aussicht, aus dem Stellungskrieg herauszukommen. Die Offensive wird nicht die >Offensive des deutschen GeneralstabesVertrauen[...] da nun einmal die Entscheidung gefallen ist, muß man frisch herangehen Operation< verbitte ich mir. Wir hauen ein Loch hinein. Das Weitere findet sich. So haben wir es in Rußland auch gemacht79!« Damit riskierte er allerdings, den Angriff »an einer Stelle [zu unternehmen], die strategisch ins Leere führte«80, was den militärischen und politischen Sinn der ganzen Offensive in Frage stellen mußte. Auch wenn man die verbreitete Auffassung abweist, daß Ludendorff nicht strategisch denken konnte, muß man doch zugestehen, daß der Schwerpunkt seiner Begabung auf dem Feld des Organisatorischen lag. Während Planung und operative Leitung der deutschen Offensiven des Jahres 1918 vielfache und teilweise scharfe Kritik erfahren haben, überwiegen bei der Beurteilung des unter seiner Leitung entwickelten Angriffsverfahrens und der Vorbereitung der deutschen Armee für diese Kampfform die positiven Stimmen bei weitem. Meier-Dörnberg meinte, die deutschen Angriffsvorbereitungen bildeten »eines der glänzendsten Kapitel der Militärgeschichte, von dem bis heute eine faszinierende Wirkung ausgeht, sofern man überhaupt noch bereit ist, militärische Leistungen
anzuerkennen. Das kaiserliche Deutschland faßte seine erstaunlichen Talente und Energien zu einem letzten Höhepunkt zusammen, und Ludendorff war der treibende Motor81.« Auch ein so entschiedener Kritiker des Ersten Generalquartiermeisters wie Krafft v. Dellmensingen sah in der Vorbereitung des Heeres für den Angriff Ludendorffs persönliche Leistung, der sich dabei in der diskursiven Tradition des deutschen Generalstabs von seiner besten Seite zeigte: »Jeder Einwand, jeder neue Vorschlag wurde [...] entgegengenommen und gründlich geprüft, hiermit das ganze Heer zum Mitarbeiter gemacht82.« Das deutsche Westheer hatte sich in den Vorjahren auf Abwehrkämpfe spezialisiert und mußte nun umlernen. Neuartige kampftechnische Hilfsmittel wie etwa der Tank standen ihm nicht zur Verfügung. Es mußte sich mit den konventionellen Mitteln von Infanterie und Artillerie begnügen. Auf die Nachahmung des allierten Verfahrens verzichtete 78
Ebd.
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Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 2, S. 372.
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Delbrück, Korreferat (wie Anm. 8), S. 247. Wilhelm Meier-Dörnberg, Die große deutsche Frühjahrsoffensive 1918 zwischen Strategie und Taktik, in: Operatives Denken und Handeln in deutschen Streitkräften im 19. und 20. Jahrhundert, Herford, Bonn 1988 (= Vorträge zur Militärgeschichte, Bd 9), S. 73-95, hier S. 83. Krafft, Durchbruch (wie Anm. 28), S. 136 f.
Aber was hätte anders geschehen sollen?
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vornherein83. Für den Aufbau einer gleichmäßig und langsam vorrückenden überlegenen Zerstörungsfront, die unter hohem Verschleiß eigener Kräfte die des Gegners allmählich verbrauchte, war die deutsche Seite zu schwach. An die Stelle der Maximierung von Vernichtungsgewalt trat Überraschung, Schnelligkeit und Flexibilität. Ein Millionenheer sollte nach einem minutiös ausgearbeiteten Plan unbemerkt zum Angriff bereitgestellt werden. Statt eines wochenlangen Zermürbungsfeuers sollte die Artillerie nur einen Feuerschlag von wenigen Stunden abgeben, und das auf der Grundlage eines ganz neuen Schießverfahrens. Nicht auf das ausgerichtete, gleichmäßige Fortschreiten der Angriffsfront kam es an, sondern darauf, überall dort vorzudringen, wo dies möglich war, und zwar so weit wie jeweils möglich: Die Angriffsinfanterie sollte nicht am Ende des ersten Kampftages bzw. nach dem Erreichen der ihr bestimmten Linie abgelöst werden, sondern »vorwärts, solange sie noch Atem hat«84. Punkte starken Widerstands sollten umgangen werden. Ein Erlaß der OHL vom 25. Januar 1918 bestimmte, daß »der weitgehendsten Selbsttätigkeit der unteren Führer, vom Kompagniebzw. Bataillons-Führer aufwärts, freier Spielraum gelassen werden [muß]. Die niederen Truppenführer (Bataillons- und Regiments-Kommandeur) werden vielfach die Entscheidung in der Hand haben85.« Das Auftragsverfahren trat wieder in den Vordergrund86. Hauptaufgabe der höheren Führung war das Haushalten mit Kräften und der Einsatz der Reserven: »Diese werden im allgemeinen nicht dort einzusetzen sein, wo der Angriff sich an Stützpunkten und Widerstandsnestern festgelaufen hat, sondern dort, wo der Angriff im Rollen ist und noch vorwärts getragen werden kann, um den feindlichen Widerstand beim Nachbarabschnitt durch Aufrollen von der Hanke und vom Rücken her zu brechen87.« Dieses Kampfverfahren hat man später mit dem anschaulichen Begriff der »Infiltrationstaktik« bezeichnet. »Sämtliche Stäbe, auch die der Generalkommandos und A.O.K.'s gehören auf das Gefechtsfeld, die Divisionsstäbe weit nach vorn88.« Nur so konnten sie den Ansprüchen an die Gefechtsführung genügen, die das neue Verfahren stellte. Es waren diese taktischen Reformen, die den Frühjahroffensiven ihre Dynamik gaben. Delbrück bemerkte dazu mit Schaudern, daß »die ganze Zukunft Deutschlands [...] auf diese Karte gesetzt« war89. Der Angriff implizierte somit auch ein »taktisches Wagnis ersten Ranges«90. Besonders deutlich sieht man das an dem neuen Schießverfahren der Artillerie, welches das herkörnmliche »Einman von
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Theodor Jochim, Die Vorbereitung des deutschen Heeres für die Große Schlacht in Frankreich im Frühjahr 1918. Teil 1: Grundsätze für die Führung, Berlin 1927, S. 12. AOK 17, Erziehungsgrundsätze für die Ausbildung im Angriff, 13.2.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Generalkommando III. bayer. Armeekorps, Bund 52, Ausbildung, Akt 2. Erlaß Chef d. Generalstabes des Feldheeres Nr. 6220 vom 25.1.1918 in: Ebd. Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 3, S. 205. Erlaß Chef d. Generalstabes des Feldheeres Nr. 6220 vom 25.1.1918 (wie Anm. 85). Ebd. Delbrück, Korreferat (wie Anm. 8), S. 289. Otto v. Moser, Ernsthafte Plaudereien über den Weltkrieg, Stuttgart 1937, S. 268.
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schießen« der Batterien überflüssig machte. Für jedes einzelne Geschütz wurden die individuellen Leistungsdaten auf Schießplätzen hinter der Front ermittelt. Tabellen ermöglichten das sogenannte »Ausschalten der Tageseinflüsse« wie Temperatur oder Wind. Vorausgesetzt, Feuerstellung und Ziel waren exakt vermessen, konnte die Artillerie nun ohne Vorwarnung überraschend ein präzises Feuer abgeben. Dieses Verfahren wurde vom Hauptmann der Fußartillerie Pulkowski entwickelt und setzte sich in wenigen Monaten durch91. In der ursprünglichen Fassung der grundlegenden Vorschrift »Der Angriff im Stellungskriege92« vom 26. Januar 1918 war es noch nicht enthalten. Ludendorff empfahl, das Einschießen nicht zu gefährden. »unauffällig« durchzuführen (Ziff. 42), um die Schon sechs Tage später erließ er »Ergänzungen«, in denen er ankündigte, daß durch »Vorbereitungen hinter der Front« ein genaues Einschießen »wesentlich verkürzt, teilweise ganz ersetzt werden« könne93. Man werde das Ergebnis entsprechender Versuche mitteilen. Das zeugt von raschem Reagieren und einer bemerkenswerten Durchlässigkeit der Strukturen, doch bewegte sich die OHL damit zunächst auf recht unsicherem Boden. Die Versuche ergaben lange Zeit noch keine befriedigenden Resultate. Bei einer Vorführung in Maubeuge am 3. Februar 1918 schössen die mittleren Batterien 200-250 Meter zu weit94. Ende des Monats erfuhr AOK 17 vom Generalinspekteur der Fußartillerie, daß sich Abweichungen von bis zu 500 Metern ergäben, die man nicht erklären könne95. Ludendorff befahl zwar Ende Februar, das neue Schießverfahren »mit allen Mitteln zu erstreben und durchzubilden«, doch verrät seine Formulierung, dieses Verfahren sei »theoretisch zutreffend«, eine gewisse Skepsis96. Anfang März lauteten die Nachrichten dann »auf einmal wieder auffallend günstig«97. Die Armee entwickelte nicht nur ein neues Angriffsverfahren, sie unternahm auch große Anstrengungen, dieses den Truppen beizubringen. Ein Erlaß vom 14. Dezember 1917 bestimmte, daß jede Armee hinter der Front ein Generalkommando einrichten sollte, das für die zurückgezogenen Divisionen Ausbildungskurse durchführen mußte98. Die Dauer der Kurse betrug drei Wochen99. Dem Kaiser meldete Ludendorff schließlich, daß das Heer »versammelt und wohlvorbereitet
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Vgl. Georg Bruchmüller, Die deutsche Artillerie in den Durchbruchschlachten des Weltkrieges, 2. wesentl. erw. Aufl., Berlin 1922; S. 85 ff.; die französische Armee hatte ein derartiges Verfahren schon früher gelegentlich angewandt, ohne daß es von deutscher Seite erkannt
worden wäre, Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 48. Abgedr. in: Urkunden (wie Anm. 10), S. 641-666. Ergänzungen vom 1.2.1918 zum Teil 14 des Sammelheftes der Vorschriften für den Stellungskrieg, in: Ebd., S. 666-672, Ziff. 12. Krafft, Tagebuch vom 3.2.1918 (wie Anm. 53). Ebd., 23.2.1918. Erlaß Chef des Generalstabes des Feldheeres vom 28.2.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV,
Kriegsarchiv, Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, Bund 90.
Krafft, Tagebuch vom 4.3.1918 (wie Anm. 53).
Erlaß des Chefs des Generalstabes des Feldheeres vom 14.12.1917, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Generalkommando III. bayer. Armeekorps, Bund 52, Ausbildung, Akt 2. Ebd., Erlaß AOK 6 vom 24.12.1917.
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>an die größte Aufgabe seiner Geschichte< herantrete«100. Dieser Stolz war nicht ohne Berechtigung. Es dürfte in der Militärgeschichte wenig geben, was sich mit dieser »Qualifizierungsoffensive« vergleichen ließe. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß ihre Ergebnisse vielfach unbefriedigend bleiben mußten. So zeigte eine Übung der 16. bayer. Infanteriedivision am 19. Februar »an allen Ecken und Enden, daß die Unterführer nicht mehr gewohnt sind, selbständig zu denken«101. Eine Übung des III. bayer. Armeekorps, das im Bereich der 17. Armee als Ausbildungsgeneralkommando eingesetzt war, bestätigte dem Stabschef der Armee den deprimierenden Eindruck:
»Wir vermögen den Bewegungskrieg nicht entfernt mehr so großzügig zu führen, wie wir es im Frieden gelernt hatten. Alles vollzieht sich unendlich umständlich, schleppend und schwerfällig, in Befehlsgebung und Ausführung. Die Maschine reibt sich in allen Gelenken, weil ihr das Öl der Unterführer-Selbsttätigkeit fehlt. [...] Ich fürchte also, daß wir nur mit wenig gehobener Kampfkraft in die große Entscheidung eintreten und daß wir auf ihre Güte nicht sicher zählen dürfen. Viele Unterführer sind nur notdürftig ersetzt. Wir dürfen uns nichts vormachen: Unser Schwert ist stumpf geworden und müßte noch lange und gründlich gehärtet und
geschliffen werden102.« Middlebrooks Schätzung, daß ein durchschnittlicher deutscher Infanteriezug noch über 30 bis 40 Prozent Vorkriegssoldaten verfügte103, ist weit übertrieben. Das deutsche Heer war fast vier Jahre lang in einem Mehrfrontenkrieg maßlos angestrengt worden und hatte dabei extrem hohe Verluste erhtten. Als Ernst Jünger mit seiner Kompanie das Weihnachtsfest des Jahres 1916 feierte, gab es in dieser Einheit von ca. 200 Soldaten gerade noch fünf Männer, die schon beim Weihnachtsfest des Vorjahres dabei waren104. Auch die rein quantitative Auffüllung solcher Verluste stieß inzwischen an Grenzen. Schon 1917 schickte die Armee Soldaten an die Front, »die zweifellos nicht oder noch nicht tauglich sind. [...] So wurden Mannschaften mit noch offenem Bauchschuß oder mit schlecht verheilten Kopfschüssen, die keinen Stahlhelm in die Front In konnten, tragen eingestellt105.« einem Schreiben an den Reichskanzler klagte die OHL im September 1917, daß die Ersatzfrage schon jetzt »erheblich die militärische Operationsfreiheit« lahmlege und daß der Ausgang des Krie100
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Ludendorff, Kriegserinnerungen (wie Anm. 42), S. 472. Krafft, Tagebuch vom 19.2.1918 (wie Anm. 53); ähnliche Bemerkungen über die 24. Inf.Div., (28.2.), 20. Inf.Div. (6.3.), 3. Gardediv. (8.3.). Krafft, Tagebuch vom 26.2.1918 (wie Anm. 53). Martin Middlebrook, Der 21. März 1918. Die Kaiserschlacht, Berlin, Frankfurt a.M., Wien 1979, S. 133. Ernst Jünger, In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers, 2. Aufl., Berlin 1922, S. 88. Stimmung in der Heimat, Bericht Generalkommando I. bayer. Armeekorps an das Kriegsministerium vom 23.9.1917, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, MKr. 2337; die Randbemerkung des Bearbeiters im Kriegsministerium zeigt den Krieg aus einer anderen Perspektive: »Den Ärzten daraus einen Vorwurf zu machen, wäre völlig verfehlt; hat man doch nicht gegen zu große Härte, sondern gegen zu große Weichheit der Ärzte anzukämpfen.«
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ges in Frage gestellt sei, wenn es nicht gelinge, den nötigen Ersatz zu schaffen106. Die Aussichten für 1918 waren schlecht. Deutschland war nicht mehr in der Lage, gleichzeitig die Industrie zur Erzeugung von Kriegsmaterial und das Heer zur Ergänzung seiner Verluste mit Menschen zu versorgen107. Den vielleicht größten Mangel der deutschen Armee deutete Ludendorff schon in seinem Erlaß zur Einrichtung der Ausbildungsarmeekorps an, in dem er auf die Schonung der Pferde besonders hinwies108. Pferde waren in Deutschland vor der großen Offensive noch knapper als Menschen, und sie waren noch schlechter ernährt. So klagte die 44. Reservedivision am 13. Februar 1918, daß im Rahmen der Vorbereitung für die Offensive die Ausbildung der Artillerie zwar »in jeder Hinsicht erheblich gefördert« worden sei, daß aber die Rücksicht, welche auf den Zustand der Pferde genommen werden müsse, störend wirke: »Schon die kleinsten Uebungen strengen die Pferde wegen der Futterknappheit unverhältnismässig an109.« Solche Meldungen tauchen in den Berichten der Divisionen geradezu stereotyp auf. Im Februar meldeten die am Angriff beteiligten Heeresgruppen, daß der Kräftezustand der Pferde größeren Anstrengungen nicht gewachsen sei. Die OHL telegrafierte am 7. Februar 1918 an das Kriegsministeriurn und das Reichsernährungs- und Reichsschatzamt, daß hier Wandel geschaffen werden müsse, »sonst verhungern die Pferde«. Diese armen Tiere sollten nun den Riesenapparat einer modernen Armee durch Trichterfelder, über Gräben und Hindernisse schleppen und nicht zuletzt durch das alte Sommeschlachtfeld, die »Sommewüste«, wie man es anschaulich nannte, und sie sollten dann im Bewegungskrieg gegen die ihren dazu daß die leisten, Engländer Beitrag Operation ihren Schwung nicht verlor! Erst ab 1. März gab es eine karge Futterzulage für die Pferde der am Angriff beteiligten Divisionen110, die mit Hafervorräten für fünf Tage in die Schlacht gin-
gen111!
Diese Tiere waren nicht nur unterernährt, es gab auch insgesamt zu wenig. Deshalb konnten für die Offensive nur 70 von insgesamt 240 Divisionen der deutschen Armee qualitativ und quantitativ mit Pferden leidlich ausgestattet werden112. In einer Schlußbesprechung zwei Tage vor dem Angriff erfuhren die am Angriff beteiligten Armeen, daß sie weitere Zuschübe an Pferden nicht mehr zu erwarten hätten und sich durch Aushilfen innerhalb der Heeresgruppe, »allenfalls durch Stillegung ganzer Divisionen selbst helfen« sollten113.
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Schwertfeger, Verantwortlichkeiten (wie Anm. 11), S. 126. Ausführliche Darlegung bei Kühl, Entstehung (wie Anm. 39), S. 58 ff. Erlaß (wie Anm. 98), Ziff. 10. Bericht 44. Reservedivision an III.
bayer. Armeekorps 13.2.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Generalkommando III. bayer. Armeekorps, Bund 31, Akt 6. Kühl, Entstehung (wie Anm. 39), S. 76. Krafft, Tagebuch 20.3.1918 (wie Anm. 53). Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 41 f.; solche Divisionen wurden »mobil« gemacht und »Mob.« Divisionen genannt. Krafft, Tagebuch vom 19.3.1918 (wie Anm. 53).
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Man begreift, daß Fragen des Pferdebestandes »die schwerste Sorge der OberHeeresleitung« gewesen sind114. LKWs, Gummi und Benzin waren ebenfalls knapp115, so daß sich auch von dieser Seite dem Mangel an Beweglichkeit nicht entscheidend abhelfen ließ. Unter diesen Umständen konnte man eine Offensive, die höchste Ansprüche an die Mobilität der beteiligten Truppen stellte, nur dann wagen, wenn man glaubte, daß der Wille wirklich Berge versetze. Das ist eine ohne die man Vorbereitung und Durchführung der Offensive und Verharren im Angriff im Frühjahr und Sommer 1918 nicht verstehen kann. Wie richtig bemerkt worden ist, hat Ludendorff bei der Ausgestaltung des »MichaelAngriffs nicht alles »auf eine Karte gesetzt«116. Eine stärkere Anhäufung von Angriffstruppen wäre möglich gewesen. Allerdings verschrieb er sich vorbehaltlos der offensiven Kampfform. Der Ausbau rückwärtiger Stellungen, jede Sicherungsmaßnahme für den Fall eines Fehlschlages unterblieb, und zwar bis zum endgültigen Zusammenbruch des Offensivprogramms. Gefragt, »ob man sich auch ganz klar mache, daß die geplante große März-Offensive die letzte Karte sei, die wir hätten«, zuckten prominente Vertreter der OHL wie Wetzell und Max Bauer, die das Ohr Ludendorffs besaßen, nur mit den Schultern117. Als Max von Baden den General am 19. Februar 1918 in Kreuznach besuchte und ihn fragte, ob er dafür einstehen könne, mit der Offensive das zu erreichen, was Deutschland brauche, antwortete Ludendorff ehrlich, daß er das nicht könne, »man müsse aber an den Sieg glauben«118. Zwischen dem, was dem deutschen Heer bei sorgfältiger Berechnung möglich war und dem, was es auf dem eingeschlagenen Kurs leisten mußte, klaffte wie schon so oft in diesem Krieg eine Lücke, die der Wille von Führung und Truppe überbrücken mußte. Das »starke Vertrauen des Generalfeldmarschalls und des Generals Ludendorf« zog gewiß viele, aber nicht »alle« in seinen Bann119. Die Stabschefs der beteiligten Heeresgruppen und der bayerische Kronprinz gingen mit Zweifeln und Sorgen in die Schlacht120. Für England und Frankreich gab es wenig Grund zu der Annahme, Deutschland vor dem Erscheinen der amerikanischen Armee in Frankreich besiegen zu können. Nach dem Zusammenbruch Rußlands mußten die Alliierten erstmals während des Krieges damit rechnen, daß ihnen an der Westfront für eine bemessene Zeit gleichstarke, wenn nicht überlegene Kräfte gegenüber stehen würden. Der Oberbefehlshaber der englischen Streitkräfte, Sir Douglas Haig, befürwortete in einem Memorandum vom 8. Februar 1917 allerdings auch bei einem Ausfall sten
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Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 32. Der Mangel an Gummi führte dazu, daß viele deutsche Lastkraftfahrzeuge auf Stahlreifen fuhren. Das beschränkte ihre Geschwindigkeit auf 12 km/h und verminderte die Einsatzfähigheit bei Nässe, setzte also die Transportleistung herab. Fries, Kraftfahrwesen, in: Die Technik im Weltkriege, hrsg. von Max Schwarte, Berlin 1920, S. 235-244.
Moser, Plaudereien (wie Anm. 90), S. 252. Thaer, Generalstabsdienst (wie Anm. 33), S. 182 f. Prinz Max, Erinnerungen (wie Anm. 18), S. 236. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 93. Ebd., S. 92 f.
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des russischen Bundesgenossen die Fortsetzung der Offensive an der Westfront121, weil er aufgrund seiner Berechnungen glaubte, daß Deutschlands Menschenvorräte spätestens im Juni 1918 zur Neige gehen würden122. Die einzige Alternative sah er in »accepting an unsatisfactory peace«. In der Offensive zu scheitern, hielt er für »the future of our race« jedenfalls für besser, als nach drei Jahren glänzender (»splendid«) Anstrengungen die Bedingungen des Feindes anzunehmen123. Haig konnte sich aber nicht durchsetzen und mußte seine Armeekommandeure am 3. Dezember 1917 anweisen, sich auf eine starke und langdauernde feindliche Offensive einzustellen: »It is therefore of first importance that Army commanders should give their immediate and personal attention to the organization of the zones for defensive purposes and to the rest and training of their troops124.« Das war nun ein genaues Kontrastprogramm zu dem, was Ludendorff unternahm. Beide wandten sich von der Kampfform ab, auf die sie sich in den vergangenen Jahren konzentriert hatten und richteten sich statt dessen für die bisherige des Gegners ein. Während die Deutschen ihr Angriffsverfahren aber in bewußter Abkehr vom englischen entwickelten, versuchten die Briten umgekehrt, die deutsche Verteidigungstaktik mit ihrem Dreizonenmodell zu kopieren, wie es in der Vorschrift »Allgemeines über Stellungsbau« vom 10. August 1917 festgelegt worden war125. Die deutschen Begriffe »Vorfeldzone«, »Großkampfzone« und »rückwärtige Zone« wurden zu »Forward Zone«, »Battle Zone« und »Rear Zone«. Sie erlaubten einen beweglich geführten Verteidigungskampf, mit dem die deutsche Armee die gewaltige Flandernschlacht des Jahres 1917 überstanden hatte. Auch die neuen Kampfanweisungen der französischen Armee sahen eine elastische Verteidigungstaktik vor, bei der die vorderste Stellung nur schwach besetzt und der Hauptwiderstand aus einer zweiten Stellung heraus geleistet werden sollte126. Als sich um die Jahreswende die Anzeichen für eine deutsche Offensive verdichteten, versuchten die Alliierten mit wenig Erfolg ihre Planungen zu koordinieren. Neben der Einrichtung eines gemeinsamen Oberkommandos scheiterte insbesondere der Versuch, eine aus 30 Divisionen bestehende Zentralreserve zu bilden127. Der am 7. November 1917 erstmals zusammengetretene Oberste Kriegsrat in Versailles128, der sich aus Vertretern Frankreichs, Englands, Italiens und der USA zusammensetzte, leistete bis zum 21. März 1918 »nothing tangible towards meeting the irnminent German assault«129. Immerhin kam es im Februar und März 121
History of the Great War. Military Operations. France and Belgium 1918, Appendices, Lon1935, S. 1 ff. Ebd.,S.3. Ebd.,S. 7. don
122
123 124
125 ,26 127
128 129
History of the Great War. Military Operations.
France and Belgium 1918, ed. by James Edmonds, London 1935, S. 37. Ebd., S. 41; die Vorschrift ist abgedr. in: Urkunden (wie Anm. 10), S. 594-504. Les Armées Françaises dans la Grande Guerre, Tome 6, Vol. 1, Paris 1931, S. 156 ff. History of the Great War (wie Anm. 124), S. 85 f. Ebd., S. 32. Ebd., S. 86.
E.
Aber was hätte anders geschehen sollen?
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Vereinbarungen zwischen Haig und Marschall Philippe Pétain, dem Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte, über die gegenseitige Unterstützung im Fall einer deutschen Offensive. Davon abgesehen bereiteten sich ihre Armeen getrennt und in souveräner Verfügung über die jeweiligen Reserven auf die Abwehr des erwarteten Angriffs vor130. Im Mittelpunkt von Haigs Überlegungen stand der Schutz der Kanalhäfen. Entspechend verteilte er seine Kräfte. Nachdem die Existenz der B.E.F. von der Kontrolle über diese Häfen abhing, war das eine durchaus vernünftige Entscheidung. Haig befürchtete, ein deutscher Angriff im Südabschnitt seiner Front würde nur die Abnützung seiner Reserven bezwecken, um den entscheidenden Angriff in Flandern vorzubereiten131. Der rechte Hügel der englischen Armee mit der 3. und 5. Armee wurde also schwächer ausgestattet als der linke. Vor allem die 5. Armee mußte einen gemessen an ihrer Stärke ungewöhnlich langen Frontabschnitt besetzen. Bei ihr ließ auch der Stellungsausbau zu wünschen übrig. Ludendorff war dies nicht entgangen. Eben deshalb wollte er ja an dieser Stelle angreifen. Die erste Warnung, daß die Deutschen gegenüber der 5. englischen Armee etwas im Schilde führten, empfingen die Briten am 5. Januar. Sie erfuhren, daß das AOK 18 unter General von Hutier den Südabschnitt der 2. Armee übernommen hatte132. Hutier hatte im September des Vorjahres eine erfolgreiche Überrabei schungsoffensive Riga geleitet. Auch der Einsatz des AOK 17 unter Otto v. Below entging der britischen Aufklärung nicht. Daß sich im Bereich der alten 2. Armee schließlich drei Armeeoberkommandos betätigten, von denen zwei in den vergangenen Monaten spektakuläre Angriffsoperationen geführt hatten, mußte die britische Führung natürlich alarmieren133. Aussagen von Überläufern und Gefangenen am 19. März, »in some cases unwillingly« [?], rundeten das Bild ab. Über die deutsche Offensive herrschte jetzt Klarheit. General Hubert Gough, Kommandeur der 5. britischen Armee, die von diesem Angriff am schwersten getroffen werden sollte, schrieb: »I expect a bombardment will begin to-morrow night, last six or eight hours, and then will come the German infantry on Thursday 21st134.« Im britischen Hauptquartier herrschte Zuversicht, wie Haig am Vortag des Angriffs Lady Haig mitteilte: »Everyone is in good spirits and only anxious that the enemy should attack«135. Mit anderen Worten: Der deutsche Angriff hat die englische Armee nach Ort und Zeit nicht überrascht. Unklar war am Vorabend der Offensive nur, ob der erste Angriff der Hauptangriff sein werde oder ein Ablenkungsangriff oder ob an der französischen Front gleichzeitig ein Angriff stattfinden werde136. zu
130 131 132 133 134 135
136
Les Armées Françaises, Tome 6, Vol. 1 (wie Anm. 126), S. 90 f. History of the Great War (wie Anm. 124), S. 94. Ebd., S. 95. Ebd., S. 106. Ebd., S. 110. Tim Travers, How the war was won. Command and Technology in the British Army on the Western Front, 1917-1918, London, New York 1992, S. 53. History of the Great War (wie Anm. 124), S. 110; zu den französischen Erwartungen Les Armées Françaises (wie Anm. 126), S. 153-155 und 226-230 ff.
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Befürchtungen hinsichtlich einer dynamischen Entwicklung der Offensive hegte man nicht, denn man rechnete mit einer Abnützungsoffensive nach eigenem
Muster. Die deutsche Führung war mit dem Verlauf des ersten Angriffstages unzufrieden, denn der Erfolg blieb hinter den Hoffnungen zurück. Ludendorff hatte in seinen Weisungen für die Ausbildung der Angriffsdivisionen ausdrücklich auch kleineren, acht Kilometer tief bestimmt, daß der Angriff bei allen vorgetragen werden müsse, also über die feindliche Artillerielinie hinaus137. Dieses handstreichartige Überrennen der Verteidigung gelang nicht, die Infanterie mußte sich blutig durchkämpfen. Das galt vor allem für den rechten Flügel der Offensive im Bereich der 17. Armee, während die links eingesetzte 18. Armee schon am zweiten Tag ihr Angriffsziel, den Crozatkanal und die Somme, erreichte. In dieser Linie sollte sie nach der im Angriffsbefehl vom 10. März formulierten Operationsidee nur die linke Hanke des nach Nordwesten gerichteten Hauptangriffs decken. Ludendorff meinte nun, es gehe »ausgezeichnet«138 und erweiterte am 23. März die Ziele der Offensive: Die 17. Armee sollte weiter gegen die Engländer angreifen, 18. und 2. Armee jedoch beiderseits der Somme nach Westen und Südwesten vorstoßen, um die englische von der französischen Armee zu trennen139. Das lief nun auf eine Offensivschlacht gegen diese beiden Armeen zugleich hinaus. Die Operation wurde exzentrisch. In der OHL hielt der Optimismus an: Am 24. März telegrafierte Ludendorff, die Schlacht sei »gewonnen«140. Zwei Tage später verstärkte er die Offensive gegen die von Süden herangeeilten französischen Reserven nochmals, wies der 17. Armee auseinanderstrebende Angriffsziele zu und ordnete die Vorbereitung von »Georg« in Flandern an141. Jetzt sollte »nicht mehr gekämpft, sondern operiert werden«, wie er am Morgen des 27. März die 18. Armee unterrichtete142. An diesem Tag aber stagnierte die Offensive; der »Mars«-Angriff auf dem rechten Flügel der 17. Armee sollte jetzt helfen, »Michael« wieder voranzubringen143, scheiterte aber schon am ersten Tag. Die Annahme, die Engländer hätten sich dort zur Abdämmung der deutschen Offensive geschwächt, erwies sich als irrig. Nun konzentrierten sich Ludendorffs Hoffnungen ganz auf den Angriff gegen die Franzosen: Am 28. März stellte er die Offensive der 17. Armee ein144. Auf der Suche nach der weichen Stelle in der gegnerischen Front unternahm er an den nächsten Tagen Angriffe im Bereich der 2. und 18. Armee. Sie scheiterten ebenso wie »Mars«. Bis zum 29. März verschmälerte sich die aktive deutsche Angriffsfront von 80 auf 20 Kilometer145. Die Offensive hat-
Übungen,
137 138 139 140 141
142 143 144 145
Erlaß des Chefs des Generalstabes des Feldheeres Nr. 6220 vom 25.1.1918 (wie Anm. 85).
Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 166.
Ebd., S. 167 f. Krafft, Tagebuch vom 24.3.1918 (wie Anm. 53). Ebd., 27.3.1918; Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 201 f. Ebd., S. 211. Ebd., S. 214 f. Ebd., S. 226. Ebd., S. 246.
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te ihren Höhepunkt überschritten. Ein letzter Versuch, zumindest noch die Stadt Amiens zu nehmen, um so die englische von der französischen Armee zu trennen, mißlang am 4. April. Am nächsten Tag befahl die OHL die Einstellung der Offensive. Ludendorffs Führung während der großen Offensive fand herbe Kritik, die sich vor allem daran entzündete, daß er keiner klaren Linie folgte. Im Verlauf der Offensive verlegte er den Schwerpunkt weg von der ursprünlichen Operationsabsicht nördlich der Somme auf das südliche Ufer des Flusses und begann so eine zweite Angriffsschlacht gegen die französische Armee, bevor die englische geschlagen war. Dadurch erhielten die Engländer, die nach Meinung der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht »einem weiteren kräftigen Stoß kaum mehr standgehalten hätten«, eine Atempause. Man habe ähnliche Fehler begangen wie während der Marneschlacht146. vermißte die Heeresgruppe in den Anweisungen der OHL »eine eigentliche Absicht«. Dort sei immer nur von »zu erreichenden Geländeabschnitten« die Rede, was den Eindruck hervorrufe, als ob »die O.H.L. sozusagen von der Hand in den Mund lebt, ohne sich zu bestimmten operativen Absichten zu bekennen«147. Kühl, der sich in seinen Nachkriegsdarstellungen große Mühe gab, das Prestige des Generalstabes zu wahren und dessen Entscheidungen zu rechtfertigen, konnte doch nicht umhin, in einer für seine Verhältnisse recht klaren Weise die exzentrische Gestaltung der Offensive durch Ludendorff als eine der Ursachen für ihr Scheitern zu benennen148. Autoren, die dem Andenken des Generalstabs weniger eng verbunden sind als Kühl dies war, haben sich dieser Kritik bis in die jüngste Zeit angeschlossen149. Nach der Meinung Fehrs war das exzentrische Auseinanderlaufen der Offensive allerdings die »zwangsläufige Folge der Anlage der Schlacht«150. Ludendorffs Hauptsorge war es gewesen, den im Westen bisher stets mißlungenen Durchbruch zu erzwingen, um die angestrebte Operation überhaupt erst möglich zu machen. Deshalb hatte er den Angriff weit nach Süden ausgedehnt, wo er auf einen nur schwach ausgebauten Teil der englischen Front traf. Die vorgesehene Deckungslinie, die Somme, befand sich in nur geringer Entfernung hinter der englischen Front. Nach dem Gelingen des ersehnten Durchbruchs war es einfach undenkbar, dort stehen zu bleiben. Das Überschreiten des Flusses, von der 18. Armee bzw. von der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz schon vor der Schlacht ins Auge gefaßt und von Ludendorff nicht verworfen151, wurde somit unvermeidlich und mußte die Operation auseinanderfallen lassen. Ludendorffs Entschluß, den taktischen Erfolg abzuwarten und erst danach die Operation festzulegen, ist zwar vor dem Hintergrund gescheiterter Durch-
Überhaupt
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149
i™
151
Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 2, S. 364, 29. März 1918. Ebd.,S. 372,5. April 1918. Kühl, Weltkrieg (wie Anm. 1 ), Bd 2, S. 341. Wolfgang Venohr, Ludendorff. Legende und Wirklichkeit, Berlin, Frankfurt a.M. 1993,
S. 295 ff. fehr, Märzoffensive (wie Anm. 75), S. 47. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 90 f.
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bruchsversuche an der Westfront plausibel, enthielt aber einen entscheidenden Denkfehler, der ironischerweise auf der Vernachlässigung eines bestimmten taktischen Problems beruhte, nämlich der Beweglichkeit der Massenheere dieses Krieges. Solche Heere bestanden nicht nur aus rüstigen Fußgängern, sondern bedurften für ihre Kampffähigkeit eines riesigen Apparates von Geschützen und Munition, einem wahren Mengenverbrauchsgut, und der dazugehörigen logistischen Organisation. Einmal aufmarschiert, ließ sich ihre Bewegungsrichtung kaum verändern. Die Stelle des Durchbruchs entschied also über den Verlauf der Operation. Ludendorff unterstützte diese Tendenz dadurch, daß er seine operativen Reserven ganz im Sinn der taktischen Weisungen, die er vor der Schlacht herausgegeben hatte, nicht in der angestrebten operativen Richtung einsetzte, sondern an die Stellen dirigierte, an denen es vorwärts ging. Das war im Süden der Angriffsfront. Weil aber der Gegner aus naheüegenden Gründen »die Stelle seiner strategischen Verwundbarkeit in der Regel am stärksten verteidigt, fallen taktische Opportunität und strategisches Ziel nicht ohne weiteres zusammen«. Um nicht taktisch zu scheitern, riskierte Ludendorff, »bei Vorwiegen taktischer Rücksichten das übergeordnete strategische Ziel zu verlieren«152. Der bayerische Kronprinz hatte in seinem Tagebuch wenige Tage, bevor die Entscheidung zugunsten von »Michael« fiel, für »Mars« plädiert, die Offensive bei Arras, »den schwierigsten, aber im Falle seines Gelingens auch wirksamsten Angriff«153. Daß aber ein solcher Angriff sein Ziel erreicht hätte, darf man bezweifeln. Die 17. Armee, deren Angriffsstreifen diesem sensiblen Punkt am nächsten kam, machte während der Offensive die geringsten Fortschritte. Das lag nicht nur daran, daß sie schwächer war als die beiden anderen Armeen und »Michael« nicht weit genug nach Norden reichte: Die engüsche Führung erkannte eben die Gefahr und leitete ihre Reserven bevorzugt an diese Stelle. Imirnerhin waren die Anfangserfolge der deutschen Offensive so beeindruckend, daß Marschall Haig ernsthaft erwog, Frieden zu schließen154. Die exzentrische Führung der Angriffsschlacht war zweifellos ein Verstoß gegen operative Regeln. Ironischer Weise bewükte aber gerade dieser Kunstfehler die rasche Zuspitzung der Krise auf alliierter Seite. Denn die Aufnahme der zweiten, in der ursprünglichen Operationsidee nicht enthaltenen Offensive gegen die französische Armee veranlaßte deren Führer am 24. März, ihre Anstrengungen vor allem auf den Zusammenhalt der eigenen Streitkräfte zu konzentrieren. Die Aufrechterhaltung der Verbindung mit der englischen Armee ordnete Pétain diesem Ziel unter. Am nächsten Tag kündigte Haig an, kämpfend auf die Kanalhäfen zurückgehen zu wollen. Nun drohte die Trennung der allüerten Armeen, womit man »einer sicheren Niederlage entgegen« ging155. Diese Gefahr führte am 26. März zur Einrichtung eines 152 153 154 155
gemeinsamen Oberbefehls, was entscheidend dazu beitrug, die Maßnah-
Meier-Dörnberg, Frühjahrsoffensive (wie Anm. 81), S. 73. Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 3, S. 252,18. Januar 1918.
Travers, War (wie Anm. 135), S. 68. Ferdinand Foch, Meine Kriegserinnerungen 1914-1918, Leipzig 1931, S. 264.
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men der Verbündeten zur Eindämmung der deutschen Offensive erfolgreich zusammenzufassen. Der Auffassung, daß die Märzoffensive mit der Einnahme der Stadt Amiens die feindlichen Heere getrennt und ein kriegsentscheidendes operatives Ziel erreicht hätte156, können wir uns nicht anschließen. Zum einen ist diese Stadt ja nicht gefallen, und die deutsche Offensive kam nicht erst an ihren Grenzen zum Stehen, wie Wright behauptete157, sondern fast zwanzig Kilometer davon entfernt. Vor dem deutschen Vorstoß aufAmiens verfügte Foch immer noch über eine operative Reserve von 20 Divisionen158. Eine solche Kräftemasse war gewiß ausreichend, um Ludendorffs schlecht vorbereiteten Angriff aufzuhalten. Und davon abgesehen gab es unterhalb dieses in der Tat wichtigen Verkehrsknotenpunktes noch fünf weitere Eisenbahnund Straßenverbindungen über die Somme und dazu den sicheren Seeweg159. Die Entente hatte mit der Abwehr des deutschen Angriffs einen wichtigen strategischen Erfolg erzielt, aber gleichzeitig eine schwere taktische Niederlage erlitten. Die konventionellen Erklärungen für das Unvermögen der englischen Armee, den deutschen Angriff in ihrem Stellungssystem aufzufangen, beziehen sich auf die zahlenmäßige Überlegenheit der Deutschen, personeile Unterbesetzung der britischen Einheiten, Abgaben von Truppen nach Italien und die Verlängerung der britischen Front nach Süden im Januar 1918. Travers meint dagegen, daß die Unfähigkeit der englischen Führung, das deutsche Dreizonenmodell zu begreifen und entsprechend zu handeln, die wichtigste Rolle gespielt habe160. Auch wandten die beiden angegriffenen Armeen die neuen Grundsätze nicht einheitlich an. Die 3. Armee besetzte die »Forward zone« wie es den neuen Regeln entsprach nur schwach, während die 5. Armee unter General Gough sie stark belegte, entschlossen, in ihr hartnäckigen Widerstand zu leisten161. Das kam der deutschen Angriffstaktik natürlich entgegen und trug sicher dazu bei, daß die 18. deutsche Armee, die der 5. britischen gegenüber lag, größere Erfolge erzielte als die 17., die es mit der 3. englischen Armee zu tun hatte. Die 5. Armee verlor schon in den ersten Stunden der deutschen Offensive einen großen Teil der vorn eingesetzten Infanterie und ihrer Maschinengewehre, deren Fehlen sich in den nächsten Tagen empfindlich fühlbar machte162. So sahen es jedenfalls die Briten, 156
157
is« 159 160
,6' 162
Vgl. u.a. Kühl, Weltkrieg (wie Anm. 1), Bd 2, S. 335. Wright hatte geschrieben, die Deutschen seien nur noch 900 bis 1000 Meter von der Stadt entfernt gewesen, als Foch »das Gewicht seines unbeugsamen Willens in die Wagschale warf« und so sein Land rettete, als »das Schicksal der Welt in der Schwebe« hing. Wright,
Wie es wirklich war (wie Anm. 6), S. 102. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 247. Groener, Lebenserinnerungen (wie Anm. 16), S. 431. Travers, War (wie Anm. 135), S. 56 und 65; es leuchtet ein, daß eine Armee mit einer so stark ausgeprägten hierarchischen Struktur wie die englische bei der Anwendung eines beweglichen Kampfverfahrens Schwierigkeiten haben mußte, ebd., S. 57 f. Allerdings hat auch die deutsche Armee im Frühjahr 1917, als sie erstmals eine Verteidigungsschlacht nach flexiblen Grundsätzen zu führen versuchte, eine ernste Niederlage erlitten und die wichtigen Vimyhöhen verloren. Ebd., S. 63. Ebd., S. 63 f.; Middlebrook, Kaiserschlacht (wie Anm. 103), S. 133.
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während die deutsche Infanterie bei ihrem Gegenüber keinen Mangel an Maschinengewehren bemerkte. Ludendorffs mit konventionellen Mitteln nach neuen Grundsätzen geführter Angriff errang taktische Erfolge, die man unter den Kampfbedingungen der Westfront bisher nicht erzielt hatte. Schon das erste große Experiment, der Artillerieschlag ohne vorhergehendes Einschießen, war geglückt. Eine nachträgliche Besichtigung des Zielfeldes ergab, daß die Lage des Feuers »mit verschwindenden Ausnahmen eine vollkommen genaue«163 war. Unter seiner Wucht brach das britische Kommunikationssystem sofort zusammen164, so daß die Verbindung zwischen Infanterie und Artillerie abriß. Die materielle Zerstörung der Verteidigungsanlagen hielt sich allerdings in Grenzen: »Fast alle Unterstandsgruppen waren wenig oder gar nicht beschädigt, die Hindernisse gut erhalten165.« Bedenkt daß allein die man, Ausdehnung der Verteidigungsanlagen etwa 390 km2 maß, daß die begreift man, Wirkung des Vorbereitungsfeuers trotz der enormen Geschützzahl begrenzt blieb166. Die Verbindung zwischen Feuerwalze und Infanterie riß meistens ab, so daß diese zur der gegnerischen Widerstandsnester auf ihre eigenen Mittel angewiesen blieb. Der Erfahrungsbericht der 5. bayer. Infanteriedivision betont wie viele andere die geschickte Verteidigung der englischen Infanterie »in kleinen, im Gelände fast voellig verschwindenden, unzusammenhängenden Schuetzen- und M.G.-Nestern mit guter Beobwandte die deutsche Infanterie keineswegs achtung«167. Bei ihrer immer die moderne »Infiltrationstaktik« an168, sondern kämpfte oft in dichten Haufen, was seine Ursache vor allem in den bereits angesprochenen Ausbildungsmängeln haben dürfte. Ludendorff bzw. seine Zuträger beobachteten den taktischen Verlauf der Kämpfe genau. Ende März ordnete er an, daß »unbedingt damit aufgeräumt werden [müsse], mit Masseneinsatz den Erfolg erzwingen zu wollen. Das führt nur zu unnützen Verlusten169.« Verteidigte Stützpunkte sollte die Infanterie unter Ausnutzung des Feuerschutzes schwerer Waffen angreifen170. Das Interesse des Ersten Generalquartiermeisters für das Kampfverfahren trieb manchmal bizarre Blüten. So erkundigte er sich am späten Abend des 29. März fern-
Überwindung
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Erfahrungsbericht des bayer. Artilleriekommandeurs Nr. 1 vom 28.4.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, 1. bayer. Infanteriedivision, Bund 31, Akt 1. Travers, War (wie Anm. 135), S. 54.
Erfahrungsbericht der 1. bayer. Inf.Brig. vom 28.4.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, 1. bayer. Infanteriedivision, Bund 31, Akt 1.
Middlebrook, Kaiserschlacht (wie Anm. 103), S. 100; das »Michael«-Heer begann die Offensive mit 6608 Geschützen und 3534 Minenwerfern, Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 104. Erfahrungen vom 21.-29.3., 5.4.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, 5. bayer. Infanteriedivision, Bund 62, Akt 2. Travers, War (wie Anm. 135), S. 86-89. Erlaß Chef des Generalstabes des Feldheeres vom 30.3.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, Bund 91, Akt 50, Schlachterfahrungen 1918 Offensivkämpfe, Bund 1. Oberste Heeresleitung, Erfahrungen aus den Angriffkämpfen, 1.4.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv. 5. bayer. Infanteriedivision, Bund 62, Akt 2.
Aber
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mündlich beim Chef des Stabes der 17. Armee, ob dieser auch alle Minenwerfer weit vorne eingesetzt habe. Dieser bejahte; nur die schweren Minenwerfer habe man aufgrund ihrer geringen Reichweite und des enormen Gewichts ihrer Munition [100 kg pro Wurfmine!, d.Verf.] zurückgehalten. Ludendorff bestand nun darauf, daß auch diese vorgeschafft würden und erteilte dem Mann, einem General, zu dessen großem Verdruß »noch eine mehr als viertelstündige Belehrung über die Verwendung der Minenwerfer«171! Eine qualitative Neuerung der »Michaels«-Schlacht war das massive Eingreifen von Flugzeugen in die Bodenkämpfe. Deutscherseits hatte man sich darauf vorbereitet, indem man die bisher dem Schutz der Artillerieflieger dienenden »Schutzstaffeln« in »Schlachtstaffeln« umwandelte172, die den britischen Batterien und besonders ihren Pferden empfindlich zusetzten173. Doch litten die deutschen Bodentruppen zweifellos mehr unter Luftangriffen als die alliierten. Mit der anfänglichen deutschen Luftüberlegenheit war es nach dem Eintreffen englischer und französischer Verstärkungen schon am 24. März vorbei174. Feindliche Fliegertätigkeit verursachte bei der 2. Armee die Hälfte der ohnehin hohen Verluste175. Truppenkonzentrationen auf Straßen, die sich beim Vormarsch nicht vermeiden ließen, erwiesen sich schon in diesem Krieg als besonders verletzbar176. Die Fliegerabwehr leistete wenig177. Die besondere Schwäche der deutschen Armee, ihre mangelnde Beweglichkeit, machte sich gravierend bemerkbar. Der Transport der Artillerie über das verwüstete Kampfgelände stieß von Anfang an auf große Schwierigkeiten, die durch die Schwäche der mageren Pferde noch vergrößert wurden. Die oft eisenbereiften LKWs kamen aber noch schlechter vorwärts178. Als es dann im Süden der Angriffsfront voran ging, konzentrierte man dort die knappen Transportmittel. Wenige Tage später konnte auch das IX. Reservekorps im Norden seine Batterien einige Kilometer vorschieben, doch fehlten jetzt hier die Kolonnen, um diesen die Munition nachzuführen179. Die 2. Armee mußte am 28. März den Angriff aus Munitionsmangel unterbrechen180. Die Probleme verschärften sich, als gegen Ende der Offensive starker Regen einsetzte. Wege verschwanden fast im Schlamm, »so daß selbst acht Pferde ein Feldgeschütz nicht mehr vorwärts«181 brachten. Ein deutsches Feldgeschütz verfügte aber bestenfalls über sechs Gäule. Viele Kanonen 171 172 173 174
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Krafft, Tagebuch vom 29.3.1918 (wie Anm. 53). Kühl Weltkrieg (wie Anm. 1), Bd 2, S. 316. Travers, War (wie Anm. 135), S. 84. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 196 f. Ebd., S. 221.
Heeresleitung, Erfahrungen aus den Angriffkämpfen, 1.4.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, 5. bayer. Infanteriedivision, Bund 62, Akt 2. Oberste Heeresleitung, Erfahrungen aus den Angriffskämpfen, 21.-29.3. und 5.4.1918, ebd. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 165. Thaer, Generalstabsdienst (wie Anm. 33), S. 172. Krafft, Tagebuch vom 28.3.1918 (wie Anm. 53). Ebd., 5.4.1918. Oberste
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noch mit vier Pferden bespannt182. Es ist schwer vorstellbar, wie eine solchermaßen sich dahinschleppende Armee eine dynamische Offensivoperation zu einem erfolgreichen Ende bringen sollte. Auf »Michael« folgte ein Angriff in Flandern, der am 9. April, also vier Tage nach der endgültigen Einstellung der ersten Offensive, begann. Diese Operation hatte eine lange Vorgeschichte und geht auf Projekte mit dem Decknamen »Georg« zurück, welche die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht bereits Ende 1917 der OHL unterbreitet hatte. Im Januar entschied sich Ludendorff gegen »Georg« für »Michael«, ordnete aber wie schon erwähnt am 10. Februar an, den Flandernangriff für den Fall weiter vorzubereiten, daß »Michael« sich festlaufe183. Während dieser Offensive erwog die OHL einen gegen die in Flandern eingesetzten Portugiesen gerichteten, stark verkleinerten »Georg«, »Georgette« genannt184. Dieser Stoß sollte helfen, die englische Front zum Einsturz zu bringen, wenn »Michael« durchdrang. Dessen Erfolg blieb aus, so daß man »Georgette« im ursprünglichen Sinne wieder vergrößerte. Die Flandernoffensive sollte jetzt jene entscheidende Wirkung gegen die Engländer haben, die »Michael« nicht erzielt hatte. Ihre offizielle deutsche Bezeichnung lautet »Schlacht von Armentieres«. Oft aber wird sie ihrer Genese entsprechend kurz »Georg« genannt, im deutschen Generalstabswerk allerdings »Georgette«. Schon die Zeitgenossen waren verwirrt: Krafft nennt die Offensive am 8. April »Georg« und vermerkt dazu ausdrücklich, daß »Georgette« nicht mehr stimme185. Wie man sich erinnern wird, wollte Ludendorff die große Frühjahrsoffensive ursprünglich deshalb nicht In Flandern führen, weil die Lysniederung, die der Angriff überqueren mußte, bei Nässe schwer passierbar war. Diese Befürchtungen erfüllten sich, zumal es in den Tagen vor der Offensive kräftig geregnet hatte. Trotzdem konnte die deutsche Infanterie am ersten Tag acht Kilometer weit vordringen und einen großen Teil der britischen Artillerie erobern. Doch das Nachführen der eigenen Batterien, unbedingt nötig, um den Angriff in Fluß zu halten, mißlang: »Das Einzige, was über diese Schwierigkeiten vielleicht hätte hinweghelfen können, gut genährte und leistungsfähige Pferde in ausreichender Zahl für Artillerie und Fahrzeuge, hatte nicht gegeben werden können186.« Die OHL stellte die Großoffensive am 20. April ein. Allerdings kam es noch zu Angriffen mit dem beschränkten Ziel, die erreichte Linie zu sichern. Sie führten am 25. April zur Erstürmung des Kemmelberges. Der Geländegewinn blieb zwar hinter dem der »Michael«-Offensive zurück, war aber nichtsdestoweniger waren nur
182
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185 186
Als die Feldartillerie in den letzten Nächten vor der Schlacht in ihre Feuerstellungen rückte, folgten einander »immer vier Pferde, eine Protze und ein ratterndes Geschütz«. Hans Zöberlein, Der Glaube an Deutschland. Ein Kriegserleben von Verdun bis zum Umsturz, 36. Aufl., München 1943, S. 472. Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 2, S. 327.
Ebd.,Bd3,S.311. Krafft, Tagebuch vom 8.4.1918 (wie Anm. 53). Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 299.
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spektakulär, denn die englische Armee mußte das Gebiet, das sie in der Flandernschlacht des Vorjahres unter ungeheuren Opfern erobert hatte, räumen. Die Eindämmung der deutschen Offensive gelang nur, weil Foch neun französische Infanteriedivisionen und drei Kavalleriedivisionen nach Flandern schickte187. Der Angriff hatte also eine ernste Krise der Alliierten ausgelöst, aber den operativen Durchbruch abermals nicht erreicht188. Immerhin waren die Ententeheere stark erschöpft, vor allem das englische, das die Hauptlast bei der Abwehr der deutschen Offensive zu tragen hatte. Jetzt hätte ein mit frischen Kräften unternommener deutscher Angriff gute Aussichten gehabt, die Westfront auch an einer operativ aussichtsreichen Stelle zu durchbrechen. Solche Kräfte standen aber nicht mehr zur Verfügung, nicht jetzt und auch nicht mehr später. »Michael« und »Georg« bzw. »Georgette« bilden eine zusammenhängende Kampfhandlung. Beide Angriffsprojekte waren aus den Planungen hervorgegangen, welche die deutsche Militärführung seit dem November 1917 für eine kriegsentscheidende große Westoffensive angestellt hatte. Dabei standen sich idealtypisch der kombinierte Angriff nach dem Vorschlag Wetzells und eine große, zeitlich und räumlich einheitliche Offensive, auf die alle verfügbaren Mittel konzentriert werden mußten, gegenüber. Der tatsächliche Verlauf der Angriffe folgte keinem der beiden Muster ganz, näherte sich aber beiden an. Das Ziel blieb unerreicht. Die alliierte Front dehnte sich wie ein Gummiband, riß aber nicht durch. Der Stellungsverlauf hatte sich verschlechtert. Zur Besetzung und Verteidigung der verlängerten Linie brauchte Deutschland mehr seiner dahinschwindenden Truppen als zuvor. Die Angriffskämpfe im März und April hatten das deutsche Heer 316 000 Soldaten gekostet189. Die Angaben über die Gesamtverluste in beiden Monaten schwanken zwischen 424 000 und 475 000190. Im April hatte die Armee den höchsten Monatsausfall seit Kriegsbeginn erlitten191. Die Ersatzlage der deutschen Armee, ohnehin chronisch schlecht, spitzte sich jetzt akut zu192. Die Divisionen der 17. Armee verzeichneten Mitte April auch nach ihrer Auffüllung noch Fehlstellen von 1000 bis 2000 Soldaten193. Der kurzfristige Ersatz der ausgefallenen Führer war unmöglich, aber von Ausbildung und Kampfwillen der Kader hing die Leistungsfähigkeit der Truppe ganz wesentüch ab. Krafft schloß daraus, daß fortan »die Schwungkraft der Truppe wieder etwas geringer eingeschätzt werden« müsse194. In diesen Verhältnissen lag in der Tat »eine ernste Mahnung für die mit der 187
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191 192 193 194
Kühl, Weltkrieg (wie Anm. 1), Bd 2, S. 348 f. Krafft, Durchbruch (wie Anm. 28), S. 232-237. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 254, 300.
Die niedrigere Zahl geht auf die Verlustmeldungen der Truppen zurück, die höhere auf den Sanitätsbericht des deutschen Heeres. Siehe Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), Beilage 4; dort auch Diskussion der Zahlendifferenz. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 516. Kühl, Weltkrieg, (wie Anm. 1), Bd 2, S. 350. Krafft, Tagebuch vom 13.4.1918 (wie Anm. 53). Ebd., Tagebuch vom 4.4.1918.
so
Dieter Storz
Verantwortung für die weiteren Operationen belastete Heeresleitung«195. Aus einer Zuschrift der OHL hob der bayerische Kronprinz besonders den Satz her-
nicht mehr ertragen können«. Das war auch seiAnsicht: [...] wird dies aber zugegeben, folgert sich daraus, daß wir den Krieg militärisch nicht gewinnen können, denn ohne erneute schwere Verluste ist ein vor, »daß wir schwere Verluste ne
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entscheidender Sieg nicht zu erringen. Es muß also an Friedensverhandlungen gedacht werden196.« Ludendorff war allerdings nicht der einzige in der deutschen Armee, der diesen Schluß nicht zog. Auch die englische und französische Armee mußten bei »Michael« und »Georgette« schwere Opfer bringen. Sie verloren 322 000 Mann, davon 280 000 Engländer197. Ludendorff überschätzte die englischen Verluste deutlich. Deren Gesamtausfall (also nicht nur in den beiden Offensiven) betrug in den Monaten März und April 315 000 Soldaten, während die OHL im Mai annahm, die Briten hätten mehr als 500 000 Mann verloren198. Der General konnte aus der der tatsächlich beträchtlichen Schwächung des britischen Heeres eine Rechtfertigung zur Fortführung seiner Offensiven ableiten. Ironischerweise hat eine innerenglische Kontroverse, von der er nichts wissen konnte, mitgeholfen, Ludendorffs Urteil in die Irre zu führen. Das Mißtrauen des englischen Premierministers gegen die verlustreiche Offensivpolitik Haigs trug nämlich dazu bei, daß Personalersatz auf der Insel zurückgehalten wurde, den die B.E.F. zur Auffüllung ihrer Verbände benötigt hätte199. Im Winter mußte man deshalb die Infanteriedivisionen in Frankreich um drei auf neun Bataillone verkleinern. Daraus zog nun Ludendorff den Schluß, daß Großbritannien am Ende seiner personellen Möglichkeiten angekommen sei: »Wenn Ersatz vorhanden gewesen wäre, so wäre er schon in Frankreich gewesen, denn der Engländer hat mit Sicherheit unseren Angriff erwartet200.« Nicht nur die Zahl der Soldaten sank, auch der Kampfwille der Truppen ließ auf deutscher Seite nach201. Die ersten Anzeichen dafür gab es schon zu Beginn
Überschätzung
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Kühl, Weltkrieg (wie Anm. 1 ), Bd 2, S. 351. Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 2, S. 398,17. Mai 1918. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 254 und 300. Ebd., S. 315; Ludendorff war nicht der erste General in diesem Krieg, der sich verrechnete.
Erich v. Falkenhayn und Haig rechtfertigten mit unzutreffenden Annahmen über das Verlustverhältnis ihre Operationen vor Verdun bzw. an der Somme und in Flandern. History of the Great War (wie Anm. 124), S. 49 ff. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 315. Zur nachlassenden Motivation der deutschen Soldaten siehe grundlegend: Wilhelm Deist, Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der »Dolchstoßlegende«, in: Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, hrsg. von Ursula Büttner, Bd 1: Ideologie, Herrschaftssystem, Wirkung in Europa, Hamburg 1986 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd 21), S. 101-129; Wilhelm Deist, Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918?, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, hrsg. von Wolfram Wette, München, Zürich 1992, S. 146-167; Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit. Quellen und Dokumente, hrsg. von Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1995; Gerhard P. Groß, 1918 ein deutsches Schicksalsjahr, Teil 1 und 2, in: Truppenpraxis, 42 (1998), Nr. 4 und Nr. 11, S. 271-278 und 758-765, hier S. 760-762; Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und
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der Märzoffensive: Krafft empfing vom Angriff einen »lauerigen Eindruck. In Italien haben unsere Truppen ganz anders angegriffen. Unsere Infanterie ficht, das ist nicht zu leugnen, schon sehr matt. Wo die Artillerie ihr den Gegner nicht glatt
wegschießt, geht sie nicht vor.« Viel früher als erwartet zeige sich, »daß das innere Gefüge unserer Truppen für diese schwerste aller Aufgaben, den strategischen
Durchbruch durch einen an Kräften und Reserven uns kaum merklich nachstehenden Feind, nicht mehr fest genug ist«202. Dies mag auch zum raschen Zusammenbruch des »Mars«-Unternehmens beigetragen haben. Der Kommandierende General des I. bayer. Reservekorps, General Karl Ritter v. Fasbender, der mit großem Optimismus in die Schlacht gegangen war, schilderte dem Chef des Stabes seiner Armee, »daß ihn seine Divisionen trotz allen Antreibens im Stiche gelassen haben«203. Wenige Tage später scheiterte ein Angriff des XXXIV. Reservekorps, was sich nach Kraffts Meinung voraussehen ließ: »Die Leute hatten sich wahrscheinlich vorgenommen, aus den Gräben nicht herauszugehen. Eine solche Erscheinung ist, das haben wir bei Ypern 1914 eindringlich erfahren, das sicherste Zeichen, daß die Truppe überfordert ist.« Ein so »niederschmetternd geringes Ergebnis« des Einsatzes dreier frischer Divisionen erklärte er sich zwar auch aus den Bewegungsschwierigkeiten im durch Regen völlig aufgeweichten Gelände, zog aber auch in Erwägung, daß die Truppen »schon so weit verbraucht« seien, »daß auch die guten Divisionen nichts mehr leisten«204. Natürlich gab es auch noch Infanterie, die befehlsgemäß angriff, wie beispielsweise die Kompanie von Hans Zöberlein bei dem letzten erfolglosen Vorstoß auf Amiens, und zwar trotz einer viel zu geringen Artillerievorbereitung, wie sie für diesen Angriff im Schlamm typisch war: »Ganze vier Feldhasen o weh205!« Punkt 7 Uhr verließ man die Gräben, in ein »Hagelwetter von Blei« hinein, mit entsprechenden Folgen: »Da draußen liegen zwei Drittel der Kompanie im ersten Ansprung zusammenkartätscht. In einer Minute206.« Kein Wunder, daß Krafft die Truppe damals »in einem solchen Zustand« fand, »daß sie an keiner Stelle viel leisten wird«207. Geschonte Truppen jedenfalls waren in der Mitte des April »überhaupt nicht mehr« vorhanden. Die Enttäuschung darüber, daß »Michael« dem Krieg kein Ende gemacht hatte, war groß. Darin sah der Chef des Stabes des IX. Reservekorps den »Hauptgrund, warum auch artilleristisch gut vorbereitete Angriffe sich totlaufen, sobald —
Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918, Göttingen 1998 (= Kritische Studien Geschichtswissenschaft, Bd 123). Vgl. die Beiträge von Benjamin Ziemann, Enttäuschte Erwartung und kollektive Erschöpfung. Die deutschen Soldaten an der Westfront 1918 auf dem Weg zur Revolution und Christoph Jahr, Bei einer geschlagenen Armee ist der Klügste, wer zuerst davonläuft. Das Problem der Desertion in den deutschen und britischen Armeen 1918, in diesem Band. Krafft, Tagebuch vom 23.3.1918 (wie Anm. 53). Ebd., Tagebuch vom 28.3.1918. Ebd., Tagebuch vom 5.4.1918. Zöberlein, Glaube (wie Anm. 182), S. 496; »Feldhasen« ist ein Ausdruck der Soldatensprache für Feldkanonen. Ebd., S. 497. Krafft, Tagebuch vom 5.4.1918 (wie Anm. 53). zur
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Infanterie über die stark vertrommelte Zone hinauskommt208.« Nach »Michael«/«Georg« standen die Truppen »durchweg [...] unter der Depression einer sehr großen Enttäuschung«209. Die deutsche Armee hatte für die Märzkämpfe alle Mittel aufgeboten, die ihr noch zur Verfügung standen. An »Michael« nahmen insgesamt 90 Divisionen teil, an »Georg« 55, davon elf, die schon die erste Offensive mitgemacht hatten. Das war mehr als die Hälfte des Heeres, das im Frühjahr 1918 insgesamt 239 Divisionen zählte210. Daraus, daß nur 70 Divisionen als »Mob.« Divisionen leidlich mit Pferden ausgestattet worden waren, folgt, daß auch zahlreiche kaum bewegliche Stellungsdivisionen an den Offensiven teünehmen mußten. Das Ergebnis der bisherigen Kämpfe war aus deutscher Sicht enttäuschend. Darüber konnten taktische Erfolge nicht hinweghelfen, denn die strategische Situation, die zum Offensiventschluß geführt hatte, bestand unverändert fort: Die Notwendigkeit, vor dem Eintreffen der Amerikaner etwas zu unternehmen, was den Krieg beendete. Das »Zeitfenster« aber »schloß sich unerbittlich211.« Eine kritische Überprüfung der Offensivpolitik fand nicht statt. Man verharrte auf dem eingeschlagenen Kurs. Vorläufig kamen »die Leute des Verzichtfriedens und die Kreise, die unsere Heeresleitung und Armee unterwühlen«, nicht zum Zuge, wie Krafft dies für den Fall des Scheiterns von »Georg« befürchtet hatte212. Für ihn persönlich ergab sich eine bedeutende Veränderung dadurch, daß er den Stab der 17. Armee verließ und als Kommandierender General zum III. bayer. Armeekorps wechselte. In der neuen Dienststellung erwog er Anfang Mai für den Fall, daß sich die deutsche Armee nicht mehr stark genug fühle, den Sieg zu erringen, die Preisgabe von Gelände und den Übergang in die Defensive, um »wenigstens eine große Niederlage zu vermeiden«. Das allerdings war für ihn ein »furchtbarer Entschluß«, mit dem man »schon vor dem Schicksal kapituliert« habe213. Kühl hat nach dem Krieg vor dem Untersuchungsausschuß des Reichstages das Verharren in der Offensive ganz ähnlich gerechtfertigt: Gewiß bestanden »mannigfache Bedenken« gegen diesen Weg, doch galt es, »sie mit frischem Mut zu überwinden, nicht das Gesetz vom Gegner zu nehmen«214. In seinem Weltkriegsbuch hat er dies fast wörtlich wiederholt215. Auch sonst hat er im Zusammenhang mit den Offensiven des Jahres 1918 immer wieder die Willensstärke der OHL zur Motivierung ihrer Entscheidungen herangezogen216. Damit verweist er aber nicht auf eine Eigentümlichkeit der Ludendorffschen Persönlichkeit, sondern auf ein konstitutives Merkmal in unsere
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Thaer, Generalstabsdienst (wie Anm. 33), S. 182, Tagebuch (wohl 18.4.1918). Ebd., S. 188, Tagebuch vom 26./27.4.1918. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 26; die Kavalleriedivisionen sind in dieser Zahl nicht enthalten.
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2.2 2.3 214
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Vgl. Groß, 1918 (wie Anm. 201). Krafft, Tagebuch vom 13.4.1918 (wie Anm. 53).
Ebd., 4.5.1918. Kühl, Entstehung (wie Anm. 39), S. 165. Kühl, Weltkrieg (wie Anm. 1), Bd 2, S. 352. Vgl. u.a. ebd., Bd 2, S. 332 und 340, oder Kühl, Entstehung (wie Anm. 39), S. 182 f.
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der Mentalität der militärischen Eliten der Epoche217. Diesen fehlte keineswegs das Verständnis für die Bedeutung der größeren Zahl, überhaupt des ziffernmäßig Berechenbaren im Krieg, doch sahen sie den letzten, wichtigsten Grund des Sieges im Willen der Kämpfenden. Zu den besonders entschiedenen, auch publizistisch aktiven Vertretern dieser Lehre gehörte schon vor 1914 Ludendorffs Gegenspieler Ferdinand Foch, damals Leiter der französischen Kriegsakademie. 1903 schrieb er: »Victoire égale donc volonté218.« Der Wille erschloß eine Kraftquelle, die den zahlenmäßig Schwächeren hoffen ließ, den Vorsprung des Stärkeren einzuholen. Der Glaube an die bergeversetzende Kraft des Willens, taktisch eigentlich neutral, begründete schon in der Vorkriegszeit eine Vorliebe für das offensive Kampfverfahren. In der Lage, in der sich Ludendorff im Frühjahr 1918 befand, half er, Zweifel an der Erfolgsmöglichkeit der Offensiven zu unterdrücken. Die praktische Arbeit der OHL konzentrierte sich auf die Vorbereitung neuer
Angriffe. Dazu gehörte auch eine Revision des Kampfverfahrens. Die schweren Verluste gaben der Militärführung doch zu denken, denn sie stellten die Fortführung des Krieges in Frage. Wegen »der Befürchtung eines allzu großen Verbrauches an Menschenmaterial« erwog die OHL vorübergehend sogar, den Angriff künftig nicht mehr nach der neuen Façon als Stoß in die Tiefe zu führen, sondern
in konventioneller Art nur noch bis zu bestimmten, vorher festgelegten Linien mit anschließendem neuen Artülerieaufmarsch219: »Menschen sind knapp. Munition ist da220.« Ludendorff drang auf hchte Gefechtsformen der Infanterie, die nicht durch Masseneinsatz, sondern durch Zusammenwirken der Waffen den Erfolg anstreben sollte. Er wiederholte, Reserven seien »da einzusetzen, wo der Feind nachgibt, nicht da wo er hält«. Eine moderne Angriffswaffe wie Tanks besaß die deutsche Armee nicht oder nur in homöopathischer Menge. Die Verdoppelung der Begleitartillerie, wie Ludendorff sie anordnete, konnte nur einen ganz unvollkommenen Ausgleich schaffen221. Die Bekämpfung der Maschinengewehre bezeichnete er als »eine der wichtigsten Aufgaben der Ausbildung. Daß wir hierin noch lernen müssen, ist die Hauptlehre der ersten Angriffskämpfe222.« Daß das schnelle Niederkämpfen der Maschinengewehre, die das Artilleriefeuer überlebt 217
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222
Dieter Storz, Kriegsbild und Rüstung vor 1914. Europäische Landstreitkräfte vor dem Ersten Weltkrieg, Herford, Berlin, Bonn 1992 (= Militärwissenschaft und Wehrwissenschaften, Bd 1), S. 79 ff. Ferdinad Foch, Des principes de la guerre, Paris, Nancy 1903, S. 268. Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 3, S. 320 f., 7. und 8. Mai 1918. Ebd., Bd 2, S. 398,15. Mai 1918, Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 321. Ein besonderer Nachteil dieses Hilfsmittels, der sich in der Lage der deutschen Armee besonders fühlbar machte, war der hohe Pferdeverbrauch, der mit dem offensiven Auftreten der Feldgeschütze verbunden war, Bericht von Hauptmann Kurt v. Schleicher, Verbindungsoffizier beim Generalkommando XII bzw. I, Teilnehmer an der Offensive vom 15.5.1918, 22.7.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, Bund 91, Akt 51, Schlachterfahrungen 1918, Bund 2. Chef des Generalstabes des Feldheeres: Angriffserfahrungen, 17.4.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Generalkommando I. bayer. Reservekorps, Bund 12, Akt 4.
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hatten, »ein schwieriges und noch nicht völlig gelöstes taktisches Problem« sei,
meinte man auch beim AOK IT223: Nach vier Jahren eines Krieges, dessen menschenfressende Stagnation ganz wesentlich mit diesem Problem zusammenhing, entbehrt diese Formulierung nicht eines gewissen tragikomischen Beiklanges. Die Pläne für die Fortführung der Offensive hielten sich im Rahmen der seit dem November des Vorjahres angestellten Ludendorff suchte weiter die Entscheidung gegen die englische Armee. Verschiedene Angriffsprojekte wurden erwogen. Man entschloß sich zu einer Erneuerung des Flandernangriffs, der zunächst den wenig einfallsreichen Decknamen »Neu-Georg« trug und aus Gründen der Geheimhaltung am 13. Mai in »Hagen« umgetauft wurde224. Doch konnte man nicht ohne weiteres zur Tat schreiten. Unter dem Druck der deutschen Offensive hatten sich die Alliierten in Handern nämlich so verstärkt, daß ein erneuter Angriff zunächst wenig Aussicht auf Erfolg besaß. Dort befanden sich jetzt auch starke französische Truppen. Eine Offensive am Chemin des Dames (»Blücher« und »Goerz«) sollte die Franzosen veranlassen, ihre Divisionen aus dem Norden abzuziehen, so daß die deutsche Armee dort freie Bahn für »Hagen« hätte. »Hagen« allerdings werde, so schrieb Wetzell, »mit Rücksicht auf unsere Ersatzlage bis in den Herbst hinein der letzte entscheidende Schlag sein, den wir führen können«225. Krafft begleitete auch in seiner neuen Stellung als Kommandierender General die Entscheidungen der höheren Führung in seinem Tagebuch mit kritischen und ausführlichen Erörterungen. Als er von dem geplanten Angriff am Chemin des Dames erfuhr, schloß er sofort auf den Einfluß Wetzells und tadelte das, wie nicht anders zu erwarten, scharf: »Solche Angriffe können nur den Charakter einer Demonstration, einer Vorbereitung haben. Wie oft wollen wir noch vorbereiten und demonstrieren? Sind denn unsere Kräfte unbeschränkt? nun, nachdem schon zwei große Schläge fehlgegangen sind! Einmal muß der große Entscheidungsschlag doch folgen, und wenn wir uns vorher verausgaben, fürchte ich, daß wir für ihn nichts an Kräften mehr übrig haben werden226!« Krafft wollte möglichst schnell einen neuen entscheidungssuchenden Großangriff im Stil des »Michael« führen, der alles zusammenfaßte, was noch da war. Für eine Strategie der verteilten Schläge nach Wetzells Muster fehlten seiner Meinung nach die Kräfte. Mit dem Hinweis auf den Truppenmangel hatte aber auch Wetzell vor einer Erneuerung eines großzügigen Angriffs in der Art der Märzoffensive abgeraten227. Darüber, was beim Scheitern der jeweiligen Angriffspläne geschehen sollte, schwiegen sowohl Krafft wie Wetzell. Man konnte es drehen und wenden wie man wollte: Der Krieg war verloren. Indem Ludendorff auf dem Weg der Offensive fortschritt, nachdem die Armee ihre Kräfte in zwei gewaltigen Angriffsschlachten erfolglos
Überlegungen.
—
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Krafft, Tagebuch vom 29.3.1918 (wie Anm. 53). Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 3, S. 323. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 322. Krafft, Tagebuch vom 4.5.1918 (wie Anm. 53). Denkschrift vom 19.4.1918, Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 313.
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verbraucht hatte, baute er seine Operationsplanung tatsächlich »auf dem Wunder auf«228. Der nächste Angriff galt nun der französischen Front in der Champagne. Dort besetzte die französische 6. Armee unter General Denis Duchêne einen als ruhig geltenden Frontabschnitt. Sie verfügte über 15 Divisionen, darunter vier abgekämpfte englische, denen man Gelegenheit zur Erholung geben wollte. Daß sie in eine Gegend gerieten, in der die Deutschen ihre nächste Offensive planten, kann man als ausgesprochenes Pech bezeichnen, entbehrte aber insofern nicht der Logik, als die OHL für ihre Angriffe eben nach ruhigen Frontabschnitten suchte. Im Gegensatz zu den Wünschen der britischen Truppen und den im Winter erlassenen Anordnungen der französischen Heeresleitung entschloß sich Duchêne, die Verteidigung nicht auf die zweite Stellung aufzubauen, sondern seine Truppen in der ersten Stellung zu konzentrieren. Er begründete das unter anderem mit der Unmöglichkeit, in einem Sektor, der Paris schütze, Gelände aufzugeben, sowie mit dem ungünstigen Eindruck, der entstehe, wenn man Boden aufgebe, der im Vorjahr unter großen Opfern erkämpft worden sei. Pétain nahm das hin, weil die französische Armee mit dem neuen Verfahren noch nicht erfolgreich gekämpft hatte229. Dies kam den deutschen Absichten entgegen, weil der Verteidiger seine Truppen damit in den wirksamen Bereich der Artillerievorbereitung des Angreifers hineinschob. Die Tarnung der Angriffsvorbereitungen gelang den Deutschen besser als bei allen anderen Offensiven. Erst am Vorabend des Angriffs erhielt die französische Führung durch Gefangenenaussagen Klarheit über die deutschen Absichten. Für kräftige Gegenmaßnahmen war es jetzt zu spät. Im französischen Hauptquartier herrschte »consternation«, weü man dort mit einer Offensive im Norden gerechnet und die Reserven entsprechend verteilt hatte230. Am 27. Mai begann der Angriff mit dem für das deutsche Angriffsverfahren charakteristischen kurzen und heftigen Feuerschlag der Artülerie. Die Erfolge übertrafen schon am ersten Kampftag alle Erwartungen und hielten in den nächsten Tagen an. Frankreich erlebte »schreckliche Stunden«231. Die Linie, bis zu der die Offensive ursprünglich geführt werden sollte, erreichte man bald. Der Versuchung, den Angriff weiterzuführen und zu einer größeren Operation auszubauen, gab die OHL um so leichter nach, als Unklarheit darüber bestand, ob der Zweck der Offensive, das Abziehen der gegnerischen Reserven aus Handern, erreicht sei232. Aus den begrenzten Unternehmungen »Blücher« und »Goerz« wurde die große Schlacht von Soissons und Reims. Die Ausweitung der Offensive verlangte allerdings nach zusätzlichen Kräften. Die aber waren begrenzt, so daß Ludendorff diese den Reserven entnehmen mußte, die für »Hagen« vorgesehen waren. Von 32 im Norden waren bereitgestellten neuen Angriffsdivisionen Anfang Juni bereits acht abtrans228 229 230
231 232
Groener, Lebenserinnerungen (wie Anm. 16), S. 437. Les Armées Françaises dans la Grande Guerre, Tome 6, Vol. 2, Paris 1934, S. 70 ff. Jean de Pierrefeu, G.Q.G. Secteur 1. Trois ans au Grand Qartier Général, Paris 1920, Tome 2, S. 179. Ebd.
Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 364.
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portiert, fünf weitere sollten folgen233. Durch das Wegziehen deutscher Divisionen
Flandern wurden dort natürlich auch Kräfte der Entente frei. Auf diese Weierreichten die Deutschen also weder im Norden noch an der Angriffsfront in der Champagne eine Überlegenheit. Dort kam die Offensive am 4. Juni zum Stehen. Wenige Tage später griff die deutsche 18. Armee ein Stück weiter rechts an, bei Noyon (»Gneisenau«), kam aber nur wenig voran. Inzwischen beteiligten sich auch amerikanische Bodentruppen an den Kämpfen: Im fanzösischen Hauptquartier breitete sich das Gefühl aus, das »Ende des Alptraumes« nähere sich234. Der Großangriff gegen die Franzosen hatte einen tiefen, dreieckigen Keil in die französische Front gestoßen, dessen Spitze den seit 1914 symbolträchtigen Marnefluß erreichte. Diese weit vorspringende Ausbuchtung mochte vielleicht eine gute Ausgangsstellung für künftige Offensiven abgeben, zunächst aber verlangte sie zu ihrer Behauptung nach zusätzlichen Kräften. Ihre exponierten Hanken forderten zu Gegenangriffen geradezu heraus. Die großen Wälder um Villers Cotterêts und Compiègne boten den Franzosen eine ausgezeichnete Möglichkeit, ihre Angriffsmittel unbemerkt von der deutschen Aufklärung bereitzustellen. Dazu war die französische Armee zunächst nicht in der Lage, denn sie hatte alle ihre Kräfte benötigt, um die deutsche Offensive aufzuhalten. Einen solchen Erfolg vermochte Ludendorff aber nur zu erzielen, weil er selbst auf die Reserven zugegriffen hatte, die für »Hagen« bestimmt waren. Die deutsche Schwäche zeigte sich daran, daß sie die von ihr erkämpften Chancen nicht ausnutzen konnte. Der große taktische Erfolg der Schlacht von Soissons-Reims wurde für die deutsche Seite »geradezu zum Verhängnis«, denn er bestätigte sie »im Glauben an die Unfehlbarkeit ihres Angriffsverfahrens«235. Dieses Verfahren beruhte auf einem überraschenden Artilleriemassenangriff mit anschließendem Infanteriesturm und mußte erfolgreich sein, solange der Verteidiger seine Kräfte nach vorne konzentrierte. Das Gegenmittel lag nahe: dünne Besetzung der ersten Stellung und nachhaltige Verteidigung aus einer rückwärtigen Position, die der Reichweite der Angriffsartillerie entzogen war. Mit dieser Taktik »war dem bisherigen deutschen Angriffsverfahren die Spitze abgebrochen«236. In diesem Punkt hatte die deutsche Armee ihrem Gegner in der Tat »die nachdrücklichste Belehrung erteilt«237. Gerade der französischen Armee, dem »militärisch tüchtigsten Feind«238, war soviel Lernfähigkeit allemal zuzutrauen. Nachdem die Alliierten einige Male selbst erfolgreiche Angriffe mit überraschend einsetzendem Artilleriefeuer ausgeführt hatten, empfahl Ludendorff Anfang Juli als Gegenmittel genau das, was die deutschen Offensiven lahmlegen mußte: Vertiefung des Vorfeldes, Verdünnung seiner Besetzung, elastisch geführter Abwehrkampf in der Hauptwideraus se
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Ebd., S. 413. Pierrefeu, G.Q.G. (wie Anm. 230), S. 192. Krafft, Durchbruch (wie Anm. 28), S. 270. Kühl, Weltkrieg (wie Anm. 1), Bd 2, S. 365. Krafft, Durchbruch (wie Anm. 28), S. 270.
Armeebefehl der 17. Armee nach Abschluß der Schlacht von Soissons-Reims, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 386.
