Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis 9783486714845, 9783486710250

Die Frühe Neuzeit zeichnet sich dadurch aus, dass sich gesellschaftliches Leben in symbolischen Akten ereignete. Erst du

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German Pages 232 [240] Year 2012

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Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis
 9783486714845, 9783486710250

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Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis

bibliothek altes Reich baR herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal Band 11

Oldenbourg Verlag München 2012

Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis Herausgegeben von Anja Amend-Traut, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich

Oldenbourg Verlag München 2012

Gedruckt mit Unterstützung der JenAcon Foundation gGmbH

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

 2012 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Tel: 089 / 45051-0 www.oldenbourg-verlag.de

Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Titelbild: Ausschnitt aus Audienz am Kammergericht in Wetzlar, Kupferstich von Peter Fehr (1681–1740), um 1735, Städtische Sammlungen Wetzlar. Einbandgestaltung: hauserlacour Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 ISBN eISBN

978-3-486-71025-0 978-3-486-71484-5

Inhalt

Inhalt

Vorwort ……………………………………………………………………...…

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Höchste Reichsgerichtbarkeit als mediales Ereignis. Einleitung ……….... Steffen Wunderlich

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Das Bild der höchsten Reichsgerichtsbarkeit in Chroniken der Frühneuzeit ………………………………........................................................................ Andreas Deutsch

Visualisierung des Reichskammergerichts. Das Beispiel der Audienz …. Maria von Loewenich Zwischen Arkanum und Öffentlichkeit: Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776 ….……………………………….................... Alexander Denzler „Es kommet mit einem Reichs=Agenten haubtsächlich darauf an …“. Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation mit dem und über den Reichshofrat (1658−1740) …………………..…...… Thomas Dorfner

Reichsstädtische Reichshofratsprozesse als mediale Ereignisse ………… David Petry

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„Aus dem Munde gefallen“. Reichskammergerichts-Zeugenverhöre – eine Quellenkritik ………………………………..…………………………… Matthias Bähr

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Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen am Reichskammergericht ........................................................ Tobias Branz

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Kommunikationsstrategie „in causa der Wasservögel“. Die Fugger vor Gericht …………………………………………………………………………. Britta Schneider

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Das Oberappellationsgericht Celle als Mittler zwischen Reichsjustiz und territorialer Gerichtsbarkeit …………………………………………………. Stefan Andreas Stodolkowitz

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Inhalt

Die Real Chancilleria und Audiencia von Granada – ihre Inszenierung und Bedeutung im 16. und 17. Jahrhundert .................................................. Ignacio Czeguhn

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Vorwort

Vorwort■Vorliegender Band enthält die Beiträge der achten Tagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit, die vom 8.–9. Oktober 2009 in Wetzlar stattfand. Bei der Organisation der Tagung sowie für die Drucklegung des Bandes erhielten wir auch dieses Mal vielfältige Unterstützung: Vor allem möchten wir der jenacon foundation danken, die mit Ihrer Spende diese Veranstaltung und die Drucklegung des Bandes überhaupt ermöglicht hat. Ebenso zu großem Dank verpflichtet sind wir der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, in deren Räumlichkeiten wir die Tagung abhalten durften, und die die Aktivitäten des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit immer wieder in finanzieller und organisatorischer Hinsicht fördert und unterstützt. Allen, die den reibungslosen Ablauf der Tagung gewährleisteten, besonders aber Frau Müller, die auch die Druckvorlagen zu dem Sammelband erstellte, möchten wir ebenfalls unseren Dank aussprechen.

Prof. Dr. Anja Amend-Traut Prof. Dr. Anette Baumann Dr. Stephan Wendehorst Dr. Steffen Wunderlich Wetzlar im Oktober 2011

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Höchste Reichsgerichtsbarkeit als mediales Ereignis

■Steffen Wunderlich■Höchste Reichsgerichtsbarkeit als mediales Ereignis Einleitung■Der vorliegende Sammelband geht auf eine Tagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit zurück, die im Oktober 2009 in den Räumen der Forschungsstelle für Höchstgerichtsbarkeit im Alten Europa in Wetzlar abgehalten wurde. Reichskammergericht und Reichshofrat wurden erstmals unter dem Aspekt ihrer medialen Ereignishaftigkeit betrachtet. Obwohl die Medien- und Kommunikationsgeschichte in der Geschichtswissenschaft bereits seit einiger Zeit von eminenter Wichtigkeit ist1, bestehen hierzu in der Forschung zu Reichskammergericht und Reichshofrat Desiderate. Mit dem angeregten Austausch von Rechtshistorikern, Historikern und Archivaren auf der Tagung konnten jedoch erste wichtige Akzente gesetzt und eine fruchtbringende weitere Befassung mit dem Thema vorbereitet werden. Entgegen anderslautender Annahmen2 besteht weitgehend Konsens in der (rechts-) historischen Forschung, dass die Rechtsprechung im vormodernen Europa allgemein und im Römisch-Deutschen Reich im Besonderen nicht allein nach dem Ergebnis der letztendlich getroffenen Entscheidung betrachtet werden darf. An der Wende vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit gehörte bereits die Artikulation und Diskussion von Rechten und rechtserheblichen Positionen im Rahmen eines rechtsförmigen Verfahrens im Gegensatz zur gewaltsamen Selbsthilfe zum Konzept von Frieden durch Recht3; und im 16., 17. und 18. Jahrhundert war für die Beteiligten in vielen Fällen das Verfahren vor Reichskammergericht oder Reichshofrat ein Mittel unter mehreren, um ihre Interessen zu verfolgen4. Anderenfalls wäre es beispielsweise nicht erklärbar,

■ 1 Aus neuester Zeit z.B.: Andreas Würgler, Medien in der Frühen Neuzeit, München 2009. Johannes Arndt/Esther-Beate Körber (Hg.), Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750) (Veröffentlichung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beiheft 75), Göttingen 2010. Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 24, 2008, S. 155– 224. 2 Arndt/Körber, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Das Mediensystem im Alten Reich (wie Anm. 1), S. 3. 3 Vgl. Ingrid Scheurmann (Hg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806; (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 8.12.1994 bis 22.1.1995 im Wissenschaftszentrum Bonn, vom 25.2.1995 bis 30.4.1995 im Historischen Museum Frankfurt/M.), Mainz 1994. Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Adolf Fink (Hg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte, Festschrift für Adalbert Erler, Aalen 1976, S. 435–480. 4 Dazu näher Anja Amend-Traut, Konfliktlösung bei streitigen Wechseln im Alten Reich. Der Kaufmannstand zwischen der Suche nach Alternativen zur gerichtlichen Geltendmachung von Forderungen und strategischer Justiznutzung, in: Rolf Lieberwirth/Heiner Lück (Hg.), Akten des 36. Deutschen Rechtshistorikertages Halle an der Saale, Stuttgart 2008, S. 153–175. Dies., Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 54), Köln/Wien 2009, insbes. S. 81–83, 413–416.

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Steffen Wunderlich

warum eine erhebliche Zahl von Rechtsstreitigkeiten über Jahre und sogar Jahrzehnte geführt und von den Beteiligten je nach Bedürfnis mit teils hohem und teils weniger hohem Engagement betrieben wurden. Die immer wieder beklagten Zustände bei Gericht5 und das gerade am Reichskammergericht beachtete schwerfällige Prozessrecht6 können dies allein nicht hinreichend erklären. Eine hohe Anzahl an Gerichtsverfahren wurde zudem nicht und brauchte auch nicht durch Urteil beendet werden.7 Betrachtet man deshalb die Höchstgerichte unter dem Blickwinkel von mit der Autorität des Kaisers und des Reichs versehenen Einrichtungen, vor denen im Rahmen eines gerichtlichen Verfahrens Rechte bzw. rechtlich durchsetzbare Interessen verfolgt wurden, ist es folgerichtig, auch nach deren medialer Ereignishaftigkeit zu fragen. Denn um ihre Aufgabe zu erfüllen, wird man zum einen ein Bedürfnis der Gerichte vermuten, sich selbst als bedeutsame Institutionen zu präsentieren, und man wird zum anderen Interessen von Prozessparteien oder Dritten annehmen können, Informationen über anhängige oder bereits entschiedene Verfahren zu erhalten und publik zu machen. Innerhalb der Themenstellung der Höchsten Reichsgerichtsbarkeit als mediales Ereignis kann eine Vielzahl von Aspekten betrachtet werden, unter denen eine Analyse gewinnbringend ist. Es erschien beispielsweise lohnenswert, nach Akteuren und Rezipienten medialer Vermittlung zu fragen, wobei verfeinernd unterschieden werden kann zwischen den Höchstgerichten selbst und anderen Institutionen des Römisch-Deutschen Reichs, den Streitparteien und den ihnen Nahstehenden, interessierten Dritten sowie den beruflich mit den Gerichtsverfahren bzw. der Nachrichtenübermittlung befassten. Ebenfalls konnte die Art und Weise betrachtet werden, wie die Höchstgerichte und Gerichtsverfahren medial vermittelt wurden. Wie waren die Gerichte unmittelbar vor Ort wahrnehmbar? Wie konnte deren Tätigkeit überörtlich vermittelt werden? Welche Medien wurden hierzu genutzt und welchen Stellenwert hatten sie – z.B. das gesprochene Wort, Brief, Zeitung oder eine bildhafte Darstellung? Wer griff auf welche Medien zu und warum? Welches Bild von der Höchstgerichtsbarkeit konnte unter Nutzung bestimmter Medientypen gewonnen werden? Spielten zeitliche und räumliche Aspekte eine Rolle?

■ Dies., Brüder unter sich – die Handelsgesellschaft Brentano vor Gericht. Elemente privater Konfliktlösung im Reichskammergerichtsprozess, in: Albrecht Cordes/Serge Dauchy (Hg.), Justice publique – justice privée: Une frontière mouvante (Schriftenreihe des Historischen Kollegs), erscheint voraussichtlich 2011. 5 Zum Beispiel Johann Wolfgang Goethe, Dichtung und Wahrheit, 3. Teil, 12. Buch. Freilich dürfen diese Schilderungen mittlerweile – zumindest für wechselrechtliche Streitigkeiten – als widerlegt gelten; dazu näher Anja Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten (wie Anm. 4), insbes. S. 154–158, 410. 6 Zum Prozessrecht siehe Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555 (QFHG 10), Köln/Weimar/Wien 1981. 7 Vgl. bereits Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 3), insbes. S. 474ff. Anja Amend-Traut, Konfliktlösung (wie Anm. 4).

Höchste Reichsgerichtsbarkeit als mediales Ereignis

Im vorliegenden Band konnten nicht alle angesprochenen Aspekte im vollen Umfang erörtert werden. Die erstmals speziell zum Thema der Medialität von Höchstgerichtsbarkeit im Alten Reich versammelten Beiträge behandeln aber wichtige Teilbereiche. Betrachtet man die Akteure des medialen Ereignisses Höchste Reichsgerichtsbarkeit näher, ist festzuhalten, dass Reichskammergericht und Reichshofrat als Institutionen vornehmlich keine eigene, gezielte, im gesamten Reich wahrnehmbare Inszenierung verfolgten. Für sie war es maßgeblich und ausreichend, an der Autorität des Kaisers zu partizipieren und in dessen Namen letztinstanzlich Recht zu sprechen. Als Teil der Obrigkeit war es für die beiden Höchstgerichte auch nicht vordringlich, eine gezielte Medienstrategie zu verfolgen.8 Bemerkenswert hierbei ist beispielsweise, dass das Verfassen von Observationenbänden oder „Nebenstunden“9 durch die Assessoren des Reichskammergerichts durchaus kritisch gesehen wurde.10 Sie verfassten diese Werke aus unterschiedlichen Beweggründen: zur Beförderung des Rechts, aber auch aus Prestigedenken und kommerziellen Interessen. Durch die verschiedenen Beziehungen von Reichskammergericht und Reichshofrat zum Kaiser lassen sich einige Unterschiede in der medialen Darstellung erklären. Je näher der Kaiserhof war, desto geringer war das äußerlich sichtbare Auftreten des jeweiligen Höchstgerichts11 ausgeprägt. Der in Wien ansässige Reichshofrat tagte am kaiserlichen Hof hinter verschlossenen Türen.12 Audien-

■ 8 Vgl. für die Obrigkeit allgemein Arndt/Körber, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Das Mediensystem im Alten Reich (wie Anm. 1), S. 15. 9 Zu diesen Quellen siehe Bernhard Diestelkamp, Ungenutzte Quellen zur Geschichte des Reichskammergerichts, in: E.C. Coppens/B.C.M. Jacobs (Hg.), Een Rijk Gerecht, Festschrift für Paul L. Nève, Nijmegen 1998, S. 115–130. Peter Oestmann, Die Rekonstruktion der Reichskammergerichtlichen Rechtsprechung des 16. und 17. Jahrhunderts als methodisches Problem, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hg.), Prozeßakten als Quelle (QFHG 37), Köln/Weimar/Wien 2001, S. 15–54; vgl. Anette Baumann, Gedruckte Relationen und Voten des Reichskammergerichts vom 16. bis 18. Jahrhundert (QFHG 48), Köln/Weimar/Wien 2004. 10 Näher hierzu im Beitrag von Alexander Denzler in diesem Tagungsband. 11 Dazu, dass der Reichshofrat nicht nur als Gericht im engeren Sinn fungierte, siehe insbesondere Eva Ortlieb, Vom königlichen/kaiserlichen Hofrat zum Reichshofrat. Maximilian I., Karl V., Ferdinand I., in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451– 1527) (QFHG 45), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 221–290. Dies., Die Formierung des Reichshofrats im 16. Jahrhundert, in: 24. Österreichischer Historikertag Innsbruck 2005. Tagungsbericht, hg. vom Verband Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine in Zusammenarbeit mit dem Tiroler Landesarchiv, Innsbruck 2006 (Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Historiker und Geschichtsvereine 33), S. 257–264. Dies., Gnadensachen vor dem Reichshofrat, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, Köln/Weimar/Wien 2007 (QFHG 53), S. 177–202. 12 Zu dem beim Reichshofrat beachteten Verfahrensrecht siehe Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat (Untersuchungen zur deutschen Staatsund Rechtsgeschichte n.F., Bd. 18), Aalen 1973. Ders., Prozessrechtliche Aspekte zur Appellation an den Reichshofrat, in: Österreichische Akademie der Wissenschaften

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Steffen Wunderlich

zen gab es nicht. Die Parteien mussten beim Reichshofrat ihre Schriftsätze und Gesuche an der Pforte abgeben und konnten nur über die informelle Tätigkeit ihrer Agenten auf den gewünschten Fortgang der eigenen Sache einwirken. Die Eigenschaften der Reichshofrats-Agenten „Zugang“ und „Credit“ waren von höchster Bedeutung, wie Thomas Dorfner in diesem Band anschaulich beschreibt. Anders stellt sich das Handeln des Reichshofrates durch seine lokalen Kommissionen in der Ferne von Wien dar.13 Hier wurde nicht auf die Möglichkeit des symbolträchtigen Auftretens verzichtet. Die Kommissare präsentierten in der Fläche des Reiches durch eine ausgewählte mediale Inszenierung ihrer Tätigkeit den kaiserlichen Machtanspruch. Anhand eines Verfassungskonflikts in Augsburg hat David Petry beschrieben, dass die Einsetzung einer kaiserlichen Kommission örtlich allgemein wahrnehmbar durch öffentlichen Verruf bekannt gemacht wurde. Einwohner und Nachbarn wurden zusätzlich durch Zeitungsmeldungen informiert. Auch wurden gezielt ansässige und benachbarte Hoheitsträger brieflich durch die Kommission benachrichtigt. Das Reichskammergericht bedurfte durch seine Ferne vom kaiserlichen Hof – es residierte vor allem in Speyer und zuletzt in Wetzlar – ebenfalls einer stärkeren äußeren Inszenierung. Dies geschah vor allem durch die Abhaltung der Audienzen, in denen die Parteien über ihre Prokuratoren unmittelbar mit dem Kammerrichter und den anwesenden Assessoren in Kontakt traten.14 Die Audienz war förmlich ausgestaltet und wies eine kaiserliche bzw. christliche Symbolik auf. So saß der die Audienz leitende Kammerrichter erhöht unter einem Baldachin. Er hatte einen Gerichtsstab in der Hand. An seiner Seite saßen die Assessoren usw. Auch trat das Reichskammergericht durch seine Boten nach außen in Erscheinung.15 Daneben demonstrierte die herausgehobene Stellung, welche die Kameralen in dem vor allem lokal wahrnehmbaren öffentlich-ständischen Leben einnahmen, den allgemeinen Geltungsanspruch

■ (Hg.), In letzter Instanz. Appellation und Revision im Europa der Frühen Neuzeit, erscheint voraussichtlich 2012. 13 Zu den Kommissionen siehe insbesondere Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657) (QFHG 38), Köln/Weimar/Wien 2001. Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576), Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des alten Reiches 18, Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 214, Mainz 2006. 14 Zum Prozessrecht am Reichskammergericht siehe Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses (wie Anm. 6). 15 Ralf-Peter Fuchs, ,Mit Wissen und Willen der Obrigkeit ...ʻ. Reichsrepräsentation über die Reichskammergerichtsboten in der Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (QFHG 46), Köln/Weimar/Wien, S. 247–264; EricOliver Mader, „Soldateske“ des Reichskammergerichts. Das kammergerichtliche Botenwesen am Ende des Alten Reichs, im selben Band, S. 265–290.

Höchste Reichsgerichtsbarkeit als mediales Ereignis

des Höchstgerichts.16 So hatten beispielsweise Kammerrichter und Assessoren bei öffentlichen Prozessionen eine hervorgehobene Position inne. Allgemein prägten die Kameralen das öffentliche Leben in den Städten Speyer und Wetzlar maßgeblich. Selbst wenn kein repräsentativer Gerichtsbau zur Verfügung stand, benötigten die Kameralen doch zumindest standesgemäße Unterkünfte. Sie waren Angehörige herausgehobener Stände und pflegten entsprechende Umgangsformen. Auch haben die mehrspännigen Kutschen von Kammerrichter, Präsidenten und Assessoren für Aufsehen gesorgt – und sei es dadurch, dass sie in den engen Gassen Wetzlars Verkehrsprobleme erzeugten. Während das gesellschaftliche Leben im Verlauf der Frühen Neuzeit zu einer Verfestigung von Standesdenken führte, hat möglicherweise nach einer Phase der Etablierung der Höchstgerichte das Bedürfnis abgenommen, die Höchstgerichte durch symbolische Kommunikation nach außen zu repräsentieren. Indizien für Veränderungen können den Beiträgen dieses Tagungsbandes entnommen werden. Maria von Loewenich zeigt beispielsweise, dass auf späteren Darstellungen von Audienzen am Reichskammergericht der Kammerrichter nicht mehr abgebildet ist. Seine tatsächliche Abwesenheit bei Gericht empfanden die Zeitgenossen als Missstand. Die Künstler thematisierten deshalb wohl auch in den formalisierten Darstellungen diesen Umstand. In diesem Zusammenhang ist auch das in diesem Band vergleichend betrachtete Oberappellationsgericht in Celle zu nennen. Dieses Gericht wurde erst im 18. Jahrhundert ins Leben gerufen. Die Art und Weise seiner Tätigkeit war – wie Andreas Stodolkowitz beschreibt – von der kurhannoverschen Administration so konzipiert worden, dass es Rechtsstreitigkeiten vor allem schnell und effektiv zu einer Entscheidung bringen konnte.17 Das Gericht optimierte den Verfahrensgang sogar weiter zu Lasten der wahrnehmbaren Repräsentation, beispielsweise indem es mehr Fälle durch Reskripte beschied, die nicht der formalen Urteilsverkündung bedurften. Es wäre wünschenswert, der Frage

■ 16 Zur Stellung des Reichskammergerichts in seinen Residenzorten siehe: Willi Alter, Die Reichsstadt Speyer und das Reichskammergericht, in: Geschichte der Stadt Speyer, Bd. III, Stuttgart 1989, S. 213–289. Georg Schmidt-von Rhein, Das Reichskammergericht in Wetzlar (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Heft 9), Wetzlar 1990. Jost Hausmann, Die Städte des Reichskammergerichts, in: Ders. (Hg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 9–36. Zu den Kameralfreiheiten siehe Jost Hausmann, Die Kameralfreiheiten des Reichskammergerichtspersonals. Ein Beitrag zur Gesetzgebung und Rechtspraxis im Alten Reich (QFHG 20), Köln/Wien 1989. Zu Kammerrichter und Assessoren Sigrid Jahns, Das Kammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich (QFHG 26), 3 Bde., Köln/Weimar/Wien 2003 und 2011; siehe auch Anette Baumann, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1806) (QFHG 51), Köln/Weimar/Wien 2006. 17 Vgl. zum Reichskammergericht Bernhard Diestelkamp, Verwissenschaftlichung, Bürokratisierung, Professionalisierung und Verfahrensintensivierung als Merkmale frühneuzeitlicher Rechtsprechung, in: Ders. (Hg.), Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich, Frankfurt a.M. 1999, S. 263–276.

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nach der zeitlichen Veränderung von Repräsentationsbedürfnissen bei den Höchstgerichten in der Frühen Neuzeit weiter nachzugehen. Anders als bei der Darstellung der spanischen Höchstgerichtsbarkeit im ausgehenden 16. bzw. beginnenden 17. Jahrhundert durch Ignacio Czeguhn ist der zeitliche Schwerpunkt der meisten Beiträge zu den Römisch-Deutschen Höchstgerichten im vorliegenden Band im 18. Jahrhundert angesiedelt. Reizvoll wäre es daher, beispielsweise das mediale Auftreten der Höchstgerichte des Römisch-Deutschen Reichs im 16. Jahrhundert zu beleuchten, als die Höchste Reichsjustiz nach einem kaiserfernen 15. Jahrhundert erst im Entstehen war und ihre Existenz finden und behaupten musste, oder auch sich der Außendarstellung der Höchstgerichte in der kriegerischen Mitte des 17. Jahrhunderts zu widmen. Parallel hierzu dürfte es lohnend sein, einen Vergleich zwischen den obersten Gerichten im heterogenen Römisch-Deutschen Reich und der obersten Justiz in absolutistisch regierten Territorien anzustellen. Auch ein direkter Vergleich mit der obersten Gerichtsbarkeit in anderen Herrschaften, wie Spanien, Frankreich, Russland oder Dänemark, Schweden oder sogar den überseeischen Kolonien wäre sehr interessant. Der vorliegende Tagungsband zeigt, dass die Höchste Reichsgerichtsbarkeit vor allem durch Dritte mit ihren Interessen zu einem medialen Ereignis gemacht wurde, wie zwischen den einzelnen Akteuren und Gruppen von Akteuren differenzierend Alexander Denzler am Beispiel der letzten Visitation des Reichskammergerichts aufzeigt. Es sind ebenfalls die Prozessparteien zu nennen, die mediale Strategien entwickelten, um einen anhängigen Prozess zu beeinflussen, sei es durch die Einflüsterungen von Agenten, die – wie Thomas Dorfner referiert – Zugang zu und Credit bei Reichshofräten hatten, sei es durch mündliche Nachrichtenübermittlung, Flugschriften und insbesondere Zeitungsbeiträge18, um eine öffentliche Meinung19 zu erzeugen und zu beeinflussen – was näher im Beitrag von David Petry beschrieben wird.

■ 18 Zur Entwicklung des Zeitungswesens: Emil Weller, Die ersten Deutschen Zeitungen, Tübingen 1872 (Neudruck Hildesheim/New York 1971). Ludwig Salomon, Geschichte des Deutschen Zeitungswesens von den ersten Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des deutschen Reiches, Oldenburg 1900–1906, insbes. Bd. 1 (Das 16., 17. und 18. Jahrhundert), Oldenburg 1900. Joachim Kirchner (Hg.), Grundlagen des deutschen Zeitschriftenwesens, 2 Bde., Leipzig 1828–1932. Hans Bohrmann, Die Erforschung von Zeitung und Zeitschriften in Deutschland, in: Werner Arnhold/Wolfgang Dittrich/Bernhard Zehler (Hg.), Die Erforschung der Buch- und Bibliotheksgeschichte in Deutschland. Festschrift für Paul Raabe zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 1987, S. 346–358. 19 Zur „Öffentlichkeit“ in der vormodernen politischen Publizistik siehe Arndt/Körber, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Das Mediensystem im Alten Reich (wie Anm. 1), S. 8ff. Vgl. auch Holger Böning, Der gemeine Mann als Zeitungs- und Medienkonsument im Barockzeitalter, in: Arndt/Körber (Hg.), Das Mediensystem im Alten Reich (wie Anm. 1), S. 227– 237.

Höchste Reichsgerichtsbarkeit als mediales Ereignis

Die Parteien hielten sich während eines anhängigen Verfahrens regelmäßig nicht am Ort des Gerichts auf, sondern ließen sich durch Abgesandte, Prokuratoren und Agenten vertreten. Dies gilt vor allem für bedeutende Parteien wie Fürsten, Städte oder wichtige Handelsunternehmen. Umso wichtiger war es, dass deren Vertreter vor Ort über ein Medium verfügten, durch das sie mit ihren Auftraggebern kommunizieren konnten. Dies war der Brief, der außerdem den Vorteil bot, dass Absender und Empfänger durch Geheimhaltung oder Zugänglichmachung steuerten, wer die in ihm enthaltenen Informationen wahrnehmen konnte.20 Der Gebrauch des Mediums Brief wurde durch die Entwicklung des Postwesens21 immens befördert. Der Beitrag von Britta Schneider zeigt beispielhaft, welches große Potenzial die Briefkorrespondenz für die Erforschung der vormodernen Höchstgerichte bietet. Aber nicht nur die Prozessparteien waren an der Höchsten Reichsgerichtsbarkeit als medialem Ereignis beteiligt. Mit den bereits benannten Medien Zeitung und Zeitschrift sind auch deren Erschaffer – die Verleger und Korrespondenten – als Akteure zu benennen. Sie hatten vornehmlich ein wirtschaftliches Interesse an der Weitergabe von Informationen. Ihre Triebfeder war die Neugier der Zeitungsleser, die sie sich zunutze machten.22 Wie der Beitrag von David Petry zeigt, gab es einen Markt23 für Berichte über die Höchstgerichte sowie vor allem den Verlauf und Ausgang von Prozessen. So beachteten beispielsweise Territorialherren die Prozesse ihrer Nachbarn. Bürger von Reichsstädten waren aufmerksam, wenn andere Reichsstädte ihre Verfassungskonflikte vor den Höchstgerichten austrugen. Das Patriziat versuchte im Gegenzug, missliebige Informationen obrigkeitlich zu unterdrücken, u.a. indem es die Verbrennung von Flugschriften oder Zeitungsberichten anordnete. Keinen allzu großen Markt gab es hingegen für allgemeine schriftliche oder bildhafte Darstellungen über die Höchstgerichte. Entsprechende Werke zu Reichskammergericht und Reichshofrat sind, worauf Maria von Loewenich hinweist, ganz überwiegend in der juristischen Fachliteratur erhalten. Die Schreiber von Chroniken hatten im Unterschied zu Korrespondenten, Verlegern und Buch- bzw. Zeitungshändlern keine finanziellen Motive, sich mit den Höchstgerichten im Reich zu befassen. Wie Andreas Deutsch berichtet,

■ 20 Zur gezielten Weitergabe von Informationen durch Streitparteien siehe auch im Beitrag von David Petry. 21 Hierzu Martin Dallmeier (Hg.), 500 Jahre Post. Thurn und Taxis. Ausstellung anlässlich der 500jährigen Wiederkehr der Anfänge der Post in Mitteleuropa 1490–1990. Regensburg 1990. Wolfgang Behringer, Im Zeichen des Merkur. Reichspost und Kommunikationsrevolution in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2003. 22 Vgl. Jürgen Wilke, Nachrichtenauswahl und Medienrealität in vier Jahrhunderten. Eine Modellstudie zur Verbindung von historischer und empirischer Publizistikwissenschaft, Berlin/New York 2006. 23 Allgemein hierzu Rolf Engelsing, Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500–1800, Stuttgart 1974. Ders./Martin Mulsow (Hg.), Die Praktiken der Gelehrsamkeit in der frühen Neuzeit, Tübingen 2001, S. 11–30. Werner Faulstich, Die bürgerliche Mediengesellschaft (1700–1830) (Geschichte der Medien, Bd. 4), Göttingen 2002.

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Steffen Wunderlich

zeichneten sie weder ein umfassendes noch objektives Bild über die Höchstgerichte, sondern teilten Informationen vorrangig nach Maßgabe ihres Aufzeichnungszwecks mit. Vor diesem Hintergrund könne den Chroniken interessante Sichtweisen auf die Höchstgerichte entnommen werden. Im Übrigen sind die Höchsten Gerichte im Alten Reich Gegenstand der Literatur selten; eine Ausnahme stellt die wenig schmeichelhafte Bemerkung Goethes über das Reichskammergericht in „Dichtung und Wahrheit“24 dar, die noch heute gern einleitend zitiert wird. Die mediale Wirkung dieses Zitats auf die Meinung über die Arbeit des Reichskammergerichts wäre eine eigene Untersuchung wert. Dem Thema der medialen Ereignishaftigkeit der Höchsten Reichsgerichtsbarkeit kann sich auch auf andere Weise genähert werden – unter dem Aspekt der Quellen. Nach einem noch neuen, sehr weitreichenden Ansatz können Medien als Kommunikationsmittel verstanden werden, die der Speicherung und Übertragung von Informationen zwischen Sender und Empfänger dienen, so dass unterschiedliche Phänomene wie Sprache, Geld, Macht, Kleider, Wände, Sachen und menschliche Körper (teile) Medien sein können. In diesem Sinne sind auch das in den Gerichtsakten25 enthaltene Prozessschriftgut der Parteien und die Protokollbücher von Assessoren26 als Medien zu verstehen. Ebenfalls hierzu gehören die vom Gericht erstellten Zeugenverhörprotokolle, denen sich im vorliegenden Band Matthias Bähr zuwendet, wie ebenso die in gedruckten Sammlungen vorliegenden Normen des Reichsrechts, beispielsweise in der Form der Regelungen des Ewigen Landfriedens, die Gegenstand des Beitrages von Tobias Branz sind, und die Kameralliteratur27, über deren Einfluss am Oberappellationsgericht Celle Andreas Stodolkowitz referiert. Abschließend ist festzuhalten, dass die Höchste Reichsgerichtsbarkeit zweifellos ein mediales Ereignis war, auch wenn die Gerichte selbst bei weitem nicht die herausragenden Akteure im medialen Konzert waren. Das, was jedoch aufgrund ihrer Tätigkeit bis heute überliefert ist, gibt weiten Raum für eine

■ Siehe Anm. 5. Hierzu insbesondere: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hg.), Prozeßakten als Quelle (QFHG 37), Köln/Weimar/Wien 2001. Friedrich Battenberg/Bernd Schildt (Hg.), Das Reichskammergericht im Spiegel seiner Prozessakten. Bilanz und Perspektiven der Forschung (QFHG 57), Köln/Weimar/Wien 2010. 26 Hierzu Steffen Wunderlich, Das Protokollbuch von Mathias Alber. Zur Praxis des Reichskammergerichts im frühen 16. Jahrhundert (QFHG 58), Köln/Weimar/Wien 2011. Anette Baumann, Reichskammergericht und Universitäten in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: HZ 292 (2011), S. 365–395. Regina Sprenger, Viglius von Aytta und seine Notizen über Beratungen am Reichskammergericht 1535–1537 (Gerard Noodt Instittuut. Rechtshistorische reeks 13), Nijmegen 1988. 27 Zur Kameralliteratur siehe Heinrich Gehrke, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd. 2: Neuere Zeit (1500–1800). Das Zeitalter des gemeinen Rechts, 2. Teilbd.: Gesetzgebung und Rechtsprechung, München 1976, S. 1351ff. Ders., Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands, Charakteristik und Bibliographie der Rechtsprechungs- und Konsiliensammlungen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (Ius commune, Sonderhefte 3), Frankfurt a.M. 1974. Vgl. ebenfalls die in Anm. 9 genannten Aufsätze. 24 25

Höchste Reichsgerichtsbarkeit als mediales Ereignis

Fülle an Fragestellungen – hierbei auch für das spannende Thema der Medialität. Das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit wünscht den Lesern dieses Bandes eine erkenntnisreiche und angenehme Lektüre.

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Das Bild der höchsten Reichsgerichtsbarkeit in Chroniken der Frühneuzeit

■Andreas Deutsch■Das Bild der höchsten Reichsgerichtsbarkeit in Chroniken der Frühneuzeit■Für den Iglauer Stadtschreiber Martin Leupold von Löwenthal ist „anno 1495“ gleich in zweierlei Hinsicht ein wichtiges Jahr, denn zum einen wurde damals sein Großvater zum Schulrektor ernannt – zum andern „ist das Camergericht zu Speyer von Khaiser Maxmiliano primo angerichtet worden.“1 Wie bereits dieses kleine Beispiel zeigt, können private Geschichtsaufzeichnungen, Chroniken und Lebenserinnerungen, wie sie gerade in der Frühneuzeit verbreitet waren, interessante Informationen über das Bild der höchsten Reichsgerichtsbarkeit liefern – einen Eindruck davon vermitteln, welche Bedeutung den höchsten Gerichten des Alten Reiches aus Sicht der Bevölkerung zukam, wie die Tätigkeit der Gerichte jenseits des engen Kreises derer, die damit beruflich befasst waren, wahrgenommen wurde. Damit ergänzen die Chroniken die „harten Geschichtsquellen“ – Gesetze, Prozessordnungen, Gerichtsakten usw. – um einen wesentlichen Aspekt.2 1. Chronik als Quelle■Seit dem Mittelalter erfreuen sich Chroniken, also jene zumeist privaten Aufzeichnungen historischer Begebenheiten oder Abläufe in mehr oder weniger chronologischer Abfolge, großer Beliebtheit. Oft waren es Geistliche, Adlige oder Stadtschreiber, welche die Fakten aus Vergangenheit und Gegenwart in Zeitbeschreibungen zusammentrugen. Ihre Ziele und Schwerpunkte waren dabei höchst verschieden, Zu unterscheiden sind vor allem Mönchs-, Haus- und Familienchroniken, Städte-, Länder- und Weltchroniken. Aufgrund dieser individuell sehr verschiedenen Zielsetzungen der Chronisten ist bei der Auswertung der Chroniken naturgemäß Vorsicht geboten. So spannend die zusammengetragenen Informationen oft sein mögen, so wenig darf ihrem Wahrheitsgehalt hinsichtlich der historischen Fakten im Einzelfall bis ins Detail vertraut werden. Nicht jeder Chronist hat sich eine objektive Berichterstattung zum Ziel gesetzt. Neben die – kaum vermeidbare – subjektive Wahrnehmung des Verfassers tritt in einigen Fällen gar eine gewisse „schriftstellerische Freiheit“; so kann es beispielsweise sein, dass sich der Verfasser einer Familienchronik herausnimmt, einzelne Begebenheiten zu beschönigen, um seine Verwandtschaft in besserem Licht erscheinen zu lassen. Für manch einen Chronisten steht die Unterhaltung seiner Leser gegenüber der historischen Exaktheit klar im Vordergrund. Die gerade bei Chroniken häufig anzutreffende zeitliche Distanz zwischen Geschehen und Aufzeichnung birgt

■ 1 Martin Leupold von Löwenthal, Chronik der königlichen Stadt Iglau (1402–1607), hg. von Christian d´Elvert, Brünn 1861, S. 23. 2 Hierauf hat insb. bereits Bernhard Diestelkamp hingewiesen, vgl. ders., Gesellschaftliches Leben am Hof des Kammerrichters (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 29), Wetzlar 2002, S. 13ff. Vgl. auch Otto Franklin, Die freien Herren und Grafen von Zimmern. Beiträge zur Rechtsgeschichte nach der Zimmerischen Chronik, Freiburg 1884, zum Reichskammergericht insb. S. 111ff.

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ebenso das Risiko der Ungenauigkeit in sich wie die sehr verbreitete Berichterstattung „vom Hörensagen“. Je nach Chronik ist folglich mit einer zum Teil erheblichen Unschärfe hinsichtlich der beschriebenen Fakten zu rechnen. Da diese Unschärfe aber in der individuellen Sichtweise des Chronisten begründet liegt, verspricht sie zugleich ein umso klareres Bild der subjektiven Wahrnehmung des Verfassers – plakativ gesprochen: seiner Emotionen gegenüber dem Berichtsgegenstand, hier also etwa in Bezug auf die höchsten Reichsgerichte und ihr Personal. Dies gibt den Chroniken wiederum einen besonderen Rang als Quelle: Da sie das subjektive Erleben und Empfinden der Chronisten (und damit vermutlich auch vieler ihrer Zeitgenossen) widerspiegeln, stellen sie ein besonders spannendes Medium in Bezug auf den „Ereigniswert“ der höchsten Reichsgerichte in der zeitgenössischen Wahrnehmung dar. Der folgende knappe Beitrag kann diesen Aspekt nur anhand einzelner Beispiele beleuchten. Da die meisten Chroniken nur unzureichend erschlossen sind, 3 war eine vollständige oder repräsentative Aufarbeitung des Materials nicht möglich. Basis der Untersuchung sind – neben einzelnen über das Corpus des Deutschen Rechtswörterbuchs erschlossenen Texten – vor allem durch eigene Sammeltätigkeit aufgefundene Belegstellen. Soweit es notwendig schien, wurden die zitierten Stellen anhand anderer Quellen auf die Korrektheit ihres historischen Aussagewerts überprüft. Logischerweise würde es aber diesen Beitrag sprengen, wollte man alle nachfolgenden den Chroniken entnommenen Informationen anhand anderer Quellen auf ihren Wahrheitsgehalt hin kontrollieren wollen, zumal die Chroniken hier ja gerade nicht in erster Linie wegen der darin dargestellten historischen Fakten herangezogen wurden. Auf offensichtliche Ungenauigkeiten und Fehler der Chronisten soll im jeweiligen Einzelfall aber dennoch hingewiesen werden. 2. Einblicke in die Geschichte der höchsten Reichsgerichte■Wenn im Titel dieses Beitrags von der höchsten Reichsgerichtsbarkeit die Rede ist, so sind damit ausschließlich Reichskammergericht (RKG) und Reichshofrat (RHR) gemeint, wobei – jedenfalls nach meinen Recherchen – das RKG in den Chroniken der Frühneuzeit im Vergleich zum RHR eine dominierende Rolle spielt, vermutlich weil seine Tätigkeit früher begann und schärfer von der des Kaisers und dessen Administration abgegrenzt ist. Natürlich gehen insbesondere ältere Chroniken und verwandte Quellen auch auf die noch dem Mittelalter zuzuordnende Gerichtsbarkeit der kaiserlichen Hofgerichte (etwa in Rottweil) und des (als Vorläufer des RKG gegründeten) kaiserlichen Kammergerichts ein, wie das Beispiel Johann Jacob Fuggers zeigt,

■ 3 Soweit einige Chroniken über Stichwortverzeichnisse verfügen, so sind diese oft lückenhaft; nur selten finden sich die Schlagworte „Reichskammergericht“ oder „Reichshofrat“. Dies gilt selbst für die Deutschen Städtechroniken.

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der in seinem berühmten „Spiegel der Ehren“ unter anderem darüber unterrichtet, dass Kaiser Friedrich „erstlich zu Augsburg beym reichstag a. 1473 ein gericht mit verständigen und gelehrten männern [besetzte], dem reich recht zusprechen. Diß wurde das keyserliche cammergericht genennet“.4 Die Gründung des RKG 1495 – an der Wende zur Neuzeit – wurde von den Zeitgenossen als deutliche historische Zäsur empfunden. So wird von den Landgerichten in Ansbach, Bamberg, Würzburg und anderen fränkischen Städten berichtet: „als aber das cammer-gericht auffgerichtet worden, seindt die landt-gericht wie der monschein, wann der tag und sonnenglantz herfür bricht, verschwunden und in abgang kommen“5. Zahlreiche Chroniken greifen das wichtige Datum der Rechtsgeschichte zumindest mit kurzen Worten auf. So informiert die „Würtembergische kleine Chronica“ des Narcissus Schwelin (1660) nach Angabe der Dinkel- und Weinpreise des Jahres 1495 unter anderem über den Wormser Reichstag, auf dem „Graff Eberhard … von Käiser Maximiliano, wegen seiner Tugenden, zu einem Fürsten und Hertzogen zu Würtemberg und Teck gemacht“ wurde. Schwelin setzt aber hinzu: „Auff erstgemeldtem Reichs-Tag zu Worms hat Käiser Maximilianus der Erste das Käiserliche Cammer-Gericht zu Speyer angeordnet.“6 Sichtlich gehört dieser Beschluss des Reichstags nicht zu den zentralen Themen des württembergischen Chronisten, dennoch hielt er das RKG für derart wichtig, dass er nicht umhinkam, seine Gründung als historischen Eckpunkt zu vermerken. Außergewöhnlich ausführlich thematisiert Johann Melchior Fuchs in seiner 1711 gedruckten Bearbeitung der Speyerer Chronik die Entstehung des RKG. 7

■ Johann Jacob Fugger, Spiegel der Ehren des Hoechstloeblichsten Kayser- und Koeniglichen Erzhauses Oesterreich oder Ausführliche GeschichtSchrift von Desselben, und derer durch Erwählungs-, Heurat-, Erb-, u. Glücks-Fälle ihm zugewandter kyserlichen HöchstWürde, Königreiche ... ; auch von Derer aus diesem Haus Erwählter Sechs Ersten Römischen Käysere ... Leben und Großthaten ... Erstlich vor mehr als C Jahren verfasset ... Nunmehr aber ... Aus dem Original neu-üblicher ümgesetzet, ... aus alten und neuen Geschichtschriften erweitert ... durch Sigmund von Birken, Nürnberg 1668, S. 1080. 5 Aus: Gravamina, Klagen und Beschwerden, so Grafen, Herren … über die hohen Stend in Francken (nach 1555), in: Johann Stephan Burgermeister, Reichs-Ritterschafftliches corpus-juris oder Codex Diplomaticus, Ulm 1707, S. 663–681, 670. 6 Narcissus Schwelin, Würtembergische kleine Chronica oder Beschreibung viler denckwürdigen Geschichten, die sich in dem Hertzogthumb Würtemberg und etlich andern Orten in Kriegs- und Fridens-Zeiten begeben haben … von Anno 775. biß auff 1660, Stuttgart 1660, S. 109ff. 7 Christoph Lehmann (urspr. Verfasser), Johann Melchior Fuchs (Bearb.), Christophori Lehmanni Chronica Der Freyen Reichs Stadt Speier, darinnen von Dreyerley fuernemlich gehandelt: Erstlich vom Ursprung, Uffnehmen, Befreyung ... der Stadt Speier; Zum Andern von Anfang und Auffrichtung des Deutschen Reichs ...; zum Dritten von Anfang und Beschreibung der Bischoffen zu Speier, Frankfurt (Main) 1711, insb. S. 918ff. Das ganze Kapitel wurde von Fuchs ergänzt; die ursprüngliche Chronik des Christoph Lehmann enthält hierzu nichts. Es heißt dort lediglich auf S. 989: „Kayser Friedrich dringt auf die Hülff wider König Matthiam zu Ungarn, beschreibt die Reichs-Ständ Anno 1487 uff Oculi gen Nürnberg, handelt mit denselben vom Land-Frieden, von Bestallung des Kayserlichen Cammer-Gerichts und von einer neuen Anlag.“ 4

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Fuchs erklärt, dass er diese Ergänzungen gegenüber der ursprünglichen Chronik auf Wunsch des Publikums eingefügt habe: „Dieweilen in diesem Capitul von Anordnung des Kayserlichen Cammer-Gerichts Meldung geschiehet, so habe auf Begehren davon etwas mehrers anzeygen wollen.“ Breit schildert Fuchs die das ganze 15. Jahrhundert hindurch gehegten Pläne, ein neues Reichsgericht aufzubauen, die freilich immer wieder an gegenläufigen Interessen einzelner Stände scheiterten. „Als man nun mit allem Ernst einen beständigen Landfrieden zu machen entschlossen ware, so kame auch vor, wie ein Kays. Cammer-Gericht im Reich angestellet und geordnet werden möchte, zu solcher Veranlassung hat geholffen, weilen beym Cammer-Gericht am Kayserl. Hof die Hülffe theuer gewesen, dann die Partheyen musten mit grossen Kosten fern reysen, und wäre die Sach wegen der Partheyen, da man den Gegentheil citiren muste, verdrießlich und die Executione langsam, derowegen bey solcher Berathschlagung etzliche Stände dahin gestimmet, wann das vorhabende Kayserl. Reichs Cammer-Gericht keinen schleunigern Fortgang mit geringern Unkosten zu des Beleydigten Erleichterung erlangen solte, daß es am besten wäre, das hergebrachte alte Wesen zu erhalten.“8 Die Darstellung der vergeblichen Reformversuche endet mit dem Bemerken: „Endlich ist mehrbesagtes Kays. Reichs Cammer-Gericht auf dem Reichs-Tag zu Wormbs im Jahr 1495 erstmals angeordnet und auffgerichtet worden, nemlich von einem Cammer-Richter und sechszehen Beysitzern zu besetzen, und zu Franckfurt seinen Anfang zu nehmen.“9 Dass Fuchs so ausführlich berichtet, mag vielleicht daran liegen, dass er als Speyerer Chronist ein besonderes Augenmerk auf das lange Zeit in seiner Stadt ansässige Gericht legen wollte,10 mehr noch aber wohl daran, dass er aus seiner über zweihundertjährigen Distanz die historische Bedeutung der Gründung des Gerichts besser überblickte. Scheinbar keinerlei Interesse am Reichskammergericht hatte nämlich der ursprüngliche Verfasser der Speyerer Chronik Christoph Lehmann – er ließ seine Beschreibung zeitlich unmittelbar vor der Gründung des Gerichts enden. Und auch Friedrich Zorn, Autor der um 1570 fertiggestellten Wormser Chronik, scheint sich nicht für die Gründung des Reichskammergerichts interessiert zu haben, obwohl das RKG ja auch in der Nibelungenstadt längere Zeit ansässig war. Zorn berichtet zwar ausführlich über den in seiner Stadt abgehaltenen Reichstag 1495, erwähnt dabei aber die Gründung des Reichskammergerichts mit keinem Wort. Immerhin fügte ein Überarbeiter der Chronik im 17. Jahr-

■ Speyerer Chronica, S. 919. Speyerer Chronica, S. 922. 10 Zu den verschiedenen Sitzen des Gerichts vgl. insb. Jost Hausmann, Die Städte des Reichskammergerichts, in: Ders. (Hg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 9–36. 8 9

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hundert die knappen Worte hinzu: „Es ist auch von anrichtung des kammergerichts … dasmals gehandelt worden.“11 Zorns Werk kann in Bezug auf seine Schwerpunktsetzung als für einen großen Teil der Chroniken des 16. Jahrhunderts typisch gelten: Betitelt als „Beschreibung … was sich für denkwürdige Sachen in und um diese Stadt haben zugetragen“, schildert es mehr Kriege, städtische Krisen, schlechte Ernten, Festivitäten und anekdotenhafte Begebenheiten, denn harte rechts- oder politikhistorische Fakten. So interessiert sich Zorn auch nicht für den Umzug des Reichskammergerichts nach Worms, erwähnt aber das Gericht und sein Personal recht häufig in anderem Kontext. So beschreibt er beispielsweise wie ab Januar 1511 der Rhein bei Worms für einige Zeit zugefroren war, „daß man darauf gangen, geritten und gefahren ist“ ̶ da „haben die procuratores und schreiber des kammergerichts ein gezelt darauf aufgeschlagen, darunter allerlei eßenspeis gekocht und einen fröhlichen reihentanz darauf gehalten“.12 Ausführlich schildert Zorn einen Aufruhr der Wormser Bürgerschaft im Jahre 1513, nicht ohne auf die Schlichtungsversuche des Kammergerichts hinzuweisen: „Darauf kammerrichter und beisitzer des kaiserlichen kammergerichts den obgenannten Jacob Wonsam, Philips Salzmann und ihrer gesellschaft [der Aufrührer] fürgehalten, was großes ohnraths aus solchem vornehmen, wo sie in zwietracht kämen, erwachsen möchte, und daß sie dadurch in ungnad kaiserlicher majestät fallen würden.“13 Eine Ermahnung, die freilich nichts half. Als sich die Lage zuspitzte, setzte der Kaiser eine Schlichtungskommission ein, in welche er neben dem Bischof von Straßburg auch „h. Sigmunden graf zu Hagen, kammerrichtern“ sowie einige von „des heil. reichs räthen“ berief. Doch konnten auch diese gegen den Druck der Straße nichts ausrichten; die Forderungen radikalisierten sich. Unter anderem verlangten die Aufrührer, „daß fürder mehr kein gelehrt person vor rath oder gericht in recht etwas reden, und daß hinfür nit gestattet werden sollt, vor rath oder gericht in schriften etwas fürzutragen oder zu handeln“, wie Zorn nicht ohne Abscheu notiert.14 Spätestens als der Aufruhr gewaltsame Züge annahm, war an ein Bleiben auch des Kammergerichts nicht mehr zu denken. Zorn erwähnt den Wegzug des Gerichts nach Speyer nicht ausdrücklich, berichtet vielmehr nur von der kaiserlichen Kommission, die dem Wormser Magistrat ängstlich riet, den Forderungen nachzugeben – „darauf sind die kaiserlichen räth abgeritten.“15 Zum nächsten Vermittlungsversuch musste der Kaiser den „herren Sigmunden zum Hagen k.m. kammerrichter“ erst nach Worms entsenden16 – dieser

■ 11 Friedrich Zorn, Wormser Chronik, mit den Zusätzen Franz Bertholds von Flersheim, hg. von Wilhelm Arnold, Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 43, Stuttgart 1857, S. 201. 12 Zorn, ebd., S. 215. 13 Zorn, ebd., S. 218f. 14 Zorn, ebd., S. 224. 15 Zorn, Wormser Chronik (wie Anm. 11), S. 224. 16 Zorn, Wormser Chronik, ebd., S. 229.

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hielt sich folglich zwischenzeitlich andernorts, nämlich in Speyer, auf. Als der Aufruhr Mitte 1515 durch den kaiserlichen Landvogt für Unterelsass und dessen Truppen niedergeschlagen werden konnte, war es auch dem RKG möglich, nach Worms zurückzukehren. Doch auch dies finden wir bei Zorn nicht explizit erwähnt. Trotz dieser – wie bei Zorn so auch in anderen Chroniken – vielfach nur eher beiläufigen Erwähnungen des RKG wäre es zweifellos möglich, dessen gesamte Geschichte anhand von Zitaten aus Chroniken nachzuerzählen; da dies jedoch notgedrungen recht langwierig – und aufgrund der verstreuten Informationen auch mühselig – wäre, will ich mich hier beispielhaft auf einige Jahre ab 1539 beschränken. In der von Graf Froben Christoph von Zimmern verfassten berühmten Zimmerschen Chronik – auf die unten noch näher einzugehen sein wird – lesen wir hierzu:17 „Uf den volgenden herpst im 1539sten jar do fiel der ernstlich sterbendt zu Speir ein … do wichen alle cammergerichtspersonnen hinüber geen Wimpfen, bliben daselbst biß in das ander jar herumb, da kamen sie widerumb geen Speir. Es war den gueten herren vom cammergericht einstails gleich seltzam zu Wimpfen zu wonnen, dann sie daselbst kein gueten newen rheinischen wein haben mochten, muesten sich des sauren Neckerweins behelfen.“18 1542, so berichtet Georg Widmanns Chronik, lehnten die im Schmalkaldischen Bund zusammengeschlossenen Protestanten das – aus ihrer Sicht allzu parteiische – Reichskammergericht ab: Schon zuvor hatte „Hessen mit seinen bundzverwanndten … in allen religionssachen,19 dz ist so sie die kirche angreiffen, dz kay. cammergericht repudiert20“, so wurde „nun dz gantz cam. in ir sachen, da sie hievor cläger inhungendt richter sein, repudiertt“. Sie wollten „alldo weder recht geben noch nemen und furtter prottestiern, es werd dan dz cam.gericht vor ires gevallens reformiert.“ Der ehemalige Priester Widmann meint, „solche repudiation, wie dan im truckh auszgangen, ist vast einer oblag gleich“, komme also einer Verpflichtung nahe.21 Empört berichtet der Hildesheimer Geistliche Johann Oldekop22 in seiner – aus dem eigenen Erleben niedergeschriebenen – Chronik über die Ereignisse: „To neiner tit, weil de luthersche lere geswevet, chur und fursten, ok de lutherschen stede so hofferdich und vormeten gesporet, also in dussem jare se befunden worden. Se achten up nemande mer; de pawest und alle geistlichen

■ Zu diesem Beispiel bereits: Diestelkamp, Gesellschaftliches Leben (wie Anm. 2), S. 17. Chronik, hg. von Karl August Barack, 4 Bde., 2. Aufl., Freiburg 1881–1882, Bd. 3, S. 222f. 19 Zum Begriff der Religion seit dem Reichsabschied von 1541 vgl. den Beitrag von Branz in diesem Band. 20 D.h.: abgelehnt, verworfen. 21 Georg Widmann, Widmans Chronica, bearb. von Christian Kolb; Geschichtsquellen der Stadt Hall, Bd.2. Württembergische Geschichtsquellen, Bd.6, hg. von der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte; Stuttgart 1904, S. 279. 22 Oldekop lebte von 1493 bis 1574; seine Chronik verfasste er ab zirka 1563. 17

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weren bi one unwerdich und doet geachtet; de keiser bi one in dem anseinde, dat se siner obericheit lachenden und sin camergerichte vor nichtest heilden und deden alle, wes one gelustede und forchteden neimandes mer, aver gedechten dach und nacht, wo se den fromen keiser Carl vorjagen mochten“.23 Eher nebenbei erfahren wir ferner in der bekannten, in weiten Teilen autobiographisch geprägten Chronik des Kölner Juristen Hermann von Weinsberg, wie schwer die Religionsfrage die Arbeit des RKG über Jahre hinweg beeinträchtigt hat: 1543 nämlich waren einige Verwandte Weinsbergs um ein Grundstück in Dormagen in Streit geraten, wobei im Prozess „unser swager zu Dormagen Tilman van Langel“ zunächst das Glück auf seiner Seite hatte: „Die scheffen waren der sachen nit weise, namen schriften und gelt zu umb ein urtel vur das heubtgericht Gulich; van dannen quamen sei und als das heubturtel eroffnet ware, wart Agnesen der kamp aberkant und Derich Oss, Tilmans swegerherren, zu. Davon appelleirde Agneis an das keiserlich camergericht zu Speir. Da wart die sach angenomen, doctor Jacob Huckel war Agnesen advocat und procurator“. Doch während dieser Prozess beim Kammergericht anhängig war, „irten sich die catholischen mit den protesternden fursten und stenden des camergerichtz halber, also das uff dem richztag folgens verabscheidet wart, das das camergericht etliche zeiten uffgeschorzt werde, darzwischen ein neu reformation des camergerichtz angestalt sulte werden. Diss geschach und stunt das camergericht wol 2 jar still.“ Dies war für Weinsberg ein ausgesprochenes Ärgernis, denn solange das Gericht untätig sein musste und Weinsbergs Prozess unterbrochen war, so lange „bleib Tilman in der possession und das macht ein groisse unfruntschaft tuschen im und uns“24 Alle Hoffnungen hinsichtlich einer Wiederaufrichtung des Kammergerichts richteten sich auf den Reichstag von Worms im Jahre 1545. Denn, so berichtet Oldekop in seiner Chronik: „Up dem rikesdage to Wormse … wil de keiserliche majestat, dat beratslaget werde, dat camergerichte wedderumme to besettende, und wormede dat moge erholden werden. Und wo sik de catholischen und protesterten stende des nicht vorliken konden, so wil de keiserliche majestat dennoch rat vinden, dat ider dar rechtens vorhulpen.“25 Doch alle Bemühungen blieben erfolglos. Verständlich, dass sich Weinsberg – seinen eigenen Prozess vor Augen – daher ganz besonders für den „richztag zu Regenspurch“ 1546 interessierte, auf dem nun erneut verhandelt werden sollte, „wie man das camergericht reformeren und ob man gegen den Turken wat vurnemen sulte“. Freilich scheiterten alle Einigungsversuche am Streit zwischen Katholischen und Protestanten, „die-

■ Oldekop, Chronik des Johan Oldecop, hg. von Karl Euling, Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 190, Stuttgart 1891, S. 242. 24 Hermann von Weinsberg, Buch Weinsberg, Liber Iuventutis, Bl. 144r. ff. (vor 1561); Neuedition: Die autobiographischen Aufzeichnungen Hermann Weinsbergs, Digitale Gesamtausgabe, http://www.weinsberg.uni-bonn.de. 25 Oldekop, Chronik (wie Anm. 23), S. 242ff. 23 Johann

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weil dan Dutzscher nation nit nutzlicher were, dan das die spaltung in der religion einmail zu ende pracht worde.“ 26 Wie wichtig die Verhandlungen um die Reaktivierung des RKG ganz allgemein für die Deutschen waren, erhellt durch den Umstand, dass unter anderem auch Georg Widmann in seiner Chronik davon berichtet: „Am volgenden sambstag ritt kay. eylendts uff Regenspurg furgenommen reichsztag zu und hett gern müglichen fleisz furgewendt, damit die dissensio religionis veraindt, das cammergericht in pristinum statum gesetzt und justicia in Teitschland wider geauft wurdt.“27 Auch beim „Abschied des interims zu Augspurg“ 1548 galt laut Widmann als wichtiges Ziel: Wenigstens „in causis profanis soll dz cammergericht wider angeen“. 28 Zimmern erklärt, was hierbei die wichtigsten Punkte waren: „Uf dem grosen reichstag zu Augspurg … ließ auch Ir Majestat das cammergericht und die justicien im reich widerumb ufrichten. Es wardt die alt cammergerichtsordnung revidirt und gebössert, untaugenlich personnen ußgemustert, und insonderhait die assessores muesten der catholischen religion sein und warde niemands kainer andern secten zugelasen.“29 „Anno 1549“ konnte es endlich in Weinsbergs Rechtsstreit „von wegen des stritigen kamps zo Dormagen“ weitergehen. Weinsberg berichtet: „Dan die sach hat nuhe lange zeit stil gestanden, also das zu Speir am camergericht, da sei unerortert swebde, nitz gehandelt war, dan das camergericht hat etliche jar umb des kreichs und das es reformeirt sult werden, stil gestanden und war eiz widder in sinen zwang komen; derhalben mir angehalten und neuwe mandaten uispracht hatten, dar Tilman nit wol mit zufriden ware und jetz, weil er den ernst sach, ein gutten vertrag wol gern angenomen hett.“30 Selbst wenn das RKG nun wieder aktiv war, hieß dies bekanntlich noch lange nicht, dass damit auch alle Streitigkeiten um Verfassung und Aufbau des Gerichts beendet waren. Weinsberg schreibt: „Anno 1552 den 13. jul. quam konink Ferdinandus van sinem broder dem keiser zu Passau ... in 6 manaten wolte der keiser einen richztag uisschriben, uff wilchem von der religion sulte gehandlet werden; mitler weil sulte mallich den andern zufriden laissen; am camergericht sulten beider religion verwanten zugelaissen werden; herzoch Ott-Henrich sulte sein lant widder haben; die in dissem kreich dem bunt gehult hetten, sullen in foriger freiheit stain; die im kreich beschediget weren, sulten nichtz vurnemen, sonder sich von den richsstenden untscheiden laissen; wilche in die acht getain weren, sulten widder zu genaden sin“. Zwar wurde der Vertrag von den Unterhändlern angenommen und vom Kaiser „zu Passau

■ Buch Weinsberg, Liber Iuventutis (wie Anm. 24), Bl. 171v f. Chronik (wie Anm. 21), S. 301; vgl. auch: Oldekop, Chronik (wie Anm. 23), S. 248. 28 Widmanns Chronik (wie Anm. 21), S. 331. 29 Zimmerische Chronik III (wie Anm. 18), S. 585. 30 Buch Weinsberg, Liber Iuventutis (wie Anm. 24), Bl. 219r f. 26

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besiegelt“, aber weder der französische König noch der Markgraf Albrecht II. Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach wollten ihn akzeptieren: „der markgraif wolte von der belegerung vur Frankfort nit abstain, auch in den vertrag nit bewilligen, redt smelich uff herzoch Mauritz. … nam am 9. tage Menz in, leis im die burger sweren, verbrant dem bischof sin scloss in der stat aff samt 5 stiften und cloister und schiff mit korn und wein geladen; den van Menz und Speir nam er alle kirchenkleinater. Das camergericht moist vur dem Franzosen und markgraven fluwen.“31 Der Frankfurter Prädikant Melchior Ambach ergänzt in seiner Chronik über die Frankfurter Belagerung von 1552: „Folgends ist der markgraf auf Speyer verrückt, daselbst stift und pfaffen sampt den kammerrichtern und doctoren häuser geplündert und ein groß gut auf 24 wägen darvon geführt und auf Metz zum könig von Frankreich gezogen“.32 Die Flucht des Reichskammergerichts währte aber nicht lange; wenig darauf befindet es sich nämlich wieder in Speyer.33 Erneut freilich nur für kurze Zeit, wie Schwelin in seiner Württembergischen Chronik ausführt: „Anno 1555. ist wider … ein mittelmässig Jahr gewesen, darinnen der Früchten eine zimliche Nothdurfft, deß Weins aber, wegen des Regenwetters, … kein Uberfluß …“, meint er und fügt hinzu: „In disem Jahr ist auffm Reichstag zu Augspurg, der Religionfrid … auffgericht, bestättiget, und publicirt worden. In besagtem Jahr hat sich das Cammergericht zu Speier, wegen der Pest, nacher Eßlingen begeben.“34 Dionysius Dreytwein berichtet in seiner Esslinger Chronik von den Folgen dieser Verlegung des Kammergerichts in die Reichsstadt am Neckar: „Item im jar 1555 um santt Jacobs tag kam zu uns das kamergericht und macht die heuser theyr“.35 Mit dem im September 1555 geschlossenen Augsburger Religionsfrieden und der neuen Reichskammergerichtsordnung kehrte für das RKG wieder Frieden ein. Im Jahr darauf konnte es nach Speyer zurückkehren. Wie die Beispiele zeigen, wird das Reichskammergericht in den Chroniken des 16. Jahrhunderts recht häufig erwähnt. Durchaus schwieriger ist es, entsprechende Berichte über den Reichshofrat zu finden. Gehäuft scheinen sie erst in Chroniken des 17. Jahrhunderts aufzutreten und vielfach scheinen sie noch knapper – um nicht zu schreiben: beiläufiger – zu sein als die Schilderungen zum Reichskammergericht. Insoweit darf die „Chronica von Anfang der Welt

■ Buch Weinsberg, Liber Iuventutis (wie Anm. 24), Bl. 265r f. Rudolf Jung (Bearb.), Frankfurter Chroniken und annalistische Aufzeichnungen der Reformationszeit, nebst einer Darstellung der Frankfurter Belagerung von 1552, Frankfurt (Main) 1888, S. 379–401, 397f. 33 Laut Britta Düvelmeyer (Die Verlegung des Reichskammergerichts von Speyer nach Wetzlar; Norderstedt 2007, S. 6) hatte das RKG um eine Verlegung nach Köln ersucht, wozu es aber nicht gekommen war. 34 Schwelin, Würtembergische kleine Chronica (wie Anm. 6), S. 180f. 35 Dionysius Dreytweins Esslingische Chronik, 1548–1564, hg. von Adolf Diehl, Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 221, Stuttgart 1901, S. 161. 31 32

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Bisz auff dieses 1668ste Jahr“ des Melchior Balthasar Kupfferschmid als typisch gelten: Darin heißt es nach der Schilderung einer Reise des englischen Botschafters nach Münster im Frühjahr 1666: „Umb diese Zeit ward Herr Graff Leopold von Königseck zum Reichs-Hof-Raths Vice-Präsidenten erkläret“. Gleich der nächste Satz handelt von Ungarn, denn dort „thäten die Hussarn den Neuhäußler-Türcken mit Streiffen zimlichen Schaden und erlegten derselben nicht wenig“36 Die geringe Resonanz der Chroniken in Bezug auf den Reichshofrat mag zu einem gewichtigen Teil darauf zurückzuführen sein, dass dieses am kaiserlichen Hofe in Wien angesiedelte Gericht in der öffentlichen Wahrnehmung nicht scharf vom Kaiser und dessen Regierungstätigkeit abgegrenzt war. Hermann von Weinsberg beschreibt, wie der 1550 in Köln weilende Kaiser Karl V. die Jurisdiktionsgewalt über seine eigenen Leute selbst beanspruchte, was seine Gerichtsbarkeit unwillkürlich in die Nähe des mittelalterlichen königlichen Hofgerichts rücken lässt: „Anno 1550, als der keiser noch in Coln war, hat man den 13. junii 2 Hispanier zu Coln uff den Heumart vur den kamp gehangen; der ein hatt einen doit gesclagen, der ander hat gestolen. Ich hab sulchs vam raitztorn gesehen, und des keisers commissarii in criminalibus haben das urtel uisgesprochen.“37 An anderer Stelle schreibt Weinsberg von einer Reichshofrats-Kommission, ohne den Reichshofrat hierbei ausdrücklich zu benennen: „Anno 1567 den 13. jan. sint etliche des keisers und reichs commissarii hie zu Coln gewest, in causa moderationis zugen zu examinern. So bin ich auch von wegen eins erbarn raitz vur einen zugen gefort und verhort.“38 Selbst der Chronist Michael Praun, der in seinem „Hellglänzenden RitterSpiegel“ den Reichshofrat immerhin ausdrücklich erwähnt, sah das Gericht offenbar nur als verlängerten Arm des Kaisers an, wie sich an seinen Ausführungen zum „Marburger Erbfolgestreit“ der Jahre 1623/24 und zur umstrittenen Erbfolge der Kinder des Eduard Fortunat von Baden (um 1622) zeigt: „Hierauf hat der Käyser seine Authorität noch mehr sehen lassen, und hat in dem folgenden 24ten Jahr wider den Landgrafen von Hessen Cassel am Käyserl. Reichs-Hof-Rath ein schweres Urtheil ergehen lassen, darinnen Er den Landgrafen Wilhelm von Hessen Cassel dahin verdammt, seinem Vettern, dem Landgrafen von Darmstatt, die Stadt Marpurg sampt der darzugehörigen Landschafft, zu restituiren; welches Urtheil der Tylli exequiret. Dergleichen harten Sentenz hat auch deß vorigen Jahrs der Marggraf von Durlach bekommen, welchem deß Eduardi Kindern ihre vätterliche Erb-Land von dem Käys.

■ 36 Melchior Balthasar Kupfferschmid, Chronica, Das ist Kurtz-verfaste GeschichtBeschreibung, was sich von Anfang der Welt Bisz auff dieses 1668ste Jahr begeben und zugetragen, Frankfurt (Main) 1668, S. 712. 37 Buch Weinsberg, Liber Iuventutis (wie Anm. 24), Bl. 236r. 38 Buch Weinsberg, Liber Iuventutis, ebd., Bl. 525v.