Weltkrieg,
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Standslinie239! In der Schlacht von Noyon hatte sich die französische Armee diesem Verfahren bereits angenähert, doch zwang die Kürze der Vorwarnzeit und der unzureichende Ausbauzustand der zweiten Stellung noch zu Kompromissen240. Das Risiko bei der Anwendung des deutschen Angriffsverfahrens mußte zunehmen, ein nicht nur operatives, sondern auch taktisches Scheitern wahrscheinlicher werden. Man konnte dieses Verfahren optimieren. Ludendorff widmete sich dieser Aufgabe mit anhaltendem Eifer. Eine Veränderung seiner Grundlagen, die ihre Wirkung einzubüßen drohten, war nicht möglich. Dem Gelingen der Überraschung, eine notwendige Voraussetzung für den Erfolg der deutschen Offensiven, drohten Gefahren von Zwischenfällen, die keine noch so gewissenhafte Orga-
nisationsarbeit ausschließen konnte. Als wenige Tage vor »Georgette« von einer deutschen Patrouille zwei Soldaten, also potentielle Informanten des Feindes, nicht zurückkehrten, erreichte die Aufregung über dieses alltägliche Vorkommnis sogar das AOK 17, das am Angriff gar nicht teilnehmen sollte241. Der Erfolg einer Offensive, von der manche immerhin die Zertrümmerung der britischen Flandernstellung mit weitreichenden Folgen erwarteten, schien von einem Ereignis bedroht, das im Krieg so gewöhnlich ist wie ein Fehlpaß im Fußball! Ein wesentliches Kontextphänomen der Offensivpolitik war das Herunterwirtschaften der Armee. In den Monaten Mai und Juni fanden im Bereich der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht keine großen Angriffshandlungen statt. Trotzdem betrugen dort die täglichen [!] Durchschnittsverluste 1000 bis 1150 Mann242. Auch die Absenkung der Sollstärken vermochte es nicht, die Realität mit der Norm in Einklang zu bringen, denn die Gefechtsstärken sanken weiter. Der noch verfügbare Ersatz wurde den für »Hagen« bestimmten Divisionen zugewiesen243: Nur mit leidlich ausgeruhten und aufgefüllten Truppen durfte man hoffen, im Angriff erfolgreich zu sein. Die OHL konzentrierte deshalb die schwindenden personellen Reserven Deutschlands auf die zur Offensive bestimmten Verbände, die sogenannten »Angriffsdivisionen«. Diese Divisionen erhielten Ruhezeiten zur Erholung und Ausbildung, während die anderen, die sogenannten »Stellungsdivisionen«, in den Schützengräben bei ganz unzureichenden Ablösungsverhältnissen ihre Substanz aufbrauchten. In der neu erreichten Linie fehlten ausgebaute Stellungen. Ihre Herstellung im feindlichen Artilleriefeuer war schwierig. Zumindest an Teilen der ehemaligen Angriffsfronten unterblieb oder verzögerte sich der Stellungsausbau auf Befehl Ludendorffs, um beim Gegner nicht den Eindruck zu erwecken, der Angriff sei aufgegeben244. Als sich beim Infanterieregiment 23 der 12. Infanteriedivision nach fünf Wochen Daueraufenthalt im Freien 239
240
241 242 243 244
Erlaß Chef des Generalstabes des Feldheeres vom 6.7.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, Bund 91, Akt 51, Schlachterfahrungen 1918, Bund 2. Les Armées Françaises (wie Anm. 229), S. 278 ff. Krafft, Tagebuch vom 5.4.1918 (wie Anm. 53). Kühl, Entstehung (wie Anm. 39), S. 187.
Ebd., S. 209.
Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 2, 6. April 1918, S. 373.
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Dieter Storz
Rheumatismus und Erkrankungen der Atemwege häuften, meldeten sich Anfang Mai die Ärzte zu Wort: »Um die starken Ausfälle an Mannschaften nicht noch höher zu gestalten muessen die Aerzte gegen die bisherige Gepflogenheit und gegen das ärztliche Gewissen trotz ihrer Beschwerden die Mannschaften als dienstfähig bei der Truppe belassen. Im Allgemeinen bietet der Durchschnittsmann bei mattem Gesichtsausdruck und schlaffer Haltung ein [!] bisher bei unserer Truppe nicht gewohnten Gesamteindruck. Selbst ohne kleinliche Bedenken ist zu behaupten, dass unsere Truppe zu mindestens einer eingehenden Erholung bedarf um wieder kampfkräftig zu sein; andernfalls ist allerdings zu befuerchten, dass bei längerer Dauer der derzeitigen Verhältnisse ein völliger Zusammenbruch der Widerstandskraft der Mannschaft eintritt245.« Die Sanitätskompanie 15 meldete, daß Leichtverwundete und Kranke »apathischer, hinfälliger und schlapper« seien, »als ihrem Leiden an sich entspricht. [...] Bei einer anderen Gruppe von Leuten sind die Zeichen der Schreckhaftigkeit,
Unruhe, des Aufgeregtseins bei gelblicher Gesichtsfarbe häufiger als bisher beobachtet.« Beim Infanterieregiment 63 war die allgemeine Stimmung »eine gedrueckte, wenig zuversichtliche. Dies ist in höherem Grade der Fall als nach der Sommeschlacht 1916.« Der Divisionskommandeur hatte die Regimenter 23 und 63 erstmals am 2. Mai als dringend ablösungsbedürftig bezeichnet, eine Woche später die gesamte Division, die bereits am 25. April den Verlust von zwei Dritteln ihrer Gefechtsstärke gemeldet hatte! Ende Mai war die 12. Inf.Div. aber immer noch in Stellung246. Am 1. Mai versuchte Albrecht v. Thaer, vom Stab des IX. Reservekorps zur OHL versetzt, dem Feldmarschall v. Hindenburg die Augen über den Zustand der Armee zu öffnen. Der aber wich aus und zeichnete ein Luftschloß, meinte, daß es »ja gewiß jetzt bei Ihnen da zuletzt nicht so ganz schön gewesen sein« mochte, dies aber nur ein kleiner Ausschnitt einer langen Front sei. Er, Hindenburg, habe »von überall täglich Berichte, sowohl über die taktische Lage, wie über Stimmung der Truppe. Die letztere ist allenthalben sehr gut, fast überall glänzend sogar247.« Doch war die OHL über die tatsächlichen Verhältnisse gut unterrichtet. Ludendorff telefonierte täglich mit den Heeresgruppen und Armeen. Seine Verbindungsoffiziere trieben sich sehr zum der höheren Stäbe sogar im Frontbereich herum248. Die höheren Kommandobehörden verheimlichten die herrschenden Zustände schon deshalb nicht, weil sie ja die Verantwortung für die Sicherheit ihres Frontabschnittes trugen. So meldete die Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht am 13. Mai, daß sie ihre Front »bis auf das äußerst zulässige Maß gelockert« habe, »um Kräfte herauszuziehen, auffrischen
Ärger
245 246 247
248
Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, III. bayer. Armeekorps, Bund 31. Ebd.
Thaer, Generalstabsdienst (wie Anm. 33), S. 196. Krafft schimpfte über ein regelrechtes »Spionenwesen« der OHL, z.B. in seinen ausführlichen Anmerkungen zu v. Mosers »Ernsthafte Plaudereien über den Weltkrieg«, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Nachlaß Krafft, Bund 198 Korrespondenz mit v. Moser, S. 44 u. pass.
Aber was hätte anders geschehen sollen?
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und ausbilden zu können. In Bezug auf die Abwehrbereitschaft ist dabei bewußt ein gewisses Risiko in Kauf genommen worden ebenso eine gewisse Härte für die zur Zeit in Stellung oder als Eingreif-Divisionen verbleibenden Verbände. Die meist geringen Gefechtsstärken der Front-Divisionen, die anhaltenden Verluste und die erhebliche Schwächung der Artillerie, die auf den meisten Fronten durchgeführt werden mußte, bringen für sie erhebliche Schwierigkeiten mit sich249.« Am 6. Juni äußerte Ludendorff gegenüber dem Chef des Stabes dieser Heeresgruppe, man müsse hinnehmen, daß die Stellungsdivisionen »ausbrennen. Sie sind infolge mangelnden Ersatzes zu schwach, werden dabei bei Verbreiterung ihrer Abschnitte noch mehr verbraucht. Darüber sind wir uns klar. Aber es ist nicht anders zu machen. Sonst müßten wir überhaupt auf den Angriff verzichten, gäben die Initiative aus der Hand, die wir jetzt haben250.« Diese Initiative, die »Vorhand«, bezeichnete Wetzell in einer Denkschrift vom 12. Juni als »das Wichtigste unserer ganzen jetzigen Kriegführung«251. In seinen Kriegserinnerungen schreibt Ludendorff, daß er sich über den »Gedanken, ob es mit Rücksicht auf den Halt des Heeres und unsere Ersatzverhältnisse vorteilhafter sei, zur Abwehr überzugehen, [...] in ernstem Nachdenken Rechenschaft abgelegt« habe. Er verneinte dies, weil er »abgesehen von der ungünstigen Einwirkung auf unsere Verbündeten« fürchtete, »daß das Heer Abwehrkämpfe, die dem Feinde das Zusammenlegen seiner gewaltigen Hilfsmittel auf einzelnen Schlachtfeldern eher gestatteten, schwerer ertragen würde als Angriffsschlachten252.« Militärisch entbehrte das nicht der Logik. Solange die deutsche Armee angriff, gab die Stärke ihrer Angriffsdivisionen den Ton an, nach dem zur Defensive die Schwäche ihrer Stelwar Die wie nur, lungsdivisionen. Frage lange man diese Kampfweise durchhalten konnte. Eisern entschlossen, seine Offensiven fortzusetzen, ignorierte der Erste Generalquartiermeister auch die im Mai heranrollende Grippeepidemie: »Mit schwachen Gefechtsstärken muß sich die Truppe abfinden und Grippe kenne ich nicht253.« Ludendorff war »mit seinem Latein genauso am Ende wie Falkenhayn 1916 bei Verdun«254. Im Mai und Juni machte die Offensivpolitik der Armee einen bemerkenswerten Wandel durch. Ursprünglich hatte man sich zu ihr entschlossen, um den Krieg zu einem raschen Ende zu bringen, und zwar zu einem siegreichen. Noch die »Hagen«-Offensive war als entscheidungssuchender Angriff geplant worden. Die Offensiven am Chemin des Dames und bei Noyon sollten dafür durch indirekte Schwächung der feindlichen Flandernfront die Voraussetzungen schaffen, doch fehlten den Deutschen inzwischen die Mittel, diese, als sie denn erreicht war, auch —
Übergang
249
Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, Bund
250
Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 414 f.
124. 251 252 253
254
Ebd., S. 418. Ludendorff, Kriegserinnerungen (wie Anm. 42), S. 516.
Zum Chef des Stabes der Heeresgruppe Deutscher Kronprinz, Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. S. 445. Groener, Lebenserinnerungen (wie Anm. 16), S. 435.
28),
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Juni bekräftigte Ludendorff in einer Besprechung mit dem General v. Kühl zwar nochmals, daß »Hagen«, den er Ende Juli ausführen wollte, die Entscheidung bringen solle255, vermochte damit aber nicht zu überzeugen. Kühl schrieb in sein Tagebuch: »Wie sich die Oberste Heeresleitung das Ende des Krieges denkt, konnte ich nicht ermitteln256.« Das wußte man dort wohl selbst nicht mehr. Zum Entsetzen des bayerischen Kronprinzen äußerte Ludendorffs Erster Adjutant im Mai, daß der Krieg »noch Jahre dauern« könne, wenn bis zum Herbst keine Entscheidung falle257. Zu diesem Zeitpunkt meinte Ludendorff selbst noch, daß nach »Hagen« jede weitere Offensive unterbleiben müsse. Am 22. Juni ordnete er aber für die Zeit nach »Hagen« die Vorbereitung neuer Offensiven auf Amiens und Paris bzw. Amiens oder Paris an258. Die Offensiven sollten jetzt nicht mehr den Krieg rasch entscheiden, bevor sich das Kräfteverhältnis endgültig zu Deutschlands Ungunsten verschob, sondern es ermöglichen, den Krieg trotz wachsender Unterlegenheit fortzuführen. Ludendorff interpretierte die Erfahrungen des »Blücher«-Angriffes so, daß ein Angriff seinen Zweck erfülle, »so lange er dem Gegner erhebhch größere Einbußen bringt als uns selbst«259. Eine Diskussion mit der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht über die Erfolgssaussichten von »Hagen« schloß Ludendorf mit der Feststellung ab, daß es für Deutschland darauf ankomme, »feindliche Kräfte zu zerschlagen, wie und wo es auch sei260.« Die Offensiven wurden jetzt zu einem Mittel der Zermürbungsstrategie. In diesem Sinn interpretierte die OHL auch die bisherigen Offensivkämpfe: Die gegnerischen Streitkräfte, die das eigentliche Ziel jedes Angriffes sein müßten, habe man »empfindlich getroffen« und den Feind in der Benützung seiner Bahnen stark beeinträchtigt261. Das AOK 17 unterrichtete die unterstellten Armeekorps am 11. Juh über die weiteren Absichten der OHL dahingehend, daß diese »methodisch Schritt für Schritt vorgehen« wolle, »um die deutsche Linie so zu verbessern und ihr einen solchen Abschluß zu geben, daß man auch für die Friedensverhandlungen einen festen Stand hat.« Damit deutete die OHL erstmals den Übergang zur Defensive an, allerdings in einer offensiv nach vorne verschobenen Linie. Man wird der Befürchtung Kraffts recht geben müssen, daß die Heeresleitung »die nüchterne Einsicht verloren [habe], was mit unseren Kräften noch geleistet werden kann«262. Doch läßt sich seinen Träumen von einem großen, entscheidenden Angriff, die er noch zwei Tage zuvor niedergeschrieben hatte263, kaum ein überlegenes Maß an Realitätssinn zusprechen. auszunutzen. Am 6.
Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 415. Ebd., S. 429.
Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 3, S. 324. Kühl, Entstehung (wie Anm. 39), S. 143 f. Chef des Generalstabes des Feldheeres, Erfahrungen zur »Blücher«-Offensive, 9.6.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, Bund 91, Akt 50, Bund 1, Teil I. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 425. Krafft, Tagebuch vom 25.6.1918 (wie Anm. 53). Ebd., 11.7.1918. Ebd., 11.9.1918.
Aber was hätte anders geschehen sollen?
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Ludendorffs Autorität war im Sommer 1918 bei der Armeeführung noch unangefochten. Jedoch mehrten sich die Zweifel an den Erfolgsaussichten seines Weges. Bei den höheren Kommandobehörden herrschte, wie er dem Generaladjutanten des Kaisers und dieser dann wieder einem Offizier der OHL anvertraute, »manchmal Tiefstand der Stimmungen. [...] Man rate ihm ab, die Offensive fortzusetzen, er überspanne den Bogen, aber er müsse es riskieren264.« Verzagende wie den Oberst v. Thaer suchte man mit demonstrativem Optimismus zu beruhigen. Dagegen geizte man mit konkreten Informationen auch gegenüber höheren Offizieren: »Über Zahl und Zustand der deutschen Gesamtstreitkräfte und Reserven ist leider fast gar nichts in Erfahrung zu bringen. Die Sorgfalt, mit der die Oberste Heeresleitung dieses Geheimnis hütet, läßt leider nichts gutes vermuten265!« Allerdings kann man diese Diskretion auch mit der Rücksicht auf die notorische Geschwätzigkeit in der deutschen Armee begründen. Der bayerische Kronprinz meinte schon im Mai, daß die OHL »im Grunde selbst nicht mehr an die Möglichkeit einer uns günstigen Entscheidung« glaube, ohne daraus aber Folgerungen zu ziehen. Man treibe eine »Vogel-Strauß-Politik«266. Immerhin leitete Ludendorff eine Denkschrift des Obersten v. Haeften vom 3. Juni, die auf eine Unterstützung der militärischen Offensive durch eine politische zielte, dringend befürwortend an den Reichskanzler weiter. Haeften führte darin unter anderem aus, daß »unsere siegreiche Offensive allein, ohne politische Unterstützung«, die Ententestaaten nicht fried ens willig machen werde267. Staatssekretär v. Kühlmann modifizierte diese Formulierung und konnte sich dazu wohl berechtigt glauben, fand er sie doch in einem von Ludendorff empfohlenen Papier vor. Am 24. Juni sagte er vor dem Reichstag, daß »durch rein militärische Entscheidungen allein ohne alle diplomatischen Verhandlungen ein absolutes Ende [des Krieges] kaum erwartet werden« könne268. Damit aber zog er den Zorn der OHL auf sich, der er schon lange ein Dorn im Auge war. Ludendorff bewirkte seine Ablösung und verbreitete Siegeszuversicht. Die Anfang Juli formulierte Bekräftigung des Anspruches, Belgien unter deutschem Einfluß zu halten269, mußte bei denjenigen, die davon Kenntnis erhielten, den Eindruck hervorrufen, die OHL halte dieses Ziel für miltärisch erreichbar, jedenfalls dann, wenn man das Vertrauen zu ihr noch nicht verloren hatte. Paul v. Hintze, Kühlmanns Nachfolger im Auswärtigen Amt, fragte Ludendorff, »ob er sicher wäre, mit der jetzigen Offensive den Feind endgültig und entscheidend zu besiegen«. Dieser antwortete »mit einem bestimmten Ja270«. Am Tag nach der Reichstagsrede ging ein ent-
264 265 266 267
268 269 270
Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 422. Krafft, Tagebuch vom 9.7.1918 (wie Anm. 53). Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 2, S. 401.
Urkunden (wie Anm. 10), S. 485. Zit. nach Kühl, Weltkrieg (wie Anm. 1), Bd 2, S. 374. Am 2./3. 7.1918, Schwertfeger, Verantwortlichkeiten (wie Anm. 11), S. 346. Darlegung Hintzes aus dem Jahr 1922 für den Parlamentarischen Untersuchungsausschuß, in: Schwertfeger, Verantwortlichkeiten (wie Anm. 11), S. 387; Kühl, Weltkrieg (wie Anm. 1),
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sprechender Erlaß an die Armee: »Es muß Gemeingut aller Führer, auch der niedersten und ebenso der Truppe werden, daß der Krieg nicht durch starre Verteidigung, sondern nur durch weitere wuchtige Angriffsschläge zu gewinnen ist271.« Max von Baden meinte, die Kühlmannrede habe der OHL »so weh getan, weil der Truppe, die in die zweite Marneschlacht ging, nicht der Glaube genommen werden sollte, es gälte die Entscheidung zu erkämpfen«272. Das mag so sein. Mit Erlassen aber änderte man weder die Lage noch ihre Wahrnehmung. Krafft vermerkte am 3. Juli, daß die Soldatenbriefkontrolle »einen sehr starken StimmungsUmschwung« erkennen lasse273, natürüch zum Schlechteren. Und die Ergebnisse dieser Briefkontrolle gingen »nach oben«274. Am 15. Juli trat die deutsche Armee zu ihrer letzten Offensive (»MarneschutzReims«) an. Sie bezweckte nochmals eine indirekte Schwächung der Alliierten in Flandern und eine Verbesserung des Stellungsverlaufes im Bereich der vorangegangenen »Blücher«-Offensive. Die Vorbereitungen waren den Franzosen diesmal nicht entgangen. Sie trafen ihre Gegenmaßnahmen275. Den deutschen Angriff erwarteten sie nicht mehr in der ersten Stellung, sondern konzentrierten ihre Kräfte in einer rückwärtigen Position. Dabei wollten sie sich nicht damit begnügen, den Stoß aufzuhalten. Eine zeitlich abgestimmte flankierende Gegenoffensive sollte dafür sorgen, den Abwehrerfolg zu einer schweren Niederlage des Angreifers zu steigern. Foch hatte schon in den Vormonaten immer wieder danach gestrebt, selbst anzugreifen, um die Initiative zurückzugewinnen276, doch kam ihm immer wieder eine neue Offensive Ludendorffs in die Quere. Diesmal war die Gelegenheit günstig. Man hatte die deutsche Offensive rechtzeitig erkannt und durfte zuversichtlich hoffen, sie zu stoppen. Die Wälder um Villers-Cotterêts erlaubten die getarnte Bereitstellung der mit starken Tankgeschwadern ausgestatteten Stoßgruppe für den Gegenangriff. Die Deutschen besaßen Hinweise darauf, daß die Franzosen Lunte gerochen hatten. Die OHL selbst teilte in ihrer letzten Lageübersicht vor der Offensive mit, daß sich der Gegner im anzugreifenden Abschnitt um fünf französische und zwei US-Divisionen verstärkt habe277. Ludendorff rechtfertigte das Festhalten am Angriffsentschluß in seinen Erinnerungen damit, daß nach Meinung der OberBd 2, S. 376 f. hat Hintzes Aussage in Zweifel gezogen, weil er meinte, die »innere Wahrscheinlichkeit [spreche] dafür, daß der General die zuversichtliche Hoffnung ausgesprochen, schwerlich aber die Sicherheit des Sieges gewährleistet hat.« Dieser Auffassung können wir uns nicht anschließen. Aufgrund der von Ludendorff empfundenen Verpflichtung, Zuversicht zu verbreiten, die sich auch in anderen des Generals aus diesen Wochen nachweisen läßt, spricht die »innere Wahrscheinlichkeit« für Hintzes Darstellung. Chef des Generalstabes des Feldheeres am 25.6.1918, Bayer. Hauptstaatsarchiv, Abt. IV, Kriegsarchiv, Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, Bund 91, Akt 51, Bund 2. Prinz Max, Erinnerungen (wie Anm. 18), S. 283. Krafft, Tagebuch vom 3.7.1918 (wie Anm. 53). Krafft, Korrespondenz mit v. Moser (wie Anm. 248), S. 148. Les Armées Françaises (wie Anm. 228), S. 428 ff. Ebd., S. 440. Krafft, Tagebuch vom 12.7.1918 (wie Anm. 53).
Äußerungen
271
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kommandos der Angriffsarmeen die Franzosen vom bevorstehenden Angriff keine Kenntnis hatten278. Anders lauteten die Aussagen gefangener französischer Soldaten279. Der bayerische Kronprinz sprach am 14. Juli, also einen Tag vor Angriffsbeginn, mit einem Militärarzt, der aus dem Urlaub zurückkam und berichtete, daß man sich in Berlin seit Wochen von einer Offensive des deutschen Kronprinzen erzähle, die am 15. Juli beginnen solle, ein Gerücht, das auch bei der Einwohnerschaft in Colmar umlief80. Hinweise der Heeresgruppe auf einen drohenden Flankenangriff der Franzosen schob Ludendorff beiseite: Man dürfe die Nerven nicht verlieren. Die Dynamik der sich entwickelnden Operation werde am bedrohten Frontabschnitt Entlastung schaffen281. Diesmal aber blieb diese Dynamik aus. Das Massenfeuer der deutschen Artillerie verpuffte im tiefen Vorfeld der französischen Verteidigung. Der Infanterieangriff blieb vor der zweiten Stellung hängen. Erstmals war das deutsche Angriffsverfahren nicht nur operativ, sondern auch taktisch gescheitert. Die OHL entschloß sich, den Angriff einzustellen. Ludendorff fuhr ins Hauptquartier der Heeresgruppe Kronprinz Rupprecht, um dort den »Hagen«-Angriff zu leiten, den er trotz der ausgebliebenen Schwächung der Flandernfront ausführen wollte. Dort erreichte ihn am 18. Juli die Nachricht vom erfolgreichen französischen Tankangriff bei Villers-Cotterêts. Er eüte nun zurück zur Heeresgruppe Deutscher Kronprinz. In den nächsten Tagen ordnete er die Zurücknahme des in der Schlacht von Soissons und Reims erkämpften Frontvorsprungs an und sagte die Flandernoffensive ab. Die Initiative besaß von nun an die Entente. Das Spiel war aus. Für das, was sie im Frühjahr 1918 leisten sollte, war die deutsche Armee zu schwach. Eine realistische Chance, ihr Ziel zu erreichen, hatten die deutschen Offensiven nicht, es sei denn, die Angegriffenen würden große Fehler machen. Die wichtigste unter den Schwächen der deutschen Armee war ihr Mangel an Bewegüchkeit. Dies schloß ein erfolgreiches Operieren im Bewegungskrieg auch dann aus, wenn die ohnehin schwer zu realisierende Vorbedingung, der strategische Durchbruch, erfüllt war. Ohne gewisse Führungsfehler Ludendorffs hätten die Offensiven wahrscheinlich größere Erfolge erzielt. Das hätte sie ihrem erklärten Ziel, den Gegner »friedenswillig« zu machen, aber nicht nähergebracht, denn militärische Erfolge führten nach der Logik dieses Krieges unweigerlich zur Ausweitung der Kriegsziele, wie Hindenburgs Telegramm vom 1. April 1918 an den Reichstag zeigt, in dem er einen »kraftvollen deutschen Frieden« verlangte282. So konnte man sich dem Kriegsende nicht nähern, schob es gewissermaßen in gleichbleibender Entfernung vor sich her. Schwer wäre jedoch auch der Entschluß gewesen, die Offensive und damit den Versuch, den Krieg zu gewinnen, zu unterlassen. Die Regierungen der geg278 279 280
281 282
Ludendorff, Kriegserinnerungen (wie Anm. 42), S. 534 f. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 442. Kronprinz Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 12), Bd 2, S. 421. Weltkrieg, Bd 14 (wie Anm. 28), S. 444. Prinz Max, Erinnerungen (wie Anm. 18), S. 265 f.
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nerischen Koalition, nach dem Kriegseintritt der USA ihres Sieges gewiß, ließen keine Anzeichen von Verständigungsbereitschaft erkennen. Auf dem Verhandlungsweg wäre Deutschland nur dann zum Frieden gekommen, wenn es schon vor
solchen Gesprächen in Bedingungen eingewilligt hätte, wie sie nur ein besiegtes Land auf sich nimmt. Durch strategische Verteidigung den Kriegswillen der Alliierten zu schwächen, bot angesichts des bevorstehenden Auftretens der Amerikaner und der Erschöpfung des Vierbundes objektiv wenig Aussicht auf Erfolg. Andererseits erzeugte der Wegfall der Ostfront nach der tiefen Erschöpfung der Jahre 1916 und 1917 ein neues Kraftgefühl. Erstmals seit Beginn des Krieges kämpfte die Armee nur an einer Front. Große Teile der deutschen Öffentlichkeit hofften deshalb auf einen günstigen Kriegsausgang. Die Heeresleitung unterstützte diese Erwartungen mit einer entsprechenden Pressepolitik283. All das drängte dazu, die Offensive zu wagen. Ein Wagnis war sie auch aus der Sicht der Obersten Heeresleitung. Ludendorff faßte die Lage Deutschlands allerdings so auf, daß es siegen oder untergehen müsse284. Nachdem die Oberste Heeresleitung diese Bahn einmal betreten hatte, fand sie weder Kraft noch Einsicht, sie wieder zu verlassen. Nach der mißlungenen »Georgette«-Offensive wäre es höchste Zeit gewesen, eine Strategie zur Liquidierung des Krieges unter dem leitenden Gesichtspunkt der Schadensbegrenzung zu entwickeln. Ludendorff bündelte aber weiterhin die dahinschwindenden Kräfte seiner Armee zu immer neuen Offensiven. Das Ziel der Kriegsbeendigung trat dabei mehr und mehr in den Hintergrund. Ob ihn dabei wirklich noch die »unbegreifliche, durch nichts zu begründende Hoffnung [trug], daß einer der Gegner eines nahen Tages zusammenbrechen werde«285, muß offen bleiben. Jedenfalls vermittelte er unter Aufbietung seiner ganzen Willenskraft diesen Eindruck. Die drohende Niederlage spielte in diesem Denken nur insofern eine Rolle, als sie zum Verharren in der Offensive anspornte. Uns scheint, daß es die von ihm empfundene Ausweglosigkeit der Lage war, die den General antrieb, weniger sein »ungezügelter Ehrgeiz«286. Ludendorff ist damit bis zu einem Punkt gegangen, den man im Geschäftsleben als Konkursverschleppung bezeichnen würde. Krafft, dessen Tagebuchaufzeichnungen während des Krieges Ludendorffs Führung scharf kritisieren, aber nicht unbedingt eine realistischere Auffassung der Lage verraten, sah nach dem Krieg beim Ersten Generalquartiermeister ein »verzweifeltes Widerstreben gegen die längst offenkundige Wahrheit«287. Kraffts Korrespondenzpartner, der frühere württembergische General v. Moser, nannte das »menschlich begreiflich«288. Ludendorff hatte sich mit einer schier übermenschlichen Willens- und Arbeitsleistung dem Ziel verschrieben, den Krieg zu gewinnen, und 283
284 285 286 287 288
Schwertfeger, Verantwortlichkeiten (wie Anm. 11 ), S. 84; Delbrück, Korreferat (wie Anm. 8), S. 322 ff. Prinz Max,
Erinnerungen (wie Anm. 18), S. 235. Groener, Lebenserinnerungen (wie Anm. 16), S. 437. Delbrück, Korreferat (wie Anm. 8), S. 264. Krafft, Korrespondenz mit v. Moser (wie Anm. 248), S. 148. Ebd.
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vermochte sich von der Vorstellung nicht zu lösen, daß dieses Ziel erreichbar sei. Dabei glitt er in einen Zustand hinüber, in dem er die mihtärische Lage nicht mehr rational zu beurteilen vermochte289. Dieser Punkt war spätestens nach »Georgette« erreicht. Krafft bemängelte 1929, daß Ludendorff sich mit seiner Vielgeschäftigkeit und dem Hineinreden in zahllose Einzelheiten um die notwendige Muße zu gründlichem Nachdenken gebracht habe290. Er mag diese Arbeitslast als Schutz vor herandrängenden unerfreulichen Einsichten selbst gesucht haben. Unübersehbar ist das Erlahmen seiner schöpferischen Energie, wie es sich in der detailversessenen Beschäftigung mit dem Angriffsverfahren zeigt. Ein anderer Krieg als der zum Sieg war mit seiner Person nicht mehr zu führen. Er gelangte nicht zu der Einsicht, daß es für ihn Zeit sei, zu gehen. Zu seinem eigenen Verhängnis saß er so fest im Sattel, daß an seine dringend notwendige Ablösung nicht zu denken war. Es gab auch niemand, der ihm hätte in die Zügel greifen können291. Ludendorff bildete 1918 nicht nur eine Belastung für die deutsche Politik, sondern auch für die Leitung der militärischen Operationen. Das Verharren im Angriff trug wesentlich dazu bei, die Illusionen der deutschen Öffentlichkeit über die Kriegslage um unersetzliche Monate zu verlängern. Um so größer war dann die Enttäuschung. Ähnlich verlief die Stimmungskurve der Armee. Wenn es auch Hinweise darauf gibt, daß das Heer, vor allem die Infanterie, bereits mit einer gewissen Zurückhaltung in die Schlacht ging, so steht doch fest, daß die Truppen im Frühjahr 1918 noch über ein Maß von Einsatzbereitschaft verfügten, das nach den furchtbaren Opfern der vorangegangenen Jahre erstaunt. Anders lassen sich die unter schweren Verlusten hart erkämpften Geländegewinne nicht erklären. Diesen Kampfwillen beschränkte aber ein »unverkennbar begrenzender Vorbehalt«, der nämlich, »daß der Endkampf nicht mehr über Kraft und Gebühr hinaus dauere«292. Als sich diese Hoffnung als trügerisch erwies, löste sich die gewohnte Disziplin mehr und mehr auf. »Drückeberger« und »Abgekommene« häuften sich, so daß man von einem »Militärstreik« gesprochen hat293. Hinzu kam, daß Deutschland am Ende seiner personellen Reserven angekommen war und die Verluste seiner Armee weder quantitativ noch qualitativ ersetzen konnte. Die Offensiven haben das Heer körperlich und seelisch aufs äußerste erschöpft und trugen so das Ihre zur dramatischen Zuspitzung der militärischen Krise und schließlich zur Beschleunigung der Niederlage bei. Insofern haben sie ihr Ziel, den Krieg zu verkürzen, in paradoxer Weise doch erreicht.
289 290
291
292 293
Groß, 1918 (wie Anm. 201), S. 759. Krafft, Korrespondenz mit v. Moser (wie Anm. 248), S. 105. Der »alte Hindenburg« war dazu ganz gewiß nicht in der (wie Anm. 149), S. 348 f., vorschlägt. Krafft, Korrespondenz mit v. Moser (wie Anm. 248). Vgl. Deist, Militärstreik (wie Anm. 201).
Lage, wie Venohr, Ludendorff
Wolfgang Etschmann zwischen Engagement und Österreich-Ungarn K.u.k. an der Westfront
Zurückhaltung.
Truppen
Im deutschen Heeresbericht vom 11. Oktober 1918 wurde unter anderem gemeldet: »[...] Auf dem östl. Maasufer griff der Amerikaner tagsüber mit starken Kräften zwischen Sivry und dem Haumont-Wald an. Brandenburgische, sächsische, rheinische und österreichisch-ungarische Regimenter schlugen in hartem Kampf alle Angriffe des Feindes ab. Das österreichisch-ungarische I.R. 5 unter seinem Kdr. Oberstlt. Popelka zeichnete sich hierbei besonders aus [...]L« Wenn auch die Realität anders war und die im Heeresbericht erwähnten Truppen hohe personelle Einbußen und bedeutende Geländeverluste hinnehmen hatten müssen, so fällt doch die Beteiligung österreichisch-ungarischer Verbände in den Kämpfen an einem Abschnitt der Westfront im Herbst 1918 auch für manchen Spezialisten für die Kämpfe an der Westfront zwischen 1914 und 1918 wohl überraschernd auf. Der Kommandant des k.u.k. Infanterieregiments Nr. 5, Oberstleutnant Rudolf Popelka, wurde in der Folge als einziger Truppenoffizier des k.u.k. Heeres mit dem Orden »Pour le Mérite« ausgezeichnet. Der, wenn auch nicht allzu große, Anteil von Verbänden des k.u.k Heeres an den Operationen an der Westfront zwischen 1914 und 1918 ist noch heute wenig bekannt. Zweifellos dürfte vor allem die österreichische Militärgeschichtsschreibung nach dem Ersten und auch nach dem Zweiten Weltkrieg daran nicht unbeteiligt sein, da die Darstellungen über die Südwestfront, also die Schilderung der Kämpfe im Hochgebirge beziehungsweise am Isonzo noch immer im Mittelpunkt des Interesses stehen und die Kriegführung auf der Balkanhalbinsel und an der Ostfront demgegenüber bislang noch immer etwas im Hintergrund geblieben sind2. Verbände der bewaffneten Macht an der Westfront lassen sich jedoch bereits im Hochsommer 1914 nachweisen. —
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Österreich-Ungarns
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2
Zit. nach: Hanns Möller, Geschichte der Ritter des Ordens »pour le mérite« im Weltkrieg, hrsg. unter Mitarbeit zahlreicher Ordensritter und unter Benutzung amtlicher Quellen, Bd 2, Berlin 1935, S. 144; Jürgen Brinkmann, Die Ritter des Ordens »Pour le Mérite« 1914-1918, Bückeburg 1982. Oberstleutnant Rudolf Popelka (1867-1930) war der einzige Regimentskommandant unter den insgesamt dreizehn Trägern der k.u.k. Armee dieser Tapferkeitsauszeichnung. Alle anderen waren höhere Truppenführer. Zur kompakten Darstellung der neueren österreichischen Forschungen über den Ersten Weltkrieg vgl. Rudolf Jefäbek, Die österreichische Weltkriegsforschung, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Wolfgang Michalka, München, Zürich 1994, S. 953-971.
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Auf das zwei Wochen vorher ergangene Ersuchen des deutschen Chefs des Generalstabes, Generaloberst Hellmuth v. Moltke, waren ab 21. August 1914 zwei Verbände der schweren Artillerie der k.u.k. Armee nach Belgien verlegt worden. Die zwei Halbbataillone »Krakau« und »Görz-Wippach« mit jeweils zwei Batterien, die mit je zwei 30,5 cm Skoda Motor-Mörsern ausgerüstet waren, hatten vorerst hauptsächlich an der Niederkämpfung einzelner Forts der belgischen Festungen Namur (bis zum 25. August) und Antwerpen (bis zum 9. Oktober) teilgenommen. Interessanterweise erfolgte der erste Einsatz dieser Artillerieformationen der k.u.k. Heeres bereits eine Woche vor der Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Belgien am 28. August 19143. Nach dem kurzfristigen Einsatz einzelner Batterien an der Ypern-Front sowie im Raum nordwestlich von Verdun und westlich von Metz wurden die Batterien im März beziehungsweise im Mai 1915 endgültig zur Rückverlegung an die mittlerweile drei Fronten der österreichisch-ungarischen Streitkräfte vorbereitet4. In den folgenden zweieinhalb Kriegsjahren standen abgesehen von Verbinund Beobachteroffizieren die eine Ausbildung sowie von Soldaten, jenen dungsfür Sturmtruppen erhielten5 keine Truppen der k.u. k. Armee an der Westfront. Im Februar 1918 waren erneut fünf schwere Feldartillerieregimenter (FAR 25, 45,54,59 und 206), eine Batterie des schweren FAR 2 und eine Batterie des schweren Artillerieregiments 6 (mit einem 38 cm Mörser) verschiedenen deutschen Armeen an der Westfront zur Unterstützung der deutschen Frühjahrsoffensive unterstellt worden. Wachsende Probleme bei der Munitionsversorgung führten jedoch nach der Anfangsphase der »Großen Schlacht in Frankreich« zur schrittweisen Rückverlegung einiger Verbände nach Zuvor hatte die Sixtus-Affäre 1917 eine schwere Vertrauenskrise zwischen der Donaumonarchie und Deutschland ausgelöst. Als Reaktion auf die Veröffentlichung seiner Briefe durch die französische Regierung und zur Beruhigung des Bündnispartners erklärte Kaiser Karl: »Unsere weitere Antwort sind Meine Kanonen im Westen.« —
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Österreich-Ungarn.
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Generell als Überblick für den Einsatz österreichisch-ungarischer Truppen an der Westfront zwischen 1914 und 1918: Maximilian Polatschek, Truppen an der Westfront 1914-1918, Diss. Wien 1974. Dazu Fritz Franek, K.und k.Truppen im Westen. T. 1: Die 30,5 cm Mörser in Belgien und Frankreich 1914/15, in: Militärwissenschaftliche Mitteilungen, 62 (1931), S. 225-233. Dazu Hellmuth Gruss, Die deutschen Sturmbataillone im Weltkrieg. Aufbau und Verwendung, Berlin 1939 (= Schriften der kriegsgeschichtlichen Abteilung im Historischen Seminar der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin, H. 26), S. 68-69 und 92; neu zum Thema Sturmbataillone: Mario Christian Ortner, Die k.u.k. Sturmtruppen 1916-1918. Elitesoldaten der Monarchie, Wien 1998 (= Österreichische Militärgeschichte, Folge 6). Zur Neuorganisation des österreichisch-ungarischen Heeres ab Sommer 1917 vgl. Johann Christoph AllmayerBeck, Heeresreorganisation vor 50 Jahren. Planungen und Maßnahmen für den Friedensaufbau der k.u.k. Wehrmacht nach beendigtem Kriege, in: Österreichische Militärische Zeitschrift, 5 (1967),Sonderheft: 1917. Das Jahr am Beginn einer neuen Epoche in der Geschichte Europas, S. 18-27.
Österreichisch-ungarische
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Österreich-Ungarn zwischen Engagement und Zurückhaltung
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Die Beschlagnahme deutscher Schleppkähne auf der Donau mit einer Ladung fast 2500 Waggon Mehl auf Betreiben des Vorsitzenden des gemeinsamen Ernährungsausschusses, Generalmajor Ottokar Landwehr, am 30. April 1918 führte erneut zu einer Verstimmung beim Verbündeten. Nichtsdestoweniger zeigten sich die Deutschen zu Verhandlungen bereit, in deren Ergebnis am 12. Mai 1918 ein »Waffenbund« von den beiden Monarchen, Karl I. und Wilhelm IL, unterzeichnet wurde, der politisch und militärisch noch stärker als bisher an den Partner und seine politisch-stratergischen Vorgaben binden sollte. Das Scheitern der ersten Phase der deutschen Frühjahrs-Offensive im Westen am 9. April ließ aber auch die politisch-militärische Führung des Deutschen Reiches gegenüber seinem Bündnispartner vorübergehend etwas moderater auftreten6. Die dritte Phase des Einsatzes österreichisch-ungarischer Verbände an der Westfront erfolgte schließlich im Hochsommer 1918. Die Krise der deutschen Operationen in Frankreich und Belgien ab April 1918 verstärkte das erneute Drängen der Obersten Heeresleitung (OHL) am 21. Juni 1918 zur Entsendung namhafter österreichisch-ungarischer Kräfte an die deutsche Westfront. Diese Forderung wurde mit der Zusage von weiteren Lieferungen deutscher Mehlbestände an junktimiert. Die effektive Unterstützung des k.u.k. Heeres an seiner Südwestfront durch das »Deutsche Alpenkorps« ab Juni 1915 bis zum Frühjahr 1916 und der deutschen 14. Armee von Ende Oktober bis zum Jahresende 1917 bei der Durchbruchsschlacht in Friaul und Julisch-Venetien gaben der OHL gewichtige Argumente in die Hand. Nach der schweren Niederlage der k.u.k. Truppen bei ihrer am 15. Juni 1918 begonnenen letzten Offensive am Piave die blutigen Verluste betrugen in knapp zehn Tagen 115 000 Mann war klar geworden, daß an der Südwestfront Österreich-Ungarns von nun an nur noch die Defensive die vorherrschende Kampfart sein würde. Aber auch die defensive Operationsführung war schließlich durch die sich täglich verschlechternde Versorgungslage des Sommer 1918 immer schwieriger erfolgreich durchzuführen, auch wenn ein italienischer Großangriff mit Unterstützung der alliierten Kontingente an der Gebirgsfront und in Venetien vorerst noch ausblieb7. Noch während die Offensive am Piave im Gange, ihr Scheitern aber schon absehbar war, forderte am 19. Juni Ludendorff in einem Telegramm an den Deutschen Bevollmächtigten General beim k.u.k. Armeeoberkommando, Generalleutnant August v. Cramon, auf, von einer Wiederholung der Offensive abzusehen. Statt dessen regte er an, Truppen der k.u.k. Monarchie in Stärke von fünf bis sechs zuverlässigen Divisionen an die Westfront zu entsenvon
Österreich-Ungarn
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Dazu genauer Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. und der Erste Weltkrieg, Graz, Wien, Köln 1993, S. 568. Dazu Peter Fiala, Die letzte Offensive Altösterreichs. Führungsprobleme und Führungsverantwortlichkeit bei der österr.-ungar. Offensive in Venetien, Juni 1918, Boppard a.Rh. 1967 (= Militärgeschichtliche Studien, Bd 3).
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den. In diesen Verbänden sollten keine tschechischen Soldaten in nennenswerter Anzahl dienen8. Zwei Tage später war Hindenburg in einem Telegramm an den Generalstabschef des k.u.k. Heeres, Generaloberst, Arthur Frhr. Arz von Straußenburg, bereits zu folgenden Schluß gekommen: »Das Herbeiführen einer Gesamtentscheidung gegen einen sich in Frankreich dauernd verstärkenden Feind bedingt, daß wir alles an anderer Stelle irgendwie entbehrliche hier zusammenfassen. [...] Vom Standpunkt der Obersten Kriegsleitung spreche ich meinen Standpunkt dahin aus, daß die österreichisch-ungarische Armee ihre Angriffe in Itahen einstelle und alle hierdurch verfügbar werdenden Kräfte dem westlichen Kriegsschauplatze zuführt.« Die strategischen Überlegungen in der deutschen OHL, die zu diesem Zeitpunkt angestellt wurden, hatten mit der realen Suche nach erfolgversprechenden strategischen Entscheidungen und operativer Möglichkeiten der Verbündeten nur noch wenig gemein. Oberstleutnant Georg Wetzell hatte in seiner Denkschrift vom 22. Juni 1918, entgegen den allgemeinen Weisungen Ludendorffs an die deutschen Heeresgruppen, verschiedene alternative Möghchkeiten der Operationsführung erörtert. Sie sahen auch in näherer Zukunft eine erneute Schwerpunktverlagerung auf den norditalienischen Kriegsschauplatz vor, da« [...] im Spätherbst selbst mit Unterstützung von k.u.k Truppen noch ein weiterer großer Schlag auf der Westfront wahrscheinlich nicht möglich sein würde, so erwünscht er auch wäre. [...] Mit deutscher Oberführung und einer Anzahl deutscher Generalkommandos, Artillerie-Stäbe und 12 bis 15 aufgefrischten, kampferprobten Westdivisionen, bin ich überzeugt, würden wir dort ein noch größeren Erfolg erzielen als im vorigen Jahre. [...] Zum anderen würde vielleicht die völlige Zertrümmerung der italienischen Armee ermöglicht. Vor allem wäre die Entente wieder gezwungen, mit erheblichen Kräften auszuhelfen. Sie kann dies nur durch Truppen von der Westfront, wahrscheinlich durch amerikanische, von denen ein starker Teil damit an der Hauptfront verschwände. [...] Bei einem entscheidend großen Erfolg muß sogar mit der Möglichkeit gerechnet werden, in der Po-Ebene bis an die italienisch-französische Grenze vorzukommen und die Westfront bis dorthin zu verlängern9.« Diese Überlegungen hatten jedoch völlig den erforderhchen deutschen Kräfteansatz der nun wieder an der Westfront gefehlt hätte und die realen Möglichkeiten der Heere der Mittelmächte negiert. In einer weiteren Denkschrift, die nach der Ablehnung der vorangegangenen Vorschläge durch Ludendorff mit den vorher durch ihn gegebenen und schon erwähnten Weisungen nun völlig korrespondierte, betonte Wetzell wiederum die —
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Möglichkeit, daß nach dem erhofften erfolgreichen Verlauf der eigenen Offensi8
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Der Weltkrieg 1914 bis 1918. Im Auftrage des Oberkommandos des Heeres bearb. und hrsg. von der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres. Die militärischen Operationen zu Lande. Bd 14: Die Kriegführung an der Westfront im Jahre 1918, Berlin 1944, S. 421. Der Weltkrieg (wie Anm. 8), S. 430 f.
Österreich-Ungarn zwischen Engagement und Zurückhaltung
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»unsere Ersatzlage und die uns von Österreich-Ungarn zugeführte ...noch einen großen Schlag auf dem Westkriegsschauplatz vielVerstärkung leicht Mitte September » erlauben würde und damit die Front vor Paris durch die Bindung der französischen Truppen entblößt wäre. Die Denkschrift schloß mit dem Satz: »Fehlt uns die Kraft zu diesem Schlage, so wäre die Entente in Italien anzugreifen10.« Dies bedeutete die Wiederaufnahme seiner Überlegungen in der vorhergehenden Denkschrift und eine inhaltliche mit dem unabhängig davon zufällig am selben Tag vom Chef des österreichisch-ungarischen Generalstabes gestellten Ersuchen nach maßgebhcher deutscher Waffenhilfe für eine neue Offensive des k.u.k Heeres an der Südwestfront in Norditalien. Die bereits völlig erschöpften und weitgehend ausgehungerten deutschen Truppen konnten aber selbst unter der Annahme der erfolgreichen Mitwirkung von aufgefrischten Verbänden des k.u.k. Heeres, dessen Truppen sich allerdings nur mehr für die Defensive eignen sollten, auf keine Erfolge bei Angriffsoperationen hoffen. Ebenso bedeutete allerdings auch die Annahme der militärischen Führung der Mittelmächte, einen entscheidenden Umschwung der militärischen Lage in Italien oder gar in Frankreich herbeiführen zu können, eine weitgehende Überschätzung des eigenen militärischen Potentials und die Verkennung der Möglichkeiten der Alliierten, bereits in wenigen Wochen an praktisch allen Fronten Europas und auch des Nahen Ostens zu kriegsentscheidenden Offensiven anzutreten. Tatsächlich sollte es gerade zum Zeitpunkt des Scheiterns der letzten deutschen Offensive im Raum Reims am 17. und 18. Juli noch zum Eintreffen erster starker Kontingente des k.u.k Heeres an der Westfront kommen. So wurde ab 4. Juli 1918 das k.u.k. XVIII. Korps unter dem Kommando von Feldmarschalleutnant Ludwig Goiginger (Generalstabschef war Oberst Alexander Matsvánszky) mit schließlich insgesamt vier Infanteriedivisionen 1. und 35. Infanteriedivision, die 37. Honveddivision sowie 106. Landsturmdivision an die Westfront verlegt. Zusätzlich wurden auch weitere Artillerieformationen, Ballonkompanien und sogar 15 000 russische Kriegsgefangene in Marsch gesetzt11. Vorerst war vorgesehen, alle vier Divisionen in den Raum Verdun zu entsenden, wo sie mit den Besonderheiten des westlichen Kriegsschauplatzes vertraut gemacht und zur Verstärkung der Feuerkraft mit 200 erbeuteten leichten britischen Maschinengewehren (vom Typ Lewis) je Division ausgestattet werden sollten12. Interessanterweise kamen die im Sommer 1918 bereits massiven nationalen Spannungen in der k.u.k. Armee an der Westfront kaum zum Tragen. Bei einer näheren Betrachtung der nationalen Zugehörigkeit der Angehörigen der eingesetzten Truppen läßt sich ein Übergewicht aus dem siebenbürgischen Raum feststellen. ve
bei Reims
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Übereinstimmung
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Ebd. S. 431 f.
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Österreich-Ungarns letzter Krieg, hrsg. vom Österreichischen Bundesministerium für Lan-
desverteidigung und vom Österreichischen Kriegsarchiv, Bd 7: Das Kriegsjahr 1918, Wien 12
1938, S. 421. Polatschek, Österreichisch-ungarische Truppen (wie Anm. 3), S. 94.
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So bestand die 35. Infantereidivision hauptsächlich aus Soldaten aus Siebenbürgen mit vorwiegend rumänischer Nationalität. In den der 1. Infanteriedivision unterstellten Feldjägerbataillonen 17 und 25 (Ergänzungsbezirk dieser Verbände war Brunn) und dem schweren Feldartillerieregiment 1 (Ergänzungsbezirk Josefsstadt) dienten jedoch entgegen den Intentionen Ludendorffs viele Tschechen. Tatsächlich waren aber in den anderen Regimentern, aus denen sich die vier Divisionen zusammensetzten, nur wenige Tschechen vertreten. Während die Nationalitätenprobleme innnerhalb dieser Verbände weitgehend im Hintergrund blieben, trat ein anderes Phänomen im Sommer 1918 auf. Die Soldaten das k.u.k. Heeres waren bei ihrer Ankunft in Frankreich über die Rufe mancher deutscher Soldaten, mit denen sie als »Kriegsverlängerer« empfangen worden waren, sehr irritiert gewesen13. Zur Lösung der zu erwartenden großen logistischen Probleme wurde die »k.u.k. Etappenstelle West« in Arlon eingerichtet. Während es in den ersten Wochen nach der Ankunft der 1. und 35. Infanteriedivision noch durchaus ruhig gebheben war, begann der seit langem erwartete amerikanisch-französische Großangriff auf den »St. Mihiel-Frontbogen«, der im Bereich der deutschen Armee-Abteilung »C« lag, am 12. September mit stärkster Artillerie- und Luftunterstützung. Die hier eingesetzte k.u.k. 35. Infanteriedivision unter dem Kommando von Generalmajor Gustav Funk (der Divisionskommandant Feldmarschalleutnant Eugen v. Podhoränszky befand sich auf Urlaub) erlitt beim Versuch, den Rückzug der deutschen 192. Infanteriedivision zu sichern und sogar beherrschendes Gelände durch Gegenangriffe wiederzugewinnen, sehr hohe Verluste. Sie betrugen insgesamt 3300 Mann14. Die enorme materielle der Alliierten gegenüber den Truppen der Mittelmächte sollte sich in den folgenden Kämpfen zwischen dem 8. und 11. Oktober im Ornes-Abschnitt erneut beweisen. Hier wurden die Truppen des k.u.k. XVIII.Korps, die nun der deutschen »Gruppe Maas Ost« unterstellt waren, (speziell die 1. ID) in schwerste Kämpfe mit amerikanischen Truppen verwickelt. Obwohl im gemeinsamen Einsatz mit deutschen Verbänden (zum Beispiel dem Füsilierregiment 35 und dem sächsischen IR 103) durch die Zähigkeit der Offiziere und Soldaten des Infanterieregiments Nr. 5 vorübergehend der feindliche Vormarsch auf der Höhe 371 bei Consenvoye örtlich aufgehalten und ein vollständiger Durchbruch der alliierten Verbände verhindert werden konnte, war die Bilanz für die k.u.k. Truppen letztlich niederschmetternd. Nach dem vorläufigen Ende der Kämpfe wurde klar, daß bei weiteren alliierten Angriffen dieser Dimension, die mit ähnlich hohen Verlusten verbunden waren, von den Truppen bald nichts mehr übrig sein würde. —
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Überlegenheit
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Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers (wie Anm. 6), S. 589. letzter Krieg (wie Anm. 11), S. 435; Fritz Franek, K.u.k. Truppen im Österreich-Ungarns Westen. T. 2: Die öst.-ung. Divisionen vor Verdun 1918, in: Militärwissenschaftliche Mittei-
lungen, 62 (1931) S. 413^27.
Österreich-Ungarn zwischen Engagement und Zurückhaltung
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Die Ausfälle der k.u.k. 1. Infanteriedivision, des aus den drei Jägerbataillonen gebüdeten »Kombinierten Jägerregimentes hatten vom 1. bis zum 13. Oktober schon über 5000 Mann betragen, das waren über 55 Prozent der Verpflegsstärke der Division vor Beginn der Kämpfe. Die folgende Unterstellung des Sturmbataülons 106 der 106. Landsturm-Infanterie-Division und des Jägerbataillons 17 was aber auch durch die grassierende sollten die hohen Verluste ausgleichen nicht sollte. gelingen Grippe-Epidemie Ende Oktober 1918 verfügte die 1. Infanteriedivision nur noch über einen Feuergewehrstand d.h. Kampftruppen von 2700 Mann. Wenige Tage später mußten schließlich noch einmal 22 Offiziere und 360 Mann als »gaskrank« aus der Feuerhnie genommen werden. In der zweiten Oktoberhälfte blieb dieser Frontabschnitt jedoch weitgehend ruhig15. Von der 106. Landsturm-Infanteriedivision waren nur Teile (das LandsturmIR 25 und das Sturmbataillon 106) bereits ab 22. September der deutschen 7. Reserve-Division im der »Gruppe Maas Ost« unterstellt worden und kämpften in diesem Abschnitt bis Mitte Oktober gegen amerikanische Verbände. Die 37. Honved-Infanteriedivision, die sich überwiegend aus Ungarn aus dem Raum Preßburg (Poszony) zusammensetzte, war erst in der ersten Septemberhälfte in den Raum südlich von Straßburg verlegt und der Heeresgruppe Herzog Albrecht von Württemberg unterstellt worden. Diese Division kam allerdings nicht mehr zum Einsatz an der Front, sondern wurde hauptsächlich für Arbeiten —
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zum
Stellungsbau verwendet.
16. Oktober hatte Ludendorff erneut die Entsendung von vier weiteren österreichisch-ungarischen Divisionen an die Westfront gefordert, »da die ausschalWitterungsverhältnisse derzeit einen Angriff gegen an die allüerte Offensive der Südwestfront. ten«16. Genau acht Tage später begann In der ersten Novemberwoche wurden die ersten Verbände der k.u.k. Truppen an der Westfront angesichts der kritischen Lage an den anderen Fronten Österreich-
Noch
am
Österreich-Ungarn
Ungarns zur Rückverlegung vorbereitet. Das Korpskommando war bereits am 3. November 1918 nach Arlon und am 10. November nach Diedenhofen verlegt worden. Die österreichisch-ungarischen Divisionen wurden rasch aus der Front herausgezogen und bis 10. November südlich von Diedenhofen versammelt. Bereits hier erfolgte, durch den bereits eingetretenen Zerfall der Habsburgermonarchie in unabhängige Nationalstaaten bedingt, innerhalb der Divisionen eine Trennung in Transportstaffeln nach den nun relevanten nationalen Gesichtspunkten. Nur die räumlich von den anderen Divisionen getrennte 37. Honved -Infanteriedivision wurde bereits bis 16. November im Bahntransport nach Ungarn zurückverlegt. Die kritische Verkehrslage durch den schlagartig notwendigen Rücktransport der Truppen, der das deutsche ebenso wie das ehemals österreichisch-ungarische Bahnnetz in Zentraleuropa völlig überlastete, machte aber für die ehemaligen 15 16
Franek, K.u.k. Truppen (wie Anm. 14), S. 423.
Österreich-Ungarns letzter Krieg (wie Anm. 11), S. 545.
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Wolfgang Etschmann
k.u.k. Verbände den Rückmarsch zum Rhein zu Fuß erforderlich. Erst zwischen dem 18. und dem 25. November erreichten das Korpskommando und drei Divisionen den Raum Karlsruhe-Germersheim. Auch hier war die Transportlage weiterhin kritisch, sodaß der Rückmarsch in weitgehender Ordnung noch bis zum 27. November zum Neckar in den Raum Heilbronn fortgesetzt werden mußte. Die Aussicht, weiter in den Raum Crailsheim marschieren zu müssen, steUte aber nunmehr für die Truppe eine kaum noch zumutbare Belastung dar. In den folgenden zwei Tagen gelang es aber schließlich, den Heimtransport mit der Eisenbahn zu bewerkstelligen. Bis zum Abend des 29. November hatten die letzten Truppen der de facto nicht mehr existierenden »Alten Armee« das Gebiet Deutschlands verlassen17. Der im Gegensatz zu den chaotischen Zuständen an den anderen Fronten der Donaumonarchie organisatorisch weitgehend klaglos und ohne größere Auflösungserscheinungen verlaufende Heimtransport der k.u.k. Verbände von der Westfront im November 1918 wurde bereits zu einem Politikum in der neuentstandenen Republik Deutschösterreich. Der seit Anfang November 1918 amtierende Unterstaatssekretär im Staatsamt für Heerwesen, Julius Deutsch, hatte einen Putschversuch intakt heimkehrender Truppenverbände der »Alten Armee« befürchtet und daher den Vorschlag eingebracht, die Verbände der k.u.k. Armee nicht direkt über das Staatsgebiet Deutschösterreichs zu transportieren, sondern nach Deutschböhmen umzuleiten18. Die Verbände wären jedoch dort mit hoher Wahrscheinlichkeit von Verbänden des neuentstandenen tschechoslowakischen Heeres entwaffnet und aufgelöst worden beziehungsweise soweit dort beheiin den siebenbürgischen Raum weitertransportiert worden. matet Zusammenfassend läßt sich über den Einsatz von Verbänden des k.u.k. Heeres feststellen: Der Einsatz der österreichisch-ungarischen Truppen an der Westfront hatte auf die Ergebnisse der Kämpfe im Spätsommer und Herbst 1918 im Bereich der Heeresgruppe Gallwitz keine nachhaltigen Auswirkungen auf die Kampfhandlungen. Sie konnten den alhierten Vormarsch unter Hinnahme beträchtlicher eigener Verluste19 nur unwesentlich verzögern. Ebenso ist aber auch der Umkehrschluß zulässig, daß der Einsatz dieser Verbände an der Südwestfront keine zugunsten der k.u.k. Armeen bei 24. der alliierten am Offensive Oktober 1918 gebracht hatte. Enorme VerBeginn die bereits mit einem de facto Zusammenbruch der Logistik sorgungsprobleme, der Abmarsch vieler einzelner Soldaten und waren, gleichzusetzen eigenmächtige
Österreich-Ungarns
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Änderung
17 18
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Franek, K.u.k. Truppen (wie Anm. 14), S. 427. Polatschek, Österreichisch-ungarische Truppen (wie Anm. 3) S. 126; Wolfgang Etschmann, Theorie, Praxis und Probleme der Demobilisierung in Österreich 1915-1921, Diss. Wien 1979,
S. 58 f. Die Verluste der österreichisch-ungarischen Truppen an der Westfront betrugen in knapp zwei Monaten 1918 779 Gefallene, 2139 Verwundete, 5403 Kriegsgefangene und Vermißte und 10 974 Kranke. Nach: letzter Krieg (wie Anm. 11), Beilagenbd 7, Beilage 2, Tabelle 1.
Österreich-Ungarns
Österreich-Ungarn zwischen Engagement und Zurückhaltung
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schließlich ganzer Verbände nicht nur überwiegend slawischer Nationalitäten sowie der Abzug der ungarischen Verbände ab 2. November ließen die Auflösungerscheinungen des k.u.k. Heeres an der Südwestfront zum Zusammenbruch werden, der durch einige wenige vorhandene Divisionen sicher nicht mehr aufzuhalten gewesen wäre. Ohne grob simplifizierende Analogieschlüsse ziehen zu wollen, drängt sich auch eine Abwandlung der Beurteilung des Einsatzes von Soldaten der Deutschen Wehrmacht, die aus den damals besetzten Gebieten der Sowjetunion rekrutiert worden waren,in Nordwestfrankreich im Hochsommer 1944 auf: Im Herbst 1918 kämpften in Frankreich im Bereich einer deutschen Heeresgruppe österreichisch-ungarische Soldaten, die in einem hohen Prozentsatz der rumänischen und der tschechischen Nationalität zugehörig waren, gegen französische und amerikanische Truppen. Der Einsatz der k.u.k. Truppen an der Westfront in den Jahren 1914 und 1918 gehört sicher zu den weniger bekannten Ereignissen in der militärischen Geschichte des Ersten Weltkrieges. Er ist aber sicher ein wenn auch nur kleiner Bestandteil einer beabsichtigten, möglichst vollständigen Darstellung der militärischen Ereignisse in der Tragödie des »Großen Krieges« zwischen 1914 und 1918. —
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II
Die militärischen
Operationen
der Entente an der Westfront 1918
Hew Strachan
Einführende
Bemerkungen
Über den Ersten Weltkrieg ist reichlich, wenn nicht sogar überreichlich geschrieben worden. Dennoch vernachlässigten die Historiker die letzten Schlachten an der Westfront. Geht man davon aus, daß die Kämpfe in Frankreich und Flandern dabei den Dreh- und Angelpunkt darstellten, so wurde der Krieg zwischen Juli und November 1918 gewonnen und verloren. Wurden von den Generälen auch fortwährend Lösungen für neue, taktisch schwierige Aufgaben erarbeitet und neue Technologien entwickelt, so zeigte die Masse der Armeen erst in den letzten hundert Tagen ihre operativen Spitzenleistungen. Keine dieser Behauptungen ist unumstritten. Beide verdienen es jedoch, daß anerkannte Wissenschaftler sie bekräftigen. Es überrascht deshalb, daß die geschichtliche Aufarbeitung nicht weiter verfolgt wurde. Diese Tatsache ist zum einen durch die Form und den Zeitpunkt der Veröffentlichung der offiziellen Dokumentationen bedingt. In sechs der vierzehn Bände von »Der Weltkrieg« wird das Jahr 1914 beschrieben, während den Ereigniserst seit 1956 offiziell vorliegender sen des Jahres 1918 nur ein Band gewidmet ist. Großbritanniens kriegs- und militärgeschichtliches Werk »Müitary Operations« wurde mit dem Fortgang des Krieges verfaßt und widmet dem Jahr 1918 zweimal so viel Raum wie den übrigen Jahren, wodurch sich jedoch die Herausgabe verzögerte. Die Bände mit der Berichterstattung über die sogenannten >Hundert Tage< erschienen erst im Jahr 1947. Die Breitenwirkung dieser Publikationen war allerdings begrenzt. Ich habe beispielsweise bislang noch in keiner britischen Bibliothek die Bände 13 und 14 vom deutschen Weltkriegswerk gefunden. Dabei darf natürlich nicht vergessen werden, daß 1945 andere Ereignisse im Mittelpunkt des Interesses standen. Hinzu kommt, daß die Franzosen, die in ihrer offiziellen Geschichtsschreibung die Ereignisse der zweiten Hälfte des Jahres 1918 außer der Reihe im Jahr 1923 in einem ungewöhnlich dünnen Band abhandelten, später wegen Pétain in Verlegenheit gerieten: 1918 war er ein Held, 1944 aber ein Ver—
räter. Die
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wichtigsten Debatten über den Verlauf des Krieges wurden in den Zwischenkriegsjahren geführt. Das Vorhandensein einschlägiger offizieller Berichte hatte zur Folge, daß der ersten Marneschlacht mehr Aufmerksamkeit als der zweiten gewidmet wurde. Wer sich mit späteren Kriegsphasen beschäftigte, konnte kaum auf Publikationen offizieller Historiker zurückgreifen, sondern war auf andere, oft eher polemische Autoren angewiesen. Im englischsprachigen Raum war der Einfluß von Basil Liddell Hart ungeheuer groß. Seine erstmals 1930 unter dem Titel »The Real War« veröffentlichte Geschichte des Ersten Weltkrieges ist seit-
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Hew Strachan
dem immer wieder verlegt worden. Liddell Hart schwieg sich beinahe völlig über die Schlachten zwischen Juh und November 1918 aus. Seine Entschuldigung dafür lautete, aus Siegen könne man weniger als aus Niederlagen lernen1. Indirekt ver-
er damit seine anglozentrische Befangenheit, da den Deutschen mit diesen Schlachten ganz eindeutig Niederlagen zugefügt worden waren. Gleichzeitig beabsichtigte er damit, sich mit der britischen Generalität auseinanderzusetzen. Wenn Douglas Haig den Anspruch erhob, als großer Truppenführer gewürdigt zu werden, dann wegen der letzten hundert Tage des Krieges. Wenn Liddell Hart es ablehnte, sich mit diesen Schlachten zu beschäftigen, brauchte er auch seine eigene vorgefaßte Meinung nicht in Frage zu stellen. In den Zwischenkriegsjahren plädierte Liddell Hart für die Rückkehr zu kleinen Berufsarmeen, die ihre Ziele durch schnelle Bewegungen und deren psychologische Auswirkungen auf das Denken eines Truppenführers erreichen sollten. So war im Jahr 1918 nicht gekämpft worden. Die Massenarmeen der Entente mit ihren Wehrpflichtigen konnten einen großen Sieg nur erringen wegen ihrer materiellen Überlegenheit, besonders im Bereich der schweren Artillerie, und aufgrund deren fortschrittlichen Einsatzes. Es wurden eine Reihe begrenzter Angriffe vorgetragen, die für sich betrachtet keine Umfassung oder keinen Durchbruch zum Zweck hatten, sondern ihre operativen Ziele aufgrund ihrer Gesamtwirkung erreichten. Und alle diese Leistungen waren eine Folge der Abstimmung zwischen den Alliierten und der unermüdlichen Arbeit der Stäbe und wurden keineswegs von der inspirierten und heldenhaften Führung vollbracht, von der Liddell Hart so eingenommen war. Die in der zweiten Hälfte des Jahres 1918 auf militärischer Ebene geführte zentrale Debatte beschränkt sich letzthch auf zwei Alternativen: Haben die Alliierten den Krieg gewonnen, oder erlebten die Mittelmächte einen Zusammenbruch? Von Geschichtswissenschaftlern wird die Polarität, die sich aus einer solch undifferenzierten Fragestellung ergibt, zumeist zu Recht abgelehnt. In Wirklichkeit liegt die Wahrheit wahrscheinlich in der Mitte. Eine Diskussion darüber ist allerdings dennoch aufschlußreich. Das Argument, die Mittelmächte hätten einen inneren Zusammenbruch erlitten, beruht zwar auf den Annahmen der Dolchstoßlegende, läßt sich aber deshalb nicht einfach von der Hand weisen. Die deutschen Kampftruppen waren Anfang Oktober 1918 immer noch intakt; die Fronttruppen konnten die Verteidigung über längere Zeiträume wirksam aufrechterhalten und standen noch weit jenseits der Grenzen auf französischem Boden2. Die alliierten Truppen erlitten dagegen mehr Ausfälle nach der Rückkehr zur offenen, beweglichen Kampfführung: Die Schüt-
rät
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Hew Strachan, >The Real WarMentalitätDas Problem der Desertion in den deutschen und britischen Armeen 1918< von Dr. Christoph Jahr anläßlich der 40. Internationalen Konferenz. Vgl. auch im vorliegenden Band, S. 241-271: Christoph Jahr, Bei einer zerschlagenen Armee ist der Klügste, wer zuerst davonläuft. Das Problem der Desertion in deutschen und britischen Armeen. Über die Intensität eines noch bis zum 4. November von einigen deutschen Verbänden geleisteten Widerstands berichtet: Major General Sir Archibald Montgomery, The Story of The Fourth Army in The Battles of The Hundred Days, August 8th To November 11th 1918, London 1919, S. 247-256. Hinsichtlich der Bitte Groeners um einen Waffenstillstand zur Vermeidung des Zusammenbruchs der deutschen Streitkräfte wird verwiesen auf R.B. Asprey, The German High Command At War: Hindenburg And Ludendorff Conduct World War I, New York 1993, S. 479-485.
Das britische Expeditionsheer
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stellten, so muß man diese Truppen genau unter die Lupe nehmen, um die deut-
sche Niederlage zu verstehen. Die vorliegende Studie untersucht die Rolle eines dieser Verbände, nämlich des britischen Expeditionsheeres. Das britische Expeditionsheer war tatsächlich eine große Heeresgruppe, die fünf Armeen und während der letzten Kampagne etwa 61 aktive Divisionen umfaßte11. Sprechen die Deutschen zuweilen auch nur von den Engländern, war das britische Expeditionsheer letztlich ein multinationales Truppenkontingent, dem 1918 nicht nur englische, schottische, irische und walisische Soldaten von den britischen Inseln angehörten, sondern auch Truppen aus Australien, Kanada, Neuseeland, Südafrika, Portugal und Amerika, die unter ihrer eigenen nationalen Flagge kämpften. Befehlshaber des britischen Expeditionsheeres war ein Schotte, Sir Douglas Haig, der seine Weisungen in erster Linie von der Regierung in London empfing, an deren Spitze ein Waliser stand. Haig war jedoch ebenfalls, wenn auch in geringerem Maße, abhängig von all den Dominionregierungen, die ihm Truppen zur Verfügung gestellt hatten12. Das britische Expeditionsheer war zu keinem Zeitpunkt der größte Truppenverband der Alliierten an der Westfront. Dieser wurde stets von den Franzosen gestellt. Die Franzosen hatten natürlich auf allüerter Seite 1914,1915 und in der ersten Hälfte des Jahres 1916 die größte Leistung erbracht. Erst ab dem Sommer des Jahres 1916 begann das britische Expeditionsheer eine etwa vergleichbare Rolle zu spielen. Zum Zeitpunkt des Waffenstillstands war das britische Expeditionsheer zahlenmäßig nicht so stark wie die französischen Truppen an der Westfront und die amerikanischen Expeditionskräfte, und es hielt auch nur einen kürzeren Frontabschnitt als diese beiden Truppenverbände. Trotzdem war das britische Expeditionsheer der Verband auf der alliierten Seite, der im Verlauf des Jahres 1918 die größte Offensivkraft unter Beweis stellte13. Trotz der wachsenden Zahl und zunehmender Erfahrung auf seiten der Amerikaner war das britische Expeditionsheer am 11. November 1918 immer noch der kampferprobteste Verband unter dem Befehl von Marschall Ferdinand Foch. In der Zweiten Marneschlacht im Juli 1918 spielten die französischen Truppen eine ausschlaggebende Rolle für die Wende des Kriegsglücks14 und lancierten noch bis zum Waffenstillstand Offensiven. Von Juli 1918 an waren die französiwenn man schen Truppen jedoch weitgehend erschöpft berücksichtigt, daß —
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J. Edmonds and R. Maxwell-Hyslop, Military Operations: France and Belgium 1918, vol. 5, London: His Majesty's Stationary Office 1947, S. 615; Haigs Tagebücher, Eintrag vom 27.8.1918, Public Record Office (PRO) 256/35. Haigs Tagebücher (siehe Anm. 11), geben am besten Aufschluß über den Druck, unter welchem er seine Operationen in der zweiten Hälfte des Jahres 1918 durchführte.
Auf diesen Punkt wird ausführlicher eingegangen in der Zusammenfassung des vor kurzem erschienenen Buches des Autors: Amiens To The Armistice: The British Expeditionary Force in the Hundred Days' Campaign, 8 August-11 November 1918, London 1998. Ein neuerer Bericht über diese entscheidende Schlacht ist enthalten in P. Greenwood, The Second Battle Of The Marne, Shrewsbury 1998, passim.
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J.P.Harris
Frankreich in diesem Krieg prozentual zur Einwohnerzahl mehr Gefallene als jede andere Großmacht zu verzeichnen hatte, ist das auch kaum überraschend. Die amerikanischen Expeditionskräfte waren dagegen verhältnismäßig frisch und begeistert (zumindest bis mitten in den Herbst hinein), aber unerfahren und ungenügend ausgebildet. Sie waren im allgemeinen taktisch noch recht unerfahren, und ihre logistische Unterstützung war erkennbar unzureichend15. Die Amerikaner hatten als Antwort auf die verzweifelten Hilferufe ihrer Verbündeten innerhalb der wenigen Monate, die sie am Krieg teilgenommen hatten, eine Massenarmee mobilisiert. Schwächen waren bei diesem Vorgehen unvermeidlich. Man könnte jedoch behaupten, daß diese durch eine gewisse Arroganz auf seifen Pershings noch verschlimmert wurden, denn er hat seine Truppen daran gehindert, einen Vorteil aus den taktischen Erfahrungen der Alhierten zu ziehen. Nachdem das britische Expeditionsheer in den Zermürbungsschlachten 1916 und 1917 furchtbare Verluste erlitten hatte, hatte es während der deutschen Frühjahrsoffensiven 1918 weitere Schläge hinnehmen müssen. Aber es hatte überlebt. Im Spätsommer und im Herbst 1918 war das britische Expeditionsheer insgesamt weniger geschwächt als die französischen Streitkräfte nachdem die Deutschen im Mai den Schwerpunkt ihrer offensiven Vorstöße vom britischen Expeditionsheer auf die französischen Armeen verlagert hatten, war dem britischen Expeditionsheer bis zum August drei Monate lang eine relativ ruhige Zeit zur Erholung vergönnt gewesen. Das britische Expedititonsheer war außerdem weit erfahrener, schlachtenerprobter und operativ, taktisch und logistisch geschulter als die amerikanischen Expeditionskräfte. Die Bedeutung des britischen Expeditionsheeres in den offensiven Operationen zwischen Juli und November 1918 wird aus der folgenden Übersicht über Kriegsgefangene und erbeutete Geschütze ersichtlich16: —
Kriegsgefangene Britische Armeen Französische Armeen Amerikanische Armeen Belgische Armeen
188700 139 000 43300 14000
erbeutete Geschütze 2840 1880 1421 474
Wie jede Statistik, muß auch die obige mit einigem Vorbehalt betrachtet werden. Darin werden der amerikanische Beitrag unter- und der britische und der französische Beitrag entsprechend überbewertet. Die amerikanischen Divisionen spielten in der Zweiten Marne-Schlacht, in der sie unter französischem Befehl kämpften, eine wichtige Rolle. Die Zahl der dabei gemachten Gefangenen wurde den französischen Armeen gutgeschrieben. Zwei amerikanische Divisionen standen 15
16
Bezüglich der amerikanischen Schwächen siehe D. Smythe, Pershing, General Of The Armies, Bloomington 1986, S. 197-200.
Hierbei handelt es sich um die Zahlenangaben, die im letzten Band des offiziellen britischen Geschichtswerkes enthalten sind.
Das britische Expeditionsheer
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Ende September bis Mitte Oktober während der Operationen der Vierten Britischen Armee ihren Mann17, und die von ihnen gemachten Gefangenen sind in der Gesamtzahl der Gefangenen auf seifen der britischen Armeen erfaßt. Was die einzelnen Beiträge der britischen, französischen und belgischen Armeen zu den abschließenden Offensiven an der Westfront anbelangt, spiegeln die obigen Zahlen dennoch recht gut die jeweüigen Leistungen wider. Die Hundert-Tage-Schlacht wie die beinahe ununterbrochene Serie von Angriffen des britischen Expeditionsheeres, die am 8. August 1918 begannen und mit dem Waffenstillstand endeten, von britischen Militärhistorikern18 zuweilen benannt wird war im Ausmaß und in der Intensität die größte Operation in der britischen Militärgeschichte. Es spricht vieles dafür, daß in dieser Operation Bodentruppen unter britischer Führung den größten Einfluß auf die Weltgeschichte im 20. Jahrhundert ausgeübt haben. So ist es befremdlich, daß diese Operation im nationalen Bewußtsein der Briten so gut wie keine Spuren hinterlassen hat. Bis zum heutigen Tag ist die Erinnerung des Volkes geprägt von Bildern des scheinbar sinnlosen Leidens und Sterbens in der Somme-Schlacht von 1916 und in den Kämpfen in Handern 1917. Da nur eine Handvoll von Militärhistorikern in Großbritannien und im Commonwealth das Ausmaß der Leistungen des britischen Expeditionsheeres im Spätsommer und Herbst 1918 zu verstehen scheint, überrascht es kaum, daß diese in anderen Ländern ebenfalls wenig Anerkennung finden. In den Vereinigten Staaten wird beispielsweise noch immer die Ansicht vertreten, die Deutschen seien praktisch die einzigen gewesen, die sich in den Jahren 1914 bis 1918 auf dem Schlachtfeld hervorgetan haben. Die Briten werden wegen ihrer Ungeschicklichkeit zumeist nur spöttisch belächelt19. Tatsächlich hatten Großbritannien und die Dominions, also Gesellschaften, die im Frieden weit weniger militarisiert gewesen waren als Deutschland unter den Hohenzollern, bis 1918 Streitkräfte aufgestellt, die nicht nur aufgrund ihres Kampfgeistes, sondern auch aufgrund ihrer Professionahtät einen bemerkenswerten Stand erreicht hatten. Ihre Verwaltung, ihr Nachrichtendienst und ihre Logistik waren sehr fortschrittlich. Auch technisch, taktisch und operativ waren diese Streitkräfte sehr innovativ. Sie waren in bestimmten Bereichen der Kriegskunst sogar den Deutschen überlegen. Meine Ausführungen zum britischen Expeditionsheer werden sich zumeist mit den Kampftruppen beschäftigen. Die Fähigkeit, offensive Operationen mit großen Truppenkontingenten über lange Zeit durchzustehen, verdankt das britische Expeditionsheer jedoch weitgehend seiner Verwaltung und Logistik. von
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Aussagen über das amerikanische Second Corps sind nachzulesen bei Montgomery, The Story of the Fourth Army (wie Anm. 10), S. 138-229. Der Ausdruck >die Schlachten der hundert Tage< wurde schon 1919 von Montgomery benutzt, The Story of the Fourth Army (wie Anm. 10), passim. Er wurde wahrscheinlich gebraucht in Anlehnung an die dramatischen Ereignisse des Jahres 1815, mit deren militärgeschichtlichem Hintergrund Berufsoffiziere zumeist vertraut waren. So beispielsweise Bruce I. Gudmundsson, Stormtroop Tactics: Innovation In The German Army, 1914-1918, New York 1989, S. 175.
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J. P. Harris
Das folgende Zitat aus einem Werk über die Geschichte der 36. Division (Ulster), das unmittelbar nach dem Krieg von einem der fähigsten und produktivsten Historiker verfaßt wurde, läßt erkennen, wie differenziert die Arbeitsweise dieser Organisation am Ende der Stellungskriege im Jahr 1917 geworden war: »Die britische Kriegsorganisation lief zu diesem Zeitpunkt sicherlich überraschend
reibungslos. Wurde für den Grabenkampf etwa eine ausgefallene und komplizierte Lewis-Geschützlafette benötigt, so konnten durch Absetzen einer Nachricht und mit Blaupausen für eine Werkstatt hinter den Linien 100 Stück binnen einer Woche geliefert werden. Unzählige Abzüge einer vergrößerten Hugzeugaufnahme, die dringendst für einen überfallartigen Angriff benötigt wurden, konnten innerhalb von 24 Stunden in Albert hergestellt werden. Gab es beim Verpflegungsnachschub auch nur die geringste Störung, war dies eine Woche lang Gesprächsgegenstand. Das Feldpostamt vollbrachte Wunder ohne Ende [...]. Die Briefe für die Männer in der Sappe [der vordersten Grabenlinie im Niemandsland] trafen in zwei, höchstens drei Tagen dort
ein20.« In der Hundert-Tage-Schlacht hatten sich die
Verwaltung und die Logistik des britischen Expeditionsheeres ungewöhnlich rasch an die ungewohnte Mobihtät dieser Operation anpassen müssen. Obwohl bestimmte Armeen während dieser Operation mehrere Versorgungspausen einlegen mußten21, konnte der Vorstoß jeweils binnen etwa einer Woche mit vollem Nachdruck fortgesetzt werden. Die Spitzenstellung des britischen Expeditionsheeres in der Entwicklung der Kampftruppen ist bei den Panzerkräften ganz augenfällig und deshalb auch in der Forschung am wenigsten umstritten. Spielten Panzertruppen 1918 auch noch eine verhältnismäßig untergeordnete Rolle, bietet es sich doch an, diese an den Anfang der vorhegenden Untersuchung zu stellen. Die Briten hatten beim Ersteinsatz von Panzern an der Somme am 15. September 1916 einen etwa sechsmonatigen Vorsprung vor ihren französischen Verbündeten. Den Briten gelang es auch erstmahg, Panzer so einzusetzen, daß die Wirkung wirklich drastisch war, und zwar am 20. November 1917 in Cambrai, wo beinahe 500 Panzer zum Einsatz gelangten. Bis Mitte 1918 hatten die Briten gepanzerte Fahrzeuge in beachtlicher Vielfalt entwickelt. Sie verfügten nicht nur über schwere Panzer (Mark IV und V) für Durchbrüche sowie leichtere Panzer (Mark A »Whippet«) und Panzerwagen zur Ausnutzung von Erfolgen, sondern auch über gestreckte Panzer (Mark V), die als Mannschaftstransportwagen eingesetzt werden konnten, sowie über mit Funkgeräten ausgestattete und als Funkstationen dienende Panzer, Versorgungspanzer und sogar einige Brückenlegepanzer. Die Briten hatten den Einsatz von mehreren tausend Panzerfahrzeugen für einen Durchbruch in die Tiefe der feindlichen Linien ins Auge gefaßt, wenn sich der Krieg bis 1919 hingezogen hätte. Obwohl der Einsatz französischer Panzer im Juni und Juli 1918 eindrucksvoll war, gelang den Briten in diesem Krieg die größ20
21
Cyril Falls, The History of the 36th (Ulster) Division, London 1922, S. 137. Die Vierte Armee mußte eine solche längere Pause vor dem Angriff über die Seile am 17. Oktober 1918 einlegen. Montgomery, The Story of the Fourth Army (wie Anm. 10), S. 195-208.
Das britische Expeditionsheer
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Zusammenziehung von Panzerfahrzeugen für eine einzige Operation. Weit Kampffahrzeuge wurden für die Schlacht von Amiens am 8. August 1918 bereitgestellt und mit nachhaltiger Wirkung eingesetzt22. Weit wichtiger als die Panzerwaffe war die Artillerie. Oberstleutnant J.F.C. Fuller, Chef des Stabes des Panzerkorps, versuchte seine Offizierskollegen im Stab te
über 500 gepanzerte
während der Dritten Schlacht von Ypern anzuspornen, indem er ihnen versicherte, dies sei die letzte große Artillerieschlacht. Er hätte sich kaum gründlicher täuschen können. In den letzten vier Monaten behauptete sich das britische Expeditionsheer sowohl durch Feuer als auch durch taktische Bewegungen. In Großangriffen versuchte es jedoch stets, die Infanterie so bezeichnet von einem deutschen mit einem Stahlgewitter zu unterstützen Offizier, der die Auswirkungen oft zu spüren bekommen hatte23. Ende Oktober, Anfang November 1918 verfeuerte allein das kanadische Korps binnen weniger Tage mehr Geschosse als die beiden kriegführenden Parteien im Südafrikanischen Krieg (Burenkrieg) in den Jahren 1899-190224. Aber nicht nur die Zahl der abgefeuerten Geschosse war beeindruckend. Die Treffsicherheit der Artillerie des britischen Expeditionsheeres hatte sich seit dem Verhängnis vom 1. Juli 1916 erheblich verbessert, was auf die zunehmende Verfeinerung der Vermessungsmethoden, die exakte Gewichtsbestimmung der Geschosse um sicherzustellen, daß alle Geschosse einer bestimmten Charge genau dasselbe Gewicht und somit dieselben ballistischen Eigenschaften hatten —, die >Kalibrierung< der einzelnen Geschütze (= genaue Messung der Mündungsgeschwindigkeit und Berücksichtigung von Toleranzen im Hinblick auf die Rohrabnutzung) und die sorgfältige Nutzung meteorologischer Daten zurückzuführen war. Ebenso wichtig war, daß die Qualität der verfügbaren Geschosse sehr nachhaltig verbessert worden war25. Obwohl der Deutsche Bruchmüller 1918 durch seine Innovationen zu Ruhm gelangte, waren die britischen Artillerieverfahren in einigen Bereichen fortschrittlicher als die noch in den ersten Monaten desselben Jahres von dem berühmten deutschen Artilleristen angewandten Methoden, wie sich in der Hundert-Tage-Schlacht deutlich zeigte. Im Jahr 1918 war die Artilleriebekämpfung die wichtigste Rolle der schweren britischen Artillerie, die über 60-Pfünder-Hochgeschwindigkeitsgeschütze und eine ganze Reihe von Haubitzen (6 Zoll und mehr) verfügte. Sie war äußerst wirkungsvoll und dies scheint auch für die französische Artillerie zuzutreffen. Trotz der überwältigenden Geschützzahl, die Bruchmüller zur Eröffnung der ein—
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22
23
24
25
Allgemeine Ausführungen über Entwicklung und Einsatz britischer Panzerkräfte im Ersten Weltkrieg sind nachzulesen bei J.P. Harris, Men, Ideas and Tanks: British Military Thought
and Armoured Forces 1903-1939, Oxford 1995, S. 1-194. Die Formulierung ist natürlich abgeleitet aus dem Titel von Ernst Jüngers berühmten Memoiren In Stahlgewittern (1920). S.B. Schreiber, Shock Army Of The British Empire: The Canadian Corps In The Last 100 Days Of The Great War, New York 1997, S. 121-125. Details über die Einsatzgrundsätze der britischen Artillerie sind nachzulesen bei P. Griffith, Battle Tactics Of The Western Front: The British Army's Art of Attack 1916-18, New Haven, Conn. 1994, S. 135-158.
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zelnen deutschen Offensiven von März bis Juli zusammengezogen hatte, waren bis Ende Juli 1918 schon eine große Anzahl der deutschen Geschütze durch alliiertes Geschützfeuer zerstört worden. Teilweise ist die Wirksamkeit der 1918 von den Briten durchgeführten Artilleriebekämpfung auf die große Luftüberlegenheit der Alliierten über der gesamten Westfront zurückzuführen. Die wichtigste Hilfe für die Zielerfassung waren für die schwere Artillerie wie die Feldartillerie die Luftaufnahmen und die >Artillerieortung< durch die mit Funk ausgestatteten Luftfahrzeuge. Die Royal Air Force (wie die britischen Luftstreitkräfte seit dem 1. April 1918 offiziell heißen) hat sich in beiden Rollen Verdienste erworben. Aufnahmen von sehr hoher Qualität standen den britischen Stäben in vielen Lagen zur Verfügung, und die britischen Nachrichtenoffiziere waren Experten auf dem Gebiet der Luftbildauswertung geworden. Von erheblicher Bedeutung für die Artilleriebekämpfung war die Schallmeßtechnik, d.h. die Verwendung von Mikrophonen zur Ortung von feindlichen Batteriestellungen. Die Briten hatten diese Technik außerordentlich weit entwickelt und darin bestimmt schon größere Fortschritte erreicht als die Deutschen. Obwohl die schwere Artillerie des britischen Expeditionsheeres deutsche Geschütze tatsächlich in erheblicher Zahl zerstörte, war dies bei der Unterstützung großangelegter Infanterieangriffe nicht das Hauptziel. Es ging vielmehr um die Unterdrückung des deutschen Geschützfeuers bis zum Überrollen der feindlichen Geschützstellungen. In dieser Rolle war die britische Artillerie besonders wirksam, wenn das Wetter unmittelbar vor dem Angriff gut genug für eine detaillierte Luftbildaufklärung durch die Royal Air Force war26. Die mit 18-Pfündern und 4,5-Zoll-Haubitzen ausgestattete Feldartillerie des britischen Expeditionsheeres war ebenfalls äußerst wirkungsvoll. Im Bedarfsfall konnte die Feldartillerie vor einem Infanterieangriff unter Verwendung des mit einem Sprenggeschoß gekoppelten empfindlichen Aufschlagzünders 106 Drahtkorn einsetzen, was wirkungsvoller war als der bis zur Somme-Schlacht 1916 allgemein übliche Schrappnelleinsatz. Die wichtigste Rolle der Feldartillerie bei großen Angriffen war jedoch die Unterdrückung des feindlichen Maschinengewehr- und Gewehrfeuers, üblicherweise durch >Sperrfeuer< eine Form des Niederhaltungsfeuers, das aus einer durch Geschosse gebildeten >Wand< vor (und manchmal an den Flanken) der angreifenden Infanterie bestand. Die vom britischen Expeditionsheer am Beginn großer Angriffe bevorzugte Art des Sperrfeuers war die >FeuerwalzeUmfassen< des Sperrfeuers britischen
26
Ebd.; J. Bailey, British Artillery in The Great War, in: British Fighting Methods in the Great War, ed. by P. Griffith, Ilford 1996, S. 37-43.
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bezeichnet wurde. Dabei wurde die Absicht verfolgt, den Infanteristen aus Großbritannien und den Dominions den Vorstoß bis zu den Gräben oder Zieltrichtern der Deutschen, (in die sie sich durch das Sperrfeuer hatten zurückziehen müssen) zu ermöglichen, bevor sie mit ihren Gewehren und Maschinengewehren wieder auftauchten. Auf diese Weise konnten die britischen Soldaten den deutschen Schützen mit dem Bajonett oder mit Granaten beikommen. Ab April 1917 bestanden die Feuerwalzen des britischen Expeditionsheeres oft aus einer Mischung, d.h.
einem großen Teü von Nebelgeschossen sowie einer Anzahl von Sprenggeschossen oder Schrapnellen bzw. einer Kombination davon. Im allgemeinen wurden von der Artillerie die eindrucksvollsten Leistungen am ersten Tag eines Großanwenn alle Geschütze auf ihre Ziele griffs vollbracht, gerichtet waren und ein detaillierter Feuerplan vorlag. Bei den beweglicheren Operationen, die einem Einbruch in eine feindhche Stellung folgten und die für Verfolgungsgefechte kennzeichnend waren, war die zwar immer noch wichtige Artülerieunterstützung der Infanterie naturgemäß weniger wirkungsvoll. Die Motivation, mit welcher die Feldgeschützbesatzungen die Infanterie unterstützten, war jedoch kaum, wenn überhaupt, in Zweifel zu ziehen. Bei beweglichen Operationen wurden einige Geschütze weit nach vorn gebracht, auch auf die Gefahr hin, daß die Geschützbesatzungen dem Feuer von Handfeuerwaffen und Maschinengewehren ausgesetzt wurden. Zuweüen wurde der Feind von Feldgeschützbesatzungen auch unmittelbar unter Beschüß genommen27. Während Bruchmüller in den deutschen Offensiven im Frühjahr 1918 mehrstündiges Vorbereitungsfeuer organisierte, hatten die Briten in ihrer letzten großen Offensive vor Cambrai am 20. November 1917 ganz auf Vorbereitungsfeuer verder Deutschen zu erzielen. Sie setzzichtet, um eine größtmögliche ten erst zur Stunde Null ihres Infanterieangriffs mit intensivem Artilleriefeuer ein. Mit derselben Absicht hatten sie die zahlreichen, zur Unterstützung des Angriffs der Dritten Armee in dieses Gebiet verlegten Artilleriebatterien stumm gerichtet. Der Erfolg dieses >stummen Richtens< der Geschütze hing davon ab, wie präzise die Vermessungstrupps des britischen Expeditionsheeres die Stellungen von neu in dieses Gebiet verlegten Batterien orten konnten, außerdem von der Kalibrierung der Geschütze vor Beziehen der Stellungen, so daß Korrekturen entsprechend der Rohrabnutzung erfolgen konnten. Ebenso wichtig waren regelmäßige Wetterberichte zur Nachführung je nach Windgeschwindigkeit und Windrichtung, atmosphärischem Druck, Feuchtigkeit und aufgrund anderer Parameter, von denen die Flugbahn von Geschossen beeinflußt wird. Wenn die schwere Artillerie zur Artilleriebekämpfung eingesetzt wurde, mußten die Ziele anhand von Luftaufnahmen und mit Schallmessung genau erfaßt werden. Die Briten erzielten durch die von ihnen am ersten Tag der Schlacht von Cambrai angewandten Verfahren einen verhältnismäßig großen Sie konnten bis zu vier Meüen vorstoßen. Sie verbissen sich dann zu lange in ihre —
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Überraschung
Überraschungseffekt.
Griffith, Battle Tactics (wie Anm. 25), S. 135-158.
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Offensive und mußten sich zehn Tage später einem schweren Gegenangriff stellen. Keine der beiden Parteien konnte aus dieser Schlacht einen klaren Vorteil ziehen. Nach Cambrai verloren die Alliierten ihren Schwung an der Westfront. Aber die zum Erzielen einer Überraschung am ersten Tag der Schlacht von Cambrai angewandten Verfahren, d.h. der Verzicht auf Vorbereitungsfeuer und das stumme Richten, wurden von Haig, seinen Generälen und ihren Stäben als zweckdienlich erkannt und trugen dann entscheidend zum dramatischen Sieg der Vierten Armee am 8. August 1918 bei. Die Fähigkeit der Artillerie des britischen Expeditionsheeres, starkes Feuer mit hinreichender Genauigkeit und praktisch ohne Vorwarnung abzugeben, war tatsächhch für viele ihrer Erfolge während der Hundert-Tage-Schlacht ausschlaggebend. Es kann behauptet werden, daß sie dadurch sogar gegenüber den fortschritthchsten deutschen Verfahren im Vorsprung war28. Das zahlenmäßig stärkste Kontingent stellte in allen Armeen natürlich die Infanterie. Die besten Infanterietruppenteile des britischen Expeditionsheeres konnten sich zweifellos mit allen anderen an der Westfront eingesetzten Infanterietruppen messen. Man kann sogar behaupten, auch wenn diese Behauptung vielleicht anfechtbar ist, daß 1918 die durchschnittliche taktische Kompetenz der Infanterie des britischen Expeditionsheeres die des deutschen Heeres übertraf. Bevor Vergleiche gezogen werden, ist es nützlich, kurz auf Gliederung und Einsatz der deutschen Infanterie im Jahr 1918 einzugehen. Die Deutschen, die aufs Ganze gesehen mit der Professionalität ihrer Infanterie Schwierigkeiten hatten, teilten wie allgemein bekannt ist ihre Truppen vor den großen Frühjahrsoffensiven 1918 in >mobile Divisionen< und >Stellungsdivisionen< auf. An der Spitze der mobilen Divisionen standen, sofern möghch, Sturmtruppen, die Elite des deutschen Heeres. Die Einsatzgrundsätze der Sturmtruppen waren äußerst fortschrittlich. Sie forderten von den Sturmtruppen, so schnell und so weit wie möglich vorzustoßen, wobei sie in verhältnismäßig kleinen Gruppen operierten und starke Widerstandszentren umgingen. Dabei nahmen sie kaum Rücksicht auf die Vorgänge an ihren Flanken. Diese >heldenhaften< Einsatzgrundsätze schienen sich anfänglich glänzend zu bewähren und halfen dem deutschen Heer, so viel Boden zu gewinnen, wie es keiner der kriegführenden Parteien seit 1914 gelungen war29. Bis vor kurzem ließen sich Mihtärhistoriker durch die hervorragenden Qualitäten der Sturmtruppentaktik und die anfänglichen operativen Erfolge, besonders der Michael-Offensive, so blenden, daß die Probleme nicht ausreichend beachtet wurden, welche die Deutschen mit der allgemeinen Qualität ihrer Infanterie und den Fehlern in ihrem modus operandi hatten. —
28 29
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Simpson, The Evolution Of Victory: British Battles On The Western Front 1914-1918, Brighton 1995, S. 105-114. Eine interessante Erörterung der Einsatzgrundsätze der Sturmtruppen ist nachzulesen bei P. Griffith, Forward Into Battle: Fighting Tactics From Waterloo To Vietnam, Kingston upon Thames 1981, S. 80-86. Eine gründlichere Studie über dieses Thema ist enthalten in Gudmundsson, Stormtroop Tactics (wie Anm. 19). A.
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Das britische Expeditionsheer
Dieses Mißverständnis ist jedoch in gewissem Maße durch die in jüngerer Zeit erschienene Literatur relativiert worden. Zuallererst muß man sich darüber im klaren sein, daß die Sturmtruppenelite eine kleine Minderheit der deutschen Infanterie darstellte, und daß die taktischen Grundsätze der restlichen Infanterietruppen der mobilen Divisionen, die den Auftrag hatten, den Sturmtruppen nachzustoßen und den Durchbruch zu vollenden, oft äußerst rudimentär waren. In britischen Berichten heißt es, diese nachfolgenden Kräfte seien in großen ungeordneten Haufen vorgedrungen. Deshalb waren sie leicht verwundbar durch feindliche Artillerie, Maschinengewehr- und Gewehrschützen, die das Glück hatten, das deutsche Vorbereitungsfeuer überlebt zu haben und von den Sturmtruppen umgangen worden zu sein. Zweitens waren die Einsatzgrundsätze der deutschen Sturmtruppen waghalsig, wenn nicht gar tollkühn. Sie führten unausweichlich zum schnellen Verschleiß der begrenzten Zahl bestens ausgebildeter und hochmotivierter Infanteristen und besonders der jungen Offiziere und Unteroffiziere, die über außergewöhnliche Führungsqualitäten verfügen mußten, um die Stoßkraft der Angriffe aufrechtzuerhalten. Diese Elitetruppe mußte aufgrund ihrer taktischen Vorgehensweise rücksichtslos ohne die unmittelbare Unterstützung einer Feuerwalze und ohne die programmierten, in überschlagendem Einsatz auf festgelegten Führungslinien folgenden Staffeln, auf welche die britische Seite bei Angriffen nicht verzichtete, vorrücken. Die offensiven Verfahren des deutschen Heeres führten zu einem Verschleiß seiner begrenzten Ressourcen an hervorragend ausgebildeten und motivierten Infanteristen und besonders der besten jungen Offiziere und Unteroffiziere und zwar in einem Umfang, der höchstens durch den umfassenden Sieg innerhalb kürzester Frist hätte gerechtfertigt werden können. Als dieser ausblieb, mußten die Deutschen Abwehrgefechte mit Infanterietruppen führen, die an Qualität noch mehr als an Quantität eingebüßt hatten30. Das britische Expeditionsheer teilte seine Infanteriedivisionen nie offiziell in der von deutscher Seite praktizierten Art in Stellungs- und mobile Divisionen auf, obwohl wie ein angesehener britischer Militärhistoriker jüngst nachgewiesen hat intern eine Unterteilung nach denselben Gesichtspunkten vorgenommen wurde31. Das britische Expeditionsheer hat jedoch selten so viel von seinen besten Infanteristen wie die Deutschen von ihren Sturmtruppen gefordert. Sogar die äußerst entschlossenen und aggressiven australischen Infanterietruppen hatten gewisse Vorbehalte gegen Einbruchsoperationen in vorbereitete deutsche Stellungen ohne die unmittelbare Feuerunterstützung der eigenen Feuerwalze. Die britischen Einheiten hielten also an einer Taktik fest, die sich bis Mitte 1918 bewährt hatte und außerordentlich verfeinert worden war. Die Infanterietruppen aus Großbritannien und den Dominions kannten sich bestens mit Feuerwalzen —
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30
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T. Travers, How The War Was Won: Command and Technology in the British Army on the Western Front, 1917-18, London 1992, enthält viel Kritik an den taktischen Leistungen der Deutschen in den Frühjahrsoffensiven. Siehe auch Strachan, The Morale (wie Anm. 2), S. 390. Griffith, Battle Tactics (wie Anm. 25), S. 80 f.
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waren überzeugt, daß ihr Leben in den ersten Großangriffsphasen weitdavon gehend abhing. In ihren Einsatzberichten nahmen sie detaüliert dazu StelEin lung. wichtiger Grundsatz des britischen Expeditionsheeres war auch, bei umfassenden Angriffen auf vorbereitete deutsche Stellungen den ersten Angriffswellen der Infanterie begrenzte und genau festgelegte Ziele zu setzen, die im allgemeinen durch farbkodierte Linien auf den Karten markiert waren. Bei Angriffen auf eine vorbereitete Stellung erwarteten die Generäle aus Großbritannien und den Dominions im allgemeinen nicht, daß im Gegensatz zu dem, was von den deutschen Sturmtruppen gefordert wurde ihre erste Angriffsstaffel bis zur feindlichen Geschützaufstellungslinie vorstieß. Auf deutscher Seite wurde die Wucht des Angriffs bis zur Geschützaufstellungslinie und bisweilen sogar noch darüber hinaus durch den überschlagenden Einsatz aufeinanderfolgender Angriffsstaffeln aufrechterhalten. Das britische Expeditionsheer hatte Probleme mit den eigenen Kräften, auch wenn diese nicht so schwerwiegend wie die der Deutschen waren. Durch die Vorgehensweise, zumindest in großen, sorgfältig im voraus geplanten Angriffen selbst den besten Infanteriekräften eindeutige und begrenzte Ziele vorzugeben, wurden diese wertvollen Ressourcen geschont32. Es besteht kaum ein Zweifel, daß mit einem solchen Vorgehen der physische wie der psychologische Verschleiß eingedämmt werden konnte. Es wäre falsch anzunehmen, die Infanterie des britischen Expeditionsheeres hätte nichts ohne die Unterstützung der Feuerwalzen unternehmen können. Sogar am ersten Tag eines im voraus sorgfältig geplanten Großangriffs wurde oftmals erwartet, daß die nachfolgenden Infanteriestaffeln erheblich über die Entfernung hinaus vorstießen, über die ihnen Schutz durch die Feuerwalze gewährt werden konnte. Von guten Infanterietruppen wurde erwartet, daß sie sich nicht lähmen ließen, wenn sie aus irgendeinem Grund hinter ihrer Feuerwalze zurückblieben. In den verhältnismäßig beweglich geführten und wirren Gefechtshandlungen, die für den zweiten und dritten Tag von Großangriffen und auch für Verfolgungsgefechte typisch waren, ist es oft unmögüch gewesen, funktionierende Feuerwalzen in Gang zu bringen, weshalb der Infanterie zugemutet wurde, mit weniger direkter und wirkungsvoller Feuerunterstützung auszukommen. In der Hundert-Tage-Schlacht schlug sich die Infanterie im großen und ganzen wacker. Die üblichen Züge des britischen Expeditionsheeres verfügten über eine ebenso fortschrittliche Waffenauswahl wie die deutschen Sturmtruppen. Unter diesen Waffen befanden sich im allgemeinen mindestens ein oder zwei Lewis-MG's, Gewehr- und Handgranaten wie auch das traditionelle Gewehr und Bajonett. Die besten Infanterietruppen konnten mit geeigneten Mitteln erfolgreich gegen Maschinengewehrnester oder sogar Kampfstände antreten. In einer Reihe taktischer Bewegungen näherten sie sich dem Feind so weit, bis Gewehrgranaten eingesetzt und der Vorstoß mit Handgranaten und Bajonetten beendet werden konnte33.
aus
und
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Der überschlagende Einsatz, wie er vor Amiens praktiziert wurde, wird von Montgomery gut beschrieben. Siehe Montgomery, The Story of the Fourth Army (wie Anm. 10), S. 22,46. Griffith, Battle Tactics (wie Anm. 25), S. 95-100.
Das britische
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Expeditionsheer
Die Luftstreitkräfte spielten 1918 ebenfalls eine entscheidende Rolle. Die Ergebnisse der Bombardierungen rechtfertigten jedoch nach Ansicht verschiedener, durchaus angesehener Historiker kaum die sehr großen Anstrengungen, welche von den einzelnen Luftstreitkräften unternommen wurden. Der Einsatz von Flugzeugen war vor allem für die Aufklärung, Zielerfassung und die Führung wichtig, obwohl viele Tieffliegerangriffe geflogen wurden, die unter gewissen Umständen taktisch wirkungsvoll sein konnten. Die Luftfahrzeuge waren für das Bodengefecht jedoch am nutzbringendsten, wenn sie als >Augen< Artillerie der eingesetzt wurden, da diese das vernichtendste Waffensystem darstellte. Die seit 1. April 1918 als Royal Air Force bezeichneten britischen Luftstreitkräfte waren theoretisch eine völlig selbständige Teilstreitkraft. In der Praxis, also an der Westfront, blieb die Royal Air Force jedoch großenteils dem britischen Expeditionsheer und damit dem Befehl von Feldmarschall Sir Douglas Haig unterstellt, und genau wie früher als Royal Flying Corps war sie getreue Dienerin der Bodentruppen. Sogar die sogenannte Independent Air Force, die eigentlich für den strategischen Bombenabwurf vorgesehen war, verbrachte die meiste Zeit mit Angriffen auf näher an der Front gelegene Ziele. Jeweils eine Brigade der Royal Air Force war den Armeen des britischen Expeditionsheeres angegliedert. Jede RAF-Brigade umfaßte ein Ballongeschwader, ein Korpsgeschwader und ein Armeegeschwader. Die beispielsweise mit Hugzeugen vom Typ RE8 ausgestatteten Staffeln des Korpsgeschwaders waren einem Korps der Bodentruppen unterstellt und nahmen für das Korps verschiedene Aufgaben wahr, wie z.B. Nahaufklärung und Artillerieaufklärung sowie Patrouillenflüge. Die Armeegeschwader umfaßten Staffeln, die ausgestattet waren mit Bomben- und Kampfflugzeugen und Flugzeugtypen wie dem Bristol Fighter, der in Wirklichkeit ein Langstreckenaufklärer war34. Während der Hundert-Tage-Schlacht hatten die Alliierten den Vorteil einer großen Luftüberlegenheit über der gesamten Front. Dies trug maßgeblich zu ihrer Überlegenheit auf dem Gebiet der Nachrichtenbeschaffung und Zielerfassung bei. Die deutsche Luftwaffe leistete trotz ihrer erheblichen zahlenmäßigen Unterlegenheit zumindest bis Oktober 1918 starken Widerstand und schien nicht am gleichen Stimmungseinbruch wie die deutschen Bodentruppen gelitten zu haben. Sie zeigte die bemerkenswerte Fähigkeit, die Luftfahrzeuge schnell dort konzentrieren zu können, wo sie am dringendsten benötigt wurden. Mit der Fokker DVII und besonders mit den späteren Versionen dieses Flugzeuges hatten die Deutschen ein Kampfflugzeug, das den britischen Maschinen wie den SE5a, Sopwith Camel, Sopwith Dolphin und Sopwith Snipe leicht überlegen war. In den Monaten August und September 1918 flog die Royal Air Force unglaublich viele Einsätze und erlitt dabei die größten Verluste des ganzen Krieges. Danach sank die Verlustrate, teilweise aufgrund des schlechten Wetters, das zu einer Einschränkung der Hugtätigkeit zwang, und teüweise, weil der Widerstand der deutschen —
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34
Eines der wissenschaftlich fundiertesten Werke über die RAF, das viel umfassender ist, als der Titel vermuten läßt, wurde verfaßt von S.F. Wise, Canadian Airmen In The First World War, Toronto 1980, S. 518-576.
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Luftwaffe durch schwere Verluste in den Reihen der besten Flugzeugführer und infolge akuten Treibstoffmangels nachließ35. Die meisten taktischen Grundsätze und einige Einsatzverfahren, die vom britischen Expeditionsheer während der Hundert-Tage-Schlacht angewandt wurden, waren schon lange vor Beginn dieser Kämpfe erarbeitet worden. Es muß noch aufgezeigt werden, wie diese Verfahren auf dem Schlachtfeld verwirklicht wurden. Außerdem ist noch zu untersuchen, wie sich diese Einsatzverfahren in der Praxis weiterentwickelt haben. Am 8. August 1918 wendete General Sir Henry Rawlinsons Vierte Armee in ihrem Angriff östlich von Amiens im wesentlichen die von der Dritten Armee in der Schlacht von Cambrai angewandten Verfahren an, die von den Australiern für ihren verhältnismäßig kleinen Angriff in Hamel am 4. Juli 1918 weiter verfeinert worden waren. Durch die aggressive Stoßtrupptätigkeit der australischen Einheiten war festgestellt worden, daß die gegen die Vierte Armee angetretenen deutschen Truppen, die hauptsächlich der Zweiten Armee angehörten und das Gelände in geringer Dichte verteidigten, ausgelaugt und entmutigt waren. Es hatte sich herausgesteUt, daß ihre Feldbefestigungen unzureichend waren. Es bot sich ganz offensichtlich die Gelegenheit, den Deutschen eine erhebliche Niederlage beizubringen. Um dem vorgeschlagenen Angriff mehr Nachdruck zu verleihen, wurde die Verlegung eines weiteren starken Korps in den Abschnitt der Vierten Armee beschlossen. Die Wahl fiel auf das kanadische Korps, das seit November 1917 nur noch in verwickelt gewesen war. Die vier kanadischen geringfügig Kampfhandlungen Divisionen waren nicht nur gut ausgeruht, sondern auch die stärksten des britischen Expeditionsheeres in bezug auf Feuerkraft und personelle Ausstattung36. Um dem Angriff weiteren Schwung zu verleihen, wurde die Zusammenziehung einer großen Anzahl von Panzern beschlossen. Die Verlegung des kanadischen Korps und der Panzer zur Vierten Armee erfolgte unter größter Geheimhaltung. Die Verlegung des kanadischen Korps wurde mittels einer Reihe von Täuschungsplänen abgesichert. Als der Angriff am Morgen des 8. August noch in der Dunkelheit eröffnet wurde, waren praktisch alle Batteriestellungen der deutschen Zweiten Armee geortet, und sie wurden ab der Stunde Null mit Übermacht bekämpft. Gleichzeitig griff die Infanterie der drei Korps der Vierten Armee (von links nach rechts: III. Korps, austrahsches Korps und kanadisches Korps) von Feuerwalzen, Panzern und nachdem sich der Morgennebel gelichtet hatte Tieffliegerangriffen unterstützt an. Das Ergebnis war eindrucksvoll. Stellenweise gelang an diesem Tag ein Vorstoß bis zu acht Meilen. Dabei wurden etwa 400 Geschütze erbeutet37. —
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Der Vorstoß konnte in dieser Art über die nachfolgenden Tage nicht aufrechterhalten werden. Die Truppe ermüdete. Die Feldartilleriebatterien mußten wei35 36 37
Ebd., S. 542-576. Schreiber, Shock Army (wie Anm. 24), S. 17-32.
Montgomery, The Story of the Fourth Army (wie Anm. 10), S. 11-51.
131
Das britische Expeditionsheer
ter nach vorn verlegt werden und konnten aus ihren neuen Stellungen bis zu deren
Vermessung kein präzises Feuer abgeben. Die Deutschen verlegten natürlich in
aller Eile Reservekräfte in diesen Gefechtsabschnitt. Der Stab der Vierten Armee scheint sich in der gesamten Planung auf ein Nachlassen des Schwungs nach dem ersten Tag eingestellt zu haben. Die Vierte Armee hatte den Angriff offensichtlich als kurzen, harten Schlag konzipiert. Haig und Foch hatten dagegen größere Ziele im Auge. Es ist vor allem der Durchsetzungskraft des politisch einflußreichen Befehlshabers des kanadischen Korps, General Sir Arthur Currie, zu verdanken, daß Angriffe entlang dieser Achse am 11. August eingestellt wurden. Er argumentierte, ein weiteres Vorrücken auf derselben Achse werde erheblich mehr Ausfälle um verhältnismäßig geringer Vorteile willen verursachen. Rawlinson, der Befehlshaber der Vierten Armee, gab bereitwillig sein Einverständnis, wogegen Haig sich zögerlicher verhielt. Es wurde beschlossen, den Angriff der Vierten Armee zu unterbrechen, während die Dritte Armee auf ihrer linken Flanke Vorbereitungen für einen Angriff auf einer Parallelachse treffen sollte. Marschall Foch wollte nichts von einem Kürzertreten der Vierten Armee hören. Haig wies jedoch darauf hin, daß er sich gegenüber seiner eigenen Regierung für die Streitkräfte aus Großbritannien und den Dominions verantworten müsse. Er hielt an der Entscheidung fest, der Vierten Armee eine Pause zu verschaffen38. Die dem Befehl von General Sir Julian Byng unterstehende Dritte Armee befand sich an der linken Flanke der Vierten Armee nördlich der Somme. Sie griff am 21. August an, pausierte am 22. August und setzte den Angriff zusammen mit einem begrenzteren Einsatz der Vierten Armee am 23. August fort. Eine gewisse Überraschung wurde mit dem Angriff am 21. August und eigenartigerweise auch mit dem Angriff am 23. August erzielt. Während die Vierte Armee am 8. August mit den beiden von den Dominions gestellten Korps, den schlagkräftigsten des britischen Expeditionsheeres, angegriffen hatte, war in den am 21. August angetretenen Truppenteilen der Dritten Armee ein breiter Querschnitt des britischen Expeditionsheeres vertreten. Darunter befanden sich auch Divisionen, die durch die deutschen Frühjahrsoffensiven schwer in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Sie hatten nicht die gleiche artilleristische Überlegenheit gegenüber den vor ihnen liegenden Deutschen wie die Vierte Armee Anfang August. Auch wurden sie von weniger Panzern unterstützt. Trotzdem leisteten sie bis zum 24. August einen ganz entscheidenden Beitrag zu einem wichtigen Sieg (Albert-Schlacht) und machten etwa 10 000 deutsche Kriegsgefangene39. Die Albert-Schlacht zeigte, daß das britische Expeditionsheer insgesamt und nicht nur die außergewöhnlich schlagkräftigen Dominion-Korps von nun an siegreich Angriffe gegen die Deutschen führen konnte. Am 26. August, als die Dritte und Vierte Armee weiter gegen die zurückweichenden Deutschen vorstießen, wurde die Offensive erneut seitlich nach Norden —
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38 39
Schreiber, Shock Army (wie Anm. 24), S. 55 f. Unter dem Titel
>Summary of Operations from 21st August 1918 to 30th September 1918< zusammengefaßte Berichte der Dritten Armee, Anhang 2, PRO WO 95/372.
132
J.P.Harris
erweitert. Die Erste Armee an der linken Hanke der Dritten Armee ging östlich von Arras zum Großangriff über, indem sie hauptsächlich die von der Vierten Armee zurückgegebenen kanadischen Divisionen einsetzte. Wieder einmal wurde ein
erheblicher Überraschungseffekt erzielt, teüs aufgrund von Täuschungsmanövern und weü Vorbereitungsfeuer unterblieb, aber auch infolge von Angriffen bei Nacht. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, daß das britische Expeditionsheer während der zweiten Hälfte des Ersten Weltkrieges vermehrt Nachtangriffe durchführte, die oftmals ein bis zwei Stunden vor der Morgendämmerung, aber gelegentlich auch mitten in der Nacht, eröffnet wurden. Ludendorff, der unter den unmittelbaren Nachwirkungen des >schwarzen TagesWinterstellung< eingetragen ist. Dazu gehörte der von Norden nach Süden verlaufende Abschnitt der Somme unmittelbar südlich von Peronne. Die Einnahme von Peronne durch die Australier Anfang September, unmittelbar gefolgt von dem kanadischen Einbruch in die von den Briten als Drocourt-Queant-Linie bezeichnete Stellung, machte die Winterstellung unhaltbar. Ende September wurden die Deutschen vor der Front des britischen Expeditionsheeres in die Siegfried-Stellung, die von den Briten als Hindenburg-Linie bezeichnet wurde, zurückgedrängt. Ein Teil dieser Stellung verlief entlang des Canal du Nord und ein Teil weiter südlich entlang dem St. Quentin-Kanal40. Bislang waren die Offensiven der Alliierten stets von nur einer oder zwei Armeen gleichzeitig durchgeführt worden. Die Alhierten hatten jedoch schon einige Wochen lang eine >Generaloffensive< geplant, die als koordinierter Angriff des Großteüs der an der Westfront gegen die Deutschen angetretenen Kräfte stattfinden sollte. Es war vorgesehen, daß die allüerten Kontingente von Ende September an einen ununterbrochenen Angriff mit allen verfügbaren Mitteln führen sollten. Dies würde so nahmen Foch, Haig und Pershing an für die Deutschen eine solche Herausforderung bedeuten, daß ihre Reserven bald erschöpft wären und sie aufgeben müßten. Die Generaloffensive wurde vom 26. bis 29. September in Gang gebracht. In einer Hinsicht war sie ein großer Erfolg. Ludendorff verlor am Abend des 28. September die Nerven teilweise infolge der Angriffe an der Westfront und teilweise wegen des Zusammenbruchs Bulgariens. Am Morgen des 29. September, als die Vierte Britische Armee die Hindenburg-Linie im Abschnitt des St. Quentin-Kanals durchbrach, teilten Hindenburg und Ludendorff dem Kaiser mit, das Ersuchen um einen Waffenstillstand sei unumgänglich41. Aber hauptsächlich aufgrund der Schwierigkeiten, auf die die Amerikaner im Argonnen-Abschnitt stießen, verlor die Generaloffensive bald an Stoßkraft. Die Alliierten waren erneut gezwungen, Angriffe mit einer oder gleichzeitig zwei —
—
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40
41
Schreiber, Shock Army (wie Anm. 24), S. 71-83; Montgomery, The Story of the Fourth Army (wie Anm. 10), S. 96-113. Asprey, The German High Command (wie Anm. 10), S. 46^168.
133
Das britische Expeditionsheer
Armeen nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten zu führen. Diese Vorgehensweise reichte aber im allgemeinen dazu aus, daß die Deutschen ihr Gleichgewicht nicht wiederfinden konnten und laufend nach rückwärts aufgerollt wurden. Es war tatsächlich wirkungsvoller, eine Reihe von rasch aufeinanderfolgenden Schlägen an verschiedenen Punkten der Front zu führen und dabei an keiner Stelle zu weit vorzustoßen, statt tiefe, aber schmale Durchbrüche zu erzielen, die Angriffspunkte für Gegenangriffe geboten hätten. Ohne daß hierfür eine offizielle Doktrin als Grundlage vorhanden war, wurde von den Alliierten und besonders vom britischen Expeditionsheer während der Hundert-Tage-Schlacht so verfahren42. Das australische Korps, welches als stärkstes Kontigent der Vierten Armee im August und September im britischen Expeditionsheer eine entscheidende Rolle übernommen hatte, wurde am 5. Oktober zurückgezogen43. Auf den Schwung der britischen Operationen hatte diese Verlegung keinen entscheidenden Einfluß. Viele britische Divisionen hatten sich bis dahin von ihren im Frühjahr erlittenen Verlusten erholt und konnten die Offensive ohne Einbuße ihrer Schlagkraft durchstehen. Es war eigentlich in ersten Linie das IX. Britische Korps und weniger das zunehmend erschöpfte australische Korps, welches den stärksten Abschnitt der Hindenburg-Linie am 29. September durchbrochen hatte. Das britische Expedititonsheer gewann im Oktober einen großen Sieg nach dem anderen, besonders in der Schlacht von Cambrai am 8. Oktober, in der die Dritte und Erste Armee zusammen angriffen, und in der am 17. Oktober eröffneten Seile-Schlacht. Die letzten größeren Einsätze des britischen Expeditionsheeres waren die von der Ersten Armee Anfang November geführte Schlacht von Valenciennes und der von der Dritten und Vierten Armee gemeinsam durchgeführte Angriff an der Sambre am 4. November. In den darauffolgenden Tagen entwickelte sich der Kampf zu einer Verfolgung der deutschen Truppen auf der Flucht44. Das britische Expeditionsheer stellte besondere Fähigkeiten bei sorgfältig geplanten Angriffen unter Beweis. Es zeigte jedoch auch große taktische Flexibilität, Anpassungsvermögen und Wagemut bei der Durchführung dieser sorgfältig geplanten Angriffe and bei den nachfolgenden freier zu gestaltenden Kampfhandlungen. Im August und in der ersten Septemberhälfte gaben die Korps der Dominions dafür ein gutes Beispiel, wobei sich die Australier vielleicht mehr als aUe anderen hervortaten. Die Einnahme von Mont St. Quentin und Peronne durch die Australier Ende August and Anfang September bewies, mit wieviel Mut und Initiative sie sich engagierten, wenn es darum ging, ohne vorherige Planung der Situation entsprechend zu handeln. Die britischen Infanterietruppen stellten am 29. September bei der des St. Quentin-Kanals ähnliche Qualitäten unter Beweis, als sie unter Beschüß das Wasser an Seilen und mit Schwimmwesten durchquerten. Derselbe Geist herrschte am 4. November bei der Sturmüber—
—
Überquerung
42
Dazu etwas ausführlicher in der
(wie Anm. 13). 43 44
Zusammenfassung von Harris, Amiens to the Armistice
Montgomery, The Story of the Fourth Army (wie Anm. 10), S. 189. Ebd., S. 192-262; Schreiber, Shock Army (wie Anm. 24), S. 87-129.
134
J. P. Harris
querung der Sambre und des Oise-Kanals mit einer Reihe von Brückenbauoperationen unter feindhchem Beschüß sowie bei der anschließenden Verfolgung45. Die im wesentlichen noch nicht einmal zwanzig Jahre alten oder nur wenig älteMänner der in der Hundert-Tage-Schlacht eingesetzten britischen Infanterietruppenteile hatten sich die erforderlichen Fähigkeiten für die weitgehend ungeplanten Operationen schnell angeeignet und in der Folgezeit tapfer gekämpft.
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Montgomery, The Story of the Fourth Army (wie Anm. le für ein solch außergewöhnlich mutiges Vorgehen.
10), S. 280-300, liefert viele Beispie-
André Bach Die militärischen Operationen der französischen Armee an der Westfront Mitte 1917 bis 19181 »Seit ich eine Koalition führen mußte, bewundere ich Napoleon nicht mehr so sehr«, schrieb Marschall Ferdinand Foch. Diese Haltung veranschaulicht sehr gut das Problem, das in der zweiten Jahreshälfte 1917 an der Westfront auftrat. Die Tatsache, daß der Krieg schon lange andauerte, daß er bereits enorme Opfer gefordert hatte, daß keine militärische Lösung in Sicht war und daß die militäri-
schen Führer der Entente nach den Niederlagen vom Chemin des Dames und von Passchendaele an Prestige verloren hatten, sowie die damit zusammenhängende Vorstellung, daß es keine militärische Lösung für diesen Konflikt geben werde, führten dazu, daß der Krieg und seine Ziele in der Öffentlichkeit sowie von den Politikern anders wahrgenommen wurde. Der Rückzug Rußlands aus der Allianz sowie der Kriegseintritt und die Unterstützung der USA blieben nicht ohne Folgen. Die alliierten Kontinentalmächte (Frankreich, Rußland und später Italien) verfolgten mit ihrem Kriegseintritt ganz eindeutige territoriale Ziele. Insbesondere Rußland hoffte, Konstantinopel einnehmen zu können und versicherte, daß es in diesem Fall Frankreichs Forderungen im Hinblick auf Elsaß-Lothringen, ja sogar das linke Rheinufer, voll und ganz unterstützen würde. Der neue amerikanische Alliierte paßte nicht in dieses Konzept. Ihm genügte es, die expansionistischen Bestrebungen Deutschlands zu vereiteln. Er verfolgte ausschließlich politische Ziele, territoriale Annexionen widerstrebten ihm. Durch diesen eher idealistischen Ansatz (die »Vierzehn Punkte Wilsons«) wurden die militärischen Führer in den Hintergrund gedrängt, da eine solche neue Sichtweise nur auf politischer Ebene vertreten werden konnte. Insbesondere in Frankreich litt die politische Seite darunter, von Marschall Joseph Joffre auf Distanz gehalten zu werden. Nun konnte sie sich revanchieren, um so mehr, als sie mit Ministerpräsident Georges Clemenceau einen energischen Mann an ihre Seite setzte. Diese Informationen sollte man im Hinterkopf behalten. Durch die Veränderung der Allianz wurde aus dem westlichen Lager ein Lager der demokratischen Mächte, was dazu führte, daß die Kriegsziele überdacht und 1
Dieser Vortrag basiert auf den Studien von Prof. Pedroncini, die vor allem in den beiden folgenden Werken veröffentlicht wurden: Guy Pedroncini, Pétain, Général en Chef 1917-1918, Paris 1974, Neuaufl. 1997; ders., Pétain, le Soldat, 1914-1940, Paris 1998. Alle Zitate, die den Übersetzungen dieses Vortrags zugrunde liegen, stammen aus den beiden genannten Werken. Siehe zum vorliegenden Beitrag auch Karte hinteres Vorsatzblatt links.
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André Bach
die militärische Gewalt der politischen untergeordnet wurden. Dieser radikale Wandel führte zu einem zunehmenden Mißtrauen bei den Mitgliedern der Entente, die sich den Ertrag eines Sieges, für den sie so gelitten hatten, nicht nehmen lassen wollten. Die Franzosen und Briten waren nicht nur mißtrauisch gegenüber den Amerikanern, sondern mißtrauten sich auch gegenseitig. Dadurch wurde die Lage noch gespannter, als im Zuge der deutschen Offensiven Anfang 1918 die Unterschiede in den nationalen Ansätzen zur Lösung dieses Konflikts plötzlich
zutage traten.
Mai 1917: Der Krieg bekommt ein anderes Gesicht Mitte 1917 hat Frankreich gerade die Zeit der kollektiven Befehlsverweigerungen, denen 68 Divisionen betroffen gewesen waren, überwunden. Die Armee steckt in der Krise: Sie hat an Vertrauen eingebüßt und kann ihre Personalstärke nicht länger aufrechterhalten. Großbritannien gibt zu verstehen, daß es die militärische Führung der Koalition übernehmen sollte, was jedoch bei den Franzosen die Befürchtung auslöst, daß die von Frankreich seit 1914 erbrachten Opfer bei einem künftigen Frieden nicht ausreichend berücksichtigt werden könnten. Frankreich hat gerade einen politischen und militärischen Führungswechsel hinter sich und stellt bestürzt fest, daß sein östlicher Alhierter Rußland am Rande des Zusammenbruchs steht. Damit verliert Frankreich eine wichtige militärische und diplomatische Stütze. Diese unerwartete Krise geht sehr tief und hat schwerwiegende Folgen. Für die Soldaten steht fest, daß man nicht so weitermachen kann und daß der Krieg anders geführt werden muß. von General Anthoine vom 1. JanuDies geht auch aus der folgenden ar 1918 hervor: Der hat »augenblickliche Krieg wohl gezeigt, daß die militärische d.h. die Entscheidung, Vernichtung der Armeen, nicht unbedingt erforderlich ist, damit sich die Völker eingestehen, daß sie am Ende« seien. von
Äußerung
Die neuen Kriegsziele General Philippe Pétain, Nachfolger Joffres als Oberbefehlshaber der französischen Armee, setzt sich für diese neuen Kriegsziele ein: »Es war seine Idee, die bis dahin für die französische Armee geltende Hauptachse des Krieges zu verlegen, und zwar durch eine umfangreiche Ausdehnung der britischen Front sowie den Einsatz der amerikanischen Armee in Lothringen. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, die französische Armee in zwei massierten Verbänden zusammenzufassen, die ihre Fähigkeit zu offensiven Operationen wiedererlangen würden und in der Lage sein würden, entweder mit den Engländern oder mit den Amerikanern zu kämpfen, oder ein französisches Gefecht im Elsaß zu führen. Für Pétain lagen die französischen Interessen nicht in Handern, denn was für einen Sinn hätte eine Schlacht, in der die Briten die erste und die Franzosen nur die zweite Rolle spielen würden.«
Die militärischen Operationen der französischen Armee
137
Es liegt in der Natur von Koahtionen, unterschiedliche Ziele zu verfolgen: Die Befreiung Belgiens oder die des Elsaß. Doch dies kann angesichts der Krisenstimmung in der zweiten Hälfte des Jahres 1917 nicht offen ausgesprochen werden. Rußland erlebt seinen inneren Zusammenbruch, die Ankunft der Amerikaner verzögert sich, ein »fauler« Friede ist nicht ausgeschlossen, ein Separatfriede Rußlands mit Deutschland zeichnet sich ab, und nach der Schlacht von Caporetto (24. Oktober 1917) besteht die Gefahr, daß Italien zerfällt. Pétain selbst verfolgt zwei Ziele: Er will, daß die französische Armee auch weiterhin die wichtigste Rolle in der alliierten Koalition spielt und am Endsieg maßgeblich beteiligt ist, wobei die mit einem Koalitionskrieg verbundenen Verpflichtungen einzuhalten sind. Warum soll die entscheidende Offensive in Elsaß-Lothringen stattfinden? Die Abteilung 3 des Großen Hauptquartiers der französischen Streitkräfte gibt darauf in einer Note vom 17. September 1917 folgende Antwort: »Wenn unsere Bemühungen erfolgreich sind, so sollten sie für uns auch territoriale Gewinne bringen. Es wäre für uns günstiger, bei Beginn der Friedensverhandlungen im Elsaß zu stehen, also den Rhein auf unserer rechten Seite zu haben, oder sogar in Lothringen, als einen größeren Teil des französischen Territoriums zurückerobert zu haben.« Zum einen sollen die Ziele durch die Schaffung der Gefechtsgliederung erreicht werden. Pétain macht deutlich, daß 109 französische Divisionen auf einer Front von 580 km stehen, wohingegen 62 britische Divisionen nur 158 km halten. Bei der Londoner Konferenz vom 11. bis 14. Oktober äußert der Befehlshaber der britischen Expeditionsstreitkräfte, Sir Douglas Haig, Bedenken im Hinblick auf eine veränderte Zusammenarbeit. Da die britische Armee zu diesem Zeitpunkt eine Offensive in Passchendaele führt, lehnt er eine Ausdehnung seiner Front ab und gibt deutlich zu verstehen, daß nach der Niederlage am Chemin des Dames und nach den Meutereien nach seinem Dafürhalten nur die Briten in der Lage seien, eine Entscheidung in Frankreich zu suchen. Dafür müßten sie jedoch trainiert werden, und man müsse den Franzosen möglichst viele passive Fronten überlassen. Pétain, der nicht locker läßt, ringt schheßlich den Briten das Versprechen ab, die III. französische Armee abzulösen, allerdings nicht vor Dezember 1917. Der Sieg von Malmaison am 23. Oktober 1917 sollte sich durch die Tatsache, daß er mit geringen Mitteln erzielt wurde, auf diese Entscheidung auswirken. An zweiter Stelle steht die Reduzierung der Verluste, denn das Blutvergießen habe seit 1914 so viele Opfer gefordert, daß nicht so viele Divisionen wie vorgesehen an der Front verbleiben können. Zwei müssen im November 1917 aufgelöst werden, zwei weitere einen Monat später.
Die
Industrialisierung des Krieges
Zur Reduzierung der Verluste stehen mehrere Mittel zur Verfügung. Zunächst müsse »der Krieg industrialisiert werden«, so Pétain in einem Brief vom 20. Sep-
138
André Bach
tember 1917 an den Befehlshaber der amerikanischen Expeditionsstreitkräfte, John J. Pershing. Der Kräfteverlust solle durch den verstärkten Einsatz von Material kompensiert werden. Bereits im Juni 1917 beantragt Pétain die Produktion von 3500 Panzern, die im April 1918 abgeschlossen sein soll. »Dies gilt auch für die Luftwaffe«, schreibt er am 25. Dezember an Pershing und macht diesem gegenüber deuthch, daß es bei der Weiterentwicklung der Luftwaffe keine Einschränkungen geben dürfe, da diese auch eine Kampfwaffe sei. Pétain setzt sich auch für eine beschleunigte Umsetzung der Vorhaben im Bereich der schweren Artillerie ein, die am 30. Mai 1916 von Joffre festgelegt worden waren. Er steht eine allgemeine schwere Artilleriereserve auf, die aus 60 Regimentern besteht, und unterstellt sie seinem unmittelbaren Befehl. An dritter Stelle steht für Pétain der möglichst rasche Aufwuchs der Amerikaner und deren Dislozierung im östhchen Frontabschnitt zur Unterstützung der Offensive in Lothringen. Pershing stimmt diesem Plan am 11. Oktober 1917 zu. Bereits im August 1917 werden den Amerikanern Ausbildungslager in Frankreich zur Verfügung gestellt. Dadurch soll ihr Einsatz beschleunigt werden.
Die große Gefahr Dies alles geschieht während der bedrohlichen Ereignisse an der russischen Front, wie eine Studie der Abteilung 3 vom 13. Juni 1917 belegt, die sich mit den Folgen eines eventuellen russischen Separatfriedens beschäftigt. In dieser Studie heißt es, daß in einem solchen Fall die englische Front ausgedehnt und eine strategische Reserve von 40 Divisionen geschaffen werden müsse. Weiterhin müsse man sich auf eine Verteidigung von der Nordsee bis zur schweizerischen Grenze einstellen. Hierbei sei jedoch zu berücksichtigen, daß man einem weiträumigen Frontalangriff nicht dadurch begegnen könne, daß man in vorderster Linie kämpft. Das Durchbrechen der Front sowie eine größere Katastrohpe sollten bis zur Ankunft der Amerikaner vermieden werden. Zu diesem Zweck muß die Armee bereit sein, den Kampf in der Tiefe zu führen, Gelände aufzugeben, auszuweichen und auf eine lineare Verteidigung zu verzichten wie sie seit der Offensive um jeden Preis von 1914 üblich geworden ist. Diese Sichtweise wird am 20. Dezember 1917 in der Weisung Nr. 4 niedergelegt, also 5 Tage nach dem Frieden von Brest-Litovsk und 3 Tage nach der Ankündigung von Haig, daß die britischen Expeditionsstreitkräfte mit ihren Kräften am Ende seien. Immer mehr Divisionen werden von der Front abgezogen, damit sie trainiert werden und Stellungen in zweiter Reihe bilden können, so daß es in den vier Monaten von November 1917 bis Februar 1918 bei weitem die wenigsten Opfer dieses Krieges gibt.
Die militärischen Operationen der französischen Armee
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Zweifelhafte Planungen Nach Brest-Litovsk herrscht auf Seiten der Entente Unentschlossenheit: für die Alliierten nicht günstiger, den Krieg jetzt, wo sie noch eine gute Verhandlungsposition haben, zu beenden, als eine vermutlich entscheidende Schlacht zu riskieren, bei der vieles vom Zufall abhinge, solange man nicht auf die umfangreiche Mithilfe der Amerikaner zurückgreifen kann?«. Diese Frage beschäftigt im Oktober und November verschiedene Offiziere im Generalstab, die Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten auf dem Rücken Rußlands vorschlagen. Die Regierungschefs lehnen dies jedoch ab. Auch ein mögliches Eindringen Deutschlands in Rußland wird in Erwägung gezogen. Für einen solchen Fall sehen die Briten einen Angriff in Handern und die Franzosen einen Angriff in Elsaß-Lothringen vor, aber dieser Fall gehört leider bei weitem nicht zu den wahrscheinlichsten Hypothesen. Foch schlägt vor, den Deutschen mit einem groß angelegten Angriff zuvorzukommen. Dieser Vorschlag begeistert die Parlamentarier. Doch der Präsident der »Wäre
es
Französischen Republik,
Raymond Poincaré, lehnt ab:
»Wollen Sie, daß das Schicksal des Landes aufs Spiel gesetzt wird? Man kann unmöglich so mit Frankreich va banque spielen, wenn nach einem solchen Spiel der Friede unausweichlich ist.«
Das eigentliche Problem: ein gemeinsames Oberkommando Am 14. Dezember macht Pétain auf das eigentliche Problem aufmerksam, nämlich das Fehlen eines gemeinsamen Oberkommandos für die gesamte Front. Ein gemeinsames Oberkommando sei angesichts der Tatsache, daß Deutschland über ein solches Kommando verfüge, zwingend notwendig. Die Abteilung 2 beobachtet unterdessen die deutschen Truppenbewegungen von Rußland in Richtung Westen. Sie schätzt die Zahl der Divisionen, die im April 1918 ihren Einsatzort erreicht haben werden, auf 208 gegenüber 173 alliierten Divisionen. Am 4. Januar 1918 findet in Compiègne eine Abstimmungsbesprechung statt, an der einerseits Foch und Robertson, andererseits Pétain und Haig teilnehmen. Die Argumente der Oberbefehlshaber finden Gehör, und man überläßt ihnen die Entscheidungsfreiheit. Eine interalliierte Reserve ist grundsätzlich nicht geplant. Dies bedeutet, daß es immer noch kein gemeinsames Oberkommando gibt. Nach Rapallo wird zwar in Versailles ein Ständiger Militärausschuß eingerichtet, der sich aus Vertretern Frankreichs, Großbritanniens, der USA und Italiens zusammensetzt und zu dessen Vorsitzendem General Foch auf Vorschlag von Lloyd George am 2. Februar ernannt wird, aber die Arbeit dieses Ausschusses ist von Anfang an nicht besonders erfolgreich. So wird sein Antrag, 30 Divisionen als interalliierte Reserve bereitzuhalten, am 2. Februar von Pétain mit der Begründung abgelehnt, daß er diese als franzö-
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André Bach
sischer Oberbefehlshaber für das bevorstehende Verteidigungsgefecht, das unter seinem Kommando stattfinden werde, benötige. Nach seinem Dafürhalten seien 14 Divisionen ausreichend. Haig schließt sich dieser Einschätzung an.
Zwangsläufige Schwierigkeiten bei der Aufstellung eines
gemeinsamen Oberkommandos
Hinsichtlich eines gemeinsamen Oberkommandos gibt es unterschiedüche Meinungen. Foch will einen Kompromiß und den Oberbefehlshabern die Möglichkeit geben, Rücksprache mit ihren jeweiligen Regierungen zu nehmen. Spätestens In diesem Moment wird deutlich, daß bei zwei gleich starken AUüerten eine Regierung unmöglich das Schicksal ihrer Armee unwiderruflich in die Hände eines Generals einer anderen Nation legen kann. Angesichts der sich immer deutlicher abzeichnenden Bedrohung erklärt Pétain am 18. Februar, daß er nur noch acht Divisionen einschließlich der zwei noch in Italien stationierten als interaüüerte Reserve bereithalten wolle. Haig lehnt am 2. März jede Unterstützung ganz klar ab. Daraufhin kommt es zu einem erneuten Zusammentreffen der Oberbefehlshaber am 14. und 15. März. Es gibt nur drei Möglichkeiten: die Oberbefehlshaber, die sich dem Ausschuß widersetzen, abzulösen, den Ausschuß zu desavouieren und auf eine interalhierte Reserve zu verzichten oder einen den beiden Oberbefehlshabern übergeordneten Generalissimus zu ernennen.
Die Regierungen bieten keine konkrete für den Konflikt
Lösung
Die Regierungen stellen die von ihnen getroffenen Entscheidungen in Frage. Laut Clemenceau »geht nicht darum, grundsätzlich auf eine interalliierte Reserve zu verzichten, aber man kann Haig und Pétain unmöglich Divisionen wegnehmen«. So tragen die Lösungen, die von den Politikern unter Druck beschlossen werden, nur dazu bei, die Spannungen zwischen den Beteihgten zu vergrößern, ohne jedoch die anstehenden Probleme zu lösen. Repington sagt: »Ein Projekt, das vorsieht, das Oberkommando über die Front in die Hände von zwei Oberbefehlshabern zu legen und die Reserven einem dritten Oberbefehlshaber zu unterstellen, ist absurd und deshalb von vornherein zum Scheitern verurteüt.«
Vereinbarungen zwischen den Oberbefehlshabern In der Zwischenzeit werden lagebedingt mehrere weniger bedeutende Abkommen zwischen Haig und Pétain geschlossen. So erklärt sich Haig einverstanden, die III. französische Armee abzulösen. Dies geschieht am 26. Januar.
Die militärischen Operationen der französischen Armee
141
Diese Lösung stellt jedoch nur einen Kompromiß dar, denn wäre Haig angegriffen worden und Pétain wäre ihm zur Hilfe geeilt, dann hätte Pétain den Oberbefehl über die französischen und britischen Streitkräfte gehabt und Haig hätte wie der Besiegte ausgesehen, was in einem Koalitionskrieg diplomatisch gesehen
unmöglich ist.
Die Schlacht, die am 21. März beginnt, trifft die nach Passchendaele entkräftete britische Armee, die über keine Verteidigung in der Tiefe verfügt, besonders hart. Die taktische Niederlage wird rasch zu einem strategischen Problem, da sie die Nahtstehe zwischen beiden Armeen betrifft und außerdem seit Dezember 1917 ein weiterer, quasi begleitender Angriff in der Champagne befürchtet wird, da hier 24 deutsche Divisionen nicht erkundet werden konnten. In aller Eile erfolgt ein massierter Einsatz der Luftwaffe. Von März bis Juni werden 1200 Tonnen Bomben abgeworfen, d.h. mehr als 1916 und 1917 zusammen. Zwischen dem 21. und 24. März schickt Pétain zur Unterstützung Haigs 27 Divisionen auf den Weg und hält am 25. und 26. März 13 weitere in Bereitschaft, nachdem die Gefahr in der Champagne nicht mehr besteht.
Die Unzulänglichkeiten der Vereinbarungen werden Ende März 1918 sichtbar Es kommt erneut zur Krise: Haig geht es um die Sicherung der Häfen am Kanal, Pétain um die Verteidigung von Paris. So ist eine erneute Zusammenkunft erforderlich. Bei der Konferenz von Douhens am 26. März 1918 wird Foch mit der Koordinierung der Kräfte beauftragt. Damit ist die von allen erkannte Gefahr, daß einer der beiden Oberbefehlshaber im Falle einer möglichen den Oberbefehlshaber des anderen Alliierten um Unterstützung bitten muß, aus dem Wege
Überforderung
geräumt.
Die zweite Offensive in Flandern beginnt am 9. April, einen Tag nach dem Ende der ersten. Die Lage ist wesentlich kritischer als Ende März. Pétain stehen nur noch elf Divisionen als Reserve zur Verfügung, was bei weitem nicht den 40 er die wollte. Die entspricht, eigentlich Armeegruppe Ost verfügt an der Front nur noch über 23 Divisionen sowie sieben Divisionen in der Reserve, während es im März noch 35 bzw. 18 gewesen waren; dies gilt auch für die Armeegruppe Nord, die auf einer Front von 40 km nur noch über zwei Reservedivisionen anstelle der ehemals 19 verfügt. Pétain versetzt zwölf Divisionen in Einsatzbereitschaft, warnt aber gleichzeitig: »Die britische Heeresleitung bedenkt anscheinend nicht, daß der Kampf lange dauern wird und daß die verfügbaren französischen Mittel nicht verfrüht in der englischen Schlacht eingesetzt werden sollten, da sie später für die Fortsetzung der Operationen gebraucht werden.« Vor diesem Hintergrund findet am 1. und 2. Mai die Konferenz von Abbeville statt. Es wird klar, daß Foch nur dann wirkliche Spielräume in seinem strategischen Handeln haben wird, sofern dieses von Erfolg gekrönt sein sollte. Die
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André Bach
Regierungschefs lassen die militärischen Führer auf diese Weise ihren zunehmenden Einfluß spüren.
Am 27. Mai wird die 22. französische Infanteriedivision von sieben deutschen Divisionen vernichtend geschlagen, die 50. britische Infanteriedivision erleidet das gleiche Schicksal durch vier deutsche Divisionen auf dem Chemin des Dames. Die französische Armee hat keine Reserven mehr. Ihr bleibt nur der Trost, daß die Flanken standhalten. Schon am 28. Mai bittet Pétain um Unterstützung durch die X. Armee, die zur interalliierten Reserve gehörte. Dies wird jedoch von Foch am 29. Mai abgelehnt. Damit bleiben Pétain nur vier französische Divisionen sowie eine italienische und drei amerikanische, die sich noch in der Ausbildung befinden. Am 31. Mai wird ihm die X. Armee zugewiesen.
Politiker und Militärs verlieren an Gelassenheit Dieser Eindruck entsteht, als eine Niederlage nicht mehr auszuschließen ist. Foch schreibt am 31. Mai an Clemenceau: »Die Schwächung der alliierten Kräfte könnte bedeuten, daß wir den Krieg verlieren.« Noch am selben Tag meldet die Abteilung 2, daß zwölf deutsche Divisionen mit hoher Kampfkraft zum Vorstoß in die Lücke vom 27. Mai bereitstünden. Um diese Gefahr abzuwenden, fordert Foch am 2. Juni vor dem Obersten Kriegsrat die Entsendung einer möglichst großen Anzahl amerikanischer Einheiten aller Waffengattungen, um so die unmittelbar drohende Gefahr einer Niederlage der Alliierten zu diesem Zeitpunkt abzuwenden. Kurz darauf, am 7. Juni, wendet sich Foch in Paris im Rahmen einer Sitzung an Clemenceau: »Sollten die britische Regierung und das britische Oberkommando eine Reduzierung ihrer Divisionen beschließen, kann der Krieg unmöglich fort-
gesetzt werden.«
Pétain hat bereits am 30. Mai eine persönliche und geheime Weisung für »den
Fall, daß« an Castelnau geschickt und diesen damit beauftragt, die Vorbereitun-
Räumung seiner Stellungen sowie eine Bewegung seiner Einheiten in Richtung Westen zu untersuchen. Diese Vorsichtsmaßnahme gehört zu einem am 4. Juni vorgelegten Vorentwurf, der die schnellstmögliche Aufstellung von zwei massierten Verbänden durch die verstärkte und gleichzeitige Nutzung von Eisenbahn, Fahrzeugen und Straßenverbindungen vorsieht. Zur Durchführung dieser Bewegungen werden 15 bis 20 gen
zur
Tage angesetzt. Mit diesen massierten Verbänden soll die Front verstärkt werden, um so Paris mit möglichst geringen Mitteln zu schützen und eine Gegenoffensi-
in die Flanken des Feindes durchzuführen. Dieser Plan wird jedoch am 8. Juni von Foch abgelehnt. Die neue Matz-Schlacht beginnt am 9. Juni. Die feindliche Offensive kann nur mit Mühe gestoppt werden, ve
aber die Deutschen benötigen danach einen Monat, um sich wieder neu zu gliedern. Diese unerwartete Atempause wird zur Bildung neuer Reserven genutzt.
Die militärischen Operationen der französischen Armee
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Dennoch gibt es erhebliche Spannungen zwischen Pétain und Foch. Pétain befürchtet einen neuen Angriff in der Champagne, Foch in Flandern. Der Kriegsausschuß versammelt sich deshalb am 26. Juni, um zu schlichten. Doch in der Zwischenzeit treffen bessere Nachrichten ein: Die Kampfkraft der deutschen Offensivdivisionen soll auf nur noch 50 Prozent gesunken sein. Die Abteilung 2 äußert am 10. Juli die Vermutung, daß der nächste deutsche Angriff mit Sicherheit in der Champagne stattfinden werde. Dieses Mal genenhmigt Foch sofort die Bereit-
stellung von Reserven.
Der Gegenangriff gegen eine deutsche Armee, die mit ihrer Offensivkraft am Ende zu sein scheint Es kann nichts schiefgehen. Die Befehle für die Verteidigung der 2. Stellung haben bemerkenswerte Auswirkungen: die Artillerie verbraucht im Juli 1918 vier Millionen Geschosse, wohingegen es im August 1917 vor Verdun nicht mehr als drei Millionen gewesen waren. Der Anteil der Artilleristen ist von 18 Prozent im Mai 1915 auf 37 Prozent im November 1918 gestiegen. 540 Panzer sind an den Kämpfen vom 17. Juli beteiligt. Im April setzt die Luftwaffe 1700 moderne Flugzeuge ein, im Juli sind es 2800. Pétain ist nach den schweren Prüfungen der letzten Monate darauf bedacht, die Armee für die Kämpfe 1919 zu schonen. So sind es die britischen Kräfte, die in der am 8. August begonnenen Offensive die Hauptrolle spielen, in deren Folge sich die Deutschen auf die Siegfriedlinie zurückziehen. Es dauert jedoch bis zum September, bis die Stimmung endgültig umschlägt. Die Bulgaren fordern den Waffenstillstand, später die Ungarn.
Das Vorhaben einer französisch-amerikanischen Offensive in Lothringen nimmt Konturen an Bereits am 13. August werden die Projekte vom Herbst 1917 von der Abteilung 3 wieder aufgegriffen: »Wir müssen den Schwachpunkt des Feindes finden. Die schwächsten Frontabschnitte und die empfindlichsten Verbindungspunkte des Gegners liegen von Verdun in Richtung Osten. Es gibt bereits Pläne [...] Diese müssen nur verbessert werden.« Nach der Einwilligung von Foch, der sich zunächst ablehnend gezeigt hatte, ist dieses Vorhaben am 27. Oktober umsetzungsreif. 20 Divisionen sollen zum Einsatz kommen. Als Datum wird der 14. November festgelegt. Ziel ist es, mit 28 Infanteriedivisionen, drei Panzerdivisionen und 600 Panzern gegen einen Gegner, dessen Stärke auf sechs Divisionen ohne Reserven geschätzt wird, bis nach Morhange und Sarreguemines durchzustoßen. Doch dazu kommt es nicht mehr. Am 11. November schreibt Pétain seinen letzten Tagesbefehl »Geschlossen wegen
Sieg«.
144
André Bach
Damit war der militärische Krieg zu Ende. Die Spannungen zwischen den Alliierten, die während des Krieges latent vorhanden waren, wurden nun deutlich sichtbar, als es darum ging, den Frieden zu gestalten.
Edward M. Coffman Militärische
Operationen der US-Armee an der Westfront 1918
Kurz nach dem Waffenstillstand wurde Feldmarschall Paul v. Hindenburg von einem forschen amerikanischen Journalisten interviewt. Von George Seldes befragt, wer den Krieg gewonnen habe, antwortete Hindenburg: »die amerikanische Infanterie in den Argonnen«1. So erfreulich die Bemerkungen des Feldmarschalls zweifelsohne für den Korrespondenten und seine Zeitungsleser in den Vereinigten Staaten auch waren, sind doch viele Historiker verblüfft über diese Anerkennung des Beitrags der US-Expeditionsstreitkräfte (American Expeditionary Forces
=
AEF).
Abgesehen von der Vereinfachung, die die Frage imphzierte, ist Historikern
bekannt, daß im Herbst 1918 auch von den Briten und den Franzosen Großoffensiven geführt wurden; erstere agierten als überwältigende Kraft im Endkampf des
Krieges, als sie in den letzten vier Monaten nahezu das Vierfache an Gefangenen machten und doppelt so viele Geschütze wie die Amerikaner erbeuteten2. Darüber hinaus hatten sie von Anfang an am Krieg teilgenommen und weitaus größere Verluste als die überseeische Nation erlitten, aber auch dem Gegner zugefügt. Einige Jahre später jedoch wurde der Feldmarschall in seiner Aussage durch General Max v. Gallwitz, den Befehlshaber der Armeegruppe, deren Truppen den Amerikanern im Herbst 1918 gegenüberstanden, bestätigt: »Im Grunde genommen war es die erstaunliche Demonstration der amerikanischen Stärke, die den Krieg
definitiv gegen uns entschieden hat.« Gleichwohl kritisierte General v. Gallwitz anschließend die Leistung der AEF, und zwar im Hinblick auf die mangelnde Ausbildung und Erfahrung, was wiederum unsinnige Angriffe, schlechte Zusammenarbeit zwischen benachbarten Truppenteilen und unzureichende Führung auf Seiten dienstjüngerer Offiziere von Infanterie und Artillerie bei der Koordi1
2
Hindenburg schränkte diese Aussage durch den Zusatz ein, die britische Blockade sei so wirksam gewesen, daß Deutschland, selbst wenn es 1917 zu Land erfolgreich gewesen wäre, den Krieg nicht mehr hätte gewinnen können. George Seldes, You Can't Print That! The Truth Behind the News, 1918-1928, New York 1929, S. 35. Siehe zum vorliegenden Beitrag auch Karte vorderes Vorsatzblatt. Vom 18. Juli bis 11. November 1918 machten die Briten 188 700 Gefangene und erbeuteten 2840 Geschütze, wohingegen sich die entsprechenden Zahlen auf amerikanischer Seite auf 48 800 bzw. 1424 beliefen. Die Franzosen übertrafen die Amerikaner ebenfalls mit 139 000 Gefangenen bzw. 1880 erbeuteten Geschützen. Die kleineren belgischen Truppen machten 14 500 Gefangene und erbeuteten 474 Geschütze. B.H. Liddell Hart, The War in Outline, 1914-1918, London 1936, S. 251.
146
Edward M. Coffman
nierung von Angriffen zur Folge gehabt habe3. Dies war offensichtüch kein Lob auf die operativen Fähigkeiten der Amerikaner. wie jeden, der die Rolle der USA im Krieg unterWas Gallwitz erstaunte war die »Dimension und Dynamik der amerikanischen militärischen sucht —, Expansion«4. Innerhalb von 19 Monaten hatten die USA eine Vier-Mülionen-MannArmee aufgestellt und die Hälfte davon nach Frankreich verschifft. Im April 1917 standen dem aktiven Heer weniger als 6000 Offiziere zur Verfügung; im November 1918 gehörten der Kriegsarmee 200 000 Offiziere an5. Diese gewaltige Expansion und der Zeitdruck, unter dem sie vorangetrieben wurde, sind die Schlüsselfaktoren bei jeder Betrachtung der militärischen Operationen der AEF6. Ich werde mich nicht auf diese Operationen konzentrieren, sondern sie lediglich skizzieren und dann detaillierter auf die Entstehung dieser großen Streitmacht sowie die im Gefolge ihrer hastigen Entfaltung auftauchenden Probleme eingehen. Obwohl Teile der Ersten Division Ende Oktober 1917 an die Front kamen, unterstanden ihre Bataillone französischer Führung und waren überdies in einem ruhigen Abschnitt stationiert. Im Laufe der folgenden acht Monate trafen andere US-Divisionen ein und lernten die Front sowohl unter britischer wie französischer Kontrolle kennen. Eine beträchtliche Anzahl von Amerikanern aber trat erst in den letzten fünfeinhalb Monaten des Krieges in Aktion. Die erste Offensive mit USBeteiligung fand Ende Mai statt, als das von den Franzosen unterstützte 28. Infanterieregiment der Ersten Division das Dorf Cantigny eroberte und hielt. Die Zweite und Dritte Division nahmen im Juni mit den Franzosen am Kampf um Chateau-Thierry teil, während die Erste und Zweite Division den Gegenangriff bei Soissons Mitte Juli anführten. Im Sommer 1918, als mehr amerikanische Divisionen an der Aisne-Marne- und der Oise-Aisne-Offensive teilnahmen, wurden sechs US-Korps und die Erste Armee aufgestellt. Am 12./13. September eroberte diese aus drei US-Korps und dem französischen Kolonialkorps bestehende Feldarmee insgesamt neun US- und vier französische Divisionen den St. Mihiel-Frontvorsprung. In der letzten Septemberwoche setzte die AEF mit neun Divisionen auf der knapp 30 km breiten Front zwischen der Maas und den Argonnen zum Angriff an, während eine andere Division unter französischem Kommando links von der Ersten Armee im Einsatz war. Im Verlauf der fast sieben Wochen dauernden Offensive wurden weitere zwölf Divisionen eingesetzt und die Zweite Armee aufgestellt, um die infolge der St. Mihiel-Operation verkürzte Front zu übernehmen. Derweil nahmen zwei Divisionen sowie die Infanterieregimenter einer dritten Division mit den Fran—
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3
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6
Max von Gallwitz, Retreat to the Rhine, in: As They Saw Us, ed. by George Sylvester Viereck, Garden City, New York 1929, S. 287. Ebd., S. 286. Leonard P. Ayres, The War With Germany: A Statistical Summary, Washington, D.C. 1919,
S. 16. Vgl. Allan R. Millet, Cantigny, May 28-31,1918, in: America's First Battles: 1776-1965, ed. by E. Heller and William A. Stofft, Lawrence, Ks. 1986, S. 185.
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Militärische Operationen der US-Armee an der Westfront 1918
deren Offensive in der Champagne teil, und zwei weitere Divisionen im 2. Korps kämpften zusammen mit den Briten während des ganzen Sommers und Herbstes. Insgesamt waren 29 Divisionen personell doppelt so stark wie die Divisionen im Bei Kriegsende hielten Gefechtseinsatz. alliierten und deutschen der sie einen größeren Teil Front besetzt als die Briten, und zwar 21 Prozent im Verzu 18 Prozent, aber immer noch sehr viel weniger als die Franzosen (55 Progleich zosen an
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zent)7.
Im Unterschied zum Zweiten Weltkrieg, als die Mobilisierung, welche die Rekrutierung und die Einberufung der Nationalgarden mit sich brachte, über ein Jahr vor Pearl Harbor begann, lag den Vorbereitungen der amerikanischen Armee für einen Eintritt in den Ersten Weltkrieg der Plan zugrunde, die Einberufung für die Aufstellung einer ca. vier Millionen Mann starken Armee zu nutzen sollte der Kongreß zustimmen —, sowie die Annahme des Generalstabes, wonach es zwei Jahre und zwei Monate dauern würde, bis die Vereinigten Staaten den Alli—
ierten mehr als Marine- und Wirtschaftshilfe würden leisten können8. Gegen Ende des ersten Kriegsmonats erfolgte von seifen der amerikanischen Behörden tatsächlich die Entscheidung, eine symbolische Expeditionsstreitmacht zu entsenden und den Secretary of War, Generalmajor John J. Pershing, zum Befehlshaber zu ernennen. Pershing suchte dann die regulären Armeeeinheiten aus, um die erste Division aufzustellen. Er war einer von lediglich zwei Offizieren, die über die Erfahrung verfügten, eine Brigade im Gefecht zu führen. Erst vor kurzem, nämlich 1916, hatte er die Strafexpedition angeführt, die in Mexiko einmarschiert war9. Die alliierten Offiziere hätten durchaus Bedenken im Hinblick auf die Erfahrungen der Amerikaner haben können. Pershing und die meisten Stabsoffiziere in der AEF hatten ihre ersten Jahre vor dem amerikanisch-spanischen Krieg in einer Armee gedient, die kleiner als eine US-Division (28 000) im Ersten Weltkrieg gewesen war. Auch wenn sie die Anforderungen, kleine Einheiten in den verschiedenen Kriegen zu führen und als Kolonialbeamte auf den Philippinen zu fungieren, gemeistert hatten, war keiner von ihnen bislang mit etwas dem Krieg an der Westfront Vergleichbarem konfrontiert gewesen. Entgangen war den Alliierten offenbar das Herzstück, d.h. relativ gut ausgebildete Offiziere, die unlängst seit 1905 den Jahreslehrgang am Army War —
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Zu Einzelheiten hinsichtlich der Beteiligung spezieller Armeekorps und Divisionen siehe Order Of Battle of the United States Land Forces in the World War, Washington, D.C. 1988, vol. 1-2. Die besten Karten und Geländebeschreibungen zu dieser Beteiligung sind zu finden in American Armies and Battlefields in Europe, Washington, D.C. 1992 [es handelt sich dabei um Neuauflagen früherer Veröffentlichungen des Center of Military History, Ayres], S. 101,140. Aktenvermerk von Bliss vom 31.3.1917, Briefordner 211, Tasker H. Bliss Papers, Library of Congress; Edward M. Coffman, The War To End All Wars: The American Military Experience in World War I, New York 1968, S. 24-28. Die beste Beschreibung von Pershing als Befehlshaber der AEF liefert Donald Smythe, Pershing: General of the Armies, Bloomington, In. 1986.
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Edward M. Coffman
College (256) sowie in Fort Leavenworth die School of the Line (432) absolviert hatder besten Studenten der auf hohem Wettbewerbsniveau ausgerichteten School of the Line setzten ihre Ausbildung am Staff College fort. Waren im Ersten Weltkrieg Absolventen des Army War College im Generalsalter, dienten die meiten. 250
sten der Leavenworth-Absolventen als Stabsoffiziere und waren zwischen 30 und 40 Jahre alt. Robert L. Buhard hatte sich anfangs wenig begeistert darüber gezeigt, am »Get Rich Quickly«-Lehrgang in Leavenworth teilzunehmen und ein Jahr am War College zu verbringen. Als er jedoch die genannten Schulen wieder verließ, war er von ihrer Bedeutung überzeugt. CD. Herron, Absolvent der beiden LeavenworthAusbüdungsprogramme und im Krieg Chef des Stabes der 78. Division, merkte später an, daß Leavenworth »den geistigen Horizont gewaltig erweitert« habe und die gleichartige Ausbildung dazu geführt habe, daß die Absolventen »dieselbe Sprache sprachen«. Auch wenn Pershing keine dieser Schulen absolviert hatte, war er sich durchaus bewußt, welche Produkte sie hervorbrachten, und daß er sich zu einem großen Teil auf sie verlassen mußte. C.R. Huebner, ein Offizier, zu jung, um eine der Schulen besucht zu haben, der sich aber als Kompaniechef, Bataillons- und Regimentskommandeur im Krieg ausgezeichnet hatte, resümierte die Bedeutung von Leavenworth-Absolventen mit den Worten, dies seien die Männer gewesen, »die dafür gesorgt haben, daß im Krieg alles klappt«10. Die Leavenworth-Absolventen hatten ihr Handwerk aus übersetzten deutschen Lehrbüchern gelernt, und sie hatten Operationspläne auf europäischen Landkarten ausgearbeitet. Und so war ein Trio aus Pershings Stabsoffizieren, als es sich 1917 daran machte, das voraussichtliche Operationsgebiet zu studieren, weil ihre sie regelrecht elektrisiert, Scheingefechte just auf Geländekarten geführt hatten, auf denen auch der St. Mihiel-Vorsprung eingezeichnet war. Auf dem Weg nach Frankreich bekam ein älterer Offizier schockiert mit, wie zwei jüngere der Leavanworth-Absolventen die Fähigkeiten der deutschen Armee derart priesen, daß für ihn die schon auf Defätismus hinausliefen11.
Äußerungen
Viele War Coi/ege-Studenten hatten vor Beginn ihres Ausbildungsprogramms an dieser Schule einen dreimonatigen Lehrgang in Leavenworth absolviert. Zur Aufstellung der zur AEF gehörenden Armee-, Korps- und Divisionskommandeure und ihrer Stabschefs, aus der deren Kampferfahrungen und weitere militärische Ausbildung nach dem College-Abschluß hervorgehen, siehe Edward M. Coffman, The AEF Leaders' Education for War, in: The Great War, 1914-1918, ed. by R.J.Q. Adams, College Station, Tex. 1990, S. 154-156; Timothy K. Nenninger, The Leavenworth Schools and the Old Army: Education, Professionalism, and the Officer Corps of the United States Army, Westport, Conn. 1978, S. 72,157-158; Verzeichnis der Studierenden und Ehemaligen nach Jahrgängen, 1905-1987: A.R. Millett, The General: Robert L. Bullard and Officership in the United States Army, 1881-1925, Westport, Conn. 1975, S. 222-223, 231; Interviews mit den Generalleutnanten CD. Herron und C.R. Huebner. Bei den drei Stabsoffizieren handelte es sich um John M. Palmer, Fox Conner und Hugh A. Drum. John M. Palmer, Washington, Lincoln, Wilson: Three War Statesmen, Garden City, N.Y. 1930, S. 299. Robert L. Bullard war der ältere Offizier, und Arthur L. Conger und Harold B. Fiske waren die jüngeren. Millett, The General (wie Anm. 10), S. 311.
Militärische Operationen der US-Armee an der Westfront 1918
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In den ersten Monaten des Krieges nahm das Kriegsministerium die unzähligen mit der Aufstehung und Ausrüstung der Kriegsarmee verbundenen Details in Angriff, und zwar die Verstärkung der Regulären Armee durch Freiwillige, die Mobilisierung der Nationalgarde und die Vorbereitungen für die eintreffenden Wehrpflichtigen. Unter anderem mußte die Armee 32 Lager errichten, jedes mit einer Unterbringungskapazität für 40 000 Soldaten. Um Rekruten zu Offizieren auszubilden, führte die Armee einen dreimonatigen Lehrgang ein. Unterdessen war Pershing Mitte Juni in Frankreich eingetroffen. Dort hatte er mit britischen und französischen Militärführern gesprochen. Er war insbesondere von dem Befehlshaber der französischen Armee, Henri Philippe Pétain, beeindruckt, der sich besorgt darüber äußerte, daß die Amerikaner zu spät kommen könnten12. Pershing reagierte auf das in Frankreich Gehörte und Gesehene, indem er das Kriegsministerium drängte, schnellstmöglich eine möghchst große Streitmacht zu entsenden, konkret: eine Million Soldaten bis Mai 1918. Das Kriegsministerium, das die bereits überwältigenden logistischen Probleme in den Griff zu bekommen suchte, antwortete, möglicherweise 650 000 Mann bis Juni entsenden zu können. Von da ab sollte es bis zum Ende des Krieges zwischen den ständig steigenden Forderungen der AEF und den Reaktionen des Ministeriums eine Divergenz geben, die die logistischen Anstrengungen erhebhch beeinträchtigte. Kennzeichnend für die AEF-Planungen war, daß Ausbildung und Ersatz zwei Bereiche darstellten, die weder von Pershings Stab noch vom Generalstab des Kriegsministeriums entsprechend bearbeitet worden waren. Im Hinblick auf die Truppenergänzung gingen beide Gruppen von der naiven Annahme aus, daß die großen Divisionen im wesentlichen eigenständig sein würden. So bestimmte die AEF in der Tat einige Einheiten als Ersatzdivisionen, was zur Folge hatte, daß diese ihr eigenes Personal als Ersatz für Ausfälle in anderen Divisionen abstellten. Dieses Aufsplittern von Einheiten war natürlich für die betroffenen Offiziere und Soldaten demoralisierend und auch nicht sehr effizient für das Ersatzwesen. Im Frühjahr 1918 organisierte General Peyton C. March, der neue Chef des Stabes, Ausbildungszentren für das Ersatzwesen in den Vereinigten Staaten; gleichwohl wurden weiterhin Divisionen aufgesplittert, um den massiven Forderungen der Herbstoffensiven zu entsprechen. Ausgeblutete Einheiten wurden so ständig durch neue Infanteristen wieder aufgefrischt. Ein Soldat, der bei der ersten Kompanie diente, die im November 1917 Verluste erlitt Kompanie F des 16. Infanterieregiment —, erinnerte sich später daran, daß das Dreifache der Kompaniekopfstärke vor Kriegsende ersetzt wurde13. —
12
John J. Pershing, My Experiences G.
13
in the World War, New York 1931, vol. 1, S. 63; James Harbord, Leaves From A War Diary, New York 1925, S. 47; Coffman, The War (wie Anm. 8),
Kap. 2.