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Reichs-Hofrath zu restituiren auferlegt worden ist; welches Urtheil der Tylli auch ostensione armorum exequiret hat.”39 3. Von der Zuständigkeit und Unzuständigkeit der Reichsgerichte■In Anbetracht des zur Natur von Chroniken Gesagten verwundert es kaum, dass harte rechtliche Fakten – wie beispielsweise Fragen der örtlichen oder sachlichen Zuständigkeit des Reichskammergerichts – in Chroniken nur selten und wenn überhaupt, dann in aller Regel eher beiläufig erwähnt werden. Eine Ausnahme bildet hier vielleicht Christoph Scheurls in den deutschen Städtechroniken abgedruckte Epistel, eine Nürnberger Beschreibung von 1516, die später gleich einem Praxishandbuch als Prozessanleitung verwendet wurde. Darin heißt es über die Rechtsmittel gegen Urteile des Nürnberger Stadtgerichts: „von diesem statgericht würt in sachen, so sechshundert gulden nicht ubertreffen, fur ein erbarn rath, in denen aber so bestimpte summa uberstaigen an das kaiserlich kamergericht appelliert“.40 Ähnlich funktionierte das 1546 verliehene Appellationsprivileg für Herzog Wilhelm von Jülich, Kleve und Berg, worüber die Chronik des klevischen Registrators Johannes Turck informiert, dass nämlich „hinfuro in ewigheit van geinen bei- oder endlichen urdeilen erkentnus so an seiner f.g. hof oder hauptgerichten uitgesprachen in sachen, da die hoeftsomm nit over 400 goltgulden wert, am kaiser oder kaiserlichen cammergericht oder jemands anders appellirt, supplicirt noch reducirt, sonder exequirt und volnstreckt werden sollen.“41 Der 1625 verstorbene Johannes Turck berichtet auch über den Sonderstatus des Burgundischen Reichskreises, zu dem u.a. auch die Niederlande zählten: Auf dem Reichstag zu Regensburg 1548 habe man sich dahin verglichen, dass dies ein „besonder crais sein“ solle, der „to den reichsdagen mit beschreven, sitz und stimme wie Oesterreich haben, in reichssteuren so voel als twee churfürsten, im zug wider Turken als drie churfursten contribuiren und hilf leisten, sonst aver van den gemeinen pennong oder capitation, dann oich van des kais cammergericht jurisdiction und kaiserlichen reichs satzungen (uiterhalven in causis fractis pacis, landfriedenscontribution und schuldigen reichssteuren)

■ Michael Praun, Hellglänzender Ritter-Spiegel Worinnen I. Die Göttliche Verhengnüssen in Kriegs-Sachen, ... II. Die Tugenden und Eigenschafften eines vollkommenen FeldHerrns … III. Eine Summarische Beschreibung der fürnehmsten Feld-Herren und Kriegshelden, welche so wohl in vorigen, als diesem Jahrhundert gelebt ... IV. Die Göttliche Providentz, über alle Menschen und Welt-Händel ... vorgestellet werden, Augsburg 1695, S. 105. 40 Christoph Scheurl´s Epistel, Deutsche Städtechroniken 11, Nürnberger Chroniken 5, Leipzig 1874, S. 785–804, 801. 41 Die Chronik des Johannes Turck, hg. von Ferdinand Schroeder, in: Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 58 (1894), S. 1–175, hier 131. 39

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exempt und frei, dweiniger nit in des heil. reichs schutz und schirm sein und blyven sollen“.42 Eine spezielle Ausnahme der reichskammergerichtlichen Kompetenz in Religionsangelegenheiten spricht die Widmannsche Chronik 1541 an: „ob aber die Lutterischen die bäpstischen angriffen, mög der beschedigt sich desz am cammergericht beclagen. So aber der beschediger excipirt, dz solche beschedigung ain religionssach sey, so soll nit weitter procediert, sonder bisz der kayser ainmal inn Teudschland kum, selbs darein handel, procediert werden.“43 Die einzige von mir aufgefundene Quelle, die etwas ausführlicher über Aufbau und Zuständigkeiten des Reichshofrats berichtet, ist Eberhard Werner Happels „Mundus Mirabilis Tripartitus, Oder Wunderbare Welt, in einer kurtzen Cosmographia fürgestellet“. Doch muss ich in Frage stellen, ob diese 1688 in Ulm gedruckte Weltbeschreibung zu den Chroniken gerechnet werden darf. Aufgrund der nicht uninteressanten Ausführungen zum „Justiz-Wesen“, sei hier dennoch daraus zitiert. Happel führt aus: „Die Oerter, wo die höchste Justitz im Reiche mitgetheilet wird, sind die Stadt Speyer und die Käyserl. Hofstadt Wien.“ Speziell zur Wiener Gerichtsbarkeit fügt er hinzu: „Der Käyserl. Reichs-Hof-Rath ist das erste Collegium, in welchem von den ReichsSachen in dem Käyserl. Hofe das Recht gesprochen wird. Das höchste OberHaupts dieses Raths ist die Käyserl. Maj. selbst. Welcher nachfolget, und in dero Abwesen die Stelle vertritt ein Praesident I. F. D. Herr Johann Adolff, deß H. Röm. Reichs-Fürst zu Schwartzenberg so jüngst verstorben, dann der VicePraesident neulich Jh. Gräfl. Gnaden. Herr Frobenius Maria Graf zu Fürstenberg. Denen folgen die übrigen Herren Beysitzere, welche abgetheilet werden in zwo Bäncke, die Ritter-Banck, und die Gelehrten-Banck. Die Herren Assessores sollen an der Zahl achtzehen seyn, sind aber dermahlen mehr nicht als XVI. die Herren Praesidenten mit eingeschlossen …“. Zum Verhältnis des RHR zu weiteren Gerichten im Reich lesen wir ferner: „Dieses hohe Reichs-Gerichte hat mit dem Kammer-Gerichte zu Speyer Concurrentem Jurisdictionem, gleich gewaltige Bottmäßigkeit, gleich mächtige und zusammen lauffende Gerichtsbarkeit, außgenommen die jenigen Sachen, so Scepter- und Fahnen- und Schwert-Lehn anbetreffen, und andere mehr, welche, wie ingleichen die Art deß allhie üblichen Processes, auß der erneuerten Reichs-Hof-Raths-Ordnung Ferdinandi deß III. … erlernet werden können.“44 Weiteres führt Happel unter anderem zum Rottweiler Hofgericht aus, das er ausdrücklich zu den Reichsge-

■ Turck, Chronik (wie Anm. 41), S. 133. Widmanns Chronik (wie Anm. 21), S. 270, (1550). 44 Eberhard Werner Happel, Mundi Mirabilis Tripartiti, Oder Wunderbaren Welt, in einer kurtzen Cosmographia fürgestellet, anderer Theil, welcher handelt Von den Menschen auf der Welt, von ihren Dignitäten, Potentaten, Religionen, Estats-Maximen, Macht, Intraden, Kriegs-Art, Waffen, Policey, Regiments-Geschäfften, Wahl-Ceremonien, Krönungen, Kleidungen, Sitten, hohen Gerichts-Kammern, ... Ulm 1688, S. 124f. 42 43

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richten zählt: „Von diesem Gerichte ergehen die Appellationes nacher Speyer, und auch an den Reichs-Hof-Rath.“45 4. Außendarstellung des Gerichtspersonals: Zwischen Ansehen und Repräsentationsgehabe■Während rechtliche und historische Fakten zur höchsten Reichsgerichtsbarkeit sicherer und zumeist fundierter aus anderen Quellen heraus erforscht werden können, geben die Chroniken oft einmalige Einblicke in das tatsächliche Leben der an den Gerichten wirkenden Menschen, berichten etwa über das öffentliche Auftreten des Personals der höchsten Reichsgerichte und liefern damit ein eindrückliches Zeugnis davon, welchen Eindruck Richter, Assessoren, Anwälte oder Prozessparteien bei der Bevölkerung oder außenstehenden Beobachtern hinterließen. An erster Stelle ist hier die oben bereits mehrfach erwähnte Chronik des Grafen Froben Christoph von Zimmern (1519–1566) zu nennen, denn die darin aufzufindenden sehr zahlreichen, bisweilen ungewöhnlich detaillierten Ausführungen zum Reichskammergericht dürften unmittelbar aus den Erzählungen von Frobens Onkel, dem Kammerrichter und Historiker Wilhelm Werner von Zimmern, niedergeschrieben worden sein. Die Authentizität der Berichte erscheint so groß, dass Wilhelm Werner früher sogar als (Mit-)Verfasser der Chronik gehandelt wurde.46 Auch aus verfassungsrechtlicher Sicht spannend ist die Beschreibung der Zimmerschen Chronik „wie kaiser Carl grave Wilhemen Wernhern von Zimbern zu einem cammerrichter im hailigen reich verordnet“ hat. Als nämlich auf dem Augsburger Reformreichstag 1548 „Ir Majestat das cammergericht und die justicien im reich widerumb ufrichten“, war es nötig, dass die Assessoren dort „ein haupt wider heten, das in deutscher nation bekannt und des reichs obligen, auch cammergerichtsgepreuch wisste“, weshalb „der kaiser vilbemelten graf Wilhelm Wernhern“, den Onkel des Chronisten, zum Richter bestellte. 47 Gerne nahm dieser das ihm angetragene Amt an „mit dem underthenigisten erbieten, das er das bevolchen cammerrichterampt seines böstes fleis und vermegen zu verrichten“. So zog Graf von Zimmern nach Speyer, wo ihm ein feierlicher Empfang bereitet wurde: „Den letsten Septembris hat bischof Philips von Speir … als ain kaiserlicher commissarius graf Wilhelmen Wernhern, auch alle andere cammergerichtspersonnen, so dozumal erschinen und ankommen waren, für sich in die pfalz erfordert. Denen allen hat er mit

■ Happel, Mundus Mirabilis Tripartitus 2, ebd., S. 126. bereits die Ausführungen bei Barack, Zimmerische Chronik IV (wie Anm. 18), S. 324ff; Franklin, Grafen von Zimmern (wie Anm. 2), S. 3 und 111ff. Gerhard Wolf, Art. ,Froben Christoph von Zimmern̒, in: Walther Killy (Hg.), Killy Literaturlexikon, Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 12, Gütersloh 1992. Ferner etwa Hansmartin DeckerHauff (Hg.), Die Chronik der Grafen von Zimmern, Handschriften 580 und 581 der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek Donaueschingen, unter Mitarbeit von Rudolf Seigel, Konstanz 1964–1972. 47 Zimmerische Chronik III (wie Anm. 18), S. 586. 45

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ainer vorgenden redt die kaiserlich commission eröffnet“. Die eigentlichen Feierlichkeiten begannen „des andern tags“, als der Bischof „zu ainem glücklichen anfang ein loblich ampt de sancto spiritu im tomstift singen … [hat] lasen“, um dann Richter und Assessoren „in kaiserlicher Majestat nammen zu beaidigen“. Hierzu gehörte eine Art Inthronisation des Gerichtspersonals, wobei wir nebenbei erfahren, wo das Gericht in dieser frühen Zeit seine Sitzungen abhielt. Denn „nach volprachtem ampt ist der bischof sampt dem cammerrichter und den andern allen in die gewonlich ratstuben gegangen. Daselbs hat er den cammerrichter in den gewonlichen gerichtlichen stuel gesetzt, dem den gerichtsstab überantwurt und bevolchen, auch die andern herren und doctores nach der cammergerichtsordnung installirt und iedem sein gepürende session ingeben.“48 Ein – erneut deutlich späteres – Gegenstück aus der Geschichte des Reichshofrats liefert die Chronik des Johann Georg Lupin. Als 1690 der Reichshofratspräsident und Reichsvizekanzler Leopold Wilhelm Graf von KönigseggRothenfels49 durch Biberach reiste, erlebte Lubin das Ereignis wie folgt: „16. Aprilis abends kam Ihro Hochgräfliche Excellentz von Königsegg, ReichsVice-Cantzler, mit ihro Gemahlin, Freulein Tochter und dero versprochnen Bräutigamb, Herrn Landgraffens von Fürstenberg-Stülingen Excellentz, hir an, kamen von dero Graffschafft Immenstadt und reißten auf Wien, mußten von Orth zu Orth in einem Sessel getragen werden, weilen schon in 7 Jahren wegen podagrischen Zustandes [=Gicht] nimmer weder gehen noch stehen konten. 4 Geheime Räth mit dem Herrn Rathsconsulenten beneventirten sie folgenden Morgens bey der Cronen, und wurde mit 6 Säck Haaber, 5 Aimer Neckerwein, so bis nach Ulm ihr nachgeführt worden, sodan 6 Stuck Wellenen, deren jede 8 in 9 Pfund hatte und welche sie denen Cappucinern hinnach verehrt, beschencket.“50 5. Blicke hinter die Kulissen – Gerichtspersonal und Prozessparteien■Der Blick hinter die Kulissen, den uns die Chroniken bieten, wird bisweilen sogar ein wenig indiskret. Nicht nur deshalb, sondern auch weil über das Reichskammergerichtspersonal der frühen Zeit bislang nur wenig bekannt ist, erscheint die Lektüre der Chroniken hierzu besonders spannend. So ist über den Assessor Hans Mangolt außer seinem Namen bis dato kaum etwas bekannt. Johann Herolt berichtet aber in seiner Hällischen Chronik, „Doctor Hanns Mangolt, beyder rechten doctor“ habe als Schwäbisch Haller Stadt-

■ Zimmerische Chronik III, ebd., S. 588f. Vgl. Anm. 94 in der Edition der Chronik. 50 Chronik des Johann Georg Lupin „von Anno 1685“ [und folgende], in: Kurt Diemer (Hg.), Biberacher Chroniken des 17. und 18. Jahrhunderts, Konstanz/Eggingen 2008, S. 17–118, 58. 48 49

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schreiber bei der Großen Zwietracht 1512 geschickt vermittelt.51 Dann aber, um 1520 habe er „sich vergessen – unnd wie man sagt, es widerfert keim weisen man kein kleine thorheit – hat [er] die kelter iennerhalb Kochens, die sein war, dem schennckhen zu Limpurg [also dem Erbfeind der Reichsstadt] on wissen eines erbarn raths verkaufft.“ Es war grundsätzlich verboten, Gebäude oder Grundstücke an Auswärtige zu verkaufen. Als „ine ein erbar rath beschickht“, sorgte sich Mangolt daher, „es würt im gien wie Hansen von Stetten, dem man den kopf vor dem rathausz abschlug“. Daher „fluhe er in das barfüessercloster in die freyheit … zuletzt kam er hinweg, ward assessor im cammergericht“.52 Dass er auch dort besonderes Verhandlungsgeschick bewies, zeigt die 1533 verfasste Bauernkriegschronik des Herman Hofman; diese zählt Mangolt bei jenen Personen auf, welchen „die uffrurischen bauren in disen emporungen paspurten geben haben“: „Nachdem die erbarn und hochgelerten herren Johann Mangolt, kayserlichs cammergerichts beysitzer und Fridrich Reyfsteck vermelts camergerichts advocat und procurator, bede der rechten doctor, willens sich diser uffrurigen lauft halben von Esselingen und an andere gelegene ort und ende zuthon, … bede … die sache gern gut sehen, sunderlich jungst hern doctor Johann Mangolten fridlich vermerkt, so sind wir inen vor andern zu allem guten genaigt.“ Deshalb sagten die Bauern Mangold und seiner Familie „schutz und schirme“ zu.53 Das Reichskammergericht war zu dieser Zeit – bei entsprechendem Talent – offensichtlich für Quereinsteiger durchaus offen. Auch Hermann von Weinsberg berichtet von einem Juristen einfacher Herkunft, dem das RKG als Karrieresprungbrett diente: „A. 1591 den 17. apr. starb doctor Johan Michaelis Cronenberg … war … sclechter herkomst, war ein weil zit zu Speir im keiserlichen camergericht beisitzer gewest, hat hie zu Coln eine widwe, Diederichn Pfingsthorns dochter, zur ehe bekomen, die von fatter und motter reich und befrundt war, damit er nach Speir zog wonen, doch sich widder auf Coln begab, des churfursten von Coln rait wart“.54 Vom teils derben Tonfall in Speyerer Gerichtskreisen zeugt Froben von Zimmern. Fast unerschöpflich scheinen diesbezüglich die Berichte seines Onkels Wilhelm Werner gewesen zu sein, die Froben sichtlich mit großer Freude wie-

■ 51 1513 macht ihn – vermutlich aufgrund seiner einschlägigen Erfahrungen – der aus der Stadt geflohene Wormser Magistrat zu einem seiner Rechtsbeistände im Streit gegen die aufständische Wormser Bürgerschaft, vgl. Heinrich Boos, Franz von Sickingen und die Stadt Worms, in: ZGO NF 3 (1888), S. 387–422, 403. 52 Johann Herolts Chronica, in: Dietrich Schäfer (Hg.), Württembergische Geschichtsquellen 1, Stuttgart 1894, S. 1–270, 146f. Die Kontakte zum Reichskammergericht dürften aus seiner Vermittlungstätigkeit im Auftrag des Wormser Magistrats stammen – schließlich fanden die Verhandlungen im Beisein einzelner Mitglieder des RKG statt (vgl. vorige Anm.). 53 Stadtschreiber Herman Hoffmans Bauernkrieg, Württembergische Geschichtsquellen 1, Stuttgart 1894, S. 271–352, 300f. 54 Buch Weinsberg, Liber Decrepitudinis (wie Anm. 24), Bl. 213r.

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dergibt; so beispielsweise über „Wilhalm von Reischach, der ainest seiner gueten sprüch halb ganz abenteurlich“. Dieser Herr von Reischach „het ain rechtfertigung am cammergericht zu Speir vil jar hangen ... Nun kam er uf ain zeit geen Speir zu grave Adamen von Beuchlingen, dem cammerrichter. Der und andere assessores mechten in trefenlich wol leiden. Er sprach under anderm zu inen: ,Gewin ich mein sach bei euch, so sein ir from leut, aber verliere ichs, botz herziger herz! so sein ir all lecker und bueben.ʻ“ Diese heftige Wortwahl gegenüber den Mitgliedern des höchsten Reichsgerichts war aus Sicht des Chronisten offenbar bemerkens- und auch nacherzählenswert, doch scheint sie im 16. Jahrhundert nicht derart ungehörig gewesen zu sein, dass die Sätze für Reischach schlimmere Folgen nach sich gezogen hätten, sie bewirkten vielmehr – gemäß der Chronik – nur „das sein menigclichen lachen must.“55 Zimmern berichtet ferner von einem „Doctor Lienhart Hochmüller, war von Gerspach und ain procurator am cammergericht, ein wunderschleckerhaft man“. Dieser alte Herr hatte 1539 „ain guete metzen zu im nachts beschaiden, hieß die Nüerenbergerin, war fürwar ain schöne fraw, und darumb sie in dem buebenleben umbherlief, das bleibt verschwigen. Wie nun die gegen aubends zu ime kam, were er gern ain guet gesell gewest und sich also ain man erzaigt, aber er war ain gueter, alter knecht und der nit vil verworrens mehr machen konte. Wie es aber gar nit wolt von statten geen, sprücht er: ,Nun sindt ir aber ihe weibs genug?ʻ schankt ir ain par daller und ließ sie wider hinziehen, und het nit grosen schaden gethon. Er wardt desshalben vil von seinen gesellen und bekannten gespait“.56 Das Beispiel zeigt eindrücklich, wie klein und überschaubar die Speyerer Gerichtskreise im 16. Jahrhundert waren: Selbst privateste Details machten offenbar schnell die Runde. Jeder kannte jeden – im Guten wie im Schlechten. Ein Umstand, der sicherlich nicht ohne Auswirkung auf die Rechtsprechung des Reichskammergerichts blieb. 6. Prozesse und Rechtsfälle im Augenmerk der Chronisten■Naturgemäß sind spektakuläre Rechtsfälle vor einem höchsten Gericht auch früher schon ein beliebter Darstellungsgegenstand gewesen. Wie bereits aus oben angeführten Beispielen erhellt, waren die Gründe, weshalb ein Chronist einen Prozess oder eine sonstige Handlung der Reichsgerichte als spektakulär oder wenigstens als erwähnenswert empfand, allerdings höchst unterschiedlich. Wenn im Folgenden die große Mehrzahl der angeführten Zitate Konflikte zwischen katholischen und protestantischen Parteien betreffen, so ist dies dennoch kein Zufall, denn eine sehr hohe Anzahl der in den Chroniken geschilderten Rechtsstreitigkeiten betreffen genau diesen Bereich. Vermutlich berührten die religiös motivierten Konflikte die Chronisten mehr als alle anderen Prozesse.

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Zimmerische Chronik II (wie Anm. 18), S. 65. Zimmerische Chronik III, ebd., S. 223.

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Im Buch Weinsberg erfahren wir, wie das Reichskammergericht in gewisser Weise auch Folgen des Bauernkriegs aufgearbeitet hat: „Anno 1525 hat sich der erschrecklicher baurenuffroir in Dutzlant, in Swaben, Elsas, in Frankenlant, Duringen, am Rheinstrom, in Lothringen, im Algeu und ront umbher erreget, das die bauren ungestomlich an vil orten samenleifen wie unsinnige leut … Disse uffrur magte auch sulchen schrecken zu Coln under der geistlicheit, das sei sich freiwillich inleissen die zins van wein, beir und korn zu geben, so fern man sei beschutzen und beschirmen wolte. Vurhin plagen sei frei zu sin und gaben nichtz und sint van dissem jar bei der zinsen verpliben bis uff heutigen tag, wiewol sei sich oft gegen einen rait gestrefft haben und zu Speir am keiserlichen camergericht darumb procedeirt“.57 Ein interessantes Beispiel für eine Legation des Reichskammergerichts in den ersten Jahrzehnten seiner Existenz liefert der 1589 verstorbene Architekt Daniel Specklin in seinen „Collectaneae“. Er berichtet von reformatorischen Bestrebungen der Straßburger Bürger um 1529, gegen welche die konservativen Ritter machtlos waren; ihre Forderung im Rat der Stadt, „dass solches gehintert und die mess nit gar abgeschafft würde“, verhallte, denn die bürgerliche Ratsmehrheit war reformationsfreundlich. „Da nun der bischoff kein mittel wusste, diese sach zu hintertreiben, zöge er gehn Speyer, zeigte beym kayserlichen cammergericht alle handlung an, begehrte beystand dem vornehmen des raths zu widerstehen. Hierauff wurde von Speyer [ende junii] eine stattliche legation nach Strassburg gesand, und kehrten im bischoffshoff ein, dahin sich der rath begabe.“ Die Kommission kam zu dem Schluss, „dass im nahmen des kaysers die mess und gottesdienst nit abgestelt werden soll, dan es stünde weder dem kayser noch denen staenden zu, noch viel weniger ihnen, die alte, von unsern eltern lang hergebrachte religion zu veraendern, ohne ein general oder national concilium. Da koenten sie ihre klagen vorbringen und einen genaedigen bescheid erwarten, dan in keinem rechten zugelassen, was von allgemeiner kirchen und bewilligung aller weit gesetzt und ahngenommen, andern ohne bewilligung abzuthun sunder zuvor von denen erlaubnuss haben. Wo sie aber würden verharren und also gewahsam fürfaren, künnten sie erwarten, dass kays. Mayestet, auch deren Statthalter, koenig Ferdinandus, in ungnade auffnemen“.58 Bekanntermaßen hatte diese Mahnung keine nachhaltige Wirkung, vielmehr blieb Straßburg beim protestantischen Glauben und bekräftigte seine Position durch Mitgliedschaft im Schmalkaldischen Bund. Über eine inhaltlich ähnliche, fast zeitgleich angestrengte Klage aus einer ganz anderen Region Deutschlands berichtet Senatssyndicus Dr. iur. Adam Tratziger in seiner „Chronica der Stadt Hamburg“: „Desselbigen jares wurt aus Jacobi doctor Johan Bugenhagen von Wittenberg gen Hamburg gefordert, die kirchen

■ Buch Weinsberg, Liber Iuventutis (wie Anm. 24), Bl. 20r f. Rod. Reuss (Hg.), Les collectanées de Daniel Specklin – Specklini collectanea (Fortsetzung), in: Mittheilungen der Gesellschaft für Erhaltung der Geschichtlichen Denkmäler im Elsass, 2. Folge 14 (1889), S. 1–178 und 201–404, S. 335f.

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zu reformiren, welches geschehen; und seint also die alten ceremonien worden abgetan, und es hat doctor Bugenhagen eine kirchenordnunge gestellet, darnach man sich hinfortan richten und halten solte … Der tumbprovst und dechant wichen aus der stat und beklagten von wegen obangeregter veranderunge den rat und gemeinde am cammergericht, erhielten auch wider sie ein Mandat und bedinge, welche ausgegangen ermelts 28. jares den 10. tag decembris.“59 Wenig Einfluss auf die Ereignisse hatte das RKG auch, als „marggraff Albrecht van Brandenburch, hohemeister, den Deutzen orden verlaissen, zur ehe gegriffen und im das lant zu Preussen zu eigen gemacht hatte, das vur zeiten dem orden zustendich ware“, denn – so erzählt Weinsberg in seinem Liber Iuventutis – der Markgraf sei „derhalb … vom camergericht vur 12 jarn in die acht ercleirt“60 worden – ohne dass dies bis zum Jahre 1544 konkretere Folgen für ihn gehabt hätte. Dass religiös motivierte Klagen auch vor den Reichshofrat gelangen konnten, belegt Andreas Lazarus von Imhof, der in seinem „Historischen Bilder-Saal“ (1695) schreibt: „Der erste Handel [Kaiser Rudolfs] entstund über dem Stritt der Stadt Aachen, allwo die von der Evangelischen Religion auch einen Theil an dem Stadt-Regiment haben wolten, und als man aus ihren Mitteln niemand in den Rath nehmen wolte erregten sie einen Tumult, setzten den alten Rath mit Gewalt ab, und machten einige Burgermeister von der Evangelischen Seite: als nun der Kayser die Sache in den alten Stand wieder zu setzen befahl, diese aber solches zu thun weigerten, ergieng endlich anno 1592 am Käyserlichen Reichs-Hof-Rath ein Urthel, daß die neue Burgermeister und Raths-Herrn, bey Straffe der Acht, abtretten, die alte Catholische wieder introducirt werden und alles Exercitium der Augspurgischen Religion in der Stadt aufgehoben seyn solte.“61 Bemerkenswert ist, welch unterschiedliche Verfahrensarten in den Chroniken thematisiert werden. Als 1552 eine sogenannte „Türkensteuer“ erhoben wurde, ist laut Paul Hektor Mairs zweiter Chronik auch „ain warnungsbrief, von dem kaiserlichen camergericht ausgangen, [worin] mit angehengter peen der acht gebotten ist, nemblich daß ein yder, was stands und wesens er sei, … so dieser anlag zuwder sein möchten, von allen seinen beweglichen und unbeweglichen haben und gütern … je von hundert guldin rechts werdts ain halben guldin …

■ Tratziger's Chronica der Stadt Hamburg, Der alten weitberuhmten Stadt Hamburg chronica und Jahrbucher von der Zeit Caroli des Großen bis uf das keisertumb Caroli des Funften, hg. von Johann Martin Lappenberg, Hamburg 1865, S. 263f. Zu einem Urteil 1533, s. ebenda, S. 279; zur erneuten Fortsetzung des Verfahrens 1555: ebenda, S. 296f. Die Chronik wurde 1557 vollendet. 60 Buch Weinsberg, Liber Iuventutis (wie Anm. 24), Bl. 152r. 61 Andreas Lazarus von Imhof, Neu-eröffneten Historischen Bilder-Saals Vierdter Theil: Das ist: Kurtze, deutliche und unpassionirte Beschreibung der Historiae Universalis, enthaltend, Die Geschichten von Käyser Carolo IV. an, biß auf die Regierung Käysers Leopoldi I., Nürnberg 1695, S. 473. 59

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bezale.“62 Ob dies die Reichsstände beeindruckt hat? Der Chronist jedenfalls empfand es als erwähnenswert. Ein ungewöhnliches Beispiel dafür, dass die Kammerrichter auch von der Stadt Speyer in Rechtsfragen konsultiert wurden – und welche ganz faktischen Probleme ein solcher Rat haben konnte, finden wir in der Zimmerschen Chronik: „im jar 1560 nechsthin, zu anfang desselben jars, do hat sich ain gedechtnuswirdige sach mit zwaien jungen knaben zu und bei Speir begeben, under denen der ein dreizehenjärig, der ander bei vierzehen jaren … Haben nahendt bei dem Rhein der ross gehüetet, hat der jünger ain äxtlin in der handt gehapt und under andern schimpfreden zu seinem gesellen gesagt: ,Ich het ain lust, ich sollt dir den kopf abhawen.ʻ Uf solches der ander geantwurtet: ,Wie woltestu mir mit disem unachtbarn äxtlin den kopf kinden abhawen?ʻ Zwischen solchen und dergleichen gesprech hat gedachter dreizehenjäriger knab das äxtlin gezuckt und seinen mitgesellen an das haupt geschlagen, das er zu boden gefallen; darauf ime in zwaien streichen den kopf gar abgehawen, die cleider [des andern Jungen] angelegt und den cörpel neben dem Rhein hünder das gesteudig verborgen.“ 63 Als der verstorbene Knabe abends nicht heimkam, machten sich die Eltern Sorgen. Es sprach sich aber schnell herum: „,Es ist alhie ain rossbueb, der tregt ain klaid an aller form und gestalt nach, wie ewer sun, denselben mueß man fragen.ʻ Hierauf die eltern erkundigung gethon, und als sie die klaidung erkant, haben sie zur stund zum knaben greifen lasen. Der hat die that, wie oben gemelt, frei und ungezwungen bekannt. Dieweil er aber noch jung und unverstendig, hat ein gemeiner rath zu Speir etlicher doctorn des kaiserlichen cammergerichts consilia hüerüber begert, welche einhelligclich beschlossen, dieweil der knab also lüstig gewesen, das er nach der begangnen that den cörpel auch verborgen und die missethat zu verhelingen begert, so soll er unbetagt seiner jugendt mit dem wasser getödt werden.“64 Dem Speyerer Rat war eine öffentliche Vollstreckung jedoch zu teuer, weshalb die Richter beschlossen, „das ire zwen, die obristen richter, allain mit dem nachrichter, auch etlichen scherchen, die künftig nacht zwischen 9 und 10 uhrn den knaben uf die brugken fieren, die thor beschliesen und den ertrenken sollenden.“ Nach langem Untertauchen wurde der leblose Körper heraufgezogen, für tot erkannt und „in das gewonlich todtenheusle“ verbracht. Als er dort tags darauf lebend vorgefunden wurde, begnügten sich die Richter mit einem Landesverweis. Um nicht allzu einseitig nur das Reichskammergericht zu beleuchten, sei noch ein spätes Beispiel für die Exekutionsgewalt des Reichshofrats erwähnt – aus Johann Heinrich Braunendals „Sonderbahren Bemerckh- und Annotationes über ein und das andere Notable, so sich bey uns zugetragen“. Der Chronist schil-

■ Paul Hektor Mair, Zweite Chronik von 1547–1665, in: Die Chroniken der Deutschen Städte 33, Augsburg 8, Stuttgart und Gotha 1928, S. 245–469, S. 387. 63 Zimmerische Chronik III (wie Anm. 18), S. 12f. 64 Zimmerische Chronik III (wie Anm. 18), S. 13. 62

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dert die erbitterten Streitigkeiten im konfessionell gespaltenen Biberach, 65 beschreibt erregt, dass im Jahre 1732 die „Burgerschaft wider den Magistrat ganz schwürig war“ und sich weigerte den jährlichen Bürgereid am Schwörtag sowie die damit fällig werdenden Steuerzahlungen zu leisten. Als der Rat daraufhin Senator Dörtenbach, eines jener Ratsmitglieder, die sich auf die bürgerliche Seite gestellt hatten, suspendierte, reiste dieser nach Wien, wo er – wie es in der Chronik heißt – „pro commissione inquisitionali sehr sollicirte, mit im Truckh heraußgebenen factis et descriptionibus“.66 Die Wiener reagierten erstaunlich schnell: „Vom 4. Novembris ist der Hochfürstlich Württembergische Regierungßrath und Crayßsecretarius Herffer per 20 dies hier gewesen und hat einen Ausschuß von der Burgerschafft beschickht, auch von allen Thätlichkeiten dehortirt, … die Sachen seyen von Crayßausschreibamts wegen zur Beförderung nach Wien recommendirt.“67 Am 23. Dezember noch desselben Jahres „entstunde in Herrn Amtsburgermeister Scherchen Haus gleich morgens um 2 Uhr ein großes Auß- und Einlauffen, worauf ich um 3 Uhr hörte, daß man dem Nachbahr Amberger, Beckhen, starck am Hauß klopfte und ansagte, daß er auß Herrn Amtsburgermeisters Befehl mit … andern Beckhen Brodt vor ankommende 400 Mann Soldathen bachen solte.“ Morgens marschierte dann ein „Regiment bey 4 à 500 Mann starckh zum Siechenthor herein auff den Plaz oder Marckht“.68 Was war geschehen? Der neugierige Chronist erfuhr von einem der Offiziere, „es müsse zu Wien durch den Harprecht [das ist der vom Rat bestellte Rechtsvertreter in Wien] alles sehr grell vorgestellte worden und denen Burgern eine scharfe Laug gegossen seyn“, daher habe die gesandte „Commissio die ordre … die Rädelsführer gefänglich anzuhalten, nach der Peinlichen Halßgerichtsordnung alles zu untersuchen und sodann das Prothocoll nebst Guthachten einzusenden“.69 Heiligabend, also einen Tag nach dem Einmarsch, wurden die Bürger „auff das Rathhauß citiret, darauß 9 Köpffe alß vom Rath angegebene Rädelsführer … und Meutmacher in gefängliche Verhaft genommen.“70 Dreien davon habe man zudem „militari manu die Häuser außgesucht und alle Schrifften hinwegg genommen, alle Zünfte desarmirt und auff morgen der gantzen Burgerschafft wider auff das Rathhauß gebotten“.71

■ 65 Johann Heinrich Braunendal, Sonderbahre Bemerckh- und Annotationes über ein und das andere Notable, so sich bey uns zugetragen, in: Diemer (Hg.), Biberacher Chroniken (wie Anm. 50), S. 119–130. 66 Johann Heinrich Braunendal, Sonderbahre Bemerckh- und Annotationes über ein und das andere Notable, so sich bey uns zugetragen – Pars Posterior, Continuatio Annotationum Biberacensium, in: Diemer (Hg.), Biberacher Chroniken (wie Anm. 50), S. 131–269, 133. 67 Braunendal, Pars Posterior (wie Anm. 66), S. 134. 68 Braunendal, Pars Posterior, ebd., S. 146. 69 Braunendal, Pars Posterior, ebd., S. 148f. 70 Braunendal, Pars Posterior, ebd., S. 147. 71 Braunendal, Pars Posterior, ebd., S. 149.

Das Bild der höchsten Reichsgerichtsbarkeit in Chroniken der Frühneuzeit

Die Ermittlungen in den „wol über 80 Puncten“ zogen sich gewaltig in die Länge, zumal man darüber stritt, ob man für die Angeklagten einen „Advocaten admittiren“ sollte.72 Mitte Januar notierte Braunendal: „die Kösten fangen an bey der Statt unerschwinglich zu fallen, indehm alle 5 Tag vor die Soldathen (ohne Commission) 1 300 fl. drauffgehen“.73 Noch im Mai hat sich an der Situation nicht viel geändert. Es bleibt nur die Klage, „in waß einer Consternation die Burgerschaft wegen des so übel außgeschlagenen Wiener Handelß sey, woran besorglich der Lic. Dörtenbach die gröste Schuld tragen müsse, weil er sich durch seine precipitant-üble Conduite beym Herren Praesidenten und den Herren Reichshofräthen sehr exos gemacht … habe“.74 Immerhin wurden nun die Soldaten abgezogen. „Das Wienersche Decisum“ wurde aber erst am 12. Juli 1737, also rund fünf Jahre nach Klageerhebung, zugestellt. Es bestimmte, dass „8 Burger theilß 1 Jahr, theilß aber 3 und 1 Monath lang ad opera publica, die Unterschribene alle nebst Consulent Schürer, Herrn Lic. Dörttenbach und Herrn Capellenschreyber Heydern in expensas condemniret, auch Magistratui tapffere Verordnungen gemacht worden sindt.“75 Die enormen Kosten, die Biberach durch die Besatzung entstanden waren, konnten nur durch zusätzliche Kredite und eine Sondersteuer aufgefangen werden. Frieden war durch das Urteil in Biberach nicht eingekehrt. Die Konfessionen stritten weiterhin und der nachkommende Schwörtag wurde erneut abgeblasen. Dörttenbach, mit dessen Gang nach Wien alles angefangen hatte, starb Anfang Februar. Es ist leicht auszumalen, dass dieses Verfahren nicht gerade zur Beliebtheit des Reichshofrats beigetragen hat – ganz gewiss jedenfalls nicht bei der Biberacher Bevölkerung. 7. Vom Ruf der höchsten Gerichte als Institution■Von den langen Jahren, über welche der Prozess der Familie Weinsberg am RKG anhängig war, haben wir schon gehört. Dies entspricht einem – bis heute in der öffentlichen Meinung fest verankerten – Klischee über Prozesse nicht nur vor dem Reichskammergericht, sondern vor hohen Gerichten allgemein. Es handelt sich dabei auch um ein in der Frühneuzeit gängiges Klischee, wie sich nicht nur an Johann Fischartʼs Geschichtklitterung (1575/90) zeigen lässt, einem Werk, das zwar vordergründig über französische Verhältnisse berichtet, dabei aber letztlich Deutschland aufs Korn nimmt. Bei Fischart, der zwischen 1580 und 1583 als Advokat am Reichskammergericht in Speyer wirkte,76 lesen wir: „In Summa, der Prozeß ward von dem Hoffgericht vnd Parlament angenommen, da hangt es noch. Die Magistri nostri gelobten, ihre Röck nicht ehe

■ Braunendal, Pars Posterior, ebd., S. 154. Braunendal, Pars Posterior, ebd., S. 153. 74 Braunendal, Pars Posterior, ebd., S. 175. Vgl. dort auch die Spekulationen zum Inhalt einer „kaiserlichen Verordnung“. 75 Braunendal, Pars Posterior, ebd., S. 209 76 Kurt Mantel, Art. ,Fischart, Johann̒, in: Neue Deutsche Biographie 5 (1961), S. 170–171. 72 73

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auszubürsten, noch die Läuß abzusträlen, hingegen Janot Mattlatz sampt seim Anhang die Nasen noch den Arß nicht ehe zu wischen, es sey denn durch einen endlichen Spruch entschieden. Von diesem Gelübd an sind sie biß auff den heutigen Tag Lausige vnd rotzige Vnfläter geblieben: Dann das Dollosisch Kammergericht hat noch nit alle Allegaten vnd Probaten in defectum, vnd passus dubios ergrabelet vnnd erstrabelet. Das Vrtheil soll auff nechste Griechische Calendas, das ist, auff der Juden Christtag, vnd der Genffer Liechtmeß ausgesprochen werden. Wie jhr dann wißt, daß diese Rechtsklügler mehr als die Natur können, vnd wider ihre eygene Artickul thun. Dann die Artickel der Parisischen Schul, daraus die Parlament ersetzt werden, lauten, Gott allein könne vnendliche sachen machen“.77 Fischarts Satire kommt nicht von Ungefähr. Sehr häufig berichten Chronisten über die Langwierigkeit der Rechtsstreitigkeiten insbesondere vor dem Reichskammergericht. So beschreibt der Hildesheimer Johann Oldekop die jahrelangen teils militärisch, teils juristisch ausgetragenen Händel zwischen dem katholischen Herzog Heinrich von Braunschweig-Wolfenbüttel und der protestantischen Stadt Goslar – nicht ohne auf die lange Dauer des Verfahrens vor dem RKG und die daraus resultierenden enormen Kosten hinzuweisen: „de furste … jagede se ut oren huten, smelthutten und groven und dede one grot herteleit und schaden. Middel der tit erlangeden de von Goslar inhibitiones und mandata von dem keiser jegen hertogen Henrick und leten de keiserliche breve dem fursten intimeren und behandigen. De clage und antwort der von Goslar und des hertogen wart vor dem camergerichte to Spier gehoret, und sodane clage und antwort erstreckede sik in dat achte jar mit der von Goslar groter unkost. Under der tit breken de von Goslar itliche closter und kerken und nemen darut all wes se funden und forden de steine in ore stat. Do wart hertoge Hinrick cleger over de von Goslar und … worden tom lesten de von Goslar unrecht und kemen in acht und overacht und in vordarflichen schaden anno 1540. Und dusser handele sint grote boke gedrucket“.78 Dietrich Westhoff erzählt in seiner Dortmunder Chronik von 750 bis 1550 über die vergeblichen Versuche, einen Streit zwischen Dortmund und Kleve-Mark um die Rechte an den Gerichten zu Brakel, Wambel und Schüren vor dem Reichskammergericht zu schlichten, dass nämlich „die hern van Dortmund derhalven van seiner furstlichen gnaden gedacht nichjt allein muntliche, sunder auch schriftliche recesse to Spijr im vergangen 44 und nu itzingen 45 jaer to Cleve gegiven worden“. Das Gericht sandte daraufhin eine Kommission aus, von welcher der Chronist beklagt: „wiewol die commissarii unpartijlis solten sein, hebben dannoch sich in der commissation und mank den reten bevunden zu vielmaln hie der van Dortmund principal widderdele“. Deshalb legten die

■ 77 Johann Fischart's Geschichtklitterung, in: Johann Fischart, Geschichtklitterung und Aller Praktik Großmutter [u.a.], vollständig und wortgetreu hg. von J. Scheible, Stuttgart 1847, S. 1–542, S. 293f. 78 Oldekop, Chronik (wie Anm. 23), S. 202

Das Bild der höchsten Reichsgerichtsbarkeit in Chroniken der Frühneuzeit

Dortmunder Beschwerde ein, es sollten, so die Forderung, „uf jeder deils ein ader 2 unpartijliche rechts geleerte vur commissarios ufgenomen werden, welche … die stritige orter in ansehen und gegenwertichkeit der darzu verordenten anwalt beider seits besichtigen“ sollten. Bekümmert beendet Westhoff seine Ausführungen zum Kammergericht mit den Worten: „Was aver uf sulche vilvoldige anvechtung und begeer in den van Dortmunde begegent, brengen die volgende jaer mit sich.“79 Anschließend beschäftigt sich der Chronist mit einer Sonnenfinsternis. Bevor jedoch ein falsches Bild entsteht: Viele Chronisten wissen durchaus zu differenzieren, mokieren sich zwar über die erhebliche Dauer der Prozesse, geben dafür aber durchaus nicht unbedingt dem Reichsgericht die Schuld: So erzählt Zimmern von einem Adligen, der „het ain rechtfertigung am cammergericht zu Speir vil jar hangen, wie dann vil alter sachen alda langsam ußgesprochen werden, daran doch die parthein zum theil selbs schuldig.“80 In eine ähnliche Richtung scheint eine Bemerkung des Verfassers der Münsterischen Chronik von 1557 zu weisen, denn er meint hinsichtlich eines Streits zwischen dem Fürstbischof von Münster und dem Grafen von Oldenburg um das von letzterem 1547, also ein Jahrzehnt zuvor, eroberte Delmenhorst: „men hefft dess hudiges dages noch nicht wedder, mer men pleitet [also prozessiert] darumb noch im cammergerichte – will dat helpen, mach men wiss werden.“81 Christian Herolds – mehr als Satire denn als Chronik zu charakterisierendes – Traktat „Von Ursprung und Aufnehmen der Städte“ weiß die Schuldigen für all die vielen langwierigen Prozesse klar auszumachen: „die grosse Anzahl so vieler Advocatorum, Procuratorum, Notariorum und Schreiber, die oft anfänglich nur arme Gesellen und Luftschlukker seyn und doch bald hernach mit ihren pratscheliren so reich werden, daß sie allenthalben die schönsten Pallästmäßigen Häuser kauffen und aufbauen können.“ Ein Übermaß derartiger Professionen gebe es nicht nur in den großen Residenzstädten Europas. „Dergleichen könnte man auch … von dem Käyserlichen Reichshofrath und Cammergericht zu Speyer auf die Bahn bringen. Also durstet und gelüstet iederman zu zankken, zu rechten und zu fechten ….“82

■ Dietrich Westhoff, Dortmunder Chronik von 750 bis 1550, in: Chroniken der deutschen Städte 20: Dortmund/Neuß, Leipzig 1887, S. 147–462, 455f. 80 Zimmerische Chronik II (wie Anm. 18), S. 65. 81 Münsterische Chronik von der Wahl Bischof Heinrichs von Mörs bis auf die Wahl Bischof Bernhards von Raesfeld 1424–1557, in: Julius Ficker (Hg.), Die Münsterischen Chroniken des Mittelalters, Münster 1851, S. 304–345, 343. 82 Christian Herold, Von Ursprung und Aufnehmen der Städte ein sonderbares Historisches und Politisches Tractätlein, Darinnen Von denen Ursachen, warüm die Städte anfänglich erbauet, wodurch sie zugenommen, und jederzeit in treffliches Aufnehmen, Magnificentz, Hoheit, Ansehen und zu großer Herrlichkeit, Macht und Reichthum gekommen, und noch gelangen können: Auch woher derselben Wohlfahrt und Beschwerden rühren, aus ICtis, Historicis und Politicis gründlich discurriret wird, Naumburg 1657, S. 52f. 79

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Keinesfalls sollten die oben angeführten zum Teil sehr kritischen Bemerkungen einiger Chronisten zur Arbeit der höchsten Gerichte im alten Reich dahingehend interpretiert werden, bei der Bevölkerung habe ein negatives Bild von RHR und RKG vorgeherrscht. Denn selbst aus den kritischsten Bemerkungen scheint doch vielfach ein tief sitzendes Grundvertrauen in die Institution und ihre Funktionsfähigkeit herauslesbar zu sein. Kritisiert werden Details, nicht das Ganze. Die Selbstverständlichkeit, mit welcher die Entscheidungen der höchsten Reichsgerichte – auch im persönlichen Urteil der Chronisten – in der großen Mehrzahl der Fälle akzeptiert und angenommen wurden, zeugt vom hohen Respekt vor diesen Institutionen. Akzeptanz der Gerichtsurteile zeigt sich selbst bei komplizierten Sachverhalten und selbst wenn die gerichtliche Entscheidung in ihrer Begründung – zumindest aus Sicht des Chronisten – zu kurz griff, wie sich anhand einer Bemerkungen in der erst 1776 gedruckten „Hennebergischen Chronica“ des Ludwig Heim zu einem Urteil des Reichshofrats illustrieren lässt. Heim schreibt zu einem Streit um Rechte an einem hennebergischen Amt, das Fulda für sich beanspruchte: „Allein Sachsen-Weimar kan aus den Amtsanschlägen solches nicht erweisen, der § 3 des Hennebergischen Haupttheilungsreceß sagt gar anders. Chursachsen und die andern Fürstl. Häuser kamen zu Wien ein, allein es war umsonst: der Kaiserliche Reichshofrath urtheilte nach der Schweinfurther Pfandverschreibung, und da hat das Hochstift allemal recht.“83 Obgleich es sich hier aus der Sicht Heims um ein Fehlurteil handelte, zweifelte er weder das Urteil noch das Gericht mit auch nur einem Wort an. Dieses Grundvertrauen in die Arbeit der höchsten Gerichte im Reich, das schon bald nach deren Gründung feststellbar ist, zeigt sich in den Bemerkungen und Schilderungen der Chronisten immer wieder. Bisweilen weisen Chronisten auch auf positive Bewertungen des Reichskammergerichts durch Dritte hin. So berichtet Zimmern über die 1550 erfolgte Reichskammergerichtsvisitation, als „das cammergericht von den stenden und verordneten visitiert“ wurde: „In wenig tagen hernach, da kam kaiser Carle sampt seinem son, künig Philipsen, geen Speir … Ir Majestat hab ain besonders verlangen gehapt, sie als derselben cammerrichter und beisitzer zu sehen und anzusprechen“, denn der Visitationsbericht war durchaus positiv ausgefallen, wie der Kaiser den Richtern persönlich mitteilte: „Ir Majestat sei glaublich bericht, das sie der justicien im reich recht und erbarlich, auch mit allem fleis ußgewartet, ab dem Ir Majestat

■ 83 Johann Ludwig Heim, Hennebergische Chronica, darinnen von den uralten löblichen Grafen und Fürsten zu Henneberg, Wasunger Linie, und derer davon abstammenden Grafen und Herren von Frankenstein, Stein und Crainberg, wie auch von Dero Leben, Thaten und Landen gehandelt und als ein Dritter Theil der SpangenbergHennebergischen Chronik aus glaubwürdigen Documenten und Nachrichten zusammengetragen und ordentlich verfasset, Meiningen 1776, S. 130.

Das Bild der höchsten Reichsgerichtsbarkeit in Chroniken der Frühneuzeit

ein gnedigists und hochs gefallen tragen; solten das hinfüro also continuiern und daran nichs verhündern lasen; dargegen wellen sie iren allergnedigester kaiser und herr sein, auch bleiben, sie getrewlich, auch vätterlich beschürmen, schützen und handthaben.“84 Aber auch bei der Bevölkerung vertraute man in „ein loblich cammergericht“85 und dessen zuverlässige Arbeit. So lesen wir bei Oldekop über die Hoffnung der Goslarer als Bewohner einer „kaiserlichen“ Reichsstadt: „Denne mochte de sake vor dem camergerichte one tom besten geraden, und gedechten, dat see von einem keiser gestiftet weren.“86 Und in der ganz zu Anfang erwähnten Chronik der königlichen Stadt Iglau dichtete Martin Leupold von Löwenthal: „TeVtonIae eXCeLLens IVrIs fit spIra trIbVnaL. OrbIs Vt MaxImILIanVs sCeptra poLIta tenet.“87 Die groß geschriebenen Buchstaben lassen sich hierbei als römische Zahlen lesen und ergeben zusammengerechnet das Jahr 1495. 8. Schluss■Die wenigen Beispiele konnten – denke ich – einen deutlichen Eindruck davon vermitteln, dass auch Chroniken ein spannendes Medium sein können, um die allgemeine Wahrnehmung von Reichskammergericht und Reichshofrat in der Frühneuzeit zu beleuchten. Sieht man von wenigen Ausnahmen – etwa der Zimmerischen Chronik – einmal ab, spielen die höchsten Reichsgerichte in den Chroniken regelmäßig nur eine Nebenrolle. Umso aufschlussreicher ist es zu sehen, in welchem Kontext die Gerichte und ihr Personal dennoch Erwähnung finden. Vielfach mag der Chronist etwa die Gründung oder Neuordnung des RKG als historisches Ereignis als derart bedeutend empfunden haben, dass er sich für eine Aufnahme in sein Werk entschied. Oft sind es ferner bestimmte Entscheidungen von Reichskammergericht oder Reichshofrat, welche die Lebenswelt des Chronisten oder seinen Berichtsgegenstand unmittelbar berührten und daher zu einer – oft genug stark individuell eingefärbten – Schilderung in der Chronik Anlass gaben. Was die Chronisten festhielten, ist nicht das objektive Bild der Akten, aber das subjektive Bild, das die Menschen damals von Reichskammergericht oder Reichshofrat hatten. Da andere „weiche Quellen“ (etwa Zeitungsartikel, Privatkorrespondenz usw.) in der Frühneuzeit kaum oder gar nicht zur Verfügung stehen, können wir jedem Chronisten für seine noch so subjektiven Berichte nur dankbar sein.

■ Zimmerische Chronik III (wie Anm. 18), S. 592f. Zimmerische Chronik III, ebd., S. 591. 86 Oldekop, Chronik (wie Anm. 23), S. 203 87 Leupold von Löwenthal, Iglauer Chronik (wie Anm. 1), S. 23. 84 85

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■Maria von Loewenich■Visualisierung des Reichskammergerichts. Das Beispiel der Audienz1■Visualisierungen des Reichskammergerichts sind in der heutigen Forschung zur Reichsgerichtsbarkeit allgegenwärtig. Gerade die Darstellung der Audienz wird dabei häufig als Illustration für Veröffentlichungen und Vorträge über das Reichskammergericht genutzt. Als eigenständige Quelle – als Medium, das das Reichskammergericht erfahrbar macht – wurden die Darstellungen der Audienz bisher kaum betrachtet. Lediglich die Kataloge „Frieden durch Recht“ und „Fern vom Kaiser“ sowie ein Aufsatz von Barbara Stollberg-Rilinger zur Würde des Gerichts haben bisher einige Gedanken dazu angestellt.2 Der vorliegende Beitrag möchte deshalb diese Erkenntnisse bündeln und um eigene Überlegungen ergänzen. Die neuere Bildwissenschaft geht davon aus, dass Bilder keine objektiven Abbildungen von Realität sind, sondern stets – absichtlich oder unabsichtlich – Wirklichkeit konstruieren. Sie spiegeln also Wirklichkeit nicht nur, sondern produzieren sie auch.3 Unter dieser Prämisse sollen im Folgenden zunächst die bekannten Darstellungen gesammelt und geordnet werden. Anschließend gilt es, die Audienz als Sujet zu analysieren. Abschließend soll nach dem Rezipientenkreis der Audienzdarstellungen gefragt werden. Die Audienz ist nicht das einzige Sujet, mit dem das Reichskammergericht visualisiert wurde. So finden sich auch Darstellungen der Kanzlei, der Kammergerichtspersonen oder des Gerichtsgebäudes.4 Diese anderen Darstellungsformen sollen hier aber nicht thematisiert werden.

■ 1 Ich danke Natalie Krentz für die kritische Lektüre sowie Jennifer Ehrlich und Sarah Henning für die Einrichtung und Durchsicht des Textes. 2 Ingrid Scheurmann (Hg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495 bis 1806 (Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 8.12.1994 bis 22.1.1995 im Wissenschaftszentrum Bonn; vom 25.2.1995 bis 30.4.1995 im Historischen Museum Frankfurt a.M.), Mainz 1994. Jost Hausmann (Hg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts, Köln/Weimar/Wien 1995. Barbara Stollberg-Rilinger, Die Würde des Gerichts. Spielten symbolische Formen an den höchsten Reichsgerichten eine Rolle?, in: Peter Oestmann (Hg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozess (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich = QFHG 56), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 191–216, hier S. 194–199. 3 Horst Bredekamp, Bild – Akt – Geschichte, in: Clemens Wischermann u.a. (Hg.), GeschichtsBilder. 46. Deutscher Historikertag vom 19. bis 22. September in Konstanz. Berichtsband, Konstanz 2007, S. 289–309, hier S. 309. Rainer Wohlfeil, Methodische Reflexionen zur Historischen Bildkunde, in: Brigitte Tolkemitt/Ders., Historische Bildkunde. Probleme – Wege – Beispiele (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 12), Berlin 1991, S. 17–35, hier S.19. Zur Umsetzung der Bildwissenschaften in der Geschichtswissenschaft vgl. Birgit Emich, Bildlichkeit und Intermedialität in der frühen Neuzeit. Eine interdisziplinäre Spurensuche, in: Zeitschrift für Historische Forschung 35 (2008), S. 31– 56. Bernd Roeck, Visual turn? Kulturgeschichte und die Bilder, in: Geschichte und Gesellschaft 29 (2003), S. 294–315. Heike Talkenberger, Von der Illustration zur Interpretation: Das Bild als historische Quelle. Methodische Überlegungen zur historischen Bildkunde, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994), S. 289–313. 4 Vgl. die Kataloge Scheurmann (Hg.), Frieden durch Recht (wie Anm. 2), und Hausmann (Hg.), Fern vom Kaiser (wie Anm. 2).

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I. Die Audienz■Die Audienz war der einzige öffentliche Teil des Reichskammergerichtsverfahrens, da die Beratungen des Gerichts unter Ausschluss der Parteien und der Öffentlichkeit stattfanden. Sie sollte gemäß der Reichskammergerichtsordnung dreimal pro Woche abgehalten werden.5 Idealiter verlief die Audienz folgendermaßen: Zu Beginn zogen der Kammerrichter oder ein Präsident und einige Assessoren in den Gerichtssaal ein. Ihnen vorweg ging der Pedell, der den Kammergerichtsstab trug.6 Beim Eintritt des Gerichts warteten im Gerichtssaal schon die Advokaten und Prokuratoren auf den für sie vorgesehenen Bänken sowie einige Angehörige der Gerichtskanzlei, die an einem dafür aufgestellten Tisch die Protokollbücher führten. Zudem war der Protonotar der Kanzlei anwesend. Dem „gemeinen man“ war es möglich, die Audienz hinter der Gerichtsschranke zu verfolgen.7 Der Kammerrichter bzw. der Präsident setzte sich auf einen mit rotem Samt bezogenen und mit goldenen Tressen geschmückten Armsessel, der um drei Stufen erhöht an der Stirnseite des Raumes stand und von einem rotseidenen Baldachin überspannt war.8 Die anwesenden Assessoren nahmen zu seinen beiden Seiten auf um eine Stufe erhöhten und ebenfalls mit rotem Samt bezogenen Bänken Platz. Der Pedell überreichte dem Vorsitzenden den Kammergerichtsstab und bat um Ruhe.9 In den Sitzungen wurden zunächst vom Protonotar die vom Gericht getroffenen Zwischen- und Endurteile oder auch vom Gericht getroffene Gemeine Bescheide verlesen und anschließend die sogenannten Umfragen unter den Prokuratoren durchgeführt. Die fünf Umfragen waren nach bestimmten Kategorien geordnet und gaben den Prokuratoren die Möglichkeit, zu den eben verlesenen Urteilen Bemerkungen zu machen, Prozessschriften zu verlesen und einzureichen, mündliche Anmerkungen zu Prozessformalien zu machen oder auch um eine Fristverlängerung in einem Prozess zu bitten.10 Der

■ Heinrich Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des Alten Reiches, Diss., Münster 1966, S. 101. 6 Julius F. Malblank, Anleitung zur Kenntnis der deutschen Reichs- und Provinzial- Gerichts- und Kanzleyverfassung und Praxis. Erster Theil. Anleitung zur Kenntniß der Verfassung des höchstpreißlichen Kaiserlichen und Reichskammergerichts, Nürnberg/Altdorf 1791, S. 491–496, § 211f. Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 5), S. 100. 7 Haus-, Hof- und Staatsarchiv (HHStA) Wien MEA RKG 200b, Präsidenten des Reichskammergerichts an den Kaiser, Wetzlar 31. Juli 1735. Bei einem Besuch in Wetzlar nahmen viele Persönlichkeiten auch an der kammergerichtlichen Audienz teil. So berichtete etwa Charlotte Kestner ihrem Bruder von solch einem Besuch während ihres Aufenthaltes 1803. Vgl. Hermann Kestner-Köchlin, Briefwechsel zwischen August Kestner und seiner Schwester Charlotte, Straßburg 1904, S. 11. 8 Friedrich W. Ulmenstein, Geschichte und topographische Beschreibung der Stadt Wetzlar. Dritter Theil, welcher die Topographie der Stadt enthält, Wetzlar 1820, S. 100f. Vgl. auch Ingrid Scheurmann, „Mit rothem Sammet und goldenen Borden“. Die Ausstattung des Reichskammergerichts im 18. Jahrhundert, in: Hausmann (Hg.), Fern vom Kaiser (wie Anm. 2), S. 77–90. 9 Malblank, Anleitung (wie Anm. 6), S. 493f. Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 5), S. 100. 5

Visualisierung des Reichskammergerichts

Vorsitzende, aber auch die Assessoren, äußerten sich während der gesamten Audienz zu keiner der vorgetragenen Streitsachen.11 Nach der Beendung der Umfragen gab der Vorsitzende dem Pedell den Gerichtsstab zurück und die Angehörigen des Kameralkollegiums verließen den Saal in gleicher Ordnung wieder. II. Die Darstellungen der Audienz■Von der Audienz des Reichskammergerichts existieren acht bekannte Darstellungen, die zwischen der Mitte des 16. Jahrhunderts und der Mitte des 18. Jahrhunderts entstanden sind. Es handelt sich bei sieben der Darstellungen um Druckgraphiken, eine Darstellung ist eine Tusche- und Federzeichnung. Großformatige Gemälde gibt es dagegen nicht. Die früheste bekannte Darstellung einer Reichskammergerichtsaudienz befindet sich als Titelvignette auf einem Druck der Reichskammergerichtsordnung von 1555, der 1566 erschienen ist (Abb. 1).12 Sie zeigt den Richter unter einem Baldachin sitzend und den Richterstab in den Händen haltend. Zu seinen beiden Seiten sitzen die Beisitzer. Im Vordergrund stehen einige Personen, von denen eine dem Gericht soeben etwas vorträgt. Links und rechts von ihr befinden sich zwei Gruppen, die in Diskussion vertieft sind. Diese Darstellung ist im hohen Maße idealisiert und folgt eher den allgemeinen Formen von Gerichtsdarstellungen als den tatsächlichen Gegebenheiten der Audienz in Speyer selbst. Bei der zweiten Darstellung handelt es sich um einen eigenständigen Holzschnitt von 1615 (Abb. 2). Er zeigt den Audienzsaal, an dessen Stirnseite der Kammerrichter unter einem Baldachin thront und zu dessen beiden Seiten die Präsidenten sitzen. Daneben und auf Bänken an den seitlichen Wänden haben die Assessoren Platz genommen, erkennbar an ihren bedeckten Häuptern. Auf der linken Seite dahinter und vor der Gerichtsschranke sitzen die Prokuratoren. An welcher Stelle die Advokaten dargestellt sind, lässt sich schwer erschließen. Zwar sollen sie der Bildlegende gemäß vis-a-vis zum Kammerrichter sitzen. Die dort abgebildeten Personen sind aber durch ihre Hüte als Mitglieder des Kameralkollegiums qualifiziert. In der Mitte des Raumes sind der Tisch der Lektoren und der Pedell zu sehen.

■ Malblank, Anleitung (wie Anm. 6), S. 497–502, § 114f. Vgl. auch Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 5), S. 116–120. Bernhard Diestelkamp, Von der Arbeit des Reichskammergerichts, in: Ders., Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich, (Ius commune, Sonderhefte, Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 122), Frankfurt a.M. 1999, S. 283–308, hier S. 301–303. Ursprünglich in: Hausmann (Hg.), Fern vom Kaiser (wie Anm. 2), S. 91–124. 11 Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 5), S. 101f. 12 Noe Meurer, Cammergerichts Ordnung und Proceß/neben allerley desselben Formen und Exemplaren/Allen so sich solchs hochlöblichen vnd hoesten der Teutschen Nation Gerichts/in der Pratica vnd Handlungen gebrauchen [...], Frankfurt a.M. 1566. 10

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Abb. 1: Titelvignette: Noe Meurer, Cammergerichts Ordnung und Proceß [...] Frankfurt a. M. 1566 aus Kupferstich, Quartformat (Buch) Original: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln

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Abb. 2: Ausschnitt aus Holzschnitt um 1615, 34,8 x 46 cm Original: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Inv.-Nr. HB 209 Kaps 1332

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Hinter der Gerichtsschranke haben sich Kammergerichtsboten, Praktikanten und „frembde Anwesende“ sowie an Pulten Kopisten versammelt. Die Darstellung trägt eine Überschrift und wird zudem in zwei Texttafeln zusätzlich erläutert, die sich links und rechts des Kammerrichterthrones befinden. In der Überschrift wird die Audienz als Theater des ehrwürdigen kaiserlichen Kammergerichts bezeichnet, wie es von Kaiser und Reichsständen im Jahre 1615 angeordnet wurde. Auf der linken Texttafel neben dem Kammerrichterthron werden Stellen aus der Bibel zitiert, auf der rechten befindet sich ein Text, der den Nutzen der Justiz rühmt. Unter der Darstellung der Audienz befindet sich eine Legende, in der die dargestellten Personen fast alle namentlich mit dem Datum ihres Eintritts ins Reichskammergericht und ihrer Konfessionszugehörigkeit benannt werden. Wie sehr diese Darstellung mit den tatsächlichen Bedingungen in Speyer übereinstimmt, ist kaum zu ermitteln. Dennoch ist sie sehr viel weniger idealisiert als das Frontispiz von 1566. Die Darstellungsart des unbekannten Künstlers entspricht der Darstellungstradition anderer Reichsereignisse wie des Krönungsmahls oder der Eröffnung des Reichstages.13 Auch bei diesen werden die einzelnen anwesenden Personen und auch Gegenstände häufig anhand von Nummern in einer Legende erklärt. Die dritte Darstellung diente als Vorbild für zwei weitere Darstellungen und ist deshalb als Bildtypus besonders präsent (Abb. 3). Es handelt sich um das Frontispiz der dritten Auflage von Wilhelm Rodings „Pandectae Iuris Cameralis“, die 1668 erschien.14 Im Zentrum des Bildes ist, wie in einer Guckkastenszene, die Audienz zu sehen. An der Stirnwand des Raumes thront der Kammerrichter unter einem Baldachin. Im Gegensatz zur Darstellung von 1615 haben die Assessoren nur auf Bänken zu beiden Seiten des Richters Platz genommen. An der linken Seitenwand und gegenüber vom Gericht vor der Gerichtsschranke sitzen die Prokuratoren und Advokaten, an der rechten Seitenwand ist eine Bank für „Standspersonen“ aufgestellt. In der Mitte des Raumes sind das Kanzleipersonal, der Pedell und der Fiskal zu sehen. Hinter der Schranke haben sich neben den Kopisten zahlreiche Schaulustige versammelt. Über der Darstellung schwebt ein einköpfiger Reichsadler, der Reichsapfel und Reichsschwert in den Klauen hält. Er hält ein Band mit den Wappen der Kurfürsten und der Reichskreise im Schnabel, das die Darstellung der Audienz umrahmt. Unter der Darstellung der Audienz ist eine Stadtansicht von Speyer zu sehen.

■ Scheurmann (Hg.), Frieden durch Recht (wie Anm. 2), S. 107. Wilhelm Roding, Pandectae Iuris Cameralis. De iurisdictione camerae imperialis, 3. Aufl., Speyer 1668.

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Abb. 3: Frontispiz aus: Wilhelm Roding, Pandectae iuris cameralis, 3. Aufl. Speyer 1668 Kupferstich, Doppelseite, Oktavformat (Buch) Original: Pfälzische Landesbibliothek Speyer

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Die vierte Darstellung einer Audienz stammt aus einer weiteren Ausgabe von Wilhelm Rodings „Pandectae Iuris Cameralis“ von 1688 und folgt im Wesentlichen der Darstellung von 1668 (Abb. 4).15 Die Szene der Audienz ist in eine Scheinarchitektur eingebunden und wird von einem doppelköpfigen, gekrönten Reichsadler mit Reichsschwert und Reichsapfel bekrönt. Zu beiden Seiten des Bildes stehen Maximilian I. als Begründer des Reichskammergerichts und Leopold I. als derzeitiger Kaiser. Die Darstellung Speyers im unteren Bildteil ist den Wappen der Kurfürsten und Reichskreise gewichen. Die fünfte, vielleicht bekannteste Darstellung der Audienz des Reichskammergerichts ist die des Kupferstechers Peter Fehr, die um 1735 entstand (Abb. 5). Sie erschien zunächst als eigenständiger Druck und wurde später als Frontispiz in eine Ausgabe von Rodings „Pandectae Iuris Cameralis“ von 1750 übernommen, die beim Wetzlarer Verlag Winkler verlegt wurde.16 Fehr hat in seiner Darstellung die Synthese aus den beiden in den Pandectae Iuris Cameralis erschienenen Kupferstichen gebildet. Die Darstellung der Audienz ist in eine Scheinarchitektur eingebettet und wird von auf einer Kette aufgereihten Wappen der Kurfürsten und Reichskreise umrahmt. Die Kette wird von einem doppelköpfigen, bekrönten Reichsadler gehalten, der abweichend von den vorherigen Darstellungen als Herzschild das habsburgische Wappen und die Collane des Ordens vom Goldenen Vlies trägt. Die Darstellung Speyers im unteren Bereich des Stiches von 1668 ist der einer Stadtansicht Wetzlars als neuem Ort des Gerichtes gewichen. Auch bei dieser Gruppe von Stichen ist nicht mit letzter Gewissheit zu sagen, wie weit sich die Darstellung mit den Gegebenheiten in Speyer bzw. Wetzlar deckte. Doch entsprechen diese Darstellungen weitgehend der Beschreibung des Wetzlarer Audienzsaales, die der Freiherr von Ulmenstein Anfang des 19. Jahrhunderts in seiner Geschichte und topographischen Beschreibung der Stadt Wetzlar veröffentlicht hat.17 Lediglich die Besucher der Audienz standen nicht direkt hinter der Gerichtsschranke, sondern nahmen in Wetzlar zumindest in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts auf einer Empore Platz, die sich dem Kammerrichterthron gegenüber befand.

■ Ders., Pandectae Iuris Cameralis. De iurisdictione camerae imperialis, Frankfurt a.M. 1688. 16 Ders., Pandectae Iuris Cameralis. De iurisdictione camerae imperialis, Wetzlar 1750. Vgl. außerdem Scheurmann (Hg.), Frieden durch Recht (wie Anm. 2), S. 201. 17 Ulmenstein, Geschichte, Teil 3 (wie Anm. 8), S. 100f. 15

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Abb. 4: Frontispiz aus: Wilhelm Roding, Pandectae Juris Cameralis, Frankfurt a. M. 1688 Kupferstich, 20 x 16 cm (Buch) Original: Pfälzische Landesbibliothek Speyer

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Abb. 5: Peter Fehr, Kupferstich, um 1735, 18,9 x 15,1 cm Original: Städtische Sammlungen Wetzlar

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Drei weitere Darstellungen sind hier noch zu nennen. Bei der ersten handelt es sich um ein Detail eines niederländischen Kupferstiches von Ende des 17. oder Anfang des 18. Jahrhunderts, der die Institutionen des Heiligen Römischen Reiches zum Thema hat (Abb. 6).18 Die Darstellung fällt völlig aus dem Rahmen und hat wenig mit den tatsächlichen Gegebenheiten beim Gericht zu tun. Zudem unterscheidet sie sich kaum von der des Reichshofrats auf demselben Blatt. Auffällig ist allerdings, dass der Kammerrichterthron leer ist und der damalige Kammerrichter Johann Hugo von Orsbeck lediglich durch sein Wappen symbolisiert wird. Die zweite Darstellung ist eine Tusche- und Federzeichnung aus dem Staatsarchiv Münster von etwa 1750, die den Instanzenzug des Stiftes Paderborn darstellt (Abb. 7). Sie zeigt lediglich einen kleinen Ausschnitt der Audienz und lehnt sich offenbar an die Darstellungstradition der Roding-Stiche an. Die letzte noch vorzustellende Darstellung des Reichskammergerichts ist eine Druckgraphik, die als Titelvignette in Friedrich Wilhelm Tafingers Werk „Institutiones Iurisprudentiae Cameralis“ von 1754 erschienen ist (Abb. 8).19 Sie verzichtet vollständig auf Symbole und weist ebenfalls eine starke Ähnlichkeit mit der Darstellungstradition der Roding-Stiche auf. III. Die symbolisch-expressive Funktion der Audienz■Die Audienz des Reichskammergerichts, die den hier besprochenen Darstellungen als Sujet dient, hatte neben ihrer technisch-instrumentellen Funktion im Verfahren auch eine symbolisch-expressive.20 Denn ihr kam die Funktion zu, die Berechtigung des Gerichtes, Recht zu sprechen, darzustellen. Wurde die Szenerie der Audienz bildlich dargestellt und durch das Mittel der Druckgraphik verbreitet, so wurde diese Funktion der Audienz auch außerhalb Speyers bzw. Wetzlars wahrnehmbar und damit wirksam. Die bildlichen Darstellungen der Audienz trugen also zur Legitimierung des Gerichtes bei.

■ Scheurmann (Hg.), Frieden durch Recht (wie Anm. 2), S. 179f. Vgl. auch Hausmann, Fern vom Kaiser (wie Anm. 2), S. 100. 19 Friedrich W. Tafinger, Institutiones Iurisprudentiae Cameralis, Tübingen 1754. 20 Zur technisch-instrumentellen Funktion der Audienz vgl. Bernhard Diestelkamp, Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, in: Oestmann, Zwischen Formstrenge und Billigkeit (wie Anm. 2), S. 105–115. Zur Unterscheidung von technisch-intrumentellen und symbolisch-expressiven Funktionen von Verfahren vgl. Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1978, S. 223–232. 18

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Abb. 6: Carte du Gouvernement Ecclesiastique. Civil et Militaire. De L’Empire. De L’Ordre Teutonique. Et de Malte. Et de Villes Anseatiques 34 x 44,8 cm (hier Ausschnitt), niederländischer Stecher, Kupferstich, Ende 17. Jh. / Anfang 18. Jh. Original: Stadtarchiv Speyer

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Abb. 7: Instanzenzug des Stifts Paderborn Tuschfeder- und Pinselzeichnung, um 1750, 30 x 40 cm Original: LAV NRW W, Bildersammlung Ü 29

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Die Berechtigung des Reichskammergerichts, Recht zu sprechen, leitete sich von der Autorität des Kaisers als oberster Richter im Reich ab.21 Im späten Mittelalter übte der Kaiser diese auf Hoftagen und auch am kaiserlichen Hofgericht bzw. Kammergericht aus. Auch wenn der Hofrichter die Verhandlungen führte, legitimierte nicht dieser, sondern die Anwesenheit des Gerichtes am Kaiserhof das Gericht. Mit der Einrichtung des Reichskammergerichts 1495 änderte sich dies jedoch, die Ausübung der obersten Gerichtsbarkeit wurde vom Kaiserhof wegverlegt. Deshalb musste das Reichskammergericht seine Legitimation zur Rechtsprechung auf anderem Wege zum Ausdruck bringen, um die räumliche Distanz zum Kaiser zu überbrücken. Eine wesentliche Rolle spielte dabei die Audienz. Denn dort wurde die kaiserliche Autorität durch den Kammerrichter dargestellt. Durch seinen um drei Stufen erhöhten und von einem Baldachin überspannten Thron wurde der Kammerrichter als kaiserlicher Repräsentant in Szene gesetzt, der Kaiser war in ihm quasi selbst anwesend.22 Eine besondere Bedeutung hatte zudem der Kammergerichtsstab, der die kaiserliche Gerichtsbarkeit symbolisierte.23 Kaiser Maximilian I. hatte ihn bei der Einrichtung des Gerichts im Jahre 1495 dem ersten Kammerrichter Eitelfriedrich von Hohenzollern übergeben und ihn damit berechtigt, die oberste Gerichtsgewalt im Reich auszuüben.24 Dementsprechend wird er in der Reichskammergerichtsordnung von 1555 auch als „gewalt“ bezeichnet.25 Die in

■ Bernhard Diestelkamp, Vom Königlichen Hofgericht zum Reichskammergericht. Betrachtungen zu Kontinuität und Wandel der höchsten Gerichtsbarkeit am Übergang zur frühen Neuzeit, in: Gerhard Dilcher/Ders. (Hg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtshistorie. Symposion für Adalbert Erler, Berlin 1986, S. 48–52. Friedrich Battenberg, Studien zum Personal des königlichen Hofgerichts, in: Ders./Filippo Ranieri, Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Weimar/Köln/Wien, S. 61–77, hier S. 61–63. 22 Zu Präsenzsymbolen vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht, Ten brief reflections on institutions as re/presentations, in: Gert Melville, Institutionalität und Symbolisierung. Verstetigungen kultureller Ordnungsmuster in Vergangenheit und Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 69–75. Karl-Siegbert Rehberg, Weltrepräsentanz und Verkörperung. Institutionelle Analyse und Symboltheorien. Eine Einführung in systematischer Absicht, in: Ebd., S. 3– 52, hier S. 29–35. Zur Gestaltung der Audienzsäle von Gesandten und der Repräsentation von abwesenden Fürsten vgl. Hubert Winkler, Bildnis und Gebrauch. Zum Umgang mit dem fürstlichen Bildnis in der frühen Neuzeit. Vermählungen, Gesandtschaftswesen, spanischer Erbfolgekrieg (Dissertationen der Universität Wien 239), Wien 1993, S. 156– 173. 23 Johann H. von Harpprecht, Staats-Archiv Des Kayserl. und des H. Röm. Reichs CammerGerichts […], Bd. 2, Ulm 1758, S. 51–54. Georg G. Balemann, Beiträge zur Revision und Verbesserung der fünf ersten Titeln des Concepts der kaiserlichen Kammergerichtsordnung […], Lemgo 1778, S. 84–88. 24 Harpprecht, Staats-Archiv (wie Anm. 23), S. 51f. Balemann, Beiträge (wie Anm. 23), S. 203. 25 Adolf Laufs (Hg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, unter Mitarbeit v. Christa Belouschek/Bettina Dick (QFHG 3), Köln/Wien 1976, Teil 1, Tit. XII, S. 93. Vgl. auch das Konzept der Reichskammergerichtsordnung von 1613: [Concept der] CammerGerichts-Ordnung, in: Johann J. Schmauß, Corpus Juris Publici S. R. Imperii Academicum, enthaltend des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation Grund-Gesetze, nebst 21

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der Gegenwart des symbolisch anwesenden Kaisers verlesenen Urteile des Reichskammergerichts wurden dadurch nicht als eigenständiger Akt des Gerichts, sondern als Herrschaftsakt inszeniert. Dies erklärt auch die völlig andere Darstellungsweise des Reichshofrates. Der Reichshofrat war als am Kaiserhof ansässiges Gremium auf keine weitere Darstellung seiner Legitimation angewiesen.26 Die Audienz des Reichshofrates wurde so auch schon Anfang des 17. Jahrhunderts abgeschafft und es wurden keine Urteile mehr feierlich verkündet.27 Die einzige Möglichkeit, den Reichshofrat bildlich zu fassen, war also, ihn während seiner Beratungen zu zeigen.28 Das Plenum des Reichskammergerichts tagte in ganz ähnlicher Form. Es wurde aber mit Ausnahme einer schematischen Darstellung in Bostells „Grundsätze der kammergerichtlichen Praxis“ von 1784 nicht dargestellt.29 Die einzige weitere bekannte Darstellung von Beratungen der Assessoren ist ein Stich von Andreas Nunzer, der um 1724 entstand. Sein Sujet ist aber nicht vollständig geklärt, so wird er zum Teil als Beratung am Bescheidtisch, zum Teil aber auch als Besprechung der protestantischen Assessoren während des Kalenderstreits von 1724 interpretiert.30 Im Gegensatz zum Reichshofrat brauchte das Reichs-

■ einem Auszuge der Reichs-Abschiede anderer Reichs-Schlüsse und Vergleiche, hg. v. Gottlieb Schuman/Heinrich G. Franken, Leipzig 1794, ND Hildesheim/New York 1973, Teil 1, Tit. XVIII, S. 372. 26 Umfassend zum Reichshofrat immer noch: Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich, 33), Wien 1942. Vgl. außerdem Stefan Ehrenpreis, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576–1612 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 72), Göttingen 2006. Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657) (QFHG 38), Köln 2001. Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, n.F., 18). Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommission des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte 214; Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 18), Mainz 2006. Siegrid Westphal, Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territoralstaaten 1648–1806 (QFHG 43), Köln 2002. 27 Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae (wie Anm. 26), S. 133f. 28 Die bekannteste Darstellung des Reichshofrat befindet sich als Frontispiz in Johann Chr. von Uffenbach, Tractatus Singularis et Methodicus de Excelissiimo Consilio Caesareo Imperiali Aulico […], Wien/Prag 1700. Wieder abgedruckt u.a. in Gschließer, Reichshofrat (wie Anm. 26), Frontispiz; Scheurmann (Hg.), Frieden durch Recht (wie Anm. 2), S. 182; Hausmann (Hg.), Fern vom Kaiser (wie Anm. 2), S. 102. Die einzige weitere bekannte Darstellung ist die Tusche- und Federzeichnung aus dem Staatsarchiv Münster, die den Instanzenzug des Stiftes Paderborn zum Thema hat. Vgl. Abb. 7. 29 Sitzschema des RKG-Plenums, in: Friedrich J. D. von Bostell, Grundsätze der kammergerichtlichen Praxis zum Gebrauch seiner theoretisch praktischen Vorlesungen entworfen, Bd. 1, Lemgo 1784, zu S. 36. 30 Vgl. Erich Döhring, Geschichte der deutschen Rechtspflege seit 1500, Berlin 1953, S. 304–305, Abb. 16. Hausmann (Hg.), Fern vom Kaiser (wie Anm. 2), S. 107.