Robert Alexander befehligte die 41. Division vom Februar bis Juli 1918 und hinterließ die beste Beschreibung darüber, wie eine Depotdivision funktionierte: Memoirs of the World War: 1917-1918, New York 1931, Kap. 4. Siehe auch Peyton C. March, The Nation at War, Garden City, N.Y. 1932, S. 7 f.; George R. Smith an Sidney C. Graves, undatierte Aufzeichnung, die der Autor von letzterem erhielt.
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Da Pershing davon ausging, daß die AEF 1919 als Speerspitze für den erforderlichen Durchbruch eingesetzt würde, um den Stillstand an der Westfront zu beenden, vertrat er energisch erne an open warfare orientierte Ausbildung mit der Betonung auf die Schießkunst und die Flexibilität des Soldaten, die auf individueller Initiative beruhen sollte. Für ihn blieben »Gewehr und Bajonett immer noch die Hauptwaffen der Infanterie«. Anfangs wollte er sogar den Einsatz von Granaten verhindern. Nach den ersten Wochen der Maas-Argonnen-Offensive änderte er jedoch insofern seine Meinung, als er die Bedeutung automatischer Gewehre und Gewehrgrananten beim Angriff auf MG-Stellungen einräumte. Den Worten des Historikers Allan R. Millett zufolge »wurde open warfare nicht einfach ein taktisches Konzept, sondern eine >amerikanische< Art und Weise zu kämpfen sowie ein Symbol für das psychologische Streben der AEF nach einem Sieg auf dem Schlachtfeld«. In der Realität erwies es sich weniger als taktische Doktrin, denn als inspirierende Anstrengung. Schließlich waren Maschinengewehre und Artillerie, wie Franzosen, Briten und Deutsche nach drei Kriegsjahren sehr wohl gemerkt hatten, ein nicht zu unterschätzender Faktor in der Kriegführung14. Natürhch wußte Pershing, daß Soldaten gut ausgebildet sein mußten, um sein Ideal von open warfare zu verwirklichen. Das aber war die AEF nicht, wie sich auf dem Schlachtfeld zeigte. Eine viele Jahre später durchgeführte Befragung von mehr als 500 Veteranen der Maas-Argonnen-Schlacht ergab, daß 94 Prozent ihre Ausbildung als unzureichend ansahen. Zu einem großen Teil war dies auf Zeitmangel zurückzuführen; schließlich waren einige Ersatzkräfte gerade mal sechs Wochen bei der Armee, als sie in diesem Feldzug zu ihren Einheiten an der Front stießen15. Andere Gründe waren der Mangel an erfahrenen Ausbüdungskadern, an Waffen und Ausrüstung, die konfusen und permanent wechselnden Ausbildungsprogramme, das unzulängliche Ersatzwesen und die überstürzten Zeitpläne für die überseeische Verschiffung. Mit anderen Worten, die mangelhafte Auswar das Ergebnis des raschen Aufwuchses und der überstürzten bildung Verlegung der amerikanischen Armee. Ursprünglich hatten Pershing und die Offiziere des Kriegsministeriums gedacht, 16 Wochen Ausbildung seien vor der Verschiffung einer Division ausreichend, um diese nach einer kurzen Zusatzausbildung an der Front einsetzen zu können. Abgesehen von dem Irrglauben, daß Divisionen, deren Offiziers-, Unteroffiziers- und Mannschaftsbestand sich gänzlich aus ehemaligen Zivilisten rekrutierte, innerhalb von vier Monaten ausgebildet werden konnten, gab es andere Probleme, die sich negativ auf die Ausbildung in den Vereinigten Staaten auswirkten. Die Überfülle an unkoordinierten Ausbildungsweisungen und -Vorschriften stand einer effektiven Ausbildung im Wege und behinderte sie offen14
15
Das erste Zitat stammt von Pershing, My Experiences (wie Anm. 12), vol. I, S. 154. Siehe ebenfalls ebd., S. 153 und vol. II, S. 358. Das zweite Zitat stammt von Millett, The General (wie Anm. 10), S. 315. Paul F. Braim, The Test of Battle: The American Expeditionary Forces in the Meuse-Argonne campaign, Newark, Del. 1987, S. 184; Coffman, The War (wie Anm. 8), S. 305.
Militärische Operationen der US-Armee an der Westfront 1918
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sichtlich, wie aus der Beschwerde eines Kommandeurs eines Infanterieregiments in Camp Grant/Illinois hervorging. Ferner führte der Mangel an Waffen dazu,
daß Infanteristen zu wenig Zeit auf Schießständen verbrachten und Artilleristen die Gewehre, mit denen sie schießen mußten, generell erst in Frankreich zu Gesicht bekamen. In Camp Gordon brachte ein Gefreiter, später der bekannteste Soldat in der AEF, Alvin C. York, im Winter 1917/18 vier Monate mit Formalausbildung zu, bevor ihm ein Gewehr ausgehändigt wurde. Er schoß zwar mit dieser Waffe auf der Schießbahn, mußte aber in Frankreich seine Springfield gegen eine britische Enfield austauschen16. Diskontinuitäten im Personalbereich jedoch stellten das größte Problem für diese Divisionen dar, die man in den Vereinigten Staaten auszubilden versuchte. An der Spitze der Einheiten herrschte wenig Stabilität angesichts der großen Fluktuation von Divisionskommandeuren. Von den 29 Divisionen, die in der AEF im Gefecht eingesetzt wurden, behielten lediglich sechs den Kommandeur, mit dem sie ihre Ausbildung begonnen hatten. Drei Divisionen erlebten vier verschiedene Generale, elf Divisionen drei und neun Divisionen zwei. Aufgrund von Kommandierungen von Offizieren und Soldaten, die sich spezialisiert hatten, und der Notwendigkeit, in noch größerer Anzahl Einheiten, deren Einschiffungstermin bevorstand, auf Kriegsstärke zu bringen, wurden ständig Leute von ihren ursprünglichen Einheiten abgezogen17. Die Erfahrungen, die eine Division vor
ihrer Verschiffung nach Frankreich machte,
geben eine gute Vorstellung von
der Unruhe und dem herrschenden Durcheinander. Im Juli 1917 aufgestellt, begann die 86. Division kurze Zeit später ihre Ausbildung mit Exerzieren und Märschen. Im Januar 1918 hatte sie das 16-Wochen-Programm formell abgeschlossen; 5400 Soldaten waren jedoch während der Ausbildung versetzt worden, und die Artillerieeinheiten hatten erst in dem Monat überhaupt Kanonen erhalten und mit nur zwei Geschützen pro Bataillon konnte nur eine Kurzeinweisung stattfinden, die hoffentlich irgendwie von Nutzen wäre, wenn den Einheiten andere Kanonen in Frankreich zugeführt würden. Obendrein wirkte sich der strenge Winter, einer der härtesten seit Menschengedenken, natürlich auf den normalen Dienstbetrieb in der 86. Division wie in den anderen über das ganze Land verstreuten Divisionen aus. Anfang 1918 begannen Offiziere und Soldaten in der 86. Division mit einer in ihren Augen der open warfare entsprechenden Ausbildung; innerhalb weniger Monate wurden jedoch 8000 Soldaten versetzt, so daß nur wenige das Programm abschließen konnten. Als Folge davon wurde diese Division bei ihrer Ankunft in Frankreich im Oktober wie andere auch bis auf —
16
17
Douglas V. Johnson, A Few >Squads Left< and Off to France: Training the American Army in the United States for World War I, Temple, University Diss. 1992, S. 197-198; Sergeant York: His Own Life Story and War Diary, ed. by Tom Skeyhill, Garden City, N.Y. 1928, S. 179, 189 f., 194. Edward M. Coffman, American Command and Commanders in World War I, in: New Dimensions in Military History: An Anthology, ed. by Russell F. Weigley, San Rafael, Cal. 1975, S. 191; Johnson, A Few »Squads Left< (wie Anm. 16), S. 231, 233.
152
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den Personalstamm reduziert, um Ersatzkräfte für andere Einheiten abzustellen18. Es kamen ein paar britische und französische Veteranen über den Atlantik, um den unerfahrenen Amerikanern in der Ausbildung zu helfen; da aber Pershing auf der open warfare-Doktnn bestand, gerieten die Methoden, die sie lehrten, nämlich in Schützengräben zu leben und zu kämpfen, in Mißkredit. Diese Ausbildung, die zweifelsohne für Soldaten, die eine Zeitlang in Schützengräben hätten zubringen müssen, durchaus von Nutzen gewesen wäre, wurde nicht durch ausreichende Unterweisung in individuehTen Fertigkeiten ergänzt und auch nicht durch eine Ausbildung im Gefecht verbundener Waffen insbesondere von Infanterie und Artillerie —, was Divisionen in einem Bewegungskrieg gebraucht hätten. Charles L. Boité, ein junger Offizier, der im November 1917 gerade sein Offizierspatent erhalten hatte und im darauffolgenden Frühjahr mit der 4. Division nach Frankreich ging, faßte mit folgenden Worten zusammen, was das auf der Ebene der Infanteriekompanie bedeutete: »Wir hatten nur sehr, sehr wenig Ausbildung abgesehen von soldatischer Grundausbildung und wie man Befehlen gehorcht und wie man marschiert19.« Pershings Ausbildungsplan für die Divisionen umfaßte nach deren Ankunft in Frankreich drei Phasen. In der ersten sollte die Ausbildung an Waffen erfolgen, woran sich eine taktische Ausbildung bis zur Divisionsebene anschließen würde. Danach sollten kleine Einheiten kurzzeitig unter französischem Kommando Verwendung in ruhigen Abschnitten finden. Und schließlich sollte eine Division nach erfolgter Ausbildung im Gefecht der verbundenen Waffen dazu bereit sein, als Teil eines französischen Korps ihren eigenen Abschnitt zu übernehmen. Im Endeffekt durchlief lediglich die Erste Division, die im Sommer 1917 in Frankreich eintraf, alle drei Ausbildungsphasen20. Die Erste Division litt allerdings an einer grundlegenden und für alle nach Frankreich entsandten Divisionen charakteristischen Schwäche. Auch wenn es sich hierbei um einen regulären Verband handelte, waren die meisten Soldaten und viele Offiziere Kriegsfreiwillige, die noch drei Monate vor der Landung der Division in Frankreich Zivilisten gewesen waren. Etwa zwei Drittel der Soldaten waren Rekruten, und 60 Prozent der Unteroffiziere und eine Vielzahl der Offiziere waren erst vor kurzem übernommen worden. Ralph Huebner, der in Saint Nazaire das Kommando über die 28. Infanteriedivision übernahm, entdeckte, daß der First Sergeant bei Kriegsbeginn Corporal gewesen war. Dieser neue Sergeant warnte ihn im Hinblick auf die Unteroffiziere: »Übergeben Sie Ihnen keine Trupps. [...] Die wissen nicht, was zu tun ist.« In der 16. Infanteriedivision stellte ein anderer Kompaniechef fest, daß seine Leute »nicht einmal das Gewehr schultern konnten«21. —
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Ebd., S. 193-196. Interview mit Charles L. Boité. Pershing, My Experiences, vol. 1 (wie Anm. 12), S. 265; Braim, The Test of Battle (wie Anm. 15), S. 56. Millett, Cantigny (wie Anm. 6), S. 162; Interviews mit Huebner und Graves.
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Französische Soldaten unterwiesen die Erste Division in die Handhabung der ausgelieferten Waffen und im Handgrantenwerfen. Ungeachtet dessen, daß Pershing auf Schießkunst setzte, verbrachte die Erste Divsion eigentlich wenig Zeit auf Schießbahnen. Aus Sorge darüber behalf sich Huebner damit, seine Männer auf Blechbüchsen schießen zu lassen. In der Zwischenzeit machte sich die Artillerie, die später nach Frankreich gekommen und anfangs getrennt ausgebildet worden war, mit den französischen Geschützen vertraut, die sie zu bedienen hatte. Zumindest in dieser Division wurden Infanterie und Artillerie schließhch zusammen ausgebildet. In den meisten der nachfolgenden Divisionen war dies nicht der Fall22. Auch wenn das Kriegsministerium Divisionen des stehenden Heers, der Nationalgarde und der Reserve vorgesehen hatte, zeigte das Beispiel der Ersten Division dessen ungeachtet, daß die meisten Offiziere und Soldaten Kriegsfreiwillige oder einberufene Wehrpflichtige waren. Da die Einheiten Ersatzkräfte brauchten, wurde entsandt, wer verfügbar war. Kurz nachdem die 32. Division, ursprünghch eine aus den Nationalgarden von Wisconsin und Michigan zusammengestellte Division, im März 1918 in Frankreich eingetroffen war, mußte sie 7000 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften ein Viertel ihrer Gesamtstärke als Lückenfüller an die Erste Division abgeben. Zusätzlich unterbrochen wurde die Ausbüdung noch dadurch, daß Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften aus ihren Einheiten an verschiedene Spezialschulen geschickt wurden. Huebner erinnerte sich daran, wie schwer es für ihn war, Unteroffiziere zu behalten: »Sobald ich einen guten Mann bekam, wurde dieser an eine Schule geschickt23.« Nach dem Scheitern der Passchendaele-Offensive und dem Zusammenbruch der Ostfront Ende 1917 war den Allüerten klar, daß sie US-Personal benötigten, um den Krieg zu gewinnen. Daraufhin traten die Briten in Verhandlungen ein und boten den Amerikanern die Bereitstellung von Schiffen für den Transport dieser Verstärkungen an. Anstatt sich auf eine Großoffensive für 1919 vorzubereiten, mußte die AEF ein Jahr früher aufbrechen. Diese Eile führte dazu, daß in den letzten achteinhalb Kriegsmonaten mehr Amerikaner (1 788 448) den Atlantik überquerten, als sich am 1. April 1918 von der gesamten US-Armee daheim und in Frankreich (1 652 725) aufhielten24. Die Briten und Franzosen meinten, daß diese Männer am effektivsten als Ersatzkräfte in ihren Armeen einzusetzen wären. Mit dieser Verschmelzung würde verhindert, daß eine große Anzahl von Amerikanern in der logistischen Infrastruktur entgegen den Planungen Pershings einüberdies würde sich damit auch die für amerikanische Kommanwürde; gesetzt deure und Stäbe erforderliche Testphase erübrigen, die erforderlich wäre, um ein adäquates Niveau an Effektivität zu erreichen. Pershing wandte sich jedoch energisch gegen einen Zusammenschluß, und er stimmte lediglich zu, für einen begrenzneu
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Millett, Cantigny (wie Anm. 6), S. 161,164; Interviews mit Huebner und Graves. Order of Battle (wie Anm. 7), vol. 1, S. 181; Interview mit Huebner. Edward M. Coffman, The Hilt of the Sword: The Career of Peyton C. March, Madison, Wis. 1966, S. 150.
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ten Zeitraum Divisionsinfanterie und MG-Truppen zu verschiffen und eine Anzahl davon zusammen mit den Verbänden der verbündeten Briten ausbilden zu lassen. Während der gesamten Dauer ihrer Ausbildung für den Dienst an der Front wurden die Divisionen von Stabsoffizieren aus Pershings Hauptquartier überwacht. Diese Überwachter, spöttisch auch »Periskope« genannt, hatten die Kommandeure und Stäbe fest im Visier. So bheb für Hugh Drum bei einem Besuch bei der 42. Division nicht unbemerkt, was für ein exzellenter Offizier ihr Stabschef Douglas MacArthur war, wohingegen sich andere »Periskope« weniger schmeichelhaft über die beobachteten Kommandeure und Stäbe ausließen25. Kontrohe, die gute Verbindungen wie auch eine gute Lageerfassung durch die Kommandeure und den Stab beinhaltete, stellte für die AEF ein Problem dar, das zu einem großen Teü auf die Unerfahrenheit und in manchen Fällen auf die Inkompetenz von Kommandeuren und Stäben zurückzuführen war. Dieses Problem wurde nie ganz gelöst, auch wenn die AEF besondere Anstrengungen unternahm, Offiziere in einer neu organisierten Stabsschule auszubilden. Während der Schlacht im Wald von Belleau vertraute der Brigadekommandeur der Marines seinem Tagebuch an: »Mehr als alles andere auf der Welt möchte man wissen, wo die eigenen Truppen genau stehen.« James G. Harbord war sicherlich nicht der einzige Brigadeoder Divisionskommandeur, der seinen Truppenteil aus den Augen verlor. Im Juli ging dem Kommandeur der 26. Division während der Aisne-Marne-Offensive eine Brigade drei Tage lang verloren. Pershing reagierte darauf mit dem Versuch, die Zügel anzuziehen. Der Stabschef der 78. Division klagte während der Maas-Argonnen-Schlacht: »Wir hatten taktisch wenig Spielraum«, da die Stäbe von Korps und Erster Armee sowohl die Grenzen festsetzten als auch die Ziele diktierten. Hunter Liggett, der das 1. Korps zu Beginn des Maas-Argonnen-Angriffs kommandierte, wies darauf hin, daß ihn solche rigiden Einschränkungen davon abhielten, Gelegenheiten zu nutzen, über das festgesetzte Ziel hinauszugehen. Paradoxerweise lähmte Pershing, dessen Idealvorstellung von open warfare Eigeninitiative und Hexibihtät hervorhob, eben diese Qualitäten, weh er den Fähigkeiten und Erfahrungen seiner Kommandeure und ihrer Stäbe nicht vertraute, was in vielen Fällen durchaus berechtigt war. In einem eklatanten Fall wurden die Stäbe der unerfahrenen Angriffsdivisionen vor ihrer Maas-Argonnen-Offensive durch eine falsche Prioritätensetzung geschwächt, indem man ihre Stabsoffiziere für einen Lehrgang an der Stabsschule in Langres abzog. Viele Jahre nach dem Krieg betonte George C. Marshall, seinerzeit führender Stabsoffizier bei der Ersten Armee, Pershing gegenüber: »Die Verwirrung, die daraus entstand, und die schlechte Führung waren gewaltig26.«
Millett, Bullard (wie Anm. 10), S. 401; Coffman, The War (wie Anm. 8), S. 150 f. Harbord, Leaves (wie Anm. 12), S. 298; Coffman, The War (wie Anm. 8), S. 252; Interview mit CD. Herron; Hunter Liggett, AEF: Ten Years Ago in France, New York 1928, S. 175; Johnson, A Few >Squads Left« (wie Anm. 16), S. 246; Marshall an Pershing, 24. Oktober 1930, in: The Papers of George C Marshall, ed. by Larry I. Bland, Baltimore, Md. 1981, vol. 1, S. 360.
Militärische Operationen der US-Armee an der Westfront 1918
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Auch wenn Pershing der Artillerie in seinem open warfare-Konzept keinen besonderen Stellenwert beimaß und in der Tat die Erste und Zweite Division bei Soissons ohne jegliche Artillerievorbereitung in den Angriff begannen, wurde die Notwendigkeit einer Unterstützung durch die Artillerie zusehends deutlich. Es kam zwar während der Maas-Argonnen-Offensive zum verstärkten Artillerieeinsatz, doch war dieser nach Beobachtungen des Feindes nicht gut koordiniert27. Dafür gab es mehrere Gründe. An erster Stelle ist die Tatsache zu nennen, daß Infanterie- und Artillerieeinheiten meist nicht zusammen ausgebildet worden waren und auch generell nicht viel Ausbildung erfahren hatten. Carl Penner, Kommandeur eines Artillerieregiments zur Unterstützung der 79. Division beim ersten Angriff auf Montflaucon, erinnerte sich, daß die Infanterie »ein Haufen von Grünschnäbeln mit wenig Ausbildung« gewesen war. Erschwert wurde die Lage überdies dadurch, daß die Unterstützung durch Artilleriefeuer in der Regel von einer anderen Division kam. In Penners Fall war sein 120. Feldartillerieregiment eine Einheit der 32. Division, so daß er die Leute, die er unterstützte, im Grunde nicht kannte. Dies bedeutete, wie er sich erinnerte, daß sich die Koordinierung des Artillerieeinsatzes auf die Annahme beschränkte, »daß sich die Infanterie an einen Zeitplan halten mußte; tat sie das nicht, sah es schlecht für sie aus«. Eine schon schlimme Lage während der Maas-Ardennen-Offensive wurde dadurch noch kritischer, weil es praktisch keine Straßen und Wege gab, und die wenigen vorhandenen entsetzlich verstopft waren. So hatte die Artillerie große Schwierigkeiten, ihre Stellungen nach vorn zu verlegen, um weiterhin Unterstützungsfeuer zu geben28. Was die Infanterie anging, so entwickelten sich die Angriffe zu einem reinen Blutbad, als die Soldaten ohne Rücksicht auf die einfachsten Prinzipien von Feuer und Bewegung geradewegs auf feindliche Stellungen vordrangen. Der Angriff der Ersten Division bei Soissons ähnelte dem von Picketts Division bei Gettysburg. Die Männer in Huebners Bataillon rückten in Wellen, »fast Schulter an Schulter«, durch das Weizenfeld vor. Am Schluß des Angriffs war Huebner als einziger Offizier übriggeblieben, und es hatten von seinem Bataillon gerade mal so viel Mann überlebt, daß fünf kleine Züge aufgestellt werden konnten. Ein französischer General, der die Soldaten in dieser Schlacht beobachtete, merkte hierzu an: »Ich weine um die Familien und Liebsten dieser Amerikaner, die in die Schlacht gehen wie wir 191429.« 27
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Coffman, The War (wie Anm. 8), S. 237; Gallwitz, Retreat (wie Anm. 3) S. 286. Interview mit Penner. George C. Marshall zufolge verfügten nur vier der Divisionen (1., 2., 26. und 42.) über ihre verbandseigene Artillerie während der späteren Phase der MaasArgonnen-Offensive. Marshall, Memorandum for the Infantry Board, 2.3.1931, in: The Papers of George C. Marshall (wie Anm. 26), S. 373. Interview mit Huebner; Liggett, AEF (wie Anm. 26), S. 131. Erst 1926 wurden vom amerikanischen Kriegsministerium die endgültigen Verlustzahlen veröffentlicht. Die amerikanischen Verluste in Europa beliefen sich einschließlich der 405 Soldaten im Nordrussischen Feldzug insgesamt auf 244 086 Mann weniger als andere große Kriegführende in einem oder mehreren Feldzügen verloren hatten. War Department Report: 1926, Secretary of War, Washington, D.C. 1926, S. 224 f. —
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Edward M. Coffman
Für die
Abhängigkeit vom Mut Einzelner mußten die Amerikaner auch im Maas-Argonnen-Feldzug beim Angriff auf eine gut ausgebaute feindliche Stellung mit schweren Verlusten bezahlen. Wie Paul F. Braim, der Historiker dieser Offensive, bemerkte, »kam in der Hauptsache überhaupt keine Taktik zum Zuge«. Nach einigen Wochen solch verlustreicher Kämpfe, als Widerstandskraft und Mut der Soldaten ihre Grenzen erreicht hatten, gingen Tausende einfach nicht mehr mit ihren Einheiten weiter, oder sie entfernten sich von ihnen. Desertionen erreichten ein solch gefährliches Niveau, daß Pershing einen vertraulichen Brief an einen Divisionskommandeur richtete, der gerade seine Truppen in eine Schlacht gewor-
fen hatte, in dem er schrieb, daß die Offiziere alle Maßnahmen ergreifen mußten, darunter die Erschießung von Deserteuren, um diesem Tun ein Ende zu machen. Dies war Kontrolle in ihrer extremen Art was Pershing in seinem Brief ausdrücklich betonte30. In dem Bestreben, die Effektivität seiner Armee zu erhöhen, löste Pershing einen Korpskommandeur ab, außerdem drei Divisions- und mehrere Brigadekommandeure, und Mitte Oktober übergab er sein eigenes Kommando über die Erste Armee an Hunter Liggett. George C. Marshall erinnerte sich in diesem Zusammenhang wie folgt: »Täglich wurden im Maas-Argonnen-Feldzug Offiziere mit Befehlsgewalt über Regimenter, Brigaden, Divisionen oder für andere wichtige Positionen ernannt, um Verluste auszugleichen, von denen einige nicht auf den Feind zurückgingen. übernahmen sie eine in Häufig Aufgabe einer Situation, die man nur als desolat bezeichnen kann. [...] Obendrein war selten Zeit [...] in Ruhe einen Überblick über die Lage zu gewinnen. Es mußte gehandelt werden, oft noch in der ersten Stunde. Und gewöhnlich war am nächsten Morgen ein neuer Angriff erforderlich31.« Liggett »straffte« seinen neuen Kommandobereich, indem er daranging, »jedwede Anstrengung zu unternehmen, um aus früheren Fehlern zu lernen«. Und die letzten Angriffe Anfang November zeigten in der Tat eine Veränderung zum Positiven. Liggett zufolge war die Armee zu diesem Zeitpunkt »kampferprobt, und sie begann mit jener koordinierten Gängigkeit zu funktionieren, die nur Kampferfahrung bringen kann«32. Nach dem Krieg unternahm ein Ausschuß führender AEF-Offiziere eine detaillierte Untersuchung der Anstrengungen der AEF. Erwartungsgemäß monierten sie den Zeitmangel für die Vorbereitung, was dazu geführt habe, daß unausgebildete Soldaten »auf ihre eigenen Reserven angewiesen waren oder unausgebildeten Führern unterstanden [...], wodurch die Erfolgschancen beeinträchtigt wuren und die Verluste bei unseren Unteroffizieren und Mannschaften zweifelsohne anstiegen«. Im Hinblick auf die Koordinierung von Infanterie und Artillerie spra—
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Braim, The Test of Battle (wie Anm. 15), S. 153; Pershing an Henry T. Allen, 24.10.1918, Box 11, Henry T. Allen Papers, Library of Congress. Coffman, The War (wie Anm. 8), S. 329 f.; George C. Marshall, Memories of My Service in the World War: 1917-1918, Boston 1976, S. 172. Liggett, AEF (wie Anm. 26), S. 205, 207.
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chen sie sich dafür aus, daß ein Feldartillerieregiment regelmäßig mit derselben Infanteriebrigade ausgebüdet werden solle, »bis es sich wüküch als Teil derselben Brigade versteht«33. Bis zum Sommer 1919, dem Zeitpunkt, von dem Pershing angenommen hatte, daß sich das Gewicht der AEF an der Westfront auswirken würde, war nahezu die ganze AEF nach Hause zurückgekehrt. Wahrhaftig unvorbereitet hatte sie doch ihren Beitrag dazu geleistet, den Krieg zu einem siegreichen Ende zu führen.
AEF
Superior Board on Organisation and Tactics Proceedings forwarded by Pershing to the Secre-
tary of War, 16.6.1920, S. 20 f., 109. Ich danke Timothy K. Nenninger dafür, daß er mir Auszüge dieses Berichts in Kopie zur Verfügung gestellt hat. Das Original befindet sich in: Reports of AEF Boards, Entry 23, Record Group 120, National Archives.
Ill Der Alltag des
Krieges.
Die Front
Gerd Krumeich
Einführende
Bemerkungen
Das hauptsächliche und gemeinsame Thema der vier Beiträge dieser Sektion ist die Frage, wie die »Stimmung der Truppe« die Kriegsereignisse im Frühjahr 1918 beeinflußte und wie diese Kriegsereignisse wiederum auf die Stimmung einen Einfluß nahmen. Insbesondere geht es hier diesmal letztlich entscheidenden um »Michael«, wie die deutsche Heeresführung den geplanten großen Durchbruch bei Arras, an der Nahtstelle der englischen und französischen Armeen, nannte. »Michael«, oder auch die »Durchbruch-Schlacht« genannt oder in Ernst Jüngers »Stahlgewittern« auf ebenso schlichte wie markige Weise als die »große Schlacht« apostrophiert, wurde zum Huchtpunkt sowohl der Strategie als auch des Kriegsenthusiasmus von Front und Heimatfront. Es versteht sich, daß diese dramatischen Ereignisse des März/April 1918 von besonderem Interesse sind auch für die neue Mentalitätengeschichte des Krieges, wie sie hier auf deutscher Seite einige hervorragende Vertreter der jüngeren Generation darstellen. Benjamin Ziemann und Klaus Latzel haben in den letzten Jahren die Forschung über den »Krieg von unten«, aus dem Blickwinkel der Soldaten, in besonderem Maße vorangetrieben, indem sie die Feldpost untersucht und erste Wege zur systematischen Analyse dieses Quellentypus aufgezeigt haben. Was die deutsche Armee betrifft, ist dies bekanntermaßen besonders schwierig, da die Hauptsammelstelle der soldatischen Korrespondenz, die mihtärischen Zensurstellen, weithin dezentral arbeiteten und zudem die in den zwanziger und dreißiger Jahren an das Reichsarchiv abgegebenen Materialien mit dessen Zerstörung im Jahre 1944 ebenfalls untergegangen sind. Auswertung von Feldpost, wie sie hier exemplarisch vorgeführt wird, ist ein grundsätzlich traditionelles, aber erst seit einigen Jahren wiederentdecktes und hier in verfeinerter Form dargebotenes Verfahren. Die vorhegenden Beiträge zeigen auch deutlich die Möglichkeiten und Grenzen dieses Quellentyps auf, der je nach erkenntnisleitender Absicht auf ganz unterschiedliche Weise »zum Sprechen gebracht« werden kann. Es ist verschiedentlich nachgewiesen worden, wie beispielsweise Philipp Witkops »Kriegsbriefe«-Edition nicht allein im Lauf der Jahrzehnte fortwährender Neuausgaben immer aufs Neue verändert wurde, sondern überdies bei unverändertem Text sowohl im kriegsbejahenden als auch pazifistischen Diskurs als Quelle auftauchen konnte. Wenn man sich etwa auf rauhe oder »stählerne« Zeiten intellektuell vorbereiten will, dann kann auch der Rekurs auf grausigste Kriegserlebnisse im Sinne einer Stärkung der Kampfmoral interpretiert werden Im Falle des »Michael«-Angriffs, wie Benjamin Ziemann ihn aus soldatischer Perspektive untersucht, erhalten die Briefe ein neues Gewicht durch die Beant—
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...
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Gerd Krumeich
wortung der Frage, warum »Michael« scheiterte bzw. ob er zum Scheitern verurteilt war. In Deutschland hat sich eine traditionelle Erzählung über die Quelle gelegt, die hervorhebt, daß der Elan der Truppe, es noch ein letztes Mal zu versuchen, sehr bald einer tiefen und nicht mehr aufzufangenden Demoralisierung
gewichen sei. Dafür wird nicht zuletzt die Tatsache verantwortlich gemacht, daß die Soldaten nach den ersten erfolgreichen Angriffswellen sich an dem erbeuteten Vorrat der Alliierten labten und dadurch das Weiterkämpfen vergaßen, den Vormarsch zum Entsetzen ihrer militärischen Führer gleichsam einstellten. Ziemanns Untersuchung enthält aus den soldatischen Quellen weiterführende Hinweise, wie dieses vielleicht kriegsentscheidende »Verharren« der Soldaten jenseits wohlfeiler Polemik interpretiert werden könnte. Wichtig scheint vor allem zu sein, daß die große Hoffnung auf Rückkehr zum Bewegungskrieg und auf die »letzte Schlacht« nach langen Jahren des mehr oder weniger passiven »Kriegserfür die leidens« sehr stimulierend auf die Truppe wirkte. Für viele Soldaten meisten —, die den Bewegungskrieg 1914 noch nicht mitgemacht hatten, war dies die erste »Bewegung« überhaupt. Entsprechend groß war ihr Elan, entsprechend groß dann aber auch die Frustration über das »Steckenbleiben«, kulminierend im »verdeckten Militärstreik« (Wilhelm Deist) des August 1918, als die Alliierten an einem einzigen Tag 30 000 Kriegsgefangene und die deutsche OHL circa dieselbe Menge an eigenen Verlusten meldete. So war, wie Ziemann sagt, das Jahr 1918 ein Jahr der extremen Stimmungsschwankungen, deren pohtischer Gehalt weiterer Forschung bedarf. Klaus Latzeis breit angelegte Untersuchung basiert unter anderem auf denselben Quellengruppen der soldatischen Korrespondenz. Für die Ereignisse des Jahres 1918 bestätigt er weitgehend Ziemanns Analyse und exemplifiziert eindrücklich, was konkret der »Übergang« vom Stellungskrieg zum neuen Bewegungskrieg für die durch den meist nur passiv erlittenen Dauerbeschuß der Vormonate und -jähre zutiefst neurotisierten Soldaten bedeutete. Besonders wichtig ist die von Latzel hervorgehobene Täter-Opfer-Problematik, die im Ersten Weltkrieg insgesamt neue Dimensionen erhielt, welche, wie er zeigt, weit über den Krieg hinaus weisen. Wenn die Soldaten in ihren Briefen immer als Opfer, fast nie als Täter erscheinen, so ist damit die entscheidende Neuheit des industriahsierten Krieges markiert. Wer die Zerstörung anstellte, war weder man selber noch interessanterweise der konkrete Gegner, sondern schlicht »der Krieg«. Der eigene Anteil wurde ja auch zumeist als »Arbeit« verstanden und erzählt, mit zeitgenössischen Neologismen, wie z.B. »Zerstörungsarbeit«. Die Kriegsmittel wurden über die Erfahrung ihrer »eindeckenden« Kraft zu den eigentlichen Verursachern von Leid und Zerstörung; sicherlich eine Art Fetischisierung, unabwendbar aber wohl als Flucht vor unfaßbarer Wirklichkeit. Diese Realitätsverweigerung hatte, wie Latzel zeigt, erhebliche Auswirkungen auf die Weltkriegsmentahtäten. Das ortlose Vagabundieren des nicht bewältigten Gewalterlebnisses des Weltkrieges dürfte sich nicht zuletzt in der jetzt erst zum Vorschein kommenden totalitären Versuchung manifestiert haben, in der Bereitschaft, politische Programme verschiedenster Art auch mit Massenvernichtung zu implementieren. —
Einführende
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Bemerkungen
Interessant ist natürlich die Frage, ob das Kriegserlebnis deutscher und französischer Soldaten bei allen des konkreten Schicksals auf relevante Weise unterscheidbar war. Eindeutig bestimmbar rrdlitärgeschichtlich ist die Differenz im Fall von Verdun, wo die Verteidigung der Heimat gegen eine zentrale Aggression den französischen Soldaten die Flügel verlieh, die die Deutschen trotz aller Zähigkeit nicht besaßen. Wenn sich dann in den Materialschlachten von 1916 und 1917 dieser Grundkonsens abschwächte, wenn, wie General André Bach in seinem Beitrag zeigt, die Stimmung 1917 sogar bis hin zum Fraternisieren mit den Deutschen und zur Revolutionsdrohung absackte, so weckte »Michael« den alten Verteidigungsinstinkt und -konsens wieder auf. Man fühlte sich nach den Jahren des »industrialisiert« und sinnlos Abgeschlachtet-Werdens wieder wie »vor Verdun«. Dagegen kamen die Deutschen nicht an, fehlte ihnen doch diese entscheidende »moralische Potenz« kriegsentscheidend im Sinne von Clausewitz der Verteidigung des bedrohten Vaterlandes. Aber hätte genau dieses Selbstbewußtsein auch ein Ausgreifen Frankreichs über den Rhein zugelassen, den Krieg nicht mit dem Waffenstillstand vom 11. November 1918 zu beenden, eventuell ihn sogar im Fall einer Nicht-Unterzeichnung des Vertrages gemäß Clemenceaus Ultimatum wieder aufzunehmen und im äußersten Fall Berlin zu besetzen? Was Foch und Pontearé erhofften, sollte der »Friede nicht verloren sein«, was die Deutschen befürchteten hätten die französischen Soldaten tatsächlich eine solche Remobüisierung zugelassen? Nach den Aussagen der Quellen, wie sie General Bach präsentiert und interpretiert, ist daran stark zu zweifeln. Weitere Forschung wäre dringend erforderlich. Jedenfalls war für die Franzosen der Krieg 1918 anders beendet als für die Deutschen, die ihn zwar zeitweilig verdrängten, aber keinen Frieden fanden. Ob der Defätismus im Frankreich der 30er Jahre, d.h. die Bereitschaft, sich auf Hitler bis zur Selbsterniedrigung einzulassen, diesen selben Wurzeln entsprang ist zwar ebenfalls oft behauptet worden, aber noch nicht hinreichend belegt. Der Beitrag von Michael Epkenhans führt uns auf die Ebene der Kriegsplaner und Befehlsgeber zurück. Sein Befund ist für diese als Funktions- und Sozialgruppe vernichtend. Ludendorffs Eskapaden und Illusionismen sind überindividuell verankert, der Reaütätsverlust frappierend, wenn Ende September 1918 noch vom Sieg geredet wird. Eine Gemeinsamkeit von oben und unten scheint es im Krieg nicht gegeben zu haben; der »Offiziershaß« im deutschen Heer war in der Sache begründet. Man lese nur das jüngst erschienene Tagebuch von Ludwig Berg, des obersten katholischen Feldgeistlichen im Obersten Hauptquartier. Die Herren Generäle und Politiker sannen an festlich gedeckten Tafeln, unweit, aber ungestört von der großen Schlacht während des Sommers 1918 unverdrossen darüber nach, wie der Aachener Dom nach dem Endsieg zum Ruhme Gottes und Deutschlands umgestaltet werden könnte. Für diese Verblendung finden sich im Epkenhans' Beitrag eine Fülle trauriger Beispiele. Seit Oktober 1918 und seit Hindenburgs Waffenstillstandsforderung war dieser Traum zwar ausgeträumt, aber es gab, wie Epkenhans pointiert nachweist, eine »Kontinuität der Illusionen« und eine aggressive Selbstbehauptungspolitik der Militärkaste, die längst aufgehört hatte,
Übereinstimmungen
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»classe« als gesellschaftliches Vorbild zu sein. Was Epkenhans andeutet, ist die Persistenz einer Herrscher-Mentahtät zu einer Zeit, als deren Legitimität zerbrochen war und wo Herrschaft oder Einfluß nur noch subsidiar zu stabilisieren oder zu retten war: Beispielsweise über die neue politische Einmischung aller möglichen militärischen Führer in Kriegsunschuld-Legende und Dolchstoßpropaganda. Das geschah zwar nicht überall auf gleich uneinsichtige Weise wie Hermann v. Kühls Expertisen zeigen —, war aber insgesamt von größter gesellschaftlicher Relevanz. Denn in dieser Polemik gegen das Ausland und die Linke wurde ein billiger aber harter Kitt gefunden, der die deutsche Gesellschaft zusammenhielt. Es wird seit langem diskutiert, ob und wie die Weimarer Republik die alten Eliten hätte beseitigen oder zähmen können. Man wird zu den bisher vorwiegenden Erklärungsansätzen in Zukunft stärker auf diese Dimension der nicht bewältigzum Weiterwirken des Krieges in den ten Niederlage Köpfen zurückkehren müssen, denn diese Polemik machte es daß die neue Republik sich möglich, an die der alten Eliten als Funktionseliten Ideenpotentiale abgewirtschafteten klammerte und diesen somit einen allzu großen Spielraum gab. Epkenhans' lakonische Feststellung, daß diese Revolution zwar die Throne hinweggefegt, den Generalen aber ihren Einfluß belassen habe, hat in Wirklichkeit zwei Dimensionen: nämlich zunächst die Tatsache, daß die Republik schlicht mit den Armeebefehlshabern kooperieren mußte, wollte sie nicht riskieren, daß die Heimkehr der 600 000 noch einigermaßen geordnet zurückströmenden Soldaten sich innerhalb eines Minimums an Reglement vollzog. Chaos war damals keine Utopie, sondern eine täghche Möglichkeit. Wäre es bei diesem Arrangement gebheben, hätte man wohl später zur neuen republikanischen Tagesordnung übergehen können. Die Verzahnungen zwischen alt und neu gehen aber tiefer, waren wohl auch auf der Mentalitätenebene unausweichlich. Bei allen notwendigen Nuancierungen wird man sagen können, daß nur ein geringer Teil der deutschen Gesellschaft und der politisch Verantwortlichen das Kriegsende 1918 und den Versailler Vertrag von 1919 als eine zur Zukunft hin ansah. Die Erregung über den von rechts und links so genannten »Schmachfrieden« ließ einfach eine rechtzeitige Ausdifferenzierung der innenpolitischen Fronten der neuen Republik nicht wirklich zu. Der Druck erklärt zwar lange nicht alle innenpolitischen Verwerfungen, bleibt aber jedenfalls in der Bilanz des Kriegsendes historiographisch genauso zu berücksichtigen, wie es heute für die »Kriegspsychose« von 1914 weitgehend üblich geworden ist. Man wird sicherlich von einer Psychose des in den Köpfen nicht bewältigten Krieges sprechen können, wozu durch die Schilderung des Kriegsendes und der Übergangszeit hier in dieser Sektion einige wichtige Ansätze —
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Öffnung
gemacht worden sind.
Benjamin Ziemann Enttäuschte Erwartung und kollektive Erschöpfung. Die deutschen Soldaten an der Westfront 1918 auf dem Weg zur Revolution Das Jahr 1918 war für das preußisch-deutsche Offizierkorps nicht nur wegen der militärischen Niederlage eine tiefgreifende Zäsur. Traumatisch wirkte auch die in dieser Form und Schärfe niemals für möglich gehaltene, schockartig hereinbrechende Tatsache, daß man gegen Ende des Krieges nur noch über ein »Offizierkorps ohne Truppe gebot«, da die Soldaten zu Hunderttausenden auf eigene Faust einen Weg zur Beendigung des Krieges gesucht und sich von der Truppe entfernt hatten. Diese Erfahrung beeinflußte auch die technokratischen und ideologischen Diskussionen der Zwischenkriegszeit über die Umrisse und Möglichkeiten künftiger Kriegführung. Ebenso wie die unmittelbaren operativen Folgen des »verdeckten Mihtärstreiks« der Soldaten 1918 machen diese Debatten eindringlich deutlich, daß die Einstellungen, Erwartungen und Ziele der deutschen Mannschaftssoldaten und ihre Mobilisierungsfähigkeit im Verlauf des vierten Kriegsjahres ein bedeutsamer Faktor des militärischen Geschehens waren1. Neben diesen im engeren Sinne militärischen Folgen besaßen die Wahrnehmungen und Erwartungen der Soldaten aber auch eine über den Waffenstillstand hinausreichende Relevanz. Denn mit dem im Verlauf ihres Fronteinsatzes und insbesondere dem 1918 gesammelten Vorrat an Wissen über den Krieg und die Kriegsgesellschaft traten die Frontsoldaten in die Nachkriegsordnung ein. Dies hatte Auswirkungen auf ihre politische und paramilitärische Mobüisierbarkeit in 1
Vgl. Wilhelm Deist, Auf dem Wege zur ideologisierten Kriegführung: Deutschland 1918-1945, in: Ders., Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd 34), S. 385^29 und 392-394, Zitat S. 393; Deist, Die Reichswehr und der Krieg der Zukunft, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 45 (1989), S. 81-92. Zum >verdeckten Militärstreik< vgl. grundlegend Deist, Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der
»Dolchstoßlegende«, in: Das
Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, hrsg. von Ursula Büttner, Bd 1: Ideologie, Herrschaftssystem, Wirkung in Europa, Hamburg 1986 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd 21), S. 101-129; Deist, Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918?, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, hrsg. von Wolfram Wette, München, Zürich 1992, S. 146-167; Deist, The German Army, the Authoritarian Nation-State and Total War, in: State, Society and Mobilization in Europe during the First World War, ed. by John Home, Cambridge 1997, S. 160-172 und 271-276; ferner: Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918, Göttingen 1998 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd 123), S. 161-167.
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Benjamin Ziemann
der Nachkriegszeit, wie sich etwa an den Versuchen zur Freiwilligenwerbung durch die Freikorps oder den gescheiterten Bemühungen, die bayerischen Einwohnerwehren als eine konterrevolutionäre Eingreiftruppe verfügbar zu machen, zeigen läßt2. Die Eindrücke der Soldaten in den letzten Monaten des Krieges waren aber auch folgenreich für den Erfolg und die Diskussion um bestimmte Kriegsmythen und -legenden wie etwa die Dolchstoßlegende, die gerade in den Reihen der früheren Frontsoldaten keineswegs uneingeschränkte Akzeptanz fand3. Für die Analyse der Stimmungen und Einstellungen der deutschen Mannschaftssoldaten an der Westfront 1918 stehen als Quellenmaterial vor allem deren überlieferte Selbstzeugnisse zur Verfügung, also vor allem ihre Kriegstagebücher und Feldpostbriefe. Diese sind in privaten Sammlungen und staatlichen Archiven in großer Zahl vorhanden, harren allerdings in weiten Teilen noch einer systematischen Auswertung4. Auf dieser Quellenbasis lassen sich insbesondere über die Stimmungen und die politisch-militärischen Meinungen und Urteile der Soldaten relativ verläßliche Aussagen treffen. Speziell dafür stehen die bisher noch wenig benutzten Berichte der militärischen Postüberwachungsstellen zur Verfügung, die seit dem Frühjahr 1916 auf der Ebene der Divisionen und Armeeoberkommandos arbeiteten5. Diese Stellen werteten die aufgelaufene Post stichprobenartig aus und fertigten um Repräsentativität bemühte Stimmungsüberblicke mit zahlreichen Zitaten an. Die Berichte dienten der Information der höheren Kommandobehörden6. Mit ihrer Hilfe läßt sich zumindest ansatzweise auch die ungefähre mengenmäßige Verteilung bestimmter Haltungen innerhalb der Trup2
3
4
Vgl. Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993, S. 256-259; Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997 (= Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung der Europäischen Arbeiterbewegung. Schriftenreihe A: Darstellungen, Bd 8), S. 394-413. Vgl. Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Quellen und Dokumente, hrsg. von Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann, Frankfurt a.M. 1997; Benjamin Ziemann, Republikanische Kriegserinnerung in einer polarisierten Öffentlichkeit. Das Reichs-
banner Schwarz-Rot-Gold als Veteranenverband der sozialistischen Arbeiterschaft, in: Historische Zeitschrift, 267 (1998), S. 357-398. Vgl. allgemein Klaus Latzel, Deutsche Soldaten, nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn [u.a.] 1998 (= Krieg in der Geschichte, Bd 1), S. 103-107 und 125-132; Latzel, Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 56 (1997), S. 1-30. Einschränkend ist die nur lückenhafte dieser Quellengruppe für die deutsche Armee anzumerken. Vollständig überliefert sind die Berichte der 5. Armee: BundesarchivMilitärarchiv Freiburg (BA-MA), W-l 0/50794. der Prüfstellen verschiedener Divisionen finden sich in den Akten des Bayerischen Hauptstaatsarchivs München, Abt. IV, und des Sächsischen Hauptstaatsarchivs Dresden. Ähnliches ist für die Bestände des württembergischen Kontingents in Stuttgart zu vermuten, ohne daß dem Verfasser der genaue Standort solcher Materialien bekannt wäre. Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933, Essen 1997 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. N.F., Bd 8), S. 87-105, auch zur Zensurpraxis durch die Überwachungsstellen. —
Überlegungen
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Überlieferung Überlieferungssplitter
Enttäuschte Erwartung und kollektive
Erschöpfung
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pe nachvollziehen, soweit exphzite Hinweise darauf vorhegen. Die innere Stimmigkeit der Berichte, aber auch der Vergleich mit den vorliegenden Feldpostbriefbeständen in größeren Sammlungen stützen dabei die Auffassung, daß die Verfasser der Feldpostüberwachungsberichte in aller Regel um eine objektive Darstellung bemüht waren7. Für die historische Analyse des Einstellungs- und Verhaltenswandels der deutschen Soldaten im letzten Kriegsjahr lassen sich in der bisherigen Forschung in grober Form zwei Erklärungsansätze unterscheiden. Der erste geht in seinen Kernthesen auf das bis heute historiographisch bemerkenswerte und maßstabsetzende Gutachten zurück, daß der Delbrück-Schüler Martin Hobohm 1929 dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß des Reichstages über die »Ursachen des deutschen Zusammenbruchs« vorgelegt hat. Hobohm hatte anhand des damals noch verfügbaren Aktenmaterials des preußischen Heeres die frühzeitig wachsende Erbitterung der Mannschaften über die Mißstände und Offiziersprivilegien im wilhelminischen »Klassenheer«, einem »Zerrbild des Klassenstaates«, konstatiert. Und er stellte heraus, daß die aus der moralischen Erbitterung folgende Delegitimierung des Staatsapparates auch den militärischen Herrschaftsapparat betraf8. In einer Fortführung und Erweiterung der Thesen Hobohms sind für die Mehrheit der Soldaten die tiefgreifende Aufladung dieser Stimmungen mit der Kriegskritik und den pohtischen Zielen der Mehrheitssozialdemokratie vor allem in den Jahren seit 1916 betont worden. Die stark anwachsende Politisierung der Frontsoldaten und ihr aktiver Beitrag zur Novemberrevolution werden in dieser Sichtweise ebenso unterstrichen wie die lange Vorgeschichte ihres >Militärstreiks< im Herbst 19189. Demgegenüber ist mit Blick auf die Stimmungsentwicklung der Soldaten während des Ersten Weltkrieges in erfahrungsgeschichtlicher Perspektive eher 7
Aufschlußreich und thematisch einschlägig ist etwa eine Sammlung von Brief- und Tagebuchauszügen insbesondere aus dem Jahr 1918, die Ludwig Bergsträsser für seine Arbeit im Rahmen des Weimarer Untersuchungsausschusses aus Materialien in privater Hand angelegt und teilweise publiziert hat: Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1930. Verhandlungen, Gutachten, Urkunden. Unter Mitwirkung von Eugen Fischer, Walther Bloch, Berthold Widmann im Auftrag des Reichstages hrsg. von Walter Schücking, Peter Spahn, Johannes Bell, Rudolf Breitscheid, Albrecht Philipp, 4. Reihe: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruches im Jahre 1918. Unter Mitwirkung von Eugen Fischer, Walther Bloch hrsg. von Albrecht Philipp, 12 Bde, Berlin 1925-1929 (im Folgenden zitiert als WUA), Bd 5: Verhandlungsbericht: Die allgemeinen Ursachen und Hergänge des inneren Zusammenbruches, Teil 2, Berlin 1928, S. 262-335. Ohne Begründung behauptet dagegen Wolfgang Kruse, Krieg und Klassenheer. Zur Revolutionierung der deutschen Armee im Ersten Welt-
krieg, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 22 (1996), S. 530-561, hier S. 549, daß die Aussage einer Postüberwachungsstelle zum Januar-
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streik »offensichtlich übertrieben« gewesen sei. WUA (wie Anm. 7), Bd 11.1: Gutachten des Sachverständigen Dr. Hobohm, Soziale Heeresmißstände als Teilursache des deutschen Zusammenbruchs von 1918, Berlin 1929, S. 264; für das Jahr 1918 vgl. ebd., S. 312-344. Vgl. Kruse, Krieg und Klassenheer (wie Anm. 7), passim.
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Benjamin Ziemann
die generelle Kurzfristigkeit ihres Erwartungshorizontes herausgestellt worden. Dieser Sichtweise zufolge vollzog sich an der Front in rascher Folge die Ablösung von Erwartungen durch Erfahrungen, welche diese bestätigten oder negierten. Das Wechselspiel von Erwartungen und Erfahrungen bestimmte die handlungsleitenden Motive der Soldaten maßgeblich. In einer solchen Interpretation wird gerade bei der Analyse des letzten Kriegsjahres der Akzent eher auf die kurzfristigen Ereignis- und Handlungsabläufe gelegt und dabei versucht, ein möglichst präzises und methodisch gesichertes Verständnis der jeweils aktuehen Zielvorstellungen bei den Mannschaften zu gewinnen. Damit verbunden ist die Prämisse, daß auch über mehrere Jahre akkumuherte Erfahrungen mit bestimmten Mißständen und der destruktiven Realität des Krieges relativ eindeutig bestimmter Erwartungen bedurften, um ein Handeln zur Beendigung des Krieges sinnvoll erscheinen zu lassen10. Diese beiden hier nur knapp skizzierten Deutungsversuche schließen einander nicht gegenseitig aus, sondern sind in jeweils unterschiedhcher Weise in der Lage, das komplizierte Knäuel widersprüchlicher Motivlagen und Handlungsbedingungen einzuordnen, das 1918 an der Westfront anzutreffen war. Allerdings sind beide Erklärungsansätze für das Geschehen im letzten Kriegsjahr in ihrer Erklärungskraft sorgfältig zu gewichten. Dies soll im folgenden vor dem Hintergrund der beiden genannten Interpretamente am Beispiel von drei wesentlichen Zeitabschnitten im Januar, März und Juh/August 1918 geschehen, an denen sich die Erwartungen und Einstehungen der deutschen Soldaten an der Westfront gravierend veränderten. Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht hatten unter den deutschen Soldaten im Verlauf des Jahres 1917 eine bis dahin nicht gekannte Intensität und inhaltliche Bestimmtheit erreicht, die sich in der breiten Akzeptanz für die von der Mehrheitssozialdemokratie vertretene Formel eines sofortigen Friedens >ohne Annexionen und Kontributionen< zeigte11. Seit dem Ausscheiden Rußlands aus dem Kreis der Gegner der Mittelmächte, das ahgemein mit dem Beginn der Friedensverhandlungen am 22. Dezember 1917 assoziiert wurde, fand jedoch eine weitreichende Veränderung in der Bestimmung derjenigen Gruppen und Prozesse statt, von denen man einen baldigen Frieden erwarten zu können glaubte. Sie wurde erstmals in aller Deutlichkeit in der Reaktion der Frontsoldaten auf die massiven Streikbewegungen sichtbar, an denen sich Ende Januar 1918 im deutschen Reich nahezu eine Million gewerblicher Arbeiter vor allem in Berlin und in einigen anderen Industrierevieren beteiligten12. 10 11
12
Vgl. Ziemann, Front (wie Anm. 2), S. 23 f. und 163-197. Vgl. Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit. Quellen und Dokumente, hrsg. von Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1995, S. 169-171. Vgl. dazu Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd 3: November 1917 bis November 1918, Berlin (Ost) 1969, S. 135-178; Dieter Engelmann, Der Januarstreik 1918 im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, in: Jahrbuch für Regionalgeschichte, 9 (1982), S. 95-104; Bernhard Grau, Der Januarstreik 1918 in München. Stand der Forschung, in: Gegenwart in Vergangenheit. Beiträge zur Kultur und Geschichte der Neueren und Neuesten Zeit. Festgabe für Friedrich Prinz
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An der Front überwogen diejenigen Stimmen bei weitem, die den Januarstreik entschieden ablehnten. Dies galt auch für die Soldaten, die zugleich den Friedenszielen der Streikenden sowie einer Umgestaltung und Demokratisierung der Regierungsform im Deutschen Reich prinzipiell durchaus zustimmten. Die Gründe für das relativ einhellige Votum der Frontsoldaten im Besatzungsheer war die Zustimmung zum Streik stärker verbreitet13 hatte verschiedene Gründe. Eine wichtige Ursache lag in dem Vergleich zwischen der eigenen, durch Mangelernährung und Hunger geprägten materiellen Situation und dem als sehr viel besser eingeschätzten Verdienst der reklamierten Arbeiter. Hinzu kam die Befürchtung, daß die im Streik geforderte Erhöhung der Brotration der Front abgezogen werden würde. Dementsprechend forderte man etwa die unverzügliche Einberufung aller reklamierten Arbeiter zum Fronteinsatz. Diese Forderung erstreckte sich aber auch auf die Mitglieder der annexionistischen Vaterlandspartei, die bei den Soldaten seit ihrer Gründung 1917 als Partei der >Reklamierten< angesehen wurde14. Im Zentrum der Ablehnung des Streiks stand jedoch die daß der Krieg durch den Streik auf keinen Fall verkürzt, sondern eher bedeutend verlängert werden würde, wobei man zumeist ein halbes Jahr veranschlagte. Diese Erwartung bezog sich darauf, daß eine derart massive Protestbewegung den Ententemächten Auftrieb verschaffen und sie in ihrer Entschlossenheit zur Niederringung Deutschlands bestärken würde. Und sie wurde geleitet von der seit dem Spätherbst 1917 entwickelten Gewißheit, daß nach der Bereinigung der Situation an der Ostfront im Frühjahr ein deutscher Angriff an der Westfront folgen würde. Von diesem erwarteten die deutschen Soldaten eine rasche, definitive Entscheidung und damit das Ende des Krieges. Nicht mehr von der Sozialdemokratie, sondern von einer erfolgreichen Offensive im Westen erhoffte man sich also mehrheitlich den Frieden15. —
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Überzeugung,
seinem 65. Geburtstag, hrsg. von Georg Jenal, München 1993, S. 277-300; Volker Ullrich, Der Januarstreik 1918 in Hamburg, Kiel und Bremen. Eine vergleichende Studie zur Geschichte der Streikbewegungen im Ersten Weltkrieg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, 71 (1985), S. 45-74. Vgl. Militär und Innenpolitik im Weltkrieg 1914 bis 1918, bearb. von Wilhelm Deist, T. 1, Düsseldorf 1970, (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Reihe 2: Militär und Politik, Bd 1.1), S. 934. Vgl. dazu Frontalltag (wie Anm. 11), S. 193. Die innere soziale und mentale Differenzierung der industriellen Arbeiterschaft durch ihren doppelten Kriegseinsatz an der Front und der Heimatfront ist bisher noch nicht systematisch untersucht worden. Wichtige Hinweise auf die zeitgenössische Deutung enthalten Arbeiten zur Kriegswirtschaft und Kriegsgesellschaft; vgl. beispielsweise Günther Mai, Kriegswirtschaft und Arbeiterbewegung in Württemberg 1914-1918, Stuttgart 1983 (= Industrielle Welt, Bd 35), besonders S. 363; Gerald D. Feldman, Armee, Industrie und Arbeiterschaft in Deutschland 1914 bis 1918, Berlin, Bonn 1985, besonders die auf S. 266 abgedruckte Karikatur; Ute Daniel, Arbeiterfrauen in der Kriegsgesellschaft. Beruf, Familie und Politik im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1989 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd 84), S. 51-97. Vgl. die Postüberwachungsberichte der 5. Armee vom 10.1. und 24.2.1918 und die Briefauszüge. BA-MA, W-10/50794, Bl. 35 f. und 44-64; undatierter Entwurf eines Berichtes des stv. GKI. bayerisches AK an das bayerische Kriegsministerium über die Reaktionen in Front zu
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Benjamin Ziemann
Dieses Ziel war nach Meinung der Soldaten im Feld durch die Streikaktionen gefährdet, weshalb in dieser Situation eine entschiedene Abneigung gegen die
»Radaubrüder« in der Heimat wie die Streikenden zumeist genannt wurden durch die Front hervortrat. Diese verschaffte sich etwa in folgender Beschreibung der Streikenden Luft: »Eins haben wir mindestens diesen Berliner Sauhunden zu verdanken, mindestens Vz Jahr längeren Krieg. Was hier bei Groß und Klein für eine maßlose Wut herrscht auf diese lausigen Bengels und dies Weibervolk, denn andere waren es doch nicht, könnt Ihr Euch gar nicht denken. Wenn man uns mit unseren dicken Brummern hingestellt hätte, ich glaube mit Vergnügen hätten unsere Kerls zwischen —
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gefunkt16.«
Etwas zurückhaltender äußerten sich Soldaten, die brieflich von den Streikaktivitäten der eigenen Ehefrau erfuhren und dieser ihre eigene Ablehnung der Arbeitskampfes signalisierten. In einem anderen Brief hieß es dagegen lapidar, daß die Frontsoldaten die »roten Brüder« einfach »kalten Herzens über den Haufen schießen« würden, wenn sie könnten17. Ein Soldat äußerte die »Ich glaube wenn es losgeht [mit der Offensive] können wir ein Schauspiel erleben. Diesmal macht Michel ganze Arbeit und schlägt alles kaputt, was in den Weg kommt. Wenn die Heimidioten uns doch nicht mit dem Streik in den Rücken gefallen wären. Solche Armlöcher18!« Im Gefolge des Januarstreiks waren in den aggressiven Beschreibungen der Feldpostbriefe also Bilder präsent, die nach dem Kriegsende zum Repertoire des Dolchstoß-Vorwurfes zählten. Dies gilt insbesondere für die bislang erst ansatzweise in ihrer Bedeutung erkannte Identifizierung des >Dolchstoßes< mit den Aktivitäten der als >weiblich< angesehenen Heimatfront. In der Perzeption der industriellen Frauenerwerbsarbeit während des Krieges durch einen Teil der Soldaten sowie in den Maßnahmen der zivilen und militärischen Behörden gegen die >Jammerbriefe< der Soldatenfrauen war diese Identifizierung bereits vorgeprägt19. Damit
Überzeugung:
16 17 18 19
und Heimat auf den Januarstreik, mit zahlreichen Briefauszügen. Bayerische Staatsbibliothek München, Handschriftenabteilung (BSB), Schinnereriana. Dieser Bericht beruhte auf der Prüfung von Zivil- und Feldpost in der Überwachungsstelle beim Bahnpostamt München I. Vgl. ferner: stv. Unterrichts-Offizier 52. Inf.-Div. 10.2.1918 an Gruppe Py. Sächsisches Hauptstaatsarchiv Dresden, Kriegsarchiv (P), 21133, Bl. 82; WUA (wie Anm. 7), Bd 5, S. 282. Vgl. die Briefauszüge. BA-MA, W-10/50794, Bl. 51 (»Radaubrüder«) und 61 (Zitat). Ebd., Bl. 54 und 47.
Ebd., Bl. 64.
Vgl.
Martin H. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne. München 1914-1924, Göttingen 1998 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd 128), S. 98-103 und 390; Ulrich, Augenzeugen (wie Anm. 6), S. 156-168; Ute Planert, Antifeminismus im Kaiserreich. Diskurs, soziale Formation und politische Mentalität, Göttingen 1998, S. 182 f., 205,218,229 und 282-294 [Meines Erachtens allerdings mit einer Tendenz zur Verwischung der Differenzen zwischen den Ebenen des öffentlichen Diskurses und der kollektiven Erfahrungen. Allerdings muß die Betonung der steigenden Akzeptanz von Frauen in der Konsumentenpolitik angesichts der negativen Wahrnehmung der arbeitenden und streikenden Frauen wohl stark relativiert werden; vgl. dazu Belinda Davis, Geschlecht und Konsum.
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171
ist allerdings keineswegs gesagt, daß die sich hier öffnende, tiefe emotionale Kluft zwischen Front und Heimat in dieser Form und Intensität bis zum Kriegsende fortbestand, oder daß die weibliche Codierung der dem Heer in den Rücken fallenden Heimatfront eine allein von Soldaten vertretene Deutung war. In der auf den Januarstreik reagierenden Situation war eine Bereitschaft der Soldaten zur Revolutionierung der Armee aber ebensowenig zu erkennen wie stark hervortretende einer fundamentalen Kriegsgegnerschaft, mit der signifikanten Ausnahme einiger Soldaten, die sich offen als Anhänger der USPD bekannten. Anhänger der Mehrheits-Sozialdemokratie äußerten dagegen sogar Verständnis dafür, daß der USPD-Reichstagsabgeordnete Wilhelm Dittmann nach dem Streik wegen versuchten Landesverrats< inhaftiert wurde. Als Begründung gab man an, vor dem Kampf um die Rechte des Volkes im Innern müßten »erst die äußeren Feinde unseres Vaterlandes besiegt werden«20. Die Metaphorik der Entgegensetzung von Front und Heimat, die in den soldatischen Reaktionen auf den Januarstreik zum Ausdruck kam, stellte Entschlossenheit, Wille und Ordnung der allgemeinen Auflösung und Unordnung und dem morahschen Niedergang in der Heimat gegenüber. In diesem Zusammenhang tauchten vereinzelt auch Beschreibungen wie die folgende auf: »Nach 4 Kriegsjahren weiß die Menschheit nichts anderes zu tun, als täglich neue
Äußerungen
Parteien und Streikversammlungen zu gründen, der sozialdemokratische Wahn, diese furchtbare Weltkrankheit, treibt neue Blüten obwohl kaum einer weiß was er will, überall Zwietracht, Haß und Schwäche. Nichts fehlt, wie eine starke Hand, die rücksichtslos und unbeirrt handelt, ein Bismarck. Glaube nicht, daß ich darüber schimpfe, nein höchstens bedauere ich es. Vielleicht ist es gut, daß es so ist, damit die Menschheit sehen und erkennen kann, wie schön das Leben ist, wie jämmerlich sie selbst sind, reif für den Bankerott21.« Hier ist bereits jene für die Weimarer Republik typische Hoffnung auf das Eingreifen eines charismatischen Führers erkennbar, der die sich auftürmenden sozialen und politischen Problemlagen mit entschlossenem Handeln bewältigen wür—
de, ohne dabei durch Verfahrensregeln, gesetzte Ordnungen und den
20
21
Rolle und Bild der Konsumentin in den Verbraucherprotesten des Ersten Weltkrieges, in: Archiv für Sozialgeschichte, 38 (1998), S. 119-139]. Zur Deutung und Bedeutung der Geschlechterdifferenz in der ungleichen Revolutionierung von Front und Heimatfront vgl. Christa Hämmerle, »... wirf ihnen alles hin und schau, daß du fort kommst.« Die Feldpost eines Paares in der Geschlechter(un)ordnung des Ersten Weltkrieges, in: Historische Anthropologie, 6 (1998), S. 431-458. Diesem Aufsatz verdanke ich wichtige Anregungen. Eine Zeichnung Bogislav v. Selchows in seinem Tagebuch stellt eine jüdische Frau als Täterin des >Dolchstoßes< dar; vgl. Michael Epkenhans, »Wir als deutsches Volk sind doch nicht klein zu kriegen ...« Aus den Tagebüchern des Fregattenkapitäns Bogislav von Selchow 1918/19, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 55 (1996), S. 165-224, hier S. 175. Vgl. BA-MA, W-10/50794, Bl. 57 und 55 (Zitat). Für die Verbindung von Kriegsgegnerschaft und Bereitschaft zum Kampf in der kommenden Offensive vgl. Kriegsbrief-Sammlung des Deutschen Transportarbeiterverbandes, bearb. von Hermann Cron, Potsdam 1926, S. 6. Brief eines Frontsoldaten (o.D.), Anlagen zum Bericht des stv. GK I. bayerisches AK an das Kriegsministerium über die Reaktionen auf den Januarstreik. BSB (wie Anm. 15), Schinnereriana.
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Benjamin Ziemann
>Parteienhader< behindert zu sein22. Auch wenn insgesamt eine große Mehrheit der Frontsoldaten im letzten Kriegsjahr auf der Seite der Kriegsgegner stand, sollte somit nicht übersehen werden, daß der Januarstreik und später die absehbare Niederlage bereits zu einer verbalen und inhalthchen Radikalisierung jener Soldaten führte, die den Krieg prinzipiell befürworteten oder zumindest dem wilhelminischen Nationalstaat gegenüber emotional verpflichtet waren. Von der kommenden Offensive im Westen, die man allgemein als den Königsweg zum baldigen Kriegsende ansah, hatten viele Mannschaftssoldaten bereits einige Zeit vorher gute Kenntnisse. Post- und Urlaubssperren sowie Truppenverschiebungen vermittelten ihnen sicheren Aufschluß über die Tatsache, daß größere Operationen bevorstanden. Teilweise gab es präzise Vermutungen aber auch über Details wie den mutmaßlichen Ort und Zeitpunkt23. Dies steigerte die optimistischen Erwartungen in den Beginn der Kämpfe nochmals. Die erwartete Rückkehr zur Offensive setzte bei einem wohl doch nennenswerten Teil der Soldaten bereits im Vorfeld aggressive Bekundungen der Feindschaft gegenüber Briten und Franzosen und der Angriffslust im kommenden »Titanenkampf« gegen deren Armeen frei, die seit 1915 in dieser Intensität kaum noch zu beobachten gewesen waren. Die organisatorische Vorbereitung flößte den Mannschaften »grenzenloses Vertrauen« ein. Ah dies bewirkte, daß die Hoffnung auf einen raschen deutschen Sieg weit verbreitet war24. Die positive Grundstimmung dieser Tage und Wochen und die bald aus ihr resultierenden Anstrengungen trugen allerdings bereits einen »Verzweiflungscharakter« in sich, wie Martin Hobohm treffend formulierte25. »Es wird und muß glücken.« In dieser Formulierung eines Soldaten ist jene Anspannung eingefangen, die aus dem Wissen um den entscheidenden Charakter der folgenden Ereignisse erwuchs26. Den zweiten wichtigen Wendepunkt des Jahres 1918 markierte dann der Beginn der deutschen Offensive am 21. März, die eine ganz erhebliche Mobilisierungswirkung auf die Soldaten hatte. Direkt davor und in den ersten Tagen danach 22
Vgl. Klaus Schreiner, »Wann kommt der Retter Deutschlands?« Formen und Funktionen von politischem Messianismus in der Weimarer Republik, in: Saeculum, 49 (1998), 1. Halbbd, S. 107-160.
23
24
25 26
Vgl. Ulrich, Augenzeugen (wie Anm. 6), S. 72; Franz Xaver Bergler, »Es sieht ja mit Frieden werden gar nichts gleich«. Briefe von der Front, in: Allmende, Heft 17/18 (1987), S. 119-135, hier S. 129. Vgl. BA-MA, W-10/50794, Bl. 62 ff., Zitate Bl. 63; zu Form und Verbreitung nationaler Feindbilder unter den Soldaten vgl. Ziemann, Front (wie Anm. 2), S. 267-274; Latzel, Soldaten (wie Anm. 4), S. 160-171 und 211-219. Zu den organisatorischen Vorbereitungen auf die Offensive vgl. Martin Middlebrook, The Kaiser's Battle. 21 March 1918. The First Day of the German Spring Offensive, London [u.a.] 1978, S. 35-64 und 106-130; John D. Buckelew, Erich Ludendorff and the German War Effort 1916-1918: A Study in the military Exercise of Power, Diss. Univ. of California, San Diego 1974 (Ms.), S. 223 ff.; vgl. zur Operation »Michael« insgesamt jetzt die kritische Darstellung bei Holger H. Herwig, The First World War. Germany and Austria-Hungary, 1914-1918, London [u.a.] 1997, S. 392^132 sowie den Beitrag von Dieter Storz in diesem Band. Gutachten Hobohm (wie Anm. 8), S. 312. BA-MA, W-10/50794, Bl. 64.
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herrschte unter den Mannschaften eine Kampfbereitschaft und »Kampfesfreude« von außerordentlicher Intensität. Vielfach wurden Vergleiche mit dem »Geist von 1914« gezogen. Zumindest in den ersten Tagen und Wochen des Angriffs erfaßte diese Stimmung offenbar auch jene Truppenteüe, die nicht direkt an der von der 2.,17. und 18. Armee vorgetragenen »Michael«-Offensive beteiligt waren27. Die unter den Mannschaften weit verbreitete Entschlossenheit und Bereitschaft zum Kampf und zur Offensive war ein wesentlicher Faktor der erheblichen Anfangserfolge der deutschen Truppen. Sie läßt sich nicht als ein Ergebnis propagandistischer Bemühungen der Heeresleitung relativieren, auch wenn die Abwehrhaltung der Soldaten gegenüber dem sogenannten »Vaterländischen Unterricht« im Gefolge der Offensive kurzfristig aufbrach und einer gewissen Akzeptanz Platz machte28. Diese »Kriegsbegeisterung« des März und April 1918, die allerdings bereits in den folgenden Wochen relativ kontinuierlich wieder abnahm, war ein authentischer Ausdruck der weit verbreiteten Hoffnung, mittels der nun anhebenden »Endrammelei« in »Kürze wieder in die Heimat zurückzukehren«29. Diese starke Mobilisierungswirkung des nun erreichbar scheinenden Kriegszieles >Frieden< ist außerordentlich bemerkenswert, gerade auch angesichts der 1917 noch weit verbreiteten Kriegsverdrossenheit der Soldaten. Die Erwartung des nahen Endes setzte Kräfte frei. Sie beförderte aber auch Verdrängungsleistungen, die den während dreieinhalb Kriegsjahren in der deutschen Armee akkumuüerten Problemstau der sozialen Heeresmißstände in den Hintergrund der Aufmerksamkeit schoben. Wie ein Gefreiter am 7. März, also wenige Tage vor Beginn der Offensive, betonte, war nun »alle erlittene Entbehrung in den letzten 2 Kriegsjahren [...] vergessen«, denn »jeder« hatte »bloß das eine Ziel im Auge: Nach getaner Arbeit ist gut ruhen«30. Mindestens zwei weitere wichtige Sachverhalte unterstützten die optimistische Einstellung dieser Wochen und Monate. Dies war zum einen die stark verbesserte Verpflegung, welche die Mannschaften der den Angriff vortragenden Divisionen im Vorfeld erhielten31. Hinzu kamen die beträchtlichen Nahrungsmittelvorräte der Alliierten, die den Truppen dann in den ersten Tagen und Wochen in die Hände fielen und der Offensive den Charakter eines organisierten Plünderungszuges in großem Stil verschafften. Angesichts der hohen Relevanz, welche die Ernährung bei den Soldaten für die Stimmung und ihre Wahrnehmung der durch Hunger geprägten Kriegsgesellschaft besaß, war dies ein erheblicher Kontrast zu den Erfahrungen der vergangenen Kriegsjahre. Allerdings beka27
28 29 30 31
Das Archiv des Deutschen Studentendienstes von 1914, bearb. von Hermann Cron, Potsdam 1926, S. 35 (erstes Zitat); WUA (wie Anm. 7), Bd 5, S. 288 (zweites Zitat) und 296; Deist, Militärstreik (wie Anm. 1), S. 147 f. Martin Hobohm hatte in seinem Gutachten (wie Anm. 8), S. 312, die aufflammende Euphorie dagegen auf die an der Offensive beteiligten Truppen
eingegrenzt.
Ziemann, Front (wie Anm. 2), S. 137 f. BA-MA, W-10/50794, Bl. 63 und 62; vgl. WUA (wie Anm. 7), Bd 5, S. 291 f. WUA (wie Anm. 7), Bd 5, S. 286. Vgl. beispielsweise ebd., S. 287.
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Benjamin Ziemann
die deutschen Soldaten beim Plündern der alliierten Vorräte zugleich einen ernüchternden Einblick in die materielle der gegnerischen Trupmen
pen32.
Überlegenheit
Übergang
Mobilisierend wirkte ferner der neuerliche zum Bewegungskrieg. Angesichts der hohen Fluktuation und der beträchtlichen Ausfallquote unter den Mannschaften seit dem Herbst 1914 bedeutete dies für die Mehrheit der Soldaten nach Jahren des Stellungskrieges die erstmalige Bekanntschaft mit dieser zu einer fernen Vergangenheit gehörenden Art der Kriegführung. Die Soldaten hatten sich in den für sie bedrückenden Verhältnissen des Stellungskrieges über die Jahre hinweg so gut als irgend möglich eingerichtet und sie nach Kräften zu ihren Gunsten zu verbessern gesucht, etwa durch die verbreitete Praxis der informellen Waffenruhen und des ritualisierten Schießens. Im Kontrast zur Stagnation des Grabenkrieges, die bereits für sich konkrete Erwartungen an ein Kriegsende ad absurdum zu führen schien, erschien der Vormarsch trotz seiner hohen Verluste zunächst als eine weitaus akzeptablere Form der Kriegführung und setzte weitere Kräfte frei: »Dieses tägliche >Vorwärts< wirkt aufmunternd und belebend auf das durch die überlange Dauer des Stellungskampfes eingetrocknete Gemüt des Soldaten, weckt es doch von neuem die Hoffnung, daß dieser neubegonnene Bewegungskrieg die endliche Entscheidung, die heißersehnte Rückkehr in die Heimat, zur lieben Familie, zur gewohnten friedlichen Arbeit bringen könnte. Und dieser schöne Preis, der aus der Ferne so verheißend winkt, stärkt Körper und Geist und läßt das unstete, hier mit seinen immer gleichen Bildern an Elend, das sich Leben, ungeordnete Kummer u. Sorgen abspielt, leichter ertragen33.« Die Kehrseite solcher Erwartungen zeigte sich jedoch bald, als die Phase des Bewegungskrieges »wie ein Traum« vorüber war und sich die deutschen Offensivbemühungen festliefen34. Bereits am 4. April 1918 wurde die deutsche Anfangsoffensive abgebrochen. Die noch folgenden Angriffsbemühungen mußten seit Anfang August schließlich in bis zum Waffenstillstand andauernde Rückzugskämpfe überführt werden35. Dieser Umschlag von der offensiven Vorwärtsbewegung zur Verteidigung im August markierte einen neuerlichen Einschnitt, dem ein rapider Einstellungswandel der deutschen Soldaten auf dem Fuße folgte. Hellsichtige Beobachter der Stimmung in der Truppe hatten dies frühzeitig vorhergesehen. Einer von ihnen war Heinrich Aufderstrasse, Sozialdemokrat und 32
33
34 35
Vgl. Ziemann, Front (wie Anm. 2), S. 142-148; BA-MA, W-10/50794, Bl. 72; WUA (wie Anm. 7), Bd 5, S. 296 und 325; Deist, Militärstreik (wie Anm. 1), S. 152 und 154; Jakob Siegler 8.6.1918 an den >Alten Verbands Bundesarchiv Berlin (BA), Sachthematische Sammlung, 271, Bl. 239; Herwig, World War (wie Anm. 24), S. 410. Brief des Unteroffiziers Fiessmann vom 5.5.1918, in: Frontalltag (wie Anm. 11), S. 197. Vgl. WUA Anm. Bd
(wie 7), 5, S. 288. Brief eines Gefreiten vom 25.4.1918, in: Ebd., S. 292. Zum operativen Geschehen der Offensive vgl. Herwig, World War, (wie Anm. 24), S. 400-416; Wilhelm Meier-Dörnberg, Die große deutsche Frühjahrsoffensive 1918 zwischen Strategie und Taktik, in: Operatives Denken und Handeln in deutschen Streitkräften im 19. und 20. Jahrhundert, Herford, Bonn 1988 (= Vorträge zur Militärgeschichte, Bd 9), S. 73-95; Deutschland im Ersten Weltkrieg, Bd 3 (wie Anm. 12), S. 248-267; Beitrag von Dieter Storz in diesem Band.
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Mitglied des >Alten Verbandest des freigewerkschaftlichen Bergarbeiterverbandes. Am 1. Mai 1918 analysierte er in einem Brief von der Westfront die Abläufe der letzten Kriegsmonate mit einer luziden Genauigkeit, die ein längeres Zitat rechtfertigt: »Mit dem Frieden stelle ich mir, wenn nichts dazwischen kommt, die Sache so vor: Ludendorf[f] u. Co. haben der Entwicklung der Dinge einen großen aber für ihre
eigenen Pläne sehr zweifelhaften Dienst erwiesen als sie in den letzten Monaten Heer und Volk in eine allzu unbedingte Siegeszuversicht versetzten. Heute bauen 80% auf den sicheren vollen Waffenerfolg im WestenDiktats< ihre Hoffnungen in den US-Präsidenten Wilson als Garanten eines raschen Friedens40. Auf die Friedensbekundungen der Mittelmächte reagierte dagegen kaum jemand mit positiven Erwartungen. Dies zeigte sich unter anderem in den Kommentaren zur österreichischen Friedensnote vom 14. September, die von den deutschen Truppen mehrheitlich als ein plumpes Manöver zur Unterstützung der gerade laufenden Werbung für die 9. Kriegsanleihe abqualifiziert wurde. »Frieden um jeden Preis«, dies werde jetzt »stürmisch verlangt«, notierte die Postüberwa17. am der 5. Armee Oktober als wichtigste Beobachtung41. 1918 chungsstelle Die deutschen Soldaten hatten sich nach einem Jahr voll extremer Stimmungsschwankungen und kurzfristig wechselnder Erwartungen im Herbst mit der militärischen Niederlage mehrheitlich abgefunden. Die geschilderten Befunde legen es demnach nahe, der Motorik des Stimmungsumschwungs, die durch die tiefgreifende Enttäuschung einer hoch angesetzten Erwartung ausgelöst wurde, entscheidende Bedeutung für die Mobihsierung und Demobüisierung der deutschen Soldaten an der Westfront im letzten Kriegsjahr zuzuschreiben. Das Wissen um die soziale Ungleichheit und die andauernd großen Ungerechtigkeiten in Militär und Kriegsgesellschaft war eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für das Verhalten derjenigen Soldaten, die sich im Herbst 1918 passiv in die Niederlage fügten oder aktiv an den kollektiven Absetzbewegungen von der Truppe beteiligten. Fraglich bleibt darüber hinaus, ob tatsächlich die »revolu-
Überzeugung
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Zitat aus dem Bericht der Postüberwachungsstelle der 6. Armee vom 4.9.1918, der auf der Basis von insgesamt 53 781 geprüften Sendungen erstellt wurde. Hans Thimme, Weltkrieg ohne Waffen. Die Propaganda der Westmächte gegen Deutschland, ihre Wirkung und ihre Abwehr, Stuttgart, Berlin 1932, S. 264-271, hier S. 268. Vgl. z.B. BA-MA, W-10/50794, Bl. 116; WUA (wie Anm. 7), Bd 5, S. 303. Vgl. Heinrich Aufderstrasse 27.8.1918 an Hermann Sachse (wie Anm. 36), Bl. 101; Krieg im Frieden (wie Anm. 3), S. 27 f.; BA-MA, W-10/50794, Bl. 114; Carlo Schmid, Erinnerungen, Bern, München, Wien 1980, S. 66 und 74. Vgl. den Bericht der Postüberwachungsstelle vom 28.9.1918 und die beigefügten Briefauszüge, sowie den Bericht vom 17.10.1918 (Zitat), BA-MA, W-10/50794, Bl. 92-105 und 106.
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tionäre Politisierung« einer Mehrheit der Frontsoldaten die treibende Kraft war, welche ihren politischen Zielen und ihren Verweigerungsstrategien in den letzten Kriegsmonaten zugrunde lag42. Für die kontroverse Diskussion dieser Frage sind mindestens fünf Punkte zu berücksichtigen. Erstens ist durchaus eine meist in wenigen diffusen Formeln und Redewendungen, aber mit erkennbaren politischen Implikationen verbundene Hoffnung auf eine Veränderung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in der preußisch-deutschen Gesellschaft nach dem Kriegsende zu erkennen. Dabei läßt sich vor allem die allgemein verbreitete Überzeugung nennen, daß die Monarchen und damit auch die Monarchien allgemein sowohl im Reich als auch in den Bundesstaaten, nicht zuletzt durch ihre Befürwortung ausgreifender Kriegsziele, jeglichen Kredit verspielt und abgewirtschaftet hatten. Zweifelsohne war die Republik diejenige Staatsform, die sich eine Mehrheit der Soldaten an West- und Ostfront im Herbst 1918 erhoffte43. Darüber hinaus erwarteten sicher viele von ihnen die Verbesserung der Partizipationschancen breiter Bevölkerungskreise durch Schritte hin zu einer Demokratisierung, insbesondere durch die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts44. Diese Einstellung gewann nicht zuletzt aus einer tiefen Enttäuschung über das interessengebundene Verhalten und die gemeinhin vor allem mit annexionistischen Positionen identifizierten politischen Ziele der zivilen und militärischen Eliten des Kaiserreiches ihre Beglaubigung. Daß die Deutschen ein »armes falsch geführtes Volk von einer gewissenlosen Militärkaste« [sie!] seien und die »Herrschaft der Alldeutschen« gebrochen werden müsse, waren Formeln, mit denen sich im Herbst 1918 Soldaten mit ansonsten unterschiedlichen (partei-) politischen Affinitäten identifizieren konnten. Nicht übersehen werden sollte dabei allerdings, daß bereits die Parlamentarisierung der Reichsregierung unter Prinz Max von Baden Anfang Oktober an der Front vereinzelt als ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung begrüßt wurde. Manchen Soldaten mag dies von einer weiteren Radikalisierung seiner Erwartungen abgehalten haben45. Genuin politisch war schließlich auch der generelle Wunsch nach einer Restituierung zivügesellschaftlicher Verhältnisse, der sich nicht zuletzt aus den vielfältigen Erfahrungen der Entrechtung speiste, welche die Soldaten im Verlauf des Krieges innerhalb des militärischen Herrschaftsapparates gemacht hatten46. Gerade in den letzten Monaten des Krieges, als sich die Mannschaften bei der brieflichen Schilderung von Mißständen und Friedenshoffnungen trotz der als drückend empfundenen Maßnahmen der Briefzensur keinerlei Mäßigung mehr auferlegen mochten, war dieser Wunsch vor allem als das Verlangen nach einer 42 43
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46
Vgl. Kruse, Krieg und Klassenheer (wie Anm. 7), S. 556 u.ö. Vgl. Ziemann, Front (wie Anm. 2), S. 287; BA-MA, W-10/50794, Bl. 115; Thimme, Weltkrieg (wie Anm. 38), S. 278 ff.
Vgl. z.B. Militär und Innenpolitik (wie Anm. 13), S. 1251 f. (Aufzeichnung über die Pressebesprechung vom 13.8.1918); Schmid, Erinnerungen (wie Anm. 40), S. 74. Vgl. etwa die Briefauszüge in: BA-MA, W-10/50794, Bl. 112 und 115 (Zitate); WUA (wie Anm. 7), Bd 5, S. 282 und 320; Krieg im Frieden (wie Anm. 3), S. 29 f. Vgl. dazu Ziemann, Front (wie Anm. 2), S. 106-120 und 148-156.
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Benjamin Ziemann
Befreiung aus dem »preußischen Gefängnis« und nach einer zivilen Öffentlichkeit präsent47. Und nicht zufällig verband er sich dann des öfteren mit dem Hinweis auf die Sozialdemokratie, die als einzige parteipolitische Formation zumindest Reste eines kritischen Diskurses über den Krieg vertreten hatte. In diesem Sinne ist wohl die eines Soldaten zu verstehen, der im August 1918 geschrieben hatte: »Nur eins wäre für mich noch die Rettung, der Krieg nimmt dies Jahr noch sein Ende und man könnte einmal frei sprechen, denn solange man die Sklavenkleider anhat, darf man die Wahrheit nicht sprechen, zwar weiß es ja schon ein jeder, der auch nicht Soldat ist, wie man gedrückt wird, aber der Krieg hat ein jeden zum Sozialdemokraten gemacht48.« Allerdings muß zweitens betont werden, daß diese Erwartungen zumeist keineswegs mit sozialdemokratischer Programmatik verknüpft oder erkennbar von dieser geprägt waren49. Sozialdemokratische Forderungen hatten 1917 in Gestalt des >ScheidemannRevolutionierung< der deutschen Armee zu verorten, auch wenn sie mit den Vertretern dieser Strömung die fundamentale Einsicht in die Unabwendbarkeit der militärischen Niederlage Deutschlands teilten. Die Betonung der in verschiedenen Gesellschaftsbereichen stattfindenden Entwertungsprozesse verweist vielmehr auf die Ambivalenzen der bürgerlichen Umbruchserfahrung in einer scheinbar aus den Angeln gehobenen, >verkehrten< Welt. Deren Fundamente schienen in dieser Sichtweise gleichermaßen durch das Ende des monarchischen Staates und die Inflationierung des Geldes erodiert55. Auch die »vielen Siege«, die das deutsche Heer während der vier Kriegsjahre errungen hatte, und die damit verbundenen »Opfer« erwiesen sich in dieser pessimistisch-resignativen Beurteilung des Kriegsendes als »wertlos«. Bei denjenigen Soldaten, die sich von den extremen Positionen des annexionistischen Nationalismus abgestoßen fühlten, waren positive Erwartungen nicht mehr vorhanden. Für die erschöpften Mannschaften zählte nur noch das baldige Ende: »Uns kann's egal sein, wies kommt. Nur der Vaterlandspartei und den Alldeutschen kann's nicht egal sein.« »Das Volk will aus diesem Elend, was kommt ist alles egal, nur Friede. Ich weiß nichts weiter als die Hinte ins Korn zu werfen, ich kann einfach nicht mehr56.« Damit ist schließlich fünftens der allgemeine physische und psychische Zustand der deutschen Soldaten an der Westfront in den letzten Kriegsmonaten angesprochen, der für die Einschätzung ihrer Stimmung und ihrer Motivation in diesem Zeitraum von fundamentaler Bedeutung ist. Seit dem Sommer 1918 sind von Soldaten anzutreffen, die über ihre »Kriegsmüdigkeit« berichten, die »in einem Grade, der sich kaum mehr steigern läßt«, vorhanden sei. Damit verbunden war ein »Gefühl der absoluten Ohnmacht all diesen Geschehnissen
Äußerungen
Briefauszüge zum Postüberwachungsbericht der 5. Armee vom 17.10.1918, in: BA-MA,
W-10/50794, Bl. 114 und 116.
Vgl. die perspektivenreiche Darstellung von Geyer, Verkehrte Welt (wie Anm. 19), besonders S. 382-388. Zitate aus Feldpostbriefen vom Oktober 1918, in: Krieg im Frieden (wie Anm. 3), S. 30. Zur Vaterlandspartei vgl. die grundlegende Neuinterpretation von Heinz Hagenlücke, Deutsche Vaterlandspartei. Die nationale Rechte am Ende des Kaiserreichs, Düsseldorf 1997 (= Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd 108).
Enttäuschte Erwartung und kollektive Erschöpfung
181
gegenüber«, das lähmend auf sie wirkte57. Die physische Erschöpfung der in den permanenten Kämpfen seit dem Frühjahr aufgeriebenen Truppe hatte mehr und mehr auch massive psychische Folgen, die in resignativen und fatalistischen Äußerungen dieser Art hervortraten. Seit dem August mehrten sich die Stimmen einsichtsvoller Truppenoffiziere, die die unbedingte Ruhebedürftigkeit ihrer Mannschaften erkannten und sie in realistischen Worten als »abgespannt«, »kampfesmüde« und »matt« beschrieben58. Die seit dem Sommer grassierende Grippe machte die betroffenen Soldaten, deren Zahl in die Hunderttausende ging, »völlig apathisch«59. Die Ermattung und Abgekämpftheit der Mannschaften, die steigenden Verluste, gerade auch die hohe Zahl an nur Leichtverwundeten, die schlechte Versorgungslage auf dem Rückzug und die spürbare materielle und personelle Überlegenheit des Gegners verstärkten insgesamt die fatalistisch-hoffnungslose Grundeinstellung vieler Soldaten und damit die allgemeine Bereitschaft, sich in das Schicksal der Niederlage zu fügen. Auch diese Zusammenhänge sprechen dafür, das Motiv der unmittelbaren Lebenssicherung für die letzten Wochen des Krieges als weitaus bedeutender denn eine aktiv betriebene >Revolutionierung
Helden< einer neuen Militärgeschichte der Novemberrevolution zu machen, die eine verschüttete Alternative zur umfassenden sozialen Militarisie-
rung der vier Kriegsjahre aufzeigen soll. Treffender scheint die Feststellung, daß die Bereitschaft zur Gewalteskalation und die zur Gewaltverweigerung bei den Soldaten gleichermaßen vorhanden waren und sich durch die wechselseitige Perzeption gegenseitig bedingten. Auch wenn die zweite Strömung im Herbst 1918 bei weitem überwog, sollten die geschilderten Differenzen und Ambivalenzen in der Zukunftserwartung der Soldaten an der Westfront sowie ihre zum Teil diffusen Stimmungslagen nicht übersehen werden.
Vierteljahresschrift, 13 (1972), S. 84-105, hier S. 94; ferner: Klaus Tenfelde, Massenbewegungen und Revolution in Deutschland 1917-1923. Ein Forschungsüberblick, in: Revolutionäres Potential in Europa am Ende des Ersten Weltkrieges. Die Rolle von Strukturen, Konjunkturen und Massenbewegungen, hrsg. von Helmut Konrad und Karin M. Schmidlechner, Wien, Köln 1991 (= Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek, Bd 16), S. 9-15.
Klaus Latzel Die mißlungene Flucht vor dem Tod. Töten und Sterben vor und nach 1918 I Am 9. November 1945 kehrte Alfred Döblin aus dem amerikanischen Exil nach Deutschland zurück. Seine ersten Eindrücke von der seelischen Verfassung der Bevölkerung nach zwölf Jahren Nationalsozialismus und sechs Jahren Krieg faßte er in den Satz: »Die Deutschen haben noch nicht erfahren, was sie erfahren haben1«. Löst man die Pointe dieser Formulierung, die Mehrdeutigkeit des Begriffs »Erfahren«, auf, dann versteht man: Es gibt Erlebnisse, die nicht zur Erfahrung werden wohen, vieheicht auch niemals werden können. Wenn Erfahrungen gelungene Bedeutungszuweisungen oder Sinnstiftungen für Erlebnisse sind2, dann sind Gewalt- und Kriegserfahrungen vielfach Erfahrungen, die nicht gelingen wollen. Auch wenn sich die jeweüigen Legitimationen der verübten und die Sinnstiftungen der erlittenen Gewalt im Krieg historisch unterscheiden lassen: Schon immer drohte die Provokation durch den gewaltsamen Tod jeden Erfahrungs- oder Sinn-
zusammenhang zu sprengen. Im zwanzigsten Jahrhundert wurde diese Herausforderung menschlicher Erfahrungskapazitäten auf die Spitze getrieben. Das Kennzeichen des modernen, des industrialisierten Krieges ist die totale Mobilisierung der personellen, materiellen und geistigen Ressourcen der kriegführenden Nationen die »Vergesellschaftung der Gewalt«3 und die Entgrenzung der Vernichtung. Die im Ersten Weltkrieg technisch-industrieh entfesselte Vernichtungsenergie konfrontierte die Soldaten mit bis dahin beispiellosen Destruktionserlebnissen. In der Literatur wird gern von der »Gewaltmaschinerie« dieses Krieges gesprochen. Maschinenmetaphern sollten jedoch hellhörig machen: Leicht verstellen sie die Einsicht, daß auch der industrialisierte Krieg weiterhin von Menschen geführt wird. Auch die modern—
sten Destruktionsmaschinen müssen von Soldaten bedient werden, und das wech1
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Alfred Döblin, Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis (1949), Ölten, Freiburg 1993, S. 309. Näher dazu Klaus Latzel, Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungsgeschichtlichen Untersuchung von Feldpostbriefen, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 56 (1997), S. 1-30. Diese Konzeption wurde vor allem von Michael Geyer entwickelt; der Begriff zuerst bei Michael Geyer, Der zur Organisation erhobene Burgfrieden, in: Militär und Militarismus in der Weimarer Republik. Beiträge eines internationalen Symposiums an der Hochschule der Bundeswehr Hamburg am 5. und 6. Mai 1977, hrsg. v. Klaus-Jürgen Müller und Eckardt Opitz, Düsseldorf 1978, S. 15-100, hier S. 27.
184
Klaus Latzel
selseitige Schlachten konnte nur fortgesetzt werden, solange diese (und die »Soldaten der Arbeit« in der Heimat, die sie mit diesen Maschinen versorgten) unge-
achtet aller existentiellen Not weiter aushielten. Auch in der hochtechnisierten Schlacht waren die Soldaten der entscheidende Faktor, und ihre Situation blieb unentrinnbar ambivalent: Die Gewalt, die sie mit produzierten, drohte sie gleichzeitig selbst zu verschhngen. Das galt auch für die fast 1,4 Millionen Mann der 17., der 2. und der 18. Armee, die in den Morgenstunden des 21. März 1918 zur Operation »Michael« angetreten waren. Die Hoffnungen, die sich bei manchen der eingesetzten Soldaten mit der Frühjahrsoffensive verbanden, sind in Regimentsgeschichten nach dem Kriege mit der Stimmung vom August 1914 verglichen worden4, aber auch eine zeitgenössische Stimme schätzte: »Heute bauen 80 % auf den >sicheren vollen Waffenerfolg im Western. Der heutige Siegesrausch läßt sich bald mit dem der ersten Kriegsmonate vergleichen.« So schrieb der Sozialdemokrat Heinrich Aufderstrasse im Mai 1918 als Soldat von der Westfront. Er war sich freilich bewußt, daß dieser Vergleich an der Oberfläche blieb. Diejenigen, die sich im Sommer 1914 wirkhch von Kriegsbegeisterung hatten hinreißen lassen5, brannten auf ihr erstes Gefecht, von dem sie sich keine auch nur annähernd reahstische Vorstehung machten. Diejenigen aber, die im Frühjahr 1918 in den Stellungen auf das Signal zum Angriff warteten, verbanden, wenn überhaupt, ihre Hoffnungen mit der Aussicht auf einen letzten Kampf. Dazwischen lagen fast dreieinhalb Jahre Kriegserfahrung. Der im Frühjahr 1918 scheinbar doch noch zu erreichende Durchbruch im Westen erschien auch als die langersehnte Möglichkeit, den jahrelangen Stellungskrieg endlich doch noch zu überwinden und auf diese Weise den Krieg überhaupt so schnell wie möglich zu beenden. Um dem Tod langfristig und endgültig zu entkommen, meinte man, ihn notgedrungen ein letztes Mal riskieren, also austeilen und erleiden zu müssen6. Was waren das für Erlebnisse, denen diese Soldaten entkommen wollten? Sie selbst haben sie beschrieben. Die Feldpostbriefe, in denen sie sich während des 4
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6
Wilhelm Deist, Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918?, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, hrsg. von Wolfram Wette, München, Zürich 1992, S. 146-167, hier S. 147; Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Wahn und Wirklichkeit. Quellen und Dokumente, hrsg. von Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1995, S. 198. Wolfgang Kruse, Krieg und nationale Integration. Eine Neuinterpretation des sozialdemokratischen Burgfriedensschlusses 1914/15, Essen 1994; Thomas Raithel, Das »Wunder« der inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996 (= Pariser historische Studien, Bd 45); Benjamin Ziemann, Front und Heimat. Ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914-1923, Essen 1997 (= Veröffentlichungen des Instituts zur Erforschung der Europäischen Arbeiterbewegung. Schriftenreihe A: Darstellungen, Bd 8), S. 39-54; Christian Geinitz, Kriegsfurcht und Kampfbereitschaft. Das Augusterlebnis in Freiburg. Eine Studie zum Kriegsbeginn 1914, Essen 1998 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. N.F., Bd 7); Jeffrey Verhey, The Myth of the »Spirit of 1914« in Germany 1914-1945, Oxford 1998. Vgl. den Beitrag von Benjamin Ziemann in diesem Band.
Die mißlungene Hucht
vor
dem Tod
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Krieges zu Wort gemeldet haben, zählen nach Milliarden7. Ich werde mit ihrer Hilfe im folgenden zunächst Erlebnisse von Gewalt, Tod und Vernichtung darstellen, die Insbesondere für die »Materialschlachten« von 1916 bis 1918 typisch waren (II). Wie viele der im Frühjahr 1918 eingesetzten Soldaten derartige Erlebnisse selbst bereits durchgemacht hatten, in welcher Häufigkeit und welcher Dau-
läßt sich exakt nicht sagen. Aber es besteht kein Zweifel, daß ihre Zahl ganz erheblich ist; allein der Anteü derjenigen, die bereits seit Kriegsbeginn dabei waren, ist auf ein Drittel bis auf die Hälfte geschätzt worden8. Die Schilderung dieser Gewalterlebnisse wird die seelische Herausforderung nachvollziehbar machen, die mit ihnen verbunden war. Diese Herausforderung verlangte nach Sinnstiftung. Inwiefern war diese Sinnstiftung den Soldaten bis dahin gelungen? Die Antwort auf diese Frage wüd den zutiefst desperaten Charakter der Hoffnungen zeigen, die die Soldaten 1918 beseelten (III). Diese Hoffnungen, dem Tod auf Dauer zu entkommen, wurden im Frühjahr 1918 enttäuscht (IV), freüich nicht zum letzten Mal. Der Tod blieb auch nach dem Krieg präsent; am Schluß steht darum ein Hinweis auf die weitgehend noch zu erforschende, wenn man so will: Kriegserfahrung nach dem Kriege (V). er,
II Als sich im Herbst 1914 die Mülionenheere im Westen festgefressen hatten und zum Stellungskrieg übergingen, erstreckte sich die Front über eine Länge von mehr als 700 Küometern von den Alpen bis zum Kanal. An dieser Front wurden die meisten Soldaten eingesetzt, verwundet und getötet. Der Krieg fand hier zu seinem eigentlichen Charakter, er wurde dort schließlich entschieden, und die Erlebnisse der Westfront sollten auch die Erinnerungen an den Ersten Weltkrieg bis heute prägen. Die Strategen des »Großen Krieges« gefielen sich über Jahre darin, immer blutigere und absurdere Materialschlachten zu inszenieren, in denen auch unter Einsatz modernster Destruktionsmittel der frontale Durchbruch nicht errungen werden konnte und darum der Feind »weißgeblutet« werden sollte. Dienie aufgegangene ses strategische Kalkül lief auf die »satanische Bereitwilligkeit« hinaus, »Hunderttausende der eigenen Soldaten zu opfern, um die doppelte Anzahl der gegnerischen Kämpfer zu töten oder zu verstümmeln«9. In der —
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Bernd Ulrich, Die Augenzeugen. Deutsche Feldpostbriefe in Kriegs- und Nachkriegszeit 1914-1933, Essen 1997 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. N.F., Bd 8). Martin Middlebrook, The Kaisers' Battle. 21 March 1918. The First Day of the German Spring Offensive, London [u.a.] 1978, S. 43. Jehuda L. Wallach, Das Dogma der Vernichtungsschlacht. Die Lehren von Clausewitz und Schlieffen und ihre Wirkungen in zwei Weltkriegen, Frankfurt a.M. 1967, S. 268. Über den Blick des Großen Hauptquartiers auf den Krieg jetzt die Aufzeichnungen des dort tätigen katholischen Feldgeistlichen: Ludwig Berg, »Pro Fide et Patria!« Die Kriegstagebücher von Ludwig Berg 1914/1918, hrsg. im Auftrag des Bischöflichen Diözesarchivs Aachen von Frank Betker und Almut Kriele, Köln, Wien 1998. Hier und im folgenden lehne ich mich gele-
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Klaus Latzel
»Blutmühle«, in der »Hölle« von Verdun hat diese Art Kriegführung ein Symbol
gefunden, das unauslöschlich ins Gedächtnis der europäischen Völker eingebrannt
ist.
Oberflächlich betrachtet, war diese Hölle meistens menschenleer. Vor der Feuerkraft und Vernichtungskapazität der modernen Waffen flüchteten sich die Soldaten in ein Labyrinth von Gräben und Stollen in und unter der Erde. Zwischen dem eigenen und dem feindlichen Grabensystem lag das »Niemandsland«. Sich dort blicken zu lassen, bedeutete höchste Gefahr. In den vordersten Gräben, manchmal keine fünfzig Meter voneinander entfernt, blieben die Gegner füreinander doch so gut wie unsichtbar. Truppenbewegungen erfolgten in der Nacht, Artillerie- und Maschinengewehrstellungen wurden sorgfältig getarnt. Erkenntnisse über die feindlichen Stellungen und Bewegungen ließen sich darum nur mit Hilfe neuartiger technischer Medien, von der Licht- und Schallmessung bis zur foto-
grafischen Luftaufklärung, gewinnen. Irgendwo wurde in den vier Jahren, drei Monaten und elf Tagen dieses Krieges immer gekämpft, der einzelne Soldat aber kämpfte nur die geringere Zeit seines Kriegsdienstes wenn er nicht gleich am Anfang den »Heldentod erlitten« hatte, wie in einem Brief sinnig formuliert wurde. Die großen Schlachten von Ver—
dun, an der Somme 1916 und in Flandern 1917 zogen sich über zehn, sechs bzw. gut drei Monate hin; daneben gab es eine Anzahl weiterer schwerer, aber kürze-
Schlachten sowie unzählbare kleinere Kämpfe und Scharmützel an allen Fronzu Lande respektive unter der Erde, aber auch zu Wasser und in der Luft. Es finden sich in diesem Krieg also heiß umkämpfte Frontabschnitte und andere, die relativ ruhig waren10. Der gleiche Unterschied trennte Operationsgebiet und Etappe. Die modernen Heere des Ersten Weltkrieges waren riesige, kilometertief gestaffelte Organisationen, deren Einheiten in einem hochdifferenzierten arbeitsteiligen Geflecht ihre systematisch gegliederten Funktionen erfüllten: die Kampftruppen der Infanterie, zu denen Sondereinheiten wie Jäger-, Radfahr-, Gebirgs- und Maschinengewehr-Formationen und schließlich die Sturmbataillone zählten; die Feldartillerie mit der Sonderformation der Gebirgsartillerie, die schwere Artillerie, die Kavallerie, Pioniere mit Sonderformationen wie speziellen Minenwerfer-Abteilungen, Gastruppen und Scheinwerferzügen, die Nachrichtentruppen, Truppen der Feldeisenbahn, Kraftfahrkolonnen, Nachschubeinheiten für Munition, Gerät und Verpflegung, Sanitätstruppen und Veterinärtruppen, Armierungstruppen und seit 1916 Militär-Gefangenen-Kompanien, die aus Verurteilten des eigenen Heeres zusammengestellt wurden und gern als Himmelfahrtskommandos für Schanzarbeiten in unmittelbarer Gefahr eingesetzt wurden. rer
ten
gentlich an Formulierungen meines Aufsatzes: Die Soldaten des industrialisierten Krieges
»Fabrikarbeiter der Zerstörung«? Eine Zeugenbefragung zu Gewalt, Arbeit und Gewöhnung, in: Der Tod als Maschinist. Der industrialisierte Krieg 1914-1918. Katalog zur Ausstellung des Museums Industriekultur Osnabrück 17. Mai 23. August 1998, hrsg. von Rolf Spilker und Bernd Ulrich, Bramsche 1998, S. 125-141, an. Tony Ashworth, Trench Warfare 1914-1918. The Live and Let Live System, London 1980, S. 15-23. —
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Die mißlungene Hucht vor dem Tod
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Mit zunehmender Entfernung von der Front erhöhte sich die Zahl der Stäbe und Militärbehörden, die den Krieg zunehmend bürokratisiert führten und verwalteten11. Es gab in diesem Krieg darum nicht das Kriegserlebnis, sondern Kriegserlebnisse in unübersehbarer Vielfalt. Gefahren und Strapazen waren räumlich und zeitlich, einsatz- und funktionsabhängig höchst ungleich verteilt. Die Zeugnisse der Soldaten, die von diesen Erlebnissen berichten, lassen sich darum nur schwer verallgemeinern. Freilich lassen sich manche ihrer Erlebnisse auf einen Nenner bringen, und das gilt auch für die Erlebnisse des Todes12. Die monatelangen Schlachten bei Verdun, an der Somme und in Flandern begannen wie auch die anderen Materialschlachten dieses Krieges mit tage- oder wochenlangem Trommelfeuer von Feldartillerie, mittlerer Artillerie und schweren, weittragenden Haubitzen auf die feindlichen Grabensysteme, MG-Stellungen, Befestigungen und Kommunikationsnetze, um die gegnerischen Soldaten samt ihrer Infrastruktur durch das Trommelfeuer systematisch zu zermürben. Der anschließend hinter der vorauslaufenden Feuerwalze vorgehenden Infanterie sollte so die Einnahme der feindlichen Stellungen ermöglicht werden. In ihren Unterständen verkrochen, spürten die Soldaten das Inferno der Artillerie mit jeder Nervenfaser: »Gestern war in der Zeit, wo wir an der Stellung arbeiteten ein solch wahnsinniges Trommelfeuer im Gange, daß die ganze Erde viele Kilometer im Umkreis zitterte und bebte. Wir arbeiteten 20 m tief in der Erde [...] Ein Dröhnen und Grollen war es, kaum im Kopf auszuhalten [...] Nun kann ich zum größten Glück das Schrecklichste garnicht schildern. Ich will es auch garnicht andeuten, aber Du wirst Dir's denken können, nämlich das Gestöhn der Verwundeten.« »Wenn man die schweren Kohlenkasten von weitem sausen hört und man die Aussicht hat in 3-4 Sekunden vielleicht schon zerrissen in der Luft herum zu fliegen, so spürt man die Gänsehaut. Es ist keine Angst, denn wenn man stets in Lebensgefahr ist, so stumpft das ab, aber die Nerven werden kaputt, wenn man überhaupt welche hat.« »[...] setzte ein feindliches Artilleriefeuer ein, daß einem Hören und Sehen verging [...] Was das bedeutet, kann sich niemand vorstellen [...] Unser Bataillon hat an dem einen Tage über die Hälfte [...] verloren. Mehreren ist das Trommelfell geplatzt, einer ist durch das Platzen einer Granate verrückt geworden, ohne aber einen Schuß zu bekommen. Ihr könnt Euch denken, daß fast jeder einen Nervenknacks hat.« 11
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Edgar Graf v. Matuschka, Organisationsgeschichte des Heeres 1890 bis 1918, in: Deutsche Militärgeschichte in sechs Bänden 1648-1939, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Bd 3/V, Herrsching 1983, S. 157-282, hier S. 218-282. Die Ausführungen über die Zeugnisse der Soldaten greifen vor allem auf die Ergebnisse meiner Untersuchung: Deutsche Soldaten, nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn [u.a.] 1998 (= Krieg in der Geschichte, Bd 1), zurück, die den Ersten Weltkrieg systematisch zum Vergleich heranzieht; dort auch die Nachweise —
für alle hier nicht extra
ausgewiesenen Briefzitate.
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Klaus Latzel
»Wenn man von Ferne das Pfeifen hörte, so zog sich der ganze Körper zusammen, der maßlosen Gewalt der Explosionswellen standzuhalten, und jede Wiederholung war ein neuer Angriff, eine neue Erschöpfung, ein neues Leiden. Dieser Belastung können auch die besten Nerven nicht lange widerstehen; es kommt der Augenblick, da das Blut zu Kopf steigt, wo der Körper vor Fieber glüht und die erschöpften Nerven zu jeder Reaktion unfähig werden [...] [...] schließlich gibt man es auf, man hat [...] kaum noch die Kraft, zu Gott zu beten... Durch die Kugel zu sterben, scheint nicht schwer; dabei bleiben die Teile unseres Wesens unversehrt; aber zerrissen, in Stücke gehackt, zu Brei zerstampft zu werden, ist eine Angst, die das Heisch nicht ertragen kann13.« Solche Berichte über die Erlebnisse in der Hölle ließen sich behebig ergänzen. Sie um
halten fest, was das Vernichtungswerk der Artillerie für diejenigen bedeutete, denen es galt. Das Gefühl hilf- und wehrloser Auslieferung an die übermächtige Gewalt, die ohnmächtige Angst vor Verschüttung, Verstümmelung und Tod werden in den Briefen dieses Krieges immer wieder als die traumatischen Erlebnisse an der Front benannt. Minimal waren die Fragmente des überdimensionierten Geschehens, die die Soldaten je individuell auf den ausgedehnten Schlachtfeldern nur wahrnehmen konnten, total aber wurden sie als Individuen von dem Erlebnis entfesselter Gewalt erfaßt. Ob nach Tagen oder nach Wochen des Trommelfeuers, irgendwann folgte der Angriff der Infanterie. Für die Angreifer galt es, den feindlichen Graben zu erreichen und mit Handgranaten, aber auch im Nahkampf mit Bajonett oder Dolch, dessen Verteidiger zu vernichten, bevor es diesen gelungen war, aus ihren unterirdischen Unterständen und Gräben hervorzukommen und die Brustwehr ihres Grabens sowie ihre Maschinengewehrstellungen zu besetzen. Im Maschinengewehr war die industriahsierte und technisierte moderne Art zu Töten am effektivsten verkörpert. Ein Infanterist mochte aus seinem Gewehr vielleicht 15 Schuß pro Minute abgeben, mit dem Maschinengewehr aber schaffte er 60014. Das beim Angriff plötzlich von den Soldaten bevölkerte Niemandsland konnte damit flächendeckend bestrichen werden; es wükte nicht mehr punktuell, sondern per Breitenfeuer sektorial tödhch. »[...] die M. G. sind wirklich furchtbare Waffen. Wenn man selbst hinter einer sol-
chen, mit höchster Anstrengung arbeitenden Maschine liegt, merkt man das erst.
Die ganze Arbeit spielt sich ja auch direkt an der Erde ab meist diese 30 Sekunden fabelhaftester Arbeit und Eile, bis das M. G. in Stellung feuerbereit ist und dann geht das Mörderhandwerk los. Es muß doch ein sehr eigentümliches Gefühl sein, hinter einem M. G. zu liegen, das gegen vorrückende Infanterie arbeitet man sieht sie kommen und lenkt diesen furchtbaren Hagel auf sie15.« —
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Das letzte Briefzitat nach Martin Bach, Studien zur Geschichte des deutschen Kriegerdenkmals in Westfalen und Lippe, Frankfurt a.M. [u.a.] 1985 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 28: Kunstgeschichte, Bd 43), S. 229. John Keegan, Das Antlitz des Krieges. Die Schlachten von Azincourt 1415, Waterloo 1815 und an der Somme 1916, Neuausg., Frankfurt a.M., New York 1991 (= Reihe Campus, Bd 1050), S. 271. Frontalltag (wie Anm. 4), S. 85.
Die mißlungene Hucht vor dem Tod
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In kürzester Zeit konnten so Tausende von Angreifern niedergemäht werden. In solchen Briefpassagen stellen sich die Soldaten nicht nur als ohnmächtig verharrende, passive Opfer der Gewalt, sondern zugleich als deren konstitutiver Bestandteil dar. Doch soweit sich bisher sehen läßt, finden sich Aussagen wie diese in ihren Briefen nur selten. Wenn es ums Töten ging, sprachen sie kaum von sich selbst als Handelnde. Zwar hatten sie das soziokulturelle Tötungsverbot in der Heimat zurückgelassen, um dem Tötungsgebot im Kriege nachzukommen. Doch die Erfordernisse des Soldatenhandwerks in sein Selbstbüd zu integrieren und im »Ernstfall« entsprechend zu handeln, ist etwas anderes, als darüber in seinen Briefen an die Angehörigen zu sprechen. Die eigene Beteiligung am Töten lag offensichtlich hart an der Grenze des Sagbaren. Warum aber sprachen sie in diesem Zusammenhang auch kaum über ihre Feinde, von denen sie mit nicht weniger todbringendem Geschoßhagel überzogen wurden? Als Subjekt der Vernichtung werden in den Briefen der Soldaten weniger die gegnerischen Soldaten als vielmehr diese Geschosse selbst benannt: »[...] hunderte (werden) alltäglich vom wahllos treffenden Eisen und Blei hinweggerafft.« »Gestern schlug ein Geschoß [... ] in unseren Unterstandsbereich und tötete 1 Unteroffizier.« »Eine Mine« hat den »Tod herbeigeführt«. Es sind besonders »geschlossene Ortschaften, die stark belegt sind, wo die Bomben ihre Opfer finden«. Besonders Granaten und Granatsplitter werden immer wieder angeführt: »Eine [Schwergranate] schlug [...] in die Feldküche [...] und [...] tötete 2 Mann.« »[...] da schlug eine Granate in die Station [...], verletzte einen Telegraphisten schwer und tötete zwei weitere.« »[...] eine Granate war direkt ins Loch gefahren und hatte alle 3 wie ein Blitz getötet.« Mancher wurde auch durch »Volltreffer«, »Zufallstreffer« und »Irrgänger« getötet, einer »durch ein deutsches Bajonett gleichsam an die Erde geheftet«.
So zeigt sich in den Formulierungen der Briefe, daß hier die Kriegsmittel als die eigentlichen Akteure der Vernichtung wahrgenommen wurden: Mittel, die sich gleichsam selbst anwenden. Neben den tötenden Geschossen oder Waffen (wie den »arbeitenden Maschinengewehren«), wurden in den Briefen auch die mihtärischen Operationen, bei denen diese Waffen und Geschosse zum Einsatz kamen, zu den handelnden Subjekten des Tötens gemacht: »Es ist ein Jammer, was so ein Sturm an Menschenleben kostet.« Ein »Kampf« brachte »starke Verluste«, und manchmal ist es ganz allgemein »der Krieg«, der »Leute kostet«, »Opfer fordert« oder »Lücken« reißt. Schließlich wurde das Töten noch abstrakten Instanzen wie dem »Unglück« oder dem »Kriegsgott« zugeschrieben, oder es war etwa der »Schnitter Tod«, der »mit seiner Sense gearbeitet« und »schmerzliche Lücken gerissen« hat. So entließ die Sprache der Soldaten die tötenden Menschen aus der Wirklichkeit. Diese erfuhren sich kaum noch als Handelnde der Vernichtung. Ihr Handwerk wurde statt dessen Gewalten zugemessen, die sich gegenüber ihren menschlichen Trägern verselbständigt hatten. Geschosse und Waffensysteme, abstrakte Phänomene wie »das Unglück« oder »der Krieg«: Diese Agenten des Todes ste-
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Klaus Latzel
hen für ein Gefühl der Übermacht von Bedrohung und Verderben, die jedes menschliche Maß sprengt. Dieses Gefühl kennt keine menschlichen Täter mehr, sondern nur noch Opfer. Auf indirekte Weise reflektieren die Formulierungen der Soldaten hier abermals ihr Erlebnis, der transhumanen Dimension industrialisierter und technisierter Gewalt und der Unausweichlichkeit des Todes wehrlos ausgeliefert zu sein. So anonym die vernichtende Gewalt den Soldaten auch gegenübertrat, so genau waren doch ihre Folgen zu identifizieren. Die Zeugnisse der Soldaten sind hier nicht immer zurückhaltend: »Daubert [...] hatte einen Bauchschuß erhalten und war nach 20 Minuten eine Leiche.« »Unser Fernsprechunteroffizier kam zu uns heraus und ließ sich alles zeigen. Ich ging voraus und merkte plötzlich, daß er mir nicht mehr folgte. Ein Granatsplitter war ihm durch die Stirn gedrungen, er war sofort tot.« Dieses Ende, welches das Individuum äußerlich weitgehend unversehrt und als Person identifizierbar läßt, konnte man sich allerdings nicht aussuchen. In den
Briefen der Soldaten wird auch von tödlichen Verletzungen gesprochen, denen das Grauen innewohnte: Etwa von der Wirkung einer Fliegerbombe, die einem Mädchen den »Kopf regelrecht abgerissen« hatte; von einem »Offizier, dem beide Beine abgeschlagen waren«; von der Folge eines Rohrkrepierers: »Ein ganzes Stück von dem Rohr
drang einem Mann der Bedienung in den Unterleib, einem jungen 17jährigen Kriegsfreiwilligen aus Straßburg, der eigentlich noch ein Kind war. Er war natürlich sofort tot.« Einem Oberleutnant war »das halbe Gesäß [...] weggerissen worden«; ein Kanonier »erlitt eine ganz furchtbare Verletzung. Das ganze Gesäß und ein Bein wurden ihm abgeschlagen.« Einem Unteroffizier »riß ein Granatsplitter die obere Gesichtshälfte mit der ganzen Schädeldecke weg, so daß das Hirn an die Wände des Magazins geschleudert wurde. Der Tod trat natürlich zugleich ein.« Manchmal geriet auch die Wirkung der eigenen Artillerie in den Blick:
»30 bis 40 mtr. hoch flog die Erde, Steine, Gewehre, Köpfe, Arme, Spaten usw.« Am Ende lagen »viele Körperteile toter Franzosen« in einem Krater, man fand »Tote, darunter ein Vizefeldwebel, einem fehlten die Beine«, oder »einen zerrissenen, halbverbrannten Körper.« »Die Gräben lagen voll mit teilweise in verschiedene Stücke zerrissenen Toten, Halbtoten und Verwundeten.« »Es sah so grausam aus, daß selbst uns alten Kriegern die Haare zu Berge standen, trotzdem wir doch wahrlich den Tod in mancherlei Gestalt schon gesehen haben, dort sah ich auch die ersten englischen Tanks, wahre Höllenmaschinen, zu Dutzenden hegen diese Tanks zerschossen herum. Von den gräßlich verstümmelten Leichen und Leichenteilen gar nicht zu reden.« Wo es nicht möglich war, die Toten fortzuschaffen, mußte man »alle paar Schritte über Leichen steigen.« Das Schlachtfeld war zum Friedhof geworden, auf dem freilich selbst die Toten kerne Ruhe fanden: »Früh sieht man dann die Toten dutzendweise übereinanderliegen. Beerdigung ist meistens ausgeschlossen. Die Toten liegen wochenlang, ja selbst monatelang.
Die mißlungene Rucht vor dem Tod
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Wenn man dann mal Gelegenheit hat, werden sie in ein Loch gezerrt und mit Erde bedeckt. Dadurch kommt es vor, daß man beim Ausheben von Schützengräben einen Toten mal mit ausscharrt.« »Wir sollten einen Graben machen, der zur Hälfte schon von den großen Granaten gemacht war. Die Granaten hatten aber nicht nur den Boden ausgegraben, sondern damit auch die Toten, die dort lagen, und als wir graben wollten, da stießen wir überall auf Tote.« So lebten die Frontsoldaten zwischen »Gestank und Leichen«, die allmählich »recht
widerlich« aussahen: »Die Leichname der auf beiden Seiten Gefallenen bedecken die Erdoberfläche und verbreiten einen äußerst unangenehmen Geruch [...] Ich möchte Euch bitten mir Odo-Cologne Wasser zu schicken. Überall zeigen sich Würmer und Giftmücken sowie dicke blauschillernde Fleischmücken.« Nach 5 bis 10 Tagen wurden die Soldaten aus den vordersten Linien herausgezogen, um nach etwa der gleichen Zeit wieder nach vorn geschickt zu werden. Ohne diese Ablösungen wären ihre Strapazen noch unerträglicher geworden, als sie ohnehin schon waren. Ein französischer Leutnant hat die körperhche und seelische Verfassung der aus den Gräben Zurückkehrenden beschrieben: »Nie zuvor habe ich etwas so Herzzerreißendes gesehen wie den Vorbeimarsch der beiden Brigaderegimenter, die den ganzen Tag über diese Straße kamen. Es bis auf die Knochen abgemagerte Männer, die manchmal von einem davongekommenen, auf einen Stock gestützten Offizier geführt wurden; alle gingen oder taumelten vielmehr aufeinandergestützt wie betrunken voran. Es folgten Gruppen, von denen man nicht einmal sagen konnte, ob es sich um Korporalschaften oder um einfache Züge handelte. Sie gingen, den Kopf gesenkt, mit düsterem Blick, von ihrem Gepäck niedergedrückt, und trugen ihre mit Blut und Dreck bespritzten Gewehre am Riemen. Ihre Gesichtsfarbe hob sich kaum von der ihrer Mäntel ab. Alles war von Schlamm bedeckt worden, der kaum getrocknet war, als neuer Schlamm alles wieder durchnäßte. Die Kleider waren genauso verkrustet wie die Gesichter. Dichte Autokolonnen drängten sich hupend durch sie hindurch und trieben diesen traurigen Strom von Überlebenden des großen Blutbades auseinander. Sie sagten nichts, sie schimpften nicht einmal. Sie waren so kraftlos, daß sie sich nicht einmal mehr beschwerten. In ihren Blicken lag ein ungeheurer Abgrund von Schmerzen [...] Diese stummen Gesichter schienen den unglaublichen Schrecken ihres Martyriums herausschreien zu wollen 16.« waren
Solche erschütternden Szenen spielten sich bei Freund und Feind gleichermaßen ab. Wollten die Soldaten auf Dauer nicht verrückt werden, dann mußten sie versuchen, ihre Erlebnisse in ihren Erfahrungshaushalt zu integrieren, sie also mit Sinn zu versehen. Was aber konnte angesichts des Infernos noch Halt gewähren?
Zit. bei Marc
Ferro, Der Große Krieg 1914-1918, Frankfurt a.M. 1988, S. 166 f.
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Klaus Latzel
III Gerade die groteske Hilflosigkeit, die sich in dem zitierten Wunsch offenbart, den Folgen der Katastrophe mit dem Parfümfläschchen zu begegnen, verweist auf das Versagen vertrauter Orientierungsmuster. »Der Tod war und ist«, wie George L. Mosse treffend bemerkt, »die letzte Wahrheit des Krieges«17, und der Erste Weltkrieg bestätigte dies auf eine Weise, die im achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert noch kaum vorstellbar war. Zwar waren auch die Schlachten, die die mechanisch gedrillten Armeen des achtzehnten oder die zusehends patriotisch durchdrungenen Heere des neunzehnten Jahrhunderts schlugen, nichts weniger als idyllisch. Und leicht wird vergessen, daß der Deutsch-Französische Krieg 1870/71 zwischen sich bereits stark industrialisierenden Staaten ausgetragen wurde; manche Szenen dieses Krieges erinnern bereits daran, was die Soldaten im zwanzigsten Jahrhundert erwarten sollte. Intensität und Dauer der Gewalterlebnisse des Ersten Weltkrieges sollten jedoch noch eine völlig andere Dimension erreichen, und sie betrafen nunmehr Massenheere, deren Größe die ihrer Vorgänger um ein Vielfaches übertraf. Um in der blutigen Wüklichkeit standzuhalten, hatten die Soldaten eine militärische Ausbildung durchlaufen, deren »ausgesuchte Brutalität« die Versetzung an die Front manchmal sogar als »Erlösung« empfinden lies, wie Karl Löwith in seinen Erinnerungen bemerkte18. Zusätzlich aber trugen sie weitere Ressourcen mit sich, die sie sich zum größten Teil bereits lange vor dem Krieg angeeignet hatten: das gesellschaftliche Wissen ihrer Zeit. Historisch variabel, ist dieses Wissen inhaltlich begrenzt und in unterschiedlichem Maße sozialspezifisch verteilt. Es ist in erster Linie Routinewissen, das hilft, das Alltagsleben zu meistern; es umfaßt darüber hinaus all die Sinnmuster, die auch für die »großen« Fragen des Lebens Orientierung bieten und selbst einschneidenden Erlebnissen ihre Stelle im Erfahrungshaushalt zuweisen sollen. Dieses soziale Wissen wird sowohl in öffentlicher wie in privater Kommunikation erzeugt, tradiert und verändert; in den Feldpostbriefen, in denen diese sonst meist mündliche private Kommunikation schriftlich fortgesetzt wüd, läßt sich dieser Prozeß gleichsam mikroskopisch beobachten19. Die militärische Ausbildung sollte das Routinewissen für den Krieg vermitteln welche Sinnressourcen aber konnten gegenüber der Herausforderung durch die Gewalt bestehen, wenn diese nicht zur Routine werden wollte? Im Verlaufe des neunzehnten Jahrhunderts und bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges war ein erheblicher Teil der an die männliche Jugend adressierten —
17
18
19
George L. Mosse, Über Kriegserinnerungen und Kriegsbegeisterung, in: Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, hrsg. v. Marcel van der Linden und Gottfried Mergner, Berlin 1991 (= Beiträge zur Politischen Wissenschaft, Bd 61), S. 27-36,
hier S. 31. Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht. Mit einer Vorbemerkung von Reinhart Koselleck und einer Nachbemerkung von Ada Löwith, Stuttgart 1986, S. 1 f. Näher dazu Latzel, Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung (wie Anm. 2), sowie Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm. 12), S. 31-35 und 129-132.
Die mißlungene Flucht vor dem Tod
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zivilen und militärischen Erziehungsanstrengungen darauf gerichtet, dieser ihre künftige Soldatenrolle auch geistig.nahezubringen. Nur als gewaltbereiter Krieger konnte der Bürger sich als rlchter Mann und Deutscher erweisen20; im Rückgriff auf antike und christliche Traditionen wurden von Kanzeln und Kathedern Patriotismus und Opfertod gepredigt. Solche Legitimationen des Kriegstodes waren im Verlaufe des 19. Jahrhunderts nicht nur dem gebildeten Bürgertum in Fleisch und Blut übergegangen. Besonders nach den Einigungskriegen fanden sie auch zusehends schichten- und klassenübergreifende Resonanz21. Im Frieden waren heroische Tugenden leicht zu haben. Die Briefe der Soldaten zeigen, wie es um die Belastbarkeit dieser inneren Ausrüstung stand, als der Erste Weltkrieg sein furchtbares Gesicht zeigte. Es wäre übertrieben zu behaupten, daß die tradierten christlichen und monarchistischen, heroischen und nationalistischen Sinnmuster in diesem Krieg ihre Gültigkeit bei den Soldaten zur Gänze eingebüßt hätten. Die vor allem bei den bildungsbürgerlichen Kriegsfreiwilligen zu Beginn vorherrschenden Vorstellungen vom frisch-fröhlichen Krieg waren zwar rasch desillusioniert worden22. Doch mentale Bindungen sind tiefer verankert als schnell vergehende Stimmungen; die Wirksamkeit der genannten Sinnmuster wurde von dieser Desillusionierung nicht sogleich aufgehoben. Freilich ist ihre Reichweite im Verlaufe des Krieges unübersehbar zurückgegangen. Das zeigte sich nicht nur generell an den sich verändernden Kräfteverhältnissen zwischen den Loyalitäten, in deren Folge Patriotismus und Nationalismus Anhänger unter den Soldaten verloren, Pazifismus und Sozialismus dagegen gewannen23. Sieht man genauer hin, dann verraten die Briefe noch mehr: Auch wer sich prinzipiell weiterhin an den gängigen Legitimationen des Krieges orientierte, geriet immer dann in Not, wenn er auf dessen blutige Seite, also auf den Tod zu sprechen kommen mußte: Dann wurde auch er vergleichsweise stumm in seinen Briefen, dann verloren selbst für ihn diese Legitimationen erheblich an Überzeugungskraft. 20
21
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23
Ute Frevert, Das Militär als »Schule der Männlichkeit«. Erwartungen, Angebote, Erfahrungen im 19. Jahrhundert, in: Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hrsg. von Ute Frevert, Stuttgart 1997 (= Industrielle Welt, Bd 58), S. 145-173. George L. Mosse, Gefallen für das Vaterland. Nationales Heldentum und namenloses Sterben, Stuttgart 1993, S. 21-65; Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792-1918, Stuttgart 1992 (= Sprache und Geschichte, Bd 19), S. 95-102; Klaus Latzel, Vom Sterben im Krieg. Wandlungen in der Einstellung zum Soldatentod vom Siebenjährigen Krieg bis zum II. Weltkrieg, Warendorf 1988, S. 32-46; Thomas Rohkrämer, Der Militarismus der »kleinen Leute«. Die Kriegervereine im Deutschen Kaiserreich 1871-1914, München 1990 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd 29); lakob Vogel, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der >Nation in Waffen< in Deutschland und in Frankreich, 1871-1914, Göttingen 1997 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd 118). Bernd Ulrich, Die Desillusionierung der Kriegsfreiwilligen von 1914, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, hrsg. v. Wolfram Wette, München, Zürich
1992, S. 110-126.
Wolfgang Kruse, Krieg und Klassenheer. Zur Revolutionierung der deutschen Armee im Ersten Weltkrieg, in: Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für Historische Sozialwissenschaft, 22 (1996), S. 530-561; Ziemann, Front und Heimat (wie Anm. 5), S. 265-289.
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Klaus Latzel
Noch eher unbeschadet haben christliche Sinngebungen des Todes den Krieg wie: überdauert. Aber auch »[...] der liebe Gott will es nun einmal so, daß in der jetzigen Zeit schwere Opfer
Äußerungen
gebracht werden müssen. [...] Und sehen wir uns auf dieser Welt nicht wieder, dann doch in der Ewigkeit«; man müsse eben sein »Schicksal in Gottes Hand« legen, er werde schon »alles zum Besten führen«,
wurden nicht mehr mit ungebrochener Selbstverständlichkeit zu Papier gebracht. Gleichzeitig gewannen Fatahsmus und Aberglauben, zu denen sich Soldaten in der Not seit je gerettet hatten, auch hier an Boden. Dem Tod konnten sie freilich keinen positiven Sinn verleihen, sondern allein helfen, die Erschütterungen abzu-
fangen.
Vom Sterben für den Kaiser war in den Briefen der Soldaten kaum die Rede. Eher noch kam das »Vaterland« vor dem Tode zur Geltung, in Formuherungen wie: »Ich habe wenige Menschen gekannt, die sich einer so allgemeinen Liebe und Achtung erfreuten, wie gerade unser Friedrich. Doch die Liebe zum Vaterlande muß uns die Schwere tragen helfen.« »Familie Gerhard habe ich, so gut ich es kann, zum Heimgang ihres Sohnes geschrieben [...] Hoch den Kopf, wenn einer noch für Ideale und hiermit für sein Vaterland fällt!« immer weniger. Ob wie die Briefe nachweisen Für diese Ideale aber fielen es die Gewißheit war, für das »Recht« zu kämpfen und zu sterben oder der zentrale Legitimationsbegriff des »Opfers«, ob der »Heldentod«, ob »Pflicht«, »Tapferkeit« oder »Ehre«: Das Erlebnis des industrialisierten Massentodes hatte die Gültigkeit all dieser Vorstehungen auf die entscheidende Probe gestellt, eine Probe, der sie, aufs Ganze gesehen, nicht gewachsen waren. Die auf den Kriegstod bezogenen Sinnmuster der Vorkriegsgesellschaft hatten unter dessen Eindruck ihre Bindungskraft verloren. Was im Frieden in der warmen Stube oder in der Öffentlichkeit des Kaiserreichs leicht von den Lippen gegangen war, fand angesichts des Geschehens auf den Schlachtfeldern kaum noch Eingang in die Briefe, mit Ausnahme christlicher, eingeschränkt auch mancher patriotischer Sinngebungen. Die beschriebenen Erlebnisse entzogen sich dem Begreifen sie wollten nicht zur Erfahrung werden. Der Tod war alltäglich, aber er wurde nicht zum Alltag, wenn man darunter die fraglose Gewohnheit versteht. Zwar beteuerte einer der Soldaten: »Auch an das Angeschossen werden gewöhnt man sich, solange es nicht schlimm wird.« Doch wir haben gesehen, wie schlimm es wurde. Von Gewöhnung läßt sich hier nur euphemistisch sprechen, denn der Begriff setzt voraus, daß die Angst verschwindet. Man kann das deutlicher machen, wenn man es mit der Gewöhnung an die Herausforderung der industriellen Arbeitsbedingungen vergleicht, ein Vergleich, der in der Literatur über die Kriegserfahrungen des Ersten Weltkrieges oft zu vorschnellen Analogien zwischen Maschinenarbeit und Maschinenkrieg führt24. Die —
—
—
24
Näher ausgeführt bei Latzel, Die Soldaten des industrialisierten Krieges (wie Anm. 9), S. 134 f. Vgl. dagegen Thomas Flemming, Industrialisierung und Krieg, in: Der Tod als Maschinist (wie Anm. 9), S. 55-67.
Die mißlungene Hucht vor dem Tod
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Gewöhnung an die Anforderungen der modernen Fabrikarbeit gelang im neunzehnten Jahrhundert erst unter erheblichen Umstellungsschwierigkeiten und Opfern, aber sie glückte immerhin; an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert war das Zeitalter der Maschinenstürmerei lange vorbei. So konfliktreich dieser Anpassungsprozeß auch verlaufen ist, so brachten neue Techniken allmählich doch auch Arbeitserleichterungen und mehr Sicherheit am Arbeitsplatz, Facharbeiter und auch Angelernte entwickelten oft sogar einen spezifischen Stolz auf die Fähigkeit, neue Maschinen und Produktionsmethoden zu beherrschen. Ganz anders als in der industriellen Produktion aber war im industriellen Krieg für jedermann sichtbar, daß jede Innovation der Waffentechnik, daß Maschinengewehre und Flammenwerfer, Giftgas und Phosphorbomben, Minen- und Granatwerfer, Flugzeuge und Panzer nicht die Sicherheit, sondern die Gefahr steigerten. Das Vermögen, die jeweils neueste Waffengeneration auch bedienen zu
können, mochte einen Teil soldatischen Selbstbewußtseins ausmachen. Doch der Routine bei der Produktion von Gewalt entsprach keineswegs eine Routine beim Erdulden der Gewalt. Wer sich im Verlaufe des Krieges die Fähigkeit aneignete, unter Beschüß die Anzahl der schweren Batterien, die Größe der Kaliber etc. zu erkennen, der konnte vieheicht zwischen Graden der Gefahr unterscheiden. Doch die Angst ließ sich dadurch vieheicht reduzieren, aber nicht durch ein Gefühl von
Sicherheit ersetzen. Wohin aber mit der »Angst, die das Fleisch nicht ertragen kann«? Die natürliche Reaktion auf Angst und Entsetzen vor Gewalt und Tod ist die Hucht. Im Kriege wird sie zur Fahnenflucht und oft gewaltsam mit dem Tode bestraft, dem man doch entgehen wollte. Im deutschen Heer haben bereits in den Jahren vor den Mitte 1918 beginnenden allgemeinen Auflösungstendenzen etwa 90 000 bis 100 000 Mann auf eigene Faust dem Kriege den Rücken gekehrt, indem sie sich in die Etappe, in die Heimat, ins neutrale Ausland oder zu den gegnerischen Truppen absetzten. Nur der geringste Teil von ihnen wurde aufgegriffen, und die Zahl der wegen Desertion vollstreckten Todesurteile liegt vermutlich unter Hundert25. Daneben gab es die Flucht in die Krankheit, in psychosomatische und psychische Reaktionen, die vom Magengeschwür bis zur »Kriegsneurose« reichten. Josef B., ein fünfundzwanzigjähriger Oberkellner aus dem Rheinland, war, so ein »Fall-
bericht«,
»bei einer Minensprengung verschüttet und erst nach zwei Stunden herausgegraben worden [...] Bei Aufnahme in die Klinik [zwei Tage nach der Verschüttung] ist B. völlig desorientiert, verwirrt und motorisch sehr unruhig [...] B. schrickt bei jedem Geräusch lebhaft zusammen, fängt an zu jammern und zu schreien, als er auf die Abteilung gebracht werden soll. Im Bett zeigt er weiter Zeichen von Angst, verkriecht sich unter das Bett, als suche er dort Deckung gegen Geschosse [...] In 25
Benjamin Ziemann, Fahnenflucht im deutschen Heer 1914-1918, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 55 (1996), S. 93-130; Christoph Jahr, Gewöhnliche Soldaten. Desertion und Deserteure im deutschen und britischen Heer 1914-1918, Göttingen 1998 (= Kritische Studien
zur
Geschichtswissenschaft, Bd 123).
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Klaus Latzel
der Nacht ist B. sehr erregt, schreit und weint, drängt aus dem Bett, verkriecht sich und drängt aus dem Saal [,..]26.« Die schockierenden Erlebnisse dieses Krieges drohten die Wahrnehmungsfähigkeiten der Soldaten zu sprengen, ließen vielen von ihnen im Wortsinne Hören und Sehen vergehen, raubten ihnen die Sprache, ließen sie zumindest vorübergehend ertauben, erblinden oder verstummen. Die zerschundenen Körper und verwüsteten Seelen der »Kriegsneurotiker« des Ersten Weltkrieges konnten überstandene Todesgefahr nur noch in manifesten klinischen Symptomen ausdrücken. Die Neuro-Psychiater, denen sie in die Fänge gerieten, hielten ihnen ihre Leiden als Ausdruck mangelnden Charakters und fehlender Opferbereitschaft vor und unterzogen sie aggressiven Aversions- und Elektroschock-»Therapien«, deren therapeutische Ratio sich darin erschöpfte, unter Anwendung moderner ärztlicher Foltermethoden ihren Opfern die Entscheidung zwischen Weiter-»Behandlung« und Wiederverwendung an der Front zu erleichtern27. Wer nur noch zittern konnte, hatte jegliche kohärente Selbstwahrnehmung verloren. Die Grenze zwischen Selbst und Gewalt war im Granatfeuer zerfetzt worden. Wer diese Grenze, wie notdürftig auch immer, aufrechterhalten konnte, sah sich schlicht als Opfer der allgegenwärtigen Gewalt. Die Zeugnisse der Soldaten sind eindeutig: Der in den Materialschlachten angeblich gezeugte »Neue Mensch«28 war durchaus der alte geblieben, dessen physische und psychische Struktur sich den Bedingungen moderner Kriegführung nicht anpassen ließ. Die im Frühjahr 1918 lautgewordene Hoffnung, diesen Bedingungen durch einen entscheidenden Durchbruch möglicherweise doch noch zu entkommen, erweist sich als eine in höchstem Maße verzweifelte Hoffnung. Und sie sollte nicht lange vorhalten.
IV Nach einem nur wenige Stunden dauernden, aber höchst intensiven Trommelfeuer begann am 21. März 1918 der deutsche Angriff. Nach zwei Stunden war der größte Teil der ersten britischen Verteidigungslinie eingenommen. An manchen Stellen hatten die deutschen Sturmtruppen nach nur zwanzig Minuten bereits den zweiten englischen Graben erreicht29. Die beträchtlichen Anfangserfolge in dieser und in den folgenden Offensiven des Frühjahrs erreichten zunächst Geländegewinne von bis zu 60 km Tiefe. 26 27
29
Frontalltag (wie Anm. 4), S. 104.
Peter Riedesser und Axel Verderber, »Maschinengewehre hinter der Front«. Zur Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie, Frankfurt a.M. 1996. Bernd Hüppauf, Schlachtenmythen und die Konstruktion des »Neuen Menschen«, in: Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch... Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hrsg. von Gerhard Hirschfeld und Gerd Krumeich, Essen 1993 (= Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte. N.F., Bd 1), S. 43-84. Middlebrook, Kaiser's Battle (wie Anm. 8), S. 224 und 261.
Die mißlungene Hucht vor dem Tod
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Doch die drei Armeen der März-Operation »Michael« hatten bereits nach dem Tag Tausende von Toten zu beklagen, nach drei Wochen waren es fast 58 000 Tote, circa 180 000 Verwundete und 64 000 Erkrankte30. Die vor ahem materielle der Gegner war unübersehbar, die genannte und die folgenden Frühjahrsoperationen liefen sich fest. Dominik Richert, elsässischer Soldat im kaiserlichen Heer und seit Dezember 1917 Unteroffizier, hat seine Erlebnisse während der Offensive im April 1918 in seinen Kriegserinnerungen beschrieben: »Punkt 7 Uhr eröffnete die deutsche Artillerie das Trommelfeuer [...] eine volle Stunde lang donnerten und krachten die Geschütze. Über uns war ein ununterbrochenes Sausen der Geschosse. Von drüben hörte man momentweise das Bersten der Granaten. Es war fast unmöglich, sich gegenseitig zu verständigen [...] Die Engländer waren auch nicht faul und überstreuten das ganze Gelände mit Granaten. Um 8 Uhr sollte der allgemeine Angriff beginnen [...] Wir ergriffen nun unser Gerät, verließen das schützende Loch und gingen vorwärts. Das Artilleriefeuer dauerte mit unverminderter Heftigkeit an; dazwischen hörte man das Prasseln des Kleingewehrfeuers. Der Angriff war in vollem Gange. Wohin man schaute, wimmelte alles von deutschen Soldaten, die vorwärtsstrebten. Infanterie, Maschinengewehre, leichte und mittlere Minenwerfer, alles bewegte sich vorwärts. Ein ganzer Schwärm deutscher Hieger flog niedrig über uns, um mit Bomben, Handgranaten und MG-Feuer zum Gelingen des Angriffs beizutragen. Als wir uns der Waldecke näherten, lagen schon verschiedene Tote auf dem aufgewühlten Gelände. Plötzlich wurden wir mit einem Hagel Granaten und Minen überschüttet [...] eine Mine [fiel] in ein etwa 3 m von mir entferntes Loch, in welchem 3 Infanteristen kauerten. Ihre zerrissenen Körperteile wurden nach allen Richtungen geschleudert [...] Die Leichen vieler Gefallener lagen auf dem zerrissenen Gelände der Sperrfeuerzone. Viele derselben wurden noch im Tode hin- und hergeschleudert und zerfetzt [,..]31.« In Richerts Erinnerungen wird es anschauhch: Trotz der neuen Angriffstaktik, die auf verkürztes, aber konzentriertes Trommelfeuer und anschließend stärker auf die Infiltration der feindlichen Linien als auf gleichmäßiges Vordringen setzte, unterschieden sich die horrenden Verluste, unterschied sich das Grauen des Tötens und Sterbens nicht wesentlich von dem, was die eingesetzten Soldaten schon viel zu lange kannten. Weiterhin durchlöcherten, vergifteten und zerfetzten sie mit Maschinengewehren, Artüleriegeschützen, Minenwerfern und Handgranaten die Körper der Feinde und wurden von ihnen durchlöchert, vergiftet und zerfetzt, bei ihrem blutigen Handwerk noch unterstützt von Flugzeugen und Panzern. Nur: Das, was in ihrer anfänglichen Hoffnung den entscheidenden Unterschied hätte ausmachen sollen, daß nämlich dies der letzte Gang durch die Hölle sein sollte, um dem Stellungskrieg durch diese letzte Schlacht endgültig zu entkommen und die ersehnte Alltagsnormalität des Friedens zu gewinnen, das erwies sich bald als illusorisch. Der Tod an der Westfront 1918 war so sinnlos wie all die Jahersten
Überlegenheit
Ebenda, S. 308-343; Deist, Militärstreik (wie Anm. 4), S. 149. Dominik Richert, Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914-1918, hrsg. von Angelika Tramitz und Bernd Ulrich, München 1989, S. 300-301 und 304.
198
re
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zuvor, die Flucht nach vorn war gescheitert. Die Folge war unter anderem das,
was
Wilhelm Deist als »verdeckten Militärstreik« der Soldaten beschrieben hat32.
V Mit dem Ende des Krieges im November 1918 hörte zwar das Töten und Sterben der Kriegs- und Todeserlebnisse verlangte weiterhin nach einer Antwort. Die Todeserlebnisse dieses Krieges hatten einen »Überschuß an Leid«33 produziert, der nicht so einfach abzutragen war. Die Folge war eine weitere tiefgreifende Enttäuschung. Man muß sich dazu klar machen, was die Briefe der Soldaten neben vielem anderen auch vor Augen führen: Während des Krieges besaß die ersehnte Rückkehr zur verlockenden privaten Normalität des Berufs- und Familienlebens für die Integration, für den Zusammenhalt der Kriegsgesellschaft, für die Motivation zum Durchhalten mindestens die gleiche Bedeutung wie die großen Themen Gott, Kaiser und Vaterland. Die Hoffnung auf diese Normalität war freilich die Hoffnung auf die gewohnte Normalität der Vorkriegszeit34. Die so ersehnten »Wonnen der Gewöhnlichkeit« (Christa Wolf) aber setzten, als sie sich nach dem Kriege hätten einstellen sollen, ein seelisches Gleichgewicht voraus, das durch die Kriegerlebnisse höchst prekär geworden war und durch die gesellschaftlichen und politischen Turbu-
auf, aber die tiefe physische und psychische Erschütterung
lenzen der Nachkriegsjahre nicht eben gefördert wurde35. Der Tod war nicht nur an der Front für viele allgegenwärtig gewesen, sondern auch in der Heimat; gestorauch ben wurde in Lazaretten und Krankenhäusern, in der Nachkriegszeit prägten die Invaliden das Straßenbild vieler Städte, und es gab kaum eine Familie, die nicht einen Angehörigen zu betrauern hatte36. Und die Gewalterlebnisse des Krieges vagabundierten im Frieden im Gedächtnis der Individuen gleichsam ortlos weiter, ließen sich nicht so einfach dem je individuellen oder dem sogenannten kol32
33
34
35 36
Deist, Militärstreik (wie Anm. 4); ders., Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der »Dolchstoßlegende«, in: Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, hrsg. von Ursula Büttner, Bd 1 : Ideologie, Herrschaftssystem Wirkung in Europa, Hamburg 1986 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd 21), S. 101-129; Kruse, Krieg und Klassenheer (wie Anm. 23). Michael Geyer, Das Stigma der Gewalt und das Problem der nationalen Identität in Deutschland, in: Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, hrsg. von Christian Jansen [u.a.], Berlin 1995, S. 673-698, hier S. 679. Ziemann, Front und Heimat (wie Anm. 5), S. 230-243; Latzel, Deutsche Soldaten (wie Anm. 12), S. 335 f. Richard Bessel, Germany after the First World War, Oxford 1993. Robert W. Whalen, Bitter Wounds. German Victims of the Great War, 1914-1939, Ithaka, London 1984; Bernd Ulrich, »... als wenn nichts geschehen wäre«. Anmerkungen zur Behandlung der Kriegsopfer während des Ersten Weltkriegs, in: Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch... (wie Anm. 28), S. 115-129; Deborah Cohen, Kriegsopfer, in: Der Tod als Maschinist (wie Anm. 9), S. 217-228.
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lektiven Erfahrungshaushalt einverleiben. Das weiterwirkende Erlebnis der Ohnmacht vor der Übermacht des massenhaften Todes war im Kern das Erlebnis einer »radikalen Entwertung des Individuums«37. Es gehört zu den vermutlich lohnendsten, aber auch schwierigsten Aufgaben einer Erfahrungsgeschichte der Weltkriege, die Virulenz dieses Erlebnisses zwischen den Weltkriegen zu erforschen38. Die permanente öffentliche Präsenz des Kriegstodes in der Weimarer Republik ist zwar bekannt; angesichts der weiterbestehenden Nachfrage nach Sinn konkurrierten verschiedene religiöse und politische Angebote der Antwort. Nur darf man natürlich die öffentlich verlautbarten Deutungsmuster, die öffenthche Kommunikation nicht schon für Erfahrung nehmen, denn die entsteht erst in der je eigenen Anverwandlung solcher umlaufenden Sinnmuster. Deren Bedeutung auf der individuellen oder privaten Ebene ist aber noch kaum erforscht und quellenmäßig auch nur schwer zu fassen. Am ehesten scheinen zunächst rehgiöse Formen der Trauer geeignet gewesen zu sein, das Leid aufzunehmen. Es bleibt aber weiter erklärungsbedürftig, wie es zu der dann doch verheerenden Erfolgsträchtigkeit des nationalsozialistischen Totenkults39 kommen konnte, eines Totenkults, der erlittenes in künftig auszuteilendes Leid, der Trauer in Kampfbereitschaft wenden wollte. Auch die Nazis flohen vor der Übermacht des Todes, nun aber in Form einer nicht überbietbaren Hybris, indem sie sich dieser Übermacht zu bemächtigen suchten: Sie flohen vor dem Tod in das Töten, in die schwarze Utopie der Vernichtung.
Geyer, Stigma der Gewalt (wie Anm. 33), S. 679.
Dirk Schumann, Gewalt als Grenzüberschreitung. Überlegungen zur Sozialgeschichte der Gewalt im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte, 37 (1997), S. 366-386, hier S. 381 f. Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow bei Greifswald 1996 (= Kölner Beiträge zur Nationsforschung, Bd 2); vgl. den Beitrag von Sabine Behrenbeck in diesem Band.
André Bach Die Stimmungslage der an der französischen Front 1917 bis 1918 eingesetzten Soldaten nach den Unterlagen der Briefzensur 3.45 Uhr am 29. Juni 1917 im Chambre des députés. Im Geheimausschuß, der seit dem 16. Juni 1916 bestand, erklärte der Abgeordnete Victor Dalbiez: »Das Hohe Haus muß unbedingt über die Informationen in Kenntnis gesetzt werden, die der Streitkräfteausschuß vom Kriegsministerium erhalten hat.« Woher stammten diese Mitteilungen? Größtenteils aus Berichten der Briefzensur. Diese zu Kriegsbeginn eingeführte Zensur wurde durch eine detaillierte 1916 geregelt. vom Dezember Weisung Ein 15 bis 25 Mitglieder umfassender Ausschuß beschäftigte sich im rückwärtigen Gebiet der neun an der Front eingesetzten französischen Armeen damit, einen beträchtlichen Teil der von den Soldaten verfaßten Briefe sorgfältig durchzulesen. Das waren 180 000 pro Woche, im Monat also etwa 800 000. Ein Brief eines Obergefreiten des 7. leichten Infanterieregiments der 8. Armee erwähnt diesen Vorgang und gibt auch Aufschluß über die Zahl der abgesandten Es
war
Briefe.
»Sie teilen mir mit, daß die militärische Dienststelle zwei meiner Briefe geöffzwanzig Tagen nun schon viermal der Fall.« Die Auswertung dieser Briefe fand in einem dreiteiligen Bericht ihren Niederschlag. Im ersten Teil wurde eine Quantifizierung angestrebt mit dem Ziel, eine Übersicht über jene Faktoren zu gewinnen, die sich vor- oder nachteilig auf die Stimmung auswirkten. Diesem Bemühen um eine empirische Statistik folgte eine zusammenfassende Darstellung der wichtigsten Anliegen, auf die man bei der Lektüre gestoßen war. Schließlich wurden noch Auszüge besonders aufschlußreicher Briefe im Originalwortlaut beigefügt. Ich stütze mich auf eine Auswertung dieses dritten Teils, um ein Stück jener Probleme bekannt zu machen, die die Frontsoldaten vom Winter 1917 bis Herbst 1918 bewegten1. net hat. Das war in den letzten
Die folgende Darstellung fußt auf den im Service Historique de l'Armée de Terre gesammelten Berichten der Briefzensur. Die im Text angeführten Zitate sind alle diesem Quellenbestand entnommen und werden im Text nicht extra nachgewiesen (Archives des Commissions du Contrôle Postal 2em Bureau EMA, Cartons 7 N 979 à 1016). —
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André Bach
Einige Vorbemerkungen Es kann nicht das Ziel sein, auf die Verfahren und Vorkehrungen einzugehen, die bei der Verwertung dieser in 80 Kartons beim Service Historique de l'Armée de Terre im Schloß von Vincennes aufbewahrten Unterlagen zu berücksichtigen wären.
Ich möchte Sie vielmehr einladen, mit mir in diese eindrucksvolle Dokumen-
tensammlung einzutauchen, welche die Gedanken der französischen >Bürger in Uniform< widerspiegelt, die mit den Schrecken eines Krieges konfrontiert waren, dessen Dauer und Ende niemand vorhersagen konnte. Entgegen der üblichen Vorgehensweise wird hier nicht der Alltag eines ganz bestimmten Soldaten nachgezeichnet wie er durch zahlreiche Tagebücher belegt ist. Es geht vielmehr darum, wie sich Meinungen aufgrund von Ereignissen herauskristallisiert haben und in welchem Umfang diese Meinungen geteüt wurden. Durch systematisches Zitieren der Briefe mit dem kritischsten Inhalt soll sichergesteht werden, daß die Mehrheit der herrschenden Ansichten deutlich wiedergegeben wird. Außerdem liegt es nahe, daß aufgrund der Aufmerksamkeit, die man jeder Art von Kritik schenkte, extreme Meinungen besonders hervorstechen.
Der Einsatz der Soldaten an der Front wurde unterbrochen durch Ruhe- und Fortbildungszeiten und sogar durch Urlaub. Die Einstellung der Männer ist nach einer aktiven Kampfphase, einem Aufenthalt in den Gräben ohne feindlichen Beschüß oder in militärischen Anlagen im rückwärtigen Gebiet, wo man Zeit zum Nachdenken hatte, jeweüs unterschiedlich. Die Auswahl der Texte gibt keinen Aufschluß über diesen Hintergrund, da die Umstände, unter denen die Briefe verfaßt wurden, nicht bekannt sind.
Ein absolutes seelisches Tief Die Lektüre der Briefe läßt
erkennen, daß die Frontsoldaten zu Beginn des Win-
ters 1917/18 in einem seelischen Tief steckten. Ganz allgemein sah man der Zukunft
mit Sorge entgegen. Konnte dieser unendliche Krieg beendet werden? Die Soldaten waren seelisch erschöpft und sahen mit Schrecken dem vierten Winter entgegen. Ein Gefreiter der 125. Infanteriedivision schrieb: »Der Regen, der Schmutz und die Kälte sind unsere größten Feinde. Sie sind noch schlimmer als die Deutschen.« Manche äußerten sich spöttisch wie ein Soldat des 147. Infanterieregiments. »Wenn Du unsere Gräben sehen würdest! Sie stehen voller Wasser, und man muß über die Brüstung steigen. Den Deutschen geht es nicht anders. Deshalb kommen wir uns hüben und drüben vor wie Trottel, und etwas anderes sind wir auch
nicht.« Eine große Zahl von Soldaten klagte über körperliche Erschöpfung: »Nach der leisesten Anstrengung fühle ich mich wie ausgelaugt, und so geht es vielen Kameraden, die von Anfang an an der Front eingesetzt sind.«
203
Die Stimmungslage der an der französischen Front eingesetzten Soldaten
Die berühmten, gut ausgestatteten Erholungslager, von denen die Zeitungen schrieben, scheinen nicht alle optimal gewesen zu sein. Ein Gefreiter der 4. Armee berichtete von einem Erholungslager, das im Schlamm versank. Fenster, Türen und Öfen hätten bei Winteranbruch gefehlt.
In den Gräben kochte die Gerüchteküche. Es war von einer möglicherweise bevorstehenden Hungersnot an der Heimatfront die Rede. Man machte sich Sorgen um die von Ausländern eingenommenen Arbeitsplätze und fragte sich, ob die Streiks in Saint-Etienne den Friedensschluß beschleunigen würden. Man war ebenso darüber enttäuscht, daß sie nur Lohnerhöhungen brachten, wie über die Einstellung der Arbeiter verärgert. Dieser Ärger richtete sich auch gegen die Daheimgebliebenen, die ein lustiges Leben führen konnten, insbesondere gegen jene, die in Skandale verwickelt waren. Die Ernennung von Georges Clemenceau zum Ministerpräsidenten am 15. November 1917 wurde leidenschaftlich diskutiert. War das nun ein Vorteü oder ein Nachteil? Die Mehrheit wußte die Tatsache zu schätzen, daß er Exempel statuierte. Dazu kam, daß durch das Fehlen von Lösungen die Stimmung der Soldaten
gedrückt war. »Im Augenblick haben wir alle nur den Urlaub im Kopf, weil wir sehen, daß der Krieg noch lange dauert.« (58. Infanteriedivision) »Morituri. Jene, die sterben, grüßen niemanden, denn niemand hat ein Heil verdient, niemand ist eines Grußes würdig. Truppe resigniert, einzig entschlossen, die eigene Haut zu verteidigen.« (265. Infanterieregiement) »Wir befinden uns in einer absolut ausweglosen Lage. Die einzige Perspektive ist ein gegenseitiges, nicht enden wollendes Massaker.« (82. Infanterieregiment) »Sieben Mitglieder meiner Familie haben ihr Leben auf dem Schlachtfeld verloren. Das ist zu viel für sie.« (54. Infanterieregiment) »Wir müssen bis
zum
bitteren Ende durchhalten. Aber
wo
ist dieses Ende?«
(53. Jägerbataillon zu Fuß)
»Ich bin so gut wie verloren an dem Ort, an dem ich mich befinde nur 40 m entfernt von den Deutschen, allein, mit einem Kameraden, im Regen, in einem Graben voll Schlamm und bis zu den Knien im Wasser. Ich kann Euch nur unter Tränen schreiben, denn niemand weiß, was ich weiß.« (329. Infanterieregiment) »Ja, wüklich, man braucht eine kleine Familie, an der man sehr hängt. Ohne eine solche müßte man sich umbringen, um diesem Leiden, diesem Elend zu entrinnen.« —
(8. Territorial-Infanterieregiment)
Recht oft wüd die Befürchtung geäußert, man würde erst als Greis aus diesem Krieg ins Zivilleben zurückkehren.
Eine deutliche Unzufriedenheit Diese
Niedergeschlagenheit schlug häufig in Murren um. Schwere Klagen und ohnmächtiger Aufruhr richteten sich gegen >die Mörder, die uns regierenKriegsverlängerergeheimer Verbindungen zum Feind< einem Kriegsgericht zu überantworten.« Es erfolgten nicht nur solche Verwarnungen, sondern es wurden auch Äußerungen der Soldaten an ihre Vorgesetzten gemeldet, die darauf reagieren mußten. Beim Service Historique de TArmée de Terre lagern 20 Kartons mit Dokumenten dieser Art. Die Frontoffiziere reagierten unnachsichtig. »Der Frontsoldat murrt, aber er hat sich mit der Situation abgefunden und fordert nichts anderes, als daß man ihn nicht unnötig oder in einer mangelhaft abgestimmten Operation verschleißt.« (1. leichtes Zuaven-Schützenregiment) »Er will nicht mehr wegen falscher Vorgehensweisen, unzureichender Organisation, Ungenauigkeiten und Fehleinschätzungen leiden. Sobald er meint, einen Fehler dieser Art zu entdecken, wird er wütend. Dadurch ist die Aufgabe der Führung sehr schwierig geworden. Die Soldaten befinden sich ständig in einer nervösen Anspannung.« (Bericht der Abt. Nachrichtenwesen vom Dezember 1917) »Der Infanterist fordert vor allem Gerechtigkeit. Er macht sich vermehrt Gedanken über die Gleichbehandlung.« »Die unerklärliche Unzulänglichkeit der Unterkünfte, die Nachlässigkeit bei deren Einrichtung sind Anlaß zu Gereiztheit und Unzufriedenheit.« (108. Infanterieregiment) Die Abteilung Nachrichtenwesen sprach von >krankhafter Gereiztheit der Soldaten in den Schützengräben^
Nachlassen der Kritik ab Mitte Dezember Die Briefzensur glaubte, ab Mitte Dezember ein Nachlassen der Beschwerden feststellen zu können, eigenartigerweise, nachdem die Truppe über die Unausweichlichkeit eines deutschen Angriffs durch aus Rußland abgezogene Einheiten unterrichtet worden war. Durch Wunschdenken oder Wirkung der Propaganda hatte sich das Gerücht verbreitet, daß »die nächste deutsche Offensive die letzte große Anstrengung der Deutschen sei, mit der sie vor dem Eingreifen der Amerikaner eine Entscheidung herbeizuführen hofften. Damit schien der Friede in greifbare Nähe gerückt«. Diese Beruhigung war nicht durch einen erbitterten Haß gegen den Feind —
bedingt.
»Trotz der Leiden, die sie uns zugefügt haben, haben wir sie ohne ein Wort des Vorwurfes, ohne Sarkasmus, ohne Beschimpfung vorbeiziehen lassen.« (5. Armee) Ein junger Gefangener: »Heimlich habe ich ihm eine Schnitte zugesteckt, die er sofort in seiner Jacke verschwinden heß Auch unsere Feinde sind jemandes und das es mir so bricht furchtbare Kinder, Herz, Dinge zu sehen.« (1. Infante...
riedivision/10. Armee)
Man hörte den Feind ab. »Wir wissen nur, daß unsere Nachbarn gegenüber genau so die Nase voll haben. Über das Mikrophon hören wir sie ununterbrochen von Frieden reden. Das ist das einzige, was sie wollen.« (21. Infanterieregi-
ment)
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Zuverlässige Informationen über nationale und internationale Ereignisse Erstaunlich war die Art, wie die Soldaten sich informierten und heftig auf nationale und internationale Ereignisse reagierten. Das Aufgeben Rußlands wurde somit ausführlich und lebhaft erörtert. Verwünschungen wie die folgenden waren zu hören: »Die berühmte Dampfwalze! Uns schmähhch im Stich lassen, nachdem man uns in diese schlimme Lage mit hineingezogen hat! Alles oder beinahe alles muß wieder von vorn aufgerollt werden. Was für ein schwachsinniges Volk, das sich so von den Deutschen übers Ohr hauen läßt.« (59. Jägerbataülon zu Fuß) »Diese Phantasten, Spruchbeutel und Alkoholiker haben noch nie begriffen, was Freiheit bedeutet und sind auch nicht fähig, sich diese zunutze zu machen.«
(127.
Infanterieregiment)
Danach folgte Niedergeschlagenheit. »So lange die Russen noch die Stellung hielten, habe ich mich in Geduld gefaßt, aber nachdem sie aufgegeben haben, meine ich, daß auch wir aufhören sollten.« (129. Feldartillerieregiment, Brief konfisziert) »Ich muß gestehen, daß die Soldaten an der Front nicht mehr an den Endsieg und den Zusammenbruch Deutschlands glauben, und da die meisten mit ElsaßLothringen nichts am Hut haben, wünschen sie sich nur den sofortigen Frieden. Status quo ante bellum.« (131. Infanterieregiment) Mit dieser Forderung kommt kein wirkücher Pazifismus zum Ausdruck, sondern sie ist die logische Folgerung aus den Alltagserfahrungen. »Wann finden wir endlich den Mann, der fähig ist, ein solches Gemetzel zu beenden? Frankreich wird nicht dadurch stärker, daß neue Gebiete hinzukommen. Das kann nur durch den sparsamen Umgang mit seinen Menschen, durch dieses schrecklichen Gemetzels Beendigung erfolgen.« (121. Infanterieregiment, Pazifismus, Brief konfisziert) »Zum jetzigen Zeitpunkt wäre es sinnlos, wenn wir einen Krieg fortsetzen wollten, der Frankreich grundlos ausblutet.« (Marokkanische Division, Marschregiment der Fremdenlegion). In dieser Truppe außergewöhnliche und vereinzelt anzutreffende Einstellung. Nach Darstellung der Briefzensur war dies die Einstellung einer Minderheit. Die in Beifort tätige Briefzensur verweist beispielsweise auf die Tatsache, daß >Sehnsucht nach Frieden< bestand. Wenn man dem Frieden auch nicht bis nach Berlin nachlaufen wollte, so mochte man ihn doch nicht von Deutschland diktiert bekommen.