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kammergericht also die Audienz zu seiner Legitimation als Höchstgericht und konnte somit auch bildlich als Gericht dargestellt werden. Die kaiserliche Autorität war indes nicht die einzige, die bei der Audienz und so auch auf den Audienzdarstellungen zum Ausdruck kam. Dies zeigt der Bildtypus, an den sich die Sitzordnung der Gerichtsaudienz anlehnte. Er entspricht der Ikonographie des Jüngsten Gerichts, wie es seit der Spätantike dargestellt wurde.31 Dabei thront Christus im Zentrum, während zu seinen beiden Seiten die zwölf Apostel sitzen. Die ikonographische Anlehnung der Darstellung an das Weltgericht vermittelte die sakrale Legitimation des Reichskammergerichts, die göttliche Ordnung zu wahren und irdisches Recht zu sprechen.32 Diese göttliche Autorität wurde dem Gericht über den Kaiser vermittelt, der diese wiederum bei der sakralen Weihe bei seiner Krönung erhalten hatte.33 Des Weiteren entsprach die Sitzordnung der Audienz auch der Art politischer Repräsentationsformen auf dem Reichstag, wie etwa bei der Verlesung der Proposition oder dem Sitzen in Majestate.34 Dabei saß der Kaiser erhöht auf einem Thron, während die Kurfürsten zu seinen beiden Seiten auf Bänken Platz nahmen. Die Gruppe aus Kaiser und Kurfürsten war der älteste Kern des Reichstages und wurde in den Druckmedien seit dem 15. Jahrhundert als pars pro toto für das gesamte Reich verwendet.35 Wie das Reichskammergericht lehnte sich auch die Gruppe aus Kaiser und Kurfürsten an die Darstellungen des Jüngsten Gerichtes an. Obwohl sich beide also lediglich an der gleichen Vorlage orientierten, verschmelzen beide Gruppen miteinander. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Titelkupfer des Druckes der Reichskammergerichtsordnung von 1566 mit dem Titelkupfer eines Druckes des Konzepts der Reichskammergerichtsordnung von 1613 vergleicht.36 Die Szenen ähneln sich so, dass erst beim genaueren Hinsehen zu erkennen ist, dass es

■ Scheurmann, „Mit rothem Sammet und goldenen Borden“ (wie Anm. 8), S. 78f. EricOliver Mader, Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“. Die Auseinandersetzung der letzten Generation von Richtern des Reichskammergerichts mit der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Institut für Europäische Kulturgeschichte der Universität Augsburg. Colloquia Augustana 20), Berlin 2005, S. 14f. Stollberg-Rilinger, Die Würde des Gerichts (wie Anm. 2), S. 195f. 32 Jürgen Brand, Abgerechnet wird am Schluß oder: Das jüngste Gericht als kollektive Erinnerung, in: Jörg Wolff, Kultur- und rechtshistorische Wurzeln Europas, Godesberg 2005, S. 155–180, hier S. 170–172. 33 Stollberg-Rilinger, Würde des Gerichtes (wie Anm. 2), S. 194. 34 Ebd., S. 196f. 35 Dies., Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, S. 55–64. Dies., Würde des Gerichtes (wie Anm. 2), S. 196f. 36 Vgl. die Abbildungen in Scheurmann (Hg.), Frieden durch Recht (wie Anm. 2), S. 153f., Abb. 103 u. 104. Bei dem Ersten handelt es sich um Meurer, Cammergerichts Ordnung und Proceß (wie Anm. 12), bei dem Zweiten um Concept Dern auf Befelch der Kayserlichen May. durch Cammerrichter / Praesidenten und Beysitzere / deß Keyserlichen Cammergerichts / Uff ihrer Mayestat vnnd samptlichen des Heiligen Reichs Staenden Approbation ernewerten / vnd verbesserten Cammergerichts Ordnung, Mainz 1613. 31

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sich beim ersten um das Reichskammergericht und beim zweiten um Kaiser und Kurfürsten handelt. Bezeichnenderweise wird die zweite Szene in der Beschreibung des Kataloges „Frieden durch Recht“ so auch als Audienz des Reichskammergerichts identifiziert.37 Und auch das Kameralkollegium selbst bezog sich auf die Ähnlichkeit zwischen der kammergerichtlichen Audienz und den Darstellungsformen des Reiches. Im berühmten Halbarmsesselstreit von 1757 verwendeten die Assessoren diese Analogie als Argument.38 Der Kammerrichter Karl Philipp von Hohenlohe-Bartenstein wollte den Assessoren den Gebrauch von Halbarmsesseln im Plenumssaal, die das Gericht neu angeschafft hatte, nicht gestatten. Er selbst saß dort auf einem mit goldenen Tressen verzierten Armsessel und die neuen Halbarmsessel erschienen ihm als diesem zu ähnlich. Sein Vorrang als kaiserlicher Repräsentant sowie seine Autorität – und damit die Autorität des Kaisers – würden durch die neuen Sessel eingeschränkt. Die Assessoren erwiderten darauf, dass das Gericht nicht allein den Kaiser, sondern auch das Reich repräsentiere, da das Kameralkollegium in den Audienzen ebenso sitze wie Kaiser und Reich auf dem Reichstag.39 Deshalb stehe ihnen der Gebrauch der Halbarmsessel zu. Mithin haben auch die Zeitgenossen diese Ähnlichkeit wahrgenommen. V. Audienzdarstellungen als Interpretation des Reichskammergerichts■Die Darstellungen der Audienz bildeten zwar vorrangig die Situation am Gerichtsort mehr oder weniger ab und transportierten so die legitimierende Funktion der Audienz, doch interpretierten sie zugleich das Reichskammergericht und seine Verfassung. So betonten der Holzschnitt von 1615 (Abb. 2) und der Kupferstich von Peter Fehr (Abb. 5) die Verbindung zur göttlichen Gerichtsbarkeit und die göttliche Legitimation des Reichskammergerichts. Bei Peter Fehr geschieht dies, wie schon mehrfach betont wurde, indem neben dem Kammerrichter zwölf Assessoren an der Audienz teilnehmen, ebenso viele wie Jünger beim Jüngsten Gericht.40 Im Holzstich von 1615 geschieht dies dagegen im Text, der sich auf der linken Seite des Kammerrichterthrones befindet. Dort werden Passagen aus dem 5. Buch Mose und aus Psalm 9 zitiert.41 Die erste Passage lautet in deutscher Übersetzung: „Wenn eine Sache vor Gericht dir zu schwer sein wird,

■ Scheurmann (Hg.), Frieden durch Recht (wie Anm. 2), S. 154. HHStA Wien MEA RKG 237a. Vgl. auch Scheurmann, „Mit rothem Sammet und goldenen Borden“ (wie Anm. 8), S. 82f. Stollberg-Rilinger, Würde des Gerichtes (wie Anm. 2), S. 205–212. 39 HHStA Wien MEA RKG 237a, das Reichskammergericht an den Kurfürsten von Mainz, Wetzlar 10. Juni 1757. 40 Mader, Die letzten „Priester der Gerechtigkeit“ (wie Anm. 31), S. 15. Stollberg-Rilinger, Die Würde des Gerichts (wie Anm. 2), S. 196. 41 Der Text ist allerdings unvollständig und fehlerhaft vom Holzschneider wiedergegeben. 37 38

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zwischen Blut und Blut, zwischen Handel und Handel, zwischen Schaden und Schaden, und was Streitsachen sind in deinen Toren, so sollst du dich aufmachen und hingehen zu der Stätte, die der HERR, dein Gott, erwählen wird und zu den Priestern, den Leviten, und zu dem Richter, der zur Zeit sein wird, kommen und fragen; die sollen dir das Urteil sprechen“ (5. Mos, Kap. 17, Vers 8). Hier wird das Reichskammergericht also als von Gott eingesetztes Gericht interpretiert. In eine ähnliche Richtung stößt der ebenfalls dort zitierte Vers aus Psalm 9, auch wenn er sich auf Gott als Weltenrichter bezieht: „Er richtet den Erdkreis gerecht, er spricht den Völkern das Urteil, das sie verdienen“ (Ps 9, Vers 9). In eine andere Richtung weisen die Symbole auf den drei Stichen, die in verschiedenen Ausgaben von Rodings „Pandectae Iuris Cameralis“ erschienen sind (Abb. 3–5). So fallen bei ihnen die Wappen der Kurfürsten und Reichskreise ins Auge. Vordergründig wird damit lediglich auf das sich seit dem frühen 16. Jahrhundert ausbildende Präsentationssystem des Reichskammergerichts verwiesen. Denn während am Reichshofrat die Reichshofräte alle vom Kaiser ausgewählt wurden, geschah dies am Reichskammergericht nach einem bestimmten Schlüssel durch Kaiser, Kurfürsten und Reichskreise.42 Darüber hinaus verweist die Darstellung der reichsständischen Wappen aber auch auf eine grundsätzliche Interpretation des Reichskammergerichts. Von der kaiserlichen Seite wurde immer wieder darauf bestanden, dass das Reichskammergericht ein kaiserliches Gericht sei und den Reichsständen lediglich das Recht zukomme, einen Teil der Assessoren zu benennen.43 Auf reichsständischer Seite wurde dagegen die Position vertreten, dass die Einrichtung des Reichskammergerichts in einem Reichsabschied von Kaiser und Reich gemeinsam vorgenommen wurde, weshalb es sowohl vom Kaiser als auch vom Reich konstituiert worden sei.44 Dementsprechend ist in kaiserlichen Quellen in der

■ Laufs (Hg.), Reichskammergerichtsordnung von 1555 (wie Anm. 25), Teil 1, Tit. 1. Sigrid Jahns, Das Kameralkollegium des Reichskammergerichts, Habil. masch., Gießen 1990, S. 178–352. 43 Beispielsweise wird dies in den Debatten um den Kalenderstreit 1724 und das Votum Decisivum des Kammerrichters vor allem während der letzten Reichskammergerichtsvisitation geäußert: HHStA Wien MEA RKG 194b (Kalenderstreit), ebd. RK RKGVA 55 u. 375a (Votum Decisivum). Vgl. auch Damian F. Haas, Patriotische Gedanken von des Herrn Kammer-Richters Voto Decisivo, wie weit solches in der Kammer-GerichtsOrdnung und dem Herkommen gegründet seye, Wetzlar 1767; [Franz F. von Schroetter] u.a., Gesammelte Originalbriefe in welchen die mehresten Handlungen der am 2. May 1767 ausgerueckten Extraordinari-Kammergerichts-Visitations- und RevisionsDeputation beleuchtet werden, Bd. 1, o.O. 1778, S. 65–81. 44 Beispielhaft: [Philipp H. Krebs], Quinquertium Camerale, Oder In fünff Fragen vorgestellte Der Röm. Käyserl. Majestät, Und Des Heil. Röm. Reichs Ständen Bey Dero Cammer-Gericht Unzertrennliche Verknüpffung [...], o.O. 1705, S. 1–74. Zur reichsständischen Position in der Frage des Votum Decisivums vgl. Harpprecht, Staats-Archiv (wie Anm. 23), Bd. 2, S. 69–74, § 72. Christian J. von Zwierlein, Vermischte Briefe und Abhandlungen über die Verbesserung des Justizwesens am Kammergerichte mit patriotischer Freimütigkeit entworfen, Bd. 1, Berlin 1767, S. 201–209. Haas, Patriotische Gedanken (wie Anm. 43). Johann S. Pütter, Freymüthige Betrachtungen über die Senate am kayserli42

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Regel lediglich vom „kaiserlichen Kammergericht“, in reichsständisch orientierten Quellen vom „kaiserlichen und Reichskammergericht“ die Rede.45 Die Wappen der Reichsstände werden auf den drei Kupferstichen gemeinsam mit dem Reichsadler dargestellt, in zweien sind sie mit ihm sogar durch ein Band bzw. eine Kette verbunden. Die gemeinsame Darstellung von Reichsadler und den Wappen der Reichsstände war ein Symbol für das Reich als Ganzes, also für Kaiser und Reichsstände.46 So war der so genannte Quaternionenadler in der frühen Neuzeit ein beliebtes Motiv für Flugblätter und diverse Gegenstände.47 Durch diese Darstellung wurde also der schon in der Sitzweise in der Audienz angelegte Verweis auf das Reich als Ganzes verstärkt und zugleich das Reichskammergericht als Gericht des Reiches interpretiert.48 Lediglich im zweiten Roding-Stich wird zugleich der Kaiser als Gerichtsherr betont (Abb. 4). Dort flankieren Maximilian I. als Begründer und Leopold I. als derzeitiger Kaiser die Darstellung. VI. Die legitimitätsstiftende Wirkung der Audienzdarstellungen■Die Bilder der Audienz transportierten aber nicht nur die legitimierende Funktion der Audienz und interpretierten das Reichskammergericht auf ihre Weise, sondern sie stellten auch eine Wirklichkeit her, die so in Speyer bzw. Wetzlar unter Umständen gar nicht wahrnehmbar war. Dies lässt sich am Beispiel der Rolle des Kammerrichters in der Audienz verdeutlichen. Oben wurde dargelegt, dass der Kammerrichter als Repräsentant des Kaisers eine entscheidende Rolle bei der Legitimation des Reichskammergerichts in der Audienz spielte.49 Die Kammergerichtsordnungen sahen daher auch vor, dass der Kammerrichter der Audienz stets beiwohnen und ihr nur aus triftigen Gründen fernbleiben sollte.50 Doch in der Praxis, zumindest des

■ chen und Reichskammergerichte, und was nach Anleitung des kayserlichen Commissions-Decretes vom 15. Febr. 1772 für eine dauerhafte Einrichtung damit zu treffen seyn möchte?, Göttingen 1772, S. 29–49. Wilhelm A. Rudloff, Ueber die so genannte entscheidende Stimme des Cammer-Richters bey einer Stimmen-Gleichheit der Beisitzer, Hannover 1773. Johann J. Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 8,2, S. 364–368, § 13, u. S. 662–678, § 28. Malblank, Anleitung (wie Anm. 6), S. 470–490, § 208–210. Vgl. auch Schroetter u.a., Gesammelte Originalbriefe (wie Anm. 43), Bd. 1, S. 65–81. 45 Zu den verschiedenen Bezeichnungen für das Reichskammergericht vgl. Johann J. Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 8,2, S. 287, § 3. 46 Bernd Roeck, Die ästhetische Inszenierung des Reiches – Aspekte seiner frühneuzeitlichen Ikonographie, in: Hans Ottomeyer/Jutta Götzmann/Ansgar Reiss u.a. (Hg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und neue Staaten 1495 bis 1806. Essays, Dresden 2006, S. 215–228, hier bes. S. 215f. 47 Hans Ottomeyer/Jutta Götzmann/Ansgar Reiss u.a. (Hg.), Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806. Altes Reich und Neue Staaten 1495 bis 1806. Katalog, Dresden 2006, S. 81–92. 48 Vgl. oben (Kap. III). 49 Vgl. oben (Kap. III). 50 Laufs (Hg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (wie Anm. 25), Teil 1, Tit. XII u. XIV, S. 93 u. 98f. Vgl. auch das [Concept der] Cammer-Gerichts-Ordnung (wie Anm. 25), Teil 1, Tit. XVIII, S. 373. Die Reichskammgerichtsordnung von 1495 schrieb

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17. und 18. Jahrhunderts, war die Teilnahme des Kammerrichters an den Audienzen selten gegeben. Im 17. Jahrhundert war dies darin begründet, dass die Kammerrichter, insbesondere die beiden Kurfürsten von Trier, Philipp Christoph von Sötern und Johann Hugo von Orsbeck, fast permanent vom Gerichtsort abwesend waren.51 Im 18. Jahrhundert nahm der Kammerrichter dagegen auch dann nur selten an den Audienzen teil, wenn er in Wetzlar weilte.52 Die Reichskammergerichtsordnung sah vor, dass bei Abwesenheit des Kammerrichters einer der Präsidenten die Audienz leiten sollte.53 Sie führten ebenfalls den Kammergerichtsstab und nahmen unter dem Baldachin Platz, der Kaiser war also auch in ihnen quasi anwesend. Doch im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde es üblich, dass nur noch in Audienzen, in denen Urteile verkündet wurden, ein Präsident zugegen war, in den gewöhnlichen Audienzen dagegen nur Assessoren. Den Assessoren war es zwar gestattet, den Reichskammergerichtsstab zu führen, es war ihnen aber, im Gegensatz zu den Präsidenten, nicht erlaubt, auf dem Kammerrichterthron Platz zu nehmen.54 Der Kaiser wurde also während der meisten Audienzen nicht repräsentiert. Diese Praxis wurde im Visitationsabschluss von 1713 stark kritisiert und das Gericht ermahnt, dass bei jeder Audienz zumindest ein Präsident anwesend sein müsse, um „Ehr und Hochachtung“ des Gerichtes zu mehren.55 Doch

■ vor, dass der Kammerrichter, zumindest bei allen Urteilen die Reichsstände betrafen, der Audienz vorsitzen sollte. Vgl. Ordnung des Kayserl. CammerGerichts zu Worms, aufgerichtet Anno M. CCCXCV, in: Neue vollständige Sammlung der Reichsabschiede, welche von den Zeiten Kayser Conrads II. bis jetzo, auf den teutschen Reichs-Tägen abgefasset worden samt des wichtigsten Reichs-Schlüssen […], Bd. 2, S. 6, § 1. Vgl. außerdem Georg G. Balemann, Visitationsschlüsse, die Verbesserung des Kaiserlichen ReichsKammergerichtlichen Justizwesens betreffend, Lemgo 1779, S. 527f. 51 Rudolf Smend, Das Reichskammergericht (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit 4), Weimar 1911, S. 204f., S. 217. 52 Vgl. HHStA Wien MEA RKG 200b, Ambrosius Franz von Virmond an Kaiser Karl VI., Wetzlar 13. Juli 1735; Bundesarchiv (BA) Berlin AR 1/IV 66, Propositio Directoriales des Kammerrichters Franz Joseph von Spaur zu der Frage, weshalb er die Einführungsaudienz des Präsidenten Philipp Karl von Oettingen-Wallerstein ausnahmsweise selbst abhält, [1791], fol. 42. Vgl. außerdem beispielhaft die Urteilsbücher aus den Jahren 1720, 1736, 1743, 1750 und 1762 in BA Berlin AR 1/III 29, 46, 53, 60, 72. 53 Laufs (Hg.), Reichskammergerichtsordnung von 1555 (wie Anm. 25), Teil 1, Tit. XII, S. 93. Vgl. auch das [Concept der] Cammer-Gerichts-Ordnung (wie Anm. 25), Teil 1, Tit. XVIII, S. 373. Die Präsidentenämter wurden zu dieser Zeit noch nicht als solche bezeichnet, weshalb davon die Rede ist, dass der Kammerrichter einem Grafen oder Herrn den Kammerrichterstab anvertrauen solle. 54 Mit diesem Argument begründeten die beiden Präsidenten Karl von Wied und Ambrosius Franz von Virmond im Streit mit dem Kammerrichter Franz Adolph Dietrich von Ingelheim um das Prädikat „gnädigst“ im Jahre 1735 den Anspruch auf dasselbe: HHStA Wien MEA RKG 200b, Präsidenten des Reichskammergerichts an den Kaiser, Wetzlar 31. Juli 1735. 55 Visitationsabschied des Kayserl. und Heil. Röm. Reichs Cammer-Gerichts zu Wetzlar, nebst darzu gehörigen Memoralien und Beylagende, Anno 1713, in: Schmauß, Corpus Juris Publici S. R. Imperii Academicum (wie Anm. 25), S. 1168, § 55.

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spätestens seit den 1750er Jahren saß in den meisten Audienzen wieder lediglich ein Assessor vor.56 Nur bei der Verkündung von Urteilen gegen Reichsstände nahmen regelmäßig einer der beiden Präsidenten sowie vier Assessoren an der Audienz teil. So kritisierte auch die letzte Reichskammergerichtsvisitation diese Praxis und forderte die Präsidenten 1770 in einem Erlass erneut auf, stets an den Audienzen teilzunehmen.57 Auf den Audienzdarstellungen leitete dagegen in der Regel der Kammerrichter die Audienz. Auf dem Holzschnitt von 1615 wird so die Person auf dem Kammerrichterthron namentlich als Philipp Christoph von Sötern bezeichnet, der zu diesem Zeitpunkt Kammerrichter war (Abb. 2). Auf den drei RodingStichen ist die Person auf dem Kammerrichterthron mit dem Schriftzug „Judex“ versehen (Abb. 3–5). Lediglich die wenig authentische Darstellung des niederländischen Stiches, der die Institutionen des Reiches zum Thema hat, trägt der Abwesenheit des Kammerrichters Rechnung (Abb. 6). Johann Hugo von Orsbeck wird dort nicht als Person, sondern nur in Form seines Wappens dargestellt. Über dem Thron ist das Wappen des Erzbistums Trier und auf dem Thron selbst das Wappen des Erzstifts Trier mit dem Orsbecker Wappen als Herzschild abgebildet. Auch die Anzahl der auf den Graphiken dargestellten Assessoren stimmte nicht mit den tatsächlich in einer Audienz anwesenden überein. Zeigen die Darstellungen meist mindestens acht Assessoren, so war tatsächlich aber, wie dargelegt, häufig nur ein einziger Assessor anwesend. Am realistischsten ist hier die jüngste Darstellung einer Audienz von 1754, in Friedrich Wilhelm Tafingers „Institutiones Iurisprudentiae Cameralis“ (Abb. 8). Hier sind neben dem Vorsitzenden lediglich vier Assessoren zu sehen. Diese Anzahl an Assessoren nahm gewöhnlich an Audienzen teil, bei denen Urteile gegen Reichsstände verkündet wurden. Die Darstellungen der kammergerichtlichen Audienz zeigten also ein legitimationsstiftendes Bild, das am Gerichtsort zumindest bei den gewöhnlichen Audienzen häufig in dieser Weise gar nicht existierte. Sie trugen beim Betrachter damit möglicherweise weit mehr zur Legitimation des Gerichtes bei als die Audienzen in Wetzlar selbst. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass die legitimierende Wirkung der Audienzdarstellungen von den Auftraggebern und Künstlern intendiert waren. Sie

■ 56 Während in den Jahren 1720, 1736 und 1743 in der Regel zumindest in Audienzen, in denen Urteile verkündet wurden, mindestens ein Präsident bzw. ein Präsident sowie zwei Assessoren anwesend waren, waren in den Jahren 1750 und 1762 bei der Verkündung gewöhnlicher Urteile in der Regel lediglich ein Assessor und nur bei Verkündung von Urteilen gegen Reichsstände ein Präsident und vier Assessoren anwesend. Vgl. BA Berlin AR 1/III 29, 46, 53, 60, 72. 57 HHStA Wien RK RKGVA 73, Sessio 506, 30. Januar 1771. Das dort erwähnte Visitationsconclusum wurde am 30. August 1770 verabschiedet – fünf Monate später besuchten die Präsidenten immer noch nicht regelmäßig die Audienz, weshalb die Visitation sie erneut dazu aufforderte.

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illustrierten vielmehr Werke, die das Reichskammergericht zum Thema hatten, oder dienten allgemein der Information über das Reichskammergericht. Dazu stellten sie das Reichskammergericht so dar, wie es idealiter tagen sollte. Die legitimierende Wirkung war mithin eher ein Nebenprodukt.

Abb. 8: Titelvignette aus: Friedrich W. Tafinger, Institutiones iurisprudentiae Cameralis Tübingen 1754 Jacob A. Friedrich, Kupferstich, 6 x 8 cm Original: Pfälzische Landesbibliothek Speyer

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VII. Rezeption der Audienzdarstellungen■Doch wer sah die Darstellungen der kammergerichtlichen Audienz? Der Verbreitungsgrad der Audienzdarstellungen wird aufgrund ihrer geringen Anzahl vergleichsweise gering gewesen sein, auch wenn es sich bei sieben der acht Darstellungen um Druckgraphiken handelt.58 Von einem medialen Ereignis, verstanden als Moment kommunikativer Verdichtung,59 kann nicht die Rede sein, entstanden die acht Darstellungen doch in einer Zeitspanne von gut 200 Jahren. Als Rezipienten der Audienzdarstellungen können vor allem Juristen angenommen werden, da es sich bei fünf der sieben Druckgraphiken um Frontispize aus Werken der Kameralliteratur handelt. Die älteste Darstellung einer kammergerichtlichen Audienz findet sich als Titelvignette auf einer Ausgabe der Reichskammergerichtsordnung von 1555 aus dem Jahre 1566,60 die drei bekanntesten Darstellungen stammen aus drei unterschiedlichen Ausgaben von Wilhelm Rodings „Pandectae Iuris Cameralis“ (Speyer 1668; Frankfurt 1688; Wetzlar 1750). Bei diesem Werk handelt es sich um die erste systematische Darstellung des Kameralrechts, die in zahlreichen Auflagen erschienen ist und so eine weite Verbreitung erfuhr.61 Und die jüngste Darstellung einer Reichskammergerichtsaudienz befindet sich auf dem Deckblatt von Friedrich Tafingers „Institutiones Iurisprudentiae Cameralis“ von 1754. Auch hierbei handelt es sich um ein weit verbreitetes Werk, das in die kammergerichtliche Praxis einführte.62 Obwohl die Audienzdarstellungen kein Massenphänomen waren, wurden sie offenbar im juristischen Milieu rezipiert. Einen Hinweis darauf gibt die oben bereits besprochene Tusche- und Federzeichnung, die den Instanzenzug des Stiftes Paderborn darstellt (Abb. 7). Sie orientiert sich offensichtlich an der Darstellungstradition der drei Roding-Stiche. Nichtsdestotrotz ist der Wirkungskreis der Audienzdarstellungen eher gering anzusetzen.

■ Vgl. oben (Kap. II). Zur Definition von „mediales Ereignis“ vgl. Christine Vogel, Der Untergang der Gesellschaft Jesu als europäisches Medienereignis (1758–1773). Publizistische Debatten im Spannungsfeld von Aufklärung und Gegenaufklärung (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abteilung für Universalgeschichte 207), Mainz 2006, S. 6. Guido Isekenmeier, Medienereignis, in: Ansgar Nünning (Hg.), Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaften, Stuttgart 2005, S. 143f. Zu einer frühneuzeitlichen Konzeption von Medienereignissen: Thomas Weißbrich/Horst Carl, Präsenz und Information. Frühneuzeitliche Konzeptionen von Medienereignissen, in: Joachim Eibach/Horst Carl (Hg.), Europäische Wahrnehmungen 1650–1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse (The Formation of Europe – Historische Formationen Europas 3), Hannover 2008, S. 75–98. 60 Vgl. oben (Kap. II). 61 Egid J. K. Fahnenberg, Litteratur des kaiserlichen Reichskammergerichts, Wetzlar 1792, S. 66–69. 62 Ebd., S. 171–173. 58 59

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VII. Zusammenfassung■Die Audienz des Reichskammergerichts hatte neben ihrer Funktion im Verfahren auch die Funktion, die Legitimation des Reichskammergerichts zur Rechtsprechung darzustellen. Wesentlich war dabei die Repräsentation des Kaisers als oberstem Gerichtsherrn durch den Kammerrichter. Aber auch die sakrale und die reichspolitische Dimension kamen zum Tragen. Durch die Darstellung der Audienz in der Druckgraphik wurde diese legitimitätsstiftende Wirkung auch außerhalb des Gerichtsortes erfahrbar. Die Darstellungen bildeten die Situation in Speyer bzw. Wetzlar aber nicht nur mehr oder weniger ab, sie interpretierten sie auch. Neben der Betonung der göttlichen Legitimation wurde insbesondere die Beteiligung der Reichsstände am Gericht durch entsprechende Symbole herausgestrichen. Spätestens seit dem Ende 17. Jahrhundert zeigten sie darüber hinaus ein Bild von der Audienz, das so am Gerichtsort nur selten zu sehen war, und trugen so auch eigenständig zur Legitimation des Reichskammergerichts bei. Der Wirkungskreis der Audienzdarstellungen wird aufgrund ihrer geringen Anzahl vergleichsweise begrenzt gewesen sein und vor allem in Juristen bestanden haben, da die Abbildungen zum größten Teil als Frontispize oder Titelvignetten in der Kameralliteratur erschienen sind.

Zwischen Arkanum und Öffentlichkeit

■Alexander Denzler■Zwischen Arkanum und Öffentlichkeit: Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 17761■Mitten in Wetzlar, in der so genannten Alten Kammer, wurde am 5. Oktober 1767 Zillerberg, einer der Richter des höchsten Reichsgerichts, gefragt, ob er denn jemand kenne, der sich „wegen Geschenk oder andere Corruptionen […] verdächtig gemacht habe“. „Könne nichts hirvon sagen“, gab Zillerberg wie viele seiner Amtskollegen zu Protokoll. Ob denn „wegen Corruptionen gahr nichts vorgekomen seye“, fragten die Visitatoren unbeirrt nach. „Es werde einer hohen Visitation von selbsten am mehrsten bewußt seyn, daß man [mit solchen Fragen] zwar großen lermen bey dem Kail: Camer-Gericht gemacht habe, es werde sich aber mit der Hilf Gottes leicht zeigen, daß man sich dißfalls eine große Verantwortung über den Hals gezogen habe“. Auf das Gerücht, die Richter seien korrupt, solle man jedenfalls keine Acht geben, da sie „gemeiniglich von bößen und gehäßigen Gemütheren ihren Ursprung nehme[n]“.2 1. Einleitung■Alles nur Gerüchte? Waren die Assessoren tatsächlich unbestechlich? Der vom bayerischen Kreis präsentierte Zillerberg3 hat es jedenfalls behauptet. Dass wenige Jahre später drei seiner Amtskollegen der Korruption wegen entlassen wurden, konnte zu diesem Zeitpunkt noch niemand wissen.4

■ 1 Der Aufsatz ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrages, der auf der hier mit dem Sammelband dokumentierten Tagung gehalten wurde. Die dort und bei anderen Gelegenheiten erhaltenen Anregungen sind mit eingeflossen. Insgesamt entspringen die Ausführungen einem laufenden, von Frau Prof. Dr. Sabine Ullmann an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt betreuten Dissertationsprojekt. Meine erste, sehr intensive Begegnung mit der letzten außerordentlichen Reichskammergerichtsvisitation hatte ich am Ende meines Geschichtsstudiums, als ich die anlässlich der Visitation erschienen Druckschriften auswertete. Teilergebnisse dieser Magisterarbeit werden im Abschnitt „Die Publizität der Visitation im Spannungsverhältnis von Öffentlichkeit und Arkanum“ vorgestellt. Die ersten Gehversuche mit der Visitation sind in Gänze veröffentlicht unter: Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776. Ein mediales Großereignis und seine Bedeutung für die Kommunikations- und Rechtsgemeinschaft des Alten Reiches, Saarbrücken 2008. 2 Stadtarchiv Augsburg (= StadtAA) RKG 79. 3 Zur Person siehe: Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil 2: Biographien, 2 Bde. (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 26), Köln/Weimar/Wien 2003, Biogr. 79. 4 Die Entlassung der Assessoren Papius, Reuss und Nettelbla Ende 1773/Frühjahr 1774 kann, gerade vor dem Hintergrund der in der Öffentlichkeit kursierenden Korruptionsvorwürfe, als eines der wichtigsten Ergebnisse der Visitation gelten. Die Korruptionsaffäre um den Sollicitanten Nathan Aaron Wetzlar kommt zur Sprache bei: Bengt Christian Fuchs, Die Sollicitatur am Reichskammergericht (QFHG 40), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 200–221, S. 227–235. Jahns, Reichskammergericht (wie Anm. 3), Biogr. 23 (Reuss), S. 236–246, Biogr. 58 (Papius), S. 575–588 u. Biogr. 108 (Nettelbla), S. 1195–1210. Nils Jörn, Johann von Ulmenstein und Christian von Nettelbla: Zwei Assessoren aus Norddeutschland am Wetzlarer Reichskammergericht, in: Ders./Michael North (Hg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich (QFHG 35), Köln/Weimar/Wien 2000, S. 143–184, hier S. 173–179. Eine in vielen Punkten revisionsbedürftige Einschätzung liefert: Werner Brans, Der Fall Papius und seine symptomatische Bedeutung für die Ver-

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Bekannt waren lediglich die in der Öffentlichkeit kursierenden Korruptionsvorwürfe – Vorwürfe, die schließlich mit dazu beigetragen haben, dass nach dem Siebenjährigen Krieg die Visitation des Reichskammergerichts zum wichtigsten Reichsanliegen erhoben wurde.5 Und dieser vor „eine geraume zeit im Reich entstandene böse Ruff“6 führt direkt zum Thema dieses Aufsatzes, und zwar in zweifacher Hinsicht. Zum einen steht die auf Gerüchte basierende Negativ-Inszenierung der Reichsgerichtsbarkeit für eine Kommunikationspraxis, die sich besonders gut in Krisenzeiten7 und im Spannungsfeld von Zensur und Propaganda8 entfaltet. Gerüchte, „verstanden als unbestätigte Nachrichten mit unbekanntem Ursprung und unsicherem Wahrheitsgehalt“,9 können als „Schwarzmarkt der

■ hältnisse am Reichskammergericht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Mitteilungen des Wetzlarer Geschichtsvereins 38 (1998), S. 43–58. 5 Als „Desideria Imperii“ werden die Gutachten oder Wünsche für die Reichspolitik verstanden, die die Kurfürsten seit Karl VII. anlässlich der Kaiser- bzw. Königswahl aufstellten. Dass der Kurfürstentag von 1764 die Visitation zum wichtigsten Reichsanliegen erhob, geht aus der Studie von Theo Rohr hervor: Der Deutsche Reichstag. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Bayerischen Erbfolgekrieg (1763–1778), Phil. Diss. Bonn 1968, S. 67. Diese Qualifikationsschrift behandelt sehr ausführlich die Geschichte der letzten Reichskammergerichtsvisitation aus der Warte des Reichstags. Zur Visitation von 1767 bis 1776 liegen ferner folgende Abhandlungen vor (sortiert nach dem Erscheinungsjahr): Arnold Winkler, Über die Visitationen des Reichskammergerichtes und die von 1713 bis auf Joseph II. währenden Vorbereitungen zur letzten Visitation, Wien 1907; Heinrich Gloël, Goethes Wetzlarer Zeit. Bilder aus der Reichskammergerichts- und Wertherstadt, Berlin 1911 (ND Wetzlar 1999); Bertha Hettfleisch, Politische Geschichte der Reichskammergerichtsvisitation unter Kaiser Josef II., Phil. Diss. Wien 1929; Karl Otmar von Aretin, Kaiser Joseph II. und die Reichskammergerichtsvisitation 1766–1776, in: ZNR 13 (1991), S. 129–144; auch erschienen in der Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, Bd. 11, Wetzlar 1991; Karl Otmar von Aretin, Reichshofrat und Reichskammergericht in den Reichsreformplänen Kaiser Josephs II., in: Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann (Hg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn/Wetzlar 1997, S. 51–81; Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich 1648– 1806, Bd. 3: Das Reich und der österreichisch-preußische Dualismus (1745–1806), Stuttgart 1997, S. 135–159. All diesen genannten Studien fehlt jedoch die eingehende Binnenperspektive der Visitation. Dies gilt auch für sämtliche anderen Visitationen des Reichskammergerichts. Ein Ansatzpunkt für das visitationsreiche 16. Jahrhundert bietet Klaus Mencke, Die Visitation am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zur Entstehung des Rechtsmittels der Revisionen (QFHG 13), Köln/Wien 1984. Zu den beiden Visitationen des 18. Jahrhunderts siehe ferner: Anette Baumann, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1806) (QFHG 51), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 99–113, S. 142–160. 6 Diese Worte gab der Subdelegierte Kurtriers in der 17. Session vom 1. Juli 1767 zu Protokoll (StadtAA RKG 41). 7 Michaela Hohkamp, Art. Gerücht, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 570–572, hier Sp. 570. 8 Andreas Würgler, Medien in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie deutscher Geschichte 85), München 2009, S. 131. 9 Würgler, Medien (wie Anm. 8), S. 131.

Zwischen Arkanum und Öffentlichkeit

Information“10 beschrieben werden, der eine Art Gegenöffentlichkeit11 zu dem Arkanbereich des Politischen bildet. Gerüchte bewegen sich somit zwischen jenen Polen – Öffentlichkeit und Geheimnis –, die auch und gerade dazu geeignet sind, politische Verfahren (der Vormoderne) und damit auch die Visitation des Reichskammergerichts zu beschreiben. Auf der anderen Seite sind Gerüchte quellenmäßig sehr schwer zu fassen. Diese Überlieferungstatsache führt zu der scheinbar banalen, aber doch nicht unwichtigen Frage: Was steht in den Quellen und was nicht? Eine der Grundannahmen der vorliegenden Ausführungen ist, dass alles, was heute in den Archiven über die letzte Visitation des Reichskammergerichts zu er- und bestenfalls zu begreifen ist, aus dem Verfahren selbst zu erklären ist. Für das Gesamtverständnis der teils hochkomplexen Vorgänge ist es sogar unerlässlich, die Genese der im Visitationsverfahren entstandenen und heute im Stadtarchiv Augsburg, im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv und in anderen Archiven liegenden Quellenbestände so genau wie möglich zu rekonstruieren. Konkret wird es im Folgenden darum gehen, die Visitation als ein Ereignis zu beschreiben, das sich auf lokaler (Wetzlar), territorialer und reichsweiter Ebene konstituierte. Hierbei kommen neben den Vorgängen in Wetzlar auch und gerade die in der Medienöffentlichkeit12 kursierenden Druckschriften zur Sprache. Die Frage „Was steht in den Quellen und was nicht?“ führt schließlich auch zu der Tatsache, dass die im Verfahren generierten Informations- und Wissensbestände zu den „arcana imperii“ zählten. Das Staats- bzw. Visitationsgeheimnis differenziert zu beschreiben, ist ein weiteres, zentrales Anliegen dieses Beitrags.13 Zu guter Letzt – und damit wären einige, aber keineswegs alle relevanten Aspekte des Themenkomplexes benannt14 – soll die von den

■ Jean-Noël Kapferer, Gerüchte: Das älteste Massenmedium der Welt, Leipzig 1996, S. 19; Originalausgabe: Rumeurs. Le plus vieux média du monde, Paris 1987/95. Das einschlägige Zitat führt auch Würgler, Medien (wie Anm. 8), S. 131. 11 Hohhamp, Gerücht (wie Anm. 7), Sp. 571. 12 Zum Begriff Medienöffentlichkeit und allgemein zur Öffentlichkeit siehe Anm. 47. 13 Die letzte Visitation des Reichskammergerichts im Spannungsverhältnis von Arkanum und Öffentlichkeit zu beschreiben, lässt sich zugleich als ein Beitrag zur fortschreitenden Delegitimierung des Geheimnisses (im Zeichen der Aufklärung) lesen. Zum Begriff und Wesen des Geheimnisses (in der Vormoderne) siehe: Gisela Engel/Brita Rang/Klaus Reichert/Heide Wunder (Hg.), Das Geheimnis am Beginn der europäischen Moderne (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 6), Frankfurt a.M. 2002. Andreas Gestrich, Art. Geheimnis, in: Jäger, Enzyklopädie (wie Anm. 7), Bd. 4 (2006), Sp. 270–272. Anja Victorine Hartmann, Arcana Imperii und Theatrum Mundi. Überlegungen zur Bedeutung des Geheimnisses in der Frühen Neuzeit, in: GWU 53 (2002) S. 434–443. Lucian Hölscher, Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit (Sprache und Geschichte 4), Stuttgart 1979. Michael Stolleis, Arcana imperii und Ratio status: Bemerkungen zur politischen Theorie des frühen 17. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg 39), Göttingen 1980. Wolfgang E.J. Weber, Art. Arkanpolitik, in: Jäger, Enzyklopädie (wie Anm. 7), Bd. 1 (2005), Sp. 650–652. 14 Hier nicht näher behandelt werden kann beispielsweise das medienpolitische Engagement der Visitation, wofür u.a. die visitationseigene Zeitschrift, die so genannten 10

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Visitatoren kontrovers diskutierte und auch für das Gesamtthema der hier dokumentierten Tagung relevante Frage vorgestellt werden, ob Assessoren Bücher schreiben dürfen oder nicht. Zunächst jedoch soll kurz vorgestellt werden, was unter einer Kammgerichtsvisitation zu verstehen ist. 2. Wozu und zu welchem Ende Visitation?■Kirchliche wie weltliche Visitationen lassen sich als außeralltägliche Inspektions- und Kontrollverfahren begreifen.15 Das 1508 erstmalig und 1767 letztmalig zusammengetretene Inspektions- und Kontrollorgan des Reichskammergerichts durchlief im 16. Jahrhundert seine Formierungs- und Blütephase. Unzählige Male trat eine Kommission zusammen, um „das keiserlich cammergericht an personen, vom obristen biß zum understen, und sonst in allen andern mengeln und gebrechen zu visitiren und zum besten ihres gutbedünckens zu corrigiren und reformiren“16. Neben der Untersuchung der personellen und jurisdiktionellen Mängel war es Aufgabe der Visitation, die so genannten Revisionen zu bearbeiten. Dieses 1532 geschaffene Rechtsmittel bot allen Parteien die Möglichkeit, Endurteile des höchsten ständischen Reichsgerichts überprüfen zu lassen.17 Nach maßvoller Nutzung im 16. Jahrhundert stieg die Anzahl der Revisionen zu Beginn des 17. Jahrhunderts inflationär an, nicht zuletzt, weil die Visitation wie die gesamte Reichsjustiz in den Sog der konfessionellen Auseinandersetzungen geriet. 1587, im Zuge des Magdeburger Sessionsstreites, war es auch das letzte Mal, dass eine ordentliche Visitation zusammentrat. Erst nach dem Dreißigjährigen Krieg besann man sich wieder darauf, dass ohne ein funktionsfähiges Justizwesen „kein Reich in ordentlichem friedlichen Wesen erhalten werden kann“18. Zu diesem Zwecke ersann der Jüngste Reichsabschied von 1654 ein umfassendes und an sich stimmiges, aber vielleicht zu idealistisch erdachtes Reformpaket. Nach diesem sollte erst eine außerordentliche Visitati-

■ Wetzlarischen Anzeigen, stehen. Ausgeblendet wird ferner die exemplarisch erfasste Thematisierung der Visitation in einer Hamburger und in einer Augsburger Zeitung. 15 Die vielfältigen Einsetzungsmöglichkeiten von Visitationen behandelt eingehend: André Holenstein, „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime. Das Fallbeispiel der Marktgrafschaft Baden(-Durlach) (Frühneuzeit-Forschungen 9), 2 Bde., Epfendorf/Neckar 2003, hier Bd. 1, S. 305–342, S. 478–512. Siehe ferner u.a.: Katharina Frieb, Kirchenvisitation und Kommunikation. Die Akten zu den Visitationen in der Kuroberpfalz unter Ludwig VI. (1576–1583) (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 143), München 2006. Achim Landwehr, Policey im Alltag. Die Implementation frühneuzeitlicher Policeyordnungen in Leonberg (Studien zu Policey und Policeywissenschaft), Frankfurt a.M. 2000, S. 97–140. Ernst Walter Zeeden/Peter Thaddäus Lang (Hg.), Kirche und Visitation. Beiträge zur Erforschung des frühneuzeitlichen Visitationswesens in Europa (Spätmittelalter und frühe Neuzeit. Tübinger Beiträge zur Geschichtsforschung 14), Stuttgart 1984. 16 RKGO 1555 Teil 1/L/§2, nach: Adolf Laufs (Hg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (QFHG 3), Köln/Wien 1976. 17 Vgl. Mencke, Visitation (wie Anm. 5). 18 Jüngster Reichsabschied (= JRA) §7, nach: Der Jüngste Reichsabschied von 1654 (Quellen zur Neueren Geschichte 32), bearb. v. Adolf Laufs, Bern/Frankfurt a.M. 1975.

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on die „von vielen Jahren zusammengeschwollenen Revisionssachen“19 abarbeiten, um dann wieder, dem im 16. Jahrhundert begründeten Ideal folgend, jährlich eine ordentliche Visitation durchzuführen. Doch soweit sollte es nie kommen. Sowohl zwei im späten 17. Jahrhundert abgehaltene Sondervisitationen20 als auch die nach internen Querelen zusammengetretene außerordentliche Visitation von 1707 bis 1713 konnten oder wollten den Revisionsauftrag nicht erfüllen.21 Auch die 1767 entsandten Visitatoren bearbeiteten keine Revisionen. Für viele wie den Göttinger Rechtsgelehrten Günter Heinrich Freiherr von Berg stand ohnehin fest, dass der Hauptzweck einer Visitation nicht in der Abarbeitung der Revisionsfälle, sondern darin bestand, das Gerichtspersonal „zu visitieren, zu corrigiren, und die Ungehorsamen so wie die fehlerhaft oder untauglich befundenen zu removiren“ und „die bey dem Gerichte selbst gegen die Gesetzte eingeschlichenen Mängel und Gebrechen zu untersuchen und abzustellen“22. Dieses bereits 1555 festgelegte Aufgabenfeld war jedoch nicht unumstritten – und zwar allein schon deswegen, weil das Visitationsverfahren ergebnisoffen war. Die zeitgenössisch als „Personal- und Realgebrechen“ bezeichnenden Mängel mussten erst einmal im Verfahren selbst aufgedeckt werden. Nicht zufällig begann das Verfahren mit der eingangs angedeuteten Befragung der Gerichtsangehörigen; hier ging es darum, sich einen Überblick über die abzustellenden Mängel zu verschaffen. 3. Wie funktionierte die Visitation?■Anders formuliert: Wenn man die Visitation als einen Reformprozess begreift, dann gab es kein in sich geschlossenes Reformprogramm. Ein solches Papier wäre wohl schon allein an der Vielzahl der am Reformprozess beteiligten Instanzen und Akteure gescheitert. Die Visitation war nämlich ein Verfahren, an dem – die neun Jahre über – rund 70 Reichsstände mitwirkten. Jeder zur Visitation deputierte Reichsstand war berechtigt oder auch, im Angesicht der vielseitig beklagten Kosten,23 dazu

■ JRA §126. Die Visitation von 1672 setzte sich mit rein technischen Fragen auseinander und bestand lediglich aus sechs Reichsständen. 1687 kam es nach einem Sonderantrag von Kurmainz und Kurtrier zu einer Personalbefragung, die mit der Entlassung eines Assessors endete; siehe hierzu: Aretin, Das Alte Reich (wie Anm. 5), Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648–1684), 2. Aufl. Stuttgart 1997, S. 144. Rudolf Smend, Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit 4, Heft 3), Weimar 1911 (ND Aalen 1965), S. 212–214. 21 Die Visitation von 1707 bis 1713 hat sich nie zur Aufgabe genommen, die Revisionen zu erledigen; siehe: Winkler, Visitationen (wie Anm. 5), S. 26. 22 Günther Heinrich von Berg, Darstellung der Visitation des Kaiserlichen und ReichsKammergerichts nach Gesetzen und Herkommen, Göttingen 1794, S. 11. 23 Die Klage, dass man „sich so lang in Nebensachen aufgehalten, und denen Höfen so große Kosten dadurch verursachet worden“, zieht sich wie ein roter Faden durch die Visitationsakten; Zitat aus: Diarium Kurmainz 13. Juli 1767, HHStA-Wien MEA RKG 341. 19 20

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verpflichtet, eine Delegation zu entsenden. Die Aufstellung einer Delegation – sie bestand in der Regel aus einem Subdelegierten, einem Sekretär und einem Kanzlisten – folgte dem im Jüngsten Reichsabschied (§ 201–205) festgelegten Schema. Demnach traten im Mai 1767 die ersten 24 kurfürstlichen, fürstlichen, prälatischen, gräflichen und reichsstädtischen Delegationen zusammen. Nach sieben Jahren wurde diese nach dem Paritätsprinzip bestellte erste Klasse von einer zweiten, 1775 von einer dritten und im Mai 1776 von einer vierten und letzten Visitationsklasse abgelöst. Jede der ursprünglich fünf vom Jüngsten Reichsabschied vorgesehenen Klassen bestand zudem aus zwei vom Kaiser ernannten Kommissaren, denen die Oberaufsicht über das ganze Unternehmen oblag. Da allen voran dem Mainzer Erzkanzler die Vertretung in allen Klassen gebührte und etwa auch Kurbayern nicht nur in der ersten Klasse als Herzogtum, sondern auch in der vierten Klasse als Kurfürstentum vertreten war, lassen sich zusammengenommen rund 70 Reichsstände zählen, die an der letzten außerordentlichen Visitation des Reichskammergerichts mitwirkten. Wer sich also auf die Spurensuche nach dem neun Jahre währenden Reformprozess begibt, sich der Frage hingibt, was die sozialgeschichtlich nicht minder interessanten Reformköpfe in den insgesamt 1 054 Sitzungen gemacht haben, der muss diese Deputationsordnung vor Augen haben. Die Ordnung war dabei – gleich den Reforminhalten – nicht unumstritten. Sie trug vielmehr mit dazu bei, dass sich die Visitation vorzeitig auflöste. Nachdem seit der zweiten Klasse der Streit um das Deputationsrecht der Grafen ungelöst blieb, protestierten am 8. Mai 1776 protestantische Subdelegierte einem Beschluss des Corpus Evangelicorum folgend gegen die Vertretung der westfälischen Grafen durch einen katholischen Gesandten. Die kaiserlichen Kommissare erklärten daraufhin die Visitation für beendet.24 Warum es nicht wie bei den vorangegangen Visitationen zu einem Visitationsabschied kam, ist eine wichtige, aber nicht einfach zu beantwortende Frage. Als wesentliches, hier nicht näher auszuführendes Erklärungsmuster kann angeführt werden, dass die letzte Visitation des Reichskammergerichts zwischen politischem Reformwillen und Reformunwillen,25 aber auch – und wohl insbesondere – zwischen Reformbedarf und verfahrenstechnisch bedingter Reformunfähigkeit oszillierte.26

■ Aretin, Das Alte Reich (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 152. So der bisherige, politikzentrierte Forschungsbefund, der sich auch bei Axel Gotthard findet: „Obwohl Reformbedarf also an sich klar auf der Hand lag, kam die Visitationskommission jahrelang nicht voran. Sie rührte nämlich […] an notorische Grundprobleme der Reichspolitik – so den Unwillen der großen, sich vom Reich freischwimmenden Territorien, sich von den Reichsgerichten in ihre ‚Staatsangelegenheiten‘ hineinpfuschen zu lassen“; Das Alte Reich 1495–1806 (Geschichte kompakt), Darmstadt 2003, S. 143. 26 Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die Visitation – so treffend Johannes Burkhardt – „kein Fehlschlag [war]: Richterkorruption wurde geahndet, Finanzierung und Beitragsmoral verbessert, eine Stellenvermehrung in die Wege geleitet, und die 24 25

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4. Das Arkanum der Visitation■Soweit die Vergleichsperspektive vorliegt, war es keine Besonderheit, dass sich die Gerichtsangehörigen der eingangs angesprochenen Befragung unterziehen mussten.27 Wie bereits zitiert war es Sinn und Zweck einer jeden Visitation, „das keiserlich cammergericht an personen, vom obristen biß zum understen […] zu visitiren und zum besten ihres gutbedünckens zu corrigiren und reformiren“.28 Dieser in der Reichskammergerichtsordnung von 1555 festgelegte Grundauftrag bedeutete, dass mit Beginn der Visitation alle am Reichskammergericht tätigen Personen ein mehrstufiges Befragungssystem durchlaufen mussten. Ob Fragen zum Vormundschaftswesen, den Gemeinen Bescheiden, den Kameralfreiheiten oder – wie im Falle der Korruption – zur Amts- und Lebensführung – alle Kameralen, ob Kammerrichter oder Assessor, Prokurator oder Advokat, Kanzleiverwalter oder Bote, alle waren angehalten, offen über Mängel und Gebrechen am RKG zu sprechen. Diese Offenheit bedurfte allerdings ihrer Verschwiegenheit. Wer war schon – frei formuliert – dazu bereit, über die Amtsführung eines „Arbeitskollegen“ zu sprechen, wenn es am nächsten Tag Stadt- oder gar „Reichsgespräch“ war? Das gesamte Verfahren war vielmehr auf den Schutzmantel des Geheimnisses angewiesen. Deshalb kam es einen Tag vor Examensbeginn, am 15. Juli 1767, zu einem großen, so genannten Verpflichtungsakt. Dieser Akt kann als zweiter, „arkaner“ Verfahrensauftakt angesehen werden, wenn man die Eröffnungsprozession – sie fand zwei Monate zuvor unter Geschützfeuer und Kirchengeläut sowie unter den Augen der Wetzlarer Stadtbürgerschaft statt – als öffentlichen Verfahrensauftakt begreift.29

■ nicht verabschiedeten Regelungen wurden gedruckt und gingen in die Gerichtspraxis ein“; Deutsche Geschichte in der Frühen Neuzeit (C.H. Beck Wissen, Beck´sche Reihe 2462), München 2009, S. 123. Daran anknüpfend findet sich hier, S. 126–129, auch eine alternative Deutung zu der von Barbara Stollberg-Rilinger konstatierten „Reformunfähigkeit“des Alten Reiches; Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation (C.H. Beck Wissen, Beck´sche Reihe 2399), München 2006, S. 120. 27 Anders natürlich für die Akteure: Für Kameralangehörige wie Visitatoren war die Visitation – zumindest im 18. Jahrhundert! – eine sehr außergewöhnliche Situation. Auch unter diesem Gesichtspunkt – Visitationserfahrung der Kameralen und Visitatoren, ja überhaupt sämtlicher „Reformakteure“ – müsste das visitationsreiche 16. Jahrhundert untersucht werden. 28 Vgl. Anm. 16. 29 Eine Beschreibung „der am 11ten May vorgegangenen feyerlichen Eröfnung der K.R. Cammergerichts Visitation“ findet sich in den Wetzlarischen Anzeigen (vgl. Anm. 14), 2. Stück vom 29. Juli 1767, S. 9–12. Das eigentliche Verfahren begann am 21. Mai 1767 mit einer „feyerlichen Ankündigung“, bei der der kurmanizische Subdelegierte Ottenthal für die Visitatoren und Assessor Loskant für die Kameralen eine Eröffnungsrede hielten, in der sie Kaiser und Reich dafür dankten, dass „das von so langen Jahren, ohne Zweifel wegen der Uebermaas anderer Geschäften in Austand gediehene große Werk einer Visitation und Revision“ (Loskant) nach „über anderthalb Jahrhundert […] hinwiederum in ihre Bewegung gesetzt“ (Ottenthal) wurde; Wetzlarische Anzeigen, 6. Stück vom 9. Sept. 1767, S. 31, S. 33. Assessor Loskant übergab zudem der Kaiserlichen Kommission ein Verzeichnis der Visitatoren – die Kameralen besaßen das Recht, Visitatoren abzulehnen – sowie eine Liste der anhängigen Revisionssachen. Letztere, die unerledigten

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Die Beschwörung des Arkanen aller am Verfahren beteiligter Akteure vollzog sich im Audienzzimmer der Alten Kammer. Zuerst gelobten die kaiserlichen Kommissare, dann die Visitatoren und schließlich deren Sekretäre, alles, was während der Visitation zur Sprache käme, geheim zu halten. Danach wurden die Gerichtsangehörigen herbeigerufen. Sie schworen „zu Gott und seinem Heil. Evangelio […], daß sie in der fürgenommenen Visitation, darum sie gefragt werden oder von sich selbst des Camer-Gerichts Mängel und Gebrechen halber an Personen und sonst für nothwendig und gut ermessen, die Wahrheit ihres Wissens und Glaubens antworten, sagen und sich davon ihrer SelbstNutzen oder Nachtheil, noch keinerley andre Sache verhindern lassen, daß sie auch alles, worauf sie gefragt werden und sie gesaget haben, in aller Geheim halten wollen. Alles getreulich und ohngefährlich.“30 Mit dieser Verpflichtung begründeten Kamerale wie Visitatoren eine Gemeinschaft, die auf dem einigenden Band des Arkanen ruhte. Äußere Verschwiegenheit und innere Offenheit bedingten sich hierbei gegenseitig. Wo aber begann und wo endete die Trennlinie zwischen Visitationsinterna und Visitationsexterna? 4.1. Vier „Reformsphären“■Zur Beantwortung der Frage, wer, wann und auf welcher Grundlage sich mit dem arkanisierten Visitationswissen auseinandersetzen durfte, musste oder konnte, ist es zunächst notwendig, sich vor Augen zu führen, dass die Visitation keineswegs nur ein lokales, in Wetzlar verankertes Ereignis war. Schematisch lassen sich vielmehr vier „Reformsphären“ unterscheiden (siehe Abb. 1), die auf unterschiedliche Weise an dem Reformprozess partizipierten und jeweils eigene, implizit oder explizit formulierte Wissensansprüche stellten. Dem bisherigen Forschungsinteresse an der Visitation folgend ist zunächst die – von Wetzlar aus gesehen – dritte, mit Reichstag und Kaiser Joseph II. sehr prominent besetzte Reformsphäre zu benennen. Die wenigen bislang, allen voran von Karl Otmar von Aretin vorgelegten Studien „beackern“ vor allem dieses „reichische“ Visitationsfeld.31

■ Revisionen, sind auch der Grund dafür, warum für die Eröffnungsredner die Visitation von 1707 bis 1713 nicht an die vor „über anderthalb Jahrhundert“ abgebrochene Visitationstradition anknüpfen konnte (vgl. hierzu Anm. 21). 30 Wetzlarische Anzeigen, 13. Stück vom 7. Dez. 1767, S. 78. Die hier zitierte Eidesformel haben der Kammerrichter, die beiden Präsidenten sowie sämtliche Assessoren – bis auf Nettelbla, „der Unpässlichkeit halber zu erscheinen ausser Stand war“ – gesprochen. Die Eidesformel der übrigen Kameralen variierte im Wortlaut, zielte aber gleichfalls auf die Beschwörung des Arkanen. 31 Vgl. Anm. 5.

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Abb. 1: Reformdiskurse, Reformansprüche, Reformrealitäten: Vier Reformsphären sui generis

Dass hier der reformpolitische Rahmen vorgegeben wurde, dessen war sich auch Andreas von Goldhagen, der Visitationsgesandte des Kurfürstentums Bayern,32 bewusst. Nicht ohne Grund unterhielt dieser eine Korrespondenz mit dem Münchener Reichstagsgesandten, ließ sich Reichstagsprotokolle nach

■ 32 Über den 1752 „wegen seiner ‚Gelehrsamkeitʻ ohnermiedten Fleises und Integrität“ von Kurfürst Max III. Joseph zum Revisionsrat und 1767 zum wirklichen Geheimen Rat ernannten Goldhagen ist nur wenig bekannt; Wolfgang Burgmair, Die zentralen Regierungsstellen des Kurfürsten Max III. Joseph (1745–1777), Phil. Diss. München 1992, Anhang S. 16, S. 233. Als Hauptreferent der so genannten Wetzlarer Deputation, die sich auf Anfrage mit Angelegenheiten der Reichsgerichte auseinandersetzte, war er mit der Stadt Wetzlar und dem Reichskammergericht bestens vertraut; zur Wetzlarer Deputation siehe: Hans Rall, Kurbayern in der letzten Epoche der alten Reichsverfassung 1745–1801 (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 45), München 1952, S. 128f. Die Vertrautheit mit Wetzlar belegt auch die im Hauptstaatsarchiv München erhaltene „Rechnung über Diäten und andere Ausgaben in der mir gnädigst aufgetragenen Reise nach Wetzlar“ (BayHStA Personenselekt Karton 104). Danach hielt er sich „für die in dem Salzburger Compromiss Weesen abzuschickende kurfürstliche Kommission“ von Dez. 1761 bis Juli 1762 in Wetzlar auf. Auch seine Tätigkeit in der so genannten kurkölnischen Testamentssache führte ihn an die spätere Visitationsstätte. Das juristische Tauziehen um die wittelsbachische Sekundogenitur am Niederrhein, das aufgrund des Ablebens des Kurfürst von Köln Clemens August am 6. Februar 1761 ausbrach, führte dazu, dass die Assessoren Goldhagens Tätigkeit als Visitator (vergeblich) ablehnten. Nach der Visitation wurde Goldhagen zum Kanzler des Visitationsrates ernannt, bevor er am 27.12.1797 verstarb.

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Wetzlar schicken oder auch sofort darüber „in engster Confidenz“ informieren, „daß gestern in Collegiis der Kay.e Antrag in betreff der Ablösung der ersten Visit: Deput: Classe auf den zweyten May zur Proposition gekomen“35. Umgekehrt erbat der Reichstagsgesandte36 aber auch, „mir […] von Zeit zu Zeit über die Vorfallenheiten in Wetzlar eine ohnbeschweliche Communication“ zu machen37. Dieser direkte Austauschprozess zwischen Wetzlar und Regensburg darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Kommunikationskanäle auf der zweiten, territorialen Reformsphäre bündelten. Denn hier, an den Höfen und Städten der vom Reichstag deputierten Stände, gingen die von den Visitatoren (und allen anderen Reichs-, Kreis- und sonstigen Gesandten) erstellten Berichtspakete ein und von hier erhielten die Visitatoren ihre Instruktionen. Die territoriale Verankerung der Visitation vollzog sich dabei in den Bahnen des jeweiligen Behördenapparates. Für Kurbayern gesprochen lässt sich das 1764 neu eingerichtete „Departement deren churfürstlichen auswärtigen Geschäfften“ unzweifelhaft als eine Visitationsbehörde begreifen.38 Diese Zentralbehörde gab auch in Gestalt Wiguläus von Kreitt-

■ Schreiben an Goldhagen vom 19. März 1768, BayHStA Kasten Schwarz 16622. Der Reichstagsgesandte hieß Franz Xaver von der Wahl (1723–1791). Er war von 1767 bis 1772 kurbayerischer Gesandter auf dem Immerwährenden Reichstag. Auch mit seinem Nachfolger, Joseph Ignaz Leyden, stand Goldhagen in direktem Kontakt. Zur Person Wahls und Leydens siehe: Walter Fürnrohr, Kurbaierns Gesandte auf dem Immerwährenden Reichstag, Göttingen 1971, S. 120–128. 37 BayHStA Kasten schwarz 16621 fol. 38. 38 Mit der Errichtung des Departements „wurde die Außenpolitik offiziell aus der kollegialen Zuständigkeit der [Geheimen] Konferenz herausgenommen und [mit Grafen Baumgarten] einem Konferenzmitglied zur besonderen Erledigung anvertraut“; Alois Schmid, Max III. Joseph und die europäischen Mächte. Die Außenpolitik des Kurfürstentums Bayern von 1745–1765, München 1987, S. 480. In der Praxis setzte sich jedoch auch weiterhin die Geheime Konferenz mit außenpolitischen Fragen auseinander. Erst ab 1769 trat das Departement als eigenständige Behörde in Erscheinung, worauf die Errichtung einer eigenen Kanzlei und die Anstellung von „schließlich vier eigene[n] Sekretäre[n] und eine nach und nach wachsende Anzahl von Registratoren sowie Boten“ verweist; Alois Schmid, Der Reformabsolutismus Kurfürst Max′ III. Joseph von Bayern, in: ZBLG 54 (1991), S. 39–76, hier S. 63. Für die Aufwertung des Departements steht wohl auch die Ende 1768/Anfang 1769 vollzogene Ansiedlung in einem Trakt der Münchner HerzogMax-Burg; siehe hierzu: Burgmair, Regierungsstellen (wie Anm. 32), S. 555. Die Außenpolitik wuchs damit (auch räumlich greifbar) „langsam aus der kollegialen Behandlung in der Geheimen Kanzlei heraus, ohne daß es jedoch zur gänzlichen Lösung kam“; Schmid, Reformabsolutismus, S. 63. In den Akten ist die Auseinandersetzung der kurbayerischen Zentralbehörden mit der Kammergerichtsvisitation sehr schwer zu fassen. Für das Departement gilt allgemein mit Schmid, Max III., S. 480, Anm. 23, dass deren Tätigkeit aktenmäßig nicht greifbar ist. Auch die Protokolle der Geheimen Konferenz ergeben keine weiterführenden Hinweise. Für das Jahr 1767 findet sich lediglich der Eintrag, dass man sich mit einem Regierungsbericht aus Straubing wegen „Affignierung des wegen der ReichsCammergerichtsvisitation ergangenem Generalmandats“ (wegen den anzukündigenden Revisionen?) auseinandersetzte und beschloss „dem Hofkriegsrat mittels Sigl. zubedeuten, dass sich derselbe in derlei dem Kommando gar nicht obliegende Vorfallenheiten nicht einmischen […] solle“ (BayHStA Kurbaiern Geheimer Rat 407, fol. 56–57). Für das Jahr 1768 ist gar 35 36

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mayrs, des bedeutendsten bayerischen Rechtgelehrten seiner Zeit, den Münchner Visititationskurs vor.39 Das eigentliche Reformzentrum – auf die äußerste Reformebene wird noch eigens einzugehen sein – lag jedoch in Wetzlar. Hier wurden monatlich, wöchentlich, ja teils täglich Berichte erstellt, um Wien, Berlin, Mainz, München, Augsburg etc. über die Geschehnisse in Wetzlar zu informieren.40 Die Subdelegierten versorgten ihre Landes- bzw. Stadtherren mit regelrechten Informationspaketen. Hierunter sind, neben den Berichts- und Begleitschreiben, allen voran die in den Sitzungen geführten Protokolle zu begreifen. Die von den kurmainzischen Sekretären angefertigten, mittels der Diktatur unter allen Delegationen verbreiteten Protokolle dokumentieren sämtliche zwischen 1767 und 1776 behandelten Beratungsgegenstände. Wer diese Protokolle besaß, verfügte zweifelsohne über einen privilegierten Zugriff auf das arkanisierte Visitationswissen.41 4.2. Das Examensarkanum■Die Visitationsprotokolle allein boten (und bieten) aber nur partielle Einblicke in die Visitationsgeschehnisse. Das Arkanum der Visitation gestaltete sich nämlich weitaus komplexer. In der 19. Sitzung, als es darum ging, die bevorstehende Befragung der rund 90 Kameralpersonen vorzubereiten, gab der kurbayerische Gesandte mit anderen Visitatoren zu bedenken, dass man die Kameralen nicht als Denunzianten oder Ankläger

■ kein „visitationsrelevanter“ Eintrag nachweisbar. Zudem ist festzuhalten, dass „die Außenpolitik vielfach in persönlichen Unterredungen mit einzelnen Ministern und Gesandten betrieben“ wurde; Ferdinand Kramer, Zur Konzeption mittelstaatlicher Außenpolitik in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts, in: ZBLG 60 (1997), S. 705–736, hier S. 706. Der behördeninterne Umgang mit der Visitation lässt sich somit nur sehr eingeschränkt über die Korrespondenz Goldhagens mit den leitenden Beamten sowie über die an Goldhagen erlassenen Instruktionen rekonstruieren. 39 Der seit 1745 im bayerischen Staatsdienst stehende Kreittmayr stand seit dem Ableben des auswärtigen Ministers Baumgarten im Jahr 1772 in Kontakt mit Goldhagen. Daneben ergingen auch von Graf von Seinsheim Befehle an Goldhagen. Dieser behördeninterne Umgang mit der Visitation bestätig, dass Max III. Joseph nach dem Tod Baumgartens „zum System der Kompetenzaufteilung auf zwei Minister zurück[kehrte]“; siehe: Burgmair, Regierungsstellen (wie Anm. 32), S. 558. Da der Kurfürst überdies „das Departement stärker an seine Person [band]“ (Burgmair, ebd.), ist anzunehmen, dass auch die Visitationsmaterie nach 1772 öfters zur kurfürstlichen Entscheidung/Bestätigung vorgelegt wurde. Zur Person Kreittmayrs siehe u.a.: Rall, Kurbayern (wie Anm. 32), S. 29–67. Ders., Kreittmayr. Persönlichkeit, Werk und Fortwirkung, in: ZBLG 42 (1979), S. 47–73. Richard Bauer/Hans Schlosser (Hg.), Wiguläus Xaver Aloys Freiherr von Kreittmayr (1705– 1790). Ein Leben für Recht, Staat und Politik. Festschrift zum 200. Todestag, München 1991. 40 Art und Umfang der Berichte konnten sehr stark variieren. Die Gründe hierfür, die u.a. in dem Visitationsverfahren vor Ort, aber auch in dem Berichtsstil der jeweiligen Visitatoren liegen, können an dieser Stelle nicht näher ausgeführt werden, obgleich dies natürlich unmittelbar zu der eingangs aufgeworfenen Frage „Was steht in den Quellen und was nicht?“ führt. 41 Anzumerken bleibt, dass hier unbeantwortet bleiben muss, was überhaupt protokolliert oder eben auch nicht protokolliert wurde. Letzterer Punkt lässt sich teils über die von den Gesandten verfassten Berichte rekonstruieren.

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ansehen dürfe. Wenige Sitzungen später gab auch Kurmainz zu erkennen, dass man, ungeachtet des Verpflichtungsaktes, fürchte, es könne durch die Bekanntgabe von Examensinterna „unter denen Membris Judicii ein Widerwillen, Abneigung und Haß entstehen“.42 Die Visitatoren nahmen solche Bedenken sehr ernst und beschlossen, 1.) alles, was über die Personalgebrechen zur Anzeige gelangt, „weder ad Dictaturam“ zu bringen, noch 2.) von den Subdelegierten bei dem Examen angefertigte Notizen oder Mitschriften „ohne special befehl an [die] Höfe oder Comittenten“ zu schicken.43 Das Examen unterlag somit einem besonderen Schutz. Konkret bedeutete dies, dass die regulären, an die Visitationsstände versandten Protokolle immer wieder mit den Worten schlossen: „Übrigens“ oder „in der übrigen Zeit heutiger Session“ wurde Kamerale XY vernommen, „wie das besonders hierüber geführte Protokoll ausweißet“.44 Sobald also das Examen begann, wurde von den kurmainzischen Sekretären ein gesondertes Protokoll geführt. Somit liegen von der letzten außerordentlichen Visitation des RKG zwei Protokollarten vor. Beide – Visitations- und Examensprotokolle – stehen für das gestufte Visitationsgeheimnis. Glücklicherweise haben sich auch letztere – die Examensprotokolle – erhalten, und zwar nicht nur in Wien, sondern auch in München und Augsburg. Wann und wie genau die Examensunterlagen vervielfältigt und unter den Visitationsständen distribuiert wurden, ist nicht nachzuvollziehen. Unwahrscheinlich, jedoch nicht auszuschließen ist, dass sich der Umgang mit den Examensinterna im Laufe des Verfahrens verändert hat. Ohnehin bleibt – allein schon im Hinblick auf die „Reformsphären“ – zu fragen, wie wirksam das Examensarkanum war. Johann Kaspar von Stallauer jedenfalls, der Visitationsgesandte der Reichstadt Augsburg,45 berichtete, dass, als der Kammerrichter über die so genannten Gemeinen Fragestücke befragt wurde, der Mecklenburgische Gesandte verlangte, dessen Antworten „ad Dictaturam“ zu bringen. Die offizielle Vervielfältigung der Examensunterlagen erachtete Stallauer aber als gar nicht notwendig, da „alle dergleichen Antworthen [...] unter der Hand zuerhalten wissen“. Andererseits war sich der reichsstädtische Visitationsgesandte der Bedeutung des Examensarkanums auch bewusst: Wenn „Examinandi in Erfahrung bringen sollten, daß man ihre Edicita ad Comunem Dictaturam komen lassen, und eben dardurch in der ganzen Welt propaliren [verbreiten] würde, dieselbe schwehrlich oder gahr nicht mit der Kaz durch den Bach ziehen därfften. Wer sollte Sie auch darüber

■ StadtAA RKG 41, 29. Session vom 28. Aug. 1767. StadtAA RKG 41, 29. Session vom 28. Aug. 1767. 44 Vgl. bspw. die 345. Session vom 13. Okt. 1769 (StadtAA RKG 46). 45 Die biographische Erfassung Stallauers ist zum Zeitpunkt der vorliegenden Abhandlung noch nicht abgeschlossen. Ich danke vielmals Frau Dr. Barbara Rajkay für die Hinweise. 42 43

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verdencken?“46 Das Verfahren war also auf die Aussagen der Gerichtsangehörigen und damit auf ein gesondertes Examensarkanum angewiesen. 5. Die Publizität der Visitation im Spannungsverhältnis von Öffentlichkeit und Arkanum■Wie weit jedoch konnte und durfte das gestufte Visitations-Arkanum gehen? War nicht das Reichsjustizwesen und mit ihm die Visitation eine „allgemeine Angelegenheit des gesammten Reich[es]“, über die das „Publico“ durch verantwortungsbewusste „Communicatores“ wahrhaftig und ohne Parteilichkeit informiert werden müsse?47 Mit diesen Worten – sie sind einer Druckschrift des Assessors Christian von Nettelbla48 entnommen – sind wir bei der äußersten „Reformsphäre“ – der Medienöffentlichkeit49. Schon Rudolf Smend wies 1911 in seiner nach wie vor einschlägigen

■ StadtAA RKG 33, Relation 7 vom 29. Juli/2. Aug. 1767. [Christian von Nettelbla/Carl Wilhelm Schnitzlein], Fortgesetzte Reverien von Verbesserung des Justizwesens bey Gelegenheit d. Kaiserlichen u. Reichs-Cammergerichtlichen Visitation, Frankfurt a.M. u.a. 1769, S. 81f. 48 Zur Person siehe: Jahns, Reichskammergericht (wie Anm. 3), Biogr. 108. Jörn, Ulmenstein und Nettelbla (wie Anm. 4). 49 Das seit dem Erscheinen der Habilitationsschrift von Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, erstmals Darmstadt 1962, vielfach problematisierte Verständnis von Öffentlichkeit kann an dieser Stelle nicht differenziert entfaltet werden. Der Begriff Medienöffentlichkeit meint, dass es sich hier um eine über Printmedien konstituierte Öffentlichkeit handelt. Davon abzugrenzen sind jene Öffentlichkeiten, die sich über die Reichs- und Landesebene sowie über das Reformzentrum Wetzlar bildeten. Hier wäre zu unterscheiden zwischen einer Reichs(tags)öffentlichkeit, einer höfisch-administrativen, lokal-städtischen, „kameralen“ und „visitationseigenen“ Öffentlichkeit. Die in Wetzlar zu verortenden Öffentlichkeiten konstituierten sich in erster Linie über konkrete Räume, die jeweils verschiedene Grade von Öffentlichkeit besaßen. Gemeint sind folgende „visitationsrelevante“ Räume: Alte Kammer als Sitzungssaal der Visitation, Neue Kammer als Sitzungssaal des Reichskammergerichts, die Gesandtschaftsquartiere der Visitatoren (das Quartier des kurbraunschweigischen Gesandten diente mehrfach als Konferenzsaal der Protestanten), die Quartiere der Kameralangehörigen (wo etwa Feste und ausgedehnten Mahlzeiten stattfanden), die Kirchen (am 17. März 1769 wurde das Namensfest Kaiser Josephs II. „in dahiesiger Franciscaner Kirche anticipato celebriret, und von der Kaj. Comission nicht nur hierzu, sondern auch Mittags zur Tafel, und Abends zur Gesellschaft sowohl samt. Hhr.en Subdelegati als das Collegium Camerale in Corpore invitiret”. StadtAA RKG 33, Relation 36 vom 22. März 1769), die Wirtshäuser (als städtischer „Zentralraum“ werden sie bspw. in den Examensprotokollen thematisiert) sowie die Straßen und Plätze, die u.a. als Schauplatz der bereits erwähnten Eröffnungsprozession dienten. Öffentlichkeit über konkrete Räume zu begreifen, folgt einem an der Technischen Universität Dresden angesiedelten Forschungsprojekt. Siehe hierzu: Susanne Rau/Gerd Schwerhoff, Öffentliche Räume in der Frühen Neuzeit. Überlegungen zu Leitbegriffen und Themen eines Forschungsfeldes, in: Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hg.), Zwischen Gotteshaus und Taverne. Öffentliche Räume in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Struktur 21), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 11–52. Zum Themenkomplex Öffentlichkeit und den hier angedachten Einzelaspekten sei verwiesen auf: Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (Hg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (Historische Zeitschrift. Beihefte (Neue Folge) 41), München 2005. Renate Dürr/Gerd Schwerhoff (Hg.), Kirchen, Märkte und Tavernen. Erfahrungs- und Handlungsräume in der Frühen Neuzeit (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 9), Frankfurt a.M. 46 47

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Studie über das Reichskammergericht darauf hin, dass es im Zuge der Visitation einen „neunjährigen publizistischen Krieg“ gab,50 der, so eine Dissertation aus dem Jahre 1929, von Anfang bis zum Ende die „weitesten Kreise interessierte“,51 und an dem sich, so zuletzt Karl Otmar von Aretin, „fast alle bekannten Reichspublizisten beteiligten“52. Ausgehend von diesen Beobachtungen ist es notwendig, Dimension und Wirkmächtigkeit der medialen Inszenierung der Visitation zu konkretisieren. Eine systematische Analyse bedarf hierbei Hilfsmittel, wie die bis heute einzig vorhandene Bibliographie zur Literatur des Reichskammergerichts von Joseph Karl von Fahnenberg aus dem Jahre 1792.53 Da, so der Assessor in den einleitenden Worten, viele kleine und große Schriften selbst „das glücklichste Gedächtnis […] nicht alle behalten kann“, sammelte er sämtliche ihm bekannte Werke über das Reichskammergericht aus den Anfängen der höchsten Gerichtsbarkeit bis zu seiner Gegenwart. „Ein angenehmes Geschenk für alle Freunde der juristischen, insbesondere der kammergerichtlichen Literatur“,54

■ 2005. Susanne Friedrich, Drehscheibe Regensburg. Das Informations- und Kommunikationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700 (Colloquia Augustana 23), Berlin 2007. Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 103), Göttingen 1994. Andreas Gestrich, Jürgen Habermas′ Konzept der bürgerlichen Öffentlichkeit: Bedeutung und Kritik aus historischer Perspektive, in: Clemens Zimmermann (Hg.), Politischer Journalismus, Öffentlichkeiten und Medien im 19. und 20. Jahrhundert (Schriften der Siebenpfeiffer-Stiftung 8), Ostfildern 2006, S. 25–39. Carl A. Hoffmann, ‚Öffentlichkeit‘ und ‚Kommunikation‘ in den Forschungen zur Vormoderne. Eine Skizze, in: Carl A. Hoffmann/Rolf Kießling (Hg.), Kommunikation und Region (Forum Suevicum 4), Konstanz 2001, S. 69–110. Hölscher, Öffentlichkeit (wie Anm. 13). Hans-Wolf Jäger (Hg.), „Öffentlichkeit“ im 18. Jahrhundert (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa 4), Göttingen 1997. Peter von Moos, Die Begriffe „öffentlich“ und „privat“ in der Geschichte und bei den Historikern, in: Saeculum 49 (1998), S. 161–192. Ernst Opgenoorth, Publicum – privatum – arcanum. Ein Versuch zur Begrifflichkeit frühneuzeitlicher Kommunikationsgeschichte, in: Bernd Sösemann (Hg.), Kommunikation und Medien in Preußen vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte 12), Stuttgart 2002, S. 22–44. Maren Richter, „Prädiskursive Öffentlichkeit“ im Absolutismus? Zur Forschungskontroverse über Öffentlichkeit in der Frühen Neuzeit, in: GWU 59 (2008), S. 460–475. Michael Schaich, Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung (Schriftenreihe zur bayerischen Landesgeschichte 136), München 2001. Rudolf Schlögl, Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit, in: ZHF 35 (2008) S. 581–616. Falko Schneider, Öffentlichkeit und Diskurs. Studien zu Entstehung, Struktur und Form der Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert, Bielefeld 1992. 50 Smend, Reichskammergericht (wie Anm. 20), S. 238. 51 Hettfleisch, Reichskammergerichtsvisitation (wie Anm. 5), S. 127. 52 Aretin, Das Alte Reich (wie Anm. 5), Bd. 3, S. 159. 53 Josef Karl Fahnenberg, Litteratur des kaiserlichen Reichskammergerichts, Wetzlar 1792 (ND Darmstadt 1972). Gerd Hoffmann führt in seiner „Bibliographie der deutschen Rechtsbibliographien“ zum Reichskammergerichtswesen neben Fahnenberg die „Grundsätze des Reichsgerichts-Prozesses“ von Wilhelm Danz. Sie sind 1795 erschienen und nennen lediglich einige Standardwerke (Schifferstadt 1995, S. 179). Zur Person Fahnenbergs siehe: Jahns, Reichskammergericht (wie Anm. 3), Biogr. 60. 54 Rezension zu Fahnenberg, Litteratur des Reichskammergerichtes, in: Friedrich Nicolai (Hg.), Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 1/1, Kiel 1793, S. 214.