Eine deutsche Offensive, mit der man fest gerechnet hatte Es scheint eindeutig das Gefühl verbreitet gewesen zu sein, daß die deutsche Offensive fehlschlagen würde. Zu dieser Überzeugung war man gekommen durch
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André Bach
die Art, wie die Artillerie ihre Einsatzbereitschaft herstellte, durch die solide Beschaffenheit der Verteidigungsanlagen und weil man den Eindruck hatte, daß man dabei war, das Land von Verrätern aus den eigenen Reihen zu säubern. Trotzdem legte die Briefzensur strengere Maßstäbe an. Es wurden immer mehr Briefe ausgesondert, die pazifistische und revolutionäre enthielten. Die als >subversiv< eingestuften Briefe wurden dem Großen Hauptquartier (G.Q.G.) zur Nachforschung übergeben. Post aus der Heimat, besonders aus den durch Streiks aus dem Gleichgewicht geratenen Regionen, wurde einer speziellen Überprüfung unterzogen. So stehte ein Angehöriger des 294. Infanterieregiments fest: »Kein im Departement Saint-Etienne abgesandter Brief darf dem Empfänger ausgehändigt werden bevor er nicht vom Kompaniechef durchgelesen wurde. Unerwünschte werden unleserhch gemacht.« Die Offiziere des Nachrichtendienstes erhielten am 4. März 1918 eine Weisung mit einer Liste der diskret zu überwachenden Angehörigen der Streitkräfte, deren Namen hauptsächlich von der Briefzensur gemeldet waren. Die Liste der 1. Armee umfaßte 116 Namen. Die deutschen Frühjahrsoffensiven führten anfänglich nicht zur Entmutigung, sondern entspannten eher die Situation, da damit die Ungewißheit beendet wurde. Erregte Berichte schilderten überstürzte Transporte, das Entladen von Lkw an den gefährdetsten Stellen, Aufmarschbewegungen und tastende Versuche, deutsche Sturmangriffe abzuwehren. Dabei wurden die Soldaten an die Ereignisse von Charleroi und an der Marne erinnert, aber ohne Panik. Man beschrieb die Flüchtlinge und die systematischen Plünderungen durch die Truppen beider Seiten. Die Soldaten schilderten die Verteidigungsgefechte. Ein Artillerist des 25. Feldartillerieregiments schrieb, die deutschen Truppen seien in den Tod geschickt worden wie Weizengarben in die Dreschmaschine. Ein anderer meinte, diese Soldaten seien wie reifes Korn umgemäht worden. daß angesichts von Dieses Massensterben führte allmählich zur so viel Blutvergießen der Friede unausweichlich sei. Im zusammenfassenden Bericht der Briefzensur der 1. Armee heißt es: »Die meisten Briefeschreiber sind überzeugt, daß das Kriegsende nicht mehr fern ist. Diese scheint gegenwärtig sogar der wichtigste Faktor für das Durchhalten der Soldaten zu sein.« Man stieß auch auf die übliche Ungerechtigkeit erhitzter Gemüter wie bei der herben Beurteüung der Engländer, die den Fehler gemacht hatten, dem feindlichen Druck nachzugeben. »Hier gibt es Engländer, einen Trupp, der es sich gut gehen läßt, nach Herzenslust tanzt und sich an unseren Frauen schadlos hält. Aber wenn es darum geht, unseren Abschnitt zu verteidigen, dann sind sie nicht zur Stehe.« (138. schwe-
Äußerungen
Äußerungen
Überzeugung,
Überzeugung
res
Artillerieregiment)
»Sie können sich nicht mit uns messen. Ich spreche von den Engländern aus England. Ihre Kolonialtruppen, d.h. die Australier, Kanadier und auch die Schotten gehören zu den besten und sind mit uns vergleichbar.« (3. Armee)
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Einige Äußerungen sind moderater: »Die Engländer haben sich einem Ansturm von beispielloser Härte gestellt. Ihre Front ist zurückgewichen ohne aufzubrechen. Dabei gab es keine Auflösung, keine Flucht. Ich war dabei, ich kann es bezeugen. Unsere Reservekräfte haben den Angriff eindeutig beenden können, wobei uns jedoch die Erfolge des vorangegangenen Widerstandes der Engländer zugute gekommen sind.«
Mutlosigkeit ab Mitte April 1918 Um die Mitte des Monats April stellten die Zensoren eine allmähliche Veränderung fest. Aus den Briefen war körperliche Müdigkeit herauszulesen. Man begann an der Möglichkeit einer entscheidenden Gegenoffensive zu zweifeln und wies darauf hin, daß die Streitkräfte beinahe die ganze Länge der Front verteidigen müßten. Der allgemeine Bericht über die Stimmung vom April 1918 enthält die klare Aussage: »Für den Fall, daß sich diese Befürchtungen bewahrheiten, wird durch eine erneut festgefahrene Lage an der Front wahrscheinlich ein gewisses Stimmungstief verursacht, das die wendige Propaganda bestimmt nutzen wird. Die Verbitterung im Land, ausgelöst durch die Länge des Krieges und die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, könnte dieses Stimmungstief noch verschlimmern.« Die Verluste beeindruckten: »Bis an die Knie im Schlamm versunken warten wir darauf, daß eine Granate diesem unwürdigen Dasein ein Ende setzt. Ich habe keinen Mut, keine Hoffnung mehr. Ich habe so viele Kameraden sterben sehen.«
(62. Infanteriedivision)
»Die Regierungen aller kriegführenden Mächte sind eine Bande von Schuften, Verbrechern, Menschen Verächtern.« (267. Feldartillerieregiment, Brief konfisziert) Diese für die Soldaten schlimme Lage drückte auf die Stimmung: »Wenn uns jetzt jemand sagen würde: durchhalten bis zum Endedefätistische< Briefe auf. »Man spricht viel von der Rückkehr ins Departement Aisne. Wenn das so weitergeht, dann könnt Ihr Eure Siebensachen packen, denn wenn sie erwarten, daß wir ihren Vormarsch aufhalten, dann täuschen sie sich gewaltig. Nur rasch die Flucht ergreifen, denn nun haben wir die Nase voll.« (67. Infanterieregiment) Sie stellte fest, daß sich unter den Die Briefzensur relativierte diese 345 überflogenen Briefen des 137. Infanterieregiments nur ein defätistischer Brief befand und unter den 500 des 289. Infanterieregiments nur vier. Dazu kam, daß sich die Stimmung nach dem Ende des Angriffs an der Aisne merklich besserte, als man feststellte, daß der deutschen Offensive allmählich die Luft ausging. Es wurde verbissen gekämpft. Eine neue Begeisterung kam auf, aber gleichzeitig auch Entsetzen über die Verluste. Beim 418. Infanterieregiment wurden in 342 der 545 gelesenen Briefe die Verluste angesprochen. In 289 Briefen wurde die Ablö-
Äußerungen.
sung gefordert.
»Wir müssen den Abschnitt noch einen Monat lang halten. Das ist furchtbar. Nimmt dieser Krieg überhaupt kein Ende? Entweder sind die Verantwortlichen Verbrecher oder Verrückte. Dazwischen gibt es nichts.« (64. Jägerbataillon zu Fuß) »Sag den Amerikanern, sie sollen sich beeilen. Frankreich ist vollkommen ausgeblutet, und wir werden umkommen, wenn ihr uns nicht zu Hilfe eilt! Kommt bald!« (7. Armee) Das Eintreffen der Amerikaner in bester Verfassung im Juni gab neuen Auftrieb, vor allem im Hinblick auf die Lage der Gefangenen. »Sie sahen zerlumpt und abgestumpft aus. Als wir sie so sahen, dachten wir alle: Und so jemand wül die Welt beherrschen! Idioten!« (10. Armee) »Meist noch Halbwüchsige In ihren Briefen sagen sie nichts weiter, als daß sie die Nase voll haben.« (298. Infanterieregiment) Clemenceau wurde einerseits kritisiert, andererseits erhielt er Zustimmung: »Man hat den Eindruck, von einem Mann mit eiserner Faust regiert zu weden. Aber zumindest verfolgt er eine Linie und ist nicht so wankelmütig wie seine Vor...
gänger.« (330. Infanterieregiment) Die Kampfhandlungen waren hart. »Ich habe zwei Deutsche umgelegt. Wenn ich das nicht getan hätte, wäre ich in Gefangenschaft geraten. Und es sieht so aus, als würden wir nicht verschont. Das Motto heißt also: >Auge um Auge, Zahn um Zahn.< Wh befinden uns wieder mitten im Kampfgewühl. Ich habe meine beiden unglücklichen Brüder gerächt, die 1915 gefallen sind.« (73. Infanterieregiment).
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Lob für die Amerikaner:
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August 1918
Die Kampfhandlungen im August und September steigerten das Ansehen der Amerikaner ungeheuer. »Es steht außer Frage, daß vor allem die Amerikaner uns unterstützen. Das ist
spürbar.
Es wird wieder Urlaub
(155.
Infanterieregiment)
gewährt, was ohne sie nicht möglich gewesen wäre.«
»Zwei Mihionen bis zu den Zähnen bewaffnete Amerikaner sind mehr wert als fünfzehn Millionen mit Stöcken bewaffnete Russen.« (2. Armee) »Sie kämpfen wie wir es nicht mehr können, mit der Energie eines jungen Volkes suchen sie den Nahkampf mit der blanken Waffe.« (4. Armee) Man erfuhr auch, wie die Amerikaner dachten: »Die Franzosen sind gewiß sehr höflich und behandeln uns mit viel Respekt. Aber bei ihnen wird viel routinemäßig gehandhabt. In vielerlei Hinsicht scheinen sie 100 Jahre im Rückstand zu sein.« (10. Armee)
Eine äußerst harte Offensive Diese Behebtheit täuscht nicht über die Härte der Einsätze hinweg. »In den Zeitungen läßt es sich gut über einen Vormarsch schreiben, aber im Gelände ist dieser genau so schwer wie der Rückzug. Und das ist noch gelinde
ausgedrückt.« (74. Infanteriedivision) »Ich bin so erschöpft, daß ich ganz benommen bin: Sonne, fehlender Schlaf und nicht genug zu essen.« (16 ähnliche Auszüge aus Briefen von Angehörigen des 55. Infanterieregiments) »Man kommt in den schmutzigen Kleidern und mit ah den Läusen um. Die Fhegen, die sich auch auf den Leichen zu schaffen machen, verursachen schmerz-
hafte Stiche.« (41. Infanteriedivision) »Und immer wieder Verluste. Meine Kompanie des 11. Schützenregiments war am 3. August 1918 187 Mann stark. Am Abend nach dem Angriff zählte sie nur noch zwei Europäer und 30 Eingeborene. Alle anderen sind verwundet oder
gefallen.« Mit jeder Woche, die verstrich, machten sich Erschöpfung und Müdigkeit stär-
ker bemerkbar. Bei der 152. Infanteriedivision enthielten am 9. Oktober 1918 etwa 1000 Auszüge aus Briefen Schilderungen folgender Art: »Ich habe erneut die schrecklichen Tage von Verdun durchlebt.« »Wenn Du sehen würdest, wie sie sich ergeben. Es packt einen das Grauen, wenn man sieht wie viele die Arme heben, man könnte meinen, sie würden angreifen. Es gibt aber immer noch ein paar Begeisterte, die hinter ihren Maschinengewehren hängen, was uns zuweilen ganz schön weh tut. Aber was will man da machen. Sie glauben an die gerechte Sache so wie wir auf unserer Seite auch.«
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André Bach
Ein amerikanischer Offizier hörte am 4. Oktober 1918, was ein deutscher Offizier zu seinen Soldaten sagte, die wie er gefangengenommen worden waren: »Sie haben tapfer gekämpft. Jetzt sind Sie Gefangene. Aber vergessen Sie ihr Vaterland nicht. In zehn Jahren wird es erneut Krieg geben und dann werden Sie die ganze Welt besiegen.« (5. Armee) »Wir greifen nach 50 Tagen an der Front an, aber ich meine, daß man uns endlich ablösen muß, denn es ist beinahe niemand mehr übrig.« (77. Infanterieregiment, 15. Oktober 1918) »Es sind jetzt schon 25 Nächte vergangen, in denen wir nie auch nur vier Stunden geschlafen haben. Wir haben nur unsere Zeltbahn. Wenn man ein oder zwei Stunden gedöst hat, steht man fest, daß man mit Reif bedeckt ist. Schon seit 20 Tagen haben wir nichts Warmes mehr zu essen und zu trinken bekommen, haben wir uns weder gewaschen, noch rasiert, noch die Wäsche gewechselt. Wenn das so weitergeht, werden wir vom Ungeziefer aufgefressen.« (154. Infanteriedivision, 17. Oktober 1918) Nie war die Popularität der vielgelobten Amerikaner größer als bei ihrem Einsatz in St. Mihiel zwischen dem 12. und 15. September. Das war gleichzeitig auch das Ende der Bewunderung, die viele langsam als übertrieben ansahen. »Das amerikanische Durcheinander zwingt uns, häufig ganze Nächte auf der Straße zu verbringen. Ihnen feit jede Organisation und vor allem die Praxis.« (2. Armee, 11. Oktober 1918)
Was für ein Waffenstillstand? (Oktober 1918) Das große Ereignis Anfang Oktober war die Bekanntgabe eines ersten deutschen
Waffenstihstandsersuchens. Das war eine Sensation, die viel diskutiert wurde.
Optimisten und Pessimisten versuchten, die Aussichten auf eine Beendigung des Krieges abzuschätzen. »In 8 Tagen die Türkei, in zwei Wochen Österreich, in einem Monat der bedingungslose Waffenstillstand Deutschlands. In drei Monaten werde ich wieder zuhause sein.« (1. Infanteriedivision, 14. Oktober 1918) »Man muß sie aus Frankreich hinausbekommen? In der Zeitung läßt sich das gut schreiben, aber vor Ort sieht das ganz anders aus.« (64. Infanteriedivision) »Meine Division ist in 31 Tagen 15 km vorangekommen, und das ist mehr als den meisten anderen gelungen ist. Da kann man sich vorstellen, wie viel Zeit noch vergehen wird, bis wir an der Grenze ankommen.« (29. Infanteriedivision) Es begann eine Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern der sofortigen Annahme des Waffenstiilstandsersuchens (10/3500 pro Division im Durchschnitt), den Befürwortern der Durchhaltetaktik (60/3500) und jener Mehrheit, die sich für einen Waffenstillstand mit festen Garantien zur endgültigen Beendigung des Krieges aussprach. Unter den erstgenannten befanden sich die Ungeduldigen und die revolutionären Pazifisten, die während des Sommers so gut wie verschwunden gewesen waren, im Oktober jedoch erneut auftauchten. —
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Die Stimmungslage der an der französischen Front eingesetzten Soldaten
»Es wird ihnen viel bringen, die Häuser der Deutschen zu zerstören, und das wird unsere eigenen zerstörten Häuser auch sicher wieder aufbauen.« (123. Infan-
teriedivision)
»In Frankreich gibt es auch einen Militarismus, und viele französische Generäle stehen gewissen Deutschen in nichts nach.« (7. Armee, 3. November 1918, Brief kon-
fisziert)
»Die Herren warten während sie ihre Schokolade schlürfen auf das Morgenkommunique und erdreisten sich dann auch noch zu sagen, das sei unser Wille.« (20. Infanteriedivision, 10. Oktober 1918, Brief konfisziert) Die Befürworter des Krieges bis zum bitteren Ende vertreten die Meinung, daß man verhindern muß, daß Deutschland in Zukunft je wieder Schaden anrichtet. »Man verhandelt nicht mit einem Aggressor, der um Frieden bittet und sich dabei in Siegerpose wirft und die Städte in Brand setzt, die man ihm entreißt.« (5. Armee, 18. Oktober 1918) »Keine Verhandlungen bevor sie kapitulieren. Nur so bekommt man sie zu packen, denn wenn sie gesiegt hätten, hätten sie uns zerschmettert, und in Frankreich hätte nur noch Hungersnot geherrscht.« Die große Mehrheit sprach sich für einen guten Frieden und Vorsichtsmaßnahmen aus, denn man wünschte ehrliche Zustimmung. Gleichzeitig war im September und Oktober eine Verschlechterung der Stimmung wahrzunehmen. In Erwartung der schon in greifbare Nähe gerückten Beendigung der Kampfhandlungen waren die Nerven angespannt. Diese Anspannung wurde noch verstärkt durch die Angst vor den Angriffen unmittelbar vor dem —
—
Waffenstillstand. »Wir werden übermorgen in der Früh angreifen. Ich brauche Dir nicht zu sagen, daß dieser Angriff mit dem ganzen Haß geführt wird, den ich gegenüber unseren Revanchisten verspüre. Angesichts der täglichen Ereignisse ist es zwecklos, uns angreifen zu lassen. Gott strafe jene, die uns in den Tod schicken.« (124. Infanteriedivision, 31. Oktober 1918, Brief konfisziert) Ein Offizier aus dem Stab des 2. Kavalleriekorps berichtete am 7. November: »Die Männer greifen nur unter Murren an, verfolgen die Deutschen nur zögernd und halten möglichst viel Abstand. Zum Glück sind da noch die Amerikaner und Engländer. Vor allem erstere sind noch recht draufgängerisch. Ohne sie wären wir dem Hohn und Spott der Deutschen ausgeliefert.«
11. November:
gefaßte und angstvolle Erleichterung
Die Reaktion auf den Waffenstillstand vom 11. November fiel unterschiedlich aus. »An der Front herrschte sehr verhaltener Jubel. Das schlechte Wetter, der Schmutz, die verwüsteten Gebiete, in denen wir wie die Maulwürfe hausen außerdem fehlt der Wein, um den Waffenstillstand würdig zu begießen.« (10. Armee, 1. Dezember 1918) —
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André Bach
»In die Freude mischte sich so viel Schmerz, daß man am liebsten in Tränen ausgebrochen wäre. Der Soldat hat seine innere Ruhe verloren. Er kann sich noch gar nicht vorstellen, daß dieses schlimme Kampfgetümmel wirklich zu Ende sein soll.« Ein Gefühl großer Erleichterung, aber auch der Furcht vor der Heimkehr griff um sich. »Wenn man heimkehrt und dort niemanden mehr antrifft, das ist doch wirklich traurig. Im Augenblick denkt man darüber mehr denn je nach.« (162. Infanteriedivision, 13. November 1918) Man traute den Deutschen nicht. »Bei denen wird die Anarchie ausbrechen. Sie behaupten, einen großen Teil ihrer Offiziere umgebracht zu haben Sie sind so heimtückisch, daß man ihnen nicht glaubt. Man hegt so viel Argwohn gegen sie und setzt Waffen ein wie vor dem Waffenstillstand.« (161. Infanteriedivision) »Die deutschen Landser kamen gelaufen und haben gerufen: >Es lebe die Republik! Es lebe Frankreich! < Alle trugen Kokarden in den Farben der Trikolore. Sie wurden unverzüghch dem Oberst vorgeführt, die Dreckschweine!« Es gab nur noch einen Gedanken: die sofortige Demobilisierung. »Wenn alle Frontsoldaten so wären wie ich, dann würde man den Abgeordneten schriftlich mit einem Aufstand drohen für den Fall, daß sie uns nicht entlassen wollen. Außer uns französischen Dummköpfen trägt doch keiner mehr die ...
Sträflingskappe.«
»Die Wirklichkeit sieht so aus: Die Besten Frankreichs sind gefallen; die armen Schlucker, die tapferen und bescheidenen Leute, die mehr oder weniger ausgelaugt und verbraucht sind, kommen zurück und stoßen auf den sozialen Abschaum der Kriegsgewinnler, die aus der Not und dem Blutvergießen ihrer Mitbürger einen Millionengewinn gezogen haben. Es gibt gutmütige Trottel und solche, die sie ausnehmen.« (5. Armee, 22. November 1918) »Guter Gott, was hast Du über das Vaterland kommen lassen, daß es seine Kinder so behandelt. Wir sind alle begründeterweise aufgebracht, daß man uns für so dumm verkauft Oh siegreiches Frankreich, wenn du deine ruhmreichen Kämpfer der 168. Division sehen würdest, die wie geprügelte Hunde aussehen.« Man nannte jene, die diesen Zustand zu verantworten hatten. »Die militärische Klasse gibt den Ton an, befiehlt und verfügt über die Soldaten.« ...
Abschlußbemerkungen Können aus den hier wiedergegebenen unterschiedlichsten Meinungen, die nur unvollständig die Vielfalt der Gefühle der Frontsoldaten widerspiegeln, Schlußfolgerungen gezogen werden? Man erkennt das Bild einer Wehrpflichtigenarmee, die sich bezüglich der führenden Politiker und der militärischen Führung nichts mehr vormachte. Mit Skepsis waren die Soldaten bereit, das Ihre zur Beendigung des Konfliktes beizutragen, forderten jedoch ein Mitspracherecht. In diesem Sinn kann man
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sagen, daß der Geist, der bei den Meutereien des Jahres 1917 geherrscht hatte und einem im Winter 1917/18 an der Front eingesetzten Soldaten als aufbäumen in der bejammerswertesten Lage< bezeichnet wurde, die Überlegungen und das Verhalten der Frontkämpfer weiterhin bestimmte.
von
Da es keine menschlich logische Rechtfertigung für das katastrophale systematische Ausbluten eines Volkes gibt, klammerten sich die Gedanken der erregten, erschöpften und physisch wie psychisch unter schlimmsten Bedingungen kämpfenden Soldaten an Gerüchte und radikale, widersprüchliche oder utopische Lösungen wie in diesem Brief, vom 29. November 1918, der konfisziert wurde. »Nie wieder Krieg, nie wieder Haß. Wir müssen fest zusammenhalten und uns an die Arbeit machen, und ich rufe trotzdem >FrankreichEs lebe die Internationale^ >Es lebe die universelle Republho, >Es lebe Wilsons« Gleichwohl konnte sich nach ihrer Meinung die oben beschriebene Katastrophe nur ereignen und so lange hinziehen, weil sie gewissen Leuten genutzt hat. Deshalb wurden die Drückeberger, die Politiker, die Militärs in der Etappe und die Neureichen so verteufelt. Diese trug nicht gerade dazu bei, die andere Seite der französischen Gesehschaft zu verstehen. Die Franzosen, die unter dem Zeichen der Union Sacrée in den Krieg eingetreten waren, erlebten das Kriegsende verwundet, verbittert, leidend und mit dem Wunsch, die Sündenböcke zu finden. So wurden die Kriegsgewinnler denunziert. Diktatorische Strömungen auf dem rechten wie auf dem hnken Parteienspektrum konnten Gefolgsleute hinter sich scharen. Schließlich sollten jene, die von den gängigen gesellschaftlichen Gruppierungen abwichen, ausgeschlossen werden. Noch zwanzig Jahre später waren die Auswirkungen dieser Gegensätze spürbar, und die Franzosen traten widerwillig in einen neuen Krieg ein, ohne Ächtung vor ihren pohtischen Führern und ohne Vertrauen in ihre Landsleute und die hohen Militärs, deren Befehlsgewalt sie unterstanden.
Überzeugung
Michael Epkenhans Die Politik der militärischen Führung 1918: »Kontinuität der Illusionen und das Dilemma der Wahrheit« »Die Stimmung im Hause«, notierte der Mitarbeiter der Presseabteüung des Admiralstabes, Korvettenkapitän Bogislav v. Selchow, am 27. September 1918 in seinem Tagebuch, »ist sehr ernst. Allmählich merken auch die Nicht-sehen-Wollendsten [sie !], daß etwas faul ist im Staate Dänemark. Es ist merkwürdig, daß diese Leute, solange die Erde besteht, anscheinend immer in der Überzahl sind. Ich glaube nicht, daß der alte Darwin recht hat, wenn er behauptet, daß die Menschen vom Affen abstammen. Ich bin vielmehr fest davon überzeugt, daß die Menschen vom Strauß abstammen. Neunzig vom Hundert aller Menschen, ach was sage ich, Neunundneunzig vom Hundert mindestens, stecken, wenn eine Gefahr auf sie zukommt, den Kopf in den Sand und wollen nichts sehen und nichts hören. Das tut kein Affe. Und ich habe doch viele im Urwald herumlaufen sehen. Ich glaube, das tut überhaupt kein Tier. Womit mir bewiesen scheint, daß die Menschen vom Strauß abstammen1.« Diese Eintragung ist, dies sei zugegeben, zweifellos ein wenig provokativ; sie steht freilich nicht allein dar, ist doch vom bayerischen Kronprinzen Rupprecht eine bis in die Formulierungen hinein ähnliche bereits aus dem Mai des Jahres 1918 überliefert2. Betrachtet man daher die Ereignisse dieses vierten Kriegsjahres seit dem Frieden von Brest-Litovsk und dem Beginn der Frühjahrsoffensive, die militärische und politische Entwicklung während des Sommers sowie die dramatische Zuspitzung der Lage mit all ihren auch psychologischen Begleiterscheinungen im Herbst, dann kann man sich kaum des Eindrucks erwehren, daß die Diagnose dieses vergleichsweise jungen Korvettenkapitäns im Kern durchaus zutreffend war: »Vogel-Strauß-Politk«, d.h. Verdrängung der Realität und Illusionen über die Zukunft auf der einen, eine in ihren Auswirkungen nicht zu unterschätzende Angst vor der Wahrheit auf der anderen Seite vermischen sich zu einem nur schwer durchschaubaren Gefüge und durchziehen wie ein roter
Äußerung
Tagebucheintragung vom 6.8.1918, Bundesarchiv-Militärarchiv (BA-MA), N 428/38, Nach-
laß Selchow. »Die OHL glaubt im Grunde selbst nicht mehr an die Möglichkeit einer für uns günstigen Entscheidung, ohne aus dieser Erkenntnis Folgerungen zu ziehen, und alle Leute scheuen sich, die Wahrheit zu sagen. Es ist eine Vogel-Strauß-Politik, die bei uns getrieben wird.« Tagebucheintragung vom 20.5.1918, zit. nach Volker Ullrich, Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918, Frankfurt a.M. 1997, S. 550.
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Michael
Epkenhans
Faden das Handeln der beteiligten Akteure in diesen Monaten vor dem endgültigen Zusammenbruch. zunächst freilich so, als ob es Vom Frühjahr 1918 her gesehen scheint es sich bei der Politik der militärischen Führung nicht um eine Politik der Illusionen, sondern eine Politik berechtigter Hoffnungen und wohl überlegter Planunvon den Militärs gen gehandelt hat. Der durchgesetzte Diktatfriede von Brest-Litovsk hatte das Deutsche Reich politisch als auch militärisch ein erhebliches Stück »voran« gebracht: Der seit dem Marne-Debakel vom Herbst 1914 erstrebte Sonderfrieden mit Rußland zu deutschen Bedingungen war endlich erreicht, und auch Italien, der Angstgegner des wichtigsten Verbündeten ÖsterreichUngarn, schien nach den schweren Niederlagen vom Herbst 1917 ebenfalls am Rande seiner Kräfte zu sein3. Allein die Westfront, an der im Jahre zuvor mehrere alliierte Angriffe blutig gescheitert waren, stellte noch ein »Problem« dar. Aus der Sicht der militärischen Führung war aber auch dieses Problem »lösbar«, wenn man durch eine groß angelegte, überraschende Offensive die englische von den französischen Armeen trennte und soweit als möglich zerschlug. Diese Annahme war allerdings bereits in hohem Maße von »Wunschdenken« geprägt. Erich Ludendorffs Behauptung vom Oktober 1917, daß, »wenn wir diesen Herbst durchhalten, [...] wir gewonnen [haben]«4, wirkte nach den vorangegangenen blutigen Kämpfen wenig überzeugend. Auch wenn die wenigsten Armeeführer wie 1917 »wieder nur Abwehrschlachten schlagen [wollten], Materialschlachten, in denen wir zerschlagen werden«5, standen sie trotz aller Argumente, die für einen Angriff und gegen ein weiteres Verharren in der Defensive sprachen, der von Ludendorff ins Auge gefaßten großen, die Entscheidung erzwingende Offensive keineswegs ohne gewichtige Vorbehalte gegenüber. General Hermann v. Kühl, der mit zu den wichtigsten Planern der Offensive gehörte, war »Wir notierte er Anfang Februar 1918, »unser Mögwerden«, wenig optimistisch: lichstes tun. Aber ich habe nun nicht viel Zutrauen zum Angriff, wenn wir nicht besonderes Glück haben. Es kommt«, so fuhr er in fast prophetischer Weise fort, »zu einer Ausbauchung. Dann stecken wir in dem Gelände, das wir vor einem Jahr mühsam zerstört und aufgegeben haben. Schließlich kommen die Amerikaner doch6!« Diese Begründung die Amerikaner kommen doch wie auch die von —
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Zusammenfassend: Wolfgang J. Mommsen, Bürgerstolz und Weltmachtstreben. Deutschland unter Wilhelm II. 1890 bis 1918, Berlin 1995 (= Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd 7/2), S. 772-810; Ullrich, Großmacht (wie Anm. 2), S. 536-551; Holger H. Herwig, The First World War. Germany and Austria-Hungary, 1914-1918, London [u.a.] 1997, S. 333-432. Kriegstagebuch General v. Kühl, Eintragung vom 6.10.1917, BA-MA, W 10/50652. Beste neuere Zusammenfassung der deutschen Pläne und Vorbereitungen Herwig, The First World War (wie Anm. 3), S. 392-402; auch Wilhelm Deist, Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der »Dolchstoßlegende«, in: Ders., Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd 34), S. 211-221.
Kriegstagebuch General v. Kühl, Eintragung vom 6.11.1917, BA-MA, W 10/50652. Ebd., Eintragung vom 6.2.1918. Vor diesem Hintergrund ist die Kritik Hans Delbrücks an dem von General v. Kühl später verfaßten, die Realität nachträglich beschönigenden Gutachten
Die Politik der militärischen Führung 1918
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beiden Seiten unternommenen bisherigen Offensiven an der Westfront ließen einen Erfolg daher von Anfang an mehr als unwahrscheinlich erscheinen7. Trotz zahlreicher Bedenken vor allem der bayerischen Armeeführer setzte sich Ludendorff, der, wie Holger Herwig kürzlich noch einmal zu Recht betont hat, nie über das intellektuelle Niveau eines Regimentsobersts hinausgekommen war8, mit seinem Plan der Entscheidungsschlacht durch. Nur diese militärische Offensive konnte den zeitweilig nicht mehr möglich erscheinenden »Siegfrieden« zum Ergebnis haben. Dieser »Siegfrieden«, dies erklärt auch die Unnachgiebigkeit, mit der die Oberste Heeresleitung (OHL) für die Offensive eintrat, war eine unabdingbare Voraussetzung für die Realisierung ihres annexionistischen Kriegszielprogramms, das durch seinen »furchtgebietende[n] Umriß [...] eine Revolution der poütischen Weltordnung mit sich gebracht hätte«9. Gleiches galt für die Innenpolitik: Nur ein »Siegfrieden« hielt die überlieferte konservative Ordnung aufrecht, als deren Garanten sich die beiden »Dioskuren« Paul v. Hindenburg und Ludendorff seit ihrem »Sieg« über Theobald v. Bethmann Hollweg wie auch in anderen zentralen innenpolitischen Fragen verstanden. Der Gedanke an einen politischen Frieden entsprechend den an traditionellen diplomatischen »Leitideen« sich orientierenden Vorstellungen Richard v. Kühlmanns10 oder an eine politische Offensive, den besorgte Politiker und Intellektuelle wie Friedrich Naumann, Alfred Weber und Ernst Jäckh, aber auch ein »moderner« Unternehmer wie Robert Bosch Ludendorff im Februar nahe zu bringen versucht hatten, schied daher von vornherein aus. »Nur Handeln bringt Erfolg«, antwortete der Generalquartiermeister darauf, und, so schloß er, dabei die vom für den Reichstagsuntersuchungsausschuß mehr als berechtigt. Vgl. Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1930. Verhandlungen, Gutachten, Urkunden. Unter Mitwirkung von Eugen Fischer, Walther Bloch, Berthold Widmann im Auftrag des Reichstages hrsg. von Walter Schücking, Peter Spahn, Johannes Bell, Rudolf Breitscheid, Albrecht Philipp, 4. Reihe: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918. Unter Mitwirkung von Eugen Fischer, Walther Bloch hrsg. von Albrecht Philipp, 12 Bde, Berlin 1925-1929 (im Folgenden zitiert als WUA), Bd 3, Berlin 1925, S. 273-373, hier S. 277: »Es mag jemand
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noch so redlich nach der Wahrheit forschen, so kommt doch immer in Betracht, ob nicht psychologische Hindernisse im Wege stehen, die auch für den Stärksten unüberwindlich sind. [...] Er hat uns nicht verhehlt, daß er in wichtigen Punkten eine abweichende Auffassung [als General Ludendorff, M.E.] vertreten hat, aber in der Grundfrage der Strategie in ihrem Zusammenhang mit der Frage der Friedensmöglichkeit, waren die beiden Herren doch so weit einig, daß das Gutachten des Generals v. Kühl mit innerer Notwendigkeit zu einer Selbstverteidigung werden mußte.« Vgl. beispielsweise die Tagebucheintragung des bayerischen Kronprinzen Rupprecht vom 25.1.1918: »Ob uns ein Durchbruch gelingen wird, kann niemand voraussagen; bisher ist er unseren Gegnern nicht einmal bei großer gelungen.« Zit. nach Ullrich, Großmacht (wie Anm. 2), S. 547. Herwig, The First World War (wie Anm. 3), S. 420. So Klaus Hildebrand, Das deutsche Ostimperium 1918. Betrachtungen über eine historische »Augenblickserscheinung«, in: Gestaltungskraft des Politischen. Festschrift für Eberhard Kolb, hrsg. von Wolfram Pyta und Ludwig Richter, Berlin 1998, S. 117. Ebd., S. 115 und passim.
Überlegenheit
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»Heldenmythos« geprägte Gedankenwelt der militärischen Führung der gesam-
ten wühelminischen Ära deuthch machend: »Der Angriff ist noch immer die Fecht-
weise des Deutschen gewesen. Das deutsche Heer, das den Frieden genauso will, wie die deutsche Heimat, freut sich der Aussicht, aus dem Stellungskrieg herauszukommen. Die Offensive wird nicht die >Offensive des deutschen GeneralstabesStrafkompanie< haben« wohten »und daher so selten wie nur irgend möglich und höchst ungern bestraften«15, weh sie dadurch ihre Führungsquahtäten in Frage gestellt sahen. Andererseits konnte ein Vorgesetzter durch hartes Durchgreifen demonstrieren, daß er der militärischen Autorität volle Geltung verschaffen 13
Manual of Verfasser.
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Maasgruppe Ost, 1.11.1916, BKA, 4. I.D., Bd 86. Max van den Bergh, Das Deutsche Heer vor dem Weltkriege. Eine Darstellung und Würdi-
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Military Law (War Office), London 1914, Abschnitt III.13, Hervorhebung vom
gung, Berlin 1934, S. 91.
Bei einer geschlagenen Armee ist der Klügste, wer zuerst davonläuft
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wollte. Auch die Machtverhältnisse der militärischen Hierarchie beeinflußten das Zustandekommen von Urteilen. Ein britischer Frontoffizier berichtet in seinen Kriegserinnerungen von einem Fall, in dem ein Vorsitzender eines Feldkriegsgerichts einen Angeklagten freisprach und sich dafür von seinem Brigade-General sagen lassen mußte: »What the devü do you mean by letting the man off?« und auf die Erwiderung, der Freispruch sei das einzig möghche Urteü gewesen: »What the do you mean? The man was obviously guilty16.« Man steht also vor einem Dilemma. Einerseits reflektieren die Desertionszahlen reales Verhalten, denn um als Deserteur verurteilt werden zu können, mußte sich ein Soldat tatsächlich von seiner Einheit entfernt haben, was als Krise der Kommandoautorität gedeutet werden kann. Andererseits war die Frage, ob und wie dieses Verhalten geahndet wurde, von vielen kaum berechenbaren Faktoren abhängig. Es ist daher immer eine Einzelfallentscheidung, ob eine hohe Desertionsrate primär als Ausdruck einer Krise oder eines Kiisenbewußtseins gedeutet wüd, zumal >Moral< Im Sinne unbedingter Dienstwilligkeit eines Soldaten nicht objektiv gemessen werden kann. Im Gegenteil: die Vorstellung, man könne eine klare Grenzlinie zwischen Gehorsam und Ungehorsam ziehen, ist selbst bereits Teil des innermilitärischen Diszipün-Diskurses, dem unkritisch zu folgen irreführend wäre. Sosehr, wie sich der Frontalltag auf beiden Seiten der Kampflinie ähnelte, sosehr taten es auch die Formen und Motive der Desertion. Düekt an der Front standen die Soldaten ständig unter der Kontrolle ihrer Vorgesetzten; gleichzeitig waren die Lebensbedrohung und die Entbehrungen des Soldatenlebens nirgends größer als hier. Diese Diskrepanz zwischen dem Wunsch und der Mögüchkeit zum Desertieren konnte nur durch Überlaufen oder Gefangennahme aufgehoben werden, was mit hohen Risiken verbunden war. Daher nutzten etwa ein Fünftel der Deserteure den Vormarsch aus der Ruhestellung an die Front für die Fahnenflucht, die hier besonders attraktiv war, da sie einerseits gut vorbereitet werden konnte, andererseits der nächste Kampfeinsatz drohte. Günstige Bedingungen für eine Desertion bestanden in der Ruhestellung oder Etappe, denn dort gab es relativ große Freüäume für die Soldaten. Im rückwärtigen Frontgebiet herrschte ein emsiger Betrieb, in dem der einzelne leicht untertauchen konnte, zumal gefälschte Ausweise etc. leicht erwerbbar waren. Häufig war allerdings die Armee selbst der sicherste Aufenthaltsort für einen flüchtigen Soldaten; einer von ihnen hatte sich dadurch monatelang dem Frontdienst entzogen, »daß er sich bei anderen Militärbehörden, die von seiner eigenmächtigen Entfernung nichts wußten, meldete und verwenden ließ«17. Ähnlich verhielt sich ein britischer Soldat, der sich nach seiner Entfernung eines gefälschten Soldbuchs bedient hatte und einen unechten Gestellungsbefehl besaß. Als er nach einer kurzzeitigen Inhaftierung ausbrechen konnte, tauchte er zweieinhalb Monate unter, indem er als Mechaniker in einer Werkstatt des »Royal Flying Corps« arbeitete18. —
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Kriegstagebuch, S. 115, IWM, R.S. Cockburn-Papers, RSC 1 /1. Urteilsbegründung vom 9.3.1915, BKA, Gericht stv. 3. Infanterie-Brigade, Buchst. B-D1915, Bl. 48. Vgl. Julian J. Putkowski and Julian Sykes, Shot at Dawn, 4. impr., Barnsley 1993, S. 220.
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Christoph Jahr
Ein beachthcher Teil der Deserteure hielt sich im französischen oder belgischen Hinterland auf, in einem Land, dessen Sprache sie zumeist nicht verstanden und dessen Bewohner ihnen, egal ob britische oder deutsche Soldaten, nicht immer freundlich gesonnen waren. Ein desertierter Soldat war von einem Einheimischen aufgenommen worden, an dessen Haustür er eines nachts frierend und fast verhungert angeklopft hatte. Obwohl sein Gastgeber alle vorbeiziehenden britischen Truppen auf den ungebetenen Gast ansprach, dauerte es über zwei Monate, bis dieser schheßlich verhaftet wurde19. Aus Fällen wie diesen wird deutlich, daß die Unübersichtlichkeit im Hinterland der Front oftmals der beste Schutz vor dem Zugriff des Systems war. Andere Deserteure gingen das Problem, wie sie in einem fremden Land untertauchen könnten, sehr viel aktiver und manchmal auch aggressiver an, indem sie leerstehende Häuser plünderten20. Manche suchten aber auch die Bekanntschaft mit einheimischen Frauen, wodurch das Verstecken erleichtert wurde21. Häufig war eine Desertion mit verschiedenen anderen Straftaten verbunden, die sich aus der Notwendigkeit ergaben, Nahrung, Quartier und Geld fürs Überleben zu beschaffen. Viele versuchten in der Heimat unterzutauchen, die für die deutschen Soldaten relativ leicht erreichbar war22. In Anbetracht der Gefährhchkeit des Überlaufens zum Gegner oder der ständigen Gefahr des Entdecktwerdens nach dem Untertauchen versuchten viele Deserteure, ins neutrale Ausland zu gelangen, wo ihnen scWirnrnstenfahs die Internierung drohte. Insgesamt hielten sich etwa 20 000 deutsche Deserteure in der Schweiz, Dänemark und den Niederlanden auf sowie eine ähnhch große Zahl von Wehrdienstflüchtigen aher Art. Aufgrund der Lage der Front und des Einsatzgebietes der British Expeditionary Force (B.E.F.) war der Huchtweg ins neutrale Ausland für die britischen Soldaten allerdings praktisch unmöghch. Ihnen bheb die Möglichkeit, nach Irland zu gehen, da dort die Wehrpflicht wegen der befürchteten Unruhen nie eingeführt wurde. Die französischen Kanalhäfen stellten jedoch ein Nadelöhr für den Versuch dar, den Kontinent zu verlassen. Trotz dieser Schwierigkeiten versuchte genau dies ein großer Teil der britischen Deserteure, doch wurden die meisten noch auf französischem Boden oder nach wenigen Tagen in ihrer Heimat gefaßt. Auch das Bild der sozialen Zusammensetzung der Deserteure ähnelte sich in beiden Armeen sehr. >Der< Deserteur war zuerst ein einfacher Soldat, denn obwohl rein juristisch Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften gleichermaßen der Fahnenflucht schuldig werden konnten, sind Unteroffiziere kaum, Offiziere praktisch überhaupt nicht unter den Deserteuren vertreten. Hier konnte nicht sein, was nicht sein durfte. Ein ehemaliger deutscher Militärarzt schrieb nach dem Krieg, daß bei den Offizieren Fahnenfluchten nicht vorgekommen seien: »Die Schwächung der Widerstandskraft«, heißt es lakonisch, »äußerte sich bei ihnen in anderer Form23.« 19 20 21 22 23
PRO, WO 71/406. PRO, WO 71/390. Zum Beispiel PRO, WO 71 /447 und /393.
Die Überwachung der Züge und Bahnhöfe konnte dies nur erschweren, nicht aber verhindern. Wilhelm His, Die Front der Ärzte, Bielefeld, Leipzig 1930, S. 119.
Bei einer geschlagenen Armee ist der Klügste, wer zuerst davonläuft
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Ähnlich sah das Bild in der britischen Armee aus: Während des gesamten Krie-
ges hatten sich an der Westfront lediglich 21 Offiziere wegen Desertion und 189 wegen Absence without leave vor einem Kriegsgericht zu verantworten24. Etwa 85 Prozent der wegen Desertion oder unerlaubter Entfernung angeklagten Soldaten war ledig, was darauf hindeutet, daß eine eigene Familie den Soldaten tendenziell von einer Flucht abhielt, denn die Familienangehörigen wurden durch die Entziehung der Familienunterstützung zur Rechenschaft gezogen. Die konfessionelle Bindung spielte für das Verhalten der Soldaten dagegen keine Rolle, anders als die soziale bzw. berufliche Stellung. Die Soldaten aus bäuerlichen Schichten sind äußerst selten desertiert, während die Arbeiter und subproletarischen Schichten deutlich überproportional repräsentiert waren. Der bei den deutschen wie britischen Offizieren gleichermaßen tiefverwurzelte Argwohn gegen die Arbeiterschaft wurde durch die Kriegserfahrungen weiter genährt und schien sich für Deutschland durch den angeblichen >Dolchstoß< im Herbst 1918 zu bestätigen. Ein weiteres, bis heute reproduziertes Klischee besagt, daß ein überproportionaler Anteil der wegen Desertion Verurteilten schon im Zivilleben mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sei. Tatsächlich hatten viele Deserteure ein mehr oder weniger umfangreiches ziviles bzw. miütärisches Vorstrafenregister. Drei Viertel der Verurteilten waren jedoch vor ihrer Desertion >gutemeisterhaften RückzugVereitelung des feindlichen Hauptziels>'/
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oc*\Kunsterziehung< verbitten wird. Aber, das ist ein Kapitel für sich49.« In dem Bild, das die Medien dem Fernsehzuschauer von den Kriegsschauplätzen der Welt vermittelt, gewinnen die Kriegsbilder von Otto Dix eine bestürzende Aktualität. Der Dauerzustand von militärischen Auseinandersetzungen in den Krisengebieten und die permanente Berichterstattung darüber läßt Emotionen abstumpfen. Kriegshandlungen, die über Jahre dauern, werden für den Zuschauer zur Normahtät. Das brave Normalempfinden der Bürger kommt mit den gräßlichsten Tatsachen friedlich aus. Die Wirkung des Kriegstriptychons von Dix ist anderer Art. Fünfundsiebzig Jahre nach seiner Entstehung vermag es noch Entsetzen auszulösen und den Besucher ähnhch der Grünewald'schen Altarbilder in Colmar in seinen Bann zu ziehen. Das, was zuvor in der Gegenüberstehung von Fotografie und Radierung die Wirkung von Kunst zum Ausdruck brachte, bestätigt sich in der Erfahrung von schnehebigem Fernsehbild und einem Galeriebild aufs Neue. Barbusse schrieb zur Radierfolge »Der Krieg« das Nachwort; darin heißt es: »Man kann den Krieg gar nicht übertreiben [...] Ja es ist eine gute, eine segensreiche Tat, wenn ein begabter und ehrlicher Mensch vor aller Augen den Schrecken malt, wie er war [...] Wie immer man das Problem des Krieges drehen mag, eines steht fest, und es gibt kein Argument gegen diese Tatsache: Wenn die Menschen wüßten, sie würden nie wieder anfangen f...]50.« —
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Hugo Zehder, Otto Dix, in: Neue Blätter für Kunst und Dichtung, 2 (April 1919-März 1920), Septemberheft, S. 120. Zit. nach Löffler, Otto Dix (wie Anm. 13), S. 455.
Sabine Behrenbeck Zwischen Trauer und Heroisierung. Vom Umgang mit Kriegstod und Niederlage nach 1918 Der Beitrag geht der Frage nach, wie nach dem Ersten Weltkrieg mit der Deutung des massenhaften Kriegstodes umgegangen wurde. Im Zentrum stehen dabei die Mythen aus Krieg und Nachkriegszeit und deren Spuren in der Ikonographie von Kriegerdenkmälern. Ausgehend von Reinhart Kosellecks These, daß Kriegerdenkmäler in erster Linie als Identitätsstiftung der Überlebenden dienen, möchte ich untersuchen, in welchem Verhältnis die Denkmalsaussagen zur Erfahrung des Krieges und des Massensterbens stehen. Stellen sie die authentischen Erfahrungen dar, rechtfertigen sie die Schrecken oder folgen sie den Mythisierungen von Krieg und Nachkriegszeit? Welche Todesbilder kommen in ihnen zum Ausdruck? Die Kriegerdenkmäler dienen mir nicht als Indizien einer nationalen Identität1, sondern umgekehrt suche ich nach den Auswirkungen der Kriegsmythen auf die kollektiven Mentalitäten, wie sie in der ikonographischen Verdichtung solcher Mythisierungen in den Denkmälern für die Gefallenen zum Ausdruck kommen. Mentalitäten, also Einstellungen, Erfahrungsverarbeitungen, Vorstellungen und Gefühle, schlagen sich nicht nur in Textquehen nieder. Andere wichtige Zeugnisse dafür sind nonverbale Überreste, z.B. Bilder, Bauwerke oder Denkmäler. Allerdings sind Mentalitäten keine statischen, sondern sich wandelnde Gebilde. Gerade für die Zeit während und nach dem Ersten Weltkrieg muß sogar von einer außergewöhnlich dynamischen Phase ausgegangen werden, in der alte Einstellungsmuster obsolet wurden und neue sich herausbildeten. Dieses »Problem der unfertigen, der gleichsam noch im Entstehen begriffenen Mentalität«2, zeigte sich nach 1918 auch in der Suche nach ästhetischen Lösungen für das öffenthche Gedenken an die Kriegstoten und der Deutung der Kriegserfahrungen3. 1
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So in der vergleichenden Untersuchung von Michael Jeismann und Rolf Westheider zum Totenkult in Frankreich und Deutschland: Michael Jeismann und Rolf Westheider, Wofür stirbt der Bürger? Nationaler Totenkult und Staatsbürgertum in Deutschland und Frankreich seit der Französischen Revolution, in: Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, hrsg. von Reinhart Koselleck und Michael Jeismann, München 1994, S. 23-50, hier 42. Dies und im folgenden Gerd Krumeich, Kriegsgeschichte im Wandel, in: »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch ...«. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz, Frankfurt a.M. 1996, S. 11-29, hier 22. »Es gibt kaum eine Gemeinde in Deutschland [...], die nicht aus eigener Kraft ein Denkmal nach dem Ersten Weltkrieg errichtet hätte. Wenn ein breitenwirksamer Bewußtseinswandel registriert werden kann, der durch die Kriege und nur durch die Kriege hervorgerufen worden ist, so an diesen Gemeindedenkmälern.« Reinhart Koselleck, Der Einfluß der beiden
316
Sabine Behrenbeck
Während dieses Veränderungsprozesses befanden sich die Mentalitäten in stetigem Austausch mit Ideologien, denn die Suche nach adäquaten Bewältigungsmöglichkeiten für eine existentiell verunsichernde Wirklichkeit machte empfänglich für kompensatorische Angebote durch gesellschaftliche Mythisierungen.
Mythisierungen des Krieges und der Niederlage
I.
Eine der schwersten Hypotheken für die politische Kultur der Weimarer Republik die Mythisierung des »Kriegserlebnisses«. Sie erwuchs aus einem Dilemma: Einerseits führten die Erfahrungen mit diesem ersten modernen und technischen Krieg zu einen Bruch mit den traditionellen Vorstellungen von Krieg und Heldentum. Dies bezeugen zahlreiche Briefe und Tagebuchaufzeichnungen von Kriegsteilnehmern4. Auch waren Massensterben und Gewalterfahrung nicht mehr in den Grenzen rationaler Todesbewältigung zu fassen5. Andererseits lagen nicht sofort adäquate neue Erklärungs- und Verarbeitungsmuster bereit, sondern dieunter akutem Leidensdruck se mußten entwickelt werden. Dabei wurden ebenso ältere Deutungsmuster aufgegriffen wie neue »erfunden«. Dieser Prozeß war nicht literarisch-künstlerisch motiviert, sondern entsprang einer existentiellen Krise und löste eine weitreichende mentale Veränderung aus. Manche der Todesbilder, die sich im Spannungsfeld von Trauer um die Opfer eines grausamen Krieges und einer Heroisierung der Gefallenen bewegten, enstanden bereits während des Krieges, als Millionen von Frontsoldaten und deren Angehörige mit dem Problem des drohenden Todes bzw. tatsächlichen Verlustes konfrontiert waren. Es ist anzunehmen, daß die dabei entwickelten Werte und Kategorien weil sie einer existenziell wichtigen Erfahrungsverarbeitung dienten auch nach Kriegsende prägend blieben. Zugleich wurden Deutungsmuster aber auch propagandistisch benutzt und waren schon im Entstehungsprozeß von und Ideologie beeinflußt. war
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Propaganda 4
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Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, hrsg. v. Wolfram Wette, München, Zürich 1992, S. 324-343, hier 338. Dazu ausführlich: Peter Knoch, Erleben und Nacherleben. Das Kriegserlebnis im Augenzeugenbericht und im Geschichtsunterricht, in: »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch...« (wie Anm. 2), S. 235-259 sowie im selben Band den Beitrag von Manfred Hettling und Michael Jeismann, Der Weltkrieg als Epos. Philipp Witkops »Kriegsbriefe gefallener Studenten«, S. 205-234. Auch Sigmund Freud erkannte bereits 1915, daß durch das massenhafte Sterben das bisherige Verhältnis zum Tode nicht mehr aufrechterhalten werden könne, ein neues
aber noch nicht gefunden sei, Zeitgemäßes über Krieg und Tod, zit. bei Ulrich Linse, »Saatfrüchte sollen nicht vermählen werden!«. Zur Resymbolisierung des Soldatentods, in: Kriegserlebnis. Der Erste Weltkrieg in der literarischen Gestaltung und symbolischen Deutung der Nationen, hrsg. von Klaus Vondung, Göttingen 1980, S. 262-274, hier 272. Bernd Hüppauf, »Der Tod ist verschlungen in den Sieg«. Todesbilder aus dem Ersten Weltkrieg und der Nachkriegszeit, in: Ansichten vom Krieg. Vergleichende Studien zum Ersten Weltkrieg in Literatur und Gesellschaft, hrsg. von Bernd Hüppauf, Königstein/Ts. 1984, S. 55-91, hier 59.
Zwischen Trauer und Heroisierung
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Das Kriegsende von 1918 trug ebenfalls zum Wandel der kollektiven Mentalitäten bei und führte zu weiteren Mythisierungen. Die Schockwirkung der plötzlich offenkundig werdenden Niederlage stieß bei einem Großteil der Deutschen mit hochgeschraubten Siegeserwartungen zusammen und verstärkte die durch den Krieg ausgelöste Orientierungs- und Sinnkrise. Sowohl die politischen und militärischen Führungsschichten, aber auch ein Großteil der Bevölkerung zeigten sich außerstande, die Niederlage hinzunehmen6. Bis in die Sozialdemokratie hinein wurde die militärische Katastrophe vom Herbst 1918 geleugnet bzw. kleingeredet. Erinnert sei an die berühmte Rede des Reichskanzlers Friedrich Ebert am 10. Dezember 1918 zur Begrüßung der heimkehrenden Truppen7. Die Legende vom »im Felde unbesiegten« deutschen Heer wurde schon in den letzten Kriegsmonaten in Gang gesetzt8. Die Wahrnehmung der Soldaten verschob sich durch die Niederlage von Kämpfern für das Vaterland zu Opfern des Krieges9. Opfer aber sind gewöhnlich mit dem Bonus der Unschuld ausgestattet. Für morahsche oder gar juristische Anklagen sind sie tabu. Diese Einstehungsveränderungen ließen das Ansinnen der Alliierten, Kriegsverbrecher auszuliefern, als empörende und ungerechtfertigte Demütigung erscheinen. Dasselbe galt für die Zuweisung der alleinigen Kriegsschuld an das Reich. Sie wurde entrüstet abgelehnt, statt dessen um so hysterischer nach den Schuldigen an der Niederlage gesucht10. So entstand der zweite Nachkriegsmythos: die angebliche Lüge der Sieger von der deutschen Schuld am Krieg. 6
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Wolfgang J. Mommsen. Der Erste Weltkrieg und die Krise Europas, in: »Keiner fühlt sich
hier mehr als Mensch ...« (wie Anm. 2), S. 30-52, hier 44. Ansprache Friedrich Eberts an die Truppen beim Einzug in Berlin am 10.12.1918, abgedr. in: Die Erste Republik. Dokumente zur Geschichte des Weimarer Staates, hrsg. von Peter Longerich, München, Zürich 1992, Dok. A 22, S. 65 f. Diese Legende stand in starkem Konstrast zum Massenphänomen von Befehlsverweigerung und »Drückebergerei« in den letzten Kriegsmonaten und diente vermutlich auch zur nachträglichen Entlastung der Soldaten. Ausführlich dazu: Wilhelm Deist, Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreichs. Zur Realität der »Dolchstoßlegende«, in: Das Unrechtsregime. Internationale Forschung über den Nationalsozialismus, hrsg. von Ursula Büttner, Bd 1: Ideologie, Herrschaftsystem, Wirkung in Europa, Hamburg 1986 (= Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Bd 21), S. 101-129 sowie Wilhelm Deist, Verdeckter Militärstreik im Kriegsjahr 1918?, in: Der Krieg des kleinen Mannes (wie Anm. 3), S. 146-167. Das zeigt sich schon in Eberts Rede. Er verliert kein Wort über die gescheiterte Offensive, die völlige erschöpfte Kampfkraft der deutschen Armee, den Zusammenbruch der militärischen Ordnung. Statt dessen verteilt er überschwengliches Lob an die heroischen Krieger, allerdings mit einer bezeichnenden Prioritätensetzung: An erster Stelle steht die Würdigung der Toten und ihres Opfermutes, es folgt der Hinweis auf die überstandenen Schrecken und die erduldeten Leiden (alles Tugenden von passiven Opfern), wohingegen die »übermenschlichen Taten« und Mutproben der Kämpfer an letzter Stelle rangieren. Ähnlich der Tenor in Eberts Spendenaufruf vom 3. August 1924 für ein Reichsehrenmal, abgedr. in: Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Quellen und Dokumente, hrsg. von Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann, Frankfurt a.M. 1997, Dok. 18 1, S. 134. Ernst Schulin, Die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahrnehmung, Analyse, hrsg. von Wolfgang Michalka, München, Zürich 1994, S. 3-27, hier 21.
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Die Revolution und die inneren Unruhen im Reich, die bis 1920 anhielten, führ-
ten den Deutschen einen herben Kontrast zum Selbstbild der im
»Augusterlebnis geeinten und siegesbewußten Nation vor Augen, das seither propagandistisch verbreitet worden war. Nun erlebten sich die Deutschen als zersplittert in Parteien und Interessengruppen11, einen Zustand, den viele dem neuen System anlasteten. Das leistete dem dritten Nachkriegsmythos Vorschub: der »Dolchstoßlegende«12. Mit Hilfe der Behauptung, nur innere Zwietracht habe den deutschen »Siegfried« überwinden können, gerieten nicht nur die Verursacher des Krieges aus dem Bück, sondern auch deren strategisches Versagen im Krieg, ja die Tatsache des militärischen Desasters überhaupt. Damit konnte die Legende vom Verrat der Heimat an der kämpfenden Truppe als überaus erfolgreiche Entlastungsstrategie der Obersten Heeresleitung (OHL) dienen13. In Zusammenhang mit der Dolchstoßlegende steht ein weiterer Nachkriegsmythos: Er erzählt von den heimkehrenden Soldaten, die für ihre Opferbereitschaft nur Spott und Hohn ernten. Richard Bessel hat bereits nachgewiesen, wie diametral dieses Büd dem herzlichen und dankbaren Empfang widerspricht, den die rückgeführten Soldatenverbände tatsächlich erfuhren. »Die Zivilisten hatten es keivon
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neswegs versäumt, die heimkehrenden Soldaten als Helden willkommen zu heißen ein großer Teil der Helden war einfach nicht erschienen14.« Nach dem Zusammenbruch der militärischen Ordnung hatten sich die Soldaten auf eigene Faust
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Schon Ebert hatte die Truppen aufgefordert, dafür zu sorgen, »daß nicht das alte Kleinstaatenelend uns wieder übermannt, daß nicht die alte Zerrissenheit unsere Niederlage vervollständigt«. Zit. nach Die Erste Republik (wie Anm. 7), S. 66. Nicht nur rechte Nationalisten vertraten diese Auffassung. Auch die protestantische Publizistik griff den Begrüßungssatz Eberts gerne auf und verknüpften ihn mit der »DolchstoßLegende«, noch bevor sie von prominenter Seite erzählt wurde: »Kein Feind hat uns überwinden können; unbesiegt blieb unser Heer bis zuletzt. Aber die Uneinigkeit und der Parteienhader, das alte deutsche Erzübel, hat uns unterhöhlt und innerlich zerfressen«, schrieb das »Berliner evangelisches Sonntagsblatt« am 23. März 1919. Zit. bei Clemens Vollnhals, Der deutsche Protestantismus: Spiegelbild der bürgerlichen Gesellschaft, in: Lernen aus dem Krieg? Deutsche Nachkriegszeiten 1918 und 1945. Beiträge zur historischen Friedensforschung, hrsg. von Gottfried Niedhart und Dieter Riesenberger, München 1992 (= Beck'sche Reihe, Bd 446), S. 158-177, hier 161. Zur einmütigen Ablehnung der Kriegsschuld im deutschen Protestantismus siehe ebd., S. 165-167. In Schwerin wurde 1923 sogar ein figürliches Denkmal errichtet, das den sterbenden Siegfried nebst seinem heimtückischen Mörder darstellte. Dok. 18 d. in: Krieg im Frieden (wie Anm. 9), S. 125 f. Bei seiner Vernehmung vor dem »Ausschuß zur Untersuchung des deutschen Zusammenbruchs« (begrifflich bereits sehr vage!) am 18. November 1919 leugnete Generalfeldmarschall von Hindenburg die militärische Katastrophe und brachte den Mythos vom »im Felde unbesiegt« gebliebenen Heeres vollends in Gang. Aussage abgedr. in: Die Erste Republik (wie Anm. 7), Dok. F 1, S. 134 f. Höchstens für Offiziere mochte diese Erfahrung zutreffen, doch ging die Demütigung in solchen Fällen häufig von den Mannschaftssoldaten aus. Auf das Heer läßt sich dieses Bild nicht übertragen, so Richard Bessel, Die Heimkehr der Soldaten. Das Bild der Frontsoldaten in der Öffentlichkeit der Weimarer Republik, in: »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch...« (wie Anm. 2), S. 260-282, hier 268.
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Heroisierung
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auf den Heimweg gemacht. Dabei war es teilweise zur Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch marodierende Truppentehe gekommen. Mit diesem Kontrast zu ihrem angeblichen Heldentum mußten die Veteranen in der Nachkriegszeit ins reine kommen. Angesichts der Kriegs- und Nachkriegsmythen war eine aufs eigene Überleben bedachte Einstellung nicht mehr akzeptabel, sondern erzeugte Unbehagen und bewirkte langfristig eine Anpassung der authentischen Erinnerungen an die mythische Version15. Das bot den erhebhchen Vorteil, daß die Veteranen von der Glorifizierung der Gefahenen profitieren konnten. An diese kurz skizzierten Nachkriegsmythen klammerte sich ein Großteil der Deutschen nicht zuletzt, weh als Alternative dazu nur das Eingeständnis möglich war, den Tod im Krieg für sinnloses Morden zu erklären. Diese pazifistische Konsequenz zogen jedoch nur Teile der Arbeiterbewegung, und sie verlor im Laufe der Nachkriegszeit beständig an Resonanz16. Aufgrund ihrer aufklärerischen, entmythologisierenden Grundhaltung hatte die Sozialdemokratie den Mythisierungen nichts Adäquates entgegenzusetzen. Aber die Mythen über den Krieg und sein Ende abzuwehren, fiel auch deswegen schwer, weil sie sich zu einem der »emotional wirksamste[n] Integrationsmittel [entwickelten] [...], das die Republik überhaupt [...] besaß«17. Tatsächlich war die Realität des Krieges für die Deutschen von sehr unterschiedlicher Art gewesen. Doch die Mythisierung des Kriegsgeschehens zum homogenen »Kriegserlebnis« schuf das große »Wir« einer im Schicksal geeinten Volksgemeinschaft. Daraus resultierte die Resistenz der Mythen gegen Widersprüche zur authentischen Erfahrung.
II. Todesbilder nach 1918 Auch die Vorstellungen vom Kriegstod bheben von der Mythisierung des Krieges und der Niederlage nicht unberührt. Ein Einstellungswandel hatte sich schon während des Krieges abgezeichnet. Die Zivilbevölkerung orientierte sich dabei
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Auch der von vielen Soldaten während der Kämpfe herbeigesehnte »Heimatschuß« stand im krassen Gegensatz zum immer wieder öffentlich beschworenen »Heldengeist der Front«. Die Erinnerung an ihn war für viele kaum zu ertragen und wurde mit Hilfe der Geschichte vom geschmähten Heimkehrer verdrängt. Dennoch gibt es auch städtische Denkmäler, die als Verpflichtung der Überlebenden Taten des Friedens einfordern. So mahnt z.B. das Kriegsehrenmal in Dortmund-Kurl-Husen »Euer Opfer ist Unsere Verpflichtung: Frieden«, abgebildet in: Öffentliche Denkmäler und Kunstobjekte in Dortmund, Dortmund 1984, S. 71. Auch das Gefallenendenkmal der Stadt Karlsruhe, eingeweiht 1930, trug die Inschrift: »[...] Ihrem Tod entströme heilige Kraft und Mut zu Taten des Friedens«, Ursula Merkel, Ehrenfriedhof und Gefallenendenkmal der Stadt Karlsruhe (Erster Weltkrieg), in: Denkmäler, Brunnen und Freiplastiken in Karlsruhe 1715-1945, Karlsruhe 1987, S. 525-534. Hagen Schulze, Weimar. Deutschland 1917-1933, Berlin 1984, S. 418.
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stark
Sabine Behrenbeck
an
veröffentlichen Briefen, Gedichten und
Kriegsteilnehmern18.
Tagebuchaufzeichnungen von
Bei genauerem Betrachten der Todesbilder nach 1918 und ihrer Träger ergibt sich jedoch eine interessante Veränderung. Denn der Reahsmus gegenüber dem Tod, wie er sich bei vielen Soldaten infolge der desillusionierenden Kriegsrealität zunächst eingesteht hatte, wich nach Kriegsende vielfach einer Mythisierung. Ihr leisteten besonders die Veteranenverbände Vorschub. Die der Kriegspropaganda fortwährend ausgesetzte Zivilbevölkerung wiederum neigte während des Kriedes Soldatentodes, wohingegen sie nach dem ges viel stärker zur Kriegsende als Auftraggeber von Gedenkzeichen den Kriegstod häufig unter Verzicht auf heroische betrauerte. Die Rezipienten der Mythisierung hatten also unter dem Eindruck der Niederlage gewechselt. Die Hinterbliebenen beugten sich jetzt häufig der leidvollen Einsicht in den endgültigen Verlust ihrer geliebten Angehörigen, während die demobilisierten Kriegsteilnehmer offenbar davor zurückschreckten, ihre leidvollen Erfahrungen und den Tod der Kameraden als »absurd« zu akzeptieren. Anders als im Kriegsalltag war ihr Leben nun nicht mehr auf das pure Überleben beschränkt. Vielmehr bestand wieder die Möglichkeit und sogar Notwendigkeit, Erfahrungen in größeren Zusammenhängen zu reflektieren. Angesichts der Niederlage konnten sie einen Sinn des millionenfachen Sterbens nicht mehr erkennen. Und offenbar hatte sie ihr Kriegserlebnis nicht über die Kampfhandlungen hinaus gegen die Mythisierungen des Kriegstodes immunisiert19. Bei vielen mag auch die Überlebensscham das Bedürfnis verstärkt haben, den an ihrer Stelle gefallenen Kameraden Ehre und Dankbarkeit zu bekunden. Daraus entwickelte sich eine Idealisierung der Verstorbenen über gewöhnliche Pietät hinaus. Grundlage der Idealisierung war zwar die Erfahrungsdeutung der Kriegsteilnehmer, doch wurden in der Nachkriegszeit deren Desillusionierungen ausgeblendet und positive Sinngebungsversuche ins Zentrum gerückt. Die Soldaten hatten im Krieg nicht nur vor der Aufgabe gestanden, ihren Kriegsdienst, also das Töten des Feindes zu rechtfertigen, sondern auch dem eigenen Tod, ja dem ganzen Krieg einen Sinn zu verleihen. Eine politische Antwort auf diese Frage gaben die wenigsten. Der Sinn des Krieges, aus der verwirrenden Gegenwart oft nicht ableitbar, wurde in die Zukunft verlagert20, er mußte also erst noch eingelöst werden. »Der Krieg wurde zur moralischen Herausforderung, deren Bewältigung als gewonnene Lebensintensität beschrieben wurde, welche durch die Dichte der gelebten Erfahrung ein
Ästhetisierung Überhöhung
Äquiva-
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Beispielsweise: Das Erlebnis unserer jungen Kriegsfreiwilligen. Nach den Feldpostbriefen und Tagebüchern, hrsg. von Willi Warstat, Gotha 1916 oder Philipp Witkop, Kriegsbriefe deutscher Studenten, Gotha 1916. Das bis 1918 große öffentliche Interesse an dieser Literaturgattung ebbte nach Kriegsende allerdings rapide ab. Hüppauf, »Der Tod ist verschlungen in den Sieg« (wie Anm. 5), S. 60, 66 f. und 75. Hettling/Jeismann, Der Weltkrieg als Epos (wie Anm. 4), S. 220. Zur Zukunftsdeutung und dem Vorbild des marxistischen Helden siehe Michael Naumann, Strukturwandel des Heroismus. Vom sakralen zum revolutionären Heldentum, Königstein/Ts. 1984.
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lent für den drohenden Tod bot21.« Aus solchem ideellen persönlichen Gewinn wurde eine vergleichbare moralische Regeneration für das Vaterland als Folge des Krieges abgeleitet. Der Sinn des Opfers wurde in der Bereitschaft zum Opfer gesehen, letztere wurde zum Wert an sich. Jeder Soldatentod wurde nun im Kontext des mythisierten Kriegserlebnisses als freiwillig erbrachtes Selbstopfer gedeutet, nicht als ohnmächtiges und willenloses Geopfertwerden22. Noch im Scheitern hätten die Gefallenen ihre Treue bewiesen, die Vergeblichkeit ihres Einsatzes verbürge ihren Idealismus23, dessen Maßstab in der Gesinnung, nicht in den Heldentaten24 gesehen wurde. Aufgrund der Absolutsetzung des Opfers avancierten die Gefallenen zur Elite der Nation25. Sie symbolisierten die innere Unversehrtheit des Reiches. Sämtliche soldatische Tugenden wurden den Gefallenen pauschal als Gruppe zugesprochen, sie verkörperten die wahren Werte und bewahrten die Gesellschaft so vor dem Verfall in einer angeblich sittenlosen und zerstrittenen Gegenwart. Ihr Sterben für die Nation verwandelte ihr vorheriges Leben in eine einzige Proexistenz, ein Dasein für andere. Dieser Prozeß folgte dem christologischen Schema. Doch bei der auf säkulare Bezüge änderte sich die Erlösungserwartung: Sie war kein Geschenk der Toten, sondern eine Aufgabe der Überlebenden. Die Erinnerung an die Toten sollte bei den Lebenden Opferbereitschaft erzeugen. Ein Leben in ihrem Geiste, also mit derselben Hingabebereitschaft, verbürge die Wiederauferstehung des gedemütigten und darniederliegenden Vaterlandes26.
Übertragung
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Hettling/Jeismann, Der Weltkrieg als Epos (wie Anm. 4), S. 216. Die Verabsolutierung des Opfers setzte eine Tradition fort, die bereits seit der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht das Sterben des Soldaten nach dem Schema des christlichen Erlösungsopfers interpretiert hatte. Es sei notwendig für die nationale Einigung oder die Rettung des bedrohten Gemeinwesens. Dem Tod fürs Vaterland wurde eine heilbringende Wirkung zugeschrieben, das Opfer der Soldaten galt als Unterpfand für den Sieg und die Befreiung der Überlebenden. Dazu ausführlich Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Der poli-
tische Totenkult (wie Anm. 1), S. 9-20. »An die Stelle des christlichen Jenseits als Ort der Toten trat die politische Zukunft.« Koselleck, Der Einfluß der beiden Weltkriege (wie Anm. 3), S. 335. Die Verehrung der gefallenen Soldaten stand allerdings in starkem Kontrast zu der Gleichgültigkeit, Rücksichtslosigkeit und sogar Verspottung, welche die überlebenden, aber körperlich Versehrten Kriegsteilnehmer in ihrem Alltag erlebten. Aus der Sicht der Kriegsbeschädigten waren der besonders bei der Jugend beobachtete Zerfall traditioneller Werte wie sittliche Größe, Heldentum und Aufopferung ein Merkmal der Desorientierung, die Krieg und Revolution in der Gesellschaft ausgelöst hatten. Dazu ausführlich Christine Beil, Zwischen Hoffnung und Verbitterung. Selbstbild und Erfahrungen von Kriegsbeschädigten in den ersten Jahren der Weimarer Republik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 46 (1998), S. 139-157, hier 151. Hettling/Jeismann, Der Weltkrieg als Epos (wie Anm. 4), S. 222. Allerdings nahmen auch die Kriegsbeschädigten diese Besonderheit für sich in Anspruch, da auch ihr Blut für alle geflossen sei, auch sie stützten sich auf das Bild vom Opfertod Christi, siehe Beil, Zwischen Hoffnung und Verbitterung (wie Anm. 23), S. 142. Beispielhaft dafür Ernst Bergmann, Diese Toten sind ja nicht tot!, Geleitwort in: Friedrich Wilhelm Ilgen, Deutscher Ehrenhain für die Helden von 1914/18, Leipzig 1931, S. 7.
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Diese Vorstehung vom sinnerfüllten Kriegstod prägte die Mentalität nicht nur der Veteranen in der Nachkriegszeit. Opferbereitschaft wurde zur obersten deutschen Tugend überhaupt. Mühsam mußte nach der Niederlage ein Wert gesucht werden, für den das Opfer gebracht worden sei. Am Ende bheb wie schon in Eberts Begrüßung nur die erhaltene Einheit des Reiches27. Der Dank der Überlebenden sohte darin bestehen, das Vermächtnis der Toten zu erfüllen28, nämlich ihrem Sterben einen Sinn zu verleihen. Nicht zufälhg verweisen die meisten Inschriften auf Kriegerdenkmälern auf diese Verpflichtung der Lebenden gegenüber den Toten. Von einem so verstandenen Gedenken an die Kriegstoten wurden drei Wirkungen erwartet, wie es in einem Bildband zu den deutschen Kriegerdenkmälern von 1930 hieß: 1. Auch wenn der Krieg verloren ging, so ist Deutschland noch nicht verloren. »Darum, wenn Ihr die Toten ehren wollt, glaubt an das deutsche Wunder, glaubt innerlich, daß Ihr in Wahrheit unbesiegt seid, unbesiegt und unbesiegbar, außer durch Euch selbst, wie denn auch unsere Heere im Felde unbesiegt waren.« 2. Die Toten sind nicht umsonst gefallen, denn durch ihr Sterben blieb die Heimat vom Krieg verschont. Die Überlebenden hätten sich daher zu fragen: »Sind wir würdig, sie zu ehren, wenn wir nicht ebenso glauben wie sie, nicht ebenso opfern wie sie? Nur an uns hegt es, wenn sie umsonst gestorben sind. Wir haben es in der Hand, aus dem >Umsonst< ein >Deshalb< zu machen.« 3. »Diese Toten sind nicht tot!« Ihr Advent ist zehn Jahre nach Kriegsende gekommen, sie erscheinen den Lebenden im Traum sind in ihnen auferstanden. »Und besitzen wir diesen Geist der Toten nicht mehr? Dann freilich wären sie tot [...] Wir selbst hätten sie getötet...«29 Von dieser Konsensformel gab es Abweichungen nach links zum Antimilitarismus und Pazifismus und nach rechts zum Revanchismus und der Glodes als Geburt einer neuen Gesellschaft, die nach den Gesetrifizierung Krieges zen der Front gestaltet sei. —
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III. Denkmäler für die Kriegstoten: Darstellung der Nachkriegsmythen im öffentlichen Raum Nachdem die Konfrontation mit dem allgegenwärtigen Tod im Krieg die überkommenen Vorstellungen von einem sinnvollen Sterben und symbolischer Unsterblichkeit in Frage gestellt hatte30, wurden in verschiedenen Medien wie Literatur, Malerei und Skulptur Versuche zur »Resymbolisierung des Soldatentodes« unternommen. Doch was in einem. Roman oder Gemälde einem einzelnen Künstler als persönliche Antwort auf diese Herausforderung möghch war, galt 27
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Die Heimat vor den Schrecken des Krieges bewahrt zu haben, galt besonders in ländlichen Regionen als wichtigstes Verdienst der Gefallenen, siehe dazu: Krieg im Frieden (wie Anm. 9), Dok. 18 h, S. 129. Hettling/Jeismann, Der Weltkrieg als Epos (wie Anm. 4), S. 226. Alle Zitate aus: Bergmann, Diese Toten sind ja nicht tot! (wie Anm. 26), S. 8. Linse, »Saatfrüchte sollen nicht vermählen werden!« (wie Anm. 4), S. 262.
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nicht für ein gemeinschaftlich finanziertes und aufgestelltes, damit aber repräsentativ gemeintes Denkmal. Es ist daher wenig erstaunhch, wenn in der Literatur zum Krieg durchaus Interpretationen auftauchten, die den Krieg als absurdes und sinnloses Morden erscheinen lassen oder sich für eine Entmythologisierung des Krieges engagieren31. Bücher zu schreiben, zu kaufen und zu lesen sind zunächst private Akte eines Individuums. Aber wenn eine Gemeinde die Aufstehung eines Denkmals beschließt, so muß für das darin visualisierte Bild von Krieg und Tod ein Konsens gefunden werden. An den zahhosen, sich jahrelang hinziehenden Denkmalsprojekten der 20er Jahre ist die Uneinigkeit der Deutschen in Bezug auf den Kriegstod deutlich erkennbar32. Zu fragen ist nun für die den Gefallenen nach 1918 errichteten Denkmäler, welche Mythen und Todeskonzeptionen darin zum Ausdruck gebracht werden und in welchen ikonographischen Formen sie sich äußern. 1. Frühe Denkmäler der
Volksgemeinschaft: Der sprachlose
Dank der Heimat
Schon 1915 begannen die ersten Planungen zur Errichtung von Ehrenfriedhöfen und Kriegerdenkmälern, jeder Ort wohte sein eigenes Denkmal haben, um »die Erinnerung an Angehörige und an die große Zeit« festzuhalten33. Unmittelbar nach Kriegsende bis etwa 1924 setzte eine wahre Flut von Denkmalsbauten im Reichsgebiet ein34. Dies trifft besonders auf den ländlichen Raum zu: In kleinen Ortsgemeinden konnte man sich offenbar rascher auf eine Gestaltungsform einigen als in den Städten mit ausgebildetem Parteienspektrum und Vereinswesen. Bei diesen frühen Denkmalen handelte es sich hauptsächlich um kleine Gedenkzeichen, wie sie für die Gefallenen eines Ortes im 19. Jahrhundert übhch geworden waren. Ihr wichtigstes Stilmerkmal ist ihre Schlichtheit35. In ihrer kargen For31 32
Siehe dazu Hüppauf, »Der Tod ist verschlungen in den Sieg« (wie Anm. 5), S. 80-86. Dazu der Architekt Bruno Taut: »Ein Denkmal kann möglich sein, wenn es sich um eine Idee handelt, deren Symbol restlos und klar allgemeine Gültigkeit hat [...] Die Einstellung des deutschen Volkes zum vergangenen Kriege ist aber eine so verschiedenartige, daß man eine Allgemeingültigkeit irgendeines Symbols dafür nicht entfernt feststellen kann.«, Gefallenendenkmal für Magdeburg, in: Frühlicht, Eine Folge für die Verwirklichung des neuen Baugedankens (Neudr., z.T. in Auswahl, der von) 1920-1922 von Bruno Taut [hrsg. Zeitschrift], H. 2 (1921 /22), Berlin, Frankfurt a.M., Wien 1963 (= Bauwelt Fundamente, Bd 8), S. 109-113, hier 109. Arbeit fürs Ganze!, Redaktionsbeitrag in: Die Plastik, 12 (1922), H. 5, S. 17. Ausführlich dazu: Sabine Behrenbeck, Heldenkult oder Friedensmahnung? Kriegerdenkmale nach beiden Weltkriegen, in: Lernen aus dem Krieg? (wie Anm. 12), S. 344-364. Volker Plagemann berichtet allein für den Raum Hamburg von 203 ausgeführten Kriegerehrungen bis 1921, in: Ders., »Vaterstadt, Vaterland, schütz dich Gott mit starker Hand«. Denkmäler in Hamburg, Hamburg 1986, S. 131. Ein Erlaß von 1917 forderte für Soldatengräber eine schlichte Einfachheit der Gestaltung und den vorläufigen Aufschub großer Denkmalsanlagen: Vgl. Karl von Seeger, Das Denkmal des Weltkrieges, Stuttgart 1930, S. 21. —
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Sabine Behrenbeck
mensprache äußerte sich nicht nur die Knappheit der finanziellen Mittel, die den meisten Stiftern zur Verfügung standen. Vielmehr wurde bewußt dem Denkmalskitsch der Vorkriegszeit eine klare programmatische Absage erteilt36.
Zwischen 1920 und 1926 waren außerdem nur schhchte Gedenkzeichen von der Luxussteuer befreit37. In Zeiten der Not schien allein eine einfache Gestaltung sozial akzeptabel. Auch entsprach diese Gesetzgebung der sozialdemokratischen Auffassung, der beste Dank an die Gefallenen sei eine ausreichende Versorgung ihrer Hinterbliebenen und Fürsorge für die Kriegsversehrten. Aber auch von anderer Seite wurde versucht, auf den Stil der Denkmäler Einfluß zu nehmen. Die Bildhauer sorgten sich angesichts der »skrupellosen Kommerzialisierung der Kunstindustrie« um ihre ökonomische Existenz38. Offenbar griffen also zahlreiche Landgemeinden auf die Angebote aus den Katalogen der Denkmalshersteller zurück. Eine Auseinandersetzung um Form und Inhalt der Erinnerungszeichen, begleitet von einem künstlerischen Wettbewerb, bildete erst für die zweite Hälfte der 20er Jahre ein typisches Verfahren. Ein sehr beliebtes Gestaltungselement kommunaler Kriegsgedenkzeichen war der preiswerte Findling. In seiner Härte, Natürlichkeit und Urtümlichkeit verweist er auf die verbreitete Vorstellung vom Krieg als elementarer Naturgewalt, die keine Sinngebung erfordert39. Der Tod im Krieg wird zum Schicksal, in das man sich nur fatalistisch ergeben kann. Auch andere Formen wie Stelen, Quader, Kuben, Pfeiler, Säulen und Obehsken können als Ausweichen auf ästhetische Signale ohne politische Rechtfertigung des Kriegstodes gedeutet werden40. Das Bildbeispiel zeigt das Denkmal in Hasbergen bei Osnabrück an der evangelischen Kirche (um 1923/24)41. Auf einem dreistufigen Podest erhebt sich ein flacher Stein, der einen sich nach oben verjüngenden Quader trägt. Dieser ist von Eckpfeilern umschlossen und trägt eine Deckelplatte, die von Feldblumengirlanden umkränzt ist. Auf ihr ruhen vier Steinkugeln. Darüber erhebt sich auf einer Plinthe ein Obelisk, der von einem Eisernen Kreuz bekrönt ist. An der der Kirche zugewandten Seite des Obelisken ist auf mittlerer Höhe das Rehef eines Lorbeerkranzes angebracht, in dessen Mitte die Eckdaten des Krieges stehen. Darunter ist ein eichenlaub-umkränzter Stahlhelm auf einen Kranz aus stilisierten Feldblumen gebettet. Diese Blumen verweisen auf die Heimatverbundenheit der Soldaten und die dörfliche Umgebung des Denkmals. Die Inschrift auf dem Quader lautet: »Unseren im Weltkriege 1914-1918 gefallenen Kriegern aus Dankbarkeit gewidmet.« 36
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Martin Bach, Studien zur Geschichte des deutschen Kriegerdenkmals in Westfalen und Lippe, Frankfurt a.M. [u.a.] 1985 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 28: Kunstgeschichte, Bd 43), S. 236. Allerdings konnte die Schlichtheit als Charakteristikum der Gedenkzeichen auch anders interpretiert werden, nämlich als adäquater Ausdruck soldatischen Wesens. Ebd., S. 287. Arbeit fürs Ganze! (wie Anm. 33). Siegfried Seeger, Wandlungen in der Einstellung zum Krieg, dargestellt an den westfälischen Ehrenmalen für die Kriegstoten, Münster 1962, S. 58 und 94. Koselleck, Der Einfluß der beiden Weltkriege (wie Anm. 3), S. 339. Abbildungen und Hintergrundinformationen in Gerhard Armanski, »... und wenn wir sterben müssen«. Die
politische Ästhetik von Kriegerdenkmälern, Hamburg 1988, S. 125 f.
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Denkmal der Gemeinde Hasbergen bei Osnabrück an der evangelischen Kirche (um 1923/24) (Aus: Gerhard Armanski, »... und wenn wir sterben müssen«, Hamburg 1988, S. 128)
Viele kommunale Denkmäler begnügten sich mit Attributen des Soldaten wie dem Stahlhelm, Waffen oder dem Eisernen Kreuz. Der Niederlage zum Trotz wurden auch Siegessymbole wie Eichenlaub und Lorbeerkranz eingesetzt. Häufig griffen die Auftraggeber auf Zeichen des zivilen Totenkultes wie gesenkte Fackeln und geknickte Eichen zurück. Auch die Inschriften dieser Gedenkzeichen beschränken sich auf die Eckdaten des Krieges und widmen sie seinen Opfern42. Eine gewisse Sprach- und Hilflosigkeit kennzeichnet diese frühen Erinnerungsmäler.
2. Trauerzeichen und christlicher Trost Eine zweite Gruppe bilden Denkmale, die Trauer und Schmerz der Hinterbliebein den Vordergrund stellten. Sie entstanden besonders gehäuft unmittelbar
nen
Plagemann, »Vaterstadt, Vaterland...« (wie Anm. 34), S. 141. Zu den Motiven der HamburKatalogteil. Für Dortmund vgl.: Öffentliche Denkmäler und Kunstobjekte in Dortmund (wie Anm. 16), S. 18 und 60 f.
ger Denkmäler siehe auch den
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nach Kriegsende unter dem frischen Eindruck der Verlusterfahrungen, wurden aber noch bis Anfang der 30er Jahre errichtet. Trost erhofften sich die Auftraggeber solcher Gedenkzeichen offenbar in erster Linie von christlichen Glaubensvorstellungen. Denn die meisten dieser Trauermale weisen christliche Motive auf oder sind in Kirchenbau oder Friedhof integriert43. Eine solche Anbindung des »Kriegserinnerungszeichens in der kleinen Stadt und auf dem Land« an einen christlichen Sakralbau wurde auch von künstlerischer Seite nachdrücklich empfohlen. »Nicht nur wird so das Andenken an die gefahenen Helden auf eine würdige und dauernde Weise festgehalten, sondern es verbindet sich damit auch am besten der religiöse Gedanke, der dem Denkmal Würde und Weihe gibt44.« Auch in Großstädten bildeten Trauermotive während der gesamten Weimarer Zeit eine große Gruppe unter den Gedächtniszeichen. Ihr Aufkommen spiegelt in keiner Weise den dort beschleunigten Säkularisierungsprozeß mit massenhaften Kirchenaustritten45 wider. Der häufige Rückgriff auf christliche Symbole in den Gemeindedenkmalen war also nicht notwendig von tiefer Frömmigkeit geleitet, sondern sollte eine mangelnde Sinngebung von profaner Seite kompensieren helfen. Aus dem Rückgriff auf christliche Zeichen scheint in erster Linie eine tiefe Desorientierung zu sprechen, die noch keine anderen als die traditionellen Deutungsmuster zur Verfügung hatte. Ein solches Trauermal ist die Pietä mit dem Titel »Das Opfer« von Emil Cauer. Das Relief wurde 1930 sowohl auf dem Kaiser-Friedrich-Gedächtnis-Friedhof in Berlin-Wedding als auch auf dem Friedhof der Luisenstadtgemeinde in BerlinNeukölln angebracht. Im Gegensatz zu den Viktorien mit sterbendem Krieger, die das 19. Jahrhundert hervorbrachte, kann diese trauernde, schmerzvoh gebeugte weibliche Figur keine anbieten. Sie fängt den Soldaten nicht im Fallen auf, sondern sie scheint den leblosen Körper aufzuheben und kummervoll an sich zu ziehen. Den bereitgehaltenen Siegeskranz behält sie in der Hand, es keinen ihn dem Toten aufs Haupt zu setzen. Anlaß, gibt Der schmerzhafte Verlust eines Liebesobjektes ist eindrücklich ins Büd gesetzt. Sehr innig wirkt das Detail der beiden eng zusammengeführten Köpfe: Die Frau faßt mit der Hand in die strähnigen Haare des Mannes, dessen Stahlhelm an sei-
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So auch Martina Weinland, Kriegerdenkmäler in Berlin 1870 bis 1930, Frankfurt a.M. [u.a.] 1990 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe 28: Kunstgeschichte, Bd 105), S. 96. Nicht bestätigen kann ich Kosellecks Beobachtung (Der Einfluß der beiden Weltkriege, wie Anm. 3, S. 340), daß sich die Kirchen in Deutschland wie in Frankreich nicht prägend am Totenkult beteiligten und nur ausgesprochen katholische Ortsgemeinden in der Ikonographie ihrer Denkmäler an die Auferstehungssymbolik oder den christlichen Märtyrerkult anknüpften. Erst nach 1945 bemühten sich die Kirche, Kriegsgedenkzeichen aus dem Inneren von Kirchenbauten fernzuhalten. Vgl. dazu Meinhold Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Bd 6: Bundesrepublik, Heidelberg 1987, S. 135 und 269. Alexander Heilmeyer: Kriegerdenkmäler und Kriegserinnerungszeichen in der kleinen Stadt und auf dem Lande, in: Die Plastik, 12 (1922), H. 5, S. 18. Allein für die evangelische Kirche waren bis 1932 über 2,7 Millionen Austritte zu verzeichnen, Vollnhals, Der deutsche Protestantismus (wie Anm. 12), S. 163.
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Emil Cauer, Ehrenmal »Das Opfer« (1930), Kaiser-Fried-
rich-Gedächtnis-Friedhof, Berlin-Wedding u. Friedhof der Luisenstadtgemeinde,
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Berlin-Neukölln
(Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München)
ner Seite hegt eine sehr dezente Andeutung des Krieges als Todesursache. Sein Gesicht ist ihr zugewandt und daher nicht zu sehen, seine Körperhaltung ist erschlafft und kraftlos. Durch Uniform Gewehr und Helm ist er als Soldat des Weltkrieges gekennzeichnet, während die Frau in antikisierendem Gewand mit Kopfschleier erscheint und damit symbolisch sowohl auf christliche Marienbildnisse anspielt als auch der Trauer aller Hinterbliebenen einen ahgemeineren Ausdruck verleiht, als es einer individuell gestalteten, zeitgenössisch gewandeten —
Figur möghch wäre.
Dieses Relief benutzt ein Kreuz im Strahlenkranz als Hintergrund und stützt sich damit auf eine christliche Erlösungshoffnung. Auch der Lorbeerkranz kann in diesem Kontext als Attribut des Glaubenssieges und der Überwindung des Todes gedeutet werden. Die Vaterlandsverteidiger werden damit in Analogie zu den Gottesstreitern gestellt eine Parahele, die auch durch das behebte Denkmalsmotiv des Drachenkämpfers unterstützt wird46. Im Vordergrund steht bei den Denkmälern dieses Typus die Tröstung der Angehörigen. Schon aufgrund ihrer oft geringen Ausmaße eigneten sich diese Erinnerungszeichen kaum als Orte der nationalen Sammlung und ästhetischen Überhöhung des Krieges. Eine Heroisierung der Gefallenen fand mit ihnen nicht statt, wohl aber die Parallehsierung ihres Todes mit dem Kreuzestod, denn ganz offensichtlich übernimmt das gezeigte Beispiel das ikonographische Motiv der Beweinung Christi47. —
Siehe auch Weinland,
Kriegerdenkmäler in Berlin (wie Anm. 43), S. 98.
Ähnlich das Mahnmal für die 1914/18 gefallenen Bürger der Stadt Dortmund auf dem Südwestfriedhof von 1924/25, abgebildet in: »Unseren tapferen Helden«. Kriegs- und Kriegerdenkmäler und politische Ehrenmale, Dortmunder Beispiele, hrsg. von der Fachhochschule Dortmund, Dortmund 1987, S. 29.
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Sabine Behrenbeck
3.
Sakralisierung des Kriegstodes: Die Gefallenen als Märtyrer
Aneignung religiöser Motive zur Deutung des Soldatentodes als Unterpfand nationaler Erlösung sollten nicht als eine Profanierung christlicher Motive mißverstanden werden. Vielmehr unterstützten sie visuell die Sakralisierung weltlicher Vorgänge wie das Sterben im Krieg. Dem Opfer der Soldaten wurde heilsstiftende Wirkung zugesprochen. Auch in den nichtfigürlichen Denkmalsformen drückt sich dieser Sakralisierungsvorgang des Kriegstodes aus. Anklänge an Tempel- und Kirchenarchitektur bis hinein in die Material- und Formensprache48 sollten das Opfer auf dem »Altar des Vaterlandes« veranschaulichen. Eines der bekanntesten Beispiele für diese Ästhetik und Ikonographie ist das Kriegerdenkmal vor dem Bayerischen Armeemuseum in München49. Es wurde 1924/25 errichtet und besteht aus einem vertieften, rechteckigen Vorhof um eine Krypta (Architekten: Thomas Wechs und Eberhard Finsterwalder), einem strengen Baukubus aus übereinandergetürmten Sandsteinquadern, an den Außenwänden geschmückt durch Diese
Bernhard Bleeker, Ruhender Krieger, München 1925 (Zentralinstitut für Kunstgeschichte,
München) 48
49
Formensprache im Vergleich zum Kirchenbau siehe Christian Fuhrmeister, Instrumentalisierung und Retusche. Widersprüche in der nationalsozialistischen Rezeption des Düsseldorfer Schlageter-Denkmals von Clemens Holzmeister, in: Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert: Zur Sinnlichkeit der Macht, hrsg. von Sabine R. Arnold, Christian Fuhrmeister Zur Material- und
und Dietmar Schiller, Wien, Köln, Weimar 1997, S. 55-74, hier 63. Josef Popp, Das Münchner Kriegerdenkmal, in: Der Kunstwart, 39 (1926), H. 8 (Mai), S. 132 f.,
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kubistisch beeinflußte Reliefs marschierender Krieger von Karl Knappe. Im Inneren befindet sich die Bronzeplastik »Ruhender Krieger« von Bernhard Bleeker. Sie zeigt einen aufgebahrten Soldaten in der ikonographischen Tradition von dynastischen oder Heiligengrabmälern in großen Kirchen. Der komplett uniformierte Soldat hält ein Gewehr in Händen, sein Kopf mit Stahlhelm wird von einem Kissen gestützt, seine Füße berühren ein Wappenschüd mit dem bayerischen Rautenmuster. Er hegt auf einer abgetreppten Plinthe, die nur die Andeutung eines Sarkophags darstellt. Das Gesicht offenbart sein jugendliches Alter. Keine Wunden verunstalten seinen Körper. Die Bezeichnung als »ruhender Krieger« verweist auf seine zu erwartende Wiederauferstehung. Weniger der Mythos vom schlafenden Kaiser Barbarossa als das christliche Erlösungsmodell stand dabei Pate. Die Plastik galt als besonders gelungenes Beispiel und wurde vielfältig rezipiert. Ihre Plazierung in einem kryptenartigen Gebäude verweist auf die Tradition christlicher Märtyrergräber und damit auf die den Gefallenen zugeschriebene Selbstopferung im Glauben an das Reich. Außer dieser geläufigen Parallelisierungen des Soldatentodes mit dem Kreuzestod ist es auch erhellend, Bleekers »Ruhenden Krieger« einzuordnen in die Rezeption des Langemarck-Mythos der jungen Kriegsfreiwilligen. Dieser traditionelle Mythos von Heldentum und Opferbereitschaft, der vor allem bürgerliche Konservative und Nationalisten durch seine Verherrlichung früherer Ideale wie Ritterlichkeit und Selbstopfer begeisterte50, inszeniert seine Helden durch Eigenschaften wie Freiwilligkeit, Spontaneität, Jugendlichkeit, Opferbereitschaft, Unschuld. Sie sind die Märtyrer des Vaterlandes, deren Geist eine nationale Regeneration und Verjüngung verheißt. Langemarck wurde so zum Symbol der inneren Einigung durch die Vision vom kommenden Reich, die bereits die Gefallenen motiviert habe und in deren Namen die Nation dereinst aus ihrer gegenwärtigen Schande wieder aufgerichtet werde51. Zentrale Motive des Langemarck-Mythos finden sich in der Darstellung von Bleekers »schlafendem Krieger« wieder. Seine Jugendlichkeit verweist auf seine Reinheit und Unschuld, er ist ein ver sacrum, das die Nation zu Beginn des Krieges geopfert habe52, aber nicht der todbringende Kämpfer. Der friedliche Gesichtsausdruck und Details wie der schlaffe Schulterriemen des Gewehrs (ohne aufgepflanztes Bajonett) oder die entspannte Handhaltung unterstreichen diese Interpretation. Allerdings ist von der Begeisterung und Spontaneität der »Kriegsfreiwilligen« von 1914 in dieser Plastik wenig zu spüren. Bei der visuellen Sakralisierung der Gefallenen wurden häufig figürliche Plastiken in größere Gesamtanlagen eingebettet, deren kultischer Charakter Raum bot
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Georg Badberger, Das Münchner Kriegerdenkmal, in: Süddeutsche Baugewerkszeitung, 28 (1925), Nr. 8 (April), S. 105 ff., Hermann Nasse, Marschierende Krieger, Relief von Karl Knappe, in: Kunst und Handwerk, Zeitschrift des Bayerischen Kunstgewerbevereins, 76 (1926), H. 4 (August), S. 86. Bernd Hüppauf, Schlachtenmythen und die Konstruktion des »Neuen Menschen«, in: »Keiner
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fühlt sich hier mehr als Mensch
Ebd., S. 66. Die
...«
(wie Anm. 2), S. 53-103, hier 54.
Formulierung findet sich beispielsweise bei Bergmann, Diese Toten sind ja nicht tot!
(wie Anm. 26), S. 7.
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für Gemeinschaftsrituale, in denen die Heiligkeit des Selbstopfers der Gefallenen angemessen gewürdigt werden sollte. Ein sprechendes Beispiel dafür ist das geplante Reichsehrenmal. 4. Das
Reichsehrenmalprojekt: Konkurrenz der Todesbilder
Nachdem zunächst die Kirchen- und Ortsgemeinden dezentrale Erinnerungszeichen errichtet hatten53, wurde erst 1924 der Bau eines nationalen Denkmals für alle Kriegstoten erwogen54. Die Idee des Nationaldenkmals sollte dabei mit dem Gedanken einer Totenerinnerungsstätte verbunden werden ähnlich wie mit dem 1913 eingeweihten Völkerschlachtdenkmal in Leipzig vorexerziert. Aus der anfangs vorgesehenen, schhchten Gedenksäule, deren Errichtung auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor der Innenminister im Mai 1924 angeregt hatte55, wurde jedoch ein beharrlich umstrittenes Projekt, das die Öffenthchkeit bis zum Ende der Weimarer Republik beschäftigte. Zum 10. Jahrestag des Kriegsbeginns, am 3. August 1924, rief Reichspräsident Friedrich Ebert zur Sammlung für den Bau eines Reichsehrenmals auf. Darin formulierte er das Vermächtnis der Gefallenen: »Das deutsche Volk hat in diesem Kriege kein anderes Ziel erstrebt als die deutsche Freiheit. Für Freiheit und Unversehrtheit des Vaterlandes [...] gaben die Gefallenen ihr Leben. Aber sie ließen uns, den Lebenden, ein Vermächtnis: die Forderung, in ihrem Geiste, dem Geiste der Einigkeit und Vaterlandsliebe, den Willen zur Freiheit Deutschlands als oberstes Gesetz zu bewahren56.« Doch sollte sich bald zeigen, daß der Systemwechsel für eine nationale Erinnerung an die Gefahenen problematisch war. Die Verbände der Frontsoldaten und Militärs sahen mit Unbehagen, wie sich die demokratische Regierung um die Gefallenenehrung bemühte und konterten den Versuch, auf diese Weise der Republik Sympathien und Anhänger zuzuführen, mit dem Argument, nicht angemessen in die Planungen einbezogen worden zu sein57. Die Preußische Staatsregierung wiederum lehnte angesichts der herrschenden Notlage eine öffentliche Sammlung zur Finanzierung des Reichsehrenmals prinzipiell ab. Wie in solch verfahrenen Situationen üblich, wurde ein Unterausschuß des Reichsrats eingesetzt, der eine Beschlußfassung laufend vertagte. Doch das —
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Die Behauptung von Jeismann/Westheider, Wofür stirbt der Bürger (wie Anm. 1 ), S. 35, daß die Gemeinden nur auf Initiativen der Veteranenverbände reagierten, bleibt ohne Beleg und läßt sich anhand der mir vorliegenden Regional- und Lokalstudien nicht bestätigen. Ausführlich Annegret Heffen, Der Reichskunstwart Kunstpolitik in den Jahren 1920-1933. Zu den Bemühungen um eine offizielle Reichskunstpolitik in der Weimarer Republik, Essen 1986 (= Historie in der Blauen Eule, Bd 3), S. 231 f. Ebd., S. 234. Berliner Tageblatt vom 3. August 1924, zit. bei Heffen, Der Reichskunstwart (wie Anm. 54), S. 236 f. Heffen, Der Reichskunstwart (wie Anm. 54), S. 238. —
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Interesse der Öffentlichkeit war immens. Es wurden weit über 200 Vorschläge zur Gestaltung des Reichsehrenmals bekannt. Dabei dominierten Projekte mit riesigen Ausmaßen, die entweder ein monumentales Gebäude (»Riesendom«) in der Reichshauptstadt, eine unterirdische Ruhmeshalle in Anbindung an ein bestehendes Nationaldenkmal oder ein Ehrenmal in der freien Landschaft, überragt von einem Berg und umgeben von einem Heiligen Hain, vorsahen. Der Reichskunstwart Edwin Redslob wiederum brachte den symbolträchtigen Vorschlag ein, einen unbekannten Gefallenen im Rhein zur ewigen Ruhe zu betten58. Der Bund der Frontsoldaten lehnte jedoch diesen Gedanken der Beisetzung eines unbekannten Soldaten ab, da die Idee »nur der politischen und geistigen Einstellung unserer einstigen Gegner« entspreche. Für Deutschland hingegen müsse die Frage nach dem Sinn des soldatischen Opfertodes ganz anders beantwortet werden. Die Gefallenen seien »für Deutschlands unversehrten Bestand« gestorben, dies lasse nur eine Gestaltung des Reichsehrenmales zu, nämlich: »Das Reichsehrenmal, welches bestimmt ist, in überwältigender Schlichtheit und Eindringlichkeit die Schönheit der von den toten Helden beschirmten Heimat vor Augen zu führen, wird im Herzen Deutschlands irgendwo im deutschen Mittelgebirge (Thüringen) errichtet, und zwar fern von jeder größeren Stadt. Das Reichsehrenmal besteht aus einem als ewiges Naturschutzgebiet zu erklärenden Waldgelände, das jeder Deutsche mit einer durch die Wahl der Örtlichkeit, die Einrichtung und Aufmachung, kurz: die Stimmung des Ganzen von selbst hervorgerufenen Ehrfurcht betritt59.« Die Frontkämpferverbände waren sich darin einig, daß das Totengedenken »draußen in Gottes freier Natur, wo ihre gefaUenen Kameraden ruhen« stattfinden sollte. Plaziert werden solle das Denkmal im Herzen des Reiches, »wo es von allen Teilen Deutschlands verhältnismäßig leicht zu erreichen ist, denn alle deutschen Stämme haben in gleicher Weise ihre Söhne auf dem Felde der Ehre geop-
fert«60.
Die architektonischen Gestaltungsvorgaben kombinierten Elemente aus der Festungsarchitektur, den Nationaldenkmälern des 19. Jahrhunderts sowie zeitgenössischen Kriegerehrungsstätten. Eine »gewaltige Mauer« solle das Gelände von drei Kilometern im Quadrat umgeben, zugänglich in allen vier Himmelsrichtungen durch mächtige Pforten mit je zwei riesigen Wachtürmen. In der Mitte werde sich eine »große, offene Gruft mit einem schhchten Sarkophag [befinden], auf dem die grobholzschnittartig gehauene Figur eines deutschen Soldaten im Stahlhelm mit Gewehr ruht«. Der schlafende Krieger (dessen Münchener Vorbild offensichtlich ist) solle umfangen werden von den Sitzreihen eines Amphitheater, die den Blick in das umgebende »Heilige Gebiet« freigeben würden. Für die Ausführung solle ein Wettbewerb ausgeschrieben werden. 58 59 60
Ebd., S. 240 f. Der Stahlhelm,
Vorschlag für ein Reichsehrenmal vom Juli 1925, zit. ebd., S. 244. Stahlhelm-Führer Franz Seldte in einem Schreiben an Reichswehrminister Otto Geßler, abgedr. in: Krieg im Frieden (wie Anm. 9), Dok. 18 o, S. 137.
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Dieser Vorschlag fand große Zustimmung, weil er an die Idee vom Heiligtum in der Einsamkeit der Natur anknüpfte, die schon die Nationaldenkmäler des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet hatte61. Auch hatten viele Kriegerdenkmäler seit 1918 auf die Form des Ehrenhains zurückgegriffen62. Dennoch kam es zu keiner Einigung. Letzendlich wurde keines der vorgeschlagenen Projekte je ausgeführt63. Die Regierung zeigte sich außerstande, die widersprüchhchen gesellschaftlichen und politischen Interessen in ein einigendes Sinnbild des nationalen Totengedenkens zusammenzufassen. Und vieheicht war dies auch angesichts der Vielfalt
konkurrierender Todesbilder unmöglich64. Das gescheiterte Reichsehrenmalprojekt zeigt aber auch, daß keine der verschiedenen Mythisierungen sich vor 1933 endgültig durchsetzen und beanspruchen konnten, ein für das ganze Volk verbindliches und repräsentatives Bild vom Krieg darzustehen. Denn nicht die einmütige Volksgemeinschaft, sondern die Zersplitterung der politischen Kultur prägten die Realität der Nachkriegszeit. An einem weiteren Denkmal läßt sich diese Konkurrenz der Deutungsmuster, aber auch die sich abzeichnende Dominanz der rechten Kräfte am Ende der Weimarer Republik nachzeichnen.
5. Verdrängte Erinnerungen Es handelt sich dabei um ein Gefallenendenkmal, das gedacht war, die Schrecken des Krieges darzustellen. Nur wenige Künstler mühten sich um eine solche Annäherung an die Kriegsreahtät und begnügten sich nicht mit einer Mythisierung 61
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Dazu Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift, 206 (1968), S. 529-583. Unter diesem Titel erschien ein Bildband mit den Abbildungen zahlreicher, bereits errichteter Kriegerdenkmäler, die jedoch keineswegs alle auf einen solchen Hain zurückgriffen, sondern in ihrer Gesamtheit einen symbolischen Hain innerhalb des Reiches darstellen sollten: Friedrich Wilhelm Ilgen, Deutscher Ehrenhain für die Helden von 1914/18, Leipzig 1931. Statt dessen wurde ersatzweise 1931 Schinkels Neue Wache unter den Linden zum preußischen Ehrenmal umgebaut und 1935 das Tannenbergdenkmal in Ostpreußen von Hitler zum Reichsehrenmal erklärt. Tannenberg erfüllte auch formal die Vorstellungen, die seit 1924 von den Veteranenverbänden für das Projekt vorgebracht wurden. Dennoch blieben die im Streit um das Reichsehrenmal eingebrachten Varianten nicht ohne langfristige Auswirkungen. Sie beeinflußten auch die Gestaltung der deutschen Kriegsgräberstätten durch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Sein Architekt Robert Tischler, der von 1926 bis 1959 für die Bauten zuständig war, entwarf sowohl Heldenhaine als auch sogenannte Totenburgen, die meist in die Landschaft eingebettet waren. Vgl. dazu Heldenmale in Deutschland, in: Der Baumeister, 35 (1937), H. 6, S. 201-204, sowie Franz Hallbaum, Deutsche Ehrenmale des Weltkrieges, erbaut vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, in: Das Bild (1939), H. 9, S. 221-224 und Hans Gstettner: Die deutsche Gestalt des Kriegergrabes. Zum Werk des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, in: Die Kunst, (1940), H. 7, S. 144-154. Johann Zilien, Der »Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V.« in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zum politischen Denkmalkult zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Archiv für Kulturgeschichte, 75 (1993), S. 445-478.
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oder einer abstrakten Nobilitierung. In solchen Fällen erging es ihnen zumindest am Ende der 20er Jahre kaum anders als dem Schriftsteller Erich Maria Remarque mit seinem Buch »Im Westen nichts Neues«: Obwohl er die soldatischen Tugenden und den Wert des Selbstopfers nicht in Frage stellte, wurde ihm pazifistische Gesinnung und Verunglimpfung der Gefallenen unterstellt. Ein Beispiel für ein ähnliches Mißverständnis65 ist der Streit um Ernst Barlachs Gefallenendenkmal im Magdeburger Dom von 1929. Die Figurengruppe ging auf Ernst Barlach:
Magdeburger Ehrenmal, Holz,
1929 WVZ-Nr. 1-349. © Ernst und Hans Bar-
lach
Lizenzverwaltung Ratzeburg
Barlach selbst schrieb in einen Brief an den Pastor Johannes Schwartzkopff am 14. August 1933: »[...] ich bin eben doch kein Pazifist«. Er habe in seinem Magdeburger Denkmal lediglich an die Toten, nicht aber an Politik gedacht. Zit. bei Ernst Piper, Ernst Barlach und die nationalsozialistische Kunstpolitik. Eine dokumentarische Darstellung zur »entarteten Kunst«, München, Zürich 1983, S. 85 f.
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eine Schenkung der sozialdemokratisch geführten Regierung Preußens zurück. Das Bildwerk galt bereits zeitgenössischen Betrachtern als eine Ausnahme in der
Denkmalsflut.
»Es ist keins der Heldenmale, wie sie heute zu Tausenden auf den Gassen und Märkten stehen den Toten oft mehr eine Verlegenheit als wirkliche Ehrung. Kein Fanfarenstoß tönt uns schmetternd aus ihm entgegen [...] In ihm weht der Geist der Stille [...]66.« Laut Barlachs eigener Aussage basierte sein Entwurf auf »[...] einer sehr realistischen Vorstellung. Ein zusammengedrängtes Häuflein Kämpfer über einem Gräberfeld. Da sind Tote, Niedergebrochene und Standhaltende [...] Im Verlaufe der Arbeit steigerten sich die unteren Gestalten ins Symbolhafte, die oberen wurden zu Typen. Zuerst als zwischen die Kämpfer gestelltes Grabkreuz gedacht, wurde das Kreuz das Zeichen der Opferwilligkeit, des Haltes an Begriffe, die zur Hingabe an überpersönliche Zwecke mahnen67.« Es gab durchaus Kriegsteilnehmer, die in diesem Denkmal ihre authentischen Kriegserlebnisse wiederfanden. Einer von ihnen schrieb noch im April 1933 kurz bevor das Denkmal von den Nationalsoziahsten aus dem Dom entfernt wurde in einem Leserbrief: »[...] so wie der Bildhauer es gemacht hat, so war der Krieg. So haben wir ausgesehen, als wir draußen lagen und so ist uns oft zu Mute gewesen. [...] hier [ist] ein Denkmal für die Landser entstanden [...] es ist ein Frontdenkmal und nicht eins aus der Etappe68.« Doch entgegen der Annahme des Künstlers, »eine verhöhnende Kennzeichnung des Dargestellten« könne »auch nur vage nicht vermutet werden«, wurde Bar—
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lachs Denkmal scharf kritisiert und zwar wegen der fehlenden Glorifizierung der Gefallenen. Daß Barlach den Kriegstod ohne Hinweis auf einen Sieg thematisierte, war den meisten Kritikern ein Dorn im Auge. Sie sahen in den Gesichtern der Holzfiguren eine »abscheuliche, wie ein Hohn auf unser deutsches Empfinden wirkende Darstellung unserer Helden; alles Erhebende, Edle fehlt. Es wirkt wie ein Schlag ins Gesicht, wenn man bedenkt, daß dies dem Gedächtnis unserer herrlichen Armee bestimmt ist, die jahrelang einer Welt von Feinden standgehalten hat. Was sollen Witwen und Waisen empfinden, wenn sie hier Trost und Erhebung suchen wollen[...]69.« Was der Nationalverband Deutscher Offiziere in diesem Leserbrief formulierte, brachte eine verbreitete Erwartung an eine solche Gedächtnisstätte zum Ausdruck: 66
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von Niebelschütz in der Magdeburgischen Zeitung vom 24. November 1929, zit. bei Piper, Ernst Barlach (wie Anm. 65), S. 40. Barlach in einem Brief an Karl von Seeger vom 6. Februar 1930, zit. bei Piper, Ernst Barlach (wie Anm. 65), S. 50. Seeger ist übrigens Verfasser der Publikation »Das Denkmal des Weltkrieges« (wie Anm. 35). Heinrich Mattern in der Deutschen Allgemeinen Zeitung vom 14. April 1933, zit. bei Piper,
Ernst
Ernst Barlach (wie Anm. 65), S. 81 f. Nationalverband Deutscher Offiziere, Leserbrief an die Magdeburgische Tageszeitung vom 11. Dezember 1929, zit. bei Piper, Ernst Barlach (wie Anm. 65), S. 42 f.
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Sie sollte die Gefühle der Hinterbliebenen lenken, die Leistungen der Soldaten würdigen, trotz der Niederlage Hoffnung verbreiten und patriotische Gesinnung fördern. Die künstlerische Darstellung des Kriegstodes sollte zugleich seine Ästhetisierung und morahsche Besonderheit ausdrücken, forderte ein General a.D.: »[...] wir wollen [...] unseren Helden stolz sehen, nicht solche traurigen Gestalten70.« Protestiert wurde hauptsächlich von seiten ehemahger Kriegsteilnehmer gegen die Aufstellung von Barlachs Werk, weil es angeblich ihrer »Erinnerung« an das »heldenmütige Ringen unserer gefallenen Brüder und Väter«71 widersprach. Obwohl Zeitzeugen, hatten diese Kritiker zehn Jahre nach Kriegsende offensichtlich ihre persönlichen Kriegserfahrungen mit der Mythisierung des Krieges bereits vertauscht und verlangten für die Denkmäler ein heroisch verklärtes Bild vom Krieg, wie es sich über ihre authentischen, aber oft unerträghchen Erinnerungen gelegt hatte. So hieß es in demselben Leserbrief: »Ein Frontkämpfer von 1914 bis 1918 sieht nicht so aus, wie er auf dem Denkmal dargestellt ist; der tapfere und opferfreudige Mut unserer braven Soldaten fehlt in dem Werk vollständig, an seine Stelle ist eine dumpfe Resignation getreten, die vielleicht
leider manchen Deutschen heutzutage beherrscht [...] Ein Gefallenendenkmal soll selbstverständlich ernst sein; es soll aber auch noch bei dem sterbenden Soldaten die Hoffnung auf den endgültigen Sieg tröstend durchblicken lassen und so eine Verklärung der heimgegangenen Gestalten dem Beschauer vor Augen führen.« Ein ehemaliger Frontkämpfer äußerte sich 1930 noch drastischer: »Wir überlebenden Kameraden [...] legen ausdrücklich Wert darauf, daß, wenn wir vor einem Gefallenen-Ehrenmal stehen, es uns das bietet, was wir von ihm erwarten, nämlich das Fronterleben angesichts des Todes, das uns mit diesen Helden verbindet, immer wieder aufs neue lebendig werden zu lassen, diesen Kitt, der uns auch über das Heldengrab hinaus bis an unser Ende mit unseren toten Kameraden verbunden hält72.« Tatsächlich sollte sich diese Verbindung der lebenden und toten Soldaten als sehr fest erweisen, und es war vor allem die Gruppe der ehemaligen Frontkämpfer, die eine andere Entwicklung der Denkmalskultur weg von der Trauer hin zur Heldenehrung nach Kräften förderte. —
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6. Die Das
Heroisierung der Gefallenen
mythisierte Kriegserlebnis auf dem Denkmalssockel hatte seine Hochphase
etwa zehn Jahre nach Kriegsende. Zu diesem Zeitpunkt waren die akuten Trauer-
Leserbrief des Generals von Malachowski an die Deutsche Allgemeine Zeitung vom 14. April 1933, zit. bei Piper, Ernst Barlach (wie Anm. 65), S. 80. Justizrat Pistorius in einem Leserbrief an die Magdeburgische Tageszeitung vom 11. Dezember 1929, zit. bei Piper, Ernst Barlach (wie Anm. 65), S. 43. Ebd. auch das nachstehende Zitat. Karl Jordan, Leserbrief an die Magdeburgische Tageszeitung vom 1. Januar 1930, zit. bei Piper, Ernst Barlach (wie Anm. 65), S. 49.
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gefühle der Hinterbliebenen vermutlich abgeklungen, zugleich trat die Repubhk in ihre krisenhafte Schlußphase mit der endgültigen Preisgabe demokratischer
Werte ein. Nicht nur erschienen seit 1928/29 zahlreiche Romane, die sich mit dem Kriegserlebnis beschäftigten, sie fanden nun auch ein großes Publikum73. Aber auch die Denkmalsprojekte dieser Zeit weisen ein deutlich anderes Profil auf: sie waren nun viel pompöser angelegt als in den ersten Nachkriegsjahren. Initiiert und vorangetrieben wurden sie meist von Krieger- und Veteranenvereinen, während das Interesse der Bevölkerung stark geschwunden war74. Das stand in Kontrast zu den überaus ehrgeizigen Plänen, die seit Mitte der 20er Jahre in Angriff genommen wurden. Die Wirtschaftskrise verursachte jedoch einen Rückgang des Spendenaufkommens. Kennzeichen dieser Denkmäler war eine deutliche Heroisierung der Gefallenen. Die in den ersten Nachkriegsjahren vorherrschende realistische Darstellung wurde in vielen Fällen zugunsten einer stark stilisierten Erscheinungsform aufgegeben. Allerdings trugen diese Kriegerfiguren zumeist noch Uniform. Erst nach 1933 bevölkerten vorwiegend nackte Körper in neoklassizistischem Stil und mit archaischen Waffen die Denkmalssockel und zeigten die Kämpfer in einer überzeitlichen, enthistorisierten Form75. Die heroische Darstehung des durch den Krieg erzeugten »Neuen Menschen« erfolgte nach denselben Mustern wie die literarische Hervorbringung des Verdun-Mythos einem äußerst aggressiven Mythos mit futuristischen und nihilistischen Zügen, der eng mit moderner Technikbegeisterung verknüpft war. Er beschrieb den Menschen als Rohmaterial, das im Krieg geformt wird, als stählerne Kampfmaschine mit eisernem Willen, die ohne moralische und pohtische Rücksichten die Lehren der Front verwirklicht76. Visueh entsprach diesem Mythos eine »kalte«, virile Heroisierung im Gegensatz zur romantisch-tragischen Idealisierung des Langemarck-Mythos. Als Beispiel verweise ich auf das Denkmal für Bad Neuenahr von Heinrich Faltermeier (undatiert, vermutlich um 1932). Auf einem gemauerten Sockel steht die Bronzefigur eines Reichswehrsoldaten im Uniformmantel, das Spielbein abgestützt auf einer angedeuteten Erhöhung der bronzenen Plinthe. Der markige Schädel schaut entschlossen mit leicht geöffnetem Mund seitwärts unter dem Stahlhelm hervor, während die rechte Hand des Mannes die Handgranate entsichert, welche die Linke gepackt hält. Die gesamte Körperhaltung des Mannes visuahsiert seine Kampfbereitschaft, dargestellt ist der Moment, bevor er die Granate auf den Feind —
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Ulrich Baron und Hans Harald Müller, Die »Perspektive des kleinen Mannes« in der Kriegsliteratur der Nachkriegszeiten, in: Der Krieg des kleinen Mannes (wie Anm. 3), S. 344-360, hier 345. Beispiel bei Armanski, »... und wenn wir sterben müssen« (wie Anm. 41), S. 105. Zu diesem Heroismus, der im »Dritten Reich« zu einem politisch-religiösen Kult ausgebaut wurde, vgl. ausführlich Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow bei Greifswald 1996 (= Kölner Beiträge zur Nationsforschung, Bd 2). Hüppauf, Schlachtenmythen (wie Anm. 50), S. 54.
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Heinrich Faltermeier, Denkmal für Bad Neuenahr
(Zentralinstitut für Kunstge-
schichte, München)
wirft. Anstelle des
aufgebahrten Gefallenen77 wird hier ein Standhaltender, ein gefährlicher Gegner, wenn nicht künftiger Sieger vorgeführt. Nicht zuletzt visualisiert ein solcher stahlharter und wehrhafter Frontsoldat auch den Mythos vom Kriegsende und demonstriert unverletzt und mit kampfentschlossenem Ausdruck in Mimik und Körpersprache, daß eine Armee aus solchen Männern »im Felde unbesiegt« gebheben sein mußte. Zahlreiche, von Soldatenverbänden in Auftrag gegebene Denkmäler der Weimarer Republik zeigen solche Soldaten in zeitgenössischer Uniform als Einzelkämpfer und Infanterist mit Handgranate, gelegentlich auch mit Gewehr. Der Soldat wurde auf diesen Standbildern nicht als Individuum, sondern als Idealtypus gegeben. Diese Verkörperungen des stahlharten Verdunkämpfers verwiesen auf das moderne Gesicht des Krieges. Dieser Held hatte Nervenschwäche und Euphorie eines freiwilligen Langemarck-Jünglings abgelegt zugunsten von Härte und Entschlossenheit. Sein Erkennungszeichen wurde der Stahlhelm, der wie eine Ikone fungierte. Zwar gewann die heroisierende Einstellung zum Kriegstod seit der Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten 1925 zunehmend an Einfluß. Doch trotz der vieWeinland, Kriegerdenkmäler in Berlin (wie Anm. 43), S. 96 konstatiert ebenfalls einen deutlichen Rückgang des Motivs vom sterbenden oder toten Soldaten am Ende der 20er Jahre
für diese Auftraggebergruppe.
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Sabine Behrenbeck
len von den Soldatenverbänden initiierten und finanzierten Gedenkzeichen gelang es ihnen nicht, sämtliche anderen Typen zu verdrängen. Dies geschah erst nach 1933, von nun an wurden Denkmäler mit abweichender Aussage wie das von Ernst Barlach sogar zerstört oder umgestaltet.
IV. Fazit Nicht Homogenität in der Denkmalsaussage kennzeichnet die deutschen Ehrenmäler nach 1918, sondern im Gegenteil sind diese geprägt von einer großen typologischen und stihstischen Bandbreite einander ablösender Strömungen, die teilweise zueinander in Konkurrenz traten. Die Zersplitterung der politischen Kultur Weimars fand darin ebenso einen Niederschlag, wie sich auch die verschiedenen Mythisierungen von Krieg und Kriegsende auf die Gestaltung der Gedenkzeichen auswirkten. Das Ringen um einen Sinn des Kriegstodes angesichts der Niederlage brachte verschiedene neue Bildmotive hervor. Nicht nur eine Verstärkung oder Abschwächung vorhandener Einstellungen durch die Niederlage lassen sich finden, sondern die mühsame und schmerzhafte Entwicklung neuer Deutungsmuster, die sich auch neuer, moderner Formen bediente. Neben der Sprach- und Hilflosigkeit der frühen Gedenkzeichen tauchten in den ersten Nachkriegsjahren vor allem Trauerdenkmäler auf. Gedenkzeichen mit einer christhchen Tröstungssymbolik waren bis 1930 sehr übhch in Orts- und Kirchengemeinden. Aber viele dieser Figurengruppen rezipierten nicht nur christliche Kunst, sondern zeigten häufig auch den Gefallenen zusammen mit seinen Angehörigen und damit im zivilen, nicht im militärischen Kontext und visualisierten den Schmerz um verlorene Liebesobjekte. Vorherrschend war in den meisten Gedenkzeichen nicht eine diesseitige Sinnstiftung, sondern vielmehr die Sakralisierung des Kriegstodes als fruchtbringendes Opfer, aus dem die geheimnisvolle Wiederauferstehung des Reiches hervorgehen werde. Zwar bezieht sich diese Erlösungshoffnung auf politische Machtkonstellationen, ihr Wirkmechanismus stellt jedoch ein metaphysisches Glaubensgeheimnis dar. »Dumpfer Heroismus« auf dem Denkmalssockel findet sich erst ab Mitte der 20er Jahre und geht meist auf das Engagement von Veteranenverbänden und nationalistischen Parteien zurück78. Von ihnen kann jedoch nicht ohne weiteres auf eine allgemein revanchistische Mentalität der Gesamtbevölkerung rückgeschlossen werden. Diese war zwar deuthch geprägt von einem mythisierten Kriegs—
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Keineswegs waren diese Verbände nach 1918 in den meisten Fällen Initiatoren oder gar Auftraggeber, sondern gerade in den ersten Jahren häufig die Kommunen, aber gelegentlich auch Künstlerverbände, die ihre schwierige wirtschaftliche Lage durch öffentliche Aufträge zu verbessern trachteten. Ein Beispiel bei Merkel, Ehrenfriedhof und Gefallenendenkmal der Stadt Karlsruhe (wie Anm. 16), S. 528.
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erlebnis und einer »im Felde unbesiegt«-Einstellung, nicht aber notwendig auch einem Wunsch, den Kampf bis zum Sieg wieder aufzunehmen. Die ausbleibende Kriegsbegeisterung 1939 (die für die pohtischen Führung nicht unerwartet war), ist ein nicht zu unterschätzendes Indiz dafür, sich vor solchen Pauschalisierungen zu hüten. Sehr selten sind in Deutschland nach 1918 eindeutige Antikriegsdenkmale zu finden79. Konsequenter Pazifismus war offensichtlich im Unterschied zu anderen Kriegsteilnehmer-Staaten keine mehrheitsfähige Haltung. Das zeigt sich auch daran, daß in dieser Richtung mißzuverstehende Werke heftig umstritten waren, wie an Barlachs Magdeburger Denkmal exemplarisch gezeigt wurde. Immerhin blieben solche Zeichen aber bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten wenigstens erhalten. Der Konflikt zwischen den verschiedenen Einstellungen zum Kriegstod wurde in der Weimarer Republik also zu keinem Zeitpunkt endgültig zugunsten einer Auffassung entschieden. Der Bezug auf die »Heimat« anstelle der Nation war nicht nur ein Merkmal der Dorfgemeinden als Auftraggeber eines Kriegerdenkmals. Mit dem Unterschied von Stadt und Land hatte dieser Bezug nicht unbedingt zu tun, wie sich am Reichsehrenmalprojekt zeigen läßt. Die Heimat von den Schrecken des Krieges freigehalten zu haben, galt als das größte Verdienst der Gefallenen, damit wurde die Errichtung eines Ehrenmals in der Natur begründet. Es ging darum, die von den Zerstörungen des Krieges unberührte Landschaft zu zeigen als Kontrast zu den Verwüstungen, die die Soldaten vor allem an der Westfront miterlebt hatten und die ihnen die Kostbarkeit einer verschonten Heimat um so deutlicher vor Augen führte. Bei der Gestaltung der Denkmäler sind verschiedene Phasen zu unterscheiden, in denen einzelne Motive Konjunktur hatten. Langfristig betrachtet wurden die Trauer- und Tröstungssymbole zugunsten einer distanzierten Heldenverehrung aufgebenen, die nach 1933 zum einzigen erlaubten Umgang mit dem Kriegstod bestimmt wurde. von
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Eines dieser seltenen Beispiele hat Klaus Schönhoven dokumentiert: Das Nie-wieder-KriegMahnmal in Benningen, in: Illustrierte Geschichte des Arbeitersports, hrsg. von Hans Joachim Teichler und Gerhard Hauk, Berlin, Bonn 1987, S. 82 f. Ein weiteres pazifistisches Denkmal wurde der Stadt Annweiler von einem in die USA emigrierten Bürger der Stadt gestiftet, siehe Krieg im Frieden (wie Anm. 9), Dok. 18 i, S. 130 f.
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Kriegsende. Die unbewältigte Erinnerung Das
Winfried Baumgart Einführende Bemerkungen
Vorträgen der Sektion »Das Kriegsende. Die unbewältigte Erinnerung« geht es zum einen um die Motive der Seekriegsleitung für den für Ende Oktober 1918 geplanten Vorstoß der Hochseeflotte in die Nordsee, zum anderen um die Beurteilung der Heeresführung im letzten Kriegsjahr und ihre Verantwortung für die Märzoffensive 1918; schließlich um die Verarbeitung des Kriegsgrauens durch den einfachen Soldaten an der Front. Es geht also zweimal um die Bei den drei
Sicht »von oben« und einmal um die Sicht »von unten«. Um den Plan, die deutsche Hochseeflotte in einem letzten Verzweiflungsschritt in die Nordsee zu führen, um dort die englische Flotte zu einer großen rangierten Seeschlacht zu veranlassen, ist jahrzehntelang in der Forschung gestritten worden. Man fragte nach dem rationalen Sinn und den Erfolgsaussichten dieser Aktion und konnte aus den Quellen nur feststellen, daß angesichts der Unterlegenheit gegenüber der englischen Flotte mit einem Sieg auf deutscher Seite nicht gerechnet werden konnte. Selbst die für die Planung Hauptverantwortlichen das Dreigestirn Scheer, Trotha und Levetzow haben damit keine militärische Wende herbeiführen wollen. Was aber wollten sie mit einem aussichtslosen Unternehmen erreichen? Eine Entlastung des Heeres an der Westfront konnte nicht beabsichtigt sein, da das Heer die flandrische Küste und das Hinterland zu räumen im Begriffe stand und sich auch keinerlei Koordination zwischen Heeres- und Flottenführung nachweisen läßt. Die These, daß die Seekriegsleitung das Waffenstillstandsgesuch bei Präsident Wüson habe hintertreiben oder gar einen Staatsstreich im Innern gegen die Reichsleitung habe planen wollen, findet in den Quellen ebenfalls keinerlei Anhaltspunkte. Mehr Plausibüität scheint die schon damals durch die Flottenmannschaften geisternde Ansicht zu haben, die Führung habe in der Götterdämmerung des Kriegsendes eine »Todesfahrt« der Flotte geplant: Die Riesenflotte, vor dem Krieg mit großem nationalem Engagement gebaut, im Kriege durch Führungsfehler zur Untätigkeit verdammt, habe dem deutschen Volk in einem letzten Aufbäumen ihre Daseinsberechtigung zeigen sollen, um dann unterzugehen und dadurch dem Feind nicht in die Hände zu fallen. Die wenig später in Scapa How erfolgte Selbstversenkung hat dieser Deutung Nahrung gegeben. Sie läßt zumindest einen Blick ins Innere der Marineplanung zu. Denn den Verantwortlichen dürfte es in erster Linie um die Rettung der Ehre dieses großen nationalen Prestigeobjekts gegangen sein. Gerhard Groß hatte schon in seiner Studie über die Marine im Jahr 1918 herausgearbeitet, wie stark die Bewegungsfreiheit der deutschen Marine bis weit in die Deutsche Bucht hinein eingeengt und eingeschnürt war. Die Hochseeflotte, —
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Winfried Baumgart
das kostspiehge Paradestück der deutschen Hottenrüstung 1897-1914, wurde 1918 nicht zum Schlachtenschlagen und Schießen, sondern zum Geleitdienst für untergeordnete und defensive Tätigkeiten z.B. für die Minensuche verwendet. In einem besonders grotesken Fah wurden mindestens 20 Schiffe, darunter ein ganzes Linienschiffgeschwader, eingesetzt, um ein einziges U-Boot aus dem Minengebiet in die freie See hinauszugeleiten. Groß hatte auch deutlich gemacht, daß die Engländer durch das Legen der »Northern Barrage« zwischen Schottland und Norwegen die deutschen U-Boote bei längerer Kriegsdauer gänzlich unbeweglich gemacht hätten. Die Lage, in der sich die deutsche Marineführung 1918 befand, war also überaus verzweifelt. Auf Forschungen Wilhelm Deists aufbauend, ist Groß der Auffassung, daß der im Oktober 1918 geplante deutsche Flottenvorstoß in erster Linie der Ehrenrettung und der Zukunftssicherung der Marine dienen sollte. Er vermag mit einen Rückgriff auf den in der Kaiserzeit, besonders seit der Jahrhundertwende dem Seeoffizierkorps anerzogenen Ehrbegriff deuthch zu machen, daß wegen der in den Weltkriegsjahren 1914-1917 ausgebliebenen großen Entscheidungsschlacht mit der englischen Flotte trotz Skagerrak und wegen des Fehlschlags des Uein letzter Versuch unternommen werden sollte, um die DaseinsbeBoot-Kriegs der teuren deutschen zu stellen. Dieser Versuch Flotte unter Beweis rechtigung der Ehrenrettung ist wegen der Meuterei von Schiffsbesatzungen gescheitert und wurde unter gewandelten Umständen dann in Scapa Flow nachgeholt. Dieser Standpunkt des Alles oder Nichts ist in ähnlichem Maße auch bei der Heeresführung, also bei der 3. Obersten Heeresleitung unter Hindenburg und Ludendorff 1918 festzustellen. Ihr Entschluß zur Frühjahrsoffensive setzte alles auf eine Karte. Bevor die hunderttausendfache Verstärkung der Engländer und Franzosen durch amerikanische Truppen Wirklichkeit werden konnte, sohte an der Westfront durch eine letzte Kraftanstrengung die Kriegswende herbeigezwungen werden. Wie Friederike Krüger nachweisen kann, wurden die Erfolgschancen von Ludendorff selbst und von seiner militärischen Umgebung gar nicht besonders hoch eingeschätzt. Das ist ein deutliches Eingeständnis, daß diese letzte große Anstrengung eigentlich einem Hasardspiel gleichkam. Es ist auch typisch für eine Mentahtät, die sich nur in Kategorien des totalen Krieges bewegte. Anders als es Clausewitz gelehrt hatte, wurde dabei die politische Führung der Kaiser, der Reichskanzler, das Auswärtige Amt gleichsam beiseite geschoben und wurden politische Entscheidungen von der Mihtärführung beansprucht und getroffen. Ein deutliches Beispiel für diesen Anspruch in der Vorbereitung der Märzoffensive ist die Behandlung des Ostproblems, also der Frage, wie man deutscherseits auf das Ausscheiden des neuen bolschewistischen Rußland aus dem Kriege reagieren sohe. In einem Kronrat in Bad Homburg am 13. Februar 1918 wurden dafür die Weichen gestellt. Staatssekretär Richard v. Kühlmann als Vertreter der Reichsleitung plädierte für ein Hinnehmen des politischen und militärischen Schwebezustands im Osten, nachdem Trotzki in Brest-Litovsk die dortigen Friedensverhandlungen zwar für gescheitert, den Krieg aber auch als beendet erklärt —
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hatte. Kühlmann sprach sich nun dafür aus, alle deutschen Truppen bis auf die als Grenzschutz notwendigen Kräfte aus dem Osten abzuziehen und sie der Westfront zur Verfügung zu stellen. Für Ludendorff auf der anderen Seite war der unklare Zustand an der Ostfront unerträglich. Deshalb forderte er dort die Wiederaufnahme des Krieges, bis die Bolschewik! zur Unterzeichnung eines Friedens bereit seien. Als dieser dann am 3. März geschlossen war, wurden die militärischen Operationen trotzdem an allen möglichen Frontabschnitten von Finnland bis an den Don, auf die Krim und in den Kaukasus hinein immer noch fortgesetzt. Das erforderte den Einsatz einer großen Zahl von Truppen, die an der Westfront fehlten. Wenn man bedenkt, daß am 21. März 1918 zu Beginn der Westoffensive noch eine Million deutsche Soldaten in Osteuropa standen und bis zum Zusammenbruch im Oktober immer noch eine halbe Million, wird die Zersplitterung der Kräfte deutlich. Der Zivilist Kühlmann hatte den richtigen Instinkt, als er immer wieder davor warnte, bei der Entscheidungssuche im Westen eine sträflich kräftezehrende Ostraumsicherung ins Werk zu setzen. Bei einem Vortrag Mitte Mai sagte Ludendorff einmal1: »Wenn ich jetzt einige hunderttausend Mann frischer Truppen aus der Heimat bekäme, könnte der Feldzug in wenigen Wochen beendet sein.« Die OHL wollte zwar im Westen alles auf eine Karte setzen, doch zersphtterte sie die Kräfte. Das war ein großer Widerspruch, den sich Ludendorff bei seinen Alexanderzügen im Osten nie innerlich eingestand. Wie verzweifelt ihm die Situation im Westen erschien, machen die vielfältigen Versuche deutlich, gefangene Rotgardisten an die Westfront zu schicken, unter den deutschen Kolonisten in Südrußland und auf der Krim Wehrfähige zum Westeinsatz anzuwerben und auch sonst in den besetzten Gebieten Rußlands fremdvölkische Hilfstruppen zu rekrutieren. Der Fehlschlag der Offensive im Westen wurde Ludendorff seit Anfang Mai sukzessive immer klarer. Friederike Krüger arbeitet das mit Quellenbelegen gut heraus. Selbst nach dem 8. August, den Ludendorff später als den »schwarzen Tag« des deutschen Heeres bezeichnete, war er nicht bereit, die Konsequenzen zu ziehen und der Politik reinen Wein einzuschenken. Statt die Reichsleitung parallel zu den militärischen Planungen zur Einleitung von allgemeinen Friedensverhandlungen aufzufordern, tat Ludendorff im Frühjahr und Sommer 1918 alles, Verständigungspolitiker auszubooten. Bereits im Januar setzte er beim schwachen Kaiser die Entlassung des Kabinettschefs Rudolf v. Valentini und Anfang Juli gar des Staatssekretärs v. Kühlmann durch. Dessen Nachfolger Hintze klär1
Das Werk des Untersuchungsausschusses der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung und des Deutschen Reichstages 1919-1928. Verhandlungen, Gutachten, Urkunden. Unter Mitwirkung von Eugen Fischer, Walther Bloch, Berthold Widmann im Auftrage des Reichstages hrsg. von Walter Schücking, Peter Spahn, Johannes Bell, Rudolf Breitscheid, Albrecht Philipp, Reihe 4: Die Ursachen des Deutschen Zusammenbruchs im Jahre 1918. Erste Abteilung: Der militärische und außenpolitische Zusammenbruch. Unter Mitwirkung von Eugen Fischer, Walther Bloch hrsg. von Albrecht Philipp, 12 Bde, Berlin 1925-1929 (im Folgenden zitiert als WUA, Reihe 4), hier Bd 2: Gutachten des Sachverständigen Oberst a.D. Bernhard Schwertfeger, Berlin 1925, S. 371.
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te er auch nach dem 8. August nicht voh über die hoffnungslose militärische Situation auf2. Sein Eingeständnis der Niederlage am 29. September 1918 stürzte dann die Reichsleitung in große Turbulenzen. Michael Salewski knüpft an das Ludendorffsche Vabanquespiel von 1918 die Frage nach der Verantwortlichkeit der militärischen Führung. Es ist hilfreich, daß er die Frage nicht im staatsrechtlichen oder institutionellen Sinn, sondern in den Kategorien der moralischen Verantwortung sehen möchte. In einem Vergleich spannt er den Bogen von Ludendorffs Verantwortung 1918 zu Hitlers Verantwortung 1945. Bei aller Einsicht in die in beiden Fällen klar gegebene Verantwortung darf doch der wesentliche Unterschied nicht übersehen werden, daß Ludendorff 1918 trotz seiner Hasardeurmentalität einen Funken von Rationalität bewies, als er gegenüber der politischen Führung die totale Niederlage vorübergehend eingestand und dadurch ein rasches Kriegsende ohne weitere sinnlose Opfer herbeiführte, während Hitler 1945 sich in Apokalypsestimmung gegen jegliches rationale Eingeständnis zur Wehr setzte. Über die Innenansicht des Krieges aus dem Blickwinkel des einfachen Frontsoldaten sind wir weit weniger unterrichtet als über die Entschlüsse und Überlegungen der militärischen Führung. Trotzdem hat die Untersuchung des Kriegsalltags an der Front und in der Heimat einige Fortschritte erbracht3. Bernd Ulrich hat sich mit der Aufarbeitung deutscher Feldpostbriefe an dieser Forschungsrichtung beteiligt. In seinen hier sich anschließenden Bemerkungen geht er der Frage nach, wie sich der Frontalltag in der Erinnerung der folgenden Jahre, also der Weimarer Zeit, widerspiegelt. Er kommt zu dem Ergebnis, daß in der Öffentlichkeit das persönliche Kriegserleiden an den Rand gedrängt, daß der Opfertod nicht beweint, sondern glorifiziert wurde und daß selbst der einzelne Betroffene, der sich erinnern wollte, in diesem Meinungsklima oft genug zur Verfälschung und Verbrämung des grauenvollen Erlebens neigte und sich in den nachträglichen Sog der Heroisierung mehr oder minder bewußt hineinziehen ließ. Das Gesicht des Frontsoldaten in seiner feldgrauen Uniform, das Willens- und Nervenstärke und Todesmut ausstrahlt, wurde zur Symbolfigur der Erinnerung der zwanziger Jahre. Gab es einmal den Versuch, das Kriegsgrauen möglichst unverfälscht darzustellen, fand man überhaupt keinen Buchverleger, der sich solcher Manuskripte angenommen hätte. Er würde nicht nur öffentliche Kritik, sondern seinen eigenen wirtschaftlichen Ruin heraufbeschworen haben. Eine Ausnahme von dieser Erinnerungspflege war nicht nur Erich Maria Remarques Roman »Im Westen nichts Neues« von 1929, den Ulrich erwähnt, sondern auch die 1927 und 1928 pubhzierten Aufzeichnungen des Matrosen Stumpf4. Sie 2
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Vgl. dazu jetzt Paul von Hintze. Marineoffizier, Diplomat, Staatssekretär. Dokumente einer Karriere zwischen Militär und Politik, 1903-1918. Eingel. und hrsg. von Johannes Hürter, München 1998 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd 60), S. 482^90. Vgl. zuletzt zusammenfassend Roger Chickering, Imperial Germany and the Great War, 1914-1918, Cambridge 1998 (= New Approaches to European History), bes. S. 65-167. Vgl. Richard Stumpf, Warum die Flotte zerbrach. Kriegstagebuch eines christlichen Arbeiters, Berlin 1927; WUA, Reihe 4, Bd 10/1, S. 41-58: Gutachten des Sondersachverständigen
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Bemerkungen
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sind
jedoch in ihrer Glaubwürdigkeit umstritten. Dagegen ist der erst 1989, also 10 Jahren ans Tageslicht gekommene Erlebnisbericht des Frontkämpfers Dominik Richert über solche Zweifel erhaben5. Richert, 1893 in einem elsässischen Dorf geboren, war an fast allen Fronten eingesetzt, bis er im Jahr 1918 zu den Franzosen überlief. Schon im Winter 1918/19 schrieb er seine Erlebnisse für den Gebrauch der Familie nieder. Phänomenal ist das Gedächtnis dieses einfachen Mannes es konnte an Einzelheiten überprüft und für richtig befunden werden. Richert schildert mit beklemmender Nüchternheit das alltägliche Kriegsgrauen. Das besonders Bemerkenswerte daran ist, daß er dem als sinnlos empfundenen Morden auch nachträglich keinen positiven oder negativen Sinn abgewinnen wiU. Am Schluß dieser einführenden Bemerkungen seien noch zwei unverfälschte Zeugnisse aus dem Oktober 1918 angeführt. Als Vizeadmiral Albert Hopman in Sevastopol' auf der Krim, wo er 1918 für die Wiedereröffnung und Offenhaltung des Seeverkehrs auf dem Schwarzen Meer verantwortlich war, vom deutschen Waffenstillstandsangebot an Präsident Wilson hörte, vertraute er seinem Tagebuch an6: »Was Deutschland in den letzten 3 Jahrzehnten gesündigt hat, muß es büßen. Es war politisch erstarrt durch das blinde Vertrauen, die sklavische Unterordnung unter den Willen eines in Eitelkeit und Selbstüberschätzung strotzenden Narren. Ohne Kampf kein Sieg! Politisch haben wir seit 3 Jahrzehnten nicht gekämpft, sondern nur gespielt, gespielt wie die Kinder in Illusionen und Selbsttäuschungen.« Als Alfons Paquet, Korrespondent der »Frankfurter Zeitung« und 1918 »Presseattache« an der deutschen Botschaft in Moskau in eben jenen Oktobertagen auf Heimaturlaub nach Frankfurt fuhr, schrieb er dort bei seiner Ankunft in sein Tagebuch7: »Morgens in Frankfurt Hauptbahnhof. Szenen: fast leere Halle. [...] Ein sterbender Kriegsgefangener vorübergefahren. Ein an Händen und Füßen gefesselter Feldgrauer, Unteroffizier, mit Schaum vor dem Munde, auf einer Bahre, mit 4 Soldaten. Zwei kleine 87er sehen sich das an: bolschewistisch: schimpfen auf die >Mistpreußengekämpft< wird und wer die Kontrahenten sind in dieser Auseinandersetzung? Eine Antwort darauf läuft Gefahr, sich in der komplexen Kulturgeschichte der Weimarer Republik zu verlieren oder sich ungezählten privaten Erinnerungen an diesen Krieg rettungslos auszuliefern. Auf einen sehr allgemeinen Nenner gebracht, können wir davon ausgehen, daß der Kampf um die Erinnerungen grob gesprochen und in extrem subjektivem Sinne natürlich zum einen die Beteihgten selbst betraf, die als Überlebende der Fronten mit ihren jeweils persönlichen Wahrnehmungen des Krieges zu ringen hatten. Und zum anderen waren staatliche oder halbstaatliche Institutionen und politische Gruppierungen betroffen, in deren —
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geschichtspolitischem Interesse es liegen mochte, wie und an was erinnert wurde oder die doch immerhin versuchten, Erinnerungen, mithin ihren Gehalt und Bezugspunkt, zu besetzen und zu bestimmen. Beides, die mehr oder weniger lebendige, realistische oder verklärte Erinnerung der Augenzeugen, die, wie es jüngst Paul Ricoeur formulierte, für die »leibliche Tiefe der Geschichte bürgen«5, und die geschichtspolitisch motivierte Aufbereitung der Erinnerungen, stand indessen in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander. Einem Verhältnis, mit dem man es sich zu einfach machte, ließe man es auf die Formel zulaufen, daß die in dem einen oder anderen Sinne bestimmte geschichtspohtische oder propagandistisch instrumentalisierte Erinnerung an den 3
Sabine Behrenbeck, Der Kult um die toten Helden. Nationalsozialistische Mythen, Riten und Symbole 1923 bis 1945, Vierow bei Greifswald 1996 (= Kölner Beiträge zur Nationsforschung,
Bd2). 4
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Michael Geyer, Das Stigma der Gewalt und das Problem der nationalen Identität in Deutschland, in: Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. und 20. lahrhundert. Festschrift für Hans Mommsen zum 5. November 1995, hrsg. von Christian Jansen [u.a.], Berlin 1995, S. 673-698, hier S. 682. Die Geschichte ist kein Friedhof. Interview mit Paul Ricoeur, in: Die Zeit, Nr. 42 v. 8.10.1998, S. 68.
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Die umkämpfte Erinnerung
>Großen Krieg< in ihrem Erfolg immer abhängig war [und ist] von den Bedürfnissen derer, die darauf eingeschworen werden sollten. Sicher, »es ist«, wie der französische Philosoph und Kriegsteilnehmer Emile Auguste Chartier in seiner frühen »Psychologie des Krieges« (1921) ausführt, »natüriich, daß jeder sich lieber jener Stunden erinnert, da er so erfinderisch, geduldig, kühn wie es [vorgeblich] sein Vorgesetzter war und sogar noch mehr«6. Aber die gewiß In Maßen notwendige Bereitschaft, die eigene Erinnerung mit der Patina des Anheimelnden, des identitätspolitisch gleichsam Geglückten zu überläßt aüzu schneU ziehen, vergessen, in wie starkem Maße die Erinnerung an den Krieg im Zwiespalt von Kritik und Antikritik sich in völlig unterschiedlichen Facetten zu zeigen vermochte jedenfalls in den Jahren der Republik. Nach 1933 war aüerdings, wie es der Militärpädagoge Erich Weniger präzise formuliert hat, »die Zeit der willkürlichen Erinnerungen [...] vorbei. Die Wiedergewinnung der Wehrhoheit stellt die festumrissene Aufgabe, die Erfahrungen des Krieges für den Aufbau des Heeres und, da dieses wieder ein Volksheer geworden ist, für die Ordnungen des Volkes wirksam werden zu lassen«. In der Republik in der »Systemzeit« habe dieser »ordnende Bezug der Erinnerungen auf ein fragloses Ziel« gefehlt ebenso wie »die strenge Bindung an Aufgaben, die uns zwingt, der Erinnerung Erfahrung abzugewinnen« und die »Idee, die wie ein Magnet alle Kräfte des erlebten Lebens zusammenschließen läßt«. Ein Manko, das die »hoffnungslose Gegensätzlichkeit in der Deutung des Krieges« entscheidend mitverursacht hatte7. Aber kehren wir noch einmal zurück zu den Bedingungen des persönlichen Erinnerns an den Krieg. Einmal abgesehen von der grundlegenden Erkenntnis, wie sie Reinhart Koselleck formulierte und wie sie jüngst von Klaus Latzel beeindruckend am Beispiel der Feldpostbriefe exemplifiziert wurde —, daß die »Erinnerung an den Krieg keine stabile Größe [ist], die unverändert weiterwirkt«, mithin also der Krieg Folgen zeitigt, »die die Bewußtseinsleistungen der Erinnerung filtern«8: Die variierende Bereitschaft, Unerwünschtes und diffus Unübersichtliches aus der Kriegserinnerung auszusondern oder zu marginalisieren, führte bei manchen Betroffenen zu einer nachträglichen Verfälschung, einem aktueüen Erfordernisssen geschuldeten Zurechtstutzen ihres Erfahrungswissens. Ein Problem, dessen sich im Kontext zeitgenössischer Versuche aus den frühen zwanziger Jahren vor allem der aus der christlichen Studentenbewegung stammende —
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Alain (das ist: Emile Auguste Chartier), Mars oder die Psychologie des Krieges, Düsseldorf 1983, S. 98. Erich Weniger (1935), zit. nach Krieg im Frieden. Die umkämpfte Erinnerung an den Ersten Weltkrieg. Quellen und Dokumente, hrsg. von Bernd Ulrich und Benjamin Ziemann, Frankfurt a.M. 1997, Dok. 27 c, S. 194-196, hier S. 195 f. Reinhart Koselleck, Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, hrsg. von Wolfram Wette, München, Zürich 1992, S. 324-343, hier S. 331. Vgl. Klaus Latzel, Deutsche Soldaten, nationalsozialistischer Krieg? Kriegserlebnis Kriegserfahrung 1939-1945, Paderborn [u.a.] 1998 (= Krieg in der Geschichte, Bd 1). —
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Bernd Ulrich
Siegfried Wegeleben annahm. Er versuchte, das »Felderlebnis« als quasi reine, individuell rehgiös begründete Lehre des Krieges zu rekonstruieren, das sich jeder integrativen Funktion in Verbänden, Parteien oder >Weltanschauungen< entzöge.
klar, »solche Briefe wie die [im Feld] könnten wir heute nicht mehr schreiben«. Aber auch für die des in ihnen nachlesbaren Verhaltens sah er immense Schwierigkeiten voraus, die er in der »reproduzierenden Tätigkeit unsrer Erinnerung« begründet fand. Zunächst würden alle »Erinnerungsvorstellungen automatisch eliminiert«, mit denen sich »Unlustempfindungen« verbanden: »also etwa die Gedanken an ethisches oder religiöses > Versagern im Felde, an das Lähmende der Strapazen und körperlichen Anstrengungen, das stets eigene Minderwertigkeitsgefühle auslöst, an ästhetisch stark verletzende Erlebnisse und dergleichen«. Überdies verblassten »die Abhängigkeitsgefühle, die im Felde ein Hauptmoment für die Konstellation der jeweiligen Gemütsstimmung ausmachten. [Unterordnung unter die Vorgesetzten; Wetter, Krankheit, Kameraden usw.]« Und es machten sich »glorifizierende Tendenzen in diesen Wandlungen bemerkbar«. Durch sie würden primär die mit Unlustgefühlen verbundenen Erinnerungen allmählich verbrämt. Eine Entwicklung, die endlich als »Ehminierungs- und Sublimierungsprozeß« durch jene Ereignisse noch forciert werde, die nach dem Krieg das Kriegserlebnis zu überdecken und überformen begannen von der Revolution bis zu den Freikorpskämpfen9. Die erstaunlichen Reflexionen Wegelebens über solche Erinnerungsverschiebungen vollzogen sich selbst freilich wiederum in einem absichtsvollen Kontext. Er wurde von dem Bestreben geprägt, den vermuteten genuinen, »unübertragbaren, jeder Kultivierung« und Instrumentalisierung spottenden Charakter des »Felderlebnisses« gleichsam unbefleckt zu erhalten. Jegliche Bearbeitung, jede Inanspruchnahme durch nationale Verbände oder ein proletarisch-revolutionäres Sendungsbewußtsein, alle Mühen, seinen Gehalt konfessionell getrennt für die Kirchen zu vereinnahmen ah diese Versuche, so Wegeleben, »kranken innerlich unheilbar an Kompromissen und Oberflächlichkeiten. Sie sind AbschlagsTreibhauskulturen, deren zahlungen einerseits, andrerseits Möghchkeit nur auf einer Verkennung des Wesens des Felderlebnisses beruht10.« Noch war allerdings nicht absehbar, daß eben diese, hier noch naiv-religiös beschworenen Purifikationsphantasien über die Einzigartigkeit des erinnerten Erlebnisses bald darauf zum eigentlichen, bewußt irrationalen, nicht mehr hinterfragbaren Kern jener nationalrevolutionären Ideologien wurden, für deren VerFür ihn
war
Überlieferung
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Übersteigerungen,
Siegfried Wegeleben, Das Felderlebnis. Eine Untersuchung seiner Entwicklung, seines Wesens und seiner Bedeutung für die Gegenwart, Berlin 1921 (= Stimmen aus der deutschen christlichen Studentenbewegung, H. 8), S. 101,103 f. und 105 f. Kurt Tucholsky hat die Schrift 1922 rezensiert: »Aus dem Wust der widerwärtigen Kombinationen von Christus und Maschingewehr Feldprediger sind mir immer wie Messe lesende Huren vorgekommen ragt eine kleine Schrift >Das Felderlebnis< hervor«. Kurt Tucholsky, Das Felderlebnis (1922), in: Ders., Gesammelte Werke in 10 Bänden, Reinbek bei Hamburg 1975, Bd. 3, S. 261-266, hier —
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S. 262. io
Wegeleben, Das Felderlebnis (wie Anm. 9), S. 115 f.
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Die umkämpfte Erinnerung
treter klar war, daß »man in einer Zeit wie dieser auch ohne Fahne marschieren zum kann«. So 1929 in seinen doppelten Nationalismus Ernst Jün-
Überlegungen
ger11.
Doch derlei fast esoterisch wirkende Rabulistik ist nicht das letzte Wort in Sachen persönlicher Erinnerung. Manch einer und das ist natürlich zunächst einmal nur eine bloße Spekulation verstrickte sich tief in seinen Erinnerungen an die Reahtät der Front und Etappe, immer in der Gefahr, sich zu verberen. »Gibt es«, wie der schwedische Romancier und Philosoph Lars Gustafsson in seinem privaten »Palast der Erinnerung« fragt, »da eine Angst? Wovor? Etwa davor, Dinge zu finden, die wir nicht hineingestellt haben, in verborgenen Winkeln12?« Bei der Suche nach neuen oder doch immerhin alt-neuen Quellen, die genau dies einen Blick in den verborgenen Winkel nicht scheuen, gibt es immer wieder mir ein So fiel kürzlich Buch in die Hände, in dem ich Erinnean den Ersten Weltkrieg fand, wie zumindest ich sie bisher nicht kannte. rungen Von Erwin Blumenfeld ist die Rede und seinem 1975 erstmals und kürzhch wieder neu aufgelegten »Einbildungsroman« denn die »Welt ist eine Geltungsbedürfnisanstalt«. Das ist hier stimmt der Klappentext einmal eine gnadenlose, virtuose Autobiographie eines deutschen, 1897 in Berlin geborenen Juden, die Ende der sechziger Jahre in Deutschland keinen Verleger fand, weil Blumenfeld in einer Mischung aus Chuzpe, Hohn, Ekel und Selbstironie wohl zu bösartig und munter über die Deutschen, die Franzosen, die Holländer, die Juden, die Amerikaner herfällt womit wir zugleich die nationalen und religiösen Stationen seines Lebens nach seiner geglückten Fahnenflucht 1918 aus der kaiserlichen Armee vor uns haben, bevor er dann später, sehr viel später zum berühmten Modefotografen in den USA wurde. Zuvor war Blumenfeld u.a. »Sankra-Fahrer« an der Westfront. Und was er hier erlebt und woran er sich meßgenau erinnert, davon soll wenigstens ein kleiner Begriff gegeben werden. Blumenfeld und sein »Kamerad« Aujust Kuhlmai in Zivil »abwechselnd Umzugsmann in Rixdorf und Schweineschlächter in Killekille Pankow, der einzige Soldat mit ohne Kant im Tornister. Ich hab nie einen mit Kant gesehen« erhalten im Sommer 1917 vom Chefarzt eines Etappenlazarettes den Auftrag, »noch in selbiger Nacht sämtliche Leichen zunächst im Keller stückweise zu verpacken und sie unauffällig heraufzuschaffen«. »Wenn's um Kadaver geht«, so der Chefarzt recht apart, »verlange ich Kadavergehorsam!« Um die »Pille zu versüßen« wird angeordnet, daß die Bevölkerung des Ortes für jeden Toten drei Mark Sühnegeld zu entrichten hat. Davon bekommen Blumenfeld und Kuhlmai pro Leiche 50 Pfennige, der Rest wird zwischen Offizierkorps und Rotem Kreuz verteilt. So weit, so schlecht. Die beiden ungleichen Kameraden machen —
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Überraschungen.
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11
Jünger, »Nationalismus« und Nationalismus, in: Das Tagebuch, 10 (1929), H. 38 21.9.1929, S. 1552-1558, hier S. 1558. »Dem elementaren aber, das uns im Höllenrachen des Krieges seit langen Zeiten zum ersten Male wieder sichtbar wurde, treiben wir zu. Wir werden nirgends stehen, wo nicht die Stichflamme uns Bahn geschlagen, wo nicht der Rammenwerfer die große Säuberung durch das Nichts vollzogen hat«. Ebd., S. 1556. Lars Gustafsson, Palast der Erinnerung, München, Wien 1996, S. 12. Ernst
v.
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Bernd Ulrich
sich an die Arbeit, Kuhlmai schleppt die Leichen bis zur Kelleröffnung, Blumenfeld die Treppe hoch; bald geht ihm die Puste aus. Aber lesen Sie selbst: »Kuhlmai füllte einen Sack mit Handwerkszeug und torkelte hinunter zum Orkus. Mir schwante Unheil. [...] Die Ruhepause hatte mir neue Kraft gegeben: Die nächste Tüte schien leichter, ich trug sie allein auf meinen Schultern nach oben und schmiß sie mit Cislavain auf den Wagen. [...] Erst unten im Keller entdeckte ich, was mich soviel stärker gemacht hatte: Im blauen Acetylenlicht halbierte ein blutüberspritzter Aujust mit riesigem Schlächterbeil wutentbrannt eine über einen Baumstumpf geworfene Leiche, [...] half wenn nötig mit dem Fuchsschwanz [nach]. Prophetischer Höllenbrueghel: Hier wurde Deutschlands Zukunft, mein Schicksal zerhackt. [...] Kuhlmai hat Deutschland, hat die Welt aus meinem Leben gehackt!« Oder in den Worten von Aujust: »Weil du Schlappschwanz keene janze Leiche heben kannst, habe ick dat Anjenehme mit dem Nützhchen vabundn und vadopple unsan Umsatz! Fertig iss die Laube!« Und gestärkt eilte er zurück an die Arbeit ins Reich der Schatten.13 Hätte Blumenfeld solche Erinnerungen in den Jahren der Weimarer
Republik publiziert
eine
Strafanzeige, womöglich ein Prozeß, zu
anonymen wie realen Bedrohungen hätten ihm geblüht. schweigen »Statt Leid und Trauer als Ausdruck des Umgangs mit dem Massentod finden wir eine Aus- und Absonderung der Toten und der Todeserfahrung der Überlebenden14.« Ein Vorgang, der sich namenthch in einem Bereich abspielte, der sich ganz nah am Kern jeder Kriegserinnerung wähnte: in der Kriegspsychologie. Hier, ähnhch wie in der Literatur, in großen Teilen der Publizistik, in den zumeist nationalrevolutionär geprägten Zirkeln, ähnlich auch wie in den Veteranenverbänden, ihren Zeremonien, Aufmärschen und in ihrem Gepräge, kurz, wie insgesamt in wesentlichen Bereichen der Weimarer Kultur und des öffentlichen Lebens wurde zwar unablässig über den Tod im Krieg, das Töten und Getötetwerden gesprochen, geschrieben und kategorisiert. Doch zugleich wurde im selben Atemzug das Unsagbare des Materialkrieges, das Geheimnis der Front und ihrer »Gemeinschaft«, die Nichtsnutzigkeit des demokratischen Geschwätzes über die großen Unbekannten den Krieg an sich und das Opfer beschworen. Für die subsumierend hier Kriegspsychologie genannte Abart des unaufhörlichen Redens über Tod und Töten im Krieg trifft dies im besonderen Maße zu. Ihr Gegenstand war die Seele des Soldaten und ihr leiblicher Ort im Augenzeugen des Krieges zu finden. »Die seelischen Tatsachen«, so stellte Ende der zwanziger Jahre der französische Lehrer und Amateurhistoriker Jean Norton Cru fest, »sind das eigentliche Wesen des Krieges. Man kann ihn nicht begreifen, wenn man die persönlichen Zeugenberichte über die Empfindung des Erzählers und seine Umgebung nicht kennt.« Neben Historikern sollten auch »Soziologen, Psy—
von so
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chologen und Moralisten« daraus lernen, in wie Resultat einer an ein Wunder grenzenden
großem Maße der Krieg als das »Überredungskunst und Täuschung«
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14
Erwin Blumenfeld, Einbildungsroman, Frankfurt a.M. 1998 (= Die andere Bibliothek, Bd S. 195 f. und 201 f. Geyer, Stigma der Gewalt (wie Anm. 4), S. 681.
162),
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verstanden werden muß. Denn »wäre bekannt, was der Soldat bei seiner Feuertaufe begreift, so würde niemand die Entscheidung mit den Waffen gutheißen, kein Freund, kein Feind, keine Regierung, keine Kammer, kein Wähler, kein Reservist, ja nicht einmal ein Berufssoldat«15. In Deutschland hatten solche und ähnliche Plädoyers kaum wükliche Chancen, wahrgenommen zu werden, wenngleich auch hier »der Krieg immer wieder an die Seele« pochte, wie es im Vorwort zu einer Studie über das »Seelenleben des Soldaten an der Front« heißt16. Anläßlich des sogenannten Dolchstoßprozesses im Oktober 1925 etwa ging es dem Kläger Nicolaus Cossmann in einer Stellungsnahme vor Gericht darum, für eben die von Cru gegeißelte zum Krieg die Hilfe der Psychologie in Anspruch zu nehmen. Cossmann hielt die »Geschichte [...] nur für eine Hilfswissenschaft der Psychologie«. Denn es seien nicht »die materiellen Dinge [...]«, die über die Geschicke der Völker bestimmen. »Ideen, Gefühle entscheiden die Richtung und Stärke des Willens.« Als schlagendsten Beweis für die Richtigkeit der erstrebten Verschmelzung von »Ideen, Gefühlen und des Volkswillens« führte er den August 1914 an. Damals habe man ja einen »von aller Theorie losgelöstefn] Ausbruch von Gefühlen« erlebt. »Das Entscheidende«, so Cossmann, »war nicht, daß die Sozialdemokraten die Kriegskredite bewilligt haben, sondern die Stimmung von Millionen Menschen [...] Die Gefühle sind das Wesenthche und nicht die Theorien17.« Und genau darauf müsse sich die Erinnerung konzentrieren. Das von Cossmann in politisch-psychologischer Absicht beschworene »Augusterlebnis« und die In solchem Kontext postulierte Bedeutung des emotioneilen nationalen Haushalts wurde zum wichtigen Ausgangspunkt ähnlicher Überlegungen. Dabei kam es bekanntlich nicht allein zu einer Präferenz »sozialorganischen Denkens« und einer mehr und mehr auf Kollektive gerichteten »biosozialen Orientierung«. Es wurden zugleich »>natürliche< soziale Einheiten (>RasseStammFamilieWir sind nicht geschlagen, denn wir sind als Soldaten besser und erfahrener; wir sind einfach von der vielfachen Übermacht
Kriegs-Ästhetik
Überlegenheit
Überzeugung
Überlegenheit
in: Handbuch der ärztlichen Erfahrungen im Weltkrieg 1914/18, hrsg. von Otto Schjerning, 9 Bde., Bd. 4: Geistes- und Nervenerkrankungen, hrsg. von Karl Bonhoeffer, Leipzig 1922, S. 102-121, hier S. 112. Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, 1903-1989, Bonn 1985, S. 92-95; vgl. Bernd Hüppauf, Schlachtenmythen und die Konstruktion des »Neuen Menschen«, in: »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch ...« Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs, hrsg. von Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich und Irina Renz, Frankfurt a.M. 1996, S. 53-103, hier S. 95. Vgl. etwa den Pazifisten Georg Friedrich Nicolai, der 1919 in seiner »Biologie des Krieges« ausführte: Der Krieg schützt »die Blinden, die Taubstummen, die Idioten, [...] die Zwerge, All dieser Rückstand und Abhub der menschlichen Rasse kann ruhig die Mißgeburten. sein, denn gegen ihn pfeifen keine Kugeln«. Georg F. Nicolai, Die Biologie des Krieges Betrachtungen eines Naturforschers den Deutschen zu Besinnung, Zürich 1919, S. 81. Es ist kein Zufall, daß sich in den zwanziger und dreißiger Jahren international wie insbesondere national auf Deutschland bezogen die Anthropologie im Hinblick auf ihre Bereiche »Eugenik/Rassenhygiene« massiv radikalisierte. Vgl. Doris Kaufmann, Eugenik-Rassenhygiene-Humangenetik. Zur lebenswissenschaftlichen Neuordnung der Wirklichkeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Erfindung des Menschen. Schöpfungsträume und Körperbilder 1500-2000, hrsg. von Richard van Dülmen, Wien, Köln, Weimar 1998, S. 347-366. —
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Die umkämpfte Erinnerung
zerdrückt und zurückgeschoben wordene Das könnte in einem beliebigen nationalistisch gestimmten Weltkriegsbuch stehen«22. Die immer wieder betonte, vermeintliche deutscher Soldaten aufs der vielfach mit beschriebenen und beschworenen hing engste Erinnerung an die alhierte materielle Überlegenheit im Weltkrieg zusammen. Aus der passiven, defensiven Opferrolle, die vor allem an der Westfront den Alltag der Soldaten bestimmte, erwuchs nach der Niederlage ein starkes Kompensationsbedürfnis. Es fand in der Nivellierung der technisch-materiellen durch die charakterlichmorahsche deutscher Soldaten seine Bestimmung. Die dafür notder Angst, die wenigstens temporäre Neutralisierung des wendige mithin der Sieg über den > inneren Feind< der in Gestalt Selbsterhaltungstriebes, der Kriegsneurotiker wie schlechthin im von »Geistesverlumpung« geprägten »haltlosen Menschenpack« des Kriegsendes und der Revolution sein »Gorgonenhaupt« erhoben hatte23 geriet zum eigenthchen Kern aller Kriegspsychologie in den zwanziger und dreißiger Jahren. Unter diesen Bedingungen mutierten endhch jene zu wahrhaften »Siegfriednaturen«, die der »Krieg in vier Jahren nicht zerstört hatte« und die »Männer ohne Nerven« dem Materialkrieg insbesondere in den sog. Sturmbataillonen und Stoßtrupps als »kleine Elite der Fronttruppen« getrotzt hatten. Im Grunde erfüllte sich in diesen »Kampffreudigen« schon das Idealbild, das Jahre später der Oberbefehlshaber des Heeres, Walther v. Brauchitsch, vom erhofften und angestrebten Wehrmachtsoffizier zeichnete: »Tatmenschen« sollten sie sein, »stahlharte« darunter machten sie es nicht willensstarke Persönlichkeiten, bei denen »Charakter und Leistungen mehr als einseitiges theoretisches Wissen zählten«24.