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urteilten schon Zeitgenossen sehr treffend. Die mehr als 300 Schriften, die sich den Angaben Fahnenbergs zufolge zwischen 1750 und 1791 mit dem Reichskammergericht auseinandersetzten,55 umfassen einige, aber längst nicht alle Visitationspublikationen56. Weitere Publikationen ergeben sich aus der systematischen Recherche anhand von Stichwörtern und bereits aufgetauchter Autorennamen im Meta-Katalog für Bibliotheks- und Buchhandelskataloge KVK (Karlsruher Virtueller Katalog) und den Verweisen bereits gesichteter Schriften auf bisher nicht bekannte Publikationen. Eine Absicherung und Ergänzung findet der Publikationsfundus schließlich in Mosers „Neuester Bibliothek des allgemeinen Teutschen Staats-Recht“57 und insbesondere in Pütters vierbändiger „Litteratur des Teutschen Staatsrechts“58. Diese Hilfsmittel und darauf aufbauende Einzelrecherchen ergeben schließlich, dass anlässlich der letzten außerordentlichen Reichskammergerichtsvisitation 121 Publikationen erschienen sind. Verglichen mit der publikationslosen Visitation von 1707 bis 1713 ist das sehr viel, so dass, zusammengenommen, die Visitationen des 18. Jahrhunderts für eine Medienöffentlichkeit stehen, die sich mit der Expansion des Druckmarktes neuartig fundierte und sich – wie noch deutlich wird – zunehmend politisierte. Die Fragen, die es darauf aufbauend zu beantworten gilt, lauten: Wer publizierte wann, worüber und mit welcher Intention Einzelschriften? Zur Beantwortung dieser Fragen lassen sich die Publikationen zunächst inhaltlich systematisieren. Die erste, 26 Publikationen starke Gruppe (Reformbedarf) umfasst allgemeine Konzepte zur Reform des Reichskammergerichts, Reformvorschläge zu Einzelbereichen des Gerichtswesens sowie Schriften, die auf die Reformnotwendigkeit des Reichsjustizwesens eingingen. In der zweiten und mit 64 Publikationen größten Gruppe (Reforminstrument) finden sich Schriften, die sich mit der Geschichte, Funktion und Einrichtung der Visitation beschäftigen. Die dritte Gruppe (Reformprozess) – ihr lassen sich 31 Publikationen zuordnen – enthält Berichte und Dokumente zur laufenden Visitation.

■ 55 Es wird der Zählung von Ernst Holthöfer gefolgt, der für die Zeit zwischen 1750 und 1791 insgesamt 321 Titel zählt; siehe ders., Literatur der Kammeraljurisprudenz am Ende des Alten Reichs, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert (QFHG 41), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 189–215, hier S. 194. 56 Als Visitationspublikationen wurden nicht nur Druckschriften gewertet, die direkt die Visitation thematisierten, sondern auch diejenigen, die indirekt auf die Visitationsthematik eingingen. Ein Beispiel: Die zweibändige „Sammlung der neuesten Staatsangelegenheiten“ erschien nicht wegen der Visitation, doch führt sie als publizistischen „Aufhänger“ in dem ersten Band von 1767 (2. Bd. 1769) einige „Reichs-Cammer-GerichtsVisitations-Sachen“ wie etwa ein kurbayerisches Patent über die Revisionsmaterie. Der Titel einer Druckschrift kann somit kein ausschließendes Sichtungskriterium sein, wohl aber der festgelegte, aber nicht bedingungslos befolgte Sichtungszeitraum von 1760 bis 1780. 57 Frankfurt a.M. 1771. 58 Göttingen 1776 (Bd. 1), 1781 (Bd. 2), 1783 (Bd. 3). Bd. 4, Fortsetzung und Ergänzung von Johann Ludwig Klüber, Erlangen 1791 (ND Frankfurt a.M.1965).

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Eine chronologische Betrachtung (siehe Abb. 2) erlaubt es wiederum, von zwei größeren publizistischen Wellen zu sprechen. Die erste von 1765 bis 1770 ist vor dem Hintergrund der über 50 visitationslosen Jahre zu sehen. Mit der Ankündigung der Visitation Ende 1764 hieß es für die Publizisten zunächst, sich, das Reich und die Reichspolitik an das, so Reichsvizekanzler Colloredo, „so viele Jahre still gelegenen und dahero in eine allgemeine Vergessenheit verfallene Geschäfft“59 zu erinnern. Der kursächsische Reichstagskanzlist Christian Gottfried Oertel60 etwa veröffentlichte eine Sammlung von Akten, um „allen und jeden, die in solchem wichtigen und heilsamen Geschäfte Berichte und Verhaltungs-Befehle zu erstellen haben, […] die nöthigsten Nachrichten“ zu liefern.61 Kurze Zeit später schloss sich David Georg Strube der Informationskampagne an. Der bedeutende Staatsrechtler63 gab in zwei Bänden eine Vielzahl von „Cammeral und Visitations-Actenstücke“ der letzten außerordentlichen Visitation von 1707 bis 1713 heraus, damit diese Geschehnisse „nun jetzo von neuem dem Publico bekannt gemacht werden“.64

■ 59 Gutachten Colloredos vom 12. November 1766, in: Rudolf Graf KhevenhüllerMetsch/Hans Schlitter (Hg.), Aus der Zeit Maria Theresias. Tagebuch des Fürsten Johann Khevenhüller-Metsch, kaiserlichen Obersthofmeisters 1742–1776, Bd. 6 (1764–1767), Wien 1917, S. 482–502, hier S. 492. 60 Oertel war von 1742 bis zu seinem Tode 1777 Kanzlist der kursächsischen Reichstagsgesandschaft. Über die Geschehnisse am Reichstag informierte er in zahlreichen Publikationen. Dass er neben dem „Reichs-Tags-Diarium“ und dem „Neuen Reichs-TagsDiarium“, die zwischen 1745 und 1777 die Verhandlungen und Ergebnisse am Reichstag (auch zur Visitation) dokumentierten, nun auch eine gesonderte Reihe zur Visitation herausbrachte, spricht für die Bedeutung dieses Reformunternehmens. Der gebürtige Wittenberger dokumentierte zudem seit 1767 die Religionsbeschwerden des Corpus Evangelicorum. Zur Person siehe: Allgemeine Deutsche Biographie, hg. v. d. historischen Commission b. d. Königlichen Akademie d. Wissenschaften, Bd. 24, Leipzig 1887, S. 433f. 61 [Christian Gottfried Oertel], Sammlung der nöthigsten, zum Theil noch ungedruckten Actenstücke, die Visitation des Kaiserlichen und Reichs-Cammer-Gerichts betreffend, o.O. 1763. Zitat aus dem Vorwort. 63 Der 1694 in Hannover geborene David Georg Strube (gest. 1776) wirkte nach dem Studium in Halle 20 Jahre im Hochstift Hildesheim als Beisitzer des Hofgerichts und Mitglied des evangelischen Konsistoriums. Ab 1740 stand er als Geheimer Justizrat und ab 1758 bis zu seinem Tode als Direktor der Justizkanzlei im Dienste Kurbraunschweigs. Die juristische Fakultät der Universität Göttingen, an deren Gründung er mitwirkte, holte immer wieder seinen fachlichen Rat ein. Mit Johann Stephan Pütter – sein Sohn Julius Melchior unternahm mit ihm eine Bildungsreise nach Wetzlar – stand er in sehr engem Kontakt. Publizistisch tat sich Strube vor allem mit zwei Sammelwerken hervor: Die Nebenstunden (6 Bde., 1742–68) und die Rechtlichen Bedenken (5 Bde., 1767–1777). Sie enthalten auch Beiträge zur Visitation und zählten noch im 19. Jahrhundert zu den am häufigsten zitierten juristischen Abhandlungen; siehe: Allgemeine Deutsche Biographie (wie Anm. 58), Bd. 36, Leipzig 1893, S. 635–639. 64 David Georg Strube, Sammlung merkwürdiger Cammeral- und Visitations-Actenstücke, 2 Bde., Wetzlar 1765. Das Zitat ist dem Titelblatt des ersten Bandes entnommen.

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Abb. 2: Graphik über die Erscheinungsjahre der Visitationspublikationen (Gesamt: 121)

Aus vergangenen Visitationen lernen, sich über Chancen und Risiken eines solchen Unternehmens bewusst zu sein, dies stand auch in Strubens kleiner Abhandlung über die Visitation im Vordergrund.65 Wie Oertel, der bis zum Ende der Visitation mit den gesammelten Visitationsakten66 und mit dem „Neuen Reichs-Tags-Diarium“67 die Visitation publizistisch begleitete, so wollte auch er über die Visitation informieren und für dieses Projekt werben. Wer die Visitation nicht unterstütze, müsse Strubens Ansicht nach, „die Wiedereinführung des Faust-Rechts zwischen den Reichs-Ständen lieber seyn“68. Aus der (Vor-)Geschichte des Reichskammergerichts lernen ist ein Publikationsmotiv, das sich auch bei Johann Heinrich von Harpprecht beobachten lässt. Der erfahrene Assessor, der der Visitation noch sehr wichtige Dienste erweisen sollte,69

■ David Georg Strube, Abhandlung von den Visitationen des Kayserlichen und ReichsCammergerichts, o.O. 1765, S. 58, abgedruckt auch im ersten Band der Aktensammlung sowie im vierten Band seiner Nebenstunden. 66 [Chrisitan Gottfried Oertel], Sammlung der nöthigsten, zum Theil noch ungedruckten Actenstücke, die Visitation des Kaiserlichen und Reichs-Cammer-Gerichts betreffend, 2 Bde. mit Forstsetzungen, o.O. 1763 (Bd. 1), 1766 (Bd. 1/1), 1767 (Bd. 1/2 u. 1/3), 1769 (Bd. 2/1), 1774 (Bd. 2/2). 1763, als die ersten Aktenstücke zur Visitation erschienen, plante Oertel zunächst keine weiteren Dokumente zur Visitation zu veröffentlichen. Die erfolgreichen Vorbereitungen zur Visitation regten ihn allerdings zu mehreren Fortsetzungen an (1766/1767/1769/1774). 1767/68 erschien zudem die dreibändige „Kurze, auf die Reichs-Gesetze sich gründende Abhandlung von dem Kaiserl. und des Reichs CammerGerichte und dessen letztfürgewesener, auch jetzt bevorstehender Visitation“. 67 Chrisitan Gottfried Oertel, Neues Reichs-Tags-Diarium, Bd. 1 bis 6, Regensburg 1767 (Bd. 1), 1769 (Bd. 2), 1771 (Bd. 3), 1773 (Bd. 4), 1775 (Bd. 5), 1777 (Bd. 6). 68 Strube, Abhandlung (wie Anm. 63), S. 58. 69 Johann Heinrich v. Harpprecht, geboren zu Tübingen, wurde 1740 vom schwäbischen Reichskreis an das Reichskammergericht präsentiert. Seine schriftstellerischen Arbeiten, insbesondere das fünfteilige Staatsarchiv des Reichskammergerichts (1757–67), können „für das Verständnis des Reichsjustizwesens und des kammergerichtlichen Staatsrechts 65

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hat „dem Ansinnen verschiedener guter Freunde nicht entstehen können, bey gegenwärtiger Gelegenheit einen Grundriß von dem ganzen Reichs-CammerGerichts-Visitations-Geschäft in ältern Zeiten“ abzuliefern70, da er wohl als einziger Gerichtsangehöriger dank seines Vaters, einem württembergischen Delegierten der Visitation von 1707, über eine ansehnliche Sammlung von älteren Visitationsakten verfügte. Die erste publizistische Welle nährte sich aber nicht nur von dieser Informationskampagne. Von Anfang stritten die Publizisten auch um die Handhabung des Reforminstruments. Umstritten war neben der bereits erwähnten Klassenordung auch der im Jüngsten Reichsabschied festgelegte Verfahrenszeitraum. Nach diesem hätten die 1767 von Kaiser und Reich berufenen Stände nach einem Jahr abtreten und einer neuen, wiederum 24 Stände starken Klasse weichen müssen. Im März 1768, also wenige Wochen vor der Ablösung der ersten Visitationsklasse, plädierte kein Geringerer als Johann Stephan Pütter71 dafür, die Dauer der ersten Klasse auf unbestimmte Zeit zu verlängern. Wie viele andere, so Begriff auch Pütter die Visitationsmaterie als etwas „unzertrennlich Ganzes“, das durch einen Klassenwechsel nicht zerteilt werden dürfe.72 In einer zweiten, gleichfalls 1768 erschienenen Publikation prophezeite der Göttinger Staatsrechtler für den Fall der Klassenablösung sogar den gänz-

■ als nahezu unentbehrlich bezeichnet werden“; Allgemeine Deutsche Biographie (wie Anm. 58), Bd. 10, Leipzig 1879, S. 623f., hier S. 623. Als Deputierter bei der PfennigMeisterei-Kasse sanierte er das kammergerichtliche Unterhaltwerk, womit er „maßgeblich“ dazu beitrug, dass die 1775 angeordnete Vermehrung der Beisitzer von 17 auf 25 im Jahre 1782 realisiert werden konnte; Jahns, Reichskammergericht (wie Anm. 3), Biogr. 89. 1768 gab er einen „Abdruck von dem, an eine höchstansehnliche Kaiserliche Commission und hochverordnete Reichs-Visitations-Deputation erstattetem gehorsamsten Bericht, das Unterhaltswerk des Kaiserlichen und Reichs-Cammergerichts betreffend“ heraus. Harpprecht war auch einer der Assessoren, die von der Visitation mit der Überarbeitung des Konzepts der Reichskammergerichtsordnung von 1613 beauftragt wurden. 70 Johann Heinrich von Harpprecht, Geschichte des Kaiserlichen und Reichs-Cammergerichts unter der glorwürdigsten Regierung Kaiser Carl des Fünften als eine Fortsetzung des Cammergerichtlichen Staat-Archivs (Teil 5), Frankfurt a.M. 1767, Vorbericht S. 3f. Sein Grundriss zur Visitation ist diesem Band angefügt, der darüber hinaus sehr ausführlich die Visitationen von 1524, 1526, 1531, 1533 und 1543 behandelt. 71 Pütter (1725–1807), der 60 Jahre an der Universität Göttingen wirkte, über 800 Publikationen verfasste (Link) und „das halbe Reichspersonal ausbildete“ (Burkhardt), konnte als „der wohl bedeutendste und erfolgreichste Staatsrechtlehrer, wenn nicht Rechtslehrer überhaupt“ (Kleinheyer), sehr selbstbewusst an dem Visitationsprozess partizipieren; Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648– 1763 (Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte 11), Stuttgart 2006, S. 456. Gerd Kleinheyer, Johann Stephan Pütter, in: Ders./Jan Schröder (Hg.), Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft (Uni-Taschenbücher 578), 4., neu bearb. und erw. Aufl., Heidelberg 1996, S. 331–335, hier S. 332. Christoph Link, Johann Stephan Pütter, in: Notker Hammerstein/Michael Stolleis (Hg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, Frankfurt a.M. 1986, S. 310–331, hier S. 310, S. 314. 72 Johan Stephan Pütter, Patriotische Gedanken über einige das Kaiserliche Reichskammergericht und dessen Visitation betreffenden Fragen, Göttingen 1768, S. 21f.

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lichen Verfall des Reichskammergerichts.73 In Wien vernahm man solche Drohszenarien nicht gerne. Der Kaiser wollte die Ablösung der ersten Klasse, wohl auch, weil ihm die Arbeit in Wetzlar nicht schnell genug ging. Diesen Standpunkt galt es in Wetzlar, auf dem Reichstag, aber auch in der „Medienöffentlichkeit“ zu vertreten. Aus diesem Grund schickte man Franz Ferdinand Schrötter ins Feld. Der Wiener Universitätsprofessor74 wurde wenige Jahre vor Visitationsbeginn von Staatskanzler Kaunitz angeworben, „um seine Feder nach Bedarf für die Rechte und Ansprüche des Hauses Österreich zu verwerthen“75. Im Zuge der ersten publizistischen Welle trat er zweimal Pütter entgegen, um die vom Kaiser gewünschte Klassenablösung einzufordern. In welchem Sinne der unter dem Schutzmantel der Anonymität publizierende Schrötter schrieb, wird spätestens am Ende der zweiten Entgegnung deutlich. Hier erinnerte er den Leser und vorwiegend Pütter und Konsorten daran, dass „dieses heilsame und wichtige Visitations-Geschäfft […] [erst] nach so vielen Seufzen und mit so vieler Mühe und Standhaftigkeit von Sr. Kayserl. Majest. zu einem Anfang gebracht“ wurde.76 Bei der zweiten publizistischen Welle von 1775 bis 1777 stand die Auseinandersetzung um die unerledigten Revisionen im Mittelpunkt. Noch im März 1776 forderte der Kaiser vergeblich den Reichstag auf, hinreichende Mittel zur Erledigung der Revisionen anzuwenden.77 Und genau an diesem Punkt setzte die zweite publizistische Welle an. Die Publizisten stritten darum, warum es nicht zur Einteilung der im Jüngsten Reichsabschied vorgesehenen Revisionssenate kam. Überlagert und geleitet wurde diese Kontroverse von der Frage, wer Schuld daran trüge, dass die letzte außerordentliche Visitation sich vorzeitig auflöste. Protestantische und katholische Publizisten standen sich hier

■ 73 Johan Stephan Pütter, Weitere Ausführung der Frag, ob die erste Classe der zur Cammergerichts-Visitation bestimmten ausserordentlichen Reichs-Deputation nothwendig auf eine gewisse zum voraus festgesetzte Zeit abgelöset werden müsse, und ob solches dermalen auf den 2. Nov. 1768 thunlich und rathsam sey?, Göttingen 1768, S. 31. 74 Der in Wien geborene und zeitlebens dort wirkende Franz Ferdinand Schrötter (1736– 1780) gilt als der Begründer der österreichischen Staatsrechtslehre. Als Universitätsprofessor verfasste er die maßgebenden „Abhandlungen aus dem österreichischen Staatsrechte“ (5 Bde., Wien 1762–1766). 1764 nahm ihn Staatskanzler Kaunitz in die Dienste der Hof- und Staatskanzlei. Seine Doppelfunktion als Akademiker (1779 Rektor der Wiener Universität) und Staatsbeamter (1774 Hofrat der Hof- u. Staatskanzlei) erfüllte der bis in unsere Tage weitgehend unbekannte Jurist mit großem Erfolg; siehe: Rudolf Hoke/Franz Ferdinand Schrötter, in: Wilhelm Brauneder (Hg.), Juristen in Österreich 1200– 1980, Wien 1987, S. 87–91. 75 Allgemeine Deutsche Biographie (wie Anm. 58), Bd. 32, Leipzig 1891, S. 578. 76 [Franz Ferdinand Schrötter], Fortgesetzte Anmerkungen über Herrn Johann Stephan Pütters weitere Ausführung der Frage: Ob die erste Classe der zur CammergerichtsVisitation bestimmten außerordentlichen Reichs-Deputation nothwendig auf eine gewisse zum voraus festgesetzte Zeit abgelöset werden müße? und ob solches dermahlen auf den 2. Nov. 1768 thunlich und rathsam sey?, Frankfurt a.M. u.a. 1768, S. 70. 77 Kommissionsdekret vom 2. März 1776. Es ist abgedruckt bei [Egyd v. Borié], Das Revisions-Gericht über die Urtheln des kaiserlichen Reichs-Kammergerichts bey dessen jetziger Visitation aus Gesetzen und Reichs-Acten erläutert, o.O. 1776.

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unversöhnlich gegenüber, um der Medienöffentlichkeit ihr jeweils eigenes Erklärungsmodell anzubieten. Die schon in der ersten publizistischen Welle zu beobachtenden kommunikativen Trennlinien entlang der konfessionellen Grenzen konnten sich so sehr schnell zu konfessionellen Kommunikationsfronten verhärten. Dass sich auch hier wiederum Pütter und Schrötter gegenüberstanden,78 war kein Zufall. Ausgehend von der Annahme, dass auch Pütter im Interesse seines Landesherren schrieb,79 lassen sich mit Wolfgang Burgdorf solche Auseinandersetzungen als ein zwischen den Regierungen geführter „intergouvernementaler Diskurs“ begreifen. 80 In seiner Untersuchung der seit dem Westfälischen Frieden publizierten Verfassungsreformprojekte hat er deutlich gemacht, dass die Träger dieses Reformdiskurses in der Regel Juristen waren, die administrative Aufgaben des Reiches oder einzelner Territorien übernahmen. Die meisten Publikationen entstanden somit in unmittelbarer Regierungsnähe. Und da die Publikationsinhalte direkt oder indirekt die politischen Interessen der Dienstherren propagierten und über die öffentliche Meinung die Politik anderer Herrschaftsträger beeinflusst werden sollte, lässt sich mit Burgdorf auch der Visitationsdiskurs als ein intergouvernementaler Diskurs begreifen. Die öffentliche Auseinandersetzung um die Visitation fand dabei auch und insbesondere in Wetzlar Beachtung. Im Bayerischen Hauptstaatsarchiv aufgefundene, zum Zwecke der Abrechnung dem Münchner Hof übermittelte Bücherlisten belegen, dass der Visitationsgesandte Goldhagen die öffentliche „Reformsphäre“ sehr genau im Blick hatte (siehe Abb. 3). Die Liste beginnt mit den Worten: „Specification“. Was ich Endes unterschriebener an Neu heraus gekomenen Büchern welche einmahl nach Hof und einmahl ad acta gelegt worden, ausgelegt und bezahlt habe. Von 2 May 1767 bis letzter Xbr: 1768.“81 Schriften, wie die hier aufgeführten, kaufte Goldhagen also in doppelter Ausführung. Die für den Münchner Hof bestimmten Exemplare waren Bestandteil der bereits erwähnten Informationspakete, die in regelmäßigen Abständen an die territorialen Visitationsinstanzen gelangten. Auch der Augsburger Stadtde-

■ 78 [Johan Stephan Pütter], Wahre Bewandniß der am 8. Mai 1776 erfolgten Trennung der bisherigen Visitation, Göttingen 1776. [Franz Ferdinand Schrötter], Widerlegende Anmerkungen der Schrift unter dem Titel: Wahre Bewandtniß der am 8. May 1776 erfolgten Trennung der bisherigen Visitation, o.O. 1776. 79 Hier nicht näher zu erläuternde Befunde aus den Akten des Niedersächsischen Hauptstaatsarchivs belegen diese Annahme. 80 Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648–1806 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 173/Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 13), Mainz 1998, S. 30–38. Auf einzelne, anlässlich der Visitation verfasste Druckschriften geht Burgdorf ein auf S. 236– 247. 81 BayHStA Kasten schwarz 5898.

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legierte Stallauer übersandte eifrig Schriften an den Stadtrat, „weil ich solche als eine zu denen Visitations actis nöthige Piece ansehe“82. Die in der Bücherliste an unterer Stelle aufgeführten Visitationsprotokolle von 1707 bis 1709 führen schließlich zu der schon aufgeworfenen Frage, wo die Grenzen des Visitationsarkanums lagen. Die erste Visitation des 18. Jahrhunderts lag wohl jenseits dieser Grenze.83 War es aber rechtens, dass beispielsweise die Zeitschrift „Neue Europäische Staatscanzley“ mehrfach Akten der noch laufenden Visitation abdruckte?84

■ StadtAA RKG 33, Relation 100 vom 15. Jan. 1773. Goldhagen stellte lediglich die Bindung der Protokolle in Rechnung. Woher er diese bezog, geht aus der „Bücherliste“ nicht hervor. 84 Die 1697 von Anton Faber begründete und in den Visitationsjahren von Johann Friedrich Tröltsch herausgegebene Aktensammlung informierte seit 1765 kontinuierlich über die Visitation. Als eine regelrechte „Visitationscanzley“ lässt sich die Neue Europäische Staatscanzley ab 1767 begreifen. Zahlreiche Dokumente zur laufenden Visitation wurden alleine zwischen 1767 und 1770 in folgenden Ausgaben aufgenommen: Bd. 18 (1767), S. 218–364. Bd. 19 (1767), S. 2–142. Bd. 20 (1768), S. 3–113. Bd. 21 (1768), S. 3–52. Bd. 23 (1768), S. 3–55. Bd. 24 (1768), S. 3–40. Bd. 25 (1769), S. 3–199. Bd. 26 (1769), S. 3–336. Bd. 27 (1769), S. 5–279. Bd. 28 (1770), S. 6–309. 82 83

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Abb. 3: Bücherliste Original: Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, Sign. Kasten schwarz 5898

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Assessor Christian von Nettelbla würde hierauf vielleicht mit ja antworten. In einer anonym publizierten Druckschrift trat er, wie bereits zitiert, dafür ein, das „Publico“ durch verantwortungsbewusste „Communicatores“ zu informieren.88 Und auch Pütter plädierte in einer seiner Visitationspublikationen dafür, das Aktenmaterial der Visitation dem „gesammten Reich so vorzulegen, daß das ganze Werk dadurch erleichtert, und sowohl kürzer und geschwinder, als zugleich gründlicher und einmüthiger zum erwünschten Ende gebracht werden könnte“89. Mit diesen Worten unterstrich Pütter den Nutzen der Öffentlichkeit; seiner Ansicht nach konnten wohl informierte Außenstehende den Visitationsprozess beschleunigen. Dieses Argumentations- und Legitimationsmuster ist äußerst interessant, wenn man bedenkt, dass die Arbeitsgeschwindigkeit bzw. „Weitläufigkeit“ ein vielfach problematisiertes Thema der gesamten Visitation war.90 Neben Nettelbla und Pütter trat auch Johann Jakob Moser für das Publizitätsprinzip ein. In seiner 1772 erschienenen Schrift „Von der Reichsverfassungsmäßigen Freyheit, von Teutschen Staatssachen zu schreiben“ machte er deutlich, dass es erst durch die Veröffentlichung von Staatsakten möglich sei, „politische Betrachtungen anzustellen, zu raisoniren, dise oder jene Art zu handeln, zu loben oder zu tadeln, politische Vorschläge zu thun, politische Prophezeyhungen zu stellen, usw.“ Das politische Räsonieren über Staatssachen war für ihn nirgendwo „verbotten“, solange es mit der „Denckensart, Staatsgrundsätzen und Staatsinteresse“ von Kaiser und Reich übereinkäme.91 Diese vom „Erzpublizisten“92 eingeforderte „Freyheit, von Teutschen Staatssachen zu schreiben“, vernahm man jedoch nicht überall gerne. Für Schrötter jedenfalls stand fest, dass die Veröffentlichung von Visitationsinterna nur dazu führe, das Visitationsgeschäft der „Schreibsucht aller Klügler blos zustellen“93. Ein wohl verzweifelter Versuch, sich gegen die mit und über die Medienöffentlichkeit voranschreitende Deligitimierung des Arkanen zu stellen.

■ [Nettelbla/Schnitzlein], Fortgesetzte Reverien (wie Anm. 45), S. 81f. Pütter, Weitere Ausführung der Frag (wie Anm. 71), S. 28f. 90 Dieser zentrale Themenkomplex wird eingehend in der Promotionsschrift des Verfassers behandelt werden. 91 Johann Jacob Moser, Von der Reichsverfassungsmäßigen Freyheit, von Teutschen StaatsSachen zu schreiben, Göttingen 1772, S. 60. Die Visitation wird direkt thematisiert auf S. 24. Dass – so heißt es dort – bereits während der Visitation „je und je manches ohnbedenklich bekannt gemacht“, obwohl „zu wiederholten malen die schärfste Verordnungen dagegen gemacht, daß nichts vor der Zeit in das Publicum transpiriren sollte“, zeigt, wie sich das von Pütter und Nettelbla geforderte und kaum mehr zu regulierende Publizitätsprinzip sehr schnell durchsetzen konnte. 92 Michael Stolleis, Johann Jacob Moser (1701–1785), oder: Der Erzpublizist des Alten Reichs, in: Andreas Gestrich/Rainer Lächele (Hg.), Johann Jacob Moser. Politiker, Pietist, Publizist (Südwestdeutsche Persönlichkeiten), Karlsruhe 2002, S. 57–70. 93 [Schrötter], Fortgesetzte Anmerkungen (wie Anm. 74), S. 65. 88 89

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6. Dürfen Assessoren Bücher schreiben?■Die vom österreichischen Publizisten beklagte Schreibsucht ist zweifelsohne kein randständiges Thema im Zeitalter der Aufklärung. Dafür steht auch die von den Visitatoren behandelte Frage, ob Assessoren Bücher schreiben dürfen. Bekanntermaßen griffen seit den Anfängen des Reichskammergerichts immer wieder Beisitzer zur Feder, um sich mit der höchsten Gerichtsbarkeit des Alten Reiches zu beschäftigen. Ob Quelleneditionen, Kommentare zu den Gerichtsordnungen, Sammlungen von Spruchmaterial oder Einzeltraktate, die Bandbreite des Publizierten war groß.94 Die Visitatoren waren sich dieser mehr als 200jährigen Tradition bewusst. Sollte nun aber diese Tradition ein jähes Ende finden? Für den kurkölnischen Gesandten war die Angelegenheit mehr oder weniger klar. Als er in der 952. Sitzung die Beratungen über das Für und Wider des Bücherschreibens eröffnete, wies er zunächst darauf hin, dass bei allen vorangegangenen Visitationen kein Verbot ergangen sei. Die Frage, ob nun, Anno 1775, etwas gegen das „Uebel“ zu unternehmen sei, verneinte er. Die „Begierde, Bücher zu schreiben, ist für eine Leidenschafft zu rechnen: wer an dieser Leidenschafft krank lieget, wird das Bücherschreiben nicht lassen“.95 Wie weit jedoch durfte diese Leidenschaft gehen? Bestand nicht die Gefahr, dass – so der Sachsen-Coburgʹsche Vertreter – die Autoren „mit der Nachwelt zu sehr beschäfftiget [und] die gegenwärtige vergessen“96? Und was war mit dem Gerichtsgeheimnis? Musste nicht – so der Speyer’sche Gesandte – allein schon wegen dem „in Legibus so hoch empfohlene[n] Secretum“97 ein Verbot ergehen? Das Gerichtsgeheimnis spielte für die Bücherdiskussion eine wichtige, aber keineswegs entscheidende Rolle. Es sei hiervon „doch mehr nichts, als der Name übrig geblieben“, gab der kurkölnische Gesandte zu Protokoll. Andere äußerten durchaus Bedenken, wenn „des Bücherschreibens halber Protocolla, Relationen und dergleichen nach Hauß genomen, durch Bediente, auch sonstigen Personen ausgeschrieben, und hierdurch sowohl, als auch durch den hiernächst erfolgten offent.n Druck das Secretum Camerale verlezt, verschiedens in facto theils irriges, theils ohnvollständiges verbreitet, auch mancher widerrechtlicher von mehrern Beysizern ein gutgeheisene Lehr Saz gleichsam als eine bey dem Gericht angenommene Regel aufgestellet“ werde. Bestand ohnehin nicht, so der kurmainzische Visitator weiter, die „wahre Ehre vor einen C. G. Beysizer […] darinnen, einen fleißigen, rechtschaffenen, und ohnabsicht.n Richter in seinem Amte zu beweisen“? War es also, „um sich bey dem

■ Peter Oestmann, Kameralliteratur, in: Siegried Westphal/Eva Ortlieb/Anette Baumann in Verbindung mit dem Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit, Reichsgerichtsbarkeit. Zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3 [Online-Zeitschrift]. 95 StadtAA RKG 57, 952. Session vom 24. April 1775. 96 StadtAA RKG 57, 952. Session vom 24. April 1775. 97 StadtAA RKG 57, 953. Session vom 26. April 1775. 94

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Publico einen Ruhm zu erwerben“, nicht überflüssig, „durch andere im Druck erscheinende Neben Arbeiten sich bekannt zu machen“?98 Worte wie diese verdeutlichen, dass es bei der „Bücherdiskussion“ nicht nur um das Bücherschreiben an sich, sondern vielmehr um die Amtsverpflichtungen und darauf aufbauend um die Amtstugenden der Gerichtsangehörigen ging. Im Zentrum stand hierbei die Frage nach der – modern gesprochen – Arbeits- und Freizeitkultur der Kameralen. Für den burgundischen Vertreter stand fest, dass Arbeiten, „welche nicht Nebenstunden, sondern HaubtArbeitsstunden verschleudern, und die ohnehin mit Büchern überladene gelehrte Welt von Zeit zu Zeit mehrers an Kosten und Zeit Verlust beschädigen, abzustellen seyn“99. Auch der Gesandte der Reichsstadt Aachen plädierte dafür, dass die Assessoren „nichts arbeiten, schreiben, lesen oder studiren, das ihnen an Besichtigung Relationen, fleissigen Zuhörung und Erwägung der Gerichts Händel Verhinderung bringen mögte“. Sie sollten vielmehr „mit höchstem treuen Fleiß“ studieren, referieren und votieren, „damit die Partheyen gefördert und abgefertiget werden mögen. Dieses ist der wahre und eigent.e Endzweck, warum C. G. Beysizere an das C: Gericht verordnet, und des Endes die Besoldung ihnen mehrmalen schon gebesseret worden.“100 Noch eindringlicher gab der Visitationsgesandte des Hochstifts Augsburg zu Protokoll: „Ein C. G. Beysizer hat, wenn er seinem Amt nach denen Gesezen mit allem Fleiß obliegen will, wenige Nebenstunden. Und die er hat – denn einige muß er haben – sind ihm zu seiner Erholung, zur Ruhe, zur Ermunterung, und Stärkung deren durch […] Amts Arbeiten geschwächter Lebensgeister gegönnet […]. Nebenstunden aber, die man mit fremder eben wohl das Nerven System angreifender Kopfarbeit ausfüllet, sind zu jenem Endzweck nicht geschickt, und sehr übel angewendet, dahero auch keineswegs zu billigen, wann ein von seiner schwehren Amts arbeit ermüdeter Beysizer seine bereits geschwächte Lebensgeister durch das mühsame Bücherschreiben noch gänz. entkräfftet.“101 Mit dieser „Freizeitlehre“ griff der Visitator des Hochstifts Augsburg das entscheidende Thema der Gesamtdiskussion auf. Was können, dürfen und müssen die Kameralen in ihren als Freizeit zu begreifenden „Nebenstunden“ tun? Johann Ulrich von Cramer hat bekanntermaßen seine „Nebenstunden“ dazu genutzt, eine 128 Teile starke Zeitschrift herauszugeben.102 Dies ging einigen

■ StadtAA RKG 57, 953. Session vom 26. April 1775. StadtAA RKG 57, 952. Session vom 24. April 1775. 100 StadtAA RKG 57, 953. Session vom 26. April 1775. 101 StadtAA RKG 57, 953. Session vom 26. April 1775. 102 Johann Ulrich Cramer, Wezlarische Nebenstunden, worinnen auserlesene beym Höchstpreißlichen Cammergericht entschiedene Rechts-Händel zur Erweiter- und Erläuterung der teutschen in Gerichten üblichen Rechtsgelehrsamkeit angewendet werden, 128 Teile in 32 Bde., Ulm 1755–1773. Die Nebenstunden können als Cramers „Lebenswerk“ gelten, „das seinen Ruhm als Kameralschriftsteller begründete“; Jahns, Reichskammergericht (wie Anm. 3), Biogr. 65, S. 670. 98 99

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Visitatoren zu weit. Er habe – so der kursächsische Gesandte – „die von ihm ganz unrecht benannte [Wetzlarische] Nebenstunden“ zu seinem „Haubt Geschäfft und Gewerbe gemacht“103. Deswegen, und um ein Exempel zu statuieren, trug der holsteinische Gesandte an, dass „per Decretum Visit.s die Allegirung [Verbreitung] deren Bücher des [1772] verstorbenen C. G. Beysizers v. Cramer bey dem K. u. R. C. Gericht gänz. verbotten werde“104. Gewinnsucht, Ruhmessucht, Zeitverlust, all dies waren Gründe, die gegen das Bücherschreiben sprachen. Jedoch, würde nicht – so der sachsenaltenburgische Gesandte – ein Verbot die Folge haben, dass die „CameralJurisprudenz ganz verwilderte“, da deren Bearbeitung nur noch den „academischen Gelehrten“ übrig bleib? Haben die Cramerischen Schriften „nicht auch zuweilen den Nuzen geleistet […], Prozesse abzuschneiden? Sollte der Fall nicht möglich gewesen seyn, da einer von dem Werth ihrer Sachen eingenommenen und geblendeten Parthey durch die Cramer.en Schrifften die Augen geöffnet worden sind?“105 Es gab sie, die Stimmen, die den Nutzen des Bücherschreibens hervorhoben. Am weitesten ging der Gesandte der Reichsstadt Ulm, Ludwig Friedrich Wurmb. Er sprach von einer „natürliche[n] Freyheit […] der Welt und seinen Mitbürger zu dienen“. Überdies – so der städtische Vertreter weiter – „finden sich zuweilen solche glückliche Genie, welche ohne Abbruch ihrer Berufs Geschäffte, und ohne daraus zu hoffenden Nuzen oder Gewinn, dem wißbegierigen Publico durch brauchbare Neben Arbeiten zu dienen, und dadurch junge Leute zu einer edlen Nacheiferung zu ermuntern, im Stande sind.“106 Mit diesen Worten stellte sich Wurmb gegen die meisten anderen Visitatoren. Sein Amtskollege aus der Reichsstadt Rottweil votierte für die „bücherfreien“ Nebenstunden und trug nur bei fehlender Stimmenmehrheit mit Wurmb und anderen darauf an, eine Entscheidung „Kay. Majt. und dem Reich als der höchsten gesezgebenden Macht“ zu überlassen.107 Die Gesandten Kursachsens und Sachsen-Coburgs plädierten für die Einrichtung eines Zensurkollegs. Und die meisten geistlichen Stimmführer traten sogar für ein explizites Verbot des Bücherschreibens und damit wohl auch für die seit der Reformation bestehenden katholischen Vorbehalte gegenüber der „gutenbergschen“ Drucktechnik ein.108

■ StadtAA RKG 57, 952. Session vom 24. April 1775. StadtAA RKG 57, 953. Session vom 26. April 1775. 105 StadtAA RKG 57, 969. Session vom 2. Juni 1775. 106 StadtAA RKG 57, 953. Session vom 26. April 1775. 107 StadtAA RKG 57, 953. Session vom 26. April 1775. 108 Diese pauschale Annahme gilt es zu verifizieren. Unbestreitbar ist, dass es (noch) im 18. Jahrhundert eine „konfessionalisierte“ Medienkultur gab. Kaiser Joseph II. gab nicht ohne Grund zu Beginn seiner Regierungszeit das medienpolitische Ziel aus, „die bisherige höchst argerliche und gefährliche Lehrsätze der meisten protestantischen Publicisten zu entlarven und in ihrer ganzen Ungereimtheit darzustellen“; Zitat aus: „Deliberanda“ Josephs II. Nov. 1766, in: Khevenhüller-Metsch/Schlitter, Tagebuch (wie Anm. 57), S. 479–482, hier S. 481. 103 104

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7. Zusammenfassung und Ausblick■Die Diskussion um die Frage, ob die Assessoren Bücher schreiben dürfen oder nicht, fand kein förmliches Ende. Der kurbraunschweigische Vertreter nahm in gewohnt weitläufiger, aber auch in gewohnt gründlicher Manier die gesamte 968. Sitzung in Anspruch, um sein 92 Punkte starkes Votum zu Protokoll zu geben, bevor er mit anderen Stimmvertretern dafür eintrat, keinen Beschluss zu fassen. Kursachsen wiederum hielt sich mit anderen die Abstimmung zu einem späteren Zeitpunkt offen. Und die Vertreter der westfälischen und fränkischen Grafen beendeten ihre Voten jeweils mit dem Hinweis, dass das Votum der anderen Grafenbank nicht rechtens sei. Damit verwiesen sie unweigerlich auf das vorzeitige Ende der Visitation. Und als am 8. Mai 1776 der Streit um das Deputationsrecht der Grafen zur Auflösung der Visitation führte, hieß es in Hannover, Wien und andernorts wieder, Publizisten ins Feld zu schicken, um mit und für die öffentliche Meinung um die „wahren“ Gründe für die vorzeitige Trennung zu ringen. Die damit beförderte zweite publizistische Welle setzte schließlich den Schlusspunkt unter ein Ereignis, das sich auch und insbesondere als ein mediales Ereignis begreifen lässt. Der in der Medienöffentlichkeit geführte Diskurs darf allerdings nicht isoliert betrachtet werden. Erst die Einbeziehung sämtlicher Reform-, Visitations- bzw. Diskurssphären ermöglicht es, alle auf das Reformprojekt einwirkenden und strukturell miteinander gekoppelten Diskursebenen zu erkennen und zu analysieren. Öffentlichkeit und Arkanum bilden hierbei die entscheidenden Analysekategorien, um den Entstehungskontext des im Verfahren entstandenen Quellenmaterials zu rekonstruieren. Mit der von den Zeitgenossen vielfach problematisierten und hier angesprochenen „Weitläufigkeit“ ist zudem angedeutet, dass die letzte Visitation des Reichskammergerichts es ermöglicht, tiefe Einblicke in das Funktionieren bzw. Nichtfunktionieren der politischen Kultur des ausgehenden 18. Jahrhunderts zu nehmen. Die im Verfahren generierten bzw. aktualisierten Informations- und Wissensbestände sind hierbei als Produkt einer Verhandlungskultur zu begreifen, die dem Primat der Schriftlichkeit folgte. Nur durch schriftlich fixierte Briefe, Berichte, Anweisungen oder Abhandlungen war es möglich, die räumlich getrennten „Reformsphären“ (Reich, Territorien, Wetzlar) bzw. die räumlich unfixierte Medienöffentlichkeit kommunikativ zu verbinden. Direkte mündliche Austauschprozesse hingegen waren raumgebunden, aber auch und insbesondere abhängig von der schriftbasierten Verhandlungskultur. Nicht ohne Grund gab es im Laufe der Visitation immer wieder Diskussionen darüber, welche mündlichen Äußerungen „ad Protocollum“ zu bringen seien und welche nicht. Die auch als Reichsprotokolle bezeichneten Visitationsprotokolle lassen sich somit als ein zentraler, (rechts)verbindlicher und höchst umstrittener Bestandteil des delegationsinternen und delegationsübergreifenden Verfahrens begreifen, und zwar auch deshalb, weil die im Reformzentrum Wetzlar agierenden Gesandten lediglich Stellvertreter ihrer Obrigkeit waren.

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Anders hingegen der in der Medienöffentlichkeit geführte Diskurs. Er entzog sich weitgehend den Zwängen einer schriftbasierten politischen Verhandlungskultur, obgleich die druckbasierte Auseinandersetzung ein wichtiger und im Laufe des 18. Jahrhundert immer bedeutsamerer Bestandteil der politischen Kommunikationsprozesse war. Der publizistisch gepflegte intergouvernementale Diskurs bot einerseits die Möglichkeit, „raumübergreifend“ für seine Reformstandpunkte zu werben. Andererseits wurde weniger für eine unspezifische Öffentlichkeit, als vielmehr für die am Verfahren beteiligten politischen Instanzen geschrieben. Dass hier die visitationsrelevanten Druckschriften rezipiert oder zumindest registriert wurden, geht aus der angeführten Bücherliste, aber auch aus den Aktenbeständen der Archive hervor.109 Insgesamt jedoch kann die publizistische Begleitung der Visitation im ausgehenden, „tintenklecksenden“ Säkulum nicht verwundern. Wie aber ist es zu deuten, dass die letzte Visitation des RKG in eine Zeit fällt, in der sich der Staat auf unterschiedlichsten Bereichen reformerisch betätigte? Muss die Visitation vielleicht als ein vom Reformabsolutismus inspirierter Umbauversuch begriffen werden, der der aufklärerischen Leitidee der Rationalität folgte?110 Fragen wie diese verdeutlichen, dass es notwendig ist, die Visitation in einem erweiterten Kontext zu untersuchen. Zu vermuten ist, dass sich auch hier Arkanum und Öffentlichkeit als geeignete Kategorien erweisen, um die politische „Reformkultur“ der „Sattelzeit“ zu erforschen.

■ Im Stadtarchiv Augsburg etwa ist ein Akt überliefert (StadtAA RKG 40), der ausschließlich visitationsrelevante Druckschriften führt. 110 Zu diesem Themenkomplex sei lediglich verwiesen auf: Walter Demel, Vom aufgeklärten Reformstaat zum bürokratischen Staatsabsolutismus (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 23), München 1993. Dagmar Freist, Absolutismus (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2008. 109

Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation

■Thomas Dorfner■„Es kommet mit einem Reichs=Agenten haubtsächlich darauf an …“. Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation mit dem und über den Reichshofrat (1658–1740) 1 ■Einleitung – Mit den in der Überschrift zitierten Worten eröffnete der am Kaiserhof weilende Geheime Rat des Fürstentums Brandenburg-Ansbach, Johann Hermann Staudacher, im Jahr 1723 sein an Markgräfin Christiane Charlotte gerichtetes Gutachten.2 Er erläuterte darin der vormundschaftlich regierenden Markgräfin, worauf bei der Auswahl eines Reichshofratsagenten (sc. Reichs-Agenten) zu achten sei. In den vorangehenden Jahren hatte das Fürstentum Brandenburg-Ansbach mit Johann Michael Filzhofer, Christoph Kleibert und Friedrich von Klerff zeitweilig bis zu drei Reichshofratsagenten mit der Führung der zahlreichen Prozesse am Reichshofrat betraut gehabt. Allerdings hatte sich die Zusammenarbeit der Agenten als keineswegs unproblematisch erwiesen. In der Konsequenz erörterten die Markgräfin, das Geheime Ratskollegium in Ansbach und Johann Hermann Staudacher Ende des Jahres 1723,3 ob man auch künftig mehrere Reichshofratsagenten engagieren oder ob die Prozessführung „zu Ersparung der Kosten und vermindernder Confusion und beschwerlicher Zwistigkeiten, einem allein auffgetragen“ werden sollte.4 Die diffuse und folglich problemträchtige Zuständigkeitsabgrenzung zwischen den brandenburg-ansbachischen Agenten ließ die bisherige Praxis fragwürdig erscheinen und evozierte eine grundsätzliche Diskussion über die Anforderungen an einen Reichshofratsagenten. Diese grundsätzliche Diskussion des Geheimen Ratskollegiums soll als Ausgangspunkt des folgenden Beitrags dienen, dessen Bestreben es ist, die bis dato von der Geschichtswissenschaft wie von der Rechtsgeschichte gleichermaßen kaum erforschte Gruppe der Reichshofratsagenten in den Blick zu nehmen. Während die Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht gerade für die Wetzlarer Zeit des Gerichts als gut erforscht gelten können,5 steht die Forschung zu den Reichshofratsagenten noch ganz am Anfang. Zwar finden die Reichshofratsagenten in einer Vielzahl von Monographien und

■ Erweiterte Fassung des Vortrags v. 09.10.2009. Ich danke Maria von Loewenich (Münster) und Alexander Denzler (Eichstätt) für kritische Anmerkungen zum Manuskript. 2 J. H. Staudacher an Markgräfin Christiane Charlotte v. 29.12.1723. Staatsarchiv Nürnberg (= StAN), Fst. Brandenburg-Ansbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 9. 3 Zu den Zentralbehörden im Fürstentum Brandenburg-Ansbach: Günther Schumann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach. Eine Bilddokumentation zur Geschichte der Hohenzollern in Franken, Ansbach 1980, bes. S. 319–351. 4 J. H. Staudacher an Markgräfin Christiane Charlotte v. 20.11.1723. StAN, Fst. Brandenburg-Ansbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 9. 5 Anette Baumann, Advokaten und Prokuratoren. Anwälte am Reichskammergericht (1690–1806) (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 51), Köln/Weimar/Wien 2006. Andreas Klass, Standes- oder Leistungselite? Eine Untersuchung der Karrieren der Wetzlarer Anwälte des Reichskammergerichts (1693– 1806) (Rechtshistorische Studien 260), Frankfurt am Main 2002 sowie Anke Stein, Advokaten und Prokuratoren am Reichskammergericht in Wetzlar (1693–1806) als Rechtslehrer und Schriftsteller, Diss., Univ. Würzburg 2001. 1

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Aufsätzen en passant Erwähnung,6 eine eingehendere Betrachtung erfahren sie gleichwohl in nur einigen wenigen Publikationen.7 Diese Forschungslücke soll durch den Beitrag ein klein wenig geschlossen werden.8 Konkret gliedert sich der Beitrag in drei aufeinander aufbauende Kapitel: In Kapitel Eins sollen zunächst die Anforderungen und Qualifikationen eruiert werden, denen die Reichshofratsagenten genügen mussten, um von reichsständischen Prozessparteien engagiert zu werden. Das Augenmerk hat dabei auf dem sozialen Kapital und dem Credit der Reichshofratsagenten zu ruhen. Darauf aufbauend widmet sich das zweite Kapitel der Kommunikation mit dem Reichshofrat. Ausgehend von den spezifischen „KommunikationsInteressen“ der Prozessparteien, gilt es die informellen Austauschprozesse von Prozessparteien, Reichshofratsagenten und Reichshofrat zu skizzieren und zu analysieren.9 Im dritten Kapitel soll schließlich die Kommunikation über das Gericht im Zentrum der Betrachtung stehen. Hierbei wird zu zeigen sein, dass die Reichshofratsagenten auch für die Berichterstattung über die Tätigkeit des kaiserlichen Höchstgerichts von zentraler Bedeutung waren. Der Beitrag möchte vor allem darlegen, welche zentrale Bedeutung den Reichshofratsagenten für die Interaktion zwischen den Verfahrensbeteiligten und dem Reichshofrat zukam. Darüber hinaus soll – gleichsam als übergeordnetes Ziel – der Blick für den spezifisch vormodernen Charakter der sozialen Gruppe der Reichshofratsagenten sowie ihrer Tätigkeit geschärft werden. Indem der Beitrag auch und gerade die Unterschiede zwischen Reichshof-

■ Stellvertretend sei die Habilitationsschrift von Siegrid Westphal angeführt, in welcher die Reichshofratsagenten Johann Adam Dietterich, Jobst Heinrich Koch, Simon Lorenz Leutner, Georg Ferdinand Maul sowie Tobias Sebastian Praun Erwähnung finden. Siegrid Westphal, Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten, 1648–1806 (QFHG 43), Köln/Weimar/Wien 2002. 7 Grundlegend bisher: Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, n.F. 18), Aalen 1973, S. 112–126. Jürgen Weitzel, Die Anwaltschaft an Reichshofrat und Reichskammergericht, in: L´assistance dans la résolution des conflits (Récueils de la Société Jean Bodin pour l´histoire comparative des institutions, vol. LXV), 4eme partie: L´Europe médiévale et moderne, Brüssel 1998, S. 197–214 sowie jüngst Stefan Ehrenpreis, Die Reichshofratsagenten. Mittler zwischen Kaiserhof und Territorien, in: Anette Bauman/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (QFHG 46), Köln/Weimar/Wien 2004, S. 165–177. Zur Biographie von Reichshofratsagent Zacharias Fridenreich: Gerhard Menk, Zacharias Fridenreich (ca. 1573 bis ca. 1645). Ein lutherischer Jurist als Publizist und Praktiker im 17. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny–Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 109 (1992), S. 246–334. 8 Der Verfasser erarbeitet eine Dissertation zu den Reichshofratsagenten des 17. und 18. Jahrhunderts. 9 Zum Stellenwert von Kommunikations–Interessen: Roland Burkart, Kommunikationswissenschaft. Grundlagen und Problemfelder – Umrisse einer interdisziplinären Sozialwissenschaft, Wien 20024, S. 27–29. 6

Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation

ratsagenten und modernen Anwälten thematisiert, soll eine retrospektive Projektion vermieden werden, die letztlich zu einer exzessiven Identifikation führt.10 Die Ausführungen gründen dabei überwiegend auf Forschungen zu den von Brandenburg-Ansbach engagierten Reichshofratsagenten. Den Ausschlag zugunsten der Markgrafschaft als Fallbeispiel gab der gleichermaßen einschlägige wie umfangreiche Quellenbestand „Wiener Reichshofratsagentie“ im Staatsarchiv Nürnberg. Mit Hilfe dieses Quellenbestandes können fundierte Aussagen zur ansbachischen Einstellungspraxis bzw. den Entlassungen von brandenburg-ansbachischen Reichshofratsagenten, deren Entlohnung etc. getroffen werden. Gleichwohl werden mit dem Fürststift Kempten sowie der Reichsstadt Nürnberg ergänzend noch zwei weitere Reichsstände in die Betrachtung miteinbezogen. Dies ist einerseits unumgänglich, da mittels des erwähnten Bestands „Wiener Reichshofratsagentie“ die Tätigkeit der brandenburg-ansbachischen Reichshofratsagenten zwar gut, aber keinesfalls umfassend und lückenlos erhellt werden kann. Andererseits soll durch die Hinzuziehung zweier weiterer Reichsstände verhindert werden, dass Spezifika, die nur für die von Brandenburg-Ansbach engagierten Reichshofratsagenten Gültigkeit besitzen, eine unzulässige Verallgemeinerung erfahren. 1. Soziales Kapital und Credit als maßgebliche Einstellungskriterien■Um die bei Auswahl und Bestallung eines Reichshofratsagenten durch eine reichsständische Prozesspartei maßgeblichen Kriterien zu eruieren, ist auf das eingangs erwähnte Gutachten des Geheimen Rats Johann Hermann Staudacher näher einzugehen. In der für die Fragestellung maßgeblichen Passage des Gutachtens führt er aus: „Es kommet mit einem Reichs=Agenten haubtsächlich darauf an, daß selbiger, nicht bey der blosen unterschreib= und Exhibirung der judicialhandlungen es bewenden lasse, sondern auch, bey dem herrn Reichs=HoffRaths=Praesidenten, herrn Reichs=Hoff=Vice=Canzlar und dem herrn Vice=Praesidenten einigen Credit und Zutritt habe, und also im Stande seye, in pressanten oder wichtigen Angelegenheiten der Partheyen Nothdurfft selbsten mündlig zu repraesentiren und dadurch eine Sache entweder in eines wohlgesinnten Referenten hände zu bringen, oder aber, wann der Referent sich wiedrig zeiget, dagegen, mit Nachdruckh, remonstration zu thun“.11 Nach Maßgabe Staudachers, der infolge seiner mehrjährigen Anwesenheit in Wien ein profunder Kenner des kaiserlichen Höchstgerichts war, stellten die

■ 10 Zur Problematik exzessiver Identifikation: Carlo Ginzburg, Geschichte und Geschichten. Über Archive, Marlene Dietrich und die Lust an der Geschichte, in: Ders., Spurensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis, Berlin 1983, S. 7– 24, hier S. 23. 11 J. H. Staudacher an Markgräfin Christiane Charlotte v. 29.12.1723. StAN, Fst. Brandenburg-Ansbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 9.

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Unterzeichnung und Eingabe von Schriftsätzen beim Reichshofrat sowie das Anfordern von Protokollauszügen Routinetätigkeiten dar,12 die von jedem der am Reichshofrat aufgenommenen und geschworenen Agenten ausgeführt werden konnten – war doch jeder Bewerber vor seiner Aufnahme als Reichshofratsagent von zwei Reichshofräten intensiv auf seine juristischen Kenntnisse und die Beherrschung der „darzue gehörigen praxi […], so bey dem reichshofrath täglich vorkommen“ hin examiniert worden. 13 In Anbetracht dieses Examens legte Staudacher bei der Auswahl eines Reichshofratsagenten den Fokus weniger auf dessen juristische Qualifikation. Entscheidend war für ihn vielmehr der „Zutritt“ eines Reichshofratsagenten zu Mitgliedern des Reichshofrats sowie – eng damit verknüpft – dessen Credit bei selbigen. Und hier machte Staudacher signifikante Unterschiede zwischen den einzelnen Reichshofratsagenten aus. Das Kriterium „Zutritt“ meint – um mit Pierre Bourdieu zu sprechen – „mehr oder weniger institutionalisierte Beziehungen des Kennens und Anerkennens“ zwischen einem Reichshofratsagenten und Mitgliedern des Reichshofrats.14 Je nach Umfang der in der Vergangenheit geleisteten Beziehungsarbeit, verfügten die einzelnen Reichshofratsagenten über ein höchst unterschiedliches Quantum an sozialem Kapital. Entscheidend für das Maß an Sozialkapital eines Reichshofratsagenten war einerseits die Ausdehnung seines Beziehungsnetzes. Nicht weniger wichtig war andererseits auch der Umfang des (ökonomischen, kulturellen, sozialen und symbolischen) Kapitals, das diejenigen Personen besaßen, mit denen der Reichshofratsagent verbunden war.15 Langjährig tätige Reichshofratsagenten unterhielten im besten Falle nicht nur Verbindungen zu zahlreichen Reichshofräten, sondern verfügten auch über Beziehungen zum Reichshofratspräsidenten, Reichshofratsvizepräsidenten oder zum Reichsvizekanzler. Mit anderen Worten: Sie verfügten mithin über ein ausnehmend hohes Maß an Sozialkapital. Neu am Reichshofrat angenommene Agenten konnten hingegen oftmals nur den „Zutritt“ zu einzelnen Reichshofräten und somit ein vergleichsweise geringes Maß an Sozialkapital vorweisen. Die ausnehmend große Bedeutung des sich im „Zutritt“ manifestierenden Sozialkapitals der Reichshofratsagenten erschließt sich in seiner Bedeutung

■ 12 Details zur Eingabe von Schriftsätzen sowie dem Anfordern eines Conclusums bei: Vincenz Hanzely, Grundlinien der heutigen Reichshofratspraxis im Allgemeinen mit erläuternden Anmerkungen und Beyspielen, Nördlingen 1778, S. 76–78, 124f. 13 Vgl.: RHRO 1654, Tit. VII, § 1, in: Wolfgang Sellert (Hg.), Die Ordnungen des Reichshofrats. 1550–1776, 2 Halbbde. (QFHG 8), Köln/Wien 1980–1990, hier: Bd. 2, S. 235, 236. 14 Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198, hier S. 191. Grundlegend zum Werk Bourdieus: Axel Honneth, Die zerrissene Welt der symbolischen Formen. Zum kultursoziologischen Werk Pierre Bourdieus, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 36 (1984), S. 147–164. 15 Vgl. Reinhard Kreckel, Class, Status and Power? Begriffliche Grundlagen für eine politische Soziologie der sozialen Ungleichheit, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 34 (1982), S. 617–648, hier S. 631.

Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation

erst vor dem Hintergrund des Schriftlichkeitsgebots bei Reichshofratsprozessen. Nachdem die Audienzen des Reichshofrats in der ersten Hälfte des 17.Jahrhunderts abgeschafft worden waren, 16 mussten die Agenten die Prozessschriften fortan bei den Reichshofratstürhütern einreichen. Unmittelbarpersönlicher Kontakt zwischen Mitgliedern des Reichshofrats und den Prozessparteien war nach Maßgabe der Reichshofratsordnung von 1654 nicht mehr vorgesehen. Damit war die Kommunikation der Prozessparteien mit dem Gericht erheblich reduziert. Umso größeres Gewicht wuchs der informellen Kommunikation zwischen Reichshofratsagenten und Mitgliedern des Reichshofrats zu. Und umso stärkeres Augenmerk legten die Prozessparteien bei der Auswahl ihres Reichshofratsagenten auf dessen soziales Kapital. Auf diese Weise versuchten die Prozessparteien sicherzustellen, dass sie – um nochmals Staudachers Worte zu gebrauchen – „in pressanten oder wichtigen Angelegenheiten“ über ihren Reichshofratsagenten in Kontakt mit Mitgliedern des Reichshofrats treten und ihr Anliegen vorbringen konnten. Das Sozialkapital eines Reichshofratsagenten war eng mit dessen Credit verwoben. Zum besseren Verständnis soll zunächst die Begriffsgeschichte in den Blick genommen werden: Der Begriff „Credit“ entwickelte sich im 15. Jahrhundert aus der lateinischen Wurzel „credere“ und bezeichnete seitdem das einer Person entgegengebrachte Maß an Vertrauen, Gunst bzw. Glauben.17 Zu Beginn des 16. Jahrhunderts lagerte sich an diese allgemeine persönlichmoralische Konnotation von Credit eine spezifisch fiskalische an. In finanziellen Kontexten konnte Credit fortan auch die Gewährung eines Darlehens bezeichnen. Die eng miteinander verwobenen Konnotationen waren vom 16. bis zum 18. Jahrhundert gebräuchlich18 – wenn auch, wie Jay M. Smith treffend darlegt, eine allmähliche Verschiebung in Richtung der fiskalischen Begriffsverwendung stattfand. 19 Doch warum achteten die Prozessparteien bei der Auswahl eines Reichshofratsagenten sorgsam auf dessen Credit? In vormodernen Gesellschaften war der von einer Person erworbene Credit nicht nur für die Gewährung eines Darlehens zentral. Credit bildete vielmehr die unerlässliche Grundlage, um die Unterstützung anderer Personen sowie – ganz allgemein – Zugang zu deren Ressourcen zu erhalten.20 In diesem Sinne defi-

■ Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae (wie Anm. 7), S. 132–134. Zur Begriffsgeschichte von „Credit“: Jay M. Smith, No More Language Games: Words, Beliefs, and the Political Culture in Early Modern France, in: The American Historical Review 105 (1997), S. 1413–1440, hier S. 1427–1430. 18 Vgl.: Art. „Credit“, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 6, Halle/Leipzig 1733, Sp. 1559. 19 Smith, No More Language Games (wie Anm. 17), S. 1428. 20 Vgl. allgemein: Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, Frankfurt am Main 20092. Zur Bedeutung von Reputation in vormodernen Gesellschaften ferner: Gerhard Fröhlich, Kapital, Habitus, Symbol, Feld. Grundbegriffe der Kulturtheorie bei Pierre Bourdieu, in: Ingo Mörth/Gerhard Fröhlich (Hg.), Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie nach Pierre Bourdieu, Frankfurt am Main/New York 1994, S. 31–54, hier S. 37. 16 17

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nierte das Dictionaire Universelle „Credit“ noch 1781 als „la faculté de faire usage de la puissance d`autrui“21. Bezogen auf die Reichshofratsagenten bedeutet dies: Je höher der Credit eines Agenten bei den Mitgliedern des Reichshofrats war, desto höher die Wahrscheinlichkeit – so auch die Vorstellung in Ansbach –, dass die Reichshofräte dem Agenten (eine wie auch immer geartete) Unterstützung zu Teil werden lassen würden. Für Johann Hermann Staudacher konnte das Maß an Credit eines Reichshofratsagenten zunächst im Kontext der Auswahl des bzw. der Referenten durch den Reichshofratspräsidenten zum Tragen kommen: Damit eine Materie in „eines wohlgesinnten Referenten hände“ gelangte, musste der Reichshofratsagent Einfluss auf den Reichshofratspräsidenten nehmen. Dieses Unterfangen zeitigte umso eher Erfolg, je höher der Credit des Agenten beim Präsidenten war. Entsprach hingegen die Relation des Referenten nicht den Vorstellungen der Prozesspartei, konnte erneut der Credit des Reichshofratsagenten von Belang sein. Die „remonstration“, d.h. die Gegenvorstellung, eines Reichshofratsagenten stieß nach Staudachers Meinung umso eher auf Gehör, je größer dessen Credit war. Betrachtet man den Ausgang der Beratungen des Geheimen Ratskollegiums, so bildeten „Zutritt“ und Credit tatsächlich die ausschlaggebenden Entscheidungskriterien für die Weiterbeschäftigung bzw. Entlassung der brandenburgansbachischen Reichshofratsagenten: Aufgrund des hohen Quantums an sozialem Kapital und Credit war die Verlängerung des Vertrags von Christoph Kleibert rasch beschlossen worden. Denn von allen (evangelischen) Reichshofratsagenten erschien Kleibert am geeignetsten für die persönlich-informelle Kommunikation mit den Mitgliedern des Reichshofrats.22 Das geringe Maß an Credit stand hingegen einer Weiterbeschäftigung des Reichshofratsagenten Filzhofer im Weg. In der Sitzung des Geheimen Rats vom 15. Dezember 1723 wurde das Für und Wider einer Entlassung Filzhofers erörtert. Ihre Entscheidung machten die Geheimen Räte dabei letztlich vom Gutachten Staudachers und der an ihn gerichteten Frage abhängig, „in was vor einen Credit der Agent Filzhoffer […] bey dem Kayserlichen Ministerio und ReichsHoff-Räthen stehet“?23 In seinem Antwortschreiben führte Staudacher aus, dass Reichshofratsvizepräsident Johann Wilhelm Graf von Wurmbrand,24 der bei allen Prozessen des Hauses

■ Art. „Crédit“, in: Dictionaire François et latin vulgairement appelé Dictionnaire de Trévoux, Bd. 3, Paris 1781, S. 4. 22 J. H. Staudacher an Markgräfin Christiane Charlotte v. 29.12.1723. StAN, Fst. Brandenburg-Ansbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 9. 23 Geheimes Ratskollegium an J. H. Staudacher v. 15.12.1723. StAN, Fst. BrandenburgAnsbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 9. 24 Zu Johann Wilhelm Graf von Wurmbrand: Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559–1806 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreicht 33), Wien 1942, bes. S. 335f. 21

Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation

Brandenburg-Ansbach „das Praesidium bey Reichs=HoffRath führet, und in seinem Directorio durchgehends ein grosses Gewicht hat, […] kein avantageuses Sentiment, wegen seiner Persohn [= Filzhofer, T. D.], bishero geäußert“ hat. 25 Staudacher konstatierte somit, dass Reichshofratsagent Filzhofer nur wenig respektive keinen Credit bei Reichshofratsvizepräsident Wurmbrand besaß. Diese Einschätzung zeitigte zwei Konsequenzen. In Anbetracht des geringen Maßes an Credit war eine Verlängerung des Vertrags von Agent Filzhofer ausgeschlossen. Der entsprechende Beschluss, Filzhofer nicht weiter zu beschäftigen, wurde bereits am 4. Januar 1724 gefasst.26 Zugleich – und dies ist die zweite Konsequenz des geringen Credits – konnte Filzhofer umso bedenkenloser entlassen werden, da man in Ansbach sicher sein konnte, durch einen derartigen Schritt nicht selbst bei Reichshofratsvizepräsident Wurmbrand in Misskredit zu fallen. Nachdem mit Sozialkapital und Credit die maßgeblichen Einstellungskriterien identifiziert sind, kann in Kapital Zwei nun die Kommunikation mit dem Reichshofrat eingehend betrachtet werden. Das Augenmerk wird dabei besonders auf der informellen Kommunikation liegen. 2. Aspekte der informellen Kommunikation mit dem Reichshofrat■Eine der grundlegendsten Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaft besagt, dass die Kommunikations-Interessen den Anlass jeglicher Kommunikationsversuche bilden.27 Entsprechend wird die folgende kursorische Analyse informeller Kommunikationsprozesse zwischen Prozessparteien, Reichshofratsagenten und Reichshofrat bei den Kommunikations-Interessen der Prozessparteien ansetzen. Weil jedoch der Terminus „Kommunikation“ in der historischen Forschung der letzten zwei Jahrzehnte eine geradezu inflationäre Verwendung gefunden hat, sind vorweg einige grundsätzliche Anmerkungen unumgänglich: In Anlehnung an Roland Burkart und Heinz Pürer wird „Kommunikation“ im Folgenden als „soziale Interaktion“ aufgefasst.28 Zugleich wird versucht, die in der Alltagssprache gebräuchliche, jedoch inadäquate „Übertragungsmetapher“ zu vermeiden, welche Kommunikation auf einen zweistelligen Prozess reduziert.29 Die Vorstellung, dass „Informationen“ „ausgetauscht“ respektive eins zu eins von einem Absender zu einem Empfänger „übertragen“ werden, muss als überholt gelten. Kommunikation ruft bestenfalls ähnliche Vorstellun-

■ 25 J. H. Staudacher an Markgräfin Christiane Charlotte v. 29.12.1723. StAN, Fst. Brandenburg-Ansbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 9. 26 Protokollauszug v. 04.01.1724, StAN, Fst. Brandenburg-Ansbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 9. 27 Burkart, Kommunikationswissenschaft (wie Anm. 9), S. 27f. 28 Burkart, Kommunikationswissenschaft (wie Anm. 9), S. 30. Heinz Pürer, Publizistik– und Kommunikationswissenschaft. Ein Handbuch, Konstanz 2003, S. 59. 29 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main 1984, S. 193.