Überlegenheit
Überlegenheit Überwindung
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Holger Klein, Grundhaltungen und Feindbilder in der Darstellung des Ersten Weltkrieges bei Remarque, Hemingway und Céline, in: Krieg und Literatur/War and Literature (1989), Nr. 1, S. 7-22, hier S. 11 f. Vgl. Horst Schallenberger, Untersuchungen zum Geschichtsbild der Wilhelminischen Ära und der Weimarer Zeit. Eine vergleichende Schulbuchanalyse deutscher Schulgeschichtsbücher aus der Zeit von 1888 bis 1933, Ratingen bei Düsseldorf 1964. Vgl. George Soldan, Der Mensch und die Schlacht der Zukunft, Oldenburg i.O. 1925, S. 80. Zit. nach: Offiziere im Bild von Dokumenten aus drei Jahrzehnten, hrsg. von Hans MeierWelcker, Stuttgart 1964 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd 6), S. 275. Vgl. jetzt auch: Willensmenschen. Über deutsche Offiziere, hrsg. von Ursula Breymayer, Bernd Ulrich und Karin Wieland, Frankfurt a.M. 1999.
Friederike Krüger/Michael Salewski Die Verantwortung der militärischen Führung deutscher Streitkräfte in den Jahren 1918 und 1945
Einleitung (Michael Salewski) Historie lebt vom Vergleich, man kann alles vergleichen, also auch das Phänomen der politischen Verantwortung militärischer Führer in den Jahren 1918 und 1945. Nur: hat es dieses Phänomen überhaupt gegeben? Konstruiert unsere Erinnerung nicht ein Phantombild? Das Thema erfordert oder besser: erforderte eine präzise Analyse dessen, was man als »pohtisch«, was als »militärisch« bezeichnet. Das läßt sich hier aus Platzgründen nicht machen, so müssen ein paar Stichworte
genügen.
In der Geschichtswissenschaft ist
es
seit Gerhard Ritters »Staatskunst und
Kriegshandwerk« übhch, den Begriff des Politischen und den des Militärischen in einer Symbiose zu betrachten, die das Etikett »Militarismus« erhalten hat. In der
jahrzehntelangen Kritik an Ritters Thesen wurde dessen Mihtarismusbegriff als völlig verengt und einseitig kritisiert: Ritter habe das komplexe Umfeld des Militarismus zugunsten eines scheinrationalen Diskurses zwischen politischer und militärischer Verantwortlichkeit im Dunstkreis der jeweils höchsten Entscheidungsgremien vernachlässigt. Inzwischen spricht man von »Militarismus« meist im Zusammenhang mit dem militär-industriellen Komplex oder, wie Stig Förster,
als einem Militarismus »von oben« oder »von unten«. das eben ist das Verdienst Ritters —, daß es wie Nun bleibt es unbestritten in allen Staaten so auch in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert einen umschreibbaren Zusammenhang zwischen politischer und militärischer Führung gibt. Fielen beide bis in die Hochzeiten des Absolutismus meist auch ineinander die Gestalten Karls XII., Peters des Großen, Friedrichs II. von Preußen mögen das illuso im Zeitstrieren —, so begannen sich diese doch damals zu differenzieren alter Ludwigs XIV. in Frankreich, in dem Maria Theresias in Österreich, wobei hier die schlichte Tatsache, daß die Herrscherin eine Frau war, notwendigerweise zu einer Differenzierung zwischen politischer und militärischer Führung zwang, und ist es wesentlich bis heute gebheben —, daß eine war es doch undenkbar Frau verantwortliche Feldherrin ist. Das mag sich im nächsten Jahrtausend allerdings ändern. Gab es auch bis in die Zeiten Wilhelms I. militärische Berater des Monarchen, so war an der letzten Verantwortung des Monarchen sowohl auf dem Feld der Politik als auf jenem des Militärs nicht zu zweifeln. Noch in den Biographien Moltkes und Bismarcks spiegelt sich dies deuthch. Auf seinen Sarg heß Bismarck schrei—
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378
Friederike
Krüger/Michael Salewski
ben, hier ruhe ein treuer Diener Wilhelms L; das war Programm. Erst im Verlauf
Einheitskriege war es zu bewußten Konflikten zwischen militärischer und pohtischer Führung gekommen, die Stichworte Nikolsburg oder Beschießung von Paris mögen genügen, um dies deutlich zu machen. Höhepunkt des Müitarismus im ritterschen Sinn war dann das Wüken Schlieffens und seiner Nachfolger, die Schlußapotheose büdete die 3. OHL. In dem Maße, in dem die poütische Führung versagte, besser gesagt: in dem Maße, in dem es der 3. OHL gelang, Volk und Führung den Kaiser inklusive davon zu überzeugen, daß sie versagt hätten, ging die Gesamtverantwortung, also auch die politische, auf die Militärs über, aber wieder besser gesagt: hätte auf sie übergehen müssen. Friederike Krüger der
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wird umreißen, warum es bei der Theorie blieb. Daß zwischen Politik und Müitär unterschieden werden muß, war 1918 noch selbstverständüch, insofern kann man poütische und müitärische Führung tatsächüch miteinander vergleichen, und, von der Verfassungskonstruktion her betrachtet, auch die Frage nach der jeweiligen Verantwortüchkeit stellen in der Person Ludendorffs wird das ganz deutlich. Das Problem der Verantwortlichkeit bedarf noch eines erläuternden Hinweises: Jeder Staatsdiener, also auch die Soldaten und erst recht die Generäle und Generalstabschefs, ist, wie es Beck formulierte, »dem Wohl des Ganzen« verantwortlich, also nicht allein dem eigenen Ressort, das ist selbstverständlich. Zum Problem wird der Begriff nur, wenn er deutlich über das eigene Ressort in die Zuständigkeit anderer Ressorts hineinreicht oder über das verfassungsmäßige System der »checks and balances«, wie es seit Cromwells Zeiten sich in Westeuropa entwickelt hat, hinauszielt. Den Historiker interessiert also nicht die gewöhnliche Verantwortlichkeit, sondern die Frage nach den Grenzen und den Grenzüberschreitungen der Verantwortlichkeit. Daß eine strikte Begrenzung auf die Ressortverantwortlichkeit völlig verantwortungslos sein kann, illustriert beispielsweise das Wirken eines Keitel, das heißt: das Phänomen muß auch dialektisch gesehen werden. Nur nebenbei sei bemerkt, daß es sich hierbei um einen Komplex handelt, der weit über das rein Militärgeschichtkche hinausgeht Kleists »Prinz von Homburg« mag als Stichwort auch hier genügen. Greift man nun so weit, so wüd die ganze Unzulänglichkeit dessen, was Friederike Krüger und ich auf wenigen Seiten darstellen sollen, jedermann deutlich. —
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Die Verantwortung der militärischen Führung 1918
(Friederike Krüger) I.
Nach wiederholten Eingriffen der 3. OHL in die Friedensverhandlungen von Brest-
Litovsk, ihrer Einmischung hinsichtlich der Vorgehensweise der Diplomaten und der zu erreichenden Ziele formulierte am 12. Januar 1918 Reichskanzler Georg
Graf Hertling eine Grundsatzerklärung über die staatsrechtliche Verantwortlich-
Die Verantwortung der militärischen Führung deutscher Streitkräfte
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keit, die die Spannungen zwischen den militärischen und politischen Führungs-
organen über die Zuständigkeiten dauerhaft lösen sohte: »Die Verantwortung für die Friedensverhandlungen trägt nach der Reichsverfassung allein der Reichs-
kanzler [...]. Die militärischen Stellen können ihre Forderungen nach dieser Richtung jederzeit aus eigener Initiative vorbringen, jedoch immer nur im Sinne von Anregungen, Ratschlägen, Bedenken oder Warnungen [...]. Meinungsverschiedenheiten zwischen den mihtärischen Stellen und dem Reichskanzler sind auf dem Wege gegenseitiger Aussprache zu beseitigen. Gelingt dies nicht, so ist die Entscheidung Seiner Majestät [...] einzuholen. Die erfolgreiche Entscheidung überhebt die militärischen Stehen in ahen Fähen jeder eigenen Verantwortung1.« Dies war der letzte Versuch eines Reichskanzlers im Weltkriege, eine befriedigende Lösung für die ständigen Kämpfe zwischen der Reichsleitung und der Militärgewalt um die Frage der Suprematie zu finden. Doch bereits während des Schriftwechsels zeigte sich, daß beide Seiten von unterschiedhchen Grundsätzen ausgingen. In seinem zweiten Schreiben vom 14. Januar 1918 an den Reichskanzler führte Hindenburg aus, seiner Ansicht nach sei die Erklärung entbehrhch, da sie nichts enthalte, was von der 3. OHL bestritten werde. Eine staatsrechtliche Entlastung sei nicht nötig, da eine diesbezügliche »Verantwortung für uns nicht besteht«2. Während die pohtische Führung im weiteren Verlauf von der staatsrechtlichen Verantworthchkeit ausging, argumentierten die Militärs in ihren Ausführungen auf der moralischen Ebene: »Wir fühlen uns aber nach unserer Stellung [...] vor dem deutschen Volke, vor der Geschichte und vor unserem eigenen Gewissen [...] mitverantwortlich3.« Der Hinweis des Reichskanzlers, daß der Kaiser mit seiner Entscheidung die volle Verantwortung übernehme, und seine Ausüber die verfassungsmäßige Ordnung des Reiches wurden von Ludenführungen dorff mit der Anmerkung versehen, hierbei handele es sich nicht um die Begriffsdefinition, wie sie von der OHL vertreten werde4. Daß trotz der Unterschrift Hindenburgs unter den Entwurf die Angelegenheit schon am Tage ihrer Regelung, am 23. Januar 1918, Makulatur wurde, machte der Aktenvermerk der militärischen Führung zu der letzten Ausführung des Reichskanzlers deutlich: »Wie weit das persönliche Verantwortungsgefühl die beiden Generale führt, ist ihre Sache [...]. Auch die Entscheidung Seiner Majestät kann die Generale von ihrem Gewissen nicht entlasten5.« Der Charakter der von der 3. OHL angesprochenen moralischen Verantwortung bestimmte sich aus ihrem Verständnis vom Krieg sowie implizit aus der Aufgabe der mihtärischen Führung, der Erringung des Sieges und der Sicherung des Reiches. Zum einen ergab sich eine Verantworthchkeit auf außenpolitischem 1
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Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, hrsg. von Ernst Rudolf Huber, 3 Bde, Stuttgart 1961-1964, hier Bd 2, S. 478 f. Erich Ludendorff, Urkunden der Obersten lin 1922, S. 456. Ebd. Ebd., S. 458. Ebd., S. 466.
Heeresleitung über ihre Tätigkeit 1916/18, Ber-
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Friederike Krüger/Michael Salewski
Gebiet. Die Vorstellung der Mihtärs war geprägt von der Unabwendbarkeit des nächsten kommenden Krieges. Die Überzeugung, daß das Ergebnis des Weltkrieges kein definitives sein werde, schuf die Notwendigkeit, das Kaiserreich in dem Sinne zu stärken, daß auch der nächste Waffengang siegreich beendet werden könnte. Es galt, die bestmöghche Ausgangslage zu schaffen, im Westen wie im Osten, unter Berücksichtigung der Erfahrungen des industrialisierten Krieges6. Die Eingriffe der 3. OHL in die Friedensverhandlungen von Brest-Litovsk und ihre hohen Kriegsziele fanden hier ihre Begründung. Zum anderen ergab sich die Pflicht, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Niederringung des Gegners zu erreichen. Die Wandlung des Wesens des Krieges, seine Technisierung und seine Abhängigkeit von Rohstoffzufuhren, der Erhaltung des Kampfwillens und der Rüstungsproduktion, hatte auch die benötigten Kriegsmittel verändert. In seinen Kriegserinnerungen zog Ludendorff aus der Entwicklung die Schlußfolgerung: »[Das] Heer [mußte] von der Heimat immer von neuem geistige Spannkraft, Menschen und Kriegsgerät erhalten und sich aus ihr stets verjüngen. Der Seelenzustand und der Kriegswille daheim waren zu festigen [...]. Die personellen und materiellen Kräfte des Vaterlandes waren für die Kriegführung bis zum äußersten zu entfesseln und sicherzustellen7.« Diese Ansicht kulminierte in der Forderung, daß Wirtschafts- und Innenpolitik der Militärpolitik vollständig untergeordnet werden müßten8. Die Gesamtpolitik des Staates sollte nicht mehr als eine Gehilfin der militärischen Stellen sein. Die Pohtik hatte nur dem Krieg zu dienen, mit der Aufgabe, den Anforderungen der Kriegführung Rechnung zu tragen9. Aus diesem Grund forderte die 3. OHL für sich nicht nur ein Ratgeberrecht in allen Bereichen, die die Kriegführung berühren konnten, sondern das ausschlaggebende Stimmrecht. Den sich aus dem Krieg ergebenden Zwängen zu entsprechen, war nach Ludendorffs Ansicht ursprünglich Aufgabe der Reichsleitung und des Reichskanzlers. Da diese jedoch den Anforderungen nicht nachkamen, lag es in der Verantwortung der militärischen Instanzen, ihnen Rechnung zu tragen. Angesichts der scheinbaren Unfähigkeit der zivilen Instanzen, die vielfach ungelösten Probleme des Kaiserreiches zu bewältigen und effiziente Kriegspolitik zu betreiben, war die Bereitschaft der militärischen Führung kaum zu verurteilen, ihrerseits den Kriegsnotwendigkeiten nachzukommen. Probleme ergaben sich aus der Machtverschiebung zuungunsten der Reichsleitung, aufgrund derer die 3. OHL seit ihrer Berufung zu einem politischen Machtfaktor wurde. Schon zu Beginn des Krieges hatten der aus den Einigungskriegen resultierende Prestigezuwachs des Generalstabes in der Öffentlichkeit und das gesteigerte Selbstbewußtsein des Militärs im allgemeinen zu einer freiwilligen Rücksichtnahme der 6
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Siehe hierzu Martin Kitchen, The Silent Dictatorship. The politics of the German High Command under Hindenburg and Ludendorff, 1916-1918, New York 1976, S. 166, sowie Robert B. Asprey, The German High Command at War. Hindenburg and Ludendorff Conduct World War I, New York 1991, S. 356. Erich Ludendorff, Kriegführung und Politik, Berlin 1922, S. 102 f. Siehe hierzu Erich Ludendorff, Der totale Krieg, 2. Aufl., München 1936. Ludendorff, Kriegführung (wie Anm. 7), S. 103 f.
Die Verantwortung der militärischen Führung deutscher Streitkräfte
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politischen Führung auf angeblich militärische Sachzwänge geführt. Auf dem Höhepunkt der Juhkrise hatte es der Kanzler dem Generalstabschef überlassen, die Entscheidung über die Vorgehensweise gegen die russische Mobilmachung zu treffen. Einem Menetekel gleich waren damit die Verlagerung politischer Verantwortung auf die Schultern des Generalstabes und das Unvermögen der politischen Reichsleitung offensichtlich geworden, ihre verfassungsmäßige Rolle auszufüllen10. Während des Krieges verminderten die sich verschärfenden innenpolitischen Auseinandersetzungen die Handlungsfähigkeit des Kanzlers weiter. Der Reichsleitung gelang es mit ihrer Politik nicht, eine umfassende Unterstützung im Reichstag zu erhalten, die eine konsequente Innenpolitik ermöglicht hätte. Statt dessen geriet sie durch ihr vermeintlich konzeptionsloses Vorgehen ins Kreuzfeuer der Kritik von Parteien und Verbänden. Die Unfähigkeit der Verwaltungsbehörden, der Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung Herr zu werden, sowie das ineffektive Handeln der Exekutive im wirtschaftlichen Bereich
beeinträchtigten die Stehung der Reichsleitung schließlich auch in der Bevölkerung. Angesichts dieser Situation wäre dem Kaiser als Oberstem Kriegsherrn ein besonderes Gewicht zugekommen. Aber auch er wurde seiner Verantwortung nicht gerecht11. Es zeigte sich sehr früh, daß er nicht in der Lage war, die ihm zugedachte Rolle dauerhaft auszufüllen. Planung und Maßnahmen der Exekutive erschienen unkoordiniert. Anstöße zur Beseitigung politischer Mißstände oder wirkungsvolleren Kriegspohtik erfolgten nicht, obwohl sie um so dringlicher wurden, je länger der Krieg dauerte12. Die Hoffnungen und Erwartungen konzentrierten sich schließlich auf Hindenburg und Ludendorff. Sie besaßen nach dem öffentlichen Verständnis seit der Schlacht von Tannenberg den Schlüssel zum Sieg. Damit erhielt die 3. OHL von vornherein ein politisches Gewicht, in dessen Konsequenz die tatsächliche Übertragung politischer Macht durch die Parteien stand, wie sich in der Frage des uneingeschränkten U-Boot-Krieges 1916 und der Julikrise 1917 zeigte13. Die militärische Führung konnte jedoch das pohtische Vakuum nur ungenügend ausfühen. Es erwies sich, daß die Ausweitung der militärischen Teilverant10
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Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789,8 Bde, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1957-1991, hier Bd 5, S. 203. Regierte der Kaiser? Kriegstagebücher, Aufzeichnungen und Briefe des Chefs des MarineKabinetts Admiral Georg Alexander von Müller 1914-1918, hrsg. von Walter Görlitz, Göttingen 1959. In nahezu jedem Memorienband finden sich ähnliche Urteile. Holger Afflerbach, Falkenhayn. Politisches Denken und Handeln im Kaiserreich, München 1996 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd 42), S. 235-242, sowie Wilhelm Deist, Voraussetzungen innenpolitischen Handelns des Militärs im Ersten Weltkrieg. Zur innenpolitischen Tätigkeit der Obersten Heeresleitung, in: Ders., Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd 34), S. 138-152, bes. S. 138. Zum uneingeschränkten U-Boot-Krieg siehe Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des »Militarismus« in Deutschland, 4 Bde, München 1959-1968, hier Bd 3, S. 331; zur Julikrise siehe Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), Bd 5, S. 297; Michael Erzberger, Erlebnisse im Weltkrieg, Stuttgart, Berlin 1920, S. 258.
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Friederike Krüger/Michael Salewski
wortung auf den Bereich der gesamten Staatsführung im höchsten Maße proble-
matisch war. Ludendorff als maßgeblicher Initiator der Vorgehensweise der 3. OHL sah seine Verantwortung allein auf militärischem Gebiet. Eingriffe in die Politik erfolgten vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Kriegführung. Eine politische Verantwortung ergab sich in seinen Augen damit nicht, vor der er ohnehin zurückscheute. Der Erste Generalquartiermeister strebte weder diktatorische Vollmachten an, wie sie ihm Oberst Max Bauer mehrmals nahelegte, noch die verfassungsrechtliche Stellung durch Übernahme des Reichskanzlerpostens14. Seine maßgeblichen Ziele waren die Erringung des Sieges und die Sicherung des Reiches: »Die O.H.L. war so von dem Kriegsgedanken erfüllt, daß sie gar nicht verstehen konnte, wenn es nun bald und immer wieder hieß, sie »treibe Politik«. Sie tat auch jetzt allein das, was die Kriegführung erforderte15.« Dabei ignorierte Ludendorff, daß dieses Handeln angesichts der engen Wechselbeziehung zwischen Politik und Militär de facto politisches Handeln war. Er verkannte ebenfalls, daß auch mit einer versuchten Konzentration auf Kriegsnotwendigkeiten eine Verantwortung einhergehen mußte, die über die rein militärische hinaus-
reichte. Bei der Durchsetzung seiner Forderungen beschränkte sich Ludendorff auf rein militärische Erwägungen, wirtschaftliche oder poütische Gesichtspunkte wurden fast vollständig ausgeklammert. Die Bemühungen der Reichsleitung, die militärischen Wünsche mit politischen Erfordernissen in zu bringen, bheben vielfach ergebnislos. Die 3. OHL teüte die Vorurteile und die Verachtung gegenüber Politikern mit den übrigen Militärs. Widerstände der Reichsleitung wurden von ihr kaum berücksichtigt, sondern als bloße >Schlappheit< interpretiert. Die einzige Folge war häufig der Versuch, widerspenstige Amtsträger durch weniger zaudernde Politiker ersetzen zu lassen, die mit der Vorgehensweise der Miütärs übereinstimmten. Dies sollten neben Bethmann Hollweg unter anderem der Chef des Admiralstabes, Henning v. Holtzendorff, der Chef des Zivükabinetts, Rudolf v. Valentini, und der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Richard v. Kühlmann, erfahren. Auch die Entlassung von Reichskanzler Michaelis und die Berufung Hertlings in dieses Amt erfolgten im Zusammenwirken mit der 3. OHL16. Daß die Methode der müitärischen Führung auch gegen den erklärten Willen des Kaisers immer wieder erfolgreich war, lag ebenfalls an der veränderten etablierten inneren Ordnung. Während noch in den ersten Jahren des Krieges das kaiserliche Placet auch vom Generalstab als noli me tangere wurde, angesehen änderte sich dies unter der 3. OHL. Die Anfänge der Auflösungserscheinung zeigten sich bereits in den ersten Kriegsjahren. Im Juni und 1915 sowie im August März 1916 hatte Alfred v. Tüpitz die Entscheidung des Kaisers gegen den uneingeschränkten U-Boot-Krieg nachträgüch durch Demissionsgesuche zu revidieren
Übereinstimmung
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Zum Diktaturvorwurf siehe Deist, Voraussetzungen (wie Anm. 12), S. 150. Ludendorff, Kriegführung (wie Anm. 7), S. 105 f. Kitchen, The Silent Dictatorship (wie Anm. 6), S. 275.
Die Verantwortung der militärischen Führung deutscher Streitkräfte
383
versucht17. Die ersten beiden »Erpressungsversuche« waren vom Kaiser mit dem Befehl des Bleibens konterkariert worden, während das dritte Gesuch zur Verabschiedung des Großadmirals geführt hatte. Das sich in diesem Verhalten widerspiegelnde gewandelte Verhältnis zum Monarchen erhob die 3. OHL für sich zur Norm. Für den Ersten Generalquartiermeister hatte die durch Wilhelm II. diskreditierte Monarchie nicht mehr den Stehenwert, der in seinen Augen dem Vaterland zukam. Entscheidungen des Kaisers, die nach Ludendorffs Ansicht nicht den militärischen Notwendigkeiten entsprachen, waren für ihn nicht bindend. Die Voraussetzung für den letztlichen Erfolg seines Vorgehens ergab sich aus der veränderten Stehung des Kaisers in der Öffentlichkeit. Die Symbolkraft des Kaisermythos, die trotz des persönlichen Versagens Wilhelms II. die Basis seiner Herrschaft in den ersten Jahren weitgehend bewahrt hatte, löste sich von seiner Person. Mit der Verschärfung der Lebensmittelknappheit 1917 steigerte sich die Kritik am Kaiser18 und bereitete den Boden für die Übertragung des Symbolgehalts auf Hindenburg. Der Generalstabschef entsprach im öffentlichen Empfinden eher dem Büd eines >Volkskaisers< als Wilhelm II. Er wurde de facto zum Hausmeier und schränkte damit den Kaiser in seiner Handlungsfreiheit ein. Angesichts des Ansehens von Hindenburg und Ludendorff konnte Wilhelm II. bei Auseinandersetzungen zwischen militärischer und politischer Führung nicht die Gefahr einer Demission der beiden Militärs eingehen, die zur Erreichung ihrer Ziele die Abschiedsdrohung als Druckmittel bewußt einsetzten. So herausragend die Position der 3. OHL im Kaiserreich auch war, ob man sie als Diktatur bezeichnen kann, ist fraghch. Ihre Stehung ist mit dem liberalen Diktaturbegriff als der »antiparlamentarische[n] und unbeschränkte[n] Macht eines einzelnen oder einer Gruppe von einzelnen«19 nur bedingt in Verbindung zu bringen. Zweifellos forderte die 3. OHL im außenpolitischen Bereich bei allen Fragen von Belang, die mit der Kriegspolitik in Beziehung standen, das ausschlaggebende Stimmrecht. Ihr Verhalten während der sich häufig lang hinziehenden Debatten ist jedoch mit dem Adjektiv »diktatorisch« nicht zutreffend umschrieben. Das gleiche gilt für ihre Handlungsweise im innenpolitischen Bereich. Sie ergriff in bezug auf die inneren Verhältnisse vornehmlich die Initiative, wenn es um die Durchsetzung sogenannter militärischer Sachzwänge ging. Dabei zeigte sich, daß sie in vielen Fällen gegen den Widerstand der Reichsleitung und des Reichstages zu kämpfen hatte. In zentralen Punkten, wie bei der Ausdehnung des Kriegslei17
18
19
Siehe hierzu die Haltung des älteren Moltke, der in einer ähnlichen Situation während des deutsch-französischen Krieges, am 26. Januar 1871, mit einer Gegenvorstellung reagierte. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), Bd 4, S. 538. Siehe hierzu allein in dem von Görlitz hrsg. Band Regierte der Kaiser? (wie Anm. 11) die Eintragungen vom 12. Mai 1916 (S. 177), 2. September 1916 (S. 218 f.), 19. März 1917 (S. 267), 23. März 1917 (S. 268), 28. Juni 1917 (S. 297), 3. September 1917 (S. 317 f.), 11. November 1917 (S. 332), 17. Juni 1918 (S. 384), 25. Juni 1918 (S. 387) und 17. August 1918 (S. 402). Ernst Nolte, Diktatur, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck, Bd 1, Stuttgart 1972, S. 900-924, bes. S. 923.
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Friederike Krüger/Michael Salewski
stungsgesetzes auf Frauen im Jahre 191620 oder bei der Modifikation des Hilfs-
dienstgesetzes zur umfassenderen Heranziehung der Arbeiterschaft für das Hindenburgprogramm in den letzten beiden Kriegsjahren21, konnte sie ihre Vorstellung nicht durchsetzen. Auch der erfolglose Versuch der militärischen Führung, die Juliresolution des Reichstages 1917 zu unterbinden, in der für einen Verständigungsfrieden eingetreten wurde22, zeigte die Grenzen ihrer Macht. Hinsichtlich der Machtverteilung im Kaiserreich kam der 3. OHL zwar das größte Gewicht zu, von einer auf indirektem Wege durchgesetzten Diktatur zu sprechen, greift jedoch zu
weit.
II. Das geringe Gewicht der pohtischen Führung und die fast unangefochtene Machtstellung der 3. OHL zeigten sich schließhch noch einmal in der letzten zentralen strategischen Weichenstellung des Kaiserreiches: in dem Entschluß Ludendorffs zugunsten einer letzten, alles entscheidenden Operation im Westen. Die absehbare Erschöpfung der Mittelmächte hatte eine Entscheidung über das weitere Vorgehen, ob strategisch offensiv oder defensiv, notwendig gemacht. Der Kriegseintritt der Amerikaner eröffnete den Alliierten den Zugang zu den benötigten personellen und wirtschaftlichen Ressourcen. Ab dem Frühjahr 1918 war vermehrt mit amerikanischer Unterstützung auf dem westlichen Kriegsschauplatz zu rechnen, der von deutscher Seite nichts entgegengesetzt werden konnte. Ludendorff war seit dem Frühjahr 1917 bekannt, daß er ab Frühhng 1918 keinen Personalersatz mehr zu erwarten hatte23. Aber nicht nur der eingeschränkte Mannschaftsersatz gab Grund zur Besorgnis, sondern auch der innere Zustand der Armee. Die Kriegsmüdigkeit im Reich und in Österreich zog immer weitere Kreise. Seit Herbst 1916 war es auch in der Armee vermehrt zu Gehorsamsverweigerungen gekommen. Die zunehmenden Schwierigkeiten in der Lebensmittelversorgung gingen ebenfalls zu Lasten der Verpflegung der Soldaten, die immer weiter verringert werden mußte und eine verminderte Leistungsfähigkeit der Mannschaft zur Folge hatte. Darüber hinaus konnte die Armee nicht mit den benötigten Kriegsmaterialien ausgestattet werden, da der deutschen Industrie die notwendigen Rohstoffe nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung standen. Zu 20
21
22
Militär und Innenpolitik im Weltkriege 1914-1918, bearb. von Wilhelm Deist, 2 Teile, Düsseldorf 1970 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 2. Reihe: Militär und Politik. Im Auftrag der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien und des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes, Bd 1 /I u. l/II), hier Teil 1, Dok. 188, S. 484. Ebd., Dok. 238, S. 624, sowie Dok. 244, S. 642. Siehe hierzu Asprey, High Command (wie Anm. 6), S. 331. Wilhelm Groener, Lebenserinnerungen. Jugend, Generalstab, Weltkrieg, hrsg. von Friedrich Frhr. Hiller v. Gaertringen, Göttingen 1957 (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd 41), S. 421.
Die Verantwortung der militärischen Führung deutscher Streitkräfte
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einem weiteren Handicap gestaltete sich der Ersatz an Pferden, der nur noch eine eingeschränkte Ausstattung der Infanteriebataillone mit Wagen und einen unzureichenden Ausbau der Nachschubformationen erlaubte. Es war bezeichnend für die Verfassungswirkhchkeit des Reiches, daß eine Auseinandersetzung über die strategische Vorgehensweise 1918 zwischen der mihtärischen und der pohtischen Führung nicht stattfand. Im Januar 1917 war die Idee einer entscheidungssuchenden Offensive an der Westfront aufgetaucht24, mit der sich der Generalstab ab Oktober 1917 detaillierter auseinandersetzte. Für ihn kam nur ein offensives Vorgehen in Frage, »um [...] die politische und wirtschaftliche Weltstellung zu sichern, derer wir bedürfen«25. Die Ausgangssituation für einen Entscheidungsschlag zu Beginn des Jahres 1918 schien mit dem Ausscheiden Rußlands aus dem alhierten Bündnis auch günstig zu sein. Die dadurch ermöglichte Truppenverschiebung an die Westfront erlaubte es der deutschen Armee, eine zahlenmäßige Überlegenheit über die alhierten Truppen zu gewinnen. Der Mangel an Material und die fehlende Beweglichkeit aufgrund der ungenügenden Anzahl an Pferden ließen jedoch schon zu Beginn der Vorbereitungszeit Zweifel an der Möglichkeit eines entscheidungssuchenden Waffengangs laut werden26. Die Kritik verdichtete sich mit dem Entschluß Ludendorffs zugunsten der Michael-Offensive. Dieser Angriff sohte auf rund 90 km Frontbreite im Bereich St. Quentin über das durch die Sommeschlacht verwüstete Gelände führen und die gegnerische Front nach Nordwesten aufrollen. Seine Erfolgschancen wurden angesichts der Erfahrungen der letzten Kämpfe, besonders der Cambrai-Offensive, von der näheren mihtärischen Umgebung Ludendorffs teilweise als sehr gering eingestuft27. Selbst Ludendorff war von einem Erfolg nicht vollständig überzeugt. Anfang Februar wurde immer deutlicher, daß er aus diesem Grund die Festlegung des Hauptstoßes nicht dogmatisch betrachtete. Vielmehr wurde eine Verschiebung des Schwerpunktes vor und im Verlauf der Offensive an die Front der südlichen, der 18. Armee in Aussicht genommen, bei der insgesamt die günstigsten taktischen Angriffsbedingungen lagen28. Ende Januar bzw. Anfang Februar wurde 24
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Wilhelm Deist, Der militärische Zusammenbruch des Kaiserreiches. Zur Realität der »Dolchstoßlegende«, in: Militär, Staat und Gesellschaft. Studien zur preußisch-deutschen Militärgeschichte, München 1991 (= Beiträge zur Militärgeschichte, Bd 34), S. 211-234, bes. S. 214. Schreiben Hindenburgs an den Kaiser vom 7. Januar 1918, in: Ludendorff, Urkunden (wie Anm. 2), S. 78.
Rupprecht, Kronprinz von Bayern, Mein Kriegstagebuch, hrsg. von Eugen v. Frauenholz, 3 Bde, hier Bd 2, Berlin 1929, S. 281, 297. Ebd., S. 326, 336; O. v. Moser, Ernsthafte Plaudereien über den Weltkrieg (1914-1918). Eine kritische militärpolitische Geschichte des Krieges, Stuttgart 1925, S. 246; Kronprinz Wilhelm, Meine Erinnerungen aus Deutschlands Heldenkampf, Berlin 1923, S. 292; Max v. Gallwitz, Erleben im Westen 1916-1918, Berlin 1932, S. 301; Groener, Lebenserinnerungen (wie Anm. 24), S. 389; Albrecht v. Thaer, Generalstabsdienst an der Front und in der OHL, hrsg. von Siegfried August Kaehler, Göttingen 1958 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-Historische Klasse, Folge 3, Nr. 40), S. 169. Konrad Kraft von Dellmensingen, Der Durchbruch. Studie an Hand der Vorgänge des Weltkrieges 1914-1918, Hamburg 1937, S. 169; Max Hoffmann, Der Krieg der versäumten Gele-
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ebenfalls entschieden, bei einem Stocken des Angriffes die Erneuerung an einem anderen Punkt zu versuchen29, sollte Michael nicht den entscheidenden Sieg erbringen. Der nachfolgende Schlag konnte jedoch wegen der ungünstigen Kräftelage nur mit äußerst eingeschränkter Ausstattung in Aussicht genommen werden. Seine Erfolgschancen waren von vornherein sehr gering. Damit wurde aber der Grundstein für das >System der Hammerschläge< gelegt, ein Alternativprogramm, mit dem die feindliche Front zertrümmert werden soüte. In diesem Sinne erklärte Wilhelm II. schon am 19. Februar 1918 in einem Gespräch mit dem bayrischen Kronprinzen Rupprecht, »man [rechne] auch nicht mit dem Gelingen eines großen operativen Durchbruchs, sondern damit, durch einander folgende Angriffe an verschiedenen Stellen den Gegner möglichst zu schädigen30.« Über die Zweifel der militärischen Führung wurden Kaiser und Reichsleitung nicht informiert. Statt dessen gab der Generalstab durch sein Festhalten an den hochgesteckten Kriegszielen ein Bild größter Siegesgewißheit. Im Januar und Februar 1918 wurde von politischer Seite versucht, die Zustimmung der OHL zu einer Erklärung über die Wiederherstellung Belgiens zu erhalten. Sie sollte den Hauptpunkt einer politischen Offensive darstellen, die der militärischen vorauszugehen hatte, um die Öffentlichkeit im gegnerischen Lager zugunsten des Reiches zu beeinflussen und gegebenenfalls die militärische Offensive verzichtbar zu machen. Die Anfragen wurden von Ludendorff dilatorisch behandelt und verliefen schließlich im Sande31. Auch Warnungen und zweifelnde Stimmen in der Öffentlichkeit wurden durch propagandistisch inszenierten Optimismus unterdrückt. Es entstand schließüch aügemein der Eindruck, daß man mit größter Zuversicht in die letzte Runde gehen könne und der Krieg bald ein gutes Ende nehmen werde. Die Entwicklung der ersten Angrüfstage schien den hohen Erwartungen voUständig zu entsprechen. Mit der Verleihung des Eisernen Kreuzes mit goldenen Strahlen, einer Sonderauszeichnung in Analogie zur Auszeichnung Blüchers für den Sieg von BeUe-Alliance, an Hindenburg und des Großkreuzes des Eisernen Kreuzes an Ludendorff am 24. März 191832 wurde in der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt, die Hauptschwierigkeiten der Offensive seien überwunden. Dabei hatte man zwar große Erfolge errungen, vom endgültigen Ziel war man jedoch
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genheiten, München 1923, S. 246; Ludendorff, Krieg (wie Anm. 8), S. 74; Ernst Kabisch, Streitfragen des Weltkrieges 1914-1918, Stuttgart 1924, S. 249. Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 26), Bd 2, S. 327; Karl v. Einem gen. v. Rothmaler, Ein Armeeführer erlebt den Weltkrieg. Persönliche Aufzeichnungen des Gen. Obersten v. Einem, hrsg. von Junius Alter, Leipzig 1938, S. 376; Moser, Plaudereien (wie Anm. 27), S. 263; Otto v. Moser, Das militärisch und politisch Wichtigste vom Weltkriege, Stuttgart 1926, S. 48. Siehe allgemein auch Groener, Lebenserinnerungen (wie Anm. 24), S. 385, 423. Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 26), Bd 2, S. 331. Ritter, Staatskunst (wie Anm. 13), Bd 4, S. 249 f.
Der Europäische Krieg in aktenmäßiger Darstellung, Bd 8, 1. Hälfte (Januar-März 1918), Leipzig o. J. (= Deutscher Geschichtskalender. Sachlich geordnete Zusammenstellung der wichtigsten Vorgänge im In- und Ausland, hrsg. von Friedrich Purlitz, 34. Jg., Bd 1,1. Hälf-
te), S. 459.
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noch weit entfernt. Die Überdehnung des Schlachtfeldes, der Mangel an Transder Truppe forderten portmöghchkeiten und die dauernde schheßlich ihren Tribut. Am 27. März33 und vermehrt am 29. März traten bei den Oberbefehlshabern der deutschen Armeen Zweifel an den weiteren Erfolgsaussichten des Angriffes auf34. Am Abend des 28. März hielt Ludendorff die ursprüngliche Operation gegen die Engländer für gescheitert, verlegte aber den Hauptdruck in den Süden gegen die französischen Linien. Gleichzeitig griff er auf das Alternativprogramm zurück: am selben Tag erfolgte der Befehl für den Angriff >Georgette< im Raum Armentieres, der acht bis zehn Tage später erfolgen sollte35 und schließhch am 9. April begann. Mit dieser Entscheidung wurde der Eindruck erweckt, als ob die »Große Schlacht in Frankreich« von vornherein in diesem Sinne geplant war und konsequent durchgeführt wurde. Die Michael-Offensive, ursprünglich als entscheidender Schlag gedacht, verlor an Gewicht und wurde nun die erste von mehreren Angriffsphasen. Damit brauchte der Erste Generalquartiermeister vor sich selbst und der Öffentlichkeit das Scheitern des Angriffes nicht mehr einzugestehen. Ihre Einstellung am 5. Aprü wurde demgemäß in der Heimat kaum pubhk. Weder im Reichstag noch in der Bevölkerung herrschte eine Vorstellung über den tatsächlichen Verlauf der Kämpfe, sondern hier erwartete man auch nach Beendigung des Angriffes mit jedem Tag den Sieg36. Dabei war mit dem Festlaufen der Michael-Offensive ein entscheidender Erfolg gegen die Alhierten kaum noch möglich. Einem äußerst ungünstigen Frontverlauf standen die eigenen Einbußen gegenüber, die nur minimal geringer gewesen waren als die der Alliierten. Während die Verluste der Gegner aber durch die amerikanische Unterstützung aufgefangen werden konnten, waren die der Deutschen nicht mehr zu ersetzen. Nahezu alle zur Verfügung stehenden Kräfte hatte die Führung in die Waagschale geworfen. Annähernd der gesamte Pferdebestand war vernichtet worden, dessen Verlust nicht mehr ausgeghchen werden konnte und die weitgehende Unbeweglichkeit des deutschen Heeres nach sich zog. Der morahsche Niedergang in der Truppe, nur durch die Aussicht auf den Sieg aufgehalten, nahm sofort nach der Einstehung der Michael-Offensive immer bedenklichere Ausmaße an. Die ihr folgende Kette von Angriffsschlägen stand im völhgen Gegensatz zu der inneren
Überbeanspruchung
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Kronprinz Wilhelm, Erinnerungen (wie Anm. 28), S. 309 f., sowie Rupprecht, Kriegstage-
buch (wie Anm. 26), Bd 2, S. 358.
Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 26), Bd 2, S. 363; Der Weltkrieg 1914-1918. Im Auftrag des Oberkommandos des Heeres bearb. und hrsg. von der Kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt des Heeres. Die militärischen Operationen zu Lande, Bd 14, Berlin 1944 [Nachdruck 1956 mit Nachtrag an Korrekturen], S. 326. Dellmensingen, Durchbruch (wie Anm. 29), S. 214, sowie Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 26), Bd 2, S. 362. Adjutant im Preußischen Kriegsministerium Juni 1918 bis Oktober 1918. Aufzeichnungen des Hauptmanns Gustav Böhm. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Heinz Hurten und Georg Meyer, Stuttgart 1977 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd 19), S. 23 f., sowie Prinz Max von Baden, Erinnerungen und Dokumente, Stutt-
gart, Berlin, Leipzig 1927, S. 83 f.
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Situation und der tatsächlichen militärischen Stärke. Kaum mehr als ein Abgesang waren der Angriff bei Villers-Bretonneux, drei Tage nachdem >Georgette< festgelaufen war, am 23. April, die Unternehmung am Chemin des Dames und nordwestlich Reims Ende Mai, die Offensive vom 9. Juni bei Nyon und zu guter letzt der Mitte Juh einsetzende Angriff beiderseits von Reims. Sie vergrößerten nur die Verlustziffern, rieben die letzten Reserven auf und trieben den Zusammenbruch voran. Die ersten Zweifel an der Möglichkeit eines militärischen Endsieges traten bei Ludendorff Anfang Mai auf. In einem Gespräch mit Oberst Hans v. Haeften, Leiter der militärischen Stelle des Auswärtigen Amtes, erklärte er, daß ohne weiteren Ersatz die Entscheidung des Krieges militärisch nicht mehr herbeigeführt werden könne37. Bei Haeften setzte sich der Eindruck fest, daß verstärkt Friedensfühler ausgestreckt werden müßten. Mehrmals betonte er dem Auswärtigen Amt gegenüber die Notwendigkeit, den Krieg zu beenden; ein Schritt, mit dem Ludendorff grundsätzlich übereinstimmte. Öffentlich war der Erste Generalquartiermeister zu diesem Eingeständnis jedoch nicht bereit. Bei einer Besprechung im Großen Hauptquartier in Spa am 11. Mai zwischen dem Reichskanzler, dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Unterstaatssekretär Wilhelm v. Radowitz und Oberst v. Winterfeldt sprach die 3. OHL mit keinem Wort mehr die Notwendigkeit eines Friedensschlusses an. Auch die militärischen Bedenken bezüglich der Erfolgschancen weiterer Offensiven wurden nicht thematisiert38. Ihre Auffassung hingegen hatte sich nicht geändert. In einem Brief an Kronprinz Rupprecht vom 17. Mai 1918 wiederholte sie, daß schwere Verluste nicht mehr ertragen werden könnten, was Rupprecht zur Schlußfolgerung veranlaßte: »wir [können] den Krieg militärisch nicht gewinnen, denn ohne Verluste ist ein entscheidender Sieg aus-
geschlossen39.«
Schheßlich war es der bayrische Thronfolger, der versuchte, die Reichsleitung über die mihtärische Situation aufzuklären. In einem Brief vom 1. Juni 1918 schilderte er Hertling die Lage und legte ihm nahe, Friedensschritte einzuleiten40. Nun zeigten sich die Nachteile des uneingeschränkten militärischen Führungsanspruches, den Ludendorff und Hindenburg zuletzt bei der Auseinandersetzung in der polnischen Grenzfrage im Januar 1918 erfolgreich durchgesetzt hatten. Obwohl es sich bei dem Kronprinzen um einen der maßgeblichen Befehlshaber des Krieges handelte, ignorierte Herthng die Warnung weitgehend. Statt sich sofort mit Rupprecht persönlich in Verbindung zu setzen dieser erklärte sich sogar bereit, selbst den Reichskanzler aufzusuchen —, schlug Hertling vor, sich erst einen Monat später zu treffen. An seiner Haltung änderten auch die von Ludendorff gebilligte Denkschrift von Oberst v. Haeften, in der eine ähnliche Auffas—
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Bernhard Schwertfeger, Das 1918, Potsdam 1937, S. 64. Ebd., S. 65.
Weltkriegsende. Gedanken über die deutsche Kriegführung
Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 26), Bd 2, S. 398. Ebd., S. 406. Zur Antwort, S. 408.
Die Verantwortung der militärischen Führung deutscher Streitkräfte
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sung vertreten wurde, und die Warnung des Staatssekretärs Karl Helfferich vom 18. Juni kaum etwas. Bei der Begegnung mit dem bayrischen Thronfolger am 19. Juli beteuerte der Reichskanzler, sich in den nächsten Monaten um einen Friedensschluß bemühen zu wollen. Doch seme Vorgehensweise und das Verhalten der pohtischen Führung in den letzten Wochen des Krieges zeigten, daß Hertling überwiegend in seinen Illusionen verhaftet blieb41. An dieser Haltung war die müitärische Führung nicht unschuldig. Ihr ambivalentes Verhalten im Juni mußte die von den Mihtärs skizzierte Lage wie Schwarzseherei aussehen lassen. Am 24. Juni legte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes in einer Reichstagsrede dar, daß ohne diplomatische Verhandlungen der Krieg nicht zu beenden sei. Obwohl seine Ausführungen sich mit der von Ludendorff gebilligten Denkschrift Haeftens deckten, wurde von der 3. OHL ein Sturm der Entrüstung inszeniert. Sie war weiterhin nicht bereit, die Niederlage in der Öffentüchkeit einzugestehen. Am 25. Juni ging ein Telegramm des Generalstabschefs an den Reichskanzler, in dem auf den niederschmetternden Eindruck der Rede auf die Armee hingewiesen wurde. Auf der Berliner Pressekonferenz erfolgte die Erklärung, man sei von den Ausführungen aufs Peinüchste überrascht worden42. Ebenfaüs am selben Tag erging eine Weisung Ludendorffs an Oberst v. Haeften, sich an Friedensofferten nicht mehr zu beteiligen. Und schließlich setzte man am 8. Juli die Entlassung Kühlmanns durch, gegen den erklärten Widerstand des Reichskanzlers und des Kaisers. In den nachfolgenden Wochen geriet die müitärische Führung wiederholt ins Kreuzfeuer der Kritik, nicht nur in der Presse, sondern auch in ihrer näheren Umgebung. Zweifel an den Entscheidungen Ludendorffs wurden geäußert, der immer wieder zwischen realistischer Akzeptanz und Wunschträumen schwankte. Schon am 2. Mai hatte Oberst Siegfried Albrecht v. Thaer über ein Treffen mit Ludendorff und Hindenburg in sein Tagebuch notiert: »Sie sind fest überzeugt, den Feind friedensmürbe zu machen, H. glaubt es, L. hofft es bestimmt [...]. Unsereiner wird natürlich stark beeindruckt, wenn er solche Urteile aus solchem Munde hört. Glückselig wäre ich dabei! Wie gerne heße ich meine Sorgen fallen! Aber leider habe ich selber bisher mich meist als einen zu großen Optimisten erkannt43.« In die gleiche Richtung gingen die Aufzeichnungen von General Fritz v. Loßberg. Er erklärte Mitte Juli, daß »die O.H.L. mehr oder minder frontfremd« sei, sie rechne mit Armeen, die nicht mehr »als vollkampfkräftig [...] angesehen werden konnten«44. Als am 18. Juli die deutsche Armee endgültig die Initiative verlor, weigerte sich Ludendorff weiterhin, die Realität zu akzeptieren. Am 4. August notierte Oberst Hermann Ritter Mertz v. Quirnheim: »[Wetzell] klagt ununterbrochen über die Entschlußlosigkeit Exz. Ludendorffs, sieht keinen Ausweg. [...] Major Niemann ist erschrocken über den Grad, wie Ludendorff verprellt ist [...]. N. sagt, 41
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Ritter, Staatskunst (wie Anm. 13), Bd 4, S. 392 f. Schwertfeger, Weltkriegsende (wie Anm. 37), S. 75. Thaer, Generalstabsdienst (wie Anm. 27), Eintragung vom 2. Mai 1918, S. 198. Fritz v. Loßberg, Meine Tätigkeit im Weltkriege 1914-1918, Berlin 1939, S. 346 f.
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daß [Ludendorff] die Hoffnung auf Beendigung des Krieges mit dem Schwert nicht sinken läßt. Umso rätselhafter die jetzige Entschlußlosigkeit45.« Am 8. August zeigte sich bei Amiens unwiderruflich, daß das deutsche Heer
nicht mehr in der Lage war, dem Druck der alliierten Truppen standzuhalten. Doch noch immer war Ludendorff nicht bereit, endgültig die Konsequenzen zu ziehen. Er erkannte zwar den desolaten Zustand der Armee an, leitete aber nicht die notwendigen mihtärischen Schritte ein46. Seine Vorgehensweise führte General Hermann v. Kühl zu der Beurteilung: »das ist die Operation eines Spielers. Ich fürchte, daß der Ehrgeiz Ludendorff dazu verleitet. Er wird sein Prestige nicht aufgeben und setzt das Letzte daran47.« Noch in der Nacht vor dem ersten Kronrat, am 12. August, schilderte der Erste Generalquartiermeister Oberst v. Haeften rückhaltlos die militärische Lage und erklärte einen sofortigen Friedensschluß für unabdingbar eine Auffassung, an der er in der nachfolgenden Zeit in Gesprächen mit seiner näheren mihtärischen Umgebung festhielt48. Die Quintessenz der Besprechungen in Spa vom 13. und 14. August war hingegen, daß zwar keine »kriegerischen Handlungen« mehr möglich seien, aber die Hoffnung bestehe, durch strategische Defensive dem Feind den eigenen Willen aufzuzwingen. Die Ausführungen des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes, Admiral Paul v. Hintze, der über die politische Situation der Mittelmächte rückhaltlos Auskunft gab, beurteilte Ludendorff als »schwarzseherisch«. Das Ergebnis der Sitzungen in Spa war nicht mehr als die ahgemeine Illusion, eine Wendung zum Besseren sei noch möglich: »Die Kriegslage spiegelte sich [...] derart wieder, daß [...] zwar die Weiterführung des Krieges für zwecklos [gehalten], daß [...] es aber für unerläßlich [angesehen wurde], das Abflauen und das endhche Stillstehen der feindlichen Offensive abzuwarten49.« Die Inaktivität der militärischen Führung, auf politischem und militärischem Gebiet die Konsequenzen aus der Erkenntnis der bevorstehenden Niederlage zu ziehen, heß das Vakuum im pohtischen Bereich erneut deuthch erkennbar werden. Dem Kaiser war schon am 22. Juli ein ungeschminkter Bericht über die tatsächliche militärische Lage zugekommen50. Noch am 11. August hatte er in Avesnes erklärt, »die Bilanz ziehen [und] den Krieg beenden«51 zu müssen. Doch er unternahm nichts, seinen Worten Taten folgen zu lassen. Der Reichskanzler, vor den Besprechungen von militärischer Seite erneut auf die desolate Situation hinge—
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BA-MA, N 46/63 Nachlaß Wilhelm Groener, Bl. 212.
Siegfried August Kaehler, Zur Beurteilung Ludendorffs im Sommer 1918, in: Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen aus dem Jahre 1953. Philologisch-Historische Klasse, Göttingen 1953, S. 1-28, bes. S. 20. Wolfgang Foerster, Der Feldherr Ludendorff im Unglück. Eine Studie über seine seelische Haltung in der Endphase des ersten Weltkrieges, Wiesbaden 1952, S. 55.
Schwertfeger, Weltkriegsende (wie Anm. 37), S. 91 f. Siehe auch zu ähnlichen Äußerungen Ludendorffs, Kaehler, Beurteilung (wie Anm. 46), S. 20. Notiz des Sohnes des Reichskanzlers, zitiert in: Schwertfeger, Weltkriegsende (wie Anm. 37), S. 96.
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Groener, Lebenserinnerungen (wie Anm. 23), S. 383, 396. Schwertfeger, Weltkriegsende (wie Anm. 37), S. 91.
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wiesen52, zog, wie der Chef des Marinekabinetts, Georg Alexander v. Müher, in sei-
Tagebuch notierte, die »Vogel Strauß-Taktik«53 vor: Offizielle Friedensschritte sollten erst nach Erfolgen im Westen unternommen werden. Genausowenig wie die amtlichen Stellen wurden die Parteien in den letzten Kriegsmonaten aktiv. Das Plenum des Reichstages war vom Juli bis Oktober vertagt, der Hauptausschuß bis September. Als die Parteiführer am 21. August im Reichsamt des Innenem
über einen >beschönigten< mihtärischen Stand aufgeklärt wurden, waren sie der militärischen Wende dermaßen bestürzt, daß sie die benötigten politischen Aktionen der Exekutive überließen54. Diese konzentrierte sich vornehmlich auf öffentliche Friedenskundgebungen, womit die notwendigen Maßnahmen erneut auf die militärischen Stellen zurückfielen. Doch die 3. OHL war nicht in der Lage, die benötigten Schritte zu unternehmen. Ihr Verhalten blieb auch im September ambivalent. Sie schwankte weiterhin zwischen Reahsmus, gepaart mit einem immer offensichtlicher werdenden Bemühen, die Verantwortung für die erfolgten Fehlschläge auf Soldaten und Befehlshaber abzuwälzen, und Selbsttäuschung55. Noch Mitte September notierte Major Edwin v. Stülpnagel, daß der Erste Generalquartiermeister sich weiterhin nicht dazu überwinden könne, trotz der täglichen Warnungen durch seine Mitarbeiter, die momentane Situation dem Reichskanzler ungeschminkt mitzuteilen56. Ludendorff war der Auffassung, wie Oberst Wilhelm Heye schrieb, seiner Pflicht entsprochen zu haben: Hintze sei genügend informiert worden, um die nötigen Friedensschritte einzuleiten. Zu der Erkenntnis, daß er angesichts eines zwar gesunkenen, aber noch immer großen Ansehens in der Bevölkerung und seiner weit über das militärische hinausreichenden Position auch Verantwortung für die politische Entwicklung habe, rang der Erste Generalquartiermeister sich nicht durch. »Ludendorff, der für sein Deutschland nur Sieg und Ruhm erträumte und dafür über vier Jahre ohne jede Rast und Ruhe gearbeitet hatte, konnte sich nicht an den Gedanken gewöhnen, daß von ihm aus zum Frieden getrieben werden müsse, und wiegte sich in die Hoffnung ein, dieser Schritt würde ohne besondere Veranlassung der Obersten Heeresleitung nun durch den Reichskanzler im Sinne der Vorschläge Wilsons veranlaßt werden57.« ren
von
Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 26), Bd 2, S. 423. Regierte der Kaiser? (wie Anm. 11), S. 402. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 10), Bd 5, S. 516.
Schon während der Michael-Offensive hatte Ludendorff am 26. März den Stabschef und die
Truppe für die geringen Geländegewinne der 17. Armee verantwortlich gemacht. Rupprecht, Kriegstagebuch (wie Anm. 26), Bd 2, S. 357. Nach den Aufzeichnungen des Generalfeldmarschalls Wilhelm Ritter v. Leeb soll es schon am 24. März zu Auseinandersetzungen gekommen sein. Siehe Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb. Tagebuchaufzeichnungen und Lagebeurteilungen aus zwei Weltkriegen. Aus dem Nachlaß hrsg. und mit einem Lebensabriß versehen von Georg Meyer, Stuttgart 1976 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd 16), S. 109. Asprey, High Command (wie Anm. 6), S. 466. Foerster, Feldherr (wie Anm. 47), S. 85.
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Schließlich war es die nähere militärische Umgebung Hindenburgs und Luden-
dorffs, die die Aufgabe übernahm, der Regierung endgültig die Augen zu öffnen. Am 26. September, einem Tag, an dem Oberst Mertz in sein Tagebuch schrieb, »Exz[ellenz] hat wohl noch die Verzweiflung zu kämpfen, aber nicht den Mut, ein Ende zu machen. Er wird die Barriere nicht nehmen, wenn er nicht gezwungen wird«58, klärten hohe Frontoffiziere und Mitarbeiter der OHL die Reichs-
führung unmißverständlich über die desolate militärische Situation auf. Von dieser Bürde befreit, gestand nun auch Ludendorff öffentlich die Erkenntnis ein. Am 29. September gab er der Einsicht Ausdruck: »die OHL und das deutsche Heer seien am Ende [...]. Auf die Truppen sei kein Verlaß mehr59.« Noch am selben Tag wurde der Reichsleitung in Spa ein ungeschminkter Bericht über die militärische Situation gegeben, verbunden mit der Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstandsersuchen. Um der befürchteten Revolution zu entgehen, wurde von der militärischen Führung die Aufnahme einiger parlamentarischer Führer, unter anderem Sozialdemokraten, in die Regierung empfohlen. Hertling sollte ersetzt werden, ohne daß man sich anfänglich über einen Nachfolger im klaren war. Am Abend wurde ein Vertreter der 3. OHL, Major Erich v. d. BusscheIppenburg, nach Berlin entsandt, um die Parteiführer ebenfalls über die Lage
aufzuklären. Mit der Entlassung Hertlings am 30. September entstand nun auch verfassungsrechtlich eine bedenkliche Lücke. Es gab keinen Staatsmann mehr, der für die Politik verantwortlich war. Die 3. OHL schien jedoch die sachliche Gesamtverantwortung übernommen zu haben. Die meisten der unternommenen Schritte beruhten auf ihren Forderungen. Dem schließlich designierten Reichskanzler, Prinz Max von Baden, wurde jeder Rückzug unmöglich gemacht, indem ohne sein Wissen am 2. Oktober die Parteiführer von der militärischen Führung über die Kriegslage aufgeklärt wurden. Innerhalb weniger Stunden war auch die Öffentlichkeit in Berlin über die Situation informiert. Darüber hinaus wurde Prinz Max von Baden bei der Besprechung im Reichskanzlerpalais am Abend des gleichen Tages durch den Kaiser bezüghch der Reichspolitik auf die Linie der 3. OHL festgelegt: »Die Oberste Heeresleitung hält es [die Waffenstillstandsforderung d. Verf.] für nötig, und Du bist nicht hierher gekommen, um der Obersten Heeresleitung Schwierigkeiten zu machen60.« Daß die militärische Führung aber doch nicht bereit war, die sachliche Gesamtverantwortung zu übernehmen, zeigte sich nur kurze Zeit später bei der Auseinandersetzung zwischen der Reichsleitung und der 3. OHL um die Wiederaufnahme des Kampfes. Schon bei der Besprechung am 29. September hatte Staatssekretär v. Hintze Überlegungen zu einem Endkampf geäußert, der bei —
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BA-MA, N 46/63 Nachlaß Wilhelm Groener, BI. 214. Thaer, Generalstabsdienst (wie Anm. 27), S. 234. Baden, Erinnerungen (wie Anm. 36), S. 346.
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einem schmachvollen Frieden zur letzten Verteidigung der Ehre des Reiches geführt werden sollte61. Diese Idee wurde von Ludendorff aufgegriffen62. Nach Erhalt der 1. Wilson-Note forderten er und Hindenburg, die Waffen zu ergreifen, soüte der amerikanische Präsident zu hohe Forderungen stellen. Ähnliche Erklärungen waren ebenfalls in Zeitungen, linker wie rechter Coleur, nach der Entsendung der ersten deutschen Friedensnote prolongiert worden63, und auch der Reichskanzler hatte sich in seiner Rede vor dem Reichstag am 5. Oktober martialisch geäußert. Gerade bei Prinz Max von Baden standen vornehmlich propagandistische Zwecke im Vordergrund, sowohl nach außen, um das Bild der Stärke zu demonstrieren, als auch nach innen, um die Nachricht der Niederlage abzuschwächen. Die Möglichkeit eines »Verzweiflungskampfes« hielt aber auch er prinzipieü als letzten Ausweg für mögüch. Nach Erhalt der 2. Wilson-Note, die auf eine bedingungslose Kapitulation hinausüef, stellte sich konkret die Frage, ob die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Kampfes bestehe. Auf der Sitzung des Kriegskabinetts am 17. Oktober, an der unter anderem der Reichskanzler, die Staatssekretäre des Auswärtigen Amtes, General Ludendorff, General Max Hoffmann und Oberst Wühelm Heye teünahmen, verfestigte sich angesichts der inneren und müitärischen Situation der Eindruck, daß trotz der positiveren Berichte des Ersten Generalquartiermeisters »die Aktion mit Wilson [...] weiterlaufen« mußte64. Der Entschluß Prinz Max von Badens, die Verhandlungen mit Wilson nicht abzubrechen, stieß auf vehementen Widerspruch der militärischen Führung. In einem Téléphonât vom 20. Oktober stellte sie die Frage: »Will das deutsche Volk um seine Ehre nicht nur in Worten, sondern tatsächlich bis zum letzten Mann kämpfen und sich damit die Möglichkeit des Wiedererstehens sichern oder wül es sich zur Kapitulation und damit zum Untergang vor der äußersten Kraftanlassen?65.« Beim Kabinett verstärkte sich der Eindruck, daß strengung drängen der Erste Generalquartiermeister mit seiner Forderung nach der letzten »äußersten des EntschlusKraftanspannung« zu diesem Zeitpunkt weniger eine ses im Sinn hatte, als daß er sich der für die auf seinen Wunsch Verantwortung entziehen in wollte66. Es sich den erwies erfolgte Entwicklung nachfolgenden Wochen als großer Fehler, daß die Forderung Erzbergers, die maßgebliche Beteiligung der 3. OHL an der Waffenstillstandsbitte öffentlich zu machen und ihre Zustimmung zu der Note zu verlangen, zugunsten einer kurzen Erklärung der militärischen Führung, sie halte sich nicht für einen politischen Faktor, aufgegeben wurde67.
Änderung
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Schwertfeger, Weltkriegsende (wie Anm. 37), S. 119, sowie Asprey, High Command (wie
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Asprey, High Command (wie Anm. 6), S. 472. Dagegen Baden, Erinnerungen (wie Anm. 36),
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Anm. 6), S. 467.
S. 390. Der Europäische
Krieg (wie Anm. 32), Bd 8/1, Eintragungen vom 5. Oktober 1918. Baden, Erinnerungen (wie Anm. 36), S. 446. Ebd., S. 460. Ebd., S. 462 f. Ebd., S. 471.
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Krüger/Michael Salewski
Die Auseinandersetzungen zwischen der politischen und mihtärischen Führung über diese Frage kulminierten in den letzten Oktobertagen. Nach Erhalt der 3. Wilson-Note, am 25. Oktober, gab die 3. OHL durch einen Armeebefehl an ahe Truppen die Order aus, den Kampf mit allen Mitteln wieder aufzunehmen. Weder der drohende Zusammenbruch noch die Stimmung in der Bevölnoch die wurden bei dieser kerung, Ernährungslage Entscheidung berücksichwar allein von dem militärischen Dieser Befehl tigt. Gesichtspunkt der Ehre diktiert: »Die Antwort Wilsons fordert die militärische Kapitulation. Sie ist deshalb für uns Soldaten unannehmbar68.« Dabei bestanden keinerlei Erfolgschancen bei einer Fortsetzung des Krieges, wie Ludendorff gegenüber Vizekanzler Friedrich v. Payer am Abend des 25. Oktober implizit zugab69. Es war ein Zeichen für das gesunkene Ansehen der 3. OHL, daß sich der Reichskanzler in den vorangegangenen Tagen über den Zustand der Armee nicht nur durch untergeordnete Befehlshaber hatte informieren lassen, sondern deren Nachrichten über die desaströse Situation an der Westfront und über die Sinnlosigkeit einer leichtfertigen Wiederaufnahme des Kampfes mehr Glauben geschenkt hatte als den beruhigenden Nachrichten Hindenburgs und Ludendorffs70. Die Reichsleitung setzte sich diesmal vehement gegen den erneuten Eingriff der mihtärischen Führung in pohtische Belange zur Wehr. Angesichts der veränderten Machtverhältnisse gelang es ihr, sich durchzusetzen: am 26. Oktober erhielt der Erste Generalquartiermeister seinen Abschied.
Österreich-Ungarns
Die Verantwortung der militärischen Führung im Jahr 1945 ein Essay (Michael Salewski) —
Läßt sich im Verhalten der 3. OHL 1918 geradezu die Apotheose des Militarismus erkennen, waren es Ludendorff, Groener und Hindenburg, welche seit dem Oktober 1918 mit dem Anspruch daherkamen, für das Reichsganze verantwortlich zu sein, waren es die nämlichen Männer, die dann wenig später eine Art Salto mortale vollführten, indem sie überhaupt ahe pohtische Verantwortung ablehnten, so lagen die Verhältnisse 1945 völlig anders, im Grunde waren sie mit denen von 1918 nicht zu vergleichen. Gerade weil Wilhelm II. entgegen dessen, was die Bismarcksche Verfassung an sich erlaubte, eben kein roi connétable mehr war, konnten die Generäle und ein paar Admírale die Gesamtverantwortung für sich reklamieren 1945 trug nur einer Verantwortung, er gerierte sich als roi connétable: Adolf Hitler. Will man den geforderten Vergleich trotz allem wagen, sind zunächst Wilhelm II. und Hitler zu vergleichen. Formell waren beide der eine bis zur Flucht —
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Ebd., S. 500. Ebd., S. 503.
Schwertfeger, Weltkriegsende (wie Anm. 37), S. 166, sowie Asprey, High Command (wie Anm. 6), S. 481, und Baden, Erinnerungen (wie Anm. 36), S. 416, 445, 499.
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und Abdankung, der andere bis zu seinem Selbstmord die jeweils Höchstverantwortlichen für die gesamte Politik, zu der die Kriegführung selbstverständlich zählte. Anders jedoch als für den Kaiser blieb für Hitler der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Will einem die Anspielung auf Clausewitz nicht gefallen, so hegt dies am Hitlerschen Begriff des Politischen. Ohne auf den von Clausewitz einzugehen das darf man als bekannt voraussetzen —, hat Hitler Politik a priori als Krieg begriffen. Sein politisches Programm überschrieb er bekanntlich mit »Mein Kampf«, Politik und Krieg fielen in Hitlers Weltanschauung in eins, eine Trennung wäre in seinen Augen sinnlos gewesen. Dies ist übrigens, nebenbei gesagt, der tiefste Grund für die Bemühungen Ludwig Becks gewesen, den Konflikt um die Stellung des Generalstabschefs ins Grundsätzliche zu treiben. Beck maßte sich mitnichten an, sich als Soldat in die Politik zu mischen, aber er begriff früher als viele andere, daß für Hitler Politik und Krieg nur die beiden Seiten einer Medaille waren. Insofern war die Ressortverantwortlichkeit Becks gegeben. Klaus-Jürgen Müller hat ja sehr schön die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen und die Problematik dieses Beckschen Ressortdenkens analysiert. Im Verlauf des »heißen« Krieges ab 1939 man könnte für die Jahre 1933-1939 durchaus von einem »kalten Krieg« sprechen mußten alle hohen Militärs, soweit sie mit Hitler Kontakt hatten institutionell oder persönlich —, erkennen, daß der »Zivilist« Hitler alles Militärische politisierte. Nicht mehr das Phänomen des Militarismus wurde ausschlaggebend, sondern das eines extremen »Zivihsmus«, dem man das Epitheton »militant« voranstellen muß. Damit waren die Verhältnisse im Vergleich zu 1918 1945 auf den Kopf gestellt. Staat, Gesellschaft und Kriegführung wurden »zivilisiert«, in diesem buchstäbhchen Sinn. Ein paar Beispiele mögen diesen Prozeß und dieses Phänomen erläutern und zugleich deutlich machen, warum die Eingangsfrage unseres Themas tatsächlich absurd ist: Als Führer und Reichskanzler regierte und befahl Hitler, vor allem nach dem 20. Juli, auf den gleich noch zurückzukommen ist, bis in kleinste militärische Einheiten hinunter, ins Gespenstisch-Absurde getrieben in den letzten Tagen seiner Existenz in der Reichskanzlei jeder kennt die Tagebücher und Erinnerungen der und Dabeigewesenen Davongekommenen. Sämtliche Militärs waren bloße Marionetten des Staatschefs, Verantwortung trugen sie formell selbst für den größten Sektor ihres ureigensten Ressorts nicht mehr, von pohtischer Verantwortung ganz zu schweigen. Hitler hatte es davor verstanden, die Funktionen des Politischen und des Militärischen in herausgehobenen Paladinen wie anders sollte man sie bezeichnen nach seinem Vorbild zu vereinen. Drei Namen mögen hier stellvertretend genannt sein: Göring, Himmler, Dönitz. Waren das nun Soldaten oder Pohtiker? Versucht man sie einzuordnen, wird man mit den üblichen Kategorien, vor aUem auch jenen aus dem Jahr 1918, scheitern. Nehmen wir Göring: Göring war Minister, Beauftragter für den Vierjahresplan, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, von seinen unzähligen anderen Amtern und Funktionen ganz zu schweigen. Es ist typisch, daß in der längsten Zeit des Krieges der Luftkrieg aus einem Ministerium, dem Reichsluftfahrtministerium, geführt wurde. Erst 1944 entstand das Oberkommando der Luftwaffe. Als was —
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also trug Göring Verantwortung? Gab es die Ministerverantwortlichkeit noch? Die Frage ist so absurd nicht, denn die Weimarer Reichsverfassung war formell nie außer Kraft gesetzt. Daran sollte sich Dönitz nach dem Tode Hitlers sofort erinnern, also darf man annehmen, daß auch Göring sich als »Minister« fühlen konnte. Gleichzeitig aber war er als Oberbefehlshaber der Luftwaffe der militärische Dienstgrad spielte keine Rohe Hitler unmittelbar durch das System Befehl und Gehorsam verbunden. Da war keine Verantwortung, die er tragen konnte. Also war er an dem Desaster unschuldig. Erinnert man sich an die Verteidigungsstrategien von Nürnberg wird deuthch, daß nicht nur Göring dieser Zusammenhang bewußt war. Menschlich war es ja verständlich, daß die Angeklagten durch die Bank vielleicht mit Ausnahme Speers jede Mitverantwortung ablehnten, institutionell hatten sie sogar recht. Dennoch wurden sie zurecht verurteilt, darauf wird ebenfalls noch kurz eingegangen werden müssen. Nehmen wir Himmler. Himmler war Parteipohtiker. Als Chef der SS hatte er mit der Wehrmacht nichts zu tun, aus seiner Sicht sollte sie irgendwann einmal in der SS aufgehen. Wäre dies geschehen, so hätte das Reich Hitlers gar keine Wehrmacht mehr besessen eine absonderliche Vorstellung, aber Konsequenz des Zivilismus. Aber Himmler wurde im Juli 1944 außerdem Befehlshaber des Ersatzheeres. Göring wurde also sein Kamerad, beide waren Soldaten, beide direkt Hitler unterstellt. Am Fah Himmler läßt sich schön demonstrieren, wie man im Dritten Reich sich von aller Verantwortung freimachen konnte: Nicht die Wehrmacht, die SS, deren Untergliederungen und deren Chefs mit Himmler an der Spitze waren für die Untaten im Osten und gegen die Juden verantwortlich. Wir wissen von Himmler, daß er sich und seinen Mannen genau dies einhämmerte. Es war logisch, daß sich die Angeklagten in Nürnberg darauf beriefen, sie kamen damit weitgehend durch. Der interessanteste Fall aber ist Dönitz. Dieser behauptete bis zu seinem Tod unermüdlich, daß er Soldat und nur Soldat gewesen sei, also keine Doppelfunktion wie etwa Göring oder Himmler wahrgenommen habe. Tatsächhch war Dönitz lange Zeit ein wahrer Anachronismus in der Struktur des Dritten Reiches, denn als Soldat suchte er als einziger in den theoretischen Fußstapfen Becks die Rolle des ersten militärischen Beraters bei Hitler wieder zu übernehmen. Hitler war von dem U-Boot-Kommandeur so angetan, daß er ihm dieses Spiel erlaubte, aber es war ein Spiel, denn beide, Hitler und Dönitz, taten nur so als ob. Es fehlt die Zeit, um die einzelnen Stufen dieses Spieles darzustellen, hier kommt es auch nur auf das Ergebnis an: Hitler machte den Soldaten Dönitz zu seinem Nachfolger. Dönitz wurde selbst Führer und Reichskanzler er »zivilisierte« sich und trug —
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fortan Verantwortung. Nicht nur seine Memoiren, auch die Akten der Regierung Dönitz spiegeln dies sehr deuthch wider. Und nachdem Dönitz Verantwortung institutionell zu tragen hatte, nahm er sie wahr: man kann diesen Mann schelten wie man will. Was er nach dem 1. Mai 1945 tat, atmete Verantwortungsbewußt—
sein.
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Was ergibt sich daraus? im Dritten Reich überaus einfach, Verantwortung loszuwerden Hitler trug sie, wer ihm bedingungslos gehorchte, war sie los. Institutionelle Verantwortung wie 1918 gab es nicht mehr. Wenn sich uns bei dieser Einsicht das Gefieder sträubt, muß man sich mit dem Gedanken beruhigen, daß Verantwortung eben nicht nur ein Begriff im Rahmen einer wie auch immer gearteten Verfassung ist, sondern eine moralische Kategorie, jenseits alles Institutionellen. Da das Büd des Menschen seit undenküchen Zeiten aber untrennbar mit dem Wesen des Moralischen verknüpft ist ich denke, man muß das nicht erläutern oder gar beweisen —, ist die nach der Verantwortlichkeit der militärischen Führung im Frage Jahr 1945 eine moraüsche, keine historische Frage. Wenn dies so ist, könnte man sich als Historiker aus der Verantwortung verabschieden und andere Disziplinen
Es
war
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etwa die Moraltheologie als dafür zuständig erklären. Daß das nicht geht, ist klar, und deswegen muß die Frage nun neu gesteht werden. An diesem Punkt ist auf den 20. Juli 1944 zu verweisen. Das Hitlerregime hatte ganz recht, die Verschwörer als Hoch- und Landesverräter anzuprangern und dementsprechend zu behandeln, das war logisch und konsequent. In den Augen Hitlers, Görings, Himmlers und von Dönitz hier tauchen unsere Beispiele wieder auf war das Handeln Stauffenbergs und seiner Kameraden tatsächlich verantwortungslos. »Eme kleine, verantwortungslose Clique [...]« man kennt den Satz. Die Männer des 20. Juh bewiesen aber, daß die moraüsche Größe Verantwortung das gesamte NSSystem transzendierte. Daraus folgt: auch Im Dritten Reich war Verantwortung zu tragen, zu leben, notfalls zu sterben. Wenn der 20. Juli kein anderes Ergebnis gehabt hätte als dieses, wäre er schon unendlich wertvoll, denn er ließ das Leugnen der Verantwortung in Nürnberg und später, teüs bis heute als das erscheiwas eine blutleere es war: salvatorische Klausel. Da nicht anzunehmen ist, daß nen, und seine Freunde über Sondermoral verfügten, eine bucheine Stauffenberg stäblich unmenschliche Moral, sie also kerne Götter und Demiurgen waren, darf auch den übrigen militärischen Führern bis auf welche Ebene hinab? Moral zugesprochen werden. Indem sie aber nicht nach dem Sittengesetz, wie es Kant formuliert hat, handelten, wurden sie schuldig. Sie waren im moralischen Sinne —
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verantwortungslos.
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Gab es Ausnahmen außer jener des 20. Juli, anders gewendet: konnte man im Dritten Reich und im Jahr 1945, als es auf dem Höhepunkt seiner weltanschaulichen Macht stand, in diesem moralischen Sinne Verantwortung üben, ohne automatisch in den Dunstkreis des 20. Juli zu geraten, also »Verschwörer« zu werden? Das Beispiel Dönitz hefert die Antwort: nein. Erst als Hitlers Bann gebrochen war, konnten sich moraüsche Maßstäbe und damit das Prinzip der Verantwortung wieder durchsetzen. Sicherlich, es gab auch einige andere, die wie Dönitz handelten, aber es waren verdammt wenige. Bleibt eine letzte Frage: Sind wü glücküch Nachgeborenen legitimiert, über diese doppelte Verantwortüchkeit zu richten? Ich habe meine Zweifel. Dennoch scheint es mir die verdammte Pflicht und Schuldigkeit des Historikers zu sein, die Eingangsfrage zu beantworten, denn Verantwortung
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nur eine zeitlose Dimension, sondern eben auch eine historische. Wir dürfen uns also nicht mit dem ebenso hehren wie billigen Argument aus unserer historischen Verantwortung schleichen, man fühle sich nicht berufen, über Anstand, Sitte und Moral anderer Menschen aus einem anderen Zeitalter zu richten. Wh sollen ja nicht richten, wir sollen nur verstehen. Was sich daraus für jeden von uns ergibt, mag jeder von uns im stillen Kämmerlein mit sich selbst abma-
ist nicht
chen.
Die Autoren Alexandre Adler: Professor, Directeur Editorial de Courrier International, Paris André Bach: Brigadegeneral, Chef du Service Historique de lArmée de Terre, Vincennes Dr. Winfried Baumgart: Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz Dr. Jean Jacques Becker: Professor emer., Université de Paris X Dr. Sabine Behrenbeck: Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität zu Köln Dr. François Cochet: Maitre de conférence, Université de Reims Dr. Edward M. Coffman: Professor emer., Lexington Dr. Jörg Duppler: Kapitän zur See, Mihtärgeschichthches Forschungsamt, Potsdam Dr. Michael Epkenhans: Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung, Friedrichsruh Dr. Wolfgang Etschmann: Oberrat, Militärgeschichtliche Forschungsabteilung des Heeresgeschichthchen Museums, Wien Dr. Gerhard P. Groß: Oberstleutnant i.G., Mihtärgeschichthches Forschungsamt, Potsdam Dr. J.P. Harris: Dozent für Militärgeschichte, Royal Military Academy Sandhurst Dr. Christoph Jahr: Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Geschichtswissenschaft der Humboldt-Universität Berlin Friederike Krüger M.A.: Historisches Seminar der Universität zu Kiel Dr. Gerd Krumeich: Professor für Neuere Geschichte an der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf Dr. Klaus Latzel: Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld Dr. Michael Salewski: Professor für Neuere Geschichte an der Universität zu Kiel Dr. Rüdiger Schütz: Professor für Neuere Geschichte an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen Dr. Dieter Storz: Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bayrischen Armeemuseum,
Ingolstadt
Dr. Hew Strachan:
Professor, Director of the Scottish Centre for War Studies, Uni-
versity of Glasgow
Dr. Bruno Thoß: Wissenschaftlicher Direktor, Mihtärgeschichthches Forschungsamt,
Potsdam
Dr. Volker Ullrich: Redaktion »Die Zeit«, Hamburg Dr. Bernd Ulrich: Historiker und Journalist, Berlin Dr. Gabriele Werner: Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Kustodin der Gemäldegalerie Neue Meister, Dresden Dr. Benjamin Ziemann: Wissenschaftlicher Assistent am Institut zur Erforschung der
europäischen Arbeiterbewegung der Universität Bochum
Nr. 19 für den geplanten Flottenvorstoß der Hochseeflotte in die Hoofden am 30. Oktober 1918
Operationsplan jcapa
Flow
?y-^\ß
Vi'^ Orkney-
Brightoi
^- r^Calais
Quelle: [Ewald Beckmann], Der Dolchstoliprozeß ihstoßpro; in München vom 19. Oktober bis 20. November 1925. Verhandlungs ©MGFA berichte und Stimmungsbilder von Ewald Beckmann nach seinen Berichten in der Münchener Zeitung, München 1925, S. 40. 04358-14 Phase : Nachtvorstoß der gesamten Hochseestreitkräfte in die Hoofden
(?) Bei Tagesanbruch des II. Operationstages Vorstoß Kleiner Phase@ : Kreuzer und die flandrische Torpedoboote gegen
Phase
@
:
Bei
Tagesanbruch
des II.
Operationstages
Küste
Minen —
Hochseeflotte
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deutsche U-Boote
Vorstoß Kleiner
Kreuzer und Torpedoboote gegen die Themsemündung
Phase (3) : Am Abend des II. Operationstages sollte die Grand Fleet bei Terschelling zur Schlacht gestellt werden
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Phase (4)
:
Torpedobootvorstoß in Richtung Firth of Forth vom II. auf IM. Operationstag, falls bis zu diesem Zeitpunkt kein Zusammentreffen mit der britischen Flotte stattgefunden hat
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deutsche Luftschiffe Grand Fleet
U-Boot-Auffanglinien
Beiträge zur Militärgeschichte Herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt Band 46
Rüdiger Overmans Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg 1999. XIV, 367 Seiten ISBN 3-486-56332-7 Band 47 Ralf Pröve Stehendes Heer und städtische Gesellschaft im 18. Jahrhundert 1995. XVI, 373 Seiten ISBN 3-486-56060-3 Band 48 Das Internationale Krisenjahr 1956 Polen, Ungarn, Suez 1999. XXLX, 722 Seiten ISBN 3-486-56369-6 Band 49 Olaf Rose Carl von Clausewitz Zur Wirkungsgeschichte seines Werkes in Rußland und der Sowjetunion (1836-1991) 1995. XIII, 275 Seiten ISBN 3-486-56062-X Band 50 Politischer Wandel, organisierte Gewalt und nationale Sicherheit 1995. Xiy 565 Seiten ISBN 3-486-56063-8 Band 51 Volksarmee schaffen ohne Geschrei! Studien zu den Anfangen einer „verdeckten Aufrüstung" in der SBZ/DDR 1947-1952. 1994. 360 Seiten ISBN 3-486-56043-3 Band 52 -
Jürgen Angelow
Von Wien nach Königgrätz Die Sicherheitspolitik des Deutschen Bundes im europäischen Gleich-
gewicht 1815-1866.
1996. 418 Seiten ISBN 3-486-56143-X
Oldenbourg