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gen und Bedeutungsinhalte im Bewusstsein des Kommunikationspartners hervor und ist somit mit Niklas Luhmann als „gemeinsame Aktualisierung von Sinn“ aufzufassen.30 Entsprechend bezeichnet „Information“ all das was mitgeteilt werden kann und ist somit von dem, was tatsächlich berichtet wird – der Mitteilung – zu unterscheiden.31 Das erste grundlegende Kommunikations-Interesse der Prozessparteien resultierte aus dem Prinzip der Heimlichkeit bei Reichshofratsprozessen. Die Prozessparteien waren in hohem Maße daran interessiert, von den Mitgliedern des Reichshofrats Mitteilungen zum aktuellen Stand ihres Prozesses zu erhalten. Daher erteilen sie ihren Reichshofratsagenten die Order, nach Möglichkeit an Mitglieder des Reichshofrats heranzutreten und bei diesen um Auskünfte zum Stand des jeweiligen Prozesses nachzusuchen. Besonderes Augenmerk galt dabei zunächst der Frage, welcher Referent bzw. welche Referenten für den jeweiligen Prozess zuständig waren? Hatten die Reichshofratsagenten den oder die Referenten ermitteln können, versuchten sie bei den Mitgliedern des Reichshofrats zu erkunden, ob der zuständige Referent seine Relation verfertigt hat, ob der Erlass eines Conclusums oder ein votum ad imperatorem bevorstand. Wie in Kapitel Eins deutlich wurde, gelang ihnen dies umso eher, je höher ihr Sozialkapital respektive ihr Credit war. Der Nürnberger Magistrat beispielsweise verfügte in den 1720er Jahren über fundierte Kenntnisse zum Stand der eigenen am kaiserlichen Höchstgericht anhängigen Prozesse – dies ist vor allem auf Reichshofratsagent Daniel Hieronymus Praun zurückzuführen.32 Als Praun in den 1720er Jahren für die Reichsstadt Nürnberg tätig war, zählte er zu den erfahrenen Reichshofratsagenten, die über ausnehmend gute Kontakte am Kaiserhof verfügten. Im Verlauf seiner bis dato mehr als zehnjährigen Tätigkeit als geschworener Agent hatte er sukzessive ein hohes Quantum an Sozialkapital erworben. Dabei kam ihm von Anfang an zugute, dass er der Träger eines in reichshofrätlichen Kreisen wohlbekannten Familiennamens war. Die ursprünglich aus der Reichsstadt Nürnberg stammenden Prauns

■ Niklas Luhmann, Sinn als Grundbegriff der Soziologie, in: Jürgen Habermas/Niklas Luhmann (Hg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet Systemforschung?, Frankfurt am Main 19764, S. 25–100, hier S. 42. 31 Martin Kintzinger, Communicatio personarum in domo. Begriff und Verständnis einer Mitteilung von Wissen, Rat und Handlungsabsichten, in: Heinz–Dieter Heimann/Ivan Hlavacek (Hg.), Kommunikationspraxis und Korrespondenzwesen in Mittelalter und in der Renaissance, Paderborn/München/Wien/Zürich 1998, S. 139–164, hier bes. S. 155f. 32 Daniel Hieronymus Praun hatte von Februar 1704 an der Universität Gießen Jurisprudenz studiert. Nach Abschluss seiner Studien übersiedelte Praun vermutlich im Jahre 1707 nach Wien, wo sein Bruder Tobias Sebastian Praun bereits seit 1696 als Reichshofratsagent tätig war. In den folgenden drei Jahren arbeitete Daniel Hieronymus für seinen Bruder, ehe er sich im April des Jahres 1710 um eine eigene Agentenstelle bewarb. Nach bestandenem Examen leistete er am 2. Juni 1710 den Reichshofratsagenteneid. 30

Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation

bildeten im untersuchten Zeitraum die gleichermaßen bekannteste wie bedeutendste Reichshofratsagentendynastie.33 Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich selbst Inhaber der obersten Führungsämter am Kaiserhof gegenüber Praun zum Stand der Prozesse des Nürnberger Magistrat äußerten.34 Exemplarisch hervorzuheben sind an dieser Stelle die Unterredungen Prauns mit Friedrich Carl von Schönborn.35 Praun machte dem Reichsvizekanzler zumeist an Sonntagen seine Aufwartung und erhielt stets Zutritt. In Vier-Augen-Gesprächen äußerte sich Friedrich Carl von Schönborn dann zum aktuellen Stand der am Reichshofrat anhängigen Prozesse der Reichsstadt Nürnberg. Die Treffen mit Schönborn waren für Praun von überragender Bedeutung – auch und gerade wenn die Reichshofräte in einer „Sache sich gar nicht heraus lassen“ wollten.36 Im konkreten Fall hatte Praun von keinem der Reichshofräte Auskünfte zum Prozess Dr. Sörgel contra Nürnberg erhalten können.37 Erst nach einem sonntäglichen Treffen mit Reichsvizekanzler Schönborn konnte Praun dem Magistrat in Nürnberg mitteilen, dass in besagtem Prozess „bey RhRath ein neues votum darüber an Ihro Kay: May: erstattet werden“ wird.38 Das zweite Interesse der Prozessparteien, welches zu informeller Kommunikation mit dem Gericht führte, war die Einflussnahme auf die Mitglieder des Reichshofrats. An dieser Stelle ist zunächst eine Anmerkung zur frühneuzeitlichen Kultur der Anwesenheit erforderlich. Rudolf Schlögl hat darauf hingewiesen, dass in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit „das Soziale wesentlich in

■ 33 In den Verfassungsakten des Reichshofrats taucht der Name Praun erstmals 1656 auf. Am 21. März 1656 wurde Tobias Sebastian Praun die Aufnahme in den Kreis der Reichshofratsagenten gewährt. Es handelt sich bei ihm um den Bruder des Vaters von Daniel Hieronymus und Tobias Sebastian Praun. Nach seiner Aufnahme im Jahre 1656 war Tobias Sebastian Praun rund 30 Jahre als Reichshofratsagent für verschiedenste Parteien tätig. 1696 erlangte sein Neffe gleichen Namens, der bereits erwähnte Bruder von Daniel Hieronymus, die Aufnahme in den Kreis der Reichshofratsagenten. Letztgenannter Daniel Hieronymus folgte – wie dargelegt – im Jahre 1710. 34 Zu den Inhabern der Führungsämter am Kaiserhof Karls VI.: Andreas Pečar, Die Ökonomie der Ehre. Höfischer Adel am Kaiserhof Karls VI. (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne), Darmstadt 2003, bes. S. 53–70. 35 Zu Reichsvizekanzler Schönborn immer noch grundlegend: Hugo Hantsch, Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn (1674–1746). Einige Kapitel zur politischen Geschichte Kaiser Josefs I. und Karls VI. (Salzburger Abhandlungen und Texte aus Wissenschaft und Kunst 2), Augsburg 1929. 36 D. H. Praun an Herren Ältere v. 14.03.1725. StAN, Rst. Nürnberg, Rekursakten, 26/4, Nr. 82. 37 Der Prozess Dr. Sörgel contra Nürnberg wurde von David Petry fundiert und umfassend aufgearbeitet. Vgl.: David Petry, Demokratischer Aufbruch oder folgenloses Strohfeuer? Patronage, Spionage und Kolportage im Reichshofratsprozess Dr. Sörgel contra Nürnberg (1722–1730), in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 65 (2005), S. 135– 161. 38 D. H. Praun an Herren Ältere v. 14.03.1725. StAN, Rst. Nürnberg, Rekursakten, 26/4, Nr. 82.

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der Kommunikation unter Anwesenden konstituiert wurde“.39 In Anbetracht der Vorrangstellung von Anwesenheitskommunikation nimmt es nicht Wunder, dass den dauerhaft am Kaiserhof anwesenden Reichshofratsagenten bei der Einflussnahme auf die Reichshofräte zentrale Bedeutung zukam.40 Dabei wurde die zentrale Bedeutung der Anwesenheitskommunikation im Untersuchungszeitraum auch nicht durch das immer stärkere Verbreitung findende Distanzmedium Brief abgelöst.41 Vielmehr lässt sich bei der versuchten Einflussnahme auf Mitglieder des Reichshofrats eine spezifische, immer wiederkehrende Verschränkung der Kommunikationsarten erkennen: Die Prozessparteien verfassten zwar Briefe oder Pro Memoria für Mitglieder des Reichshofrats, übersandten diese allerdings zunächst an ihre Reichshofratsagenten. Es oblag dann den Agenten, das entsprechende „Schreiben nicht allein fördersamst sicher zu insinuiren“, sondern zudem „anbey mündlich alle dienliche Vorstellung zu thun“. 42 Dieses und viele vergleichbare Beispiele verdeutlichen, dass Situationen der Anwesenheitskommunikation für die Prozessparteien immer noch unerlässlich waren – konnten die Reichshofratsagenten doch im direkten Gespräch einen zusätzlichen Überzeugungsdruck auf die Reichshofräte aufbauen. Wendet man nun den Blick auf die Personenkreise, so ist festzuhalten, dass sich die Versuche der Einflussnahme auf den Kreis der Reichshofratsmitglieder konzentrierten, jedoch keineswegs darauf beschränkten. Verfügten die Reichshofratsagenten über entsprechendes Sozialkapital, traten sie gleichfalls an die Inhaber der hohen Führungsämter am Kaiserhof heran, übergaben Briefe, versuchten den Streitgegenstand darzulegen und baten um Unterstützung. Vermuteten die Reichshofratsagenten, dass ein votum ad imperatorem beschlossen werden würde, rückte zudem eine weitere Personengruppe ins Blickfeld: die Favoriten des Kaisers. 43 Gerade während der Regentschaft Karls VI. registrierten die Agenten genau, wer „bey Kay: May: in sonderbahren gnaden stehet“.44 Erhielten die Reichshofratsagenten Kenntnis von einem

■ Rudolf Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 155–224, hier S. 157. 40 Grundlegend: André Kieserling, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme, Frankfurt am Main 1999. 41 Zur zunehmenden Bedeutung des Mediums Brief: Werner Faulstich, Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400–1700) (Geschichte der Medien 3), Göttingen 1998, bes. S. 48–68. 42 Herren Ältere an D. H. Praun v. 25.01.1725. StAN, Rst. Nürnberg, Rekursakten, 26/4, Nr. 4. 43 Michael Kaiser/Andreas Pečar, Reichsfürsten und ihre Favoriten. Die Ausprägung eines europäischen Struturphänomens unter den politischen Bedingungen des Alten Reichs, in: Dies. (Hg.), Der zweite Mann im Staat. Oberste Amtsträger und Favoriten in der Frühen Neuzeit (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 32), Berlin 2003, S. 9–19. 44 D. H. Praun an Herren Ältere v. 28.02.1725. StAN, Rst. Nürnberg, Rekursakten, 26/4, Nr. 66. 39

Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation

votum ad imperatorem, versuchten sie auch bei den Favoriten vorzusprechen und ihnen die jeweilige „angelegenheit bestens zu recommandiren“.45 Ein drittes Kommunikations-Interesse der Prozessparteien erwuchs schließlich aus der Unkenntnis der rationes decidendi – den Entscheidungsgründen des Reichshofrats bei Zwischen- und Endurteilen. Sowohl das Reichskammergericht als auch der Reichshofrat begründeten ihre Urteile gegenüber den Parteien in aller Regel nicht.46 Die Entscheidungsgründe wurden zwar aufgezeichnet, dienten jedoch in erster Linie gerichtsinternen Zwecken. Um es mit den Worten des Rechtshistorikers Heinz Weller auf den Punkt zu bringen: „Den Parteien blieben dagegen die Entscheidungsgründe verborgen; sie waren auf Mutmaßungen angewiesen“.47 Verfügten die Prozessparteien indes über einen Reichshofratsagenten mit einem hohen Maß an Sozialkapital und Credit, waren sie keineswegs stets auf Mutmaßungen angewiesen. War ein Urteil ergangen, äußerte manche Partei gegenüber ihrem Reichshofratsagenten die Auffassung, dass es „gueth were, wann man die rationes […] haben köndte“.48 Dieser hatte dann zu versuchen, von den Mitgliedern des Reichshofrats Auskünfte über die Entscheidungsgründe zu erhalten. Im besten Falle teilte ein Mitglied des Reichshofrats dem Agenten im informellen Vier-Augen-Gespräche die Entscheidungsgründe mit. Das bereits mehrfach erwähnte Geheime Ratskollegium in Ansbach scheint zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Falle von negativen Urteilen entsprechende Mitteilungen über die Entscheidungsgründe geradezu von ihrem Reichshofratsagenten erwartet zu haben. Exemplarisch sei auf ein Schreiben des brandenburg-ansbachischen Agenten Johann Heinrich Pommeresche aus dem Jahr 1702 verwiesen.49 Als Pommeresche nach einem Urteil im November 1702 aus Zeitgründen nicht umgehend mit den Reichshofräten sprechen konnte, bat er das Ratskollegium um Entschuldigung. Er habe den Protokollauszug erst am vorherigen Tag erhalten, „dahero mit jemanden der HH. ReichshofRäthe darauf noch nicht reden, noch causas denegatae restitutionis von denen selben per discursum erkundigen können.“50

■ 45 D. H. Praun an Herren Ältere v. 28.02.1725. StAN, Rst. Nürnberg, Rekursakten, 26/4, Nr. 66. 46 Ignacio Czeghun, Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung auf der iberischen Halbinsel und in Deutschland vom 15. bis zum 18. Jahrhundert. Eine vergleichende Betrachtung, in: Albrecht Cordes (Hg.), Juristische Argumentation – Argumente der Juristen (QFHG 49), Köln/Weimar/Wien 2006, S. 219–239, hier S. 238. 47 Heinz Weller, Die Bedeutung der Präjudizien im Verständnis der deutschen Rechtswissenschaft. Ein rechtshistorischer Beitrag zur Entstehung und Funktion der Präjudizientheorie, Berlin 1979, S. 18. 48 Hofrat des Fürststifts Kempten an J. A. Strauß v. 14.06.1719. Staatsarchiv Augsburg, Fürststift Kempten, Acta Civitatica, Bd. 127, Nr. 369. 49 Johann Heinrich Pommeresche wurde am 23.09.1699 zum Reichshofratsagenteneid zugelassen. 50 J. H. Pommeresche an Geheimes Ratskollegium v. 11.11.1702. StAN, Fst. BrandenburgAnsbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 4.

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Nachdem anhand dreier Aspekte die Kommunikation mit dem Reichshofrat skizziert worden ist, soll abschließend noch die Kommunikation über den Reichshofrat in den Blick genommen werden. 3. Die Berichterstattung über die Tätigkeit des Reichshofrats■Wie bereits in der Einleitung postuliert, können und dürfen die Reichshofratsagenten nicht auf ihr Wirken als Prozessanwalt am Reichshofrat reduziert werden. Stattdessen ist festzuhalten, dass es durchaus Überschneidungen im Aufgabenspektrum von Reichshofratsagenten und anderen diplomatischen Vertretern am Kaiserhof wie beispielsweise den Residenten kurfürstlicher oder fürstlicher Häuser gab.51 Zu nennen ist hierbei an erster Stelle die regelmäßige Berichterstattung über den Kaiserhof und die dortigen Vorkommnisse und Entwicklungen. Besonders angelsächsische Beiträge zur frühneuzeitlichen Diplomatiegeschichte betonen seit langem „the consequent need of rulers for regular, reliable information from representatives on the spot.“52 Eine der Hauptaufgaben der diplomatischen Vertreter des 17. und 18. Jahrhunderts sei folglich „the collection of information“ und deren regelmäßige Mitteilung gewesen.53 Diese These wird auch durch die Forschungen von Klaus Müller zum kaiserlichen Gesandtschaftswesen gestützt. 54 Es nimmt daher nicht Wunder, dass viele Reichshofratsagenten ihren Prinzipalen regelmäßig über aktuelle Vorkommnisse und Entwicklungen am Wiener Hof berichteten.55 Das Spektrum der in den Briefen behandelten Materien ist dabei außerordentlich breit gefächert: Der Gesundheitszustand der kaiserlichen Familie wurde dabei genauso thematisiert wie Solennitäten und Lustbarkeiten bei Hof oder die neuesten Entwicklungen auf den europäischen Kriegsschauplätzen. Besonders fundiert konnten die Reichshofratsagenten jedoch über die Tätigkeit des Reichshofrats berichten. Dementsprechend soll im Folgenden nur dieser Aspekt im Blickpunkt stehen.

■ 51 Zu den diplomatischen Gesandten am Kaiserhof um 1700: Rouven Pons, Gesandte in Wien. Diplomatischer Alltag um 1700, in: Susanne Claudine Pils/Jan Paul Niederkorn (Hg.), Ein zweigeteilter Ort? Hof und Stadt in der Frühen Neuzeit (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 44), Innsbruck/Wien/Bozen 2005, S. 155–187. 52 Geoffrey Treasure, The Making Of Modern Europe. 1648–1780, London/New York 1985, S. 192. 53 Matthew S. Anderson, The Rise of Modern Diplomacy. 1450–1919, London/New York 1993, S. 41. Ähnlich auch William James Roosen, der in der Berichterstattung die Hauptaufgabe des Residenten im 17. Jahrhundert sieht: William James Roosen, The Age of Louis XIV. The Rise of Modern Diplomacy, Cambridge 1976, bes. S. 143. 54 Klaus Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden 1648–1740 (Bonner Historische Forschungen 42), Bonn 1976, S. 253. 55 Auf diesen Aspekt hat bereits David Petry beiläufig hingewiesen: David Petry, Die Außenbeziehungen der Reichsstadt Augsburg zum Kaiserhof im frühen 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Wüst/Georg Kreuzer/Ders. (Hg.), Grenzüberschreitungen. Die Außenbeziehungen Schwabens in Mittelalter und Neuzeit, Augsburg 2008, S. 447–457, hier S. 452.

Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation

Mit Beginn des 18. Jahrhunderts ist für das Geheime Ratskollegium in Ansbach ein merklich gesteigertes Interesse an der allgemeinen Tätigkeit des Reichshofrats erkennbar. Die Geheimen Räte waren sehr darum bemüht, Mitteilungen über die Tätigkeit des Reichshofrats im Allgemeinen zu erlangen. Im Fokus des Interesses standen somit Prozesse, in die das Fürstentum Brandenburg-Ansbach nicht involviert war. Als Ende des Jahres 1703 der Vertrag mit Reichshofratsagent Johann Heinrich Pommeresche der Erneuerung bedurfte, ergriff man die Gelegenheit, um im Zuge der Vertragsverhandlungen die eigenen Erwartungen in puncto Kommunikation über das Gericht zu äußern: Pommeresche sollte von nun an regelmäßig über die im Reichshofrat zur Verhandlung gekommenen Materien berichten.56 Am 12. Januar 1704 übersandte Pommeresche erstmals „die Rubrica derer post ferias bey Reichshoff Rath resolvirter sachen“ und versicherte, diese fortan „wochentlich oder so oft referire ferner einzusenden“57. Hierbei handelt es sich um eine Liste mit den Rubra der im Reichshofrat verhandelten Prozesse. Im Anschluss an jede Sitzung des Reichshofrats heftete der zuständige Sekretär eine Liste mit den verhandelten Materien an seine Kanzleitür. 58 Diese Liste nannte die beteiligten Parteien nach Prozessstellung und enthielt eine schlagwortartige Bezeichnung der Prozessart (z.B. „appellationis“) beziehungsweise des Streitgegenstands (z.B. „debiti“). Jeder Reichshofratsagent hatte daraus zu ersehen, ob einer derjenigen Fälle, mit denen er betraut war, zur Verhandlung gekommen war. Pommeresche indes schrieb die Liste nach jeder Sitzung des Reichshofrats ab und übersandte sie nach Ansbach. Das Geheime Ratskollegium erhielt somit in regelmäßigen Abständen eine Übersicht sämtlicher im Reichshofrat verhandelten Materien. Erregte einer der aufgelisteten Prozesse die „Curiositet“ der Geheimen Räte, hatten Sie die Möglichkeit, Agent Pommeresche um weitergehende Mitteilungen zu ersuchen. Bei gewissen Prozessen wusste Reichshofratsagent Pommeresche jedoch von vorneherein, dass sie die „Curiositet“ des Geheimen Rats erregen würden. Am 5. Dezember 1703 hatte ihm das Geheime Ratskollegium nämlich eingeschärft, dass er fortan „in causis illustribus und in denen unter denen Brandenb: Benachbarten vorkommenden differentien ausfallende wichtige Conclusa gleich fals anhero zu communiciren Sich gefallen laßen wollte“.59 Das Interesse in Ansbach galt somit einerseits den Prozessen der benachbarten Territorien. Als Mitinhaber des Kreisausschreibeamts im Fränkischen Reichskreis war man

■ Geheimes Ratskollegium an J. H. Pommeresche v. 05.12.1703. StAN Nürnberg, Fst. Brandenburg-Ansbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 23. 57 J. H. Pommeresche an Geheimes Ratskollegium v. 12.01.1704. StAN, Fst. BrandenburgAnsbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 23. 58 Gemäß der eigenen Schilderung von Pommeresche. Vgl. J. H. Pommeresche an Geheimes Ratskollegium v. 19.12.1703. StAN, Fst. Brandenburg-Ansbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 23. 59 Geheimes Ratskollegium an J. H. Pommeresche v. 05.12.1703. StAN Nürnberg, Fst. Brandenburg-Ansbach, Wiener Reichshofratsagentie, Fasz. 23. 56

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sehr um Kenntnisse zu den Prozessen der anderen Kreisstände bemüht. Für eine erfolgreiche Kreispolitik erachtete das Geheime Ratskollegium entsprechende Mitteilungen aus Wien als geradezu unerlässlich. Andererseits galt das Interesse Prozessen, die aufgrund der beteiligten Parteien oder des Streitgegenstands als außergewöhnlich eingestuft wurden. Im Bestand „Wiener Reichshofratsagentie“ finden sich noch heute beispielsweise Abschriften der Zwischenurteile des Prozesses „Domkapitel zu Osnabrück contra den dortigen Bischof“. Dieser Prozess wurde von Pommeresche wegen der im Westfälischen Frieden für das Bistum festgelegten Alternation als bedeutsam und herausragend eingestuft. Artikel XIII, § 6 des Osnabrücker Friedensvertrags legte eine alternative Besetzung zwischen einem katholischen Bischof und einem evangelischen Kandidaten aus dem Hause Braunschweig fest – bis heute eine der bekanntesten Klauseln des Westfälischen Friedens. Dank der übersandten Abschriften besaß das Geheime Ratskollegium detaillierte Kenntnisse über diesen Prozess – allen voran, dass der Reichshofrat ein votum ad imperatorem beschlossen hatte und dass der Kurfürst von Mainz bzw. der Landgraf von Hessen–Kassel zu Kommissaren ernannt worden waren etc.60 Mittels des Bestands „Wiener Reichshofratsagentie“ ließ sich indes nicht erschließen, aus wessen Händen Pommeresche die entsprechenden Bei- oder Definitivurteile erhielt. Die Vermutung liegt jedoch nahe, dass er – wie andere Reichshofratsagenten mit entsprechendem Sozialkapital auch – in Kontakt zu subalternen Kanzleibediensteten trat. Trotz des in Gemeinen Bescheiden immer wieder erneuerten Verbots, sich nicht „in denen Registraturen, Schreibstuben, oder anderen orthen der Cantzley […] finden zu lassen“, gewährten Kanzleibedienstete den Reichshofratsagenten oftmals Einsicht in die dort verwahrten Akten.61 4. Resümee■Worauf kam es, um die eingangs zitierten Worte von Johann Hermann Staudacher nochmals aufzugreifen, bei einem Reichshofratsagenten hauptsächlich an? Worauf achteten reichsständische Prozessparteien bei einem Reichshofratsagenten? Bei der Auswahl eines Reichshofratsagenten stand die juristische Qualifikation der Bewerber selten im Mittelpunkt. In der vormodernen Gesellschaft des Alten Reiches, in welcher der Grad der zugemessenen Achtung darüber entschied, ob man einer Person die Kommunikation verweigerte oder mit ihr

■ Zu den kaiserlichen Kommissionen grundlegend: Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers (QFHG 38), Köln/Weimar/Wien 2001 sowie Sabine Ullmann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (1564–1576) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 214), Mainz 2006. 61 Gemeiner Bescheid v. 21.06.1685. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, RHRVerfassungsakten 51, Fasz. 51/1. 60

Die Reichshofratsagenten und ihre Bedeutung für die Kommunikation

sprach, waren andere Kriterien maßgeblich.62 Im Geheimen Ratskollegium von Ansbach – aber auch andernorts – lag das Augenmerk dementsprechend vor allem auf dem Sozialkapital eines Reichshofratsagenten und dessen Credit bei Hofe. Besonders der Credit eines Agenten kann in seiner Bedeutung für die informelle Kommunikation mit Mitgliedern des kaiserlichen Höchstgerichts schwerlich unterschätzt werden. Verfügte ein Reichshofratsagent aufgrund seines Credits über „Zutritt“ zu Mitgliedern des Reichshofrats, konnte er darauf hoffen, in informellen Vier-Augen-Gesprächen Mitteilungen zum Stand anhängiger Prozesse zu erhalten. Zugleich eröffneten diese informellen Gespräche die Möglichkeit, Einfluss auf die Reichshofräte auszuüben. Und auch für eine fundierte Berichterstattung über das Gericht war ein Reichshofratsagent mit einem hohen Maß an Sozialkapital unabdingbar. Agenten mit guten Kontakten zu den subalternen Kanzleibediensteten konnten ihren Prinzipalen detailreiche Mitteilungen über andere Reichshofratsprozess zukommen lassen. Entsprechend ist es wenig verwunderlich, dass selbst bedeutende Reichsstände, die einen eigenen Residenten am Kaiserhof unterhielten, in der Regel nicht auf die Dienste eines renommierten Reichshofratsagenten verzichteten. So war es auch im Falle des Fürstentums Brandenburg-Ansbach. Obwohl Johann Hermann Staudacher über Jahre am Wiener Hof agierte, suchte und engagierte man renommierte Reichshofratsagenten.

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Gemäß Schlögl, Kommunikation und Vergesellschaftung (wie Anm. 39), S. 176.

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Reichsstädtische Reichshofratsprozesse als mediale Ereignisse

■David Petry■Reichsstädtische Reichshofratsprozesse als mediale Ereignisse 1. Einführung■Litigation Public Relations – so lautet ein vergleichsweise neues Geschäftsfeld im Bereich Öffentlichkeitsarbeit, bei dem es, vereinfacht gesagt, um Kommunikationsarbeit für Prozessparteien bei Gerichtsverfahren geht. Wirklich neu ist dieses Phänomen jedoch nicht: Schon im Alten Reich konnten Gerichtsverfahren großes Aufsehen erregen und bereits in der Frühneuzeit finden wir Vorformen von „Öffentlichkeitsarbeit“.1 Dies wird im Folgenden am Beispiel sogenannter reichsstädtischer Verfassungskonflikte – ein nicht unumstrittener Begriff2 – gezeigt. Bei besagten Konflikten handelte es sich, stark verkürzt, um Auseinandersetzungen zwischen Bürgerschaft und Magistrat aufgrund von mehr oder weniger gravierenden Missständen in der reichsstädtischen Politik, Verwaltung und Justiz. Um ihre Forderung nach Reformen sowie erweiterte Mitspracherechte durchzusetzen, verklagten zahlreiche Bürger beziehungsweise Bürgergruppen ihre Obrigkeit vor dem Reichshofrat in Wien, dem neben dem Reichskammergericht obersten Gericht im Alten Reich3. Aufgrund der Vielzahl derartiger innenpolitischer Auseinandersetzungen ist die Geschichte der frühneuzeitlichen Reichsstädte sogar als eine „Geschichte von Verfassungskonflikten“4 bezeichnet worden. So zahlreich wie die Konflikte selbst sind auch die Publikationen zu ihnen.5 Dabei wurden die Ereignisse lange Zeit als Zeichen eines reichsstädtischen Verfalls interpretiert und ihr Modernisierungspotential unterschätzt.6 Besonders die

■ 1 Vgl. Werner Faulstich, Der Öffentlichkeitsbegriff. Historisierung – Systematisierung – Empirisierung, in: Peter Szyszka (Hg.), Öffentlichkeit. Diskurs zu einem Schlüsselbegriff der Organisationskommunikation, Wiesbaden 1999, S. 49–76. Jutta Schumann: Die andere Sonne. Kaiserbild und Medienstrategien im Zeitalter Leopolds I. (Colloquia Augustana 17), Berlin 2003, S. 21, 34. 2 Auf die Diskussion kann an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden. Vgl. beispielhaft Thomas Lau, Die Reichsstädte und der Reichshofrat, in: Wolfgang Sellert (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 34), Köln u.a. 1999, S. 129–153, hier S. 142. 3 Vgl. beispielhaft Wolfgang Sellert, Der Reichshofrat, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der frühen Neuzeit (QFHG 29), Köln u.a. 1996, S. 15–44. Siegrid Westphal, Der Reichshofrat – kaiserliches Machtinstrument oder Mediator?, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, Köln u.a. 2007, S. 115– 138. 4 Rita Sailer, Verwissenschaftlichung des Rechts in der Rechtspraxis? Der rechtliche Austrag reichsstädtischer Verfassungskonflikte im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (ZRG) Germanistische Abteilung (GA) 119 (2002), S. 106–156, hier S. 106. 5 Vgl. Siegrid Westphal, Stabilisierung durch Recht. Reichsgerichte als Schiedsstelle territorialer Konflikte, in: Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit, Köln 2005, S. 235–253, hier S. 237. 6 Vgl. beispielhaft für neuere Untersuchungen, die dieses Potential hervorheben: Andreas

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medialen Aspekte blieben in der Forschung lange Zeit unbeachtet, obwohl gerade die reichsstädtischen Verfassungskonflikte beziehungsweise die daraus resultierenden Reichshofratsprozesse, wie ein zeitgenössischer Beobachter formulierte, „im Reich viel Bruit“7 erregen und so zu Medienereignissen von überregionaler Bedeutung werden konnten. Diese Entwicklung wird im folgenden Beitrag an Beispielen aus der Regierungszeit Karls VI. (1711–1740) aufgezeigt, einer Zeit, die von einer bis dato einmaligen Vielzahl an Reichshofratsprozessen gekennzeichnet ist.8 Dabei werden unter anderem folgende Fragen behandelt: Wie inszenierte sich das Reich beziehungsweise der Reichshofrat während der Verfahren? Welche Herrschaftsmedien respektive Protestmedien setzten die Prozessparteien ein? Welches Medienecho lässt sich für die Prozesse nachweisen? Und kam es im Zuge der Prozesse zu einem Bedeutungszuwachs von Druckmedien, wie er für das frühe 18. Jahrhundert postuliert wurde?9 2. Die Inszenierung des Reichshofrats 2.1 Der Reichshofrat in der Region■Wie einleitend erwähnt, wurden vor dem Reichshofrat zahlreiche reichsstädtische Verfassungskonflikte auf gerichtlichem Wege ausgetragen. Die bevorzugte Verfahrensform waren sogenannte Lokalkommissionen. Dabei handelt es sich um eine überaus effiziente, aber auch teure Form der gerichtlichen Konfliktlösung, bei der zumeist ein benachbarter Reichsstand mit der Streitschlichtung, Untersuchung oder Exekution am Ort des Geschehens beauftragt wurde.10 Auch in Augsburg wurde aufgrund innerstädtischer Konflikte vor allem wegen Misswirtschaft und Nepotismus im Rat, die verstärkt ab 1715 aufkamen,11 eine solche Lokalkommission

■ Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit. Städtische und ländliche Protestbewegungen im 18. Jahrhundert (Frühneuzeit-Forschungen 1), Tübingen 1995, S. 41. Ders., Das Modernisierungspotential von Unruhen im 18. Jahrhundert, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 195–217. 7 Staatsarchiv Nürnberg (StAN), Reichsstadt Nürnberg, Rep. 44e, Losungamt Akten, S I L 147, Nr. 10, Nr. 4. 8 Vgl. Eva Ortlieb/Gert Polster, Die Prozessfrequenz am Reichshofrat (1519–1806), in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (ZNR) 26 (2004), S. 189–216, hier S. 204. 9 Vgl. zu diesen Thesen: Werner Faulstich, Medien zwischen Herrschaft und Revolte. Die Medienkultur der frühen Neuzeit (1400–1700) (Die Geschichte der Medien 3), Göttingen 1998, S. 298. Andere Arbeiten betonen dagegen die Bedeutung von Ritualen und symbolischer Kommunikation. Vgl. beispielhaft Gerd Althoff/Barbara Stollberg-Rilinger, Rituale der Macht in Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Ders./Axel Michaels (Hg.), Die neue Kraft der Rituale, Heidelberg 2007, S. 141–177. Rudolf Schlögl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: Ders. (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt (Historische Kulturwissenschaft 5), Konstanz 2004, S. 9–62. 10 Vgl. allgemein dazu: Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657) (QFHG 38), Köln u.a. 2001. 11 Vgl. Rolf Kießling, Augsburg im Aufstand. Ein systematischer Vergleich von Unruhen des 14./16. Jahrhunderts mit denen des 17./18. Jahrhunderts, in: Angelika Westermann

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eingerichtet.12 Geleitet wurde sie von dem bereits vorher in Augsburg agierenden kaiserlichen Residenten Jacob Emmanuel von Garb sowie dem Bischof von Konstanz, der seinerseits den Oberhofmarschall Paul Niclas Freiherr von Reichenstein sowie den Konstanzer Hofrat Friedrich Wilhelm Balbach von Gastel als Subdelegierte ernannte.13 Die Arbeit dieser Kommission, die unter anderem 1719 eine neue Regimentsordnung für die Reichsstadt Augsburg erarbeitete, ist in der Forschung bereits hinlänglich untersucht worden.14 Kaum beachtet, wenn nicht sogar gänzlich unbekannt, sind dagegen die zeitgleichen konfessionellen Unruhen in Augsburg, und das, obwohl sie in ihrer Tragweite kaum zu unterschätzen sind. Ausgangspunkt der Ereignisse waren Störungen bei der Fronleichnamsprozession im Juni 1718. Eskalierend wirkte dabei das Gerücht, dass evangelische Protestanten einen Stein auf die Hostie geworfen hätten, aus der sich dann ein großer Blutschwall ergossen hätte. Die Folge waren mehrtägige schwere Unruhen, die aber, wie die Krawalle der unzufriedenen Weber in der Jakobervorstadt zeigen15, keinesfalls nur konfessionell motiviert waren. Blutiger Höhepunkt der mehrtägigen Auseinandersetzungen war die Erschießung zweier angeblicher Unruhestifter, eines Weberknappen und eines katholischen Studenten, durch evangelische Stadtgardisten.16 Die Situation in der Reichsstadt drohte außer Kontrolle zu geraten und die anwesenden Lokalkommissare sprachen in ihrem Bericht an den Kaiser sogar von einem bevorstehenden „Totall massacre“17. Umso bemerkenswerter ist das erfolgreiche Krisenmanagement der Lokalkommission um Jacob Emmanuel von Garb, das auf einer multimedialen Kommunikationsstrategie basierte. Zunächst erging im Namen des Kaisers ein öffentlicher Verruf durch die Lokalkommission, in dem zur Ruhe aufgerufen wurde und in dem das kursierende Gerücht eines Hostienfrevels als Falschinformation entlarvt wurde. Die Proklamation war zugleich ein Theater der Abschreckung wie auch eine vertrauensbildende Maßnahme: Einerseits wurde allen Beteiligten eine „unpartheyische und vergnügliche“ Justiz versprochen, andererseits wurde Unruhestiftern gleich zweimal eine „unausbleibliche[] Leib- und Lebens-

■ (Hg.), Streik im Revier. Unruhe, Protest und Ausstand vom 8. bis 20. Jahrhundert, St. Katharinen 2007, S. 153–175. 12 Neben einer Lokalkommission vor Ort gab es auch Hofkommissionen in Wien. Vgl. Hans-Joachim Hecker, Die Reichsstädte und die beiden obersten Reichsgerichte, in: Rainer A. Müller (Hg.), Reichsstädte in Franken. Aufsätze 1: Verfassung und Verwaltung (Veröffentlichungen zur bayerischen Geschichte und Kultur 15/1), München 1987, S. 169–182, hier S. 174. 13 Vgl. grundlegend zu den Auseinandersetzungen Ingrid Bátori, Die Reichsstadt Augsburg im 18. Jahrhundert. Verfassung, Finanzen und Reformversuche (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 22), Göttingen 1968, S. 179–183. 14 Vgl. ebenda. 15 Vgl. Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (HHStA), Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 16. Bericht der Kommission an den Kaiser vom 24.6.1718. 16 Vgl. ebenda. 17 Ebenda.

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strafe“ angedroht.18 Die verhängte Ausgangssperre und das generelle Ausschankverbot sollten verhindern, dass sich in ,gefährlichen‘ Kommunikationsräumen19 wie der Straße und den Wirtshäusern aufrührerische Meinungen bilden und verbreiten konnten. Wie in zahlreichen anderen Verordnungen wurden dabei die zentralen Grundwerte der städtischen wie der ständischen Gesellschaft angeführt, das heißt Ruhe, Einigkeit und Friedfertigkeit.20 Als Garant dieser Werte wurde die kaiserliche Gerichtsbarkeit präsentiert. Die einleitende Titulatur der Proklamation verdeutlichte dabei die hierarchischen Verhältnisse und die Ableitung der obersten reichsstädtischen Gewalt vom Reichsoberhaupt: So wurde der Augsburger Magistrat an dritter Stelle, die Lokalkommission an zweiter und der Kaiser an erster Stelle genannt.21 Und die von den Bürgern eingeforderte Untertänigkeit sollte dementsprechend zunächst dem Kaiser und dann der örtlichen Obrigkeit entgegengebracht werden.22 Die Bekanntmachung der Lokalkommission ist somit ein Beispiel für die Selbstinszenierung der kaiserlichen Gerichtsbarkeit in der Region.23 Darüber hinaus lässt sie Zweifel an der These Karl Otmar von Aretins aufkommen, dass es primär „der Landesherr oder bei Reichsstädten der Magistrat war, der dem Reichsbürger als Obrigkeit gegenübertrat“24. In jedem Fall verfehlte die Proklamation ihre Wirkung nicht: In einem Brief vom 18.7.1718 meldeten die Lokalkommissare nach Wien, dass man die Proklamation dem Magistrat, dem Größeren Rat und „denen gesambten Inwohnern publik gemacht habe, und das mit so guter Würckung daß nun mehro die Burgerschafft und Inwohner von beeden Religionsantheilen in fried und Ruhe und schuldigem gehorsam und gelassenheit auf die versprochene Satisfaction warteten“25. Dass es der Lokalkommission gelang, als ehrliche Makler aufzutreten, zeigt das große konfessionsunabhängige Vertrauen, das die

■ HHStA, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 16. Bericht der Kommission an den Kaiser vom 24.6.1718, Lit. A: Beilage: Kopie des öffentlichen Verrufs vom 19.6.1718. 19 Vgl. Gerd Schwerhoff, Öffentliche Räume und politische Kultur in der frühneuzeitlichen Stadt. Eine Skizze am Beispiel der Reichsstadt Köln, in: Rudolf Schlögl (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt (Historische Kulturwissenschaft 5), Konstanz 2004, S. 122–123. 20 Vgl. Michaela Fenske, Der Kampf um die Grenze. Rationale Interessendurchsetzung in Stadt und Land in der Frühen Neuzeit, in: Barbara Krug-Richter/Ruth-Elisabeth Mohrmann (Hg.), Praktiken des Konfliktaustrags in der frühen Neuzeit (Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme 6), Münster 2004, S. 157–168, hier S. 157. 21 Vgl. HHStA, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 16. Bericht der Kommission an den Kaiser vom 24.6.1718, Lit. A: Beilage: Kopie des öffentlichen Verrufs vom 19.6.1718. 22 Vgl. ebenda. 23 Vgl. allgemein dazu: Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung (ZHF) 27 (2000), S. 389–405, hier S. 396. Vgl. auch Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers (wie Anm. 10), S. 355. 24 Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648–1684), Stuttgart 1993, S. 13 25 HHStA, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 16, Brief der Kommission an den Kaiser vom 18.7.1718. 18

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Reichsrepräsentanten sowohl bei der Bürgerschaft und – trotz vorheriger Misshelligkeiten – auch bei der Augsburger Obrigkeit genossen. Neben der Proklamation setzten die Lokalkommissare weitere Medien ein, um eine Eskalation zu vermeiden. Um nicht nur die reichsstädtische, sondern auch die überregionale Öffentlichkeit über die Vorgänge zu informieren, wurde die besagte Proklamation in einer leicht gekürzten Fassung zudem in einer Extraausgabe der kaiserlich privilegierten Augsburger Postzeitung vom 28.6.1718 publik gemacht.26 War mit der Zeitung ein breiter und überregionaler Adressatenkreis angesprochen, so bedienten sich Garb und die Lokalkommissare zusätzlich des Schriftmediums Brief, um den Augsburger Fürstbischof sowie benachbarte Reichsstände wie Bayern und Burgau über die Situation in Augsburg in Kenntnis zu setzen.27 Die Rechtsprechung selbst wiederum war ein Balanceakt zwischen innenpolitischer Stabilisierung und reichshofrätlicher Machtdemonstration. Um sich als unparteiische und ausgleichende Kraft zu präsentieren, musste die Lokalkommission ein für alle Seiten akzeptables Urteil fällen. Nach einem Briefwechsel mit dem Kaiser verzichtete man auf eine „Todesfurchteinjagung beim Pöbel“ und verhängte sowohl bei den verhafteten katholischen Demonstranten als auch den evangelischen Stadtgardisten, die für die tödlichen Schüsse verantwortlich waren, keine allzu harte Strafen.28 In jedem Fall war die erfolgreiche Friedensstiftung durch den Reichshofrat angesichts sich reichsweit verschärfender konfessioneller Spannungen um das Jahr 1720, dem deutschen Religionsstreit, von hoher symbolischer Bedeutung. Dass es – anders als bei der Fronleichnamsprozession rund hundert Jahre zuvor in Donauwörth – hier bei einem „Beinahe-Religionskrieg“29 blieb, ist nicht zuletzt dem erfolgreichen Krisenmanagement des Reichshofrats und seiner Kommissionen zu verdanken. 2.2 Der Reichshofrat in Wien■Die kaiserliche Gerichtsbarkeit konnte sich, wie gezeigt, über die Lokalkommissionen in der Region präsentieren und inszenieren. Doch wie war die Situation in Wien, wo der Reichshofrat normalerweise tagte? Zu dieser Frage wurde in der Abschlussdiskussion dieser Tagung darauf hingewiesen, dass der Reichshofrat – anders als andere europäische Höchstgerichte – über keinen repräsentativen Justizpalast verfügte und dass

■ 26 Vgl. HHStA, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 16. Brief Resident Garbs an Karl VI. Vom 4.7.1718, Lit. A. 27 Vgl. HHStA. Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 16. Brief Resident Garbs an Karl VI. vom 4.7.1718, Lit. C. 28 HHStA, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 17. Brief Karls VI. vom 8.10.1719. Einer der evangelischen Stadtgardisten wurde zu einer kurzen Haftstrafe, der andere zu einer Verbannung verurteilt. Die verhafteten katholischen Studenten wiederum wurden mit acht Tagen Karzer bei Wasser und Brot bestraft, da, so die Begründung, ihr Verstand und Experienz ohnehin noch nicht so weit reichten (HHStA, Reichskanzlei, Kleinere Reichsstände 17. Brief und Gutachten der Kommission vom 16.10.1719). 29 Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frühmodernen Reiches 1648– 1763 (Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte 11), Stuttgart 2006, S. 347.

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sogar sein Tagungsort weitgehend unbekannt ist. Inwieweit, so die zentrale Frage, war es dem Wiener Reichsgericht überhaupt möglich, sich durch Architektur, Objektmedien beziehungsweise symbolische Kommunikationsformen wie Rituale und Zeremonien darzustellen? Auch in diesem Punkt stellt die Regierungszeit Karls VI. eine Umbruchphase dar, da dem Reichshofrat wohl zum ersten Mal in seiner Geschichte eine Art Justizpalast gebaut wurde. So wurde vor dem Hintergrund eines Baubooms in der Kaiserstadt zwischen 1723 und 1730 der sogenannte Reichskanzleitrakt der Wiener Hofburg errichtet, zunächst unter Johann Lukas von Hildebrandt (1668–1745) und später Josef Emanuel Fischer von Erlach (1693–1742).30 Er beherbergte die Reichshofkanzlei und den Reichshofrat. Diese Baumaßnahme, für welche die Hofkammer und die Reichskanzlei zuständig waren, wurde in der Forschung sogar als „architektonisch ausgetragene[s] Prestigeduell um Einfluss, Macht und Ansehen“ zwischen Karl VI. und Friedrich Karl von Schönborn interpretiert.31 An dieser Stelle soll vor allem der Schönborn'sche Einfluss hervorgehoben werden. Er zeigt sich unter anderem an der Innengestaltung des Reichskanzleitrakts. Zu nennen ist etwa das von Konrad Adolph von Albrecht (1682–1751) konzipierte Deckenfresko des Hauptsaales, das Franz Matsche zufolge ein enges partnerschaftliches Verhältnis von Kaiser und Reich symbolisierte, wie es für die politischen Vorstellungen der Schörnborns kennzeichnend war.32 Außerdem sprechen zahlreiche Indizien dafür, dass der Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn Spiritus Rector des Bauprojekts war.33 Beispielsweise dokumentiert ein Brief des Mainzer Kurfürsten den maßgeblichen Einfluss des Reichsvizekanzlers auf den Bau und die Gestaltung dieses Gebäudeflügels.34 Hinzu kommen architektonische Indizien: Im obersten Stockwerk der Traktes wurde dem Reichsvizekanzler und seiner Familie eine geräumige

■ Vgl. Harry Kühnel, Die Hofburg zu Wien, Graz/Köln 1964, S. 48. Lothar Groß, Der Plan des älteren Fischer von Erlach zum Reichskanzleitrakt der Wiener Hofburg, in: Monatsblatt des Vereines für Geschichte der Stadt Wien 12 36/12 (1919). 31 Christian Benedik, Die Architektur als Sinnbild der reichsstaatlichen Stellung, in: Harm Klueting (Hg.), Das Reich und seine Territorialstaaten im 17. und 18. Jahrhundert. Aspekte des Mit-, Neben- und Gegeneinander (Historia profana et ecclesiastica 10), Münster 2004, S. 97–112, hier S. 109. 32 Zur Symbolik des Deckenfreskos vgl. Franz Matsche, Die Kunst im Dienst der Staatsidee Kaiser Karls VI. Ikonographie, Ikonologie und Programmatik des ,Kaiserstils‘ (Beiträge zur Kunstgeschichte 1), Berlin 1981, S. 44. 33 Vgl. HHStA, Mainzer Erzkanzlerarchiv (MEA), Reichskanzlei und Taxamt 44, Konvolut 1, Nr. 2. Brief Friedrich Karl von Schönborns an den Mainzer Kurfürsten aus Wien vom 10.12.1721. Darin klagt der Reichsvizekanzler über den Platznotstand. Insbesondere für die Judicial-Registratur sei kein Raum vorhanden, so dass die „acta von langen Jahren her, auff der Erden herumbliegen, und dahero nothwendig unordnungen und hindernissen im Justiz Weeßen bei länger unterbleibendener remedur entstehen müssten.“ 34 Vgl. HHStA, RHR, MEA, Reichskanzlei und Taxamt 45, Konvolut 8. Brief des Mainzer Kurfürsten an Reichsvizekanzer Schönborn vom 13.3.1728 (Entwurf). 30

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Wohnung zur Verfügung gestellt.35 Mit den Baumaßnahmen verfolgte Schönborn zwei Hauptziele: Erstens sollten Ansehen und Stellung der Reichskanzlei gesteigert werden,36 zweitens der Geschäftsgang am Reichshofrat durch eine effizientere Archivierung und Registratur beschleunigt werden. Zuvor sollen vor allem die Gerichtsakten unter zum Teil katastrophalen Bedingungen gelagert gewesen sein.37 Zur Finanzierung setzte der Reichsvizekanzler nicht zuletzt auf die Spendenbereitschaft der Reichsritterschaft und der Reichsstädte.38 Im Laufe der 1720er Jahre bat Friedrich Karl von Schönborn wiederholt um Beiträge und bezeichnete das Bauprojekt dabei reichspatriotisch als eine dem Ansehen und Nutzen „deß Gemeinen Vatterlands höchstnothwendige und angelegene Sache“39. Im Fall Augsburg verwies Schönborn zudem ausdrücklich auf die vielen reichsstädtischen Reichshofratsprozesse, die zu einer dramatischen Vermehrung an Prozessakten und damit auch zum Aufbau eines neuen Archivs geführt hätten.40 Die Reichsstädte tauschten sich ihrerseits über eine angemessene Beitragshöhe aus. Ein Blick auf das Korrespondenznetz belegt dabei einen Informationsaustausch Augsburgs mit schwäbischen Reichsstädten wie Ulm, Schwäbisch Hall, Biberach, Dinkelsbühl und Überlingen sowie mit weiter entfernten Städten wie Regensburg und Frankfurt.41 Zudem nützte man eigene Informationskanäle. So erfuhr der Augsburger Magistrat durch seinen Reichshofratsagenten Klerff, dass die Reichsstadt Nürnberg die vergleichsweise stattliche Summe von 2500 Gulden beigetragen hatte.42 Nicht wenige Magistrate dürften sich durch ihre Spendenbereitschaft Vorteile für zeitgleiche oder bevorstehende Reichshofratsprozesse versprochen haben. Als symbolische Gegenleistung war es den Spendern erlaubt, sich in den

■ Vgl. HHStA, MEA, Reichskanzlei und Taxamt 48, Konvolut 2. Zum Konkurrenzverhältnis beider Kanzleien vgl. Hugo Hantsch, Friedrich Karl Graf von Schönborn (1674–1746). Einige Kapitel zur politischen Geschichte Kaiser Josefs I. und Karls VI. (Salzburger Abhandlungen und Texte aus Wissenschaft und Kunst 2), Augsburg 1929, S. 172–182. 37 Vgl. HHStA, MEA, Reichskanzlei und Taxamt 49, Konvolut 6, Akten betreffend die bessere Unterbringung der Reichshofkanzlei-Registratur. Protestbrief der Geheimen Reichshofkanzlei-Registranten an den Mainzer Kurfürsten vom 27.3.1737. 38 Vgl. HHStA, MEA, Reichskanzlei und Taxamt 44, Konvolut 1, Nr. 2. Brief Friedrich Karl von Schönborns an den Mainzer Kurfürsten aus Wien vom 10.12.1721. Eher erfolglos war hingegen der Spendenaufruf an die italienischen Territorien. Vgl. Matthias Schnettger, ,Impero romano – Impero germanico‘. Italienische Perspektiven auf das Reich in der Frühen Neuzeit, in: Ders. (Hg.), Imperium Romanum – irregulare corpus. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Beiheft 57), Mainz 2002, S. 53–75, hier S. 61. 39 Stadtarchiv Augsburg (StadtAA), Reichsstadt Augsburg, Reichshofratsakten 2. Brief Friedrich Karl von Schönborns vom 19.3.1727. 40 StadtAA, Reichsstadt Augsburg, Reichshofratsakten 2. Brief Friedrich Karl von Schönborns an die Reichsstadt Augsburg vom 28.5.1722 (Kopie). 41 Vgl. die Korrespondenzen in StadtAA, Reichsstadt Augsburg, Reichshofratsakten 2. 42 Vgl. StadtAA, Reichsstadt Augsburg, Reichshofratsakten 2. Brief des Reichshofratsagenten Klerff vom 29.4.1722. 35 36

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Hallen der Reichskanzlei neben dem Bildnis des Kaisers zu verewigen, je nach Regierungsform entweder durch ein Porträt oder, wie im Falle der Reichsstädte, heraldisch.43 Die Region war also, um auf eine von Barbara StollbergRilinger gestellte Frage Bezug zu nehmen, durchaus in Wien symbolisch gegenwärtig.44 Festzuhalten ist: Der Reichshofrat tagte seit den 1720er Jahren in einem repräsentativen Gebäude. Verglichen mit anderen Höchstgerichten wie der spanischen Real Chancilleria in Granada45 ist aber von einer eher bescheidenen zeremoniellen Selbstinszenierung des Wiener Reichsgerichts auszugehen. Doch war der Reichshofrat überhaupt auf darauf angewiesen? 3. Der Reichshofrat im Spiegel der Reichspublizistik 3.1 Große Reichspublizistik■Wie beschrieben fehlte es dem Alten Reich im Allgemeinen und dem Reichshofrat im Besonderen lange Zeit an repräsentativen Bauten. Das war, fasst man die Thesen von Johannes Burkhardt zusammen, aber auch nicht notwendig, da sich das Reich vor allem über Schrift- und Druckmedien inszenierte.46 So betrachtet sind bereits die umfassenden Bestände reichshofrätlicher Gerichtsakten in reichsstädtischen Archiven ein Beleg für die Präsenz des Reiches in der Region. Von zentraler Bedeutung für die Inszenierung des Reiches waren nicht zuletzt Printpublikationen, die sich je Art und Umfang der „kleinen“ oder „großen“ Reichspublizistik zuordnen lassen.47 Was die große Reichspublizistik, also vor allem die juristischen Publikationen zum Reichshofrat betrifft, so findet sich für das 16. und 17. Jahrhundert nur eine einzige bedeutende Veröffentlichung: der ,Tractatus de Excellsissimo Consilio Caesareo-Imperiali Aulico‘ (1683/1700) – mit dem deutschen Untertitel ,Vom Kayserlichen Reichs-Hof-Rath‘ – des aus einer Frankfurter Gelehrtendynastie stammenden Reichshofrats Johann Christoph Uffenbach.48 Das Werk war ein ebenso umfangreiches wie viel rezipiertes Opus Magnum in Folio, eine Sammlung von enzyklopädischem Charakter. Verglichen mit dem Reichs-

■ Vgl. StadtAA, Reichsstadt Augsburg, Reichshofratsakten 2. Brief Friedrich Karl von Schönborns an die Reichsstadt Augsburg vom 6.3.1728 (Kopie). 44 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache im Alten Reich, München 2008, S. 285. 45 Vgl. dazu den Beitrag in diesem Band: Ignacio Czeguhn, Die Real Chancilleria und Audiencia von Granada – ihre Inszenierung und Bedeutung im 16. und 17. Jahrhundert. 46 Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung (wie Anm. 29), S.445–449. 47 Vgl. hierzu die Unterteilung bei Wolfgang E. J. Weber, Der südliche Ostseeraum im Spiegel der Reichspublizistik. Ein kulturhistorischer Versuch, in: Nils Jörn/Michael North (Hg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich (QFHG 35), Köln u.a., S. 473–536, hier S. 502, 534. 48 Vgl. Rudolf Jung, Uffenbach, Johann Friedrich von, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Bayerischen Staatsbibliothek (Hg.), Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Elektronische Version (http://daten.digitalesammlungen.de/bsb00008397/image_134, Stand: 01.02.2010) (= ADB, Bd. 39, Leipzig 1895, S. 132). 43

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kammergericht war der Reichshofrat hinsichtlich der Publikationen also deutlich unterrepräsentiert. Noch 1734 heißt es im bibliographischen Überblick der ,Nützliche[n] und Auserlesene[n] Arbeiten der Gelehrten im Reich‘, es gebe „nichts rareres“ als Schriften zum Reichshofratsprozess und die vorhandenen seien zu wenig praxisorientiert.49 Ähnlich sah es der ,Vater des Deutschen Staatsrechts‘ Johann Jacob Moser.50 Als Grund für die geringe Anzahl an Publikationen ist in der Forschung unter anderem die Scheu vieler Verfasser vor der prekären kaiserlich-hoheitlichen Materie des Reichshofratsrechts genannt worden.51 Auch in dieser Hinsicht ist das frühe 18. Jahrhundert eine Umbruchphase. So erschienen in den ersten vierzig Jahren dieses Säkulums mehr Publikationen zum Reichshofratsrecht als in den zwei Jahrhunderten zuvor. Zu nennen ist das ,Manuale Processus Imperialis‘ (1704/1730) des Johann Friedrich Cramer, eines zunächst in brandenburg-ansbachischen und später in preußischen Diensten stehenden Rechtsgelehrten.52 Aufzuführen ist ferner Franz Winand von Bertrams ,Breviculum Praxi Imperialis Aulicae‘ (1709), eine konzise Einführung in das Reichshofratsrecht auf Latein. Beim Verfasser handelte es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um den aus einer kurmainzischen Juristenfamilie stammenden Franz Winand von Bertram, der als Reichshofratsekretär, später dann als Geheimer Sekretär,53 mit der Materie bestens vertraut war. Der Reichshofratstürhüter Dominik Alphons von Weingarten brachte wiederum ein ,Verzeichnuß Derer ... die Agenten, Procuratoren und Partheyen Betreffenden Decretorum Communium‘ (1728) heraus.54 Damit ist Weingarten ein weiteres Beispiel für Angehörige des Reichshofrats, die sich der Verbrei-

■ 49 Vgl. Nützliche und Auserlesene Arbeiten der Gelehrten im Reich/das ist in Francken, Schwaben, Ober-Rhein, Bayern, Österreich, Böhmen und angräntzenden Orten, Bd. 3, Nürnberg 1734, S. 209. 50 Vgl. Johann Jacob Moser, Unpartheyische Urtheile von Juridisch- und Historischen Büchern, Bd. 5, Frankfurt/Leipzig 1724, S. 506. 51 Vgl. dazu Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 18), Aalen 1973, S. 39–41. 52 Vgl. Steffenhagen, Cramer, Johann Friedrich, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Bayerischen Staatsbibliothek (Hg.), Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Elektronische Version (http://daten.digitalesammlungen.de/bsb00008362/image_550, Stand: 01.04.2010) (= ADB, Bd. 4, Leipzig 1876, S. 548). 53 Vgl. Anton Ph. Brück, Bertram, Konstantin von, in: Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und der Bayerischen Staatsbibliothek (Hg.), Neue Deutsche Biographie (NDB), Elektronische Version (http://daten.digitalesammlungen.de/bsb00016318/image_190, Stand: 02.04.2010) (= NDB, Bd. 2, Berlin 1955, S. 170–171). Lothar Gross, Die Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806 (Inventare österreichischer staatlicher Archive 5,1), Wien 1933, S. 426–427. 54 Vgl. Dominik Adolph von Weingarten, Verzeichnuß Derer bey dem Kaiserl. höchst.preislichen Reichs-Hof-Rath Von dem Jahr 1613. bis ad Annum 1725 ergangenen/ Die Agenten, Procuratoren Und Partheyen Betreffenden Decretorum Communium, Wien 1728.

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tung von juridischem Wissen zur Reichsgerichtsbarkeit verschrieben hatten. Die erste auf Deutsch verfasste Einführung in das Reichshofratsrecht verfasste kein Geringerer als Johann Jacob Moser mit seiner vierbändigen Einleitung zu dem Reichs-Hof-Raths-Proceß‘ (1731–1737). Bereits zuvor hatte sich Moser in seinen ,Miscellanea Iuridico-Historica‘ (1729/30)55 mit diesem Thema befasst. Zudem hatte Moser in seiner achtbändigen Reihe ,Merckwürdige Reichs-HofRaths-Conclusa‘ (1725–1732) eine große Zahl an Reichshofrats-Conclusa herausgegeben, darunter viele aus reichsstädtischen Prozessen. Außerdem hatte er in mehreren Ausgaben seiner ,Reichs-Fama‘ (1727–1734) Beiträge zum Reichshofratsrecht, insbesondere Conclusa, Gutachten und Eingaben, publiziert. Dass diese Schriften nicht zuletzt reichspatriotisch motiviert waren und ohne Friedrich Karl von Schönborn nicht denkbar gewesen wären, zeigt beispielsweise die ausführliche Widmung für den Reichsvizekanzler im dritten Teil der Reichs-Fama.56 Neben weiteren Publikationen Mosers sind auch die erwähnten Schriften Bertrams und Weingartens entweder teilweise oder ausschließlich dem Reichsvizekanzler gewidmet. Daher ist anzunehmen, dass Schönborn nicht nur den Bau des Reichskanzleitrakts vorantrieb, sondern dass er auch der Motor dieser ,reichspublizistischen Offensive‘ im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts war. Die direkte oder indirekte Unterstützung durch den Reichsvizekanzler könnte auch der Grund gewesen sein, dass sich in dieser Phase derart viele Gelehrte an die hoheitliche Materie des Reichshofratsrechts wagten. 3.2 Kleine Reichspublizistik■Der Adressatenkreis juristischer Fachpublikationen zum Reichshofrat war zum größten Teil auf ein gebildetes Fachpublikum beschränkt. Anders die vielfältige und -seitige kleine Reichspublizistik, zu der neben Flugblättern und -schriften vor allem Zeitungen zählen. Letztere hatten, so die Ergebnisse der neueren Forschung, eine erstaunlich große Reichweite.57 In den Reichsstädten mit ihrem vergleichsweise hohen Bildungs- und Alphabetisierungsgrad dürften Zeitungen sogar eine überdurchschnittlich starke Rezeption erfahren haben.58 Zeitungen, so die hier vertretene These,

■ 55 Vgl. Johann Jacob Moser, Miscellanea Iuridico-Historica, Bd. 1, Frankfurt/Leipzig 1729, S. 48–58; Bd. 2, Frankfurt/Leipzig 1730, S. 588–683. 56 Vgl. Johann Jacob Moser, Reichs-Fama …, Bd. 3, Frankfurt/Leipzig 1729, Dedicatio und Vorrede. 57 Vgl. beispielhaft zur Breitenwirkung beziehungsweise dem Rezipientenkreis von Zeitungen Martin Welke, Russland in der deutschen Publizistik des 17. Jahrhunderts, in: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte (FOEG) 23 (1976), S. 105–276, hier S. 162–165. Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit. Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 103), Göttingen 1994, S. 171–172. Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, 2. Aufl., Köln u.a. 2008, S. 63–65. Johannes Weber, Straßburg 1605: Die Geburt der Zeitung, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 7 (2005), S. 3–26. 58 Vgl. Holger Böning, Weltaneignung durch ein neues Publikum. Zeitungen und Zeitschriften als Medientypen der Moderne, in: Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (Hg.),

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trugen entscheidend dazu bei, dass aus reichsstädtischen Reichshofratsprozessen Medienereignisse wurden. Dabei steht zunächst die Frage im Vordergrund, welches Bild in Zeitungen vom obersten Reichsgericht gezeichnet wurde. Besonders häufig nachweisbar sind Personalia. Zu den zahlreichen Meldungen über Berufungen, Entlassungen sowie Todes- und Krankheitsfälle von Reichshofratspersonal zählt beispielsweise die Nachricht von der Ernennung von Ernst Friedrich Graf von Windischgrätz zum neuen Reichshofratspräsidenten in der ,Wöchentlichen Relation‘ aus Halle vom 27.1.1714. Darin wurden sowohl die Vita wie auch die Verdienste des Gekürten ausführlich beschrieben.59 Die gleiche Zeitung hatte bereits am 7.1.1709 über die umstrittene Ernennung des Kemptener Fürstabts zum Reichshofratspräsidenten berichtet und dabei einen bemerkenswerten und ausführlichen Exkurs zur Entstehung, verfassungsrechtlichen Stellung sowie personellen Zusammensetzung des Reichshofrats beigefügt.60 Der Reichshofrat, so lässt sich grosso modo feststellen, erscheint in den untersuchten Zeitungen keinesfalls als willfähriges kaiserliches Machtinstrument oder als Bedrohung reichsständischer Libertät. Ganz im Gegenteil. In einigen Fällen wurden die personellen Verflechtungen und die Nähe zum Reich in Zeitungen hervorgehoben, ja regelrecht zelebriert. Besonders großes Aufsehen erregte die Berufung des renommierten protestantischen Wittenberger Juraprofessors Johann Balthasar Werner zum Reichshofrat, die in der ,Frankfurter Oberpostamts-Zeitung‘ vom 17.9.1729 ausführlich und – auch das ist keine Seltenheit – als erste Meldung beschrieben wurde: „Wien, vom 7. Septembr. Den 15. dieses gegen 10. Uhr Vormittags hatten auf allergnädigst Befehl Der Herrn Obrist-Hofmeister Herrn Grafen Rudolph von Sintzendorf Excell. Sich in der Dero mit 6. Pferden bespannten in dem Graf [K]aunitzischen Haus auf der Freyung haltenden höchst-preißlichen Kayserl. Reichs-Hof-Raths-Collegium verfüget, und in selbiges den unter dem 30. Martii letzthin von Wittenberg aus Sachsen anhero berufenen und vor wenigen Tagen dahier angekommenen ... Königl. Polnisch- und Chursächsischen Hofund ... Rath des Wittenbergisch-Geistlichen Consistorii Directorium ... Herrn Johann Balthasar Werner, als unter die Zahl deren der Augspurgischen

■ Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (Historische Zeitschrift Beihefte, Neue Folge 41), München 2005, S. 105–134. Ders., Zeitung und Aufklärung, in: Martin Welke/Jürgen Wilke (Hg.), 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext (Presse und Geschichte – neue Beiträge 22), Bremen 2008, S. 287–310. 59 Vgl. Staats- und Universitätsbibliothek Bremen (SuUB), Mikrofilmarchiv, Ja 2454/1. 60 Siehe SuUB, Ja 2454/1. Beim besagten Fürstabt handelte es sich um Rupert Freiherr von Bodmann, der seine Stelle aufgrund der Kritik der protestantischen Reichsstände aber nie antrat und schließlich 1713 offiziell darauf verzichtete. Vgl. Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1970 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich 33), Wien 1942, S. 369–370.

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Glaubens-Bekanntnuß zuthanen allergnädigst neuangenommenen würcklichen Reichs-Hof-Rath von der Gelehrten Banck gewöhnlicher massen eingeführt, und in die Eydespflicht nehmen lassen.“61 Die ,Kurtz gefassten Historischen Nachrichten‘ aus Regensburg widmeten diesem Ereignis sogar drei ausführliche Berichte.62 So wurden die Festlichkeiten und ständeübergreifenden Ehrenbezeugungen beim Auszug Werners aus Wittenberg ebenso minutiös wie anschaulich geschildert. Unter anderem hieß es, dass „dieser Abzug einer der solennesten gewesen, als wohl bey MenschenGedencken in dergleichen Fällen daselbst geschen seyn mag.“63.Der Auszug war zudem ein Ereignis, bei dem Angehörigen aller Stände die Bedeutung dieses Ereignisses und die Nähe zum Reich vor Augen geführt wurde. So berichteten die besagten ,Kurtz gefassten Historischen Nachrichten‘, dass „hochgedachter Herr Reichs-Hof-Rath, vor dessen mit 6 Post-Pferden bespanneten Carosse der dasige Stallmeister, nebst seinen Scholaren, geritten, nicht allein von dem jetzigen Rectore Magnifico, Doctor Mencken, und fast sämtlichen Professoribus, sondern auch von denen daselbst studirenden Grafen, Baronen und anderen vornehmen Personen beyderley Geschlechts, in etlichen 20 Kutschen biß an den Luther-Brunnen begleitet, und daselbst von einigen Personen des Stadt-Magistrats empfangen worden [war], allwo nicht weniger auch eine ziemliche Anzahl der Bürgerschafft sich befunden, und in 2. Reyhen gestellet, der Zeug-Lieutnant hingegen, bey der Ankunfft und Zeit währender Einnehmung der auf dem Saal des Luther-Brunnens aufgesetzte Erfrischungen an Wein und Confect, biß zu der Abreise unter Zulauff einer grossen Menge Volckes, vermittelst eines kleinen Feuer-Wercks und Salven, mit vermischter Instrumental-Music, obgedachtem Herren Reichs-Hof-Rath zu Ehren, die sämtliche Anwesende vergnüget hat.“64 Die Passage ist ein somit ein eindrucksvolles Beispiel für die Inszenierung des Alten Reichs in den zeitgenössischen Zeitungen. Betrachtet man das Medienecho auf reichsstädtische Reichshofratsprozesse, so lässt sich eine Kernbotschaft bei der Darstellung der kaiserlichen Gerichtsbarkeit herausdestillieren: In der Regel wurde der Reichshofrat als machtvolle, effiziente und friedenssichernde Instanz beschrieben. Das Gros der Zeitungen betonte, dass das Reichsgericht in der Regel zügig, unparteiisch und entschlossen Recht sprach und besonders in den Reichsstädten gravierende Missstände beseitigte. Beispielhaft dafür steht die Meldung in der ,Wöchentlichen Relation‘ aus Halle vom 24.1.1733: „Die Streitigkeiten des Magistrats der in Schwaben gelegenem freyen ReichsStadt Bieberach mit der Bürgerschaft daselbst sind nunmehro dahin gediehen, daß, weil der Rath die Bürger eines erregten Tumults beschuldigt hat, ein

■ SuUB, Ja 2220/2. SuUB, Ja 2342/2, Nr. XXXV, XXXVII, XXXVIII. 63 SuUB, Ja 2342/2, Nr. XXXV. 64 Ebenda. 61 62

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Kayserl. Rescript an das Schwäbische Creiß-ausschreibende Amt ergangen ist, eine Commission, nebst behöriger Mannschaft, dahin abzusenden, und die Sache gründlich zu untersuchen, dem zu folge auch würcklich 500 Mann regulirter Trouppen, nebst denen subdelegirten Herren Commissariis, zu gedachtem Bieberach eingerücket sind.“65 Ein ähnliches Bild zeichneten etwa die erwähnten ,Kurtz gefassten Historischen Nachrichten‘ aus dem Jahr 1733 in ihrem Bericht über die Ereignisse in Biberach: „Wegen derer in der Schwäbischen Reichs-Stadt Biberach zwischen dem Magistrat und der Bürgerschafft entstandenen Mißhelligkeiten ist auf das von Ihro Kayserl. Majestät an das Schwäbische Creyß-Ausschreib-Amt ergangene Rescript letztlich am 23. passato eine ansehnliche Commission mit 500. Mann regulirten Trouppen einmarschiret, um die vom Magistrat wider die Burgerschaft eingeklagten Sachen gründlich und baldigst zu untersuchen, und selbige beyzulegen.“66 Hier wird von einer gründlichen und baldigen Untersuchung der Vorgänge durch die Kommission berichtet; gleichzeitig wird mit der Formulierung von einer „ansehnliche[n] Commission mit 500. Mann regulirten Trouppen“ die Durchsetzungsfähigkeit der Reichsgerichtsbarkeit akzentuiert. Von dieser über die Reichskreise erfolgreich ausgeübten Exekutivgewalt ist auch an anderer Stelle zu lesen, so in der Münchner ,Mercurii Relation‘ vom 21.2.1733, ebenfalls mit Bezug zu den Ereignissen in Biberach.67 In dieser Meldung wird auch davon berichtet, dass die Lokalkommission angeblich zugunsten der Biberacher Bürger und gegen den Magistrat entscheiden werde.68 Ganz ähnlich wurden die Entwicklungen in der Wöchentlichen Relation vom 21.2.1733 dargestellt: „Die in der Schwäbischen Reichs-Stadt Biebrach mit 500 Mann sich befindende Kayserl. subdelegirte Commission fährt zwar annoch fort, den von dem Magistrat wider die klagende Burgerschaft angegebenen Punct eines erregten Aufruhr auf das genaueste zu untersuchen; indessen soll sich schon zum voraus zeigen, daß, obwol die Bürger sich zu anfangs geweigert, die ordentliche Abgaben und die Erneuerung des Bürger-Eides zu leisten, dennoch, da sie sich bald hierauf eines bessern wieder besonnen, solches ihr Verfahren für einen Aufruhr nicht eigentlich anzusehen sey. Dagegen man den Magistrat beschuldigen will, als suche derselbe nur durch diesen Neben-Punct die Haupt-Sache aufzuhalten, oder derselben gar aus dem Wege zu gehen, um also eine LocalCommißion, und die damit verknüpfte Untersuchung der bishero geführten Wirthschaft, zu vermeiden ...“.69

■ SuUB, Ja 2454/5. SuUB, Ja 2342/5, Nr. IV. 67 Vgl. SuUB, Ja 2463/11. 68 Vgl. ebenda. 69 SuUB, Ja 2454/5. 65 66

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Dieser Meldung zufolge stand die Lokalkommission also auf der Seite der protestierenden Biberacher Bürgerschaft: Deren ungehorsames Verhalten wurde nicht als „Aufruhr“ betrachtet, die diesbezüglichen Anschuldigen des Magistrats wurden dagegen als Ablenkungsmanöver interpretiert. Was sich hier offenbart, ist eine tendenziell magistratskritische Berichterstattung, die, wie sich im Folgenden zeigen wird, für viele Zeitungen charakteristisch ist. Es muss kaum betont werden, dass nicht alle Zeitungen in gleicher Häufigkeit und in der gleicher Weise über die reichsstädtischen Konflikte berichteten. Wenig verwunderlich ist es, dass die Reichshofratsprozesse in Zeitungen reichsstädtischer Provenienz weniger stark reflektiert wurden, zumal dort, wie in Nürnberg70, von entsprechenden Zensurmaßnahmen auszugehen ist.71 In Zeitungen anderer Territorien wurde dagegen auffallend häufig darüber berichtet, wenn der Reichshofrat oder eine seiner Kommissionen eine reichsstädtische Obrigkeit abgestraft hatte. So hieß es in der ,Wöchentlichen Relation‘ aus Halle am 9.1.1717, dass der Frankfurter Magistrat gezwungen worden war, bürgerschaftlichen Vertretern die Rechnungsbücher der letzten 100 Jahre zur Überprüfung zur Prüfung vorzulegen: „Die Bürgerschaft zu Franckfurt am Mayn hat wegen der bekannten Streitigkeiten mit dem Rath ein allergnädigstes Kays. Decret gegen denselben erhalten, Kraft welches gedachtem Magistrat anbefohlen worden, von hundert Jahren her die Rechnungen und Bücher von der Einnahme und Ausgabe der Stadt Revenuen, der Bürgerschaft vorzuzeigen und zu justificieren.“72 Dies war insofern eine Entscheidung mit Symbolcharakter, als zahlreiche Bürgerschaften derartige Forderungen nach einem Einblick in die reichsstädtischen Arcana Imperii erhoben. Bemerkenswert ist, dass nicht nur die Reichshofratsprozesse größerer Reichstädte wie Frankfurt, dem eine besondere politische, wirtschaftliche und symbolische Bedeutung zukam, einen Widerhall fanden, sondern auch die kleinerer Orte wie Dinkelsbühl. Im ,Hildesheimer Relations-Courier‘ vom 7.8.1726 hieß es dazu: „Beym Reichs-Hof-Rath zu Wien ist ein hartes Conclusum wider die ReichsStadt Dünckelspiel abgefasset worden. Es hat nemlich die Bürgerschaft alda, schon seit etlichen Jahren, wider ihren Magistrat verschiedene Beschwerden gebracht, so, daß eine Kayserl. Commission, zu Untersuchung dieser Sache daselbst angestelt, werden müsse. Da nun der Magistrat für schuldig befunden worden; so hat ihm der Reich-Hof-Rath nicht allein condemniret, verschiedenes zu restituiren, sondern auch die bisherige Regierungs-Form und Oberkeit-

■ 70 Vgl. die von der Nürnberger Obrigkeit angeordneten Befragungen des Zeitungsdruckers Endter 1723. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Rep. 26/2, Nr. 104. Ratsverlass vom 17.6.1723. 71 Vgl. Elger Blühm, Deutscher Fürstenstaat und Presse im 17. Jahrhundert, in: Ders./Jörn Garber/Klaus Garber (Hg.), Hof, Staat und Gesellschaft in der Literatur des 17. Jahrhunderts (Daphnis 11, Heft 1–2), Amsterdam 1982, S. 304. 72 SuUB, Ja 2454/2.

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liche Gewalt übern Hauffen geworffen, und die Sachen auf einen gantz andern Fuß gesetzet.“73 Diese Meldung ist an Deutlichkeit kaum zu überbieten. Immerhin ist hier die Rede davon, dass der Magistrat für schuldig befunden und die bisherige Regierungsform vom Reichshofrat „übern Hauffen geworffen“ worden sei. Die Konflikte in Dinkelsbühl stehen geradezu stellvertretend für das harte Durchgreifen des Reichshofrats bei obrigkeitlichem Versagen. Sogar die ,Frankfurter Oberpostamts-Zeitung‘, in der ansonsten kaum Nachrichten von reichsstädtischen Ereignissen zu finden sind, druckte eine Meldung über den Dinkelsbühler Reichshofratsprozess. Am 17.9.1729 wurde beispielsweise von einer scharfen „Lection“ der Lokalkommission gegen den Magistrat berichtet: „Regenspurg vom 30. Augusti. Man siehet alhier eine gedruckte Nachricht, wie die wegen der Streitigkeiten zwischen Magistrat und Bürgerschaft zu Dünckelspiel angeordnete Kayserl. [C]ommission schon am 11. Julii alda eingerücket sey; und bald Anfang dem Magistrat eine scharfe Lection [g]elesen; nicht weniger demselben alle Einnahme und Ausgabe genommen; ferner die Ehren-Aemter theils mit anderen Männern besetzet, theils ihnen noch 16. Personen von beyden Religionen zugeordnet, und das Stadt-Wesen in ganz anderm Stand gesetzt habe.“74 Dass der Fall Dinkelsbühl exemplarisch für das Vorgehen des Wiener Reichsgerichts bei reichsstädtischen Konflikten stand, betonte auch die ,Wöchentliche Relation‘ aus Halle in einer Meldung vom 20.9.1727: „Wider den Magistrat zu Nürnberg sind bey dem Reichs-Hof-Rath neue Beschwehrden angebracht worden, so demselben nächstens zur Verantwortung communiciret werden sollen. Und weil von verschiedenen Reich-Städten immer neue Klagen beym Reich Hof-Rath einlauffen; so haben I. Kays. Maj. Allergnäd. anbefohlen, man möchte doch die Sachen mit Nachdruck untersuchen, damit denen gedruckten Bürgern Recht wiederfuhre, und sie einmal Klag loß gestellet würden, denn das Exempel von Dinkelspiel wäre noch in frischem Andencken, wie man aldort verfahren hätte.“75 Hier wird nicht nur von einer Welle reichsstädtischer Reichshofratsprozesse berichtet, sondern zudem davon, dass der Kaiser selbst auf der Seite der unterdrückten Bürger stehe – eine Darstellung, die zweifelsohne motivierend auf unzufriedene reichsstädtische Kläger im ganzen Reich gewirkt haben dürfte. Zugleich werden in der Nachricht Parallelen zwischen den Dinkelsbühler und den Nürnberger Reichshofratsprozessen hergestellt. Dabei finden sich gerade zu den Nürnberger Reichshofratsprozessen besonders viele Meldungen, in den frühen 1720er und später in den frühen 1730er Jahren, also jeweils in den Hochphasen der am Reichshofrat ausgetragenen innerstädtischen Konflikte.

■ SuUB, Ja 2433/6. SuUB, Ja 2220/2. 75 SuUB, Ja 2454/4. 73 74

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Sogar niederländische76 und französische Zeitungsmeldungen lassen sich nachweisen: So ist im Archiv des Nürnberger Magistrats folgende Abschrift aus dem Jahr 1723 zu finden: „De Ratisbonne le 2 Juillet. Il s'est élevé un grand different entre le Magistrat et la Bourgeoisie de Nurenberg au sujet de l'augmentation des Taxes, dont les habitans se pleignent, pretendant, que ces nouvelles charges ont été etablies sans aucune necessité, et qu'ils ne sont plus en état de les suporter: Surquoi la Bourgeoisie s'est adressée à la Cour Imperiale pour obtenir une Commission, afin d'examiner leurs Griefs et les rétablir dans le Privilege d'assister à la redition des Comptes de la Ville, dont on les a exclus depuis quelque tems [sic!]; ce qui leur a été accordé par l'Empereur, non obstant les oppositiones du Magistrat.“77 Dass der Nürnberger Reichshofratsprozesse einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte, veranschaulicht zudem eine eher beiläufige Formulierung in der ,Wöchentlichen Relation‘ vom 26.4.1735: Ohne nähere Erläuterung wurde hier von einem Urteil in der „bekannten Nürnberg. Streitigkeit“78 berichtet. Der Grund für die zahlreichen Meldungen über die reichsstädtischen Konflikte beziehungsweise die damit verbundenen Reichshofratsprozesse dürfte in ihrem Skandalcharakter liegen. Dies gilt vor allem für Ereignisse wie Tumulte oder Truppeneinmärsche in Städten wie Biberach. Aber auch die vielen harten Urteile des Reichshofrats beziehungsweise seiner Kommissionen, bei denen Magistrate wie in Dinkelsbühl, Frankfurt oder Nürnberg abgestraft oder gar teilentmachtet wurden, hatten einen hohen Unterhaltungs- und Verkaufswert. Anders formuliert: Es waren Meldungen über Konflikte und Normverstöße79, die ein breites öffentliches Interesse hervorriefen. Hier zeigt sich, dass es in dieser Phase vor allem die Marktmechanismen eines unabhängigen publizistischen Mediensystems waren80, welche die Nachrichtenauswahl und damit den Informationsfluss innerhalb des Reiches regelten. Auch im internen Briefverkehr zwischen dem Nürnberger Magistrat und seinen Vertretern in Wien wurde auf den hohen Verkaufswert derartiger Berichte verwiesen.81 Gerade die hilflos anmutenden Reaktionen der Nürnberger Obrigkeit sind dabei Belege für die mitunter große Reichweite magistratskritischer Zeitungsmeldungen. Einzelne Zeitungen wie das ,Wiener Blättlein‘ konnten nach Einschätzung der Nürnberger Obrigkeit den Ruf der reichsstädtischen Obrigkeit sogar im ganzen Reich schwer beschädigen. So heißt es im Gutachten eines Nürnberger Ratskonsulenten aus dem Jahr 1723:

■ Vgl. StAN, Reichstadt Nürnberg, Rep. 26/2, Nr. 100. StAN, Reichstadt Nürnberg, Rep. 26/2, Nr. 132. 78 SuUB, Ja 2454/5. 79 Vgl. grundlegend Johannes Arndt, Gab es im frühmodernen Heiligen Römischen Reich ein ,Mediensystem der Publizistik‘? Einige systemtheoretische Überlegungen, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 6 (2004), S. 74–102. 80 Vgl. Arndt, Mediensystem der Publizistik (wie Anm. 79). 81 Vgl. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Rep. 26/3, Nr. 39. Brief Senfts vom 5.2.1724. 76 77

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„Gleichwie uns aber nicht allein sehr zu Gemüth dringt, d[ass] wir auf solche boshaffte und ungegründete Weiß nicht allein fast im ganzen Röm. Reich diffamieret, sondern auch, d[ass] diese Zeitung unter unsere Burgerschaft herumgehen ... und diesselbe hierdurch nur zur Entziehung des schuldigen Respects, liebe und Vertrauens verleitet werden solle.“82 Deutlicher könnte man kaum zum Ausdruck bringen, dass die Zeitungen entscheidend zur Entstehung einer kritischen Öffentlichkeit innerhalb der Reichsstädte beitrugen und dass Reichshofratsprozesse zu medialen Ereignissen von bemerkenswerter Tragweite werden konnten. 4. Medienstrategien der Prozessparteien■Das Beispiel Nürnberg im Hinblick auf die frühmoderne Öffentlichkeitsarbeit von Prozessparteien ist auch deswegen bemerkenswert, weil sich im Archiv des sogenannten Handelsvorstands – der Institution, von der aus die Kaufleute ihren Protest und den Reichshofratsprozess organisierten – zahlreiche Abschriften von Zeitungsmeldungen finden.83 Sie belegen, dass die Handelsleute sowohl über die eigenen Reichshofratsverfahren als auch die Prozesse anderer Reichsstädte bestens informiert waren. Darüber hinaus gibt es hier Hinweise darauf, dass die Kläger das Medium Zeitung auch als Publikationsforum zu instrumentalisieren verstanden. So findet sich in der ,Wöchentlichen Relation‘ im Mai und Juni 1731, aufgeteilt auf mehrere Ausgaben, ein magistratskritisches Memorial der Nürnberger Handelsleute.84 Die Kaufleute konnten so ihre Forderungen und ihre Kritik vor einem breiten überregionalen Publikum kundtun. Dass klagende Untertanen in Zeitungen Gehör fanden, ist auch aus anderen Konflikten bekannt.85 Beispielsweise hatte der Mühlhausener Bürgerdeputierte Sander 1728 die Nachricht von einem für die Mühlhausener Bürgerschaft günstigen Reichshofratsurteil angeblich „in die Zeitung sezen lassen, um, wie seine Sage war, andern R[eichs]Städtischen Bürgern einen desto größeren Muth zu machen, daß sie seinem Exempel nachfolgen möchten.“86 Ein derartiges Vorgehen deutet darauf hin, dass reichsstädtische Bürger über eine beachtliche Medienkompetenz verfügten und diese auch im Sinne einer gezielten ,Öffentlichkeitsarbeit‘ einzusetzen verstanden. Um der eigenen Protesthaltung Ausdruck zu verleihen, waren jedoch keinesfalls immer Schriftoder Druckmedien erforderlich. Hierzu genügte beispielsweise auch „negative Kommunikation“87 wie das unentschuldigte Nichterscheinen beim alljährli-

■ 82 Vgl. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Rep. 26/2, Nr. 89. Bedenken des Konsulenten Scheurl vom 6.6.1723. 83 Vgl. beispielhaft Stadtarchiv Nürnberg (StadtAN), E 8, Nr. 4895, Nr. 18 und 20. 84 Vgl. SuUB, Ja 2454/5. 85 Vgl. beispielsweise Würgler, Unruhen und Öffentlichkeit (wie Anm. 6), S. 214. 86 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Rep. 26/5, Nr. 125. Brief Senfts vom 20.12.1728. 87 Siehe hier die Ausführungen zur negativen Kommunikation am Beispiel von Krönungszügen: Heinz Duchhardt, Krönungszüge. Ein Versuch zur ,negativen Kommunikation‘, in: Ders./Gert Melville (Hg.), Im Spannungsfeld von Recht und Ritual. Soziale Kom-

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chen Ablegen des Steuer- und Bürgereids. Darüber hinaus konnten selbst Nuancen der Performanz, also mit welcher Körperhaltung oder Konzentration die Bürger den Eid ablegten, Zeichen einer Protesthaltung sein.88 Zu den häufigsten Methoden, kritische Öffentlichkeiten zu schaffen, gehörte die Verbreitung obrigkeitskritischer Flugschriften. Gerade im Umfeld von Reichshofratsprozessen war dieses Vorgehen üblich, wie das Beispiel Nürnbergs zeigt. Mitunter wurden Gerüchte, die zuvor auf mündlichem Wege verbreitet worden waren, aufgegriffen und einem überregionalen Publikum bekannt gemacht. In einem gegen die Nürnberger Obrigkeit gerichteten Pamphlet wurde beispielsweise behauptet, dass einige der „ärmsten Wittwen und Handwercks-Leuten, aus Mangel an anderen Mitteln, so gar die Haar vom Kopff schneiden und verkauffen“ mussten, um die horrenden Steuern in Nürnberg entrichten zu können.89 Dies ist insofern erstaunlich, als das Gerücht in ähnlicher Form bereits Jahre zuvor zur Delegitimierung der Magistratsherrschaft verbreitet worden war.90 Der Befund entspricht damit jenen Untersuchungen, nach denen Gerüchteverbreitung eine ebenso einfache wie effiziente Widerstandsform war, mit der die jeweilige Obrigkeit diskreditiert und der eigene Protest legitimiert werden konnte.91 Dagegen versuchte die Nürnberger Obrigkeit vor allem mit traditionellen „Herrschermedien“92 ihren Machtanspruch zu sichern, und die Meinungshoheit auf lokaler, überregionaler und reichsweiter Ebene zu behaupten. Das Verbrennen von Schmähschriften ist ein Beispiel für dieses Vorgehen. Ein Vorgehen, das – wie Beispiele auch aus anderen Reichsterritorien wie dem Herzogtum Württemberg zeigen93 – nicht nur wirkungslos, sondern oft sogar kontraproduktiv war. So erregte die öffentliche Verbrennung einer Schmähschrift Anfang 1718 eher das Interesse als, wie beabsichtigt, die Abscheu der Nürnberger Bürger. Anstatt, wie gefordert, gegen das Pasquill vorzugehen, sei das Stück in der Bürgerschaft, wie der Nürnberger Magistrat beklagte, „verschiedentlich

■ munikation in Mittelalter und Früher Neuzeit (Norm und Struktur 7), Köln 1997, S. 291– 303. 88 Vgl. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Differentialakten, Rep. 4, Nr. 843, Residentenangelegenheiten, Nr. 33. Bericht des Bürgeramts über das Losungschwören vom 3.3.1718. 89 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Nürnberger Druckschriften, Rep. 56, Nr. 445, S. 37. 90 Vgl. StAN, Reichsstadt Nürnberg, Rep. 26/2, Nr. 105. Extrakt eines Schreibens vom 16.6.1723. 91 Vgl. beispielhaft Andreas Würgler, Fama und Rumor. Gerücht, Aufruhr und Presse im Ancien Régime, in: Werkstatt Geschichte 15 (1996), S. 20–32. Michaela Hohkamp, Gerücht, in: Friedrich Jaeger (Hg.), Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 4, Stuttgart/Weimar 2006, Sp. 570. 92 Vgl. zum Begriff Herrschermedien: Harm von Seggern, Herrschermedien im Spätmittelalter. Studien zur Informationsübermittlung im burgundischen Staat unter Karl dem Kühnen (Kieler Historische Studien 41), Ostfildern 2003, S. 23. 93 Vgl. Andreas Gestrich, Schandzettel gegen die Obrigkeit. Pasquillen als Mittel der Obrigkeitskritik in der Frühen Neuzeit, in: Otto Borst/Haus der Geschichte Baden-Württemberg (Hg.), Südwestdeutschland – die Wiege der deutschen Demokratie (Stuttgarter Symposion 5), Tübingen 1997, S. 43–57.

Reichsstädtische Reichshofratsprozesse als mediale Ereignisse

abgeschrieben, verkäufflich außgegeben und herumgetragen, und hier und dar divulgiert worden“.94 Auch waren nur wenige Bürger bereit, Pasquillanten an den Magistrat zu verraten. Insgesamt wirken die Versuche der Nürnberger Obrigkeit, die Verbreitung von Schmähschriften zu unterbinden, eher hilflos. Mit welcher Effizienz die protestierenden Kaufleute auf der anderen Seite ihre Medienkampagne gegen den Magistrat führten, zeigt auch ein Reichshofratsprotokoll aus dem Jahr 1732: Darin ist das Zusammentreffen zwischen Vertretern des Nürnberger Magistrats und der Handelsleute im Rahmen einer sogenannten Hofkommission festgehalten.95 Solche mündlichen Verfahren waren am Wiener Reichsgericht eher unüblich. Interessant ist diese Verhandlung weniger, weil sie, wie zu erwarten war, in feindseliger Atmosphäre und ergebnislos geführt wurde, sondern weil statt über Prozessinhalte über die Form des Konfliktaustrags selbst debattiert wurde. Die Magistratspartei warf den Handelsleuten dabei vor, eine gezielte und großflächige Medienkampagne – vor allem mit Hilfe zahlreicher und überregional kursierender „brochuren und piecen“ – gegen die Obrigkeit gestartet zu haben.96 Als Beweis reichten die Magistratsvertreter unter anderem eine Liste verleumderischer Passagen ein, in denen das Nürnberger Ratsregiment unter anderem als eine auf dem Boden „des freyen teutsche[n] Vatterlandes“ nicht zu ertragende „Mißgeburt“ bezeichnet wurde.97 Der zentrale Vorwurf der Nürnberger Obrigkeit lautete daher, die Kaufleute hätten Prozessschriften mit zum Teil vertraulichem Inhalt gezielt veröffentlicht, um das Verfahren weithin bekannt zu machen und den Magistrat zu diffamieren.98 Mit den Worten der Kläger formuliert: Die Kampagne sei auf „Instruction und Suggestion, auch mit Vorwissen“ der Kaufleute geschehen.99 Oder mit den Worten des Titels dieses Beitrags: Der Magistrat beschuldigte seinen Gegner, den Prozess zu einem Medienereignis gemacht zu haben. 5. Fazit■Die reichsstädtischen Reichshofratsprozesse waren Motor eines sich beschleunigenden Verrechtlichungsprozesses im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Dabei entfalteten die Prozesse als mediale Ereignisse ein erstaunliches Modernisierungspotential. Bei allen Beteiligten – vom Reichshofrat über die Magistrate bis hin zu den Bürgern – lassen sich Vorformen einer gezielten Öffentlichkeitsarbeit nachweisen. Beispielsweise war der zielgruppenspezifische Medieneinsatz die entscheidende Voraussetzung dafür, dass die Reichs-

■ 94 StAN, Reichsstadt Nürnberg, Rep. 63a, Nürnberger Mandate, Band O, Nr. 143. Ratsverlass vom 14.1.1718. 95 Vgl. StadtAN, E 8, 4890. ,Protokollum Commissionis in Sachen zu Nürnberg MarktsVorsteher und Handelsleuthe contra den Magistrat daselbst die Loßungs-Sache betreffend‘ (Kopie) vom 29.5.1732. 96 Ebenda. 97 Ebenda. 98 Ebenda. 99 Ebenda.

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hofratskommission die Konfessionsunruhen in Augsburg 1718 erfolgreich eindämmen und eine Ausweitung der Konfliktzone verhindern konnte. Zwar blieben mündliche und symbolische Kommunikationsformen gerade auf regionaler Ebene weiterhin wichtig, doch gewannen insbesondere Schrift- und vor allem Druckmedien in dieser Phase stark an Bedeutung. So kam es im Zuge der Prozesse zu einer vermehrten Ordnung, Sammlung und Publikation von juridischem und administrativem Wissen. Vor allem Reichsvizekanzler Friedrich Karl von Schönborn trieb diese Entwicklung voran: einerseits durch die Errichtung und die Modernisierung des Reichsarchivs in Wien, andererseits indem er Publikationen zum Reichshofratsrecht wie die von Johann Jacob Moser förderte. Mit anderen Worten: Gerade im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts inszenierte sich das „Reich der Schriftlichkeit“100 massiv in der großen ebenso wie in der kleinen Reichspublizistik. Hervorzuheben ist dabei die Rolle der zeitgenössischen Zeitungen, die prozessrelevante Meldungen einem überregionalen Publikum bekanntmachten. Vor allem aufgrund ihres Skandalcharakters fanden auch die Reichshofratsprozesse kleinerer Reichsstädte wie Biberach oder Dinkelsbühl einen Widerhall in den Zeitungen. Mit ihrer Berichterstattung leisteten Zeitungen einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Inszenierung der kaiserlichen Reichsgerichtsbarkeit und damit zur Aufrechterhaltung des Reichs. Zugleich ermöglichten sie die Entstehung informierter und kritischer Öffentlichkeit in den Reichsstädten, indem sie einem reichsstädtischen Publikum „Weltorientierung“101 in politischen und juristischen Angelegenheiten gaben. Wie das Beispiel Nürnbergs zeigt, verfügten klagende Bürger über eine erstaunliche Medienkompetenz und trugen mit ihren obrigkeitskritischen Kampagnen entscheidend dazu bei, dass aus reichsstädtischen Reichshofratsprozessen Medienereignisse von überregionaler Bedeutung werden konnten.

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Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung (wie Anm. 29), S. 458. Böning, Zeitung und Aufklärung (wie Anm. 58), S. 306.

„Aus dem Munde gefallen“. Reichskammergerichts-Zeugenverhöre

■Matthias Bähr■„Aus dem Munde gefallen“. Reichskammergerichts-Zeugenverhöre – eine Quellenkritik■ReichskammergerichtsZeugenverhöre sind in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Forschung gerückt. Winfried Schulze, Ralf-Peter Fuchs und Alexander Schunka haben aus den Verhörprotokollen, die in den Prozessakten überliefert sind, eine Reihe gesellschaftlich vermittelter Wissensbestände herausgeschält, die Rückschlüsse darauf zulassen, wie sich der „Gemeine Mann“ in Stadt und Land1 ein Bild von der Welt machte:2 In RKG-Zeugenverhören scheint das „soziale Wissen“ der Akteure auf – Wissen um Herrschaft und Krieg, Raum und Zeit, Alter und Krankheit. 3 Auf den ersten Blick verwundert dieser Befund. Schon bei oberflächlicher Durchsicht drängt sich die elitäre Überformung der Protokolle regelrecht auf. Ganze Verhöre kommen mit der kargen Aneinanderreihung von „nescit“, „negat“, „affirmat“ und „similter“ aus. Ralf-Peter Fuchs hätte sich also durchaus pointierter ausdrücken können, wenn er schreibt, man könne „wohl nicht ausschließen, dass die Aussagen hin und wieder in gekürzter Form notiert wurden.“4 Protokolle von „artikulierten“ Verhören waren immer auch das Werk gelehrter Juristen oder zumindest rechtskundiger Schreiber,5 und das ■ 1 Zum „Gemeinen Mann“, der als Chiffre alle nicht herrschaftsfähigen Gruppen in Stadt und Land bezeichnet, vgl. knapp Peter Blickle, Die Revolution von 1525, 4. Aufl., München 2004, S. 191–195. 2 Zum Münchner Projekt „Soziales Wissen nach Reichskammergerichts-Zeugenverhören“ vgl. vor allem Winfried Schulze, Zur Ergiebigkeit von Zeugenbefragungen und Verhören, in: Ders. (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte (Selbstzeugnisse der Neuzeit 2), Berlin 1996, S. 319–325. Ralf-Peter Fuchs, „Soziales Wissen“ in der ländlichen Lebenswelt des 16. Jahrhunderts: Ein kaiserlich-kommissarisches Zeugenverhör, in: Westfälische Forschungen 48 (1998), S. 419–447. Alexander Schunka, Soziales Wissen und dörfliche Welt. Herrschaft, Jagd und Naturwahrnehmung in Zeugenaussagen des Reichskammergerichts aus Nordschwaben (16.–17. Jahrhundert) (Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte 21), Frankfurt am Main u.a. 2000. Ralf-Peter Fuchs/Winfried Schulze, Zeugenverhöre als historische Quellen – einige Vorüberlegungen, in: dies. (Hg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der Frühen Neuzeit (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit 1), Münster u.a. 2002, S. 7–40. Auch die „politischen Sprachen“ der ländlichen Quellen sind in RKG-Zeugenverhören greifbar: Die Zeugen machten von einem spezifischen Argumentationsrepertoire Gebrauch, um ihren „prozessualen Widerstand“ (Schulze) zu legitimieren. Vgl. dazu demnächst Matthias Bähr, Der Zeuge wird politisch: Zeugenverhöre in „Bauernprozessen“ vor dem Reichskammergericht, in: Sybille Schmidt u.a. (Hg.), Politik der Zeugenschaft. Zur Kritik einer Wissenskultur (im Erscheinen). Auch meine Dissertation, die gerade in Münster entsteht, wird die „politischen Sprachen“ bäuerlichen Gemeinden vor dem Reichskammergericht behandeln. 3 Zur Kategorie des „sozialen Wissens“, auf die sich Schulze, Fuchs und Schunka beziehen vgl. Alfred Schütz/Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Bd. 1, Neuwied/Darmstadt 1975, S. 243–326. 4 Ralf-Peter Fuchs, Erinnerungsschichten: Zur Bedeutung der Vergangenheit für den „gemeinen Mann“ der Frühen Neuzeit, in: Ders./Winfried Schulze (Hg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung (wie Anm. 2), S. 144f. 5 Vgl. Raimund J. Weber, Probleme und Perspektiven der Kommissionsforschung am Beispiel der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Sigmaringen. Mit einem Ex-

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„soziale Wissen“ des Gemeinen Mannes scheint hinter diesem Filter völlig zu verschwinden. Die ordnende Hand der Notare und Kommissare lässt sich vor allem dann kaum übersehen, wenn ausgesprochen komplexe Rechtsfiguren (ruhiger Besitz, beständige Übung etc.) in den Aussagen auffallend genau auf den konkreten Rechtsstreit herunter gebrochen wurden, was sich dann etwa so liest: „Zeuge saget affirmative, dann er hätte selbst inturbate dahinten wol Vieh gehütet.“6 Selbst die schreibkundigen dörflichen Honoratioren, die in „Bauernprozessen“ gerne als Zeugen aufgeboten wurden, konnten wohl kaum so souverän mit der gelehrt-juristischen Sprache umgehen. Immer dann jedenfalls, wenn diese Zeugen einmal ausdrücklich nach konkreten Rechtsbegriffen gefragt wurden, gaben sie in aller Regel zu Protokoll, dazu könnten sie „nichts sagen“, das sei ihnen „zu hoch“ oder man stelle die Sache „dem Richter Heim“.7 Mit der Sprache des ius commune waren sie offensichtlich nicht vertraut. Grundsätzlich wird man daher mit Peter Oestmann sagen müssen, dass die gelehrten Juristen zu den Aussagen zumindest ihren „Teil beigetragen” haben dürften.8 Quellenkritisch gesehen stellt sich aber nach wie vor die Frage, wie groß dieser „Teil“ gewesen ist, der die Wissensbestände und das Argumentationsrepertoire der Zeugen stellenweise so stark überformt, das vom eigentlichen Wortlaut der Aussagen kaum mehr etwas übrig bleibt. Mit anderen Worten: Wenn man das „soziale Wissen“ und die „Sprachen“ in RKGZeugenverhören untersuchen will, auf wessen „Wissen“ und auf wessen „Sprachen“ greift man dann überhaupt zu? Ist es tatsächlich das Wissen des „Alltagsmenschen“9, der sich ein Bild von der Welt macht? Oder vielmehr die

■ kurs: Der württembergische Rat Dr. Christian Dolde und die Kartographie Philipp Renlins d.Ä., in: Anette Baumann u.a. (Hg.), Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 37), Köln u.a. 2001, S. 87–95. Ders., Kaiserliche „Beweiskommissare“ vor dem Dreißigjährigen Krieg: Johann Christoph und Johann Friedrich Tafinger aus Ravensburg, in: Schriften des Vereins für die Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung 120 (2002), S. 205. 6 Staatsarchiv Osnabrück (StAOs), Rep 900, Nr. 249, fol. 654v. 7 Vgl. etwa Landesarchiv Speyer (LASp) E6 3257 II, unfoliiert, ohne Quadrangel (o.Q.), Zeuge XI: „das were ihme zu hoch“. StAOs, Rep 900, Nr. 899, Bd. 2, S. 409f.: „Was Zeuge unter den nahmen Runde-dienste Verstehe?“, [Anwort Zeuge 6]: „Er könne [dazu] nichts sagen.“; ebd., S. 507f.: „Ob Zeuge erwähnte dienste nicht als ein Amts dienstpflichtiger Verrichtet (…)?“, [Antwort]: „Die dienste hätte er verrichtet, weilen er dazu bestellet worden.“. Landesarchiv NRW Abteilung Westfalen (StAMs), RKG S 106, fol. 137r: „ (…) [M]itt Vielen Spitzfindigen fragen, so ich nit Verstanden (…)“. LASp, E6 576, unfoliiert, o.Q., Zeuge 5. 8 Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich (Rechtsprechung. Materialien und Studien 18), Frankfurt am Main 2002, S. 372. 9 Vgl. Schütz/Luckmann, Strukturen der Lebenswelt (wie Anm. 3), S. 23: „Unter alltäglicher Lebenswelt soll jener Wirklichkeitsbereich verstanden werden, den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet.“

„Aus dem Munde gefallen“. Reichskammergerichts-Zeugenverhöre

in Worte geronnene Deutungshoheit des gelehrten Juristen, der die Aussagen in seinem Sinne umdeutet und sie in die juristische Nomenklatur einpasst? 1.■Ein erstes Indiz dafür, wie man sich dieser Frage nach dem „Filter“ zumindest annähern kann, liefern die zeitgenössischen Formelbücher, die den Verhörkommissaren und -notaren ihr Handwerk erleichtern sollten. Bis ins kleinste Detail wurden hier alle erdenklichen Verhörsituationen durchgespielt, „auf daß die Gezeugen recht verhört, ihr Sagen recht beschrieben, die Partheyen nicht verkürtzt auch der Richter nicht verführt, und niemandes an seiner Seele ewiglich verdampt werde”10. Folgt man dem, was die Formelbücher als „gute“ Niederschrift ansahen, dann ist die offensichtliche juristische Überformung, die sich in den Protokollen greifen lässt, eben nicht das Ideal, sondern ein Misstand. Bei Abraham Saur – einem der wichtigsten Autoren solcher Sammlungen – heißt es etwa, die „Articul und Fragstück“ sollten jedem Zeugen ein- oder zweimal vorgelesen werden, falls nötig auch öfter, „biß er deren inhalt wol verstehet“. Die Aussage sei dann aufzuschreiben und sofort zu verlesen. Am Ende müsse der Zeuge Gelegenheit haben, seine Aussage zu berichtigen, denn es könne sein, dass er sich versprochen oder geirrt habe oder einfach nicht richtig verstanden worden sei.11 In den Akten finden sich dann Formulierungen wie: Der Zeuge habe „nichts zu anderen gewust“, oder der Zeuge beharre „steif und fest“ auf seiner Aussage.12 Für die Frage nach dem elitären Filter ist dabei entscheidend, dass der Kommissar selbst nichts ändern oder hinzufügen soll – zumindest nichts, was die Sache selbst betrifft.13 Selbstverständlich muss er es angeben, wenn ein Zeuge sich selbst widerspricht oder schlicht und einfach wankelmütig ist, also ob er sich, wie es dann in den Protokollen heißt, „entsetzen, entferben, mit der sprach schwencken, oder sonst argwönig, erzaigen würde“14. Solche Beobachtungen gehören zur „diligentia“, die etwa Rulant von einem tauglichen Kommissar verlangt.15 Ein einfaches „affirmat“, „negat“ etc. ist dagegen, ganz im Gegensatz zur gängigen Praxis, in den Formelbüchern nicht vorgesehen. In Gails Observationen klingt das ähnlich: Gail gibt zwar vor, dass sich der Kommissar beim Protokollieren der Aussagen um eine gewisse Kürze bemühen soll, hält aber ein bloßes „similter“, das in den Proto-

■ 10 Abraham Saur, Teutscher Proceß, Auch Gründtliche und rechter Underweysung Weltliches Bürgerliches Rechtens, mit allen nottürftigen Formen der Klagen, Antworten, und aller anderer fürträge, von der Citation an, biß auf die Execution inclusive (...), Frankfurt am Main 1595, fol. 33. 11 Ebd., fol. 38. 12 StAOs, Rep 900, Nr. 249, Bd. 4, fol. 639v. LASp 56 576, unfoliiert, o.Q. 13 Saur, Teutscher Proceß (wie Anm. 10), fol. 38r. 14 Bayerisches Hauptstaatsarchiv (BayHStA), RKG 4146, unfoliiert, o.Q. 15 Rutgerus Rulant, Tractatus de Commissariis et Commissionibus Camerae Imperialis, Teil I, Frankfurt am Main 1618, Buch I, XIX.5.

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kollen ausgesprochen häufig auftaucht, ausdrücklich für nicht ausreichend.16 Insgesamt dürfte der Spielraum des einzelnen Notars bzw. Kommissars jedenfalls recht groß gewesen sein. Saur etwa gibt folgende Richtschnur: „Es sol sich ein jeder Commissarius, nach gestalt deß handels, und geschickligkeit deß Zeugen, selbst richten, schicken, und solchen fleiß anwenden, wie er für dem Allmechtigen rechnung darumb zu thun schuldig ist.“17 Trotz aller „Formelhaftigkeit“ blieb es also den Kommissaren und Notaren überlassen, ob und wie sehr sie sich am Wortlaut der einzelnen Aussagen orientierten – oder ob sie sich lediglich mit dem stark gerafften Protokollstil begnügten, der sich in den Akten immer wieder findet. Allerdings sollte man die Autorität der Formelsammlungen nicht unterschätzen, auch wenn in der Verhörpraxis oft genug mit den Vorgaben der Literatur gebrochen wurde. Es gab klare Grenzen, die etwa bei einseitigen „similiter“-Protokollen eindeutig überschritten wurden, und Saurs Appell an das christliche Gewissen des Kommissars, die nötige Sorgfalt walten zu lassen, damit er „sich selbst ewiglich nicht verdamme“18, wird man durchaus eine gewisse Ausstrahlung unterstellen können. Jedenfalls kann man die holzschnittartigen Beteuerungen der Protokollanten, sie hätten alle Aussagen „treülich niedergeschrieben“, wie sie den Zeugen „aus dem Munde gefallen“ seien, nicht einfach bei Seite schieben.19 Im Gegenteil: Man muss die Protokolle an diesem Maßstab messen. Meine These lautet, dass sich neben der Masse an stark überformten Aussagen auch immer wieder Fälle greifen lassen, in denen gerade die Nähe zum Wortlaut gesucht wurde. In der Regel ist zwar kaum mehr nachzuvollziehen, wie eine bestimmte Formulierung ins Protokoll gelangt ist, weil sich die einzelnen Überlieferungsstufen der Akte selbst nicht entnehmen lassen: Meist hat sich lediglich die insinuierte Abschrift erhalten, alle Mitschriften, Konzepte etc. sind dagegen verloren. Es erscheint also auf den ersten Blick fraglich, wie man das „soziale Wissen“ und die „Sprachen“ des Gemeinen Mannes überhaupt trennscharf von der „Sprache“ des gelehrten Juristen unterscheiden soll, wenn sich selbst ausführliche Aussagen als Amalgam aller am Verhör beteiligten Akteure darstellen, das kaum mehr in seine Bestandteile aufgelöst werden kann. An einem fertigen Zeugenrotulus lässt sich nicht ablesen, wer nun genau was beigetragen hat – und wie stark die protokollierte Aussage das eigentlich Gesagte widerspiegelt. Und doch ist eine Annäherung an die quellenkritische Frage nach der juristischen Überformung möglich. Zumindest gelegentlich ist die Quellengrundlage wesentlich breiter, als es zunächst den Anschein hat.

■ 16 Andreas Gail, Practicarum Observationum tam ad processum iudiciarum, praesertim Imperialis Camerae, quam causarum decisiones pertinentium, Köln 1721, S. 183, n5f. 17 Saur, Teutscher Proceß (wie Anm. 10), fol. 38r. 18 Ebd., fol. 33v. 19 Siehe etwa StAOs, Rep 900, Nr. 32, fol. 52v.

„Aus dem Munde gefallen“. Reichskammergerichts-Zeugenverhöre

2.■Tatsächlich gibt es Fälle, in denen neben der Protokollabschrift, die bei Gericht eingereicht werden musste, über Umwege auch die Mitschriften der Adjunkten in die Prozessakte gelangt sind, aus denen die Reinschrift erst „hergestellt“ werden musste. Legt man diese beiden Überlieferungsstufen nebeneinander – also die Mitschriften neben die schließlich insinuierte Abschrift – dann entsteht ein wesentlich klareres Bild, wie stark die Protokollanten einer festgefügten Routine folgten und die Zeugenaussagen in ihre eigene „Sprache“ übersetzten. Ein solcher Fall ist der „Bauernprozess“, den die Gemeinde Fürfeld von 1618 bis 1633 gegen ihren Orts- und Niedergerichtsherrn Johann Philipp Boos von Waldeck vor dem Reichskammergericht führte.20 Gestritten wurde um Fronfuhren, die die Gemeinde bisher „gemessen“ geleistet haben wollte: Feste Heu˗ , Wein- und Viktualienfuhren zum herrschaftlichen Schloss gestand man dem Beklagten zu, nicht aber „ungemessene“ Dienste, die der Boos von Waldeck den Fürfeldern angeblich unter Verletzung des Herkommens und des Huldigungseides abverlangt hatte. Ein kommissarisches Zeugenverhör aus dem Jahr 1619, bei dem die Gemeinde als „Zeugenführer“ (Produzent) aufgetreten war, also unter anderem die Zeugen aufgeboten hatte, ist in gleich drei Fassungen überliefert: (1) Der endgültige Zeugenrotulus des Kommissars Johann Lottler, den der Notar Jacob Adenau aus den Mitschriften kollationiert hatte, (2) die Mitschrift („Originale prothocollon“) des Jacob Adenau, (3) die Mitschrift des herrschaftlichen Adjunkten Marcus Herff. Aus dem Vergleich dieser Quellen dürfte sich die Genese des endgültigen Zeugenrotulus zumindest in Ansätzen nachvollziehen lassen. Das Amalgam „Verhörprotokoll“, in dem die einzelnen „Sprachen“ scheinbar unauflöslich miteinander verschränkt sind, wird man dann so weit aufbrechen können, dass sich die Überformung der Aussagen einschätzen lässt. In den Mitschriften, die vom Fürfelder Zeugenverhör überliefert sind, verrät schon das Schriftbild, dass sie aus der konkreten Verhörsituation heraus entstanden sind. Zwar lässt sich die geschulte Schreiberhand – etwa an der regelmäßigen Linienführung – durchaus erkennen, doch sprechen zahlreiche Kürzungen und Streichungen, die starken Ligaturen und der schräge Duktus eine eindeutige Sprache: Man hat die Mitschriften nicht etwa nachträglich noch einmal neu aufgesetzt und dann erst den endgültigen Zeugenrotulus eingearbeitet. Die überlieferten Mitschriften sind tatsächlich Mitschriften.21 Allerdings muss man damit rechnen, dass einzelne Stellen im Nachhinein konkretisiert und präzisiert wurden, um es auch dem ortsunkundigen Leser zu ermöglichen, den Inhalt der Aussagen mühelos zu verstehen. Gerade geographische Bezeichnungen wurden offenbar erst in einem zweiten Schritt

■ 20 LASp, E6 576. Fürfeld liegt im Südwesten des Reiches, etwa auf halber Strecke zwischen Mainz und Kaiserslautern. 21 Im Folgenden bezeichne ich die Protokollmitschriften nach ihren Verfassern mit „Adenau“ und „Herff“, die Abschrift nach dem Verhörkommissar mit „Lottler“.

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eingefügt. Dafür spricht etwa die Tatsache, dass sich Ortsangaben wie „Fürfeldt“ und „Montfort“ in der ersten „Version“ der Aussagen kaum finden. So hieß es ursprünglich, dass „Juncker Boß von Waldeck das Vierte Theil an gebott und verbott habe“, was dann zu „gebott und verbott zu Fürfeldt habe“ ergänzt wurde, und statt „wisse aber nicht ob es zum Haus Montfort oder Waldeck gehöre“ stand ursprünglich „wisse aber nicht zu was“.22 Allerdings ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Zeugen selbst auf Nachfrage die genauen Orte beisteuerten, worauf etwa ein falsch protokolliertes „Montfeldt“ in der Mitschrift des Jacob Adenau hindeutet.23 Es liegt zumindest nahe, dass der Zeuge hier schlicht missverstanden worden ist. Möglicherweise war dem Protokollanten der Ort nicht geläufig.24 Für ein Insistieren auf Genauigkeit spricht auch, dass die Ortsangaben nahtlos an die eigentliche Aussage angefügt wurden und nicht etwa in den Margen erscheinen.25 Zumindest teilweise hat der Kommissar also offensichtlich noch während der Aussage selbst korrigierend – oder besser: präzisierend – eingegriffen und den Text nicht nachträglich überarbeiten lassen. Auch Namen, die nicht sofort auf der Hand lagen, wurden ad hoc protokolliert. Mit dem bloßen Verweis auf einen „Junckher“ etwa konnte man kaum zur nächsten Frage übergehen, stattdessen brachte man den genauen Namen in Erfahrung und setzte ihn in die Marge.26 Das Gleiche galt für Zeitangaben, die etwa für die Frage nach der „beständigen Übung“ relevant sein konnten.27 Hier beließ man es nicht bei vagen Zeiträumen, sondern fragte beharrlich nach, wann ein Zeuge etwas beobachtet haben wollte. Am Rand wurde dann etwa vermerkt: „ungefehr vor 12 jahren“28 oder „von 60 jahren her“29, und das entspricht genau dem Maßstab, den die Kameralliteratur an ein „gutes“ Verhör stellte. Folgt man Gail, dann sollte die Verhörkommission ex officio nach den genauen Umständen einer Tatsache forschen, die ein Zeuge zu Protokoll gegeben hatte. Ausdrücklich gehörten dazu auch Ort und Zeit.30 Ein Zeuge, der vorgab, über bestimmte Dinge genau Bescheid zu wissen,

■ Ebd., Zeuge 1, Interrogatorium 2 (Herff). Ebd., Zeuge 1, Interrogatorium 2 (Adenau). 24 Adenau war Ratsschreiber der Stadt Boppard am Rhein (ebd., unfolliert, o.Q.), die Burg Montfort bei Kreuznach lag mehrere Dutzend Kilometer von Boppard entfernt. 25 Ebd., Zeuge 1, Interrogatorium 2 u. Zeuge 6, Beweisartikel 15 (Herff). 26 Ebd., Zeuge 3, Beweisartikel 12 (Adenau). Bei Zeuge 8, Interrogatorium 34 (Herff), wurde der Name eines Amtmanns nachträglich eingefügt. 27 Vgl. Peter Oestmann, Die Grenzen richterlicher Rechskenntnis, in: Ders., Aus den Akten des Reichskammergerichts. Prozeßrechtliche Probleme im Alten Reich (Rechtsgeschichtliche Studien 6), Hamburg 2004, S. 317–319. Ders., Rechtsvielfalt (wie Anm. 8), S. 7. Gail, Practicarum Observationum (wie Anm. 16), S. 341, n15, formuliert den Maßstab, den consuetudo-Zeugen zu erfüllen hatten, wie folgt: „viderunt ita observari in similibus casibus & actibus, idque frequenter, & longe tempore, publice, praesentibus & scientibus multis personis; adeo quod inde appareat intercessisse tacitum consensum populi, aut saltem majoris partis.“ 28 LASp, E6 576, Zeuge 1, Beweisartikel 16 (Herff). 29 Ebd., Zeuge 3, Interrogatorium 7 (Herff). 30 Gail, Practicarum Observationum (wie Anm. 16), S. 165, n8. 22 23

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musste jedenfalls eine „Ursache“ für dieses Wissen angeben können, wenn er selbst nicht die Gelegenheit hatte, das Bezeugte zu „sehen, hören noch [zu] greiffen”, also lediglich aus der Erinnerung oder vom bloßen Hörensagen aussagen konnte.31 Bei einem einfachen „darum daß ers wisse“ sollten es die Kommissare jedenfalls nicht bewenden lassen.32 Im Fürfelder Fall wurde offensichtlich nicht zuletzt deshalb immer wieder nachgefragt, und in den Margen erscheint dann etwa ein „da er bey denselben an die drey Jahr, in dienst gewesen“ als Ursache für das protokollierte Wissen.33 Man muss also keineswegs alle Eingriffe in den Text als juristische Überformung lesen – bei näherem Hinsehen stellen sich etliche Einschübe als das Ergebnis eines Frage-AntwortSpiels dar, in dem die Kommissare und Notare auf Genauigkeit insistierten und die protokollierten Aussagen dann entsprechend ergänzten. Auch jenseits konkreter Frageartikel „sprachen“ die Akteure also offensichtlich miteinander, was sich dann unmittelbar im Protokoll niederschlug. Anders liegt der Fall dann, wenn ein Einschub eine offensichtlich unklare Aussage im Nachhinein lesbar machen sollte. Einer der Zeugen berief sich etwa darauf, er habe von einem Streit seiner Nachbarn, der im Verhör bereits angesprochen worden war, erst später erfahren, und dieser „Streit“ wurde dann nachträglich konkret ausbuchstabiert. Das heißt: Der Zeuge hatte zwar unbestimmt gesagt, er habe davon „neulicher Zeit erst gehortt“, ergänzt wurde seine Aussage dann aber zu „erst gehortt, das sie under einander strittigh worden“.34 Offensichtlich hatte man das Bedürfnis, mit Blick auf den Leserkreis des Zeugenrotulus, von dem ja der Fortgang des Verfahrens abhing, alle Unklarheiten aus dem Weg zu räumen. Vor diesem Hintergrund schienen behutsame Eingriffe in die Aussage des Zeugen wohl gerechtfertigt. Stärker als die Einschübe, die sich zwischen den Zeilen oder in den Margen finden, fallen jedoch in beiden Mitschriften die zahlreichen Streichungen auf. Ganze Passagen sind ausgestrichen und nicht in die Abschrift übernommen worden, was nahelegt, dass man scheinbar Überflüssiges jederzeit auszusondern bereit war.35 Es ergab sich aber keineswegs zwangsläufig, dass alles, was auf den ersten Blick entbehrlich schien, sich dann tatsächlich nicht in der endgültigen Fassung wiederfand. Teilweise überging der Verhörkommissar sogar Vorschläge seiner Protokollanten, eine Aussage stark zu verknappen, wenn es

■ Saur, Teutscher Proceß (wie Anm. 10), fol. 42v. Ebd. 33 LASp, E6 576, Zeuge 2, Interrogatorium 7 (Adenau). Ein „da er Zeug selbst sei dabey gewesen“ war als „Ursache des Wissens“ offensichtlich so überzeugend, dass Herff es sogar unterstrich; siehe auch ebd., Zeuge 13, Beweisartikel 6f. (Herff); was dann von Lottler auch so übernommen worden ist. 34 Ebd., Zeuge 2, Beweisartikel 33 (Adenau). 35 Andererseits könnte die Tatsache, dass diese Streichungen stellenweise von beiden Protokollanten sehr ähnlich vorgenommen worden sind, auch darauf hindeuten, dass man hier sogar die Nähe zum Wortlaut gesucht hat; vgl. etwa Zeuge 5, Interrogatorium 37 (Adenau/Herff). 31 32

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ihm um die Authentizität des Wortlauts ging. Ein Leonhard Schmidt etwa hatte auf die Frage nach dem Leumund seiner Mitzeugen geantwortet, er habe diese Leute nie gesehen, „darumb er keine Kuntschafft oder unehrlich stuck uff sie wisse“.36 Bei Herff findet sich allerdings der Vermerk, Schmidt würde es schlicht „nit wissen“, was man wohl als Vorschlag lesen muss, hier einfach ein „nescit“ zu protokollieren.37 Dennoch hat Lottler die ausführliche Aussage übernommen – wohl auch deshalb, so lässt sich vermuten, um zu betonen, dass Schmidts Mitzeugen offensichtlich nicht als unehrlich „verschrien“38 waren, was ja gerade in der fehlenden „Kuntschafft“ über den Leumund zum Ausdruck kam. Ein zweiter Hinweis, der für eine grundsätzliche Orientierung am Wortlaut spricht, sind die emphatischen Redensarten, die sich in den Protokollen gelegentlich finden und die relativ offensichtlich „aus dem Munde gefallen“ sind. An Stellen, an denen in der Regel mit einem einfachen „negat“ zu rechnen wäre, findet sich dann etwa ein „die tagh seines lebens niemalen“, was bei oberflächlicher Betrachtung entbehrlich gewesen wäre, dem Leser aber – und damit nicht zuletzt auch dem Referenten – besondere Authentizität suggeriert. Sicher gibt es auch Stellen, die sich kaum mehr aufklären lassen. Warum etwa das traditionelle Fronbrot erst mit „Speiß und Trank“ umschrieben, dann allerdings zu „essen und drincken“ umformuliert worden ist, bleibt im Dunkeln.39 Insgesamt aber scheint das Ringen der Protokollanten um den Wortlaut in den Mitschriften immer wieder auf. Das wird besonders dann klar, wenn sogar für die wörtliche Rede typische Redundanzen in die Protokollsprache eingeflossen sind, also zum Beispiel die „Bürgermeister“, um die es in einer Antwort ging, gleich mehrfach „gedingh … machen“, was dann nachträglich stilistisch geglättet worden ist.40 Vor allem aber lässt sich die Nähe zum Wortlaut aus der Tatsache ablesen, dass beiden Protokollanten stellenweise ganz

■ Ebd., Zeuge 1, Generalia Frage 3 (Lottler). Ebd., Zeuge 1, Generalia Frage 3 (Herff). 38 Hinter dem „Gemain Geschrey“, nach dem in RKG-Zeugenverhören sogar ausdrücklich gefragt werden konnte, verbargen sich Gerüchte, die in den Gemeinden umliefen; vgl. Ralf-Peter Fuchs, Gott läßt sich nicht verspotten. Zeugen im Parteienkampf vor frühneuzeitlichen Gerichten, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kulturen – Historische Perspektiven 1), Konstanz 2000, S. 328. Wurde das „Geschrey“ auf Personen gemünzt, dann konnte es sich sehr genau auf Dignität oder Geschlechterrollen beziehen: Der Fürst etwa hatte zu befürchten, als ungerecht „verschrien“ zu sein, Amtleute konnten als korrupt gelten, Frauen als sexuell verworfen etc.; vgl. Stefan Breit, Das Peinliche Verhör der Katharina Widmann, in: Anette Baumann u.a. (Hg.), Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherung – Fallstudien – Statistiken (QFHG 50), Köln u.a. 2005, S. 158. 39 LASp, E6 576, Zeuge 2, Interrogatorium 32 (Adenau). Das gilt auch für die Frage, wieso zum Beispiel die Formulierung, es sei an einem bestimmten Ort „geweßen kein baw“ umformuliert wurde zu: es sei „daselbsten [kein baw] gemacht worden.“ Möglicherweise war die ursprünglich protokollierte Version so nah am gesprochen Wort, dass man die Passage in dieser Form für unverständlich hielt; siehe auch ebd., Zeuge 11, Beweisartikel 15 (Adenau). 40 Ebd., Zeuge 3, Interrogatorium 26 (Adenau). 36 37

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ähnliche Fehler unterlaufen sind, die dann auch prompt von beiden korrigiert wurden.41 Hier liegt die Vermutung nahe, dass sich auch der Zeuge selbst berichtigt hat und dieser „Versprecher“ dann in die Mitschriften eingegangen ist. Auch in anderen Protokollen findet man immer wieder charakteristische Fehler, die darauf schließen lassen, dass Idiom bzw. Idiolekt der Zeugen den Protokollanten in die Irre geführt haben könnten: In einem Verhör aus der Grafschaft Bentheim war man offensichtlich nicht in der Lage, zwischen „Forst“ und „Frost“ einen Unterschied herauszuhören, was sich dann zwar in einem richtigen „aufm Forst“, aber auch in einem sinnwidrigen „bey Forst Zeiten“ niederschlug.42 Über die bloße Nähe zum Wortlaut hinaus, die ja immer durch den indirekten Protokollstil schon eingeschränkt war, gab es auch Fälle, in denen Aussagen völlig „ungefiltert“ übernommen wurden. Das fällt besonders dann ins Auge, wenn der Protokollant aus der eigentlichen Protokollsprache ausbrach und etwa ins Niederdeutsche wechselte: „[D]at sollen wy wol nicht syn“43 liest sich jedenfalls völlig anders als ein schlichtes „negat“ und dürfte auch dem zeitgenössischen Leser besondere Authentizität suggeriert haben. Die seltenen summarischen Protokolle im „ich“-Stil44 trieben dieses Bemühen um Authentizität auf die Spitze, und hier zeigt sich auch, dass juristische Überformung kein Automatismus gewesen ist, weil der Schleier des Unmittelbaren durch eine auffallend „gelehrte“ Sprache natürlich bedroht gewesen wäre. Die Überformung, die es trotz dieser Inszenierung von Authentizität auch im Fürfelder Fall sehr wohl gab, drängt sich dagegen dann besonders auf, wenn in einzelnen Formulierungen um juristische Exaktheit gerungen wurde, die sich dann regelmäßig als nachträglicher Einschub in den Aussagen greifen lassen oder die in den Margen hinzugefügt wurden. Dienste wurden dann etwa ausdrücklich „mit fronen“ geleistet, also nicht etwa mit einem Dienstgeld abgelöst,45 und eine Dienstpflicht, die ein Zeuge zur Sprache brachte, war schon „in berürten amtsbescheid“ erwähnt worden,46 womit dann die Brücke zum professionellen Horizont des gelehrten Juristen geschlagen war. In diesem Zusammenhang bestätigt sich einmal mehr, dass selbst wohlhabende Bauern – einer der Zeugen gab etwa ein Vermögen von ungefähr 500 Gulden an47 – nicht von sich aus in der Lage waren, passgenaue Rechtsbegriffe zu

■ 41 Siehe etwa ebd., Zeuge 5, Interrogatorium 2 (Adenau/Herff): „Drittheil“ wurde zu „Viertentheill“ berichtigt; Zeuge 4, Interrogatorium 4 (Adenau/Herff): Über eine „Fron“, die er und seine Nachbarn immer zu leisten „willigh“ gewesen seien, hatte ein Zeuge offensichtlich zunächst etwas anderes gesagt, was dann bis zur Unleserlichkeit ausgestrichen wurde. 42 StAOs, Reo 900, Nr. 249, fol. 642v: „[B]ey Forst Zeiten wären … Schaffe alldaer (!) gehütet, wihen sonsten wegen Wasser … nicht wol geschehen könnte.“ 43 Ebd., fol. 129v. 44 Siehe etwa StAOs, Rep 900, Nr. 466, fol. 40r. 45 LASp, E6 576, Zeuge 1, Interrogatorium 5 (Adenau). 46 Ebd., Zeuge 1, Interrogatorium 6 (Adenau/Herff). 47 Ebd., Zeuge 1, Generalia Frage 1 (Lottler).

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liefern, wie sie sich in allen RKG-Zeugenverhören, und zwar nicht nur in den Positiones und Interrogatoria, immer wieder finden. Bezeichnenderweise gab gerade dieser Zeuge schließlich zu Protokoll, komplizierte juristische Fragen seien „seinem Verstandt zu hoch“48. Besonders offensichtlich ist der „Filter“ dann, wenn in der Protokollabschrift summarisch für etliche Fragen hintereinander eine knappe Antwort festgehalten wurde („daß 8. 9. 10. 11. 12. [usw.] Fragstück, seindt ihme Zeugen allerdings unbewust“), die ohne jeden Bezug zum Wortlaut auskam. In den Protokollmitschriften waren die Aussagen anfangs noch ausführlich und Frage für Frage mitgeschrieben, dann allerdings ausgestrichen und in einer stark gerafften Zusammenfassung gebündelt worden.49 An einer Stelle hatte Adenau sogar zunächst mit „sagt er hab“ angesetzt, nur um dann abzubrechen und lediglich ein „wisse er nit“ zu schreiben.50 Allerdings sahen sich die Protokollanten bei derartigen Verkürzungen offensichtlich einer gewissen Begründungsbedürftigkeit ausgesetzt. Der Hirte Philipp Hobman etwa wusste auf etliche Fragen keine Antwort, was von den Protokollanten mit einem stark gerafften „Uffs alles Ubrigh“ quittiert wurde – allerdings nicht, ohne zu betonen, man habe von Hobman nur deshalb nichts Brauchbares erfahren, weil er, wie es „herten gebrauch“ sei, sich mit Fronden eben einfach nicht beschäftige.51 Auch das „similiter“, das die Formelbücher einem Kommissar, der mit der nötigen „diligentia“ vorgeht, nicht zugestehen wollten, findet sich – wenn auch leicht abgewandelt – in Herffs Protokoll: Neben ein „weis er nit“, das als Antwort auf einen Frageartikel notiert wurde, trat dort in der nächsten Frage ein „ebenfals“,52 was Herff sicher als sachlich angemessene und gewissenhafte Kürzung erschienen sein dürfte, aber eben doch das eigentlich Gesagte kaum wiedergeben konnte. Tatsächlich findet sich bei Adenau stattdessen ein „seindt Zeugen frembt und unwisendt“53, was zwar nicht unbedingt als stärkere Orientierung am Wortlaut gelesen werden muss, aber immerhin andeutet, dass Adenau ein „similiter“ offensichtlich vermeiden wollte. Überhaupt ist, und das wird man wohl als vorläufiges Fazit festhalten können, der elitäre Filter im Fürfelder Fall keineswegs so stark, als dass er das in allen Protokollfassungen aufscheinende Bemühen um Authentizität völlig verdrängen würde. Aus der – wenn auch kursorischen und schlaglichtartigen – Analyse der Protokolle ergibt sich vielmehr ein aussgeprochen ambivalentes Bild. Einerseits scheint die dialogische Struktur der konkreten Verhörsituation zwischen den Zeilen und in den Margen immer wieder auf: Man beließ es nicht bei einer Frage, auf die es dann genau eine Antwort gab, sondern man insistier-

■ Ebd., Zeuge 1, Beweisartikel 58 (Lottler). Ebd., Zeuge 1 (Adenau/Herff). 50 Ebd., Zeuge 7, Beweisartikel 32 (Adenau). 51 Ebd., Zeuge 12 (Herff). 52 Ebd., Zeuge 1, Beweisartikel 13f. (Herff). 53 Ebd., Zeuge 1, Beweisartikel 13f. (Adenau). 48 49

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te darauf, dass die Zeugen ihr Wissen und die Quellen für dieses Wissen preisgaben. Offensichtlich „sprachen“ Zeuge und Kommissar auch jenseits der klar gefassten Positiones und Interrogatoria miteinander. Weil es aber bei der „Ursache des Wissen“ auf Genauigkeit ankam, wurde immer wieder die Nähe zum Wortlaut gesucht. Der Wunsch nach Genauigkeit wurde in demonstrativer Authentizität gespiegelt, für die gerade die Nähe zum gesprochenen Wort elementar war. Dazu gehörte auch, dass nicht alle Vorschläge, Aussagen zu kürzen und zu straffen, in das kollationierte Protokoll übernommen wurden. Offenbar wurde zwischen Effizienz und Authentizität genau abgewogen und der „authentischen“ Aussage immer dann der Vorzug gegeben, wenn es aus der gelehrt-juristischen Perspektive geboten schien, es also etwa um konkrete Orte und konkrete Namen ging. Zu diesem Panorama der Authentizität konnte es auch gehören, Redensarten oder Sprichwörter zu protokollieren, dem niederdeutschen Wortlaut einer Aussage zu folgen oder das „anekdotische“ Gedächtnis der ländlichen Gesellschaft zu Papier zu bringen, also das „Alltagswissen“, um das es Schulze, Fuchs und Schunka ging. Wer also das „Wissen“ und die „Sprachen“ des Gemeinen Mannes aus RKG-Zeugenverhören herauspräparieren will, der hat trotz aller gelehrt-juristischen Überformung die wenigen „normalen Ausnahmefälle“ auf seiner Seite, an denen sich paradigmatisch zeigt, was im engen Korsett des Kameralprozesses für die Zeugen sag- und machbar war – und was sich davon in den Quellen niedergeschlagen hat.54 Zu diesen „Ausnahmefällen“ gehören die Fürfelder Verhörprotokolle. 3.■Ein letztes Indiz dafür, dass es den am Verhör beteiligten Akteuren immer auch um Authentizität gehen musste, findet sich dagegen nicht nur in wenigen „Ausnahmefällen“, sondern in fast allen Protokollen. Zu den Elementen, die grundsätzlich für jede Verhörsituation konstitutiv sind, gehört der Eid.55 In

■ Zum „normalen Ausnahmefall“ vgl. Hans Medick, Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, Göttingen 1984, S. 46. Gerade wegen ihrer „Außergewöhnlichkeit“ sind diese Protokolle besonders gute Quellen: Im „normalen Ausnahmefall“ scheint auf, was ansonsten „dokumentarisch nicht recht greifbar ist“. Carlo Ginzburg, Beweise und Möglichkeiten. Randbemerkungen zur Wahrhaftigen Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre, in: Natalie Zemon Davis, Die Wahrhaftige Geschichte von der Widerkehr des Martin Guerre, München 1984, S. 190. Folgt man Ginzburg, dann muss man das Argument, ein Fall sei „außergewöhnlich“ und deshalb nicht repräsentativ gewissermaßen „auf den Kopf“ stellen (ebd.) – „außergewöhnlich normale“ Fälle reizen aus, was im „unsichtbaren Käfig“ Kultur überhaupt sag- und machbar ist: „Folglich kann auch ein Extremfall (…) sich als repräsentativ erweisen.“ Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600, 6. Aufl., Berlin 2007, S. 17. 55 Zum Eid vgl. vor allem die Arbeiten von Paolo Prodi, die sich allerdings nicht auf den gerichtlichen Eid beschränken, etwa Paolo Prodi, Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte. Zur Einführung, in: Ders. u.a. (Hg.), Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs: Kolloquien 28), München 1993, VII–XXIX. Grundlegend ders., Il sacramento del potere. Il giuramento politico nella storia costituzionale dell’Occidente, Bologna 1992. 54

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RKG-Zeugenverhören war entscheidend, dass dieser Eid auch tatsächlich körperlich ausgeschworen wurde, weil ein Zeuge, der ohne Eid zur Aussage gekommen war, prinzipiell keinen Glauben verdiente: „Tota enim substantia depositionis testium consistit in juramento“56, wie Gail schreibt. Zeugen, die „in vim corporalis juramenti“57 verhört worden waren, konnten dagegen besondere Autorität beanspruchen. Stellenweise wurde zwar in den Protokollen einfach festgehalten, ein Zeuge habe die Wahrheit zu sagen geschworen, so wahr ihm „Gott und sein heilig Wort helfen“ möge58, man habe einen „leiblichen Aidt zu Gott unndt auff die Heiligenn Evangelia schwerenn“ lassen59, oder der Kommissar beließ es sogar bei der knappen Belehrung „de dicenda veritate“60. Diese kurzen Vermerke täuschen allerdings darüber hinweg, wie elaboriert die Eide tatsächlich sein konnten. Bevor der Eid geschworen wurde, belehrte man gerade Zeugen aus der ländlichen Gesellschaft in fast schon ermüdender Ausführlichkeit darüber, was da eigentlich von ihnen erwartet wurde, „weill es einfeltige schlechte baursleut, die der gleichen aidt undt straffen wenig verstehen“61. Die Natur des Eides wurde in einfachen Worten erklärt: „Schweren oder einen Eyd Thun, ist nichts anders als Gott anruffen, daß er der Wahrheit beystehe“.62 Das ganze Prozedere wuchs sich dann allerdings nicht selten zu regelrechten Vorträgen aus, die in einem einzigen Protokoll ein gutes Dutzend Seiten füllen konnten. Das Szenario, das den Zeugen dabei vor Augen geführt wurde, war das eines strafenden Gottes, der die Meineidigen nicht verschont: Wer einen „falschen Eyd schweret“, der „lästert dem Allerhöchsten Gott“ und lädt alle Flüche auf sich, „die Gott denen Verfluchten … auferleget hat, Ja vermaledeyet sich selbsten“.63 Der Meineidige wird „nimmermehr Theil haben … an denen Versprechungen, die Gott denen Christen gethan hat“ 64. Schon in der Belehrung war der Eid als „bedingte Selbstverfluchung“ angelegt, die den Schwörenden dann treffen sollte, wenn er „falsch“ schwört.65 In Um-

■ 56 Gail, Practicarum Observationum (wie Anm. 16), S. 176, n1. Vgl. auch Matthaeus Schlüter, Rechts-begründetes Tractätelein von Einer zu Rechte beständigen Gewohnheit (...), Hamburg 1709, S. 54: „[E]s wird keinen Zeugen Glauben gegeben, wann sie nicht eydliche Aussage thuen.“ 57 StAOs, Rep 900, Nr. 899, Bd. 1, S. 206. 58 Ebd. 59 StAMs, RKG S 464a, Bd. 2, fol. 28r. 60 StAOs, Rep 900, Nr. 35, fol. 77. In notariellen Zeugenbefragungen wurden die Zeugen in der Regel an Eides statt verhört und zur „Wahrung der Wahrheit“ ermahnt (vgl. etwa StAOs, Rep 900, Nr. 466, fol. 24r). 61 LASp, E6 576, unfoliiert, o.Q. 62 StAOs, Rep 900, Nr. 899, Bd. 2, S. 325. 63 Ebd., S. 326. 64 Ebd., S. 327. 65 Vgl. André Holenstein, Seelenheil und Untertanenpflicht. Zur gesellschaftlichen Funktion und theoretischen Begründung des Eides in der ständischen Gesellschaft, in: Peter Blickle (Hg.), Die metaphysische Begründung gesellschaftlichen Zusammenlebens und

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kehrung der Eidesformel sollte es für den Meineidigen sein, „als ob er spreche: So wahr ich heute falsch schwere, also bitte ich Gott den Vatter, Gott den Sohn, Gott den Heiligen Geist, die Heilige dreyfaltigkeit, daß ich ausgeschlossen undt ausgesetzet werde aus der gemeinschafft Gottes, undt seiner Heiligen, sey ein fluch meines Leibes, meines Lebens undt meiner Seelen“66. Wer falsch schwört, der entzieht sich der Fürsprache Christi in der Todesstunde, seiner Barmherzigkeit und Gnade.67 Im Kern stand dabei die Vorstellung, dass ein Zeuge, der unter Eid vor einem weltlichen Gericht falsch aussagt, sich auch vor dem Jüngsten Gericht verantworten muss. Dem Meineidigen, der sich durch den gebrochenen Eid dem Teufel und seiner Gefolgschaft ergeben hat, wird am Jüngsten Tag verwehrt, das Angesicht Gottes zu sehen.68 Das ist die Strafe, die ihn im Jenseits erwartet. In diesem Sinne lässt sich der Meineid als „dreifaches Versprechen“69 lesen: Im Diesseits hat sich der Meineidige erstens gegen den Richter „verschworen“, den er zu einem ungerechten Urteil verleiten will, zweitens gegen die Partei, die er um ihr Recht bringen will, im Jenseits wiederum gegen Gott selbst. Dementsprechend schlug die Eidesformel die Brücke zwischen Transzendenz und Immanenz, indem ihr entscheidender Bezugspunkt zwar immer Gott blieb, der den Eid als Klammer zusammenhielt70, sie aber gleichzeitig konkretes menschliches Fehlverhalten zum Gegenstand hatte, das vor weltlichen Gerichten geahndet wurde und das schwerwiegende soziale Folgen hatte: Es ging nicht nur um Wahrheit und Wahrhaftigkeit und damit um Gunst, Hass, Freundschaft und Feindschaft, sondern auch um Bestechung, Vorteilnahme und jedes andere Verbrechen, das „Menschen Sinne erdencken mögte“71. Das „System von Sanktionen“, das den Meineidigen erwartete, ging gestuft vom Diesseits ins Jenseits über – für die „Verschwörung“ gegen das Gericht und die betrogene Partei erwartete den Meineidigen ein schwerwiegender Ehrverlust, die völlige soziale Ächtung oder eine konkrete weltliche Strafe, für die „Verschwörung“ gegen Gott der Verlust des ewigen Heils.72 Der Grundzug von Eidesformel und Belehrung, wie er sich auch in den Verhörprotokollen greifen lässt, die beim Reichskam-

■ politischer Ordnung in der ständischen Gesellschaft (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 15), S. 12. 66 StAOs, Rep 900, Nr. 899, Bd. 2, S. 327f. 67 Ebd., S. 328f. 68 Ebd., S. 331f. 69 Fuchs, Gott läßt sich nicht verspotten (wie Anm. 34), S. 323. 70 Prototypisch begann die Eidesformel mit einer Anrufung Gottes („ich gelobe und schwere Zu Gott dem Allmächtigen“) und endete mit der Bekräftigung „So Wahr mit Gott helffe undt sein Heiliges Wort“ (vgl. etwa StAOs, Rep 900, Nr. 899, Bd. 2, S. 335, 337). 71 Ebd., S. 337. Die Carolina sah schwere „weltliche Strafen“ vor: Ausdrücklich sollte der Brauch, dem Meineidigen die Schwurfinger abzuschlagen, beibehalten werden, und wer durch Meineid einen anderen zu einer peinlichen Strafe brachte, der sollte die gleiche Strafe erleiden (Art. 107 Carolina, hg. von Friedrich-Christian Schroeder, Stuttgart 2000, S. 72). 72 Holenstein, Seelenheil (wie Anm. 65), S. 29.

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mergericht angefallen sind, war also die Parallelisierung von göttlichem und weltlichem Gericht bzw. göttlicher und weltlicher Strafe, der sich ein Meineidiger nicht entziehen können sollte: „Der Eid stellte die Verbindung zwischen der unsichtbaren Gerechtigkeit Gottes und der sichtbaren Welt her.“73 Auch im Verhör selbst hielt man den Zeugen immer wieder die diesseitigen und vor allem jenseitigen Strafen vor, die diejenigen erwartete, die nicht bei der Wahrheit bleiben wollten. Ein Zeuge, der sich einer Frage zu entziehen versuchte, indem er vorgab, „nichts zu wissen“, wurde dann zum Beispiel prompt an seinen geleisteten Schwur und die Konsequenzen einer Lüge erinnert.74 Gerade in den Interrogatoria, die die Gegenseite, der so genannte „Produkt“, einbrachte75, um die Glaubwürdigkeit der Zeugen zu erschüttern und einen möglichen Zeugenbeweis abzuwenden, wurde ein regelrechtes Panorama göttlichen Zorns und göttlicher Gerechtigkeit vorgeführt. Die Zeugen wurden belehrt, dass sich ein Meineidiger „in Gefahr der Ewigen Verdammnis“ stürze, die göttliche Gnade und den göttlichen Segen aufs Spiel setze,76 und selbst ausgesprochen diesseitige Sachfragen konnten immer auch „jenseitig“ aufgeladen werden: Ein „Fragstück“ lautete dann etwa, „ob Zeuge bey Verlust der Zeitlichen undt Ewigen glückseeligkeit nicht gestehen müße“, dass man Spanndienste zu einem bestimmten Amtshaus leisten müsse.77 Fast topisch wurde das Seelenheil der Zeugen in die Interrogatoria eingeflochten. Ein Zeuge sollte etwas bejahen, „so wahr er gedencke zu Gott zu kommen“78, anderswo „bey Verlust Zeitlicher undt Ewiger glückseligkeit“ und „wohlfahrt“, „bey Verlust des Himmels“ und „bey Verlust Zeitlichen undt Ewigen glücks“ etwas gestehen79, schließlich die Wahrheit sagen, „so wahr er gedencke ein kind Gottes zu werden“ und „so wahr er gedencke in Himmel zu kommen“ und „seelig zu werden“80. Ohne diesen immer wieder betonten Jenseitsbezug hätte der Eid seine Bindung an das christliche Gewissen eingebüßt, die für die besondere Autorität

■ 73 Martin Scheutz, Frühneuzeitliche Gerichtsakten als „Ego“-Dokumente. Eine problematische Zuschreibung am Beispiel der Gaminger Gerichtsakten aus dem 18. Jahrhundert, in: Thomas Winkelbauer (Hg.), Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik, S. 122. 74 StAOs, Rep 900, Nr. 249, fol. 99r. 75 „Fragstücke“ konnten – folgt man Gail – dann ex officio formuliert werden, wenn es darum ging, „de singulis circumstantiis, de causis scientiae, de loco, tempore, visu auditu, fame, & certudine“ zu forschen und von der Gegenseite keine Interrogatoria übergeben worden waren. Gail, Practicarum Observationum (wie Anm. 16), S. 165, n8. Vgl. StAOs, Rep 900, Nr. 899, S. 202. 76 StAOs, Rep 900, Nr. 899, Bd. 2, S. 206. Ich beziehe mich hier nicht nur auf RKGZeugenverhöre, die im Judizialverfahren angefallen sind, sondern schließe auch Verhöre ein, die extrajudizial angefallen sind oder die der Zeugenführer „prozessvorbereitend“ hat durchführen lassen. 77 Ebd., S. 217. 78 Ebd., S. 221. 79 Ebd., S. 241, 245, 380, 397, 405, 406, 420, 435, 481, 498. 80 Ebd., S. 245, 269, 484.

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der eidlichen Aussage grundlegend war, und auch Produkt und Kommission konnten sich den göttlichen Zorn zu Nutze machen, um „befangenen“ Zeugen ihre Glaubwürdigkeit zu nehmen. Noch im 18. Jahrhundert wurde in RKGZeugenverhören immer wieder die Angst geschürt, die sich damit verband, als Meineidiger im Diesseits und Jenseits gleichermaßen gestraft zu werden. Das aber konnte nur funktionieren, wenn das Gros der Zeugen trotz der „Krise“ des Eides im 17. und 18. Jahrhundert nicht als „Falschaussager“ gelten wollten, um ihr Seelenheil zu schützen.81 Dafür, dass gerade in RKG-Zeugenverhören der rein „weltliche“ Nutzen einer eindeutigen Falschaussage die Gefahr für das Seelenheil tatsächlich kaum oder jedenfalls nicht immer aufwiegen konnte, spricht allein schon die Tatsache, dass sich auch offene Eidverweigerungen nachweisen lassen.82 Die Hemmschwelle, sich auf die „bedingte Selbstverfluchung“ einzulassen, für die der Eid stand, war offensichtlich bei einzelnen Akteuren noch immer sehr hoch. Allerdings stand der Gemeine Mann auch einem einmal geschworenen Eid keineswegs machtlos gegenüber. Die Autorität des Eides ließ sich gezielt unterlaufen. Man berief sich dann etwa darauf, zum Eid gezwungen worden zu sein, was die diesseitigen wie jenseitigen Strafen von vornherein entschärfen konnte: „Ein gezwungen Aydt ist Gott leydt.“83 Es kann also keine Rede davon sein, dass man erst der gelehrten Unterweisung bedurfte, um den Eid zu „begreifen“. Gerade in der semi-oralen Kultur der ländlichen Gesellschaft dürfte die vielfältige Bilder- und Symbolsprache, die sich mit dem Eid verband, allgegenwärtig gewesen sein. In seiner ihm immanenten Theatralität wurde der Eid in der ländlichen Gesellschaft immer wieder zur Aufführung gebracht – das Spektrum reicht von der Schwureinung bis zum Huldigungseid – und immer wieder aufs Neue internalisiert.84 Die „einfeltigen schlechten baursleut“, die vor dem Verhör belehrt werden mussten, dürften sich also der weltlichen und göttlichen Strafen, mit denen ein Eidbruch sanktioniert war, sehr wohl bewusst gewesen sein. Zwar kann man angesichts der Tatsache, dass RKG-Zeugenverhöre in der Regel an nicht obrigkeitlich besetzten und leicht zugänglichen Orten – also etwa in Wirtshäusern – stattfanden oder die Zeugen einfach in der Studierstube eines ortsansässigen Notars zusammenkamen,85 kaum davon ausgehen, dass ihnen die Parallellsie-

■ Vgl. dazu Fuchs, Gott läßt sich nicht verspotten (wie Anm. 38), S. 326. Zur Vorstellung einer „Krise des Eides“, nach der im 17. und 18. Jahrhundert die Inanspruchnahme Gottes für weltliche Zwecke aus der Perspektive von Moralphilosophie, Naturrecht und politischer Theorie zunehmend kritikwürdig erschien, vgl. Holenstein, Seelenheil (wie Anm. 73), S. 40. 82 StAOs, Rep 900, Nr. 899, Bd. 2, S. 340. 83 StAMs, RKG N 161, fol. 149v. 84 Vgl. André Holenstein, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800–1800) (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 36), Stuttgart/New York 1991, S. 399–409. 85 Zu den „Räumen“, die die Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft strukturierten, vgl. Gerd Schwerhoff, Kommunikationsraum Dorf und Stadt. Einleitung, in: Johannes 81

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rung von Diesseits und Jenseits auch noch in Weltgerichtsszenen visualisiert wurden, wie sie etwa in Gerichtsstuben und Rathäusern hingen und bis heute hängen.86 Dennoch verließ man sich auch im Kameralprozess nicht allein auf das gesprochene Wort, das eben immer nur ein Teil des „körperlichen“ Eides sein konnte. Wie in anderen Gerichtsverfahren wurde der Eid auch im Kameralprozess in der Schwurhand versinnbildlicht, die für jeden legitimen Eid geradezu konstitutiv war. Männer leisteten den Eid üblicherweise mit ausgestreckten Schwurfingern, Frauen legten ihre rechte Hand auf die Brust.87 Die Schwurhand war in der Eideslehre der Frühen Neuzeit Scharnier zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Immanenz und Transzendenz. In den erhobenen Schwurfingern kulminierte das Verhältnis des Menschen zum dreifaltigen Gott: Die drei Schwurfinger galten als Symbol der Trinität, die gekrümmten Finger „verkörperten“ Leib und Seele des Menschen.88 Schon im Diesseits konnte Gott den Meineidigen an der Schwurhand strafen, Fäulnis und Aussatz waren Zeichen des göttlichen Zorns.89 Die „bedingte Selbstverfluchung“, die auf dem Schwörenden lastete, spiegelte sich in dieser Vorstellung. Er wusste, dass sein Seelenheil gefährdet war. Was aber sagt das alles über die Überformung der Zeugenaussagen aus? Die Antwort ist offensichtlich: In RKG-Zeugenverhören war nicht nur das Seelenheil der Zeugen gefährdet. Auch den Kommissaren wurde ein Eid „Zu Gott dem Allmächtigen“90 abverlangt. Sie verpflichteten sich nicht nur zu strenger Geheimhaltung, sondern versprachen vor allem auch, die Aussagen der Zeugen „getreulich ad Protocollum“91 zu nehmen. Dieses „getreuliche“ Protokollieren, das die Kommissare und Notare da beeideten, entsprach genau dem Maßstab, den die Formelbücher an einen gewissenhaften Kommissar anlegten. Die „Ausnahmefälle“, in denen die Zeugen trotz aller gelehrt-juristischen Routine sehr ausführlich zu Wort kamen, dürfen ihre Existenz nicht zuletzt auch diesem Eid verdanken. Der Eid hatte nicht nur den Gemeinen Mann zum Adressaten, sondern auch die vermeintlichen „Eliten“, und es dürfte vor allem eine Frage der individuellen Frömmigkeit gewesen sein, wie stark der Eid den Einzelnen band. In RKG-Zeugenverhören erscheint der Eid bei genauer Betrachtung jedenfalls nicht nur und ausschließlich als ein Instrument der Obrigkeiten, das den Gemeinen Mann durch ein System diesseitiger und jenseitiger Strafen zu größerer Wahrhaftigkeit zwingen sollte. Trotz der „Krise des Eides“ hat der Eid offensichtlich auch im 18. Jahrhundert noch immer genü-

■ Burkhardt/Christine Werkstetter (Hg.), Kommunikationsraum und Medien in der Frühen Neuzeit (HZ Beihefte N.F. 41), München 2005, S. 137–146. 86 Vgl. Scheutz, Gerichtsakten (wie Anm. 73), S. 120. 87 Saur, Teutscher Proceß (wie Anm. 10), fol. 37f. Vgl. Scheutz, Gerichtsakten (wie Anm. 73), S. 122. 88 Vgl. Holenstein, Seelenheil (wie Anm. 65), S. 34. 89 Vgl. ebd., S. 37f. 90 StAOs, Rep 900, Nr. 899, Bd. 2, S. 333. 91 Ebd., S. 334.

„Aus dem Munde gefallen“. Reichskammergerichts-Zeugenverhöre

gend Autorität besessen, um alle am Verfahren beteiligten Akteure, also auch die gelehrten Protokollanten, Kommissare und Notare, zumindest so stark zu binden, dass das Bemühen um eine angemessene Wiedergabe des gesprochenen Wortes in den Protokollen immer wieder aufscheint. Die Frage, ob und wie sehr auch die „aufgeklärten“ Eliten für den strafenden Gott sensibel waren, der der Schwörenden im Eid vorgehalten wurde, dürfte zwar letztlich kaum zu beantworten sein. Aber auch diese Eliten waren nicht bereit, jeden Gottesbezug aus dem Verfahren auszuklammern – ganz im Gegenteil. Tatsächlich konnten sich nämlich auch die Zeugen selbst die göttliche Gerechtigkeit zu Nutze machen, die ihnen im Zeugeneid immer wieder vor Augen geführt wurde. Wer sich aus eigenem Antrieb auf sein Seelenheil berief, um seiner Aussage besondere Autorität zu geben, der konnte in aller Regel damit rechnen, die Aufmerksamkeitsschwelle der Verhörkommissare zu überschreiten. Ein klarer Gottesbezug findet sich in den Aussagen immer wieder gerade dann, wenn auch ansonsten der routinierte Stil durchbrochen wurde. Die Zeugen kamen dann besonders ausführlich zu Wort.92 Wer sich dabei sogar in einen Gegensatz zu seinen Mitzeugen brachte, weil er sich ausdrücklich Gott anheimstelle, während andere nur an Eides statt verhört worden waren, dem wurde offenbar besondere Glaubwürdigkeit zugebilligt, die sich schon allein darin niederschlug, dass man ihm im Protokoll mehr Raum gab: Im Fürstbistum Osnabrück wurde Anfang des 18. Jahrhunderts die Aussage eines Zeugen, der bei seiner „Sehligkeit“ geschworen hatte, auf einem ganzen Blatt summarisch protokolliert, während sich die restlichen Zeugen mit einigen wenigen Zeilen oder allenfalls einer knappen Seite begnügen mussten.93 Gerade der Gottesbezug war es also, der die gelehrt-juristische Routine durchbrechen konnte. Er hatte keineswegs nur „disziplinierende“ Wirkung auf die Zeugen. Auch die Notare und Kommissare waren durchaus bereit, die besondere Autorität anzuerkennen, die sich mit der Parallelisierung von weltlichem und göttlichem Gericht verband. Wer sich auf Gott berief, der hatte beste Aussichten, dass seine Aussage tatsächlich annähernd so aufgeschrieben wurde, wie sie ihm „aus dem Munde gefallen“ war. 4.■„Dieses ist, worüber oben bemeldete Zeugen absonderlich befraget, undt (…) was von denenselben darauf äydlich ausgesaget“.94 Der Anspruch, den die Protokollanten an sich selbst und ihr Protokoll stellten, war nicht gering: Der Leser sollte glauben, dass substantiell das verschriftlicht worden war, was die

■ Vgl. etwa StAMs, RKG N 161, fol. 217: „Ja Er könne auff seine Seel und seeligkeit Versichern, daß wann Sie die arbeith nur einigermaßen gebührendt Verrichteten, und Leuthen so zur Arbeith tüchtig dazu schickten, der dienst in einem jahr kaum 3 mahl herumb kommen würde, so aber schickten sie meistentheils Kinder, und gingen dabey müsig: Vorm jahr hätte er beym frucht schneiden eine probe gemacht (…).“ 93 StAOs, Rep 900, Nr. 931 248. 94 StAOs, Rep 900, Nr. 899, Bd. 2, S. 508. 92

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Zeugen in der konkreten Verhörsituation tatsächlich ausgesagt hatten. Davon, dass die Aussagen genau so in das bei Gericht insinuierte Protokoll aufgenommen wurden, wie sie den Zeugen „aus dem Munde gefallen waren“, kann allerdings keine Rede sein – schon auf den ersten Blick erkennt man die gelehrt-juristische Überformung. Dennoch wird man aus drei Gründen an der Vorstellung festhalten müssen, dass das „Wissen“ und die „Sprachen“ des Gemeinen Mannes in den Protokollen wenigstens zwischen den Zeilen aufscheinen: Erstens waren die Formelbücher, die den Kommissaren und Notaren ihr Handwerk erleichtern sollten, nicht nur stilprägend, sondern sie konnten mit ihrer Forderung nach Genauigkeit und Sorgfalt eine Autorität beanspruchen, der sich nicht jeder Verhörkommissar entziehen konnte und wollte. Der Maßstab, mit dem sich der Kommissar und seine Protokollanten konfrontiert sahen, war der der „diligentia“, die zwar umständliches und ausschweifendes Protokollieren ausschloss, gleichzeitig aber auch der gelehrt-juristischen „Sprache“ Einhalt gebot, weil die Zeugenaussagen „recht beschrieben“ werden mussten und eben gerade nicht bis zur Unkenntlichkeit überformt sein sollten. Zweitens lässt sich an seltenen, besonders gut belegten „Ausnahmefällen“ zeigen, dass der knappe Protokollstil immer dann hinter den Wortlaut zurücktrat, wenn es um Authentizität ging, wenn also das Wissen der Zeugen im Detail gefragt war. Dabei konnten sich einzelne Aussagen sogar zu einem regelrechten „Panorama der Authentizität“ auswachsen, das dem zeitgenössischen Leser besondere Nähe zum Wortlaut suggerieren sollte und das schon allein deshalb quer zur gelehrt-juristischen Sprache lag, weil allzu starke Eingriffe des Protokollanten dieses Authentizität zunichte gemacht hätten. Drittens waren Eid und Belehrung keine bloßen Instrumente der Disziplinierung, denen sich die „gelehrten“ Akteure ohne weiteres hätten entziehen können. Wer sich – ob aus eigenem Antrieb oder auf Nachfrage – Gott und dem Jüngsten Gericht anheim stellte, der überwand leicht die Wahrnehmungsschwelle der Verhörkommissare und kam besonders ausführlich „zu Wort“. Auch der Gemeine Mann wusste mit der Parallelisierung von weltlichem und göttlichem Gericht umzugehen, und er konnte sich diese Verschränkung von Immanenz und Transzendenz in den konkreten Verhörsituation zu Nutze machen, um seinem eigenen „Wissen“ und seiner eigenen „Sprache“ Geltung zu verschaffen. Von einer völligen Überformung der Zeugenaussagen durch die Sprache des gelehrten Rechts sollte man deshalb nicht a priori ausgehen. Auch in RKGZeugenverhören kann die Suche nach den Normen und Ordnungsvorstellungen des Gemeinen Mannes also weitergehen.

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

■Tobias Branz■Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen am Reichskammergericht1■„Wir, auch Churfürsten, Fürsten, Prälaten, Graffen und Ständ, haben Uns einmüthiglich verglichen, und einander in guten wahren Treuen zugesagt und versprochen, daß keiner vom geistlichen oder weltlichen Stand den andern des Glaubens halben vergewaltigen, dringen oder überziehen, noch auch seiner Rent, Zinß, Zehenden und Güter entwehren. Deßgleichen keiner des andern Unterthanen und Verwandten, des Glaubens und anderer Ursachen halben in sonder Schutz und Schirm, wider ihre Oberkeit, nehmen sollen noch wollen, alles bey Pön und Straff deß Kayserlichen zu Wormbs auffgerichten Land=Friedens, welcher alles seines Inhalts in Würden bleiben, festiglich gehalten und vollnzogen werden soll.“2 1. Einleitung■Der Tatbestand des dem Reichsabschied des Reichstages zu Speyer von 1529 3 entnommenen Beschlusses stellt bestimmte Handlungen (unter anderem: „vergewaltigen, dringen oder überziehen“), welche „des Glauben halben“ 4 erfolgen, unter die Strafe des „zu Wormbs auffgerichten

■ 1 Völlig überarbeitete Schriftfassung (Frühjahr 2010) des Vortrags am 8. Oktober 2009 anlässlich der Tagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit in Wetzlar. Der Vortrag ist im Rahmen eines Dissertationsprojektes am Lehrstuhl für Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht von Herrn Professor Dr. Bernd Schildt in Bochum entstanden. Für die dort erfahrene Förderung möchte ich mich herzlich bedanken. Mein Dank gilt auch den Herren Professoren Dres. Albrecht Cordes (Frankfurt/M.), Ignacio Czeguhn (Berlin) und Bernhard Diestelkamp (Frankfurt/M.) für ihre weiterführenden Hinweise und Anregungen. 2 § 10 des Reichsabschiedes des Reichstages vom 22. April 1529 in Speyer, in: Heinrich Christian von Senckenberg, Neue und vollständigere Sammlung der Reichsabschiede (NSRA), Teile 1–4, Neudruck der Ausgabe 1747, Osnabrück 1967, Teil 2, S. 295. 3 Der Speyerer Reichstag 1529 ging mit dem Protest einiger Reichsstände einher, die den Reichsabschied nicht annahmen. Vgl. Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II, Karlsruhe 1966, S. 11f. mit weiteren Nachweisen = m.w.N. Vgl. auch H.-J. Becker, „Protest“, in: (Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte = HRG) III (1984), Sp. 2042–2044. Zur Bedeutung des Speyerer Abschiedes von 1529 vgl. auch Rudolf Smend, Das Reichskammergericht – 1. Teil: Geschichte und Verfassung, Neudruck der Ausgabe Weimar 1911, Aalen 1965, S. 137ff. Als Gesamtuntersuchung siehe Johannes Kühn, Die Geschichte des Speyerer Reichstags 1529 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 47/146), Leipzig 1529. 4 Der Versuch Martin Luthers, die Kirche zu reformieren, entwickelt sich, in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts beginnend, zu einer Spaltung des Glaubens. Karl V. erklärt Luther 1521 in Worms in die Reichsacht und macht damit deutlich, dass er das Bestreben Luthers als ketzerisch bewertet. Diese Bewertung ist als eine Ursache für die folgende Glaubensspaltung, und durch diese ausgelöst, auch für die Spaltung des Rechtsverständnisses, zu sehen. Vgl. hierzu Martin Heckel, „Luther“, HRG III (1984), Sp. 105 und Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexikon, Bd. 59, Leipzig und Halle 1749, Nachdruck 1998, „Wormser Edict“, Sp. 237f. Siehe auch J. Weiß, „Reformation“, HRG IV (1990), Sp. 459–468. Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II, Karlsruhe 1966, S. 8ff. und Martin Heckel, Die Reformationsprozesse im Spannungsfeld des Reichskirchensystems, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Die politische Funktion des Reichskammergerichts (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 24), Köln/Weimar/Wien 1993, S. 17ff. Das Wormser Edikt ist

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Land=Friedens“, welcher bestehen bleiben, und dessen Inhalt gehalten und vollzogen werden soll. Er kann als eine Ergänzung des Landfriedensschutzes, beziehungsweise als eine Ergänzung des Landfriedensbruchtatbestandes verstanden werden und erstreckt den Landfrieden auf den Bereich des Glaubens.5 ̶ Ausgelöst durch die Glaubensspaltung ergänzen bis zum Augsburger Religionsfrieden6 weitere, vergleichbare Tatbestände den Landfriedensbruchtatbestand beziehungsweise den Landfriedensschutz. Um diese Tatbestände von anderen zu unterscheiden und ihre Verwandtschaft zu den Tatbeständen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 zu verdeutlichen, werden sie im Folgenden als Religionsfriedenstatbestände bezeichnet.7 Im Rahmen des Dissertationsprojektes wird das Verhältnis der Religionsfriedenstatbestände zur Entwicklung der Landfriedensbruchtatbestände untersucht, wobei Landfriedensbruchprozesse mit Reformationsbezug am Reichskammergericht8 besondere Beachtung finden: Was konnte zwischen 1521 und 1555 unter die Tatbestände des Landfriedensbruchs subsumiert werden? Was war Sachgegenstand in als Reformationsprozessen zu qualifizierenden Landfriedensbruchverfahren am Reichskammergericht? Wie ist das Vorgehen des Reichskammergerichts in diesen Verfahren zu bewerten? 9 Inwieweit hatte das Reichskammergericht

■ abgedruckt in: Deutsche Reichstagsakten (RTA), Jüngere Reihe (JR), Bd. II (2. Aufl. 1962), bearbeitet von Adolf Wrede, VII No. 92, S. 640–659. Die Durchsetzung des Wormser Edikts führte zu machtpolitischen Kämpfen im Reich, welche auch den zitierten Speyerer Tatbestand von 1529 und den Protest einiger Stände gegen den Speyerer Reichsabschied zur Folge hatten (vgl. auch Anm. 3). Zur Person Karl V. siehe Alfred Kohler, Karl V. 1500–1558. Eine Biographie, München 2005. Siehe zudem Albrecht Pius Luttenberger, Glaubenseinheit und Reichsfriede – Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik (1530–1552) (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 20), Göttingen 1982. 5 Vgl. hierzu auch Jörn Sieglerschmidt, Territorialstaat und Kirchenregiment – Studien zur Rechtsdogmatik des Kirchenpatronatsrechts im 15. und 16. Jahrhundert (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 15), Köln/Wien 1987, S. 132. 6 Zum Augsburger Religionsfrieden siehe u.a. Karl-Hermann Kästner, „Augsburger Religionsfriede“, HRG I (2. Aufl. 2008), Sp. 360–362 und M. Heckel, „Religionsfriede, Augsburger“, HRG IV (1990), Sp. 869–874. 7 Vgl. auch Sieglerschmidt, Territorialstaat und Kirchenregiment (wie Anm. 5), S. 132. 8 Das Reichskammergericht war erstinstanzlich für Landfriedensschutzsachen zuständig. Vgl. Arno Buschmann, „Ewiger Landfriede“, HRG I (2. Aufl. 2008), Sp. 1447. Vgl. hierzu auch Bernd Schildt, Die Entwicklung der Zuständigkeit des Reichskammergerichts – Von der Kayserlichen Cammer-Gerichts-Ordnung Anno 1495 zum Concept der CammerGerichts-Ordnung vom Jahr 1613 (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 32), Wetzlar 2006, S. 13ff. – Einführend zum Reichskammergericht siehe Bernd Schildt, Reichskammergericht – Geschichte, Verfassung und Überlieferung, Juristische Ausbildung (JURA) 2006, S. 493ff. 9 U.a. die Behauptung, das Reichskammergericht habe im „rechtlichen Krieg“ seine friedenswahrende Funktion verloren (so Wolfgang Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz – Recht und Politik im Kontext der hessischen Reformationsprozesse am Reichskammergericht (Jus Ecclesiasticum – Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht 83), Tübingen 2008, S. 346, scheint angesichts der Tatsache, dass ein Religionskrieg viele Jahre, auch durch die Möglichkeit am Reichskammergericht zu

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

Einfluss auf die Gesetzgebung?10 Vor dem Hintergrund der Glaubensspaltung sollen mögliche Zusammenhänge der Herausbildung neuer Landfriedensbruchtatbestände mit der Prozesspraxis am Reichskammergericht aufgedeckt werden. 2. Zum Landfriedensschutz■Mit dem Ewigen Landfrieden von 149511 beginnt ein neues Kapitel der Entwicklung des Landfriedens:12 „Von Zeyt dieser Verkündung“13 und ohne zeitliche Begrenzung wird das Fehderecht aufgehoben, und das Austragen von Fehden verboten.14 Ein Verstoß gegen das Fehdeverbot wird als Bruch des Landfriedens mit der Reichsacht bestraft.15 Die „Delegitimierung der Fehde“16 als Mittelpunkt des Ewigen Landfriedens von

■ prozessieren, verhindert wurde, als zu weitgehend und wird vor allem aus der Perspektive der zu untersuchenden Prozessakten, kritisch zu hinterfragen sein. 10 Ein unmittelbarer Einfluss von Reichkammergerichts-Personal auf Reichskammergerichtsordnungen ist nachgewiesen. Vgl. Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555 (QFHG 10), Köln/Wien 1981, S. 221 und Paul L. Nève und Regina M. Sprenger, Das Plenum des Reichskammergerichts als Spruchkörper. Zwei Jahre während des „rechtlichen Krieges“: 1535–1537, in: Norbert Achterberg (Hg.), Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag, Recht und Staat im sozialen Wandel, Berlin 1983, S. 147f. Vgl. auch Gero Dolezalek, Die Assessoren des Reichskammergerichts und der Nürnberger Religionsfriede vom 23. Juli 1532, in: Gerhard Dilcher/Bernhard Diestelkamp (Hg.), Recht, Gericht, Genossenschaft und Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanischen Rechtshistorie. Symposium für Adalbert Erler, Berlin 1986, S. 84. – In welchem Maß ein Einfluss des Reichskammergerichts auf die Landfriedensgesetzgebung nachweisbar ist, ist zu untersuchen. 11 Zum „Ewigen Landfrieden“ und seinem Entstehungsprozess vgl. Mattias G. Fischer, Reichsreform und „Ewiger Landfrieden“ – Über die Entwicklung des Fehderechts im 15. Jahrhundert bis zum absoluten Fehdeverbot von 1495 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 34), Aalen 2007. Siehe auch Buschmann, „Ewiger Landfriede“ (wie Anm. 8), Sp. 1447–1450. Zudem auch Adolf Laufs, „Reichsreform“, HRG IV (1990), Sp. 736ff. 12 Zur Terminologie des Begriffs „Landfrieden“ siehe Ekkehard Kaufmann, Landfrieden I (Landfriedensgesetzgebung) und Heinz Holzhauer, Landfrieden II (Landfrieden und Landfriedensbruch), HRG II (1978), Sp. 1451–1465 und Sp. 1465–1485. Vgl. auch Ludwig August Würfel, Kurzgefaßtes Cameral-Lexicon der in der Kaiserlichen und Reichs=Cammergerichtsordnung und dasiger Praxi recipirten Terminorum JuridicoTechnicorum erklärt und beschrieben (Cameral-Lexicon), Frankfurt und Leipzig 1766, „Landfriede“, S. 60f. – Zur Entwicklung des Landfriedensbruchs auch: Paul Heilbronn, Die geschichtliche Entwickelung des Begriffs Landfriedensbruch, in: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW) 18 (1898), S. 1–52. 13 Vgl. § 1 des Ewigen Landfriedens von 1495, NSRA 2, S. 4. 14 Vgl. §§ 1 und 2 des Ewigen Landfriedens von 1495, NSRA 2, S. 4. Siehe auch Buschmann, „Ewiger Landfriede“ (wie Anm. 8), Sp. 1447. Zur Fehde siehe Christine Reinle, „Fehde“, HRG I (2. Aufl. 2008), Sp. 1515–1525. 15 Vgl. § 3 des Ewigen Landfriedens von 1495, NSRA 2, S. 4. Vgl. auch Buschmann, „Ewiger Landfriede“ (wie Anm. 8), Sp. 1447. Zur Reichsacht siehe Friedrich Battenberg, „Acht“, HRG I (2. Aufl. 2008), Sp. 59–65, Ludwig August Würfel, Cameral-Lexicon (vgl. Anm. 12), „Acht“, „Achtsentledigung“, „Achtserklärung“, S. 4f. und Joseph Poetsch, Die Reichsacht im Mittelalter und besonders in der neueren Zeit (Untersuchungen zur deutschen Staatsund Rechtsgeschichte 105), Neudruck der Ausgabe Breslau 1911, Aalen 1971. 16 Vgl. Fischer, Reichsreform (wie Anm. 11), S. 224 m.w.N.

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149517 bleibt derweil nicht alleiniger Ansatz, den Landfrieden zu schützen. So bildet sich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts neben dem Landfriedensbruchtatbestand, als einem Landfriedensschutzindikator, ein umfangreicherer Landfriedensschutz18 heraus. Andreas Gaill19 weist darauf hin, dass besondere Gesetze, als Landfriedensgesetze, den Schutz des Landfriedens ergänzen, indem sie Auseinandersetzungen, welche in Landfriedensbrüchen enden könnten, entgegenwirken.20 Ein Kennzeichen dieser besonderen Landfriedensgesetze ist ihr präventiver Landfriedensschutzcharakter.21 Sie sollen drohende Landfriedensbrüche durch vorgelagerte Verfahrensmöglichkeiten verhindern.22 Mithin unterscheidet sich der Landfriedensbruchtatbestand23 von ihnen durch das Erfordernis einer besonderen Gewaltanwendung24 („mit gewaltiger Tat“25), wobei der Maßstab für die Art und den Umfang der Gewaltanwendung nicht problemlos bestimmbar ist.26 Weitere Kennzeichen der Landfriedensbruchtatbestände sind die besonderen Tatbestandshandlungen, welche ebenfalls zur Unterscheidung von anderen Landfriedensschutzgesetzen herangezogen werden könnten, und die drohende Strafe der Reichsacht27. – Die in den Jahren von 1529 bis 1555 entstehenden Religionsfriedenstatbestände beziehen sich unmittelbar auf den Schutz des Landfriedens und scheinen in

■ Vgl. auch Buschmann, „Ewiger Landfriede“ (wie Anm. 8), Sp. 1447. Vgl. hierzu Miriam Katharina Dahm, Die Pfändungskonstitution gemäß RKGO 1555, Teil 2, Tit. XXII und ihr Verhältnis zum Landfrieden (Bochumer Forschungen zur Rechtsgeschichte = BFR 4), Aachen 2008, S. 72. 19 Zu seiner Person siehe Anja Amend, „Gail, Andreas (1526–1587)“, HRG I (2. Aufl. 2008), Sp. 1913–1914. 20 Andreas Gaill, De Pignorationibus. Von Pfandungs-Sachen / Wie derentwegen am kayserlichen Cammergericht erkennet und gesprochen werde. Ein sonderlich Buech, Augsburg 1673, 1. 1, 2. Vgl. auch Dahm (wie Anm. 18), S. 71ff. m.w.N. 21 Wobei auch der Landfriedensbruchtatbestand präventive Wirkungen entfaltete: Bei drohendem Landfriedensbruch konnten am Reichskammergericht Mandate gegen den potentiellen Friedensbrecher erwirkt werden. Vgl. Würfel, Cameral-Lexicon (wie Anm. 12), „Mandat“, S. 64f. M. Hinz, „Mandatsprozeß“, HRG III (1984), Sp. 236. Sieglerschmidt, Territorialstaat und Kirchenregiment (wie Anm. 5), S. 132. Jürgen Weitzel, Die Rolle des Reichskammergerichts bei der Ausformung der Rechtsordnung zur allgemeinen Friedensordnung, in: Ingrid Scheurmann (Hg.), Frieden durch Recht. Das Reichskammergericht von 1495–1806, Mainz 1994, S. 40–48 (45). 22 Vgl. bspw. die Konstitution des streitigen Besitzes (1512), die Diffamationsklage (1530) und die Pfändungskonstitution (1548). M.w.N. vgl. hierzu Dahm (wie Anm. 18), S. 72f. 23 Im Zusammenhang mit dem Bruch des Landfriedens sollte terminologisch differenziert werden: Von Landfriedensbruch im engeren Sinn (i.e.S.) sollte gesprochen werden, wenn ein Verstoß gegen den Landfriedensbruchtatbestand vorliegt, also bei repressiv angelegtem Landfriedensschutz. Ein Verstoß gegen präventive Landfriedensschutzgesetze sollte, wenn überhaupt, als Landfriedensbruch im weiteren Sinn (i.w.S.) bezeichnet werden. Vgl. hierzu auch Holzhauer, Landfrieden II (wie Anm. 12), Sp. 1465ff. – Im Folgenden ist, wenn von Landfriedensbruch die Rede ist, Landfriedensbruch i.e.S. gemeint. 24 Vgl. Paul Heilbronn, Die geschichtliche Entwickelung des Begriffs Landfriedensbruch, ZStW 18 (1898), S. 30ff. und Holzhauer, Landfrieden II (wie Anm. 23), Sp. 1482f. 25 Vgl. § 1 des Ewigen Landfriedens von 1495, NSRA 2, S. 4. 26 Vgl. Dahm (wie Anm. 18), S. 77f. m.w.N. 27 Vgl. hierzu auch Holzhauer, Landfrieden II (wie Anm. 12), Sp. 1467 und Sp. 1474. 17 18

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

besonderer Weise Ergänzungen der Landfriedensbruchtatbestände gewesen zu sein. 3. Zur Entstehung von Reformationsprozessen am Reichskammergericht■Der Beginn der Reformation fällt zeitlich mit dem Regierungsantritt Karls V. zusammen. 28 Gleich am Anfang seiner Regentschaft bezieht Karl V. deutlich Stellung für die römische Kirche und gegen Martin Luther, den er im Wormser Edikt 1521 in die Reichsacht erklärt. Trotz des Wormser Edikts breitet sich die Reformation im Reich aus.29 Wann am Reichskammergericht erste Prozesse mit Reformationsbezug30 anhängig werden, ist nicht unbedingt leicht zu verifizieren und damit auch nicht leicht zu recherchieren. Jedenfalls werden in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts erste Reformationsprozesse angestrengt. Rudolf Smend bezeichnet die Klage gegen den Magdeburger Rat aus dem Jahr 1524, wegen der dortigen Reformation, als ersten Religionsprozess.31 Ebenfalls aus dem Jahr 1524 nennt Smend die Klage gegen den Rat der Stadt Bremen, wegen der Niederreißung des St. Pauli Klosters in Bremen.32 Die ersten Reformationsverfahren sollen formell meist als Landfriedenssachen vom Fiskal33 eingeführt worden sein.34 Wobei die Bedeutung des

■ Vgl. u.a. Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II, Karlsruhe 1966, S. 6ff. Vgl. zum Wormser Edikt und dessen Folgen oben Anm. 4. 30 In der Forschung scheint sich die Bezeichnung der Verfahren mit Reformations- bzw. Religionsbezug bis zum Augsburger Religionsfrieden, als Reformationsprozesse, und der Verfahren mit Reformations- bzw. Religionsbezug auf Grundlage des Augsburger Religionsfriedens, als Religionsprozesse, durchzusetzen. Vgl. z.B. die Arbeiten zu Reformationsprozessen am Reichskammergericht von: Ekkehart Fabian, Urkunden und Akten der Reformationsprozesse am Reichskammergericht, am Kaiserlichen Hofgericht zu Rottweil und an anderen Gerichten, 1. Teil: Allgemeines 1530–1534. Quellenbuch zur Geschichte des „rechtlichen Krieges“ gegen protestierende Fürsten und Städte vom Augsburger Reichstage bis zur Rekusation des Kammerrichters und der Mehrheit der Beisitzer des Kaiserlichen Kammergerichts zu Speyer in Religionssachen (Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte – Darstellungen und Quellen 16/17), Tübingen 1961, S. 13. Hermann Buck, Die Anfänge der Konstanzer Reformationsprozesse, Oesterreich, Eidgenossenschaft und Schmalkaldischer Bund 1510/22–1531 (Schriften zur Kirchenund Rechtsgeschichte 29–31), 1964. Robert Schelp, Die Reformationsprozesse der Stadt Strassburg am Reichskammergericht zur Zeit des Schmalkaldischen Bundes (1524)/1531– 1541/(1555), Kaiserslautern 1965. Gero Dolezalek, Die juristische Argumentation der Assessoren am Reichskammergericht zu den Reformationsprozessen 1532–1538, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der Deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven (QFHG 21), Köln/Wien 1990, S. 25–58. Heckel, Die Reformationsprozesse im Spannungsfeld (wie Anm. 4). Wolfgang Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9). Zu den Religionsprozessen am Reichskammergericht siehe u.a. Bernhard Ruthmann, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555–1648). Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse (QFHG 28), Köln/Weimar/Wien 1996. Einen Überblick über Reformations- und Religionsprozesse am Reichskammergericht bietet Martin Heckel, Die Religionsprozesse des Reichskammergerichts im konfessionell gespaltenen Reichskirchenrecht, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (ZRG) Kanonistische Abteilung (KA) 108 (1991), S. 283–350. 31 Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 133 m.w.N. 32 Ebd. 33 Zum Fiskal siehe Albrecht Cordes, „Fiskal“, HRG I (2. Aufl. 2008), Sp. 1584f. 28 29

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Reichskammergerichts in den ersten Jahren der Reformationsprozesse eher gering gewesen sei, 35 was auch im Zusammenhang mit dem Einfluss des Reichsregiments36 in dieser Zeit auf das Reichskammergericht gesehen werden sollte.37 Jedoch wurden in dieser frühen Phase der Reformationsprozesse am Reichskammergericht Streitsachen eingeführt, die in späteren Jahren politisch bedeutsamen Einfluss erlangten. So werden unter anderem die Verfahren zwischen der Reichsstadt Goslar38 und Herzog Heinrich II. zu Braunschweig und Lüneburg (Wolfenbüttel)39 genannt.40 Obwohl der Konflikt zwischen der Stadt Goslar und Herzog Heinrich II. 41 ursprünglich nichts mit einem Glaubenskonflikt gemein hat,42 spielt die Reformation in Goslar gleichwohl eine nicht zu vernachlässigende Rolle in dieser Angelegenheit. Seit 1527, beziehungsweise 1529, verklagen sich die Reichsstadt Goslar und Herzog Heinrich II. am Reichskammergericht gegenseitig neben

■ 34 Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 133 m.w.N. Vgl. auch Ekkehart Fabian, Zur Einführung, in: Buck, Die Anfänge der Konstanzer Reformationsprozesse (wie Anm. 30), S. 7. 35 Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 136. 36 Zum Reichsregiment siehe Adolf Laufs, „Reichsregiment“, HRG IV (1990), Sp. 739–742. 37 Vgl. dazu Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 132ff. und 137. Das Reichsregiment wurde in dieser Zeit auch direkt angerufen und erließ auch eigenständig Mandate. Vgl. Schelp, Die Reformationsprozesse der Stadt Strassburg (wie Anm. 30), S. 38 und S. 42f. 38 Zur Stadt Goslar siehe Heiner Lück, „Goslar“, HRG 10. Lieferung (2. Aufl. 2009), Sp. 466–469. 39 Zu seiner Person siehe u.a. Friedrich Koldewey, Heinz von Wolfenbüttel. Ein Zeitbild aus dem Jahrhundert der Reformation, Halle 1883 und Franz Petri, Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel – Ein niederdeutscher Territorialfürst im Zeitalter Luthers und Karls V., Archiv für Reformationsgeschichte 72 (1981), S. 122–157 m.w.N. 40 Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 136. 41 Der Streit zwischen Goslar und Herzog Heinrich II. geht auf einen alten Konflikt zwischen der Reichsstadt und den Welfen zurück. Seit dem 13. Jahrhundert befand sich die Berghoheit für den Rammelsberg bei Goslar bei den Welfen. Aufgrund reicher Erzvorkommen war dieser Berg von höchster wirtschaftlicher Bedeutung. Durch geschickte Verhandlungen erlangte Goslar im 14. Jahrhundert durch Pfandverschreibungen Besitz am Rammelsberg. Herzog Heinrich II. zahlte 1527 alle Pfandsummen zurück und versuchte, den Rammelsberg gegen den Willen der Reichsstadt, in Besitz zu nehmen. Die auf Besitzerlangung bzw. -verteidigung gerichteten wechselseitigen Maßnahmen der Reichsstadt Goslar und Herzog Heinrich II., beinhalteten auch langjährige Prozesse am Reichskammergericht. Vgl. Gundmar Blume, Goslar und der Schmalkaldische Bund 1527/31–1547 (Beiträge zur Geschichte der Stadt Goslar 26), Goslar 1969, S. 1f. und zum Rechtstreit um den Rammelsberg: Paul Jonas Meier, Der Streit Herzog Heinrichs des Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel mit der Reichsstadt Goslar um den Rammelsberg (Quellen und Forschungen zur Braunschweigischen Geschichte IX), Goslar 1928. 42 Die Verflechtung politischer, kirchlicher und rechtlicher Komponenten scheint grundsätzliches Kennzeichen der Reformationsprozesse zu sein. Vgl. auch Buck, Die Anfänge der Konstanzer Reformationsprozesse (wie Anm. 30), S. 518. Schelp, Die Reformationsprozesse der Stadt Strassburg (wie Anm. 30), S. 24. Oskar Kühn, Westfälische Religionsprozesse vor dem Reichskammergericht, in: Achterberg (Hg.), Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag (wie Anm. 10), S. 107. Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 182.

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

Hoheitsstreitigkeiten43, auch wegen Landfriedensbruch44 und Konfessionsstreitigkeiten45 im Zuge der Einführung der Reformation in Goslar. Während Heinrich II. die Stadt Goslar wegen Landfriedensbruch aufgrund von Zerstörungen von Kirchen und Klöstern verklagt, verklagt Goslar Herzog Heinrich II. wegen Landfriedensbruch aufgrund von Übergriffen auf Goslarer Bürger, Gefangennahmen und Mord. So eignen sich von den zahlreichen Verfahren zwischen der Reichsstadt Goslar und Herzog Heinrich II. insbesondere die Landfriedensbruchprozesse, welche im Zusammenhang mit der Einführung der Reformation in Goslar stehen, als frühe reichskammergerichtliche Landfriedensverfahren mit Reformationsbezug, untersucht zu werden.46 Inhalt der frühen Reformationsverfahren am Reichskammergericht war überwiegend Streit über geistliches Gut47, während Verfahren über Inhalte beziehungsweise die Ausgestaltung des Glaubens seltener am Reichskammergericht geführt wurden.48 – Einen Einblick in die Tätigkeit des Reichskammergerichts in der frühen Phase der Reformationsprozesse, bietet das Mandatsverfahren des Adolf von Clarenbach gegen die Reichsstadt Köln.49 In diesem Ver-

■ 43 Vgl. Veröffentlichungen der Niedersächsischen Archivverwaltung – Das Niedersächsische Landesarchiv und seine Bestände, Bd. 1, Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchiv Hannover – Hochstift Hildesheim und benachbarte Territorien 1495– 1806, Teile 1–4, bearbeitet u.a. von Claudia Kauertz, Hannover 2009, insbesondere lfde. Nrn. 777–782, 787, 788–790, 791, 792, 793–794, 795–796, 797, 798–799, 805, 807. 44 Vgl. Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchivs Hannover (wie Anm. 43), insbesondere lfde. Nrn. 378, 783–784, 785, 800–801, 802–803, 804, 808 und: Die Akten des Reichskammergerichts im Sächsischen Staatsarchiv – Hauptstaatsarchiv Dresden, bearbeitet von Mark Alexander Steinert, 2009, Nrn. 60 und 61. 45 Vgl. Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchivs Hannover (wie Anm. 43), insbesondere lfde. Nrn. 368, 800–801, 802–803; wobei die Verfahren 800–801 und 802–803 als Landfriedensbruchverfahren geführt werden. 46 Der Konflikt um den Rammelsberg beschäftigte das Reichskammergericht bis ins 17. Jahrhundert; die Phase des Konfliktes aber, welche in die Reformationszeit fällt, sticht gegenüber den späteren Zeiträumen hervor, da sich der interne Konflikt zwischen Goslar und Herzog Heinrich II., zu einer wichtigen Reichsangelegenheit entwickelt. 47 Vgl. auch Dolezalek, Die juristische Argumentation der Assessoren (wie Anm. 30), S. 26f. 48 Vgl. Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 137. Prozesse mit ausschließlich religiösem Inhalt sollen niemals an weltlichen Gerichten und damit auch nicht am Reichskammergericht anhängig gemacht worden sein. Das Reichskammergericht hat selbst seine Entscheidungsbefugnis in solchen Verfahren abgelehnt. Vgl. Gerd Dommasch, Die Religionsprozesse der rekusierenden Fürsten und Städte und die Erneuerung des Schmalkaldischen Bundes 1534–1536 (Schriften zur Kirchen- und Rechtsgeschichte 28), Tübingen 1961, S. 18. Dolezalek, Die juristische Argumentation der Assessoren (wie Anm. 30), S. 38. 49 Trotz des Einsturzes des Kölner Historischen Stadtarchivs am 3. März 2009, können laut Auskunft des Archivs die Akten des Reichskammergerichts auf Mikrofilm im provisorischen Lesesaal eingesehen werden. Zudem kann auf eine fast vollständige Edition der Akte des hier angesprochenen Verfahrens von Carl Krafft, Die Beschlüsse des Rathes der Stadt Köln in Bezug auf die beiden evangelischen Märtyrer Peter Fliesteden und Adolph Clarenbach von ihrer Gefangennahme an bis zur Hinrichtung (1527–1529), in: Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins 10 (1874), S. 176–254 (zum Verfahren am Reichskammergericht insbesondere S. 200–229), zurückgegriffen werden. Die Edition

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fahren klagt Clarenbach auf Entlassung aus städtischer Haft, in die er wegen angeblichen Bekenntnisses zum Luthertum genommen wurde. In der Supplication der Brüder des Adolf von Clarenbach an das Reichskammergericht, wird allerdings über den Grund der Gefangennahme nichts erwähnt, sondern unter anderem ausgeführt, Clarenbach sei ohne Begründung in städtische Haft genommen worden.50 Das Reichskammergericht erlässt daraufhin am 10. September 1528 ein „Mandatum poenale cum clausula iustificatoria“51, gerichtet an Bürgermeister und Rat der Stadt Köln, mit dem Befehl, Clarenbach gegen Ableistung eines Urfehde-Gelöbnisses52, sofort aus der Haft zu entlassen.53 Die Stadt Köln wehrt sich gegen das Mandat des Reichskammergerichts, indem sie zunächst rügt, dass Clarenbach bei der Bitte um das Mandat die Wahrheit verschwiegen habe. Anschließend begründet die Stadt ihr eigenes Vorgehen mit dem ketzerischen Verhalten Clarenbachs und sieht sich unter anderem durch das Wormser Edikt Karls V. von 1521 legitimiert.54 In einem späterem „endtlichen Beschluß“ der Stadt Köln gegen Adolf von Clarenbach,55 wird dem Reichskammergericht durch den Kölner Stadtsyndikus mitgeteilt, dass trotz aller Einreden Clarenbachs und dessen Ungeständigkeit, an den bereits begründeten Ursachen der Gefangennahme festgehalten wird. Insbesondere wird auf den Reichstagsabschied von Speyer aus dem Jahre 1526 Bezug genommen, welcher nach Auslegung der Kölner ihren Gerichten gerade aufgibt, sich so zu verhalten, wie sie es tun. Es wird der Passus zitiert: „Und also, daß eyn iede Obrigkeyt, so vil das Wormbsisch Edict belangen ist, biß zu dem zukünfftigen Concilio, oder Nationalversamlung sich dermassen halten und regieren soll, wie er sich des gegen Got und Key. Mt. gedenckt und weyß zu verantworten.“56 Die Regelung in § 4 des Reichsabschiedes von 1526 in Speyer wurde von manchen Reichsständen zum Anlass genommen, die Reformation ungehindert durchzuführen.57 Andererseits wurde die Regelung in Köln dahin

■ Kraffts enthält zudem über das Material des Reichskammergerichts hinaus, weitere Quellen zur Sache. Angaben zu diesem Verfahren und auch Literaturnachweise, insbesondere zur Person Clarenbachs, im Inventar der Reichskammergerichtsakten des Historischen Archivs der Stadt Köln, Mitteilungen aus dem Stadtarchiv Köln, 82. Heft, Reichskammergericht Köln, Bd. 2, bearbeitet von Matthias Kordes, Köln 2000, lfde. Nr. 911. 50 Vgl. Krafft, ebd., S. 201f. und 215. 51 Vgl. dazu Würfel, Cameral-Lexicon (wie Anm. 12), „Mandatum c.c.i.e., cum clausula“, S. 66 und „Clausula justificatoria“, S. 26f. 52 Vgl. dazu Würfel, Cameral-Lexicon (wie Anm. 12), „Urphede“, S. 121. 53 Das Mandat findet sich bei Krafft, Die Beschlüsse des Rathes der Stadt Köln (wie Anm. 49), S. 202f. 54 Vgl. Krafft, ebd., S. 204ff. = S. 216ff. 55 Vgl. Krafft, ebd., S. 210ff. 56 Vgl. Krafft, Die Beschlüsse des Rathes der Stadt Köln (wie Anm. 49), S. 211. Vgl. auch den genauen Wortlaut des § 4 des Reichsabschiedes von Speyer 1526, NSRA 2, S. 274. 57 Vgl. Heinrich Bröhmer, Die Einwirkung der Reformation auf die Organisation und Besetzung des Reichskammergerichts, Speyer 1932, S. 2 m.w.N. Dolezalek, Die juristische Argumentation der Assessoren (wie Anm. 30), S. 28. Wolfgang Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 345.

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

gehend angewandt, das Vorgehen gegen die Kirchen-Reformer, gemäß dem Wormser Edikt, voranzutreiben. Sogar der Erzbischof und Kurfürst Hermann von Köln hat sich in dieser Angelegenheit an das Reichskammergericht gewandt und sich auf das Wormser Mandat und den Reichsabschied zu Speyer 1526 berufen. 58 Der Kurfürst gibt dem Reichskammergericht zu bedenken, dass sich dieses nicht gegen die kaiserlichen Ordnungen stellen solle und das Gericht in dieser den christlichen Glauben belangenden Angelegenheit, nicht zuständig, das Mandat ferner „abzuschaffen“ sei. Die Haltung des Reichskammergerichts selbst, scheint in diesen Jahren nicht eindeutig gewesen zu sein.59 Am 18. Dezember 1528 ergeht am Reichskammergericht in der Angelegenheit Clarenbach gegen die Stadt Köln ein Urteil: „Inn sachen Adolfs von Clarenbach wider die Statt Cöln ist nach allem fürbrengen zu recht erkannt, daß die von Köln noch zur zeit inn die peen, inn außgangen Mandat verleipt, nit zu erkleren, sondern inn dreien wochen den nechsten dem gemeltem Clarenbach unparteische Richter, fürderlich und gebürlich recht ergeen lassen schuldig sein. Und so das also inn berurter zeit nit beschehe, sol, auff ferrer sein Adolfen anruffen, hie an diesem keyserlichen Camergericht ergehn was recht ist.“60 Die Stadt Köln bleibt vor Strafe verschont und Clarenbach soll sich vor unparteiischen Richtern verantworten. Wie ist das Urteil des Reichskammergerichts zu bewerten? Wer sollen die „unparteiischen Richter“ sein? Konnte das Reichskammergericht aufgrund des § 4 des Reichsabschiedes von 1526 überhaupt anders urteilen? Der Wortlaut des § 4 (vgl. dazu Anm. 56) könnte dahingehend ausgelegt werden, dass vorläufig in Sachen des Wormser Edikts, das heißt, in Sachen der Kirchen-Reform, jeder Reichsstand eigenverantwortlich handeln und entscheiden darf.61 Dann hätte das Reichskammergericht gar keine rechtliche Handhabe gegen die Stadt Köln, was der Grund für die Aussetzung der Mandatsstrafe sein könnte. Das hieße, dass das Urteil des Reichskammergerichts in dieser Angelegenheit so neutral wie eben möglich gehalten ist und gleichzeitig die Stellung als höchstes Reichsgericht gewahrt wird, indem überhaupt geurteilt wird. Die Reichsstadt Köln reagiert auf das Urteil am 13. Januar 1529 dahingehend, dass dem Reichskammergericht mitgeteilt wird, dass dem Urteil insofern

■ Vgl. Krafft, ebd., S. 219ff. Vgl. Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 128f. m.w.N. und Bröhmer, Die Einwirkung der Reformation (wie Anm. 57), S. 1–5 m.w.N. 60 Vgl. Krafft, ebd., S. 212 und auch S. 226. Auf das Schreiben des Kölner Kurfürsten antwortet das Reichskammergericht nach dem Urteil vom 18.12.1528 und nimmt auf dieses auch Bezug. Zudem wird ausgeführt, dass pflichtgemäß im Sinne der Verantwortung gegenüber dem Kaiser und gegenüber Gott dem Allmächtigen gehandelt wurde, das Mandat nach den Angaben Clarenbachs ergehen musste und mit der „clausel justificationis“ (vgl. Anm. 51) ergangen ist. Insoweit sei das Handeln des Gerichts, zu entschuldigen. Vgl. Krafft, ebd., S. 221f. 61 J. Listl spricht in diesem Zusammenhang von Religionshoheit der weltlichen Reichsstände, „Religionsfreiheit“, HRG IV (1990), Sp. 863. Vgl. aber auch § 4 des Reichsabschiedes von 1529 in Speyer, NSRA 2, S. 293. 58 59

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nachgekommen wird, als das Clarenbach vor ein anderes Kölner Gericht, ein Kriminalgericht, gebracht wird, wobei der Richter dafür Sorge trage, dass die Schöffen unparteiisch seien.62 Anschließend streiten sich der Prokurator von Clarenbach, Dr. Leopold Dick63, und die Stadt Köln über das nun gewählte Gericht.64 Leopold Dick wendet sich im Februar 1529 zudem erneut an das Reichskammergericht und bittet um schnelle Hilfe (1. „periculum in mora“, 2. „securis ad cervicem posita“65) für Clarenbach, „welcher der tod neher sein mocht dan das leben“66. Dicks Anstrengungen bleiben wirkungslos: Clarenbach wird in Köln zum Tode durch das Feuer verurteilt und am 28. September 1529 hingerichtet.67 Nicht nur am Reichskammergericht, sondern auch an anderen Gerichten wurden in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts erste Reformationsprozesse anhängig.68 Für die Reichsstadt Konstanz liegt eine Arbeit vor, die sich mit den Anfängen der Reformationsprozesse der Stadt Konstanz am Reichskammergericht und überwiegend an anderen Gerichten befasst.69 Die Recherche nach geeigneten Reformationsprozessen am Reichskammergericht ist für die frühe Phase der Reformation (ca. 1521 bis 1529) wenig ertragreich, da es insgesamt wohl noch nicht viele solcher Verfahren gab, zudem auch das Reichsregiment in diesen Sachen anstelle des Reichskammergerichts tätig wurde und Verfahren vor lokalen Gerichten geführt wurden. Dies dürfte auch ein Grund dafür sein, dass die wenigen Verfahren mit Reformationsbezug, welche in der Frühphase der Reformation am Reichskammergericht anhängig gemacht wurden, oftmals Landfriedensprozesse waren, welche zur Zuständigkeit des

■ Vgl. Krafft, Die Beschlüsse des Rathes der Stadt Köln (wie Anm. 49), S. 212f. Vgl. die Vollmacht Clarenbachs für Leopold Dick und seinen Bruder Franz Clarenbach bei Krafft, ebd., S. 218f. 64 Vgl. Krafft, ebd., S. 213f., vgl. auch S. 226ff. 65 1. „Gefahr im Verzug“, 2. „das Beil an den Hals gelegt“. Vgl. Krafft, Die Beschlüsse des Rathes der Stadt Köln (wie Anm. 49), S. 224. 66 Vgl. Krafft, ebd., S. 223f. 67 Die genauen Umstände, die zum Todesurteil führten, sind wohl umstritten. Vgl. Krafft, ebd., S. 214f. Ders., Die Geschichte der beiden Märtyrer der evangelischen Kirche, Adolph Clarenbach und Peter Fliesteden, hingerichtet zu Köln am Rhein den 28. September 1529, Elberfeld 1886. 68 Vgl. Fabian, Urkunden und Akten der Reformationsprozesse (wie Anm. 30), S. 13. – Die Stadt Köln ging gegen Adolf von Clarenbach beim Kölner Offizial und beim Hohen Weltlichen Kurfürstlichen Gericht zu Köln vor; vgl. Krafft, ebd., S. 176, später am Kölner Kriminalgericht. 69 Buck, Die Anfänge der Konstanzer Reformationsprozesse (wie Anm. 30). Als reichskammergerichtliche Verfahren werden die Appellation von Schultheiß, Bürgermeister und Gericht von Hechingen und Vogt und Gericht von Stein gegen Priorin und Konvent des Klosters Zoffingen in Konstanz (Buck, S. 406–411 = Nachweis in Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg, Bd. 57, Akten des Reichskammergerichts im Staatsarchiv Sigmaringen – Inventar des Bestands R 7, bearbeitet von Raimund J. Weber, Stuttgart 2004, lfde. Nr. 243) und die Appellation der Frauen von St. Peter, wobei dieses Verfahren bislang nicht gefunden worden ist (Buck, S. 417–420), genannt. 62 63

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

Reichskammergerichts gehörten. 70 Im Mittelpunkt der Untersuchungen in dieser Frühphase der Reformationsprozesse am Reichskammergericht steht daher auch die Frage, wie reformatorische Maßnahmen zu Gegenständen von Landfriedensbruchverfahren am Reichskammergericht wurden. 4. Religionsfriedenstatbestände als Ergänzungen von Landfriedensbruchtatbeständen und Landfriedensbruchprozesse als Reformationsprozesse am Reichskammergericht■Für die Untersuchungen werden der Landfrieden von 1521 als normative Ausgangssituation, wobei sich der Wortlaut des Landfriedensbruchtatbestandes nicht vom Wortlaut des Landfriedensbruchtatbestandes von 1495 unterscheidet, und als normative Endsituation der Landfrieden von 1555, wobei sich der Landfriedensbruchtatbestand nur geringfügig vom Wortlaut des Landfriedensfriedensbruchtatbestandes von 1548 unterscheidet, herangezogen. In der Zeit zwischen Wormser Edikt und Augsburger Religionsfrieden wird der Landfriedensbruchtatbestand umfangreich erläutert und in seinen Auslegungsmöglichkeiten weiterentwickelt.71 – Auf dem Reichstag 1521 zu Worms wird ein gemeiner „Frieden durch das Heilige Reich und Teutsche Nation, inmassen der durch Unsern Anherrn erstlich allhie zu Wormbs auffgerichtet und folgends zu andern Reichs-Tägen weiter erklärt worden ist, mit ettlichen betrachtlichen und nothdürfftigen Zusätzen, und weiter Erklärungen fürgenommen, auffgericht, geordnet und gemacht“72. Die zahlreichen Erläuterungen des Landfriedens in den Reichsabschieden nach 1495, werden somit im Landfrieden 1521 systematisch geordnet und zusammengefasst.73 Wiederum ein viertel Jahrhundert später wird auf dem Reichstag zu Augsburg 1548 ein erneuerter Landfriede verkündet.74 Wiederum wird auch auf den Landfrieden von 1495 Bezug genommen, aber auch auf den Landfrieden von 1521 zu Regierungsantritt Karls V., der „den Fußstapffen desselben unsers Anherrn“ nachgefolgt sei, indem er auf seinem erstem Reichstag den Landfrieden mit weiteren Erklärungen anderer Reichstage erneuert hat. 75 Der neue Landfrieden wird „nach Gelegenheit und Nothdurfft der Zeit und Sachen gebessert, gemehret und erklärt“. Im Vergleich zum Landfriedensbruchtatbestand von 1521, ist der

■ 70 Vgl. dazu auch Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 132ff., 137, 142f. und auch Schelp, Die Reformationsprozesse der Stadt Strassburg (wie Anm. 30), S. 38 und S. 42f. 71 Vgl. auch Buschmann, „Ewiger Landfriede“ (wie Anm. 8), Sp. 1448f. 72 Vgl. Landfrieden Worms 1521, vor I., NSRA 2, S. 195. 73 Der Landfriedensbruchtatbestand findet sich bei NSRA 2, Landfrieden Worms 1521, vor I., S. 195. Vgl. den Wortlaut des Landfriedensbruchtatbestandes von Worms 1495, im Ewigen Landfriedens von 1495, § 1, NSRA 2, S. 4. Der Tatbestand von 1521 ist bis auf kleine Abweichungen in der Orthographie und Interpunktion (in der Quellenedition) mit dem Tatbestand von 1495 identisch. 74 Vgl. NSRA 2, S. 574ff. 75 Vgl. Landfrieden Augsburg 1548, § 1, NSRA 2, S. 575.

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Tatbestand von 154876, „[...], also, daß von Zeit dieser Verkündigung niemands, weß Würden, Stands oder Wesens der sey, um keinerley Ursachen willen, [...], den andern bevehden, bekriegen/ berauben/ fahen/ überziehen/ belägern/ noch einige verbottene Conspiration, oder Bündnuß wider den andern aufrichten, oder machen. Daß auch keiner den andern seiner Posseßion, Inhabens/ oder Gewehr [...], mit gewehrter Hand, und gewaltiger That, freventlich entsetzen, noch seine Unterthanen abziehen, oder zum Ungehorsam wider ihre Obrigkeit bewegen, [...]“77, deutlich umfangreicher geworden. Die Einfügung der Worte „um keinerley Ursachen willen“ deutet darauf hin, dass die Qualifikation bestimmter Handlungen aufgrund bestimmter Ursachen als landfriedensbrüchig, beziehungsweise die Subsumtion bestimmter Handlungen aufgrund bestimmter Ursachen, unter den Landfriedenstatbestand von 1521, nicht unbestritten gewesen ist,78 oder auch neue Umstände, es sei auf die Glaubensspaltung und die Religionsfriedenstatbestände hingewiesen, zu einer Ausweitung der Subsumtionsmöglichkeiten geführt haben. Nunmehr könnte solchen Streitigkeiten die normative Unsicherheit genommen worden sein, indem die Ursachen, die zu landfriedensbrüchigen Handlungen führen, keinen Einfluss mehr auf die Subsumtion unter den Landfriedensbruchtatbestand haben könnten. Weitere Tatbestandsteile des neuen Landfriedensbruchtatbestandes können auf bestimmte Streitstände zwischen 1521 und 1548 bezogen werden (z.B.: „verbottene Conspiration, oder Bündnuß wider den andern aufrichten“), welche insbesondere auch aus Glaubensgründen verursacht wurden.79 Nach dem Wormser Edikt 1521 sind die Speyerer Reichsabschiede der Jahre 1526 und 1529 von Bedeutung für die Reformation: Wird das Wormser Edikt im § 4 des Speyerer Reichsabschiedes von 1526, (vermeintlich) dahingehend relativiert, dass sich die Stände so zu verantworten haben, wie sie es sich gegenüber Gott und der Kaiserlichen Majestät getrauen, 80 so qualifiziert drei Jahre später der erste Religionsfriedenstatbestand 81 festgelegte Handlungen (u.a. „vergewaltigen, dringen oder überziehen“), welche aus Glaubensgründen

■ 76 Zum Landfriedenstatbestand von 1555, der sich nur geringfügig vom Tatbestand 1548 unterscheidet, vgl. NSRA 3, Reichsabschied 1555 Augsburg, § 14, S. 17. 77 Vgl. Landfrieden Augsburg 1548, ebd. 78 Was genau diese „bestimmten Handlungen aufgrund bestimmter Ursachen“ ausmachte, also um welche Handlungen Streit bei der Subsumtion unter den Landfriedensbruchtatbestand bestand, wird vor allem vor dem Hintergrund der Glaubensspaltung untersucht. 79 Hier sei auf den Schmalkaldischen Bund hingewiesen (vgl. dazu unten). Vgl. zudem Holzhauer, Landfrieden II (wie Anm. 12), Sp. 1481. 80 Vgl. § 4 des Reichsabschiedes von Speyer 1526, NSRA 2, S. 274. Vgl. auch oben. – Diese Relativierung muss im Zusammenhang mit der politischen Bedrängnis gesehen werden: Türkengefahr und Bauernkrieg, vgl. vor § 1 des Reichsabschiedes von Speyer 1526, NSRA 2, S. 270. Vgl. auch Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 56f. 81 Vgl. den § 10 des Reichsabschiedes von Speyer 1529, NSRA, S. 295. Vgl. oben. Auch hier waren wohl die politischen Verhältnisse ausschlaggebend, den Religionsfriedenstatbestand zu beschließen, vgl. Schelp, Die Reformationsprozesse der Stadt Strassburg (wie Anm. 30), S. 17 m.w.N.

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

erfolgen, als landfriedensbrüchig.82 Die aus dem § 4 des Reichsabschiedes von 1526 herauslesbare Eigenverantwortung wird somit hinsichtlich des Landfriedensschutzes eingeschränkt. Der Religionsfriedenstatbestand von 1529 könnte (isoliert betrachtet) dahingehend ausgelegt werden, dass der Glaube der Reformer geduldet wird, aber keine landfriedensbrüchigen Handlungen aus Glaubensgründen unternommen werden dürfen, wobei das Maß der Duldung weiterhin auf den § 4 des Reichsabschiedes von 1526 gestützt sein kann. Jedoch wird bezüglich des § 4 des Reichsabschiedes von 1526 in den §§ 3 und 4 des Reichsabschiedes in Speyer des Jahres 1529 ausgeführt, dass „derselb Articul [§ 4 aus 1526] bey vielen in grössern Mißverstand, und zu Entschuldigung allerley erschröcklichen neuen Lehren und Secten seithero gezogen und ausgelegt hat werden wollen“83. Nunmehr wird klargestellt, dass das Wormser Edikt von 1521 vollstreckt werden soll, und zudem alle zukünftigen (ketzerischen) Neuerungen bis zum künftigen Konzil soweit wie möglich verhindert werden sollen.84 Vor dem Hintergrund dieser Regelung muss der Religionsfriedenstatbestand dahingehend verstanden werden, dass, mit Bezug zum Wormser Edikt von 1521, (ab sofort) reformatorische Maßnahmen mit der Strafe des Landfriedens bedroht werden. Die reformwilligen Reichsstände protestieren gegen die entsprechenden Beschlüsse des Reichsabschiedes.85 Auf dem Reichstag in Augsburg 1530 verschärft sich die Situation, indem unter anderem ein weiterer Religionsfriedenstatbestand nun auch rückwirkend reformatorische Maßnahmen unter die Strafe des Landfriedensbruches stellt. 86 Der neue Religionsfriedenstatbestand 87 schafft eine reichsrechtliche Basis für die Verfolgung reformatorischer Maßnahmen am Reichskammergericht durch extensive Ergänzungen des Landfriedensbruchtatbestandes88 und bestätigt „das katholische Verständnis des Reichs und Rechts“89. Durch die

■ Vgl. auch Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 137. Schelp, ebd., S. 17f. und 47. Dommasch, Die Religionsprozesse der rekusierenden Fürsten (wie Anm. 48), S. 15. Sieglerschmidt, Territorialstaat und Kirchenregiment (wie Anm. 5), S. 132. 83 Vgl. § 4 des Reichsabschiedes von 1529 in Speyer, NSRA 2, S. 293. 84 Vgl. § 4 des Reichsabschiedes von 1529 in Speyer, ebd. 85 Vgl. oben Anm. 3. 86 Vgl. dazu auch Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 131. 87 § 59 des Reichsabschiedes in Augsburg 1530, NSRA 2, S. 314. 88 Vgl. hierzu Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 137ff. Bröhmer, Die Einwirkung der Reformation (wie Anm. 57), S. 4f. Fabian, Urkunden und Akten der Reformationsprozesse (wie Anm. 30), S. 12f. 89 Heckel, Die Reformationsprozesse im Spannungsfeld (wie Anm. 4), S. 11f. Neben dem § 59 werden anschließend in den folgenden §§ weitere Ausführungen zum Glaubenskonflikt gemacht. In § 62 (Reichsabschied Augsburg 1530, NSRA 2, S. 315) wird explizit angeordnet, „daß ein jede Oberkeit, geistlich und weltlich, deßgleichen ihre Unterthanen geistlich und weltlich, bey ihren Renthen, Gülten, Zinsen, Zehenden, Rechten und Gerechtigkeiten bleiben, keiner den andern deß alles entsetzen, verhindern, betrüben, sonder einem jeglichen sein Erb, ewige und andere Zinß, Gült, Zehenden und andere Recht und Gerechtigkeit bezahlen, entrichten und folgen lasse. Darinn auch ein jede Obrigkeit der andern behülfflich seyn soll: Alles bey Vermeidung der Straff in Unserm Land=Frieden begriffen [...]“. Auch der Religionsfriedenstatbestand von 1529 und diesen 82

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Religionsfriedenstatbestände sind nun alle reformatorischen Maßnahmen als rechtswidrig und landfriedensbrüchig qualifiziert. Dies bringt zumindest die Gefahr einer nun beginnenden Welle von reichskammergerichtlichen Landfriedensbruchklagen mit Reformationsbezug gegen die Reformer mit sich.90 Dem Wortlaut des Religionsfriedenstatbestandes von 1530 nach, bestand Anlass genug, zu gerichtlichen Verfahren. Ab den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts lassen sich tatsächlich zahlreiche Verfahren mit Reformationsbezug am Reichskammergericht nachweisen. Bis vor einigen Jahren war der Zugang zu den Prozessakten des Reichskammergerichts nicht einfach. Durch die sukzessive Verzeichnung der Verfahren in den Verwahrarchiven und die sukzessive Veröffentlichung der entsprechenden Inventare, können die Verfahrensakten weitgehend erstmalig wissenschaftlich benutzt werden.91 Über die (meist vorhandenen, aber uneinheitlichen) Indices der Inventare kann ein Zugang zu den Verfahren des jeweiligen Inventars gefunden werden. Darüber hinaus ermöglicht nunmehr die in dem Forschungsprojekt zur inhaltlichen Erschließung und ideellen Zusammenführung der Prozessakten des Reichskammergerichts erstellte Bochumer-Daten-

■ ergänzende Ausführungen aus dem Reichsabschied in Speyer 1529 werden in den §§ 65ff. des Reichsabschiedes von 1530 in Augsburg wiederholt (vgl. ebd., S. 316). Bemerkenswert ist noch der § 91 des Reichsabschiedes von Augsburg 1530, welcher regelt, dass das Reichskammergerichtspersonal für den Fall der Nichtbeachtung des Reichsabschiedes mit Beurlaubung bedroht ist, NSRA 2, S. 320. Siehe hierzu auch die 1533 in Speyer aufgerichtete Reichskammergerichtsordnung I § 16, NSRA 2, S. 405f. Vgl. auch schon Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 147. 90 Vgl. auch Fabian, Urkunden und Akten der Reformationsprozesse (wie Anm. 30), S. 12 und die kurz nach dem Reichstag 1530 beginnenden Prozesse gegen die Stadt Straßburg, bei Schelp, Die Reformationsprozesse der Stadt Strassburg (wie Anm. 30), S. 58, 75ff. (wobei es sich nicht um Landfriedensbruchsachen handele, S. 120). Vgl. auch Gabriele Schlütter-Schindler, Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis (Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften, Bd. 283), Frankfurt a.M. 1986, S. 17. Dolezalek, Die juristische Argumentation der Assessoren (wie Anm. 30), S. 29. Sieglerschmidt, Territorialstaat und Kirchenregiment (wie Anm. 5), S. 137f. Martin Heckel, Die Religionsprozesse des Reichskammergerichts im konfessionell gespaltenen Reichskirchenrecht, ZRG KA 108 (1991), S. 289f. 91 Vgl. Jürgen Weitzel, Das Inventar der Akten des Reichskammergerichts, Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte (ZNR) 21 (1999), S. 408–416 (408). – Grundlegend zur Überlieferung, der Aufteilungspraxis und zur Erschließung der Prozessakten des Reichskammergerichts siehe Walther Latzke, Das Archiv des Reichskammergerichts, ZRG Germanistische Abteilung (GA) 78 (1961), S. 321–326 und Bernhard Diestelkamp, Der Stand der Arbeiten zur Erschliessung der Quellen des Reichskammergerichts, consilium magnum 1473–1973, 8. –9. XII. 1973, Brüssel 1977, S. 199–213. Vgl. auch Friedrich Battenberg, Inventarisierung der Akten des ehemaligen Reichskammergerichts, in: Jahrbuch der historischen Forschung in der Bundesrepublik Deutschland, Berichtsjahr 1983, München/New York/London/Paris 1984, S. 23–29 und ders., Reichskammergericht und Archivwesen – Zum Stand der Erschließung der Reichskammergerichtsakten, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte – Stand der Forschung, Forschungsperspektiven (QFHG 21), Köln/Wien 1990, S. 173–194. Bernhard Diestelkamp, Verzeichnung der RKG-Prozeßakten und Wissenschaftsgeschichte, in: Nils Jörn/Bernhard Diestelkamp/Kjell Åke Modéer (Hg.), Integration durch Recht – Das Wismarer Tribunal (1653−1806) (QFHG 47), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 319−327.

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

bank, gezieltes Suchen über unterschiedlichste Fragestellungen nach geeigneten Verfahren innerhalb kürzester Zeit und nach für alle erschlossenen Verfahren einheitlichen Kriterien. 92 Mit Hilfe der Bochumer-Datenbank konnten insbesondere für die Hauptphase der Reformationsprozesse am Reichskammergericht (ca. 1529–1555) zahlreiche Landfriedensbruchprozesse mit Reformationsbezug recherchiert werden. Wobei die Qualifizierung der Verfahren als „normale“ Landfriedensbruchverfahren oder als Landfriedensbruchverfahren mit Reformationsbezug nicht immer einfach ist,93 so dass über die recherchierten Verfahren hinaus, weitere Landfriedensbruchverfahren mit Reformationsbezug existieren können, welche als solche bislang nicht erkannt worden sind.94 Die Auswahl der in der Arbeit zu untersuchenden Verfahren richtet sich nach folgenden Kriterien: 1) vermuteter (anhand der Inventarangaben und Angaben aus Sekundärliteratur) Aussagegehalt zu den Fragestellungen der Arbeit, 2) Bedeutung des Prozesses in der Reichspolitik, 3) Laufzeit der Verfahren, 4) Zugänglichkeit und Umfang der Verfahren. Als Reaktion auf die Bedrohung durch die Reichsabschiede von 1529 und 153095 gründen protestierende Stände 1531 den Schmalkaldischen Bund.96 Die Bündnismitglieder verpflichten sich zur gegenseitigen Hilfe.97 Erstmalig in der

■ Siehe hierzu: Bernd Schildt, Inhaltliche Erschließung und ideelle Zusammenführung der Prozessakten des Reichskammergerichts mittels einer computergestützten Datenbank, ZNR 25 (2003), S. 269–290, ders., Datenbank Reichskammergerichtsakten, Zeitenblicke 3 (2004) Nr. 3, und ders., Virtuelle Zusammenführung und inhaltlich-statistische Analyse der überlieferten Reichskammergerichtsprozesse, in: Rainer Hering u.a. (Hg.), Forschung in der digitalen Welt, Hamburg 2006, S. 125–141. 93 So war schon den Zeitgenossen nicht unbedingt klar, ob ein Verfahren Reformationsbezug hatte oder nicht – gerade diese Qualifizierung war höchst umstritten. Gleichfalls geben nicht alle in den Inventaren verzeichneten Reichskammergerichtsverfahren ausreichend Hinweise zur Verfahrensart. Auch über den Verfahrensgegenstand ist eine Qualifizierung als Landfriedensbruchverfahren oder als Reformationsprozess nicht immer eindeutig möglich. Genauere Zahlen werden nach Abschluss der sukzessiven Weiterentwicklung der Bochumer-Datenbank abgefragt werden können, wenn durch Einzelarbeiten, Informationen aus Akteneinsichten und Sekundärliteratur in die Datenbank aufgenommen werden konnten. 94 Im Übrigen sind noch nicht alle reichskammergerichtlichen Verfahren verzeichnet beziehungsweise die entsprechenden Inventare veröffentlicht, so dass diese Verfahren von der Recherche nicht umfasst werden können. 95 Vgl. auch zum Folgenden: Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 131ff. m.w.N. 96 Zum Schmalkaldischen Bund siehe u.a. Schlütter-Schindler, Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis (wie Anm. 90). Gabriele Haug-Moritz/Georg Schmidt, Theologische Realenzyklopädie – Studienausgabe Teil III, Bd. XXX, Berlin/New York 1999, „Schmalkaldischer Bund“, S. 221–228, und Gabriele Haug-Moritz, Der Schmalkaldische Bund 1530–1541/42 – Eine Studie zu den genossenschaftlichen Strukturelementen der politischen Ordnung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 44), Leinfelden-Echterdingen 2002. 97 Vgl. hierzu Schlütter-Schindler, ebd., S. 17ff. Gabriele Haug-Moritz, Widerstand als „Gegenwehr“ – Die schmalkaldische Konzeption der „Gegenwehr“ und der „gegenwehrliche Krieg“ des Jahres 1542, in: Robert von Friedeburg (Hg.), Widerstandsrecht in der frühen Neuzeit – Erträge und Perspektiven der Forschung im deutsch-britischem Vergleich 92

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Geschichte des Reichs entsteht ein Bündnis, welches im Bündnisfall militärischen Widerstand gegen das Reichsoberhaupt erlaubt. 98 Bleiben die Überlegungen über das Widerstandsrecht gegen den Kaiser (zunächst) theoretischer Natur, werden die Überlegungen zur Verteidigung am Reichskammergericht bald konkretisiert. Die juristischen Argumente für die Verteidigung in Reichskammergerichtsprozessen werden maßgeblich von dem Juristen Dr. Johannes Feige beeinflusst, welcher als Kanzler in der Regierung eines führenden Gründungsmitgliedes des Schmalkaldischen Bundes tätig ist: für den Landgrafen Philipp von Hessen.99 Dr. Feige stützte seine Argumentation vor allem auf die (behauptete) Unzuständigkeit des Reichskammergerichts in „sachen des glaubens“, „wölliche vor das kay: camergericht als ein weltlich gericht von gotts und rechts wegen nicht hingehörn möcht“.100 Für die Verfahren mit Glaubensbezug am Reichskammergericht, also für die Reformationsprozesse, übertragen die protestierenden Stände gemeinsam den Prokuratoren Dr. Ludwig Hierter und Lic. Johann Helfmann eine Generalvollmacht.101 Die Qualifizierung aller reformatorischen Maßnahmen als rechtswidrig und landfriedensbrüchig führt bald zu Prozessen am Reichskammergericht. So klagt beispielsweise ab 1529 der Erzbischof von Riga unter anderem wegen Landfriedensbruch durch Zerstörung von Altären und Konfiskation von Kirchengut und Einführung des lutherischen Glaubens, gegen die Stadt Riga.102

■ (Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 26), Berlin 2001, S. 142f., 152 und dies., Der Schmalkaldische Bund 1530–1541/42 (wie Anm. 96). 98 So Haug-Moritz, Widerstand als „Gegenwehr“ (wie Anm. 97), S. 142. 99 Vgl. Schlütter-Schindler, ebd., S. 19f. Zur Person Johannes Feige siehe Günther Seifert, Johannes Feige von Lichtenau als Kanzler Philipps des Großmüthigen 1518 bis 1543, Marburg a.d. Lahn 1922. Gerhard Müller, Johannes Feige, der Kanzler Philipps des Großmütigen, in: Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung 12, 1961, S. 175–182 und Walter Heinemeyer, Johann Feige von Lichtenau. Kanzler des Landgrafen Philipp, Kanzler der Philipps-Universität Marburg, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde 97, 1992, S. 25–40. Johannes Feige war Kommilitone Martin Luthers in Erfurt und hielt Kontakt mit seinem Studienkollegen, vgl. Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 51 m.w.N. Zur Person des Landgrafen Philipp siehe u.a. Adolf Hasenclever, Die Politik Kaiser Karl V. und Landgraf Philipps von Hessen vor Ausbruch des schmalkaldischen Krieges (Januar bis Juli 1546), Marburg 1903 und S. Issleib, Philipp von Hessen, Heinrich von Braunschweig und Moritz von Sachsen 1541–1547, in: Jahrbuch des Geschichtsvereins für das Herzogtum Braunschweig, Jg. 2, 1903, S. 1–80. 100 Vgl. das Gutachten des Johannes Feige für den Schmalkaldischen Bund aus Dezember 1530, „Verzeichnus, wie in der viscalischen sachen etlich procuratores constituiert und procediert soll werden“, in: Fabian, Urkunden und Akten der Reformationsprozesse (wie Anm. 30), Nr. 1, S. 18–24, hier zitiert aus S. 19. 101 Die Vollmacht vom 09. Juni 1531 findet sich u.a. bei Fabian, ebd., Nr. 4, S. 31–34. 102 Vgl. Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs 46 – Reichskammergericht, Bestand AR 1, Prozeßakten, bearbeitet von Ursula Hüllbüsch und Hans Schenk, Koblenz 1994, lfde. Nr. 271. Nach Ekkehart Fabian (Quellen zur Geschichte der Reformationsbündnisse und der Konstanzer Reformationsprozesse 1529–1548. Erstausgabe von ausgewählten Texten zur Bündnis- und Bekenntnispolitik reformierter Orte der Eidgenossenschaft mit den schmalkaldischen Bundesständen Konstanz, Straßburg und Hessen (sowie Ulrich von Württemberg) und zur kirchlichen Rechtsgeschichte der reformierten Reichsstadt Kon-

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

Ebenfalls klagt ab 1529 der Pfarrherr zu Lindau wegen rechtswidriger und landfriedensbrüchiger Entsetzung der Pfarrei Lindau gegen die Reichsstadt Lindau. 103 Auch das Hamburger Domkapitel klagt ab 1529 unter anderem wegen Verstoß gegen den Religionsfrieden, auf Grund des Streits um die Abgabenfreiheit des Domkapitels und wegen der Einsetzung von Pastoren.104 Im Jahr 1531 wird eines der bekanntesten und bedeutendsten Landfriedensbruchverfahren mit Reformationsbezug am Reichskammergericht anhängig: die Klage der Stifter St. Martini und St. Johannis sowie des Klosters St. Mauritii et Simeonis wegen landfriedensbrüchiger Beraubung, Beschlagnahme der Glocken, Abbrechen einer Kapelle und weiterem, gegen die Stadt Minden.105 In diesen Prozessen wurde (logischer- und konsequenterweise) auch die Qualifikation der Handlungen als landfriedensbrüchig überhaupt bestritten. Bereits im oben erwähnten Gutachten Feiges wird deutlich, dass die protestierenden Stände generell die Zuständigkeit des Reichskammergerichts in Prozessen mit Glaubens-, also mit Reformationsbezug, bestreiten und somit die Tätigkeit des Reichskammergerichts in diesen Sachen generell eingestellt wis-

■ stanz. Mit einer Übersicht verschiedener Reformationsbündnisse 1526–1546, Tübingen/Basel 1967, S. 241) wird Riga um Dezember 1539 herum, Mitglied im Schmalkaldischen Bund. Das hier genannte Verfahren am Reichskammergericht läuft bis 1540. 103 Vgl. Bayerische Archivinventare 50 – Bayerisches Hauptstaatsarchiv (Bay. HStA), Reichskammergericht, Bd. 9, bearbeitet von Manfred Hörner und Magrit Ksoll-Marcon, München 2002, lfde. Nr. 3232. Die Reichsstadt Lindau ist bereits seit Februar 1531 Mitglied im Schmalkaldischen Bund; vgl. Fabian, Quellen zur Geschichte der Reformationsbündnisse und der Konstanzer Reformationsprozesse 1529–1548 (wie Anm. 102), S. 239. Das Verfahren läuft bis 1541. Die Streitigkeiten beginnen bereits 1525, vgl. Bay. HStA (ebd.), lfde. Nr. 3231. Ab 1536 klagt auch der kaiserliche Fiskal gegen die Reichsstadt; vgl. Bay. HStA (ebd.), lfde. Nr. 3351. Vgl. auch Dommasch, Die Religionsprozesse der rekusierenden Fürsten (wie Anm. 48), S. 90 m.w.N. 104 Vgl. Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg XIII – Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Hamburg, bearbeitet von Hans-Konrad Stein-Stegemann, Teil 1, Hamburg 1993, lfde. Nrn. H 14 und H 15. Das Verfahren H 14 zieht sich bis in das Jahr 1559. Im Februar 1536 tritt Hamburg dem Schmalkaldischen Bund bei; vgl. Fabian, Quellen zur Geschichte der Reformationsbündnisse und der Konstanzer Reformationsprozesse 1529–1548 (wie Anm. 102), S. 240. Vgl. hierzu Johannes Spitzer, Hamburg im Reformationsstreit mit dem Domcapitel. Ein Beitrag zur Hamburgischen Staats- und Kirchengeschichte der Jahre 1528 bis 1561, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 11 (1903), S. 430–591 und Wilhelm Jensen, Das Hamburger Domkapitel und die Reformation, in: Arbeiten zur Kirchengeschichte Hamburgs 4, Hamburg/Wittig 1961. 105 Vgl. Das Staatsarchiv Münster und seine Bestände (StA M) – Gerichte des Alten Reiches, Teil 2: Reichskammergericht (L-Z), Reichshofrat, bearbeitet von Günter Aders, Münster 1968, lfde. Nr. 3611. Die Stadt Minden tritt dem Schmalkaldischen Bund vor September 1536 bei; vgl. Fabian, ebd., S. 240. 1538 verhängt das Reichskammergericht die Reichsacht über Minden. Das Urteil wird jedoch nicht vollstreckt und zudem 1541 von Karl V. suspendiert. Vgl. Kühn, Westfälische Religionsprozesse vor dem Reichskammergericht (wie Anm. 42), S. 103ff. m.w.N. Kühn weißt darauf hin (S. 105), dass das Urteil des Reichskammergerichts in der Akte mit der lfden. Nr. 3631 (StA M) zu finden ist. Vgl. auch Uvo Hölscher, Die Geschichte der Mindener Reichsacht, in: Zeitschrift der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte 9 (1904), S. 192–202.

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sen möchten.106 Durch die außenpolitische Bedrängnis des Reiches durch die Türken, wird der Streit um die Tätigkeit des Reichskammergerichts in Prozessen „den Glauben belangend“, zur Verhandlungsmasse.107 Karl V. ist auf die Türkenhilfe der Stände angewiesen, um das Reich ausreichend gegen die Türken schützen zu können.108 Dies bedingt auch den Nürnberger Friedstand109, welcher unter anderem „[...] alle rechtfertigungen, in sachen den glauben belangend, so durch unseren ksl. fiscal und andere wider den Kf. zu Sachsen und seine zugewanten angefangen weren oder noch angefangen werden mochten, anstellen wollen bis zu nehstkhunftigem consilio [...]“110 und einen neuen Religionsfriedenstatbestand enthält: „[...]. Dieweil sich im hl. Riche deutzscher nation merglich grosse irrungen, zwitracht und beschwerungen des glaubens und religion halb zugedragen haben, [...], sonderlich diesser zeit, so der erbfeindt unsers hl. christlichen glaubens und namens, der Turck, in aigner person mit einer grossen macht angezogen [...], demnach haben wir, als daß oberst haupte zwuschen allen stenden des hl. Richs teutzscher nation, geistlichen und weltlichen, bis zu einem gemeinen, fryen, christlichen concili, [...] einen gemainen fridden aufzurichten [...] in der gestalt, das [...] keiner den andern des glaubens und religion noch sonst keiner andern ursachen halb bevehden, bekriegen, berauben, fahen, uberziehen, belegern, [...] sondern ein jeder den andern mit rechter fruntschaft und christlicher liebe mainen soll. [...] unser und des Richs schwer ungenadt und straff und darzue die peen des bemelten landtfriddens zu vermeiden, darein ein jeder, sooft er frevenlich herwider thet, mit der thatt gefallen sein soll.“111 Während der Nürnberger Anstand vom 24. Juli 1532 und die kaiserliche Bestätigung vom 31. Juli 1532

■ Vgl. auch Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 150. Im Reichsabschied von Regensburg 1532 wird explizit darauf hingewiesen, dass der Türke den Glaubenszwiespalt für seine Zwecke nutzt (vgl. Reichsabschied 1532 Regensburg, NSRA 2, S. 353f.). – Der Bezug zwischen außenpolitischer Gefahr und innenpolitischem Handlungsdruck wird (wie bereits 1526) deutlich (vgl. auch gleich den Wortlaut des Religionsfriedenstatbestandes im Nürnberger Friedstand). 108 Vgl. zum Ganzen Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 150ff. 109 Bzw. Nürnberger Anstand = Aufschub, Waffenstillstand, vgl. Helmut Neuhaus, Der Passauer Vertrag und die Entwicklung des Reichsreligionsrechts, in: Heinrich de Wall und Michael Germann (Hg.), Bürgerliche Freiheit und Christliche Verantwortung. Festschrift für Christoph Link zum siebzigsten Geburtstag, Tübingen 2003, S. 751–765 (756). Vgl. auch Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 146 und Schlütter-Schindler, Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis (wie Anm. 90), S. 31. 110 Vgl. die kaiserlichen Bestätigung des Nürnberger Anstandes vom 31. Juli 1532 (RTA JR (vgl. Anm. 4) X. Band: Der Reichstag in Regensburg und die Verhandlungen über einen Friedstand mit den Protestanten in Schweinfurt und Nürnberg 1532, Teilbd. 3, bearbeitet von Rosemarie Aulinger, Göttingen 1992, Quellennr. 557, S. 1522. Vgl. auch Nürnberger Anstand vom 24. Juli 1532 (RTA JR, ebd., Quellennr. 549, S. 1514). 111 Der Religionsfriedenstatbestand findet sich im Nürnberger Anstand vom 24. Juli 1532 (ebd., Quellennr. 549, S. 1511ff.), in der kaiserlichen Bestätigung des Nürnberger Anstandes vom 31. Juli 1532 (ebd., Quellennr. 557, S. 1519ff.) und in einem Mandat Karls V. für einen allgemeinen Frieden im Reich vom 03. August 1532 (ebd., Quellennr. 559, S. 1525ff. = Grundlage des obigen Textauszuges). 106 107

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unveröffentlicht bleiben, erlässt und veröffentlicht Karl V. am 3. August 1532 ein Mandat für einen allgemeinen Frieden im Reich,112 in welchem der Religionsfriedenstatbestand des Nürnberger Anstands auch für die altgläubigen Stände als allgemein verbindlich erklärt, jedoch über die Einstellung der Verfahren gegen die protestierenden Stände nichts erwähnt wird. 113 Zusätzlich bleibt die Auslegung der Sachen „den glauben belangend“ unklar.114 Der neue Religionsfriedenstatbestand enthält Tatbestandhandlungen des Landfriedensbruchtatbestandes: „bevehden, bekriegen, berauben, fahen, uberziehen, belegern“, und verschiebt den Religionsfriedensschutz somit auf den Schutz vor gewaltsamen Handlungen aus Glaubens- oder Religionsgründen.115 Der extensive Religionsfriedenstatbestand von 1530 scheint damit relativiert zu sein.116 Der Nürnberger Religionsfrieden hat jedoch keinen wirklichen Frieden zur Folge.117 Der Streit um die Auslegung der Sachen „den glauben belangend“ führt 1534 zur Rekusation aller Verfahren „den glauben belangend“ durch und

■ Vgl. auch Neuhaus, Der Passauer Vertrag und die Entwicklung des Reichsreligionsrechts (wie Anm. 109), S. 757f. Vgl. auch Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 146. 113 Vgl. RTA JR X. Band (vgl. Anm. 111), Quellennr. 559, S. 1525ff. Dies wird seinen Grund in der unklaren Rechtsgültigkeit der vertraglich vereinbarten Suspendierung der Verfahren haben, vgl. Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 146ff. Vgl. auch Schlütter-Schindler, Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis (wie Anm. 90), S. 36ff. – Den suspendierenden Teil des Vertrages gibt Karl V. dem Reichskammergericht und dem Fiskal, als unmittelbar betroffenen Organen, erst im November 1532 bekannt (vgl. RTA JR X. Band, S. 1522 Anm. 4). 114 Vgl. auch Schelp, Die Reformationsprozesse der Stadt Strassburg (wie Anm. 30), S. 79ff. Karl V. schrieb dem Kammerrichter im Januar 1533, dass „[...] was religion und des glaubens sachen seien oder nit, so achten wir ewer begerte declaration für unnotturftig, auch in ansehunge, das kein besser erleuterung darinne gegeben werden magk, dan wie es die sachen selbs mitbringen [...]“ (vgl. Ekkehart Fabian, Urkunden und Akten der Reformationsprozesse am Reichskammergericht, am Kaiserlichen Hofgericht zu Rottweil und an anderen Gerichten (vgl. Anm. 30), Quellennr. 46, S. 133–134 (134). Vgl. auch Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 148. Dolezalek, Die Assessoren des Reichskammergerichts (wie Anm. 10) und ders., Die juristische Argumentation der Assessoren (wie Anm. 30), S. 29f. 115 Vgl. Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 146. 116 Die rechtliche Bindungswirkung des Nürnberger Friedstandes war unklar (vgl. auch Anm. 114). Auch entstand Streit, ob unter „Sachen den Glauben belangend“ Landfriedensbruchsachen subsumiert werden können, vgl. Dolezalek, ebd., S. 90. 117 Vgl. Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 148f. Vgl. auch SchlütterSchindler, Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis (wie Anm. 90), S. 36ff., S. 39f. und Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 204. 112

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nach Definition des Schmalkaldischen Bundes. 118 Das Reichskammergericht versucht jedoch die Prozesse fortzuführen.119 Die Klage des Abtes Johann von Maulbronn gegen Herzog Ulrich von Württemberg wegen Landfriedensbruch aufgrund der Reformation des Klosters Maulbronn,120 bietet einen Einblick in die Vorgänge am Reichskammergericht in dieser Zeit. Herzog Ulrich reformierte das Kloster Maulbronn gegen den Willen des Abtes, entzog Kirchengut und nötigte die Konventualen ihm, dem Herzog, Treue zu geloben. Da ein vom Abt zunächst erwirktes reichskammergerichtliches Mandat gegen den Herzog wirkungslos bleibt, geht der Abt weiter gegen den Herzog am Reichskammergericht vor.121 Das Reichskammergericht nimmt in einem Pönalmandat gegen Herzog Ulrich vom 12. November 1534 Bezug auf den Landfrieden und „sonderlich“ auf den Augsburger Reichstag [1530] und führt dazu aus: „Das ein Jede oberkheitt geistlich und weltlich dergleichen Jre Underthanen geistlich und weltlich bey Jren Rechten, Zinßen, gulten, Zehend Rechten und gerechtigkeit pleiben, keiner den anderen dem entsetzen, verhindern, betrüben, [...] alles bey Vermeidung der penen benants landfriedens [...]“122. Die Ausführung des Reichskammergerichts bezieht sich auf einen dem Religionsfriedenstatbestand von 1530 nachfolgenden Tatbestand (§ 62).123 Herzog Ulrich beziehungsweise sein Prokurator Johann Helffman, bestreitet einen Verstoß gegen den Landfrieden („da auff die peen des landfriedens nit geclagt“124) und die Zulässigkeit des Verfahrens.125 Der Prokurator des Abtes, Amandus Wolff, bezieht sich über den Tatbestand des Reichsabschiedes von 1530 hinaus, auch auf die Landfriedensbruchtatbestände von 1495 und 1521.126 Ein Verstoß Ulrichs gegen den Landfrieden und die Reichs-

■ 118 Vgl. Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 149f. Dommasch, Die Religionsprozesse der rekusierenden Fürsten (wie Anm. 48), S. 15f. Schelp, ebd., S. 88ff. Vgl. Schlütter-Schindler, ebd., S. 41ff., S. 61ff. Heckel, Die Religionsprozesse des Reichskammergerichts im konfessionell gespaltenen Reichskirchenrecht (wie Anm. 30), S. 293f. 119 Vgl. Kühn, Westfälische Religionsprozesse vor dem Reichskammergericht (wie Anm. 42), S. 106. Dolezalek, Die juristische Argumentation der Assessoren (wie Anm. 30), S. 31. 120 Vgl. Veröffentlichungen der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg 46, Akten des Reichskammergerichts im Hauptstaatsarchiv (HStA) Stuttgart, Bestand C 3, Bd. 4, bearbeitet von Alexander Brunotte und Raimund J. Weber, Stuttgart 2000, lfde. Nrn. 2808, 2809, vgl. auch 2810. 121 Vgl. HStA Stuttgart (wie Anm. 120), lfde. Nr. 2808. 122 Vgl. HStA Stuttgart (wie Anm. 120), lfde. Nr. 2808, Q 1 (Copia Mandati poenalis cum executione, 12.05.1535), S. 1 (die Akten sind unfoliiert, die Seitenangaben beziehen sich auf die fortlaufende Seitenzahl innerhalb des jeweiligen Dokuments). Auch der Prokurator des Abtes Johann von Maulbronn, Lic. Amandus Wolff, gründet seine Klage auf diesen Tatbestand, vgl. ebd., Q 4 (Petitio Articulata, 18.08.1535), Art. 13, S. 4f. 123 Vgl. oben Anm. 90. 124 Vgl. HStA Stuttgart (wie Anm. 120), lfde. Nr. 2808, Q 5 (Exceptiones Articulate declinatorie fori, 27.08.1535), S. 3. 125 Vgl. ebd., Q 5 (Exceptiones Articulate declinatorie fori, 27.08.1535), S. 1–5. 126 Vgl. ebd., Q 6 (Replice, 20.10.1535), S. 3ff.

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

abschiede sei „offenbar“ und „unwidersprechlich“. 127 Helffman dagegen meint, ein Verstoß gegen den Tatbestand des Reichsabschiedes von 1530 sei nur durch Einsatz von Heereskraft möglich.128 Die Diskussion über einen Verstoß gegen den Landfrieden zieht sich durch das ganze Verfahren, insbesondere in den Jahren 1535–1537. Auch legt Herzog Ulrich Urkunden des Kaisers Maximilian aus dem Jahr 1504 vor, in welchen das Gotteshaus Maulbronn dem Herzog von Württemberg als Dank für getreue Dienste gegeben und dem Herzog von Württemberg Gerichtsfreiheit zugesichert wird. 129 Deutlich erkennbar ist, dass weltliche Ziele unter dem Deckmantel reformatorischer Bestrebungen verfolgt werden. 1537 zeigt Ulrich seinen Beitritt zu den protestierenden Ständen an130 und bevollmächtigt, der Vollmacht der protestierenden Stände aus dem Jahr 1531 entsprechend, die Prokuratoren Dr. Ludwig Hierter und Lic. Johann Helfmann, als Vertreter der protestierenden Stände, mit der Wahrnehmung seiner Interessen am Reichskammergericht in Prozessen mit Religionsbezug.131 Am Ende der Prozessakte findet sich ein unvollständiges Rekusationslibell Herzog Ulrichs aus dem Jahre 1538; bis 1540 sind jedoch Prozesshandlungen protokolliert.132 Alle Verhandlungen über den Fortgang der Reformationsprozesse am Reichskammergericht können nicht verhindern,133 dass das Reichskammergericht die Reichsacht 1538 über die Stadt Minden134 und 1540 über die Stadt Goslar135 verhängt. Die Reichsstadt Goslar wird am 25. Oktober 1540 aufgrund einer der Klagen Herzog Heinrichs II. zu Braunschweig und Lüneburg (Wolfenbüttel) (vgl. oben), vom Reichskammergericht in die Reichsacht erklärt. Zwar wird die Reichsacht, mit deren Vollstreckung Herzog Heinrich II. beauftragt ist (!), drei Monate nach der Verkündung am 28. Januar 1541 in einem Edikt Karls V. suspendiert, doch stellt Herzog Heinrich II. daraufhin seine Vollstreckungsmaßnahmen gegen Goslar nicht ein und versucht auch die Verkündung und Ver-

■ Vgl. ebd., Q 6 (Replice, 20.10.1535), S. 5f. Vgl. ebd., Q 7 (Duplic at Protestario, 26.01.1536), S. 4. 129 Vgl. HStA Stuttgart (wie Anm. 120), lfde. Nr. 2808, Q 10 (Copey weylant kayser Maximilians loblich guter gedechtnus ubergabs zustellung unnd befestigungs Brieffs, 25.10.1536) und nach Q 11 (?...Wirtemberg freyheit...?, 25.10.1536). 130 Vgl. ebd., Q 24 (Instrument protestationis ratifficationis ..., 30.05.1537). 131 Vgl. HStA Stuttgart (wie Anm. 120), lfde. Nr. 2808, Q 23 = Vollmacht Herzog Ulrichs (Mandatum Constitutionis die Relligion und was derselbigen anhangt belangend, 30.05.1537), Q 22 = Vollmacht der protestierenden Stände (Copia Mandati Constitutionis generalis, 30.05.1537) (= Quellennr. 4, S. 31–34 bei Fabian, wie Anm. 102). Sachsen und Hessen bezeichnen das Verfahren als Religionssache, vgl. Protokoll, S. 11. 132 Vgl. HStA Stuttgart (wie Anm. 120), lfde. Nr. 2808, Protokoll. Vgl. zum Verhalten des Reichskammergerichts in Rekusationsfällen auch Sieglerschmidt, Territorialstaat und Kirchenregiment (wie Anm. 5), S. 139f. m.w.N. 133 Vgl. dazu u.a. auch Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 3), S. 151–157. Zum Frankfurter Anstand: Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 201–210 m.w.N. und Paul Fuchtel, Der Frankfurter Anstand vom Jahre 1539 (Archiv für Reformationsgeschichte. Texte und Untersuchungen Nr. 111/112, Heft 3/4), Leipzig 1931. 134 Vgl. oben Anm. 106. 135 Vgl. Blume, Goslar und der Schmalkaldische Bund 1527/31–1547 (wie Anm. 41), S. 75. 127 128

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breitung der Suspensation zu verhindern.136 Trotz andauernden Friedensbemühungen kann eine militärische Eskalation nicht verhindert werden.137 Die fortwährende Bedrängung Goslars durch Herzog Heinrich II. dient letztlich dem Schmalkaldischen Bund, dessen Angehöriger auch die Reichsstadt Goslar ist,138 als Begründung für ein militärisches Vorgehen gegen Herzog Heinrich II. im Sommer 1542.139 Herzog Heinrich erlangte unmittelbar vor dem Feldzug, am 14. Juli 1542, ein präventives Mandat 140 („nach uberantwortung oder verkündung diß brieffs von thetlichen frevenlichen Landtfridtbrüchigen fürnemen gentzlich absteet/ Auch [...] nichts weithers fürnemet/ oder furzünemen understeet“ 141 ) des Reichskammergerichts „uff den landfrieden“, unter anderem gegen die Hauptleute des Schmalkaldischen Bundes, den Kurfürsten Johann Friedrich

■ 136 Vgl. Blume, ebd., S. 75f., 85, 87ff. m.w.N. Zur Suspensation der Acht auch Gabriele Schlütter-Schindler, Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis (wie Anm. 90), S. 204f. m.w.N. – In Bezug auf das Tagungsthema „Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis“ kann angemerkt werden, dass Herzog Heinrich II. mit seinen politischen Gegnern einen sogenannten „Federkrieg“ führte; siehe Blume, Goslar und der Schmalkaldische Bund 1527/31–1547 (wie Anm. 41), S. 69 m.w.N. In Streit- und Schmähschriften, in denen die Privatleben der streitenden Parteien verunglimpft wurden, wurde auch eine erfolglose Ladung Herzog Heinrich II. vor das Reichskammergericht thematisiert (Blume, ebd.). Die erfolglose Ladung ist einer Klage Goslars gegen Herzog Heinrich II. entnommen. Kaiser Karl V. soll angeordnet haben, die Klage gegen Heinrich nicht weiter zu verfolgen (Blume, ebd., S. 65). Mit der Veröffentlichung der Ladung Herzog Heinrichs, wollte man sich trotz der Erfolglosigkeit dieser Ladung Genugtuung in der Öffentlichkeit verschaffen; siehe Koldewey, Heinz von Wolfenbüttel (wie Anm. 39), S. 11. Im Zusammenhang mit der Glaubensspaltung werden auf den Reichstagen mehrfach Verbote erlassen, die das Drucken und Verbreiten von Schmähschriften und –gemälden unter Strafe stellen (u.a. § 28 des Reichsabschiedes von 1524 in Nürnberg, NSRA 2, S. 258; § 9 des Reichsabschiedes von 1529 in Speyer, NSRA 2, S. 294f.; § 58 des Reichsabschiedes von 1530 in Augsburg, NSRA 2, S. 314; § 40 des Reichsabschiedes von 1541 in Regensburg, NSRA 2, S. 436). Dass solche Schmähschriften überhaupt Aufnahme in die Reichsabschiede gefunden haben, zeigt die wohl besondere Bedeutung, die solche Schriften in der Bevölkerung gewinnen konnten. 137 Vgl. den Reichsabschied 1541 zu Regensburg, NSRA 2: § 4, warum das Generalconcil noch nicht stattfinden konnte, sei den Ständen wohl bekannt, S. 430; in § 26 wird ein weiterer Religionsfriedenstatbestand, inhaltlich sehr nah am Wortlaut des Religionsfriedenstatbestandes des Nürnberger Religionsfriedens (vgl. dazu oben), erklärt, S. 434 f.; in § 29 werden alle bisherigen Achterklärungen und Prozesse in Religionssachen, welche am Reichskammergericht anhängig sind, vorläufig suspendiert, S. 435; jedoch sollen (neue) Verstöße gegen den Religionsfriedenstatbestand am Reichskammergericht und durch den Fiskal verfolgt werden, § 27, S. 435; bei Streitigkeiten über die Qualifikation von Vorgängen als Religionssachen, können unparteiische Kommissionen angerufen werden, § 30, S. 435. Vgl. auch die Vorgänge auf dem Reichstag zu Speyer 1542, in den RTA JR (vgl. Anm. 4) XII. Band: Der Reichstag zu Speyer 1542, bearbeitet von Sylvia Schweinzer-Burian, München 2003. 138 Vgl. Blume, Goslar und der Schmalkaldische Bund 1527/31–1547 (wie Anm. 41), S. 1. 139 Vgl. Blume, ebd., S. 107ff. 140 Vgl. dazu oben Anm. 21. 141 Vgl. das Verfahren in Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs 46 – Reichskammergericht, Bestand AR 1, Prozeßakten, bearbeitet von Ursula Hüllbüsch und Hans Schenk, Koblenz 1994, lfde. Nr. 421, Q 2 (Copia Mandati peonalis cum Executione, 30.08.1542), fol. 12.

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Herzog zu Sachsen und den Landgrafen Philipp zu Hessen.142 Dem Bericht des Kammergerichtsboten ist zu entnehmen, dass ihn sein Weg zunächst zur Kanzlei des Landgrafen Philipp von Hessen nach Kassel143 führte.144 Dort angekommen, kann das Mandat am 25. Juli nicht problemlos überreicht werden. Zunächst wird beraten, wie mit dem Mandat umgegangen werden solle. Dann wird dem Boten unter anderem mitgeteilt, dass das Mandat des Kaisers anerkannt wird, aber nicht das Reichskammergericht. Gegen den Willen des Boten werden das Originalmandat und dessen Kopie von der hessischen Kanzlei einbehalten. Fehlende weitere Zustellungsanmerkungen lassen darauf schließen, dass es zu keiner weiteren Bekanntgabe an die anderen Adressaten des Mandats gekommen ist.145 Fast zeitgleich beginnt und endet der Feldzug gegen Herzog Heinrich. Am 19. Juli soll der Feldzug begonnen haben, am 12. August war der letzte Teil des Landes des Herzogs, die Hauptfestung in Wolfenbüttel, erobert.146 Das reichskammergerichtliche Mandat bezog sich auf den Landfriedenstatbestand von 1521 (1495) und zudem auf die jüngst gehaltenen Reichsabschiede von Speyer [1542] und Regensburg [1541]. Dort sei ein besonderer gemeiner Friedstand verkündet worden, damit der Zug gegen den „Türcken, durch ander empörung und Krieg in Teutscher Nation/nit verhindert werde“ 147 . Mit diesen Ausführungen kann der Religionsfriedenstatbestand im Reichsabschied von Regensburg 1541 in Verbindung gebracht werden.148 Unmittelbar nach dem sogenannten Schmalkaldischen Feldzug gegen Herzog Heinrich II.,149 versucht Heinrich II. gerichtlich gegen die Teilnehmer des Feldzuges vorzugehen. Bereits am 7. Dezember 1542 ergeht eine Ladung gegen den

■ Vgl. Anm. 142, ebd. Kassel war seit 1519 Residenzstadt, vgl. Friedrich, Territorialfürst und Reichsjustiz (wie Anm. 9), S. 33, Anm. 99. 144 Vgl. Bundesarchiv, Bestand AR 1 (wie Anm. 141), lfde. Nr. 421, Q 2 (Copia Mandati peonalis cum Executione, 30.08.1542), fol. 12. 145 Vgl. Anm. 142, Q 2 (Copia Mandati peonalis cum Executione, 30.08.1542), fol. 12. 146 Vgl. Blume, Goslar und der Schmalkaldische Bund 1527/31–1547 (wie Anm. 41), S. 107f. 147 Vgl. Bundesarchiv, Bestand AR 1 (wie Anm. 141), lfde. Nr. 421, Q 2 (Copia Mandati peonalis cum Executione, 30.08.1542), fol. 12. 148 Vgl. § 26 des Reichsabschiedes von Regensburg 1541, NSRA 2, S. 434f. 149 Vgl. hierzu Friedrich Bruns, Die Vertreibung Herzog Heinrichs von Braunschweig durch den Schmalkadischen Bund, 1. Teil, Marburg 1889 und Erich Brandenburg, Die Gefangennahme Herzog Heinrichs von Braunschweig durch den Schmalkadischen Bund (1545), Leipzig 1894. Siehe auch Gabriele Haug-Moritz, Der Wolfenbütteler Krieg des Schmalkaldischen Bundes (1542) – Die Öffentlichkeit des Reichstags und die Öffentlichkeiten des Reichs, in: Maximilian Lanzinner und Arno Strohmeyer (Hg.), Der Reichstag 1486–1613: Kommunikation – Wahrnehmung – Öffentlichkeiten (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 73), Göttingen 2006. 142 143

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mutmaßlichen Teilnehmer des Feldzuges Graf Wilhelm zu Fürstenberg.150 Der reichskammergerichtlichen Ladung wird auf Beklagtenseite mit einem Rekusationsschreiben entgegen getreten. 151 Nachdem der Landfriedensbruch in Frage gestellt wird, protestiert der Prokurator Fürstenbergs umfänglich gegen das Vorgehen gegen seinen Mandanten.152 In der Ladung „uff den landfrieden“, wird dem Grafen zu Fürstenberg dargelegt, dass Herzog Heinrich II. gegen ihn wegen Landfriedensbruch klagt, wie es in den Reichsrechten zu finden ist, insbesondere auch in den Friedständen von Regensburg und Speyer, den jüngst gehaltenen Reichstagen [1541 und 1542].153 Das Verfahren bricht im März 1543 ab.154 Eine Folge des Schmalkaldischen Feldzuges ist die Generalrekusation des Reichskammergerichts durch den Schmalkaldischen Bund. 155 Am 23. April 1543 werden zudem im Reichsabschied zu Nürnberg alle reichskammergerichtlichen Prozesse, seien es solche mit Religionsbezug oder Profansachen mit Ausnahme der Prozesse wegen nicht geleisteter Türkenhilfe-, suspendiert, soweit solche gegen Augsburger Konfessionsverwandte geführt werden oder die Augsburger Konfessionsverwandten untereinander am Reichskammergericht prozessieren. 156 Die von den Augsburger Konfessionsverwandten verweigerte Unterhaltung des Reichskammergerichts führt indes ohnehin dazu, dass nur die nötigsten Sachen am Reichskammergericht bearbeitet werden können.157 Auch der landfriedensbrüchige Angriff des Schmalkaldischen Bundes gegen Herzog Heinrich II. selbst, wird auf dem Nürnberger Reichstag 1543 verhandelt. Es wird sich dahingehend geeinigt, dass die Stände selbst in dieser brisanten Sache nicht entscheiden, sondern die persönliche Ankunft des Kai-

■ Vgl. Findbuch zum Bestand Reichskammergericht und Reichshofrat 1489–1806 im Staatsarchiv Wolfenbüttel, Bestand 6 Alt, bearbeitet von Walter Deeters, Göttingen 1981, lfde. Nr. 16, Q 4 (Copia Citationis uff den landtfried cum Executione, 16.02.1543), fol. 10v. 151 Vgl. Staatsarchiv Wolfenbüttel (wie Anm. 150), lfde. Nr. 16, ohne Q (Libell Recusationis, ohne Datum (laut Protokoll 29. Januar 1543, fol. 2r)), fol. 4r f. 152 Dabei weist der Prokurator darauf hin, dass sein Handeln keineswegs der kaiserlichen Hoheit und Gerichtsbarkeit zuwider sei, noch die Beisitzer verachtet würden, sondern der Protest allein dem Schutze seines Mandanten diene. Außerdem sei sein Mandant dem christlichen Verein der Kurfürsten, Fürsten und gemeinen Ständen zugetan, angehörig und dessen Bundesverwandter, womit offensichtlich der Schmalkaldische Bund gemeint ist. Im weiteren Verlauf ist das Rekusationsschreiben leider leicht beschädigt, doch kann ihm entnommen werden, dass die Rekusation aufgrund einer „verdächtigen Parteilichkeit“ der Beisitzer vorgenommen wird, und zwar nicht nur in Religionssachen, sondern auch in Profanangelegenheiten. Fürstenberg lässt sich daher nicht auf einen Rechtsstreit oder einen Prozess ein; vgl. Staatsarchiv Wolfenbüttel (wie Anm. 150), lfde. Nr. 16, ohne Q (Libell Recusationis, ohne Datum (laut Protokoll 29. Januar 1543, fol. 2r), fol. 4r f. 153 Vgl. Staatsarchiv Wolfenbüttel, ebd., Q 4 (Copia Citationis uff den landtfried cum Executione, 16.02.1543), fol. 9r. 154 Vgl. Staatsarchiv Wolfenbüttel (wie Anm. 150), lfde. Nr. 16, Protokoll, fol. 3v. 155 Schlüter-Schindler, Der Schmalkaldische Bund und das Problem der causa religionis (wie Anm. 90), S. 230ff. 156 Vgl. NSRA 2, § 34, S. 490. 157 Vgl. NSRA 2, § 35, S. 490. 150

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sers abwarten wollen, der derzeit mit den Türken Krieg führte. Bis zur Ankunft des Kaisers soll die Angelegenheit ruhen. Ansonsten hätte es wohl bereits damals zu einem Krieg innerhalb des Reiches kommen können, aber noch immer wurde mit allen Mitteln versucht, den Frieden im Reich zu bewahren. Herzog Heinrich II. wird persönlich angehalten, seine anhängigen Rechtssachen am Reichskammergericht angesichts der gegenwärtigen Not der Christenheit in Geduld zu tragen und bis zur Ankunft des Kaisers ruhen zu lassen.158 Dies erklärt ebenfalls das rasche Ende der Prozesshandlungen gegen den Grafen zu Fürstenberg. Dennoch hat das Reichskammergericht schon allein dadurch eine befriedende Funktion erfüllen können, dass es Herzog Heinrich II. eine Möglichkeit bot, seine Klage vorzubringen und gar (zunächst) zu verfolgen. Erst 1548, nach dem Ende des Schmalkaldischen Krieges (1546–1547159), zu welchem es auch aufgrund des Schmalkaldischen Feldzuges gegen Herzog Heinrich II. gekommen ist, 160 kann das Reichskammergericht seine Arbeit wieder aufnehmen.161 Dies nutzt Herzog Heinrich II., um seine Klagen gegen die Teilnehmer des gegen ihn gerichteten Feldzuges fortzuführen.162 Den Prozessakten kann entnommen werden, dass die Beklagten zwar den Landfriedensbruch an sich in Frage stellen, doch der Schwerpunkt der Prozesshandlungen im Bereich der Rechtfertigung der Beklagten liegt. Auch in diesen Klagen zeigt sich, dass das Reichskammergericht eine Plattform bot, den Rechtsweg zu gehen und somit die ansonsten mögliche Selbsthilfe, in Form neuer kriegerischer Handlungen zu verhindern begünstigte. Nachdem gemäß dem neuen Wortlaut des Landfriedensbruchtatbestandes von 1548 „keinerlei Ursachen“ den Bruch des Landfriedens rechtfertigen können,

■ Vgl. NSRA 2, § 37, S. 490f. Zum Schmalkaldischen Krieg siehe u.a. Hermann Baumgarten, Zur Geschichte des Schmalkaldischen Krieges, in: Historische Zeitung (HZ) 36 (1876), S. 26–82. Alois Mühlan, Der Schmalkaldische Krieg nach seinen historischen Ursachen und Wirkungen betrachtet, Gleiwitz 1895. Gerhard Volk, Der Schmalkaldische Krieg 1546–1547, Schmalkaldische Geschichtsblätter 2, Schmalkalden 1995. Georg Schmidt/Sigrid Westphal, Theologische Realenzyklopädie – Studienausgabe, Teil III, Bd. XXX, Berlin/New York 1999, „Schmalkaldischer Krieg“, S. 228–231. 160 Vgl. Blume, Goslar und der Schmalkaldische Bund 1527/31–1547 (wie Anm. 41), S. 1. 161 Vgl. Reichsabschied zu Augsburg 1548, NSRA 2, §§ 21 ff., S. 532ff. 162 Vgl. insbesondere Klagen Herzog Heinrichs II. wegen Landfriedensbruchs: Staatsarchiv Wolfenbüttel (wie Anm. 150), lfde. Nrn. 17, 24, 25, 29, 34, 35, 36, 41, 43; das Verfahren gegen den Grafen zu Fürstenberg (vgl. oben) wird nicht weiter verfolgt, Graf zu Fürstenberg verstirbt 1549. Das Mandatsverfahren u.a. gegen Johann Friedrich Herzog von Sachsen und den Landgrafen Philipp zu Hessen (vgl. oben) wird als Landfriedensbruchverfahren gegen alle Mitglieder des Schmalkaldischen Bundes fortgeführt. Im Hauptstaatsarchiv Dresden (wie Anm. 44): Nrn. 6 und 7. Im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Abteilung Dessau: Die Überlieferung des Reichskammergerichts im Landeshauptarchiv Sachsen Anhalt, Abteilung Dessau, bearbeitet von Mark Alexander Steinert, lfde. Nr. 51. 158 159

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wird im Passauer Vertrag ein neuer Religionsfriedenstatbestand notwendig.163 Endlich wird auf dem Reichstag zu Augsburg 1555 der allgemein bekannte Religionsfrieden geschlossen.164 Zunächst wird der bestehende Landfrieden als mangelhaft befunden, weshalb dieser erneut verbessert (bzw. ergänzt) werden muss.165 Die Erfahrungen der Reichstage der letzten dreißig Jahre hatten gezeigt, dass alle bisherigen Versuche, einen Frieden zwischen den Ständen der „strittigen Religion halben“ aufzurichten, gescheitert waren; nun war es an der Zeit sich „beständig“ und mit „gewisser Sicherheit“ zu vergleichen.166 Für die rechtliche Sicherung dieses Friedens genügt den Reichsständen der Landfriedensbruchtatbestand von 1548 nicht. Der Landfriedensbruchtatbestand von 1548 wird 1555 zwar fast wortgetreu wiederholt, jedoch durch zwei Religionsfriedenstatbestände ergänzt: „So sollen die Kayserl. Maj., Wir, auch Churfürsten, Fürsten und Stände des h. Reichs, keinen Stand des Reichs, von wegen der Augsburgischen Confession, und derselbigen Lehr/ Religion, und Glaubens halb/ mit der That gewaltiger Weiß überziehen/ beschädigen/ vergewaltigen/ oder in andere Wege, wider sein Conscientz, Wissen und Willen, von dieser Augsburgischen Confessions-Religion, Glauben, Kirchengebräuchen, Ordnungen und Ceremonien, so sie aufgericht, oder nochmals aufrichten möchten, in ihren Fürstenthümern, Landen und Herrschafften, tringen, oder durch Mandat, oder in einiger anderer Gestalt beschweren oder verachten, sondern bey solcher Religion, Glauben, Kirchengebräuchen, Ordnungen und Ceremonien, auch ihren Haab, Gütern, liegend und fahrend, Land, Leuthen, Herrschaften, Obrigkeiten, Herrlichkeiten und Gerechtigkeiten, ruhiglich und friedlich bleiben lassen, und soll die streitige Religion, nicht anders, dann durch Christliche/ freundliche/ friedliche Mittel und Wege/ zu einhelligem Christlichen Verstand und Vergleichung gebracht werden/ alles bey Kayserl. und Königl. Würden, Fürstl. Ehren, wahren Worten und Pön des Land=Friedens.“167 „Dargegen sollen die Stände/ so der Augsburgischen Confession verwandt, die Röm. Kays. Maj. uns und Churfürsten/ Fürsten und andere des h. Reichs Stände der alten Religion anhängig/ Geistlich und Weltlich, samt und mit ihren Capituln, und andern Geistlichs Stands, auch ungeacht, ob und wohin sie ihre Residentzen verruckt oder gewendet hatten [...] gleicher Gestalt bey ihrer Religion, Glauben, Kirchengebräuchen, Ordnungen, und Ceremonien, auch ihren Haab, Gütern, liegend und fahrend, Landen, Leuthen, Herrschaften, Obrigkeiten, Herrlichkeiten und Gerechtigkeiten, Renthen, Zinsen, Zehenden, unbe-

■ Vgl. Passauer Vertrag – Passau, 1552 August 2, in: RTA JR (wie Anm. 4) XX. Band: Der Reichstag zu Augsburg 1555, Teilband 1, bearbeitet von Rosemarie Aulinger, Erwein H. Eltz und Ursula Machozek, München 2009, Quellennr. 3, S. 123ff. (127) m.w.N. Siehe auch NSRA 3, S. 3ff. (5f.). Vgl. zum Passauer Vertrag auch Helmut Neuhaus, Der Passauer Vertrag und die Entwicklung des Reichsreligionsrechts (wie Anm. 109). 164 Vgl. Reichsabschied zu Augsburg 1555, NSRA 3, S. 14ff. 165 Vgl. ebd., § 12, S. 16f. 166 Vgl. ebd., § 13, S. 17. 167 Vgl. ebd., § 15, S. 17f. 163

Von Religionsfriedenstatbeständen, Landfriedensbruch und Reformationsprozessen

schwert bleiben/ und sie derselbigen friedlich und ruhiglich gebrauchen, geniessen, unweigerlich folgen lassen, und getreulichen darzu verholffen seyn, auch mit der That, oder sonst in ungutem gegen denselbigen nichts fürnehmen, sondern in alle wege nach laut und Ausweisung des H. Reichs Rechten, Ordnungen, Abschieden, und aufgerichten Land=Frieden, jeder sich gegen dem andern an gebührenden ordentlichen Rechten begnügen lassen, alles bey Fürstl. Ehren, wahren Worten und Vermeidung der Pön, in dem uffgerichten Land=Frieden begriffen.“168

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Vgl. ebd., § 16, S. 18.

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Kommunikationsstrategie „in causa der Wasservögel“

■Britta

Schneider■Kommunikationsstrategie „in causa der Wasservögel“. Die Fugger vor Gericht■Die Familienhandelsgesellschaft der Fugger geriet sowohl nach dem Tod des langjährigen Firmenleiters Anton Fugger 1560 als auch nach dem Ableben von Anton Fuggers Sohn Marx 1597 in Führungskrisen, in denen Erbe, Nachfolge und Struktur der Handelsgesellschaft ebenso umstritten waren wie die jeweiligen Rechte und Pflichten der Familienmitglieder.1 Diese Krisen provozierten eine Reihe von Vermittlungsversuchen, Kommissionen und Gerichtsprozessen, die Mitglieder der Familie Fugger gegeneinander anstrengten. Der erste Teil dieses Beitrags setzt erste Ergebnisse aus der Auswertung dieser Prozessakten „Fugger contra Fugger“ in Kontrast mit dem Stand der handels- und rechtshistorischen Forschung. Auf dieser Grundlage wird im zweiten Teil das Medium Brief anhand „Herrn Hannsen Fuggers aigen copierbuch“ analysiert und nach der Kommunikationsstrategie „in causa der Wasservögel“ gefragt. 1. Die Fugger vor Gericht■Handelsgeschäfte basierten in der Vormoderne auf Vertrauen. Bei der Regelung von Konflikten standen Kaufleuten eine ganze Reihe von Alternativen zur Verfügung, die von einem durch Vermittler ausgehandelten Vergleich bis zu einem Prozess vor Gericht reichten.2 In der Forschung wurde lange betont, dass Handelsgesellschaften versuchten, die ordentliche Gerichtsbarkeit möglichst zu vermeiden, und dass gerade bei den Fuggern die Schlichtung von Streitigkeiten innerhalb von Familie und Handelsgesellschaft den Gerichten vorenthalten werden sollte.3 In der Tat legte

■ 1 Mark Häberlein, Die Fugger. Geschichte einer Augsburger Familie (1367–1650), Stuttgart 2006, S. 102. 2 Anja Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 54), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 4. Dies., Brentano, Fugger und Konsorten – Handelsgesellschaften vor dem Reichskammergericht (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung 37), Wetzlar 2009, S. 13. Anette Baumann, Die Fugger als Kläger vor dem Reichskammergericht (1495–1806), in: Johannes Burkhardt (Hg.), Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte 41), Augsburg 2008, S. 151–182, hier S. 164. Mark Häberlein, Brüder, Freunde und Betrüger, Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts (Colloquia Augustana 9), Berlin 1998, S. 33. Gabriele Marcussen-Gwiazda, Die Liquidation der Juwelenhandlung des Daniel de Briers in Frankfurt am Main. Ein Beitrag zu konsensualen Konfliktlösungsstrategien bei Handelsstreitigkeiten im nordwesteuropäischen Kontext, in: Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Steffen Wunderlich (Hg.), Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft (bibliothek altes Reich 3), S. 165–184, hier S. 170. Stefan Gorißen, Der Preis des Vertrauens. Unsicherheit, Institutionen und Rationalität im vorindustriellen Fernhandel, in: Ute Frevert (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 90–118. 3 Vgl. u. a. Elmar Lutz, Die rechtliche Struktur süddeutscher Handelsgesellschaften in der Zeit der Fugger, I. Darstellung (Studien zur Fuggergeschichte 25), Tübingen 1976, S. 469– 477. Max Jansen, Jakob Fugger der Reiche. Quellen und Studien (Studien zur Fuggergeschichte 3/1), Leipzig 1910, S. 31–32.

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auch Anton Fugger 1550 in einem Kodizill zu seinem Testament fest, dass im Fall eines Konfliktes zwischen Familienmitgliedern ein Vergleich gesucht werden sollte: Er schrieb vor, zwei oder drei „erbar menner“ als Vermittler einzuschalten und sich „ausserhalb rechtens unnd gericht fraintlich mitainander [zu] vertragen“4. Auf Reichsebene unterlagen Handelsgesellschaften kaum Restriktionen.5 Da es im Augsburg des 16. Jahrhunderts zudem kein kodifiziertes Gesellschaftsrecht gab, bildeten die von der Familie intern abgeschlossenen Verträge sowie Testamente die Grundlage der Familienhandelsgesellschaft.6 Auf dem gerichtlichen Weg würden ein Streitfall und damit möglicherweise auch geschäftliche Details öffentlich, was das Vertrauen in die Prozesspartner und deren Kreditwürdigkeit erschüttern könnte. Die Wahrung des guten Rufs und des kaufmännischen Ansehens dürfte demnach ein wichtiges Argument bei der Lösung von Konflikten gewesen sein.7 Gerade den Fuggern bescheinigte die Forschung ein besonderes Interesse an der Geheimhaltung von Handels- und Familieninterna.8 Die Überlieferung der beiden höchsten Reichsgerichte aber auch des Rats respektive des Stadtgerichts der Reichsstadt Augsburg enthält jedoch viele, bisher qualitativ noch nicht bearbeitete Gerichtsakten „Fugger contra Fugger“. Deren Auswertung ermöglicht eine Perspektive, die sich von den idealen in Testamenten und Gesellschaftsverträgen festgeschriebenen Konfliktlösungsmechanismen löst. Siegrid Westphal wies bereits zu Recht darauf hin, dass in den Arbeiten zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich nur am Rande erwähnt werde, dass Erbstreitigkeiten trotz ausgebildeter Hausnormen häufig nur mit Hilfe der Reichsgerichte gelöst werden konnten.9 Anja Amend-Traut zeigte unlängst, dass der Handelsstand trotz der skizzierten Alternativen und Probleme für strittige Wechselverbindlichkeiten häufiger eine gerichtliche Lösung in Anspruch nahm, als bisher angenommen.10

■ Testament Anton Fuggers vom 22. März 1550, zitiert nach Maria Gräfin von Preysing, Die Fuggertestamente des 16. Jahrhunderts, II. Edition der Testamente (Studien zur Fuggergeschichte 34), Weißenhorn 1992, S. 128–129. 5 Amend-Traut, Brentano, Fugger und Konsorten (wie Anm. 2), S. 9. 6 Lutz, Die rechtliche Struktur süddeutscher Handelsgesellschaften (wie Anm. 3), S. 469– 477. 7 Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht (wie Anm. 2), S. 413. Lutz, Die rechtliche Struktur süddeutscher Handelsgesellschaften (wie Anm. 3), S. 469–477. 8 Katarina Sieh-Burens, Oligarchie, Konfession und Politik im 16. Jahrhundert. Zur sozialen Verflechtung der Augsburger Bürgermeister und Stadtpfleger 1518–1618 (Schriften der Philosophischen Fakultät der Universität Augsburg 29), München 1986, S. 110. 9 Siegrid Westphal, Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648–1806 (QFHG 43), Köln/Weimar/Wien 2002, S. 88. Jürgen Weitzel, Die Hausnormen deutscher Dynastien im Rahmen der Entwicklung von Recht und Gesetz, in: Johannes Kunisch (Hg.), Der dynastische Fürstenstaat. Zur Bedeutung von Sukzessionsordnungen für die Entstehung des frühmodernen Staates, Berlin 1982, S. 44. 10 Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht (wie Anm. 2). 4

Kommunikationsstrategie „in causa der Wasservögel“

Charakterisierte die ältere Forschung Anton Fugger als „König der Kaufleute“, so wurden seine Nachkommen dagegen jüngst als „Prozesskönige“ bezeichnet.11 Zwischen 1497 und 1805 waren die Fugger allein an mehr als 300 Reichskammergerichtsprozessen beteiligt, wobei die Anzahl der Prozesse in den letzten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts stetig stieg.12 Diese Zunahme der Prozesstätigkeit bis zum Ende des 16. Jahrhunderts im Hause Fugger entsprach dem reichsweiten Trend. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts fiel das fuggersche Prozessaufkommen allerdings nicht rapide ab, wie die allgemeine Entwicklung der Tätigkeit des Reichskammergerichts erwarten ließe, sondern erst im Zuge der Auflösung der Familienhandelsgesellschaft in der Mitte des Jahrhunderts.13 Mitglieder der Kaufmannsfamilie Welser waren im selben Zeitraum nachweislich in lediglich 48 Reichskammergerichtsprozesse involviert, Mitglieder der Familie Imhof in 52.14 Trotz der vergleichsweise hohen

■ Götz Freiherr von Pölnitz, Anton Fugger 1544–1548 (Studien zur Fuggergeschichte 20/2), Tübingen 1967, S. 492. Christian Wieland bezeichnete 2005 die Fugger in seinen quantitativen Bemerkungen zum bayerischen Adel und dem Reichskammergericht im 16. Jahrhundert sogar als „Prozesskönige“ und will deren „aktive und passive Präsenz vor Gericht ca. 100 mal“ nachweisen können. Christian Wieland, Bayerischer Adel und Reichskammergericht im 16. Jahrhundert. Quantifizierende Bemerkungen, in: Anette Baumann/Peter Oestmann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hg.), Prozesspraxis im Alten Reich. Annäherungen – Fallstudien – Statistiken (QFHG 50), Köln/Weimar/Wien 2005, S. 91–118, hier S. 105. 12 Da für Reichskammergericht, Reichshofrat und etwaige Vorinstanzen sowie andere konkurrierende Gerichtsforen unterschiedliche Erschließungs- und Forschungsstände bestehen, kann hier eine umfassende und aussagekräftige quantitative Auswertung momentan nur am Beispiel des Reichskammergerichts durchgeführt werden. Die hier vorgestellten Ergebnisse sind allerdings noch keine abschließenden Erkenntnisse, sondern als „work in progress“ zu verstehen. In die Datenbank wurden alle Reichskammergerichtsprozesse aufgenommen, in denen Mitglieder der Augsburger Kaufmannsfamilie Fugger (Familien- oder Mädchennamen Fugger) als Hauptbeklagte, Nebenbeklagte, Hauptkläger, Nebenkläger, Interessenten, Antragssteller auftraten. Bisher wurden in folgenden Archiven Prozesse „Fugger contra Fugger“ gefunden und ausgewertet: Bestände Reichskammergericht im Bayerischen Hauptstaatsarchiv München und im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Rat Fuggerakten und Schuld-, Klag- und Appellationssachen im Stadtarchiv Augsburg und Reichshofrat im Österreichischen Haus-, Hof-, und Staatsarchiv in Wien. Keine Prozesse „Fugger contra Fugger“ dagegen sind in der Überlieferung des Hofgerichts Rottweil und des Landgerichts Schwaben zu finden. Vgl. auch die Untersuchung von Baumann, Die Fugger als Kläger vor dem Reichskammergericht (wie Anm. 2). Britta Schneider, Reich statt Augsburg? Fuggersche Generationenkonflikte vor Gericht, in: Mark Häberlein/Christian Kuhn/Lina Hörl (Hg.), Generationen in spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Städten (ca. 1250–1750) (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven), Konstanz 2010, S. 117–131. 13 Vgl. Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert (QFHG 17), Köln/Wien 1985, S. 139. Baumann, Die Fugger als Kläger vor dem Reichskammergericht, (wie Anm. 2) S. 158. Dies., Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (QFHG 36), Wetzlar 2001, S. 133. 14 Vgl. zu diesen Zahlen die bereits im Druck erschienen Bayerischen Archivinventare zum Reichskammergericht und die Findmittel zum Reichskammergericht Ordner 17 bis 36. Stefan Breit/Manfred Hörner/Margit Ksoll-Marcon/Wilhelm Füßl/Barbara Gebhardt/Wolf11

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Prozesstätigkeit der Fugger spielten gerichtliche Auseinandersetzungen mit Geschäftspartnern kaum eine Rolle. Anette Baumann hat sich bereits mit der Frage auseinander gesetzt, ob die Fugger ihre Geschäftsstreitigkeiten vor dem Reichskammergericht austrugen oder ob das Gericht eher dazu diente, hoheitliche und grundherrliche Rechte einzuklagen.15 Tatsächlich dominierten nicht nur in den Prozessen, in denen die Fugger im 16. Jahrhundert als Kläger auftraten, Streitgegenstände über Jurisdiktion und Hoheitsrechte in den Gütererwerbungen der Familie.16 Das Reichskammergericht diente aber darüber hinaus auch häufig als Forum für innerfamiliäre Auseinandersetzungen im Hause Fugger. Der Struktur der Familienhandelsgesellschaft der Fugger ist allerdings geschuldet, dass sich Konflikte innerhalb der Familie nicht trennscharf von geschäftlichen Streitigkeiten in der Handelsgesellschaft unterscheiden lassen. Denn die Fugger nahmen im Unterschied zu anderen Kaufmannsfamilien seit 1502 ausschließlich leibliche männliche Nachkommen weltlichen Standes als Gesellschafter in die Familienhandelgesellschaft auf.17 Da die Fugger in diesen Prozessen „Fugger contra Fugger“ beispielsweise um so grundlegende Fragen wie die Rechmäßigkeit der Position Marx Fuggers als Administrator der Familienhandelsgesellschaft stritten, handelte es sich hierbei um keine reinen Familienangelegenheiten, sondern die Auseinandersetzungen tangierten auch das Handelsgeschäft. Prozesse „Fugger contra Fugger“ finden sich in der archivalischen Überlieferung des Rats und des Stadtgerichts der Reichstadt Augsburg, des Reichskammergerichts sowie des Reichshofrats. Im Zeitraum zwischen dem Tod Anton Fuggers 1560 und der Auflösung der Familienhandelsgesellschaft 1658 sind 20 Prozesse überliefert, in denen sich Mitglieder der Familie gegenseitig vor dem Reichskammergericht verklagten.18 Danach wurden dort bis zum Ende seiner Tätigkeit nur vier weitere Prozesse dieser Art anhängig. Mindestens 50 Fälle, in denen sich die Fugger in Sachen „Fugger contra Fugger“ an

■ gang Pledl (Bearb.), Bayerisches Hauptstaatsarchiv Reichskammergericht (Bayerische Archivinventare 50/1−16, München 1994–2010. Zur Position der Fugger in der reichsstädtischen Gesellschaft, vgl. Häberlein, Die Fugger (wie Anm. 1), S. 164–165, 187. 15 Baumann, Die Fugger als Kläger vor dem Reichskammergericht (wie Anm. 2), S. 153. 16 Anette Baumann errechnete für die Fugger einen Anteil dieser beiden Streitgegenstände von 67 Prozent. Filippo Ranieri dagegen spricht für das Reich von einem Anteil von durchschnittlich 30 Prozent. Vgl. Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption (wie Anm. 13), S. 244. Baumann, Die Fugger als Kläger vor dem Reichskammergericht (wie Anm. 2), S. 164–165. 17 Häberlein, Die Fugger (wie Anm. 1), S. 38–39. 18 Sieht man von einer Klage Wilhelm Rems (1462–1529) ab, der mit Walburga (1457– 1485), einer Tochter Jakob Fuggers (1398–1469), verheiratet war und 1501 das Erbe seiner Ehefrau einklagen wollte, sind zwischen 1497 und 1562, also den ersten 65 Jahren Fuggerscher Prozesstätigkeit, am Reichskammergericht keine Prozesse „Fugger contra Fugger“ überliefert. Für den Reichshofrat, das Stadtgericht und den Rat der Reichsstadt Augsburg konnte das Ergebnis dieser quantitativen Auswertung noch nicht falsifiziert werden. Denn auch hier finden sich vor 1562 keine Prozesse zwischen Familienmitgliedern.

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den Reichshofrat wandten, sind aus demselben Zeitraum überliefert.19 Ebenso wenig wie am Reichskammergericht finden sich in der Überlieferung des Reichshofrates Prozesse oder Kommissionen „Fugger contra Fugger“ vor dem Tod Anton Fuggers. Auch wurden hier die Mehrzahl der Fälle zwischen dem Tod Anton Fuggers und der Auflösung der Familienhandelsgesellschaft anhängig. Um 1600 ist eine Verlagerung der Prozesse vom Reichskammergericht an den Reichshofrat zu konstatieren. Nahmen die Fugger im 16. Jahrhundert die beiden höchsten Gerichte gleichermaßen in Anspruch, um ihre innerfamiliären bzw. gesellschaftsinternen Auseinandersetzungen zu klären, veränderte sich das Verhältnis bis zum Ende des 18. Jahrhunderts deutlich. Im 17. Jahrhundert wurden bereits mehr als doppelt so viele Prozesse „Fugger contra Fugger“ am Reichshofrat erörtert wie am Reichskammergericht. Nur noch zwei Prozesse verhandelten sie schließlich im 18. Jahrhundert vor dem Reichskammergericht, 13 hingegen am Reichshofrat.20 Trotz der Bestimmungen in Anton Fuggers Testament nutzten die Fugger neben anderen Formen der Konfliktbeilegung also auch Gerichte als Foren für Auseinandersetzungen über Familien- und Handelsinterna. Dies gilt besonders für den Zeitraum zwischen 1562 und 1631. 2. Kommunikationsstrategie „in causa der Wasservögel“■Vor dem Hintergrund, dass auch gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen den Gesellschaftern einer Familienhandelsgesellschaft den Ruf derselben erheblich schädigen konnten, ergibt sich das Problem, ob und wie die Fugger diese Prozesse „Fugger contra Fugger“ nach außen kommunizierten. Der Brief als zentrales Kommunikationsmedium der Kaufleute steht hier im Mittelpunkt der exemplarischen Analyse.21 Zu einem intensiven Briefverkehr war es seit dem Spätmittelalter vor allem im Zuge der sich ausbreitenden Handelsbeziehungen

■ Vgl. Stefan Ehrenpreis, Die Fugger und ihre Klientel am Reichshofrat, in: Johannes Burkhardt (Hg.), Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte 41), Augsburg 2008, S. 183–193. 20 Spätestens unter Kaiser Rudolf II. (1576–1612) begann sich der Schwerpunkt der Reichsjustiz von Speyer nach Wien zu verschieben. Vgl. Wolfgang Sellert, Der Reichshofrat, Begriff, Quellen und Erschließung, institutionelle Rahmenbedingungen und die wichtigste Literatur, in: zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3, http://www.zeitenblicke.de/2004/ 03/sellert/sellert.pdf. Vorsichtigere Einschätzung bei Stefan Ehrenpreis, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576–1612 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 72), München 2006, v. a. S. 31. 21 Kritische Auseinandersetzung mit dem Medium Brief und der Forschung: Franz Maulhagen, Netzwerke des Nachrichtenaustauschs. Für einen Paradigmenwechsel in der Erforschung der „neuen Zeitungen“, Historische Zeitschrift Beiheft 41, München 2005, S. 409–425. Regina Dauser, Interne Kommunikation in oberdeutschen Unternehmen des 16. und 17. Jahrhunderts, Ferrum (78) 2006, S. 11–24. 19

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gekommen.22 Auch im Hause Fugger entwickelte sich seit Jakob Fugger dem Reichen (1459–1525) ein ausgedehntes internes Nachrichten- und Briefnetzwerk.23 In der Schreibstube des Augsburger Handelshauses liefen Nachrichten aus allen Teilen Europas zusammen und vernetzten so zahlreiche wichtige Handelsplätze miteinander. Die Fugger beschafften nicht nur aktiv Informationen, um ihre geschäftlichen Aktivitäten danach auszurichten, sondern versorgten auch viele herausragende Persönlichkeiten mit Nachrichten.24

Auszug aus der Stammtafel der Kaufmannsfamilie Fugger25

Hans Fugger (1531–1598), der zweitgeborene Sohn Anton Fuggers, wurde von der Forschung lange Zeit vorwiegend als Schöngeist und Kunstsammler gesehen. In jüngster Zeit hat eine vollkommene Neubewertung dieses lange Zeit kaum beachteten Mitglieds der Augsburger Kaufmannsfamilie stattgefunden.26 Von Hans Fugger, der sehr wohl in die Handelsgeschäfte involviert war und seinen Bruder, den Administrator Marx Fugger, jederzeit kompetent zu vertreten wusste, sind 4 700 Briefe vor allem in Form von Kopierbüchern aus

■ Jürgen Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte. Von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 18. 23 Wolfgang Behringer, Fugger und Kommunikation, in: Johannes Burkhardt (Hg.), Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte 41), Augsburg 2008, S. 245–268. Wilke, Grundzüge der Medien- und Kommunikationsgeschichte (wie Anm. 22), S. 19. 24 Behringer, Fugger und Kommunikation (wie Anm. 23), S. 254. 25 Eigene Darstellung. Zu den Daten vgl. Gerhart Nebinger/Albrecht Rieber, Genealogie des Hauses Fugger von der Lilie (Studien zur Fuggergeschichte 26), Tübingen 1978, S. XVIII– XXI. 26 Vgl. hierzu vor allem Johannes Burkhardt/Franz Karg (Hg.), Die Welt des Hans Fugger (1531–1598) (Materialien zur Geschichte der Fugger 1), Augsburg 2007. Regina Dauser, Informationskultur und Beziehungswissen. Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531–1598) (Studia Augustana 16), Tübingen 2008. Christl Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594. Regesten der Kopierbücher aus dem Fuggerarchiv, München 2003. 22

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einem Zeitraum von 28 Jahren überliefert.27 Die Bezeichnung „Herrn Hannsen Fuggers aigen copierbuch“ macht laut Regina Dauser deutlich, dass es sich hier nicht um eine Sammlung der Kopien auslaufender Briefe aus der Überlieferung des fuggerschen Handels handelte, sondern um eine Korrespondenz, die Hans Fugger zuerst einmal von den Geschäften des Familienhandelsunternehmens getrennt wissen wollte.28 Diese umfangreiche Korrespondenz mit Partnern in ganz Europa zeigt Hans Fugger als Kommunikationstalent und Netzwerker, der als „Außenminister“ erfolgreiche Beziehungs- und Öffentlichkeitsarbeit für Familie und Handelsgesellschaft leistete.29 Hans Fuggers Netzwerk an Korrespondenzpartnern reichte Christl Karnehm zufolge vom „Reichsvizekanzler bis zum Reitknecht“.30 Ebenso vielfältig waren die Themen, die aus allen Bereichen des Lebens stammten. Denn in der frühneuzeitlichen Briefrealität wurde Privates und Geschäftliches in ein- und demselben Schreiben ganz selbstverständlich vereint. Auch für die Briefe Hans Fuggers ist diese gemeinschaftliche Thematisierung kaufmännischer und persönlicher Belange charakteristisch.31 Inwieweit waren Gerichtsprozesse im Allgemeinen sowie die Prozesse „Fugger contra Fugger“ im Besonderen Gegenstand dieser Korrespondenz? Hans Fugger verfasste zwischen 1566 und 1594, einem Zeitraum, in dem mindestens neun Prozesse „Fugger contra Fugger“ am Reichskammergericht, am Reichshofrat und beim Rat bzw. Stadtgericht der Reichsstadt Augsburg anhängig waren, mindestens 231 Briefe, die Rechtsstreitigkeiten, das Reichskammergericht oder kaiserliche Kommissionen zum Thema hatten. Er nahm darin beispielsweise Stellung zur Personalpolitik des Speyerer Gerichts, diskutierte über die Haltung des Reichskammergerichts zum Augsburger Kalenderstreit oder tauschte sich über Ergebnisse von Prozessen unterschiedlichster Art aus.32 Familienpolitisch interessant ist dabei unter anderem, dass nicht nur vier Mitglieder der Familie Fugger seit dem letzten Drittel des 16. Jahrhunderts das Amt des Reichskammergerichtspräsidenten, der den Kammerrichter als höchsten Repräsentanten dieses Gerichts vertrat, inne hatten, sondern auch Hans

■ Dauser, Informationskultur und Beziehungswissen (wie Anm. 26). Dies., Fuggerkorrespondenz und Reichspolitik. Nachrichten zum Kölner Krieg im Kontext Fuggerscher Informationskultur, in: Johannes Burkhardt (Hg.), Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte 41), Augsburg 2008, S. 289–309. Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594 (wie Anm. 26). 28 Dauser, Informationskultur und Beziehungswissen (wie Anm. 26), S. 25. 29 Franz Karg, Hans Fugger wird „Regierer“ der Fuggerschen Firma, in: Johannes Burkhardt/Franz Karg (Hg.), Die Welt des Hans Fugger (1531–1598) (Materialien zur Geschichte der Fugger 1), Augsburg 2007, S. 131–142, hier S. 131. 30 Christl Karnehm, Das Korrespondenznetz Hans Fuggers (1531–1598), in: Johannes Burkhardt/Christine Werkstetter (Hg.), Kommunikation und Medien in der Frühen Neuzeit (Historische Zeitschrift, Beiheft 41) München 2005, S. 301–311, hier S. 305. 31 Dauser, Informationskultur und Beziehungswissen (wie Anm. 26), S. 35. 32 Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594 (wie Anm. 26). Dauser, Informationskultur und Beziehungswissen (wie Anm. 26), u.a. S. 291–293, 345. 27

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Fuggers Neffe, Hans von Montfort, diese Position anstrebte.33 Hans Fugger förderte erfolgreich die Pläne des jungen Grafen und nutzte seine Kontakte, um dieses Vorhaben voranzutreiben. Er schrieb im Rahmen dieser Korrespondenz an hohe Würdenträger am Kaiserhof, dabei unter anderen an Johann Tonner von Truppach, Hans von Trautson oder Adam von Dietrichstein und bat um Fürsprache in dieser Sache.34 Was die Prozesse „Fugger contra Fugger“ angeht, so ergibt sich ein heterogenes Bild: Nur ein einziger, nämlich der Prozess, der im Zuge der Auslösung Hans Jakob Fuggers (1516–1575) aus der Familienhandelsgesellschaft zwischen Hans Jakob sowie seinen Cousins Hans und Marx Fugger (1529–1597) geführt wurde, war Gegenstand dieser Korrespondenz. Dies ist zugleich der erste Prozess zwischen Teilhabern respektive Familienmitgliedern, der in den Entstehungszeitraum der Briefe fiel. Hans Fugger bezeichnete in seiner Korrespondenz mit Marx Fugger seinen Cousin und Prozessgegner Hans Jakob als „Wassermann“ bzw. „Wasservogel“. Da Hans Jakob Fugger keinen Wein vertrug und deshalb vornehmlich Wasser trank, verleitete dieses der damaligen gesellschaftlichen Norm zuwider laufende Verhalten nicht nur Hans Fugger zur Verwendung dieses spöttischen Spitznamens.35 Die Auslösung des „Wasservogels“ Hans Jakob Fuggers aus der Familienhandelsgesellschaft provozierte die umfangreichste, gerichtlich wie außergerichtlich geführte Auseinandersetzung „Fugger contra Fugger“. Ursprünglich war Hans Jakob seinem Onkel Anton in der Geschäftsleitung nachgefolgt, geriet jedoch zunehmend in Schulden, die 1563 auch zu seinem Ausscheiden aus der Handelsgesellschaft führten. Ab diesem Zeitpunkt übernahm Antons ältester Sohn Marx, bis 1569 noch gemeinsam mit Hans Jakob Fuggers Bruder Georg Fugger (1518–1569), die Geschäfte. Zwischen Hans Jakob und seinen Cousins Marx und Hans kam es

■ 33 Markus Fugger (1564–1614) war von 1589 bis 1594, Karl Fugger (1597–1662) von 1605 bis 1612 Präsident des Reichskammergerichts. Johann Ernst Fugger (1590–1639) wurde 1612 Reichskammergerichts- sowie 1631 Reichshofratspräsident und Johann Eusebius Fugger (1617–1672) war von 1649 bis 1670 Reichskammergerichtspräsident. Hans von Montfort hatte das Amt von 1578 bis 1586 inne. Vgl. Baumann, Die Fugger als Kläger vor dem Reichskammergericht (wie Anm. 2), S. 151–152. Dauser, Informationskultur und Beziehungswissen (wie Anm. 26), S. 345. 34 Dauser, Informationskultur und Beziehungswissen (wie Anm. 26), S. 63, 345. Baumann, Die Fugger als Kläger vor dem Reichskammergericht (wie Anm. 2), S. 151−152. ZuleTt hat Stefan Ehrenpreis am Beispiel des Reichshofrates auf die ausgezeichneten Verbindungen der Fugger durch Verwandtschaft oder Klientel zu den Institutionen des Reichs verwiesen. Ehrenpreis, Die Fugger und ihre Klientel am Reichshofrat (wie Anm. 19). Die Inhalte der Briefe finden sich teilweise als Regesten bei Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594, Bd. II/1 (wie Anm. 26), S. 556. 35 Helmut Zäh, Hans Jakob Fugger, der „Wassermann“ in der Korrespondenz Hans Fuggers, Johannes Burkhardt/Franz Karg (Hg.), Die Welt des Hans Fugger (1531–1598) (Materialien zur Geschichte der Fugger 1), Augsburg 2007, S. 61–70.

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zu jahrelangen Auseinandersetzungen, die noch die nächste Generation in Prozesse bis vor die höchsten Gerichte des Alten Reichs verstrickte.36 Seit 1563 hatten die streitenden Parteien immer wieder erfolglos versucht, sich mit Hilfe unterschiedlicher Vermittler zu vergleichen, „damit diße Handlungen alle im geheim zwischen den Parteyen möchten hingelegt werden“. Schlussendlich hatte der Kaiser die Kontrahenten an den Rat der Reichsstadt Augsburg verwiesen und Marx sowie Hans Fugger erklärten sich eigenen Angaben nach bereit, „ohne scheuch, bücher, Raittungen, und alles fürzubringen“, da Hans Jakob die Angelegenheit „mit großem geschrey“ öffentlich gemacht habe.37 In Augsburg war es am 16. November 1574 in besagter „causa der Wasservögel“ zu einem Urteil gekommen, das Marx und Hans von fast allen Vorwürfen ihres Cousins frei sprach. Hans Fugger nutzte anschließend sein Briefnetzwerk, um dieses günstige Urteil der Reichsstadt Augsburg zu verbreiten und damit den guten Ruf seiner Familie wieder herzustellen sowie die Gerüchte zu dementieren, die Hans Jakob Fugger während des Konflikts gestreut hatte. Da „unser widerwertig vetter H[ans] J[akob] Fugger lange Zeit, zu Hof und anderer ort umbgezogen, mit fürgeben er habe vil 100 000 gulden noch von uns zu haben“38. Zwischen dem 20. November 1574 und dem 1. Januar 1575 versandte Hans Fugger das Augsburger Urteil in Abschrift als Beilage an mindestens 15 strategisch ausgewählte Korrespondenzpartner, darunter Verwandte, fuggersche Angestellte, Geschäftspartner, Kleriker, aber auch Amtträger in Hof- und Reichsdiensten, mit der ausdrücklichen Bitte um Weiterverbreitung.39 Zuerst berichtete Hans Fugger Wilhelm V., dem Sohn des bayerischen Herzogs Alb-

■ Vgl. u.a. BayHStA RKG 1592/I-IV. HHStAW RHR Decisa 2285. HHSTAW Rk kleinere Reichsstände 121. StadtAA Rat, Fuggerakten 6. StadtAA Rat, Fuggerakten 7. 37 BayHStA RKG 1592/II, „Beschluß uff vorgeende Probationes p unnd anrüeffung deß Richterlichen Ambts“, 16.10.1571. 38 Schreiben von Hans Fugger an seinen Schwager Paul von Eiß vom 06.12.1574. Vgl. Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594, Bd. II/1 (wie Anm. 26), S. 124. 39 Am 22. November 1574 schickte Hans Fugger eine Abschrift des Urteils an Ernst von Rechenberg, Christoph Pflügel, Hans und Marquard vom Stain, Joachim Graf von Ortenburg sowie an Caspar Weiler. Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594, Band II/1 (wie Anm. 26), S. 116–117. Am 4. Dezember versendete Hans Fugger erneut Abschriften des Augsburger Urteils, diesmal an Lazarus Schmid in Ingolstadt, Dr. Christian Juda in Padua, Don Juan Manrique de Lara in Wien, und Michael von Eitzing. Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594, Band II/1 (wie Anm. 26), S. 122–123. Mit Paul von Eiß in München (06.12.1574), Ernst von Rechenberg (10.12.1574, 18.12.1574), Wendelin Volkius in Ingolstadt (14.12.1574), Joachim Graf von Ortenburg (21.12.1574), Hans Gaudenz Freiherr zu Spaur in Bruneck (01.01.1575) kommunizierte Hans Fugger in den nach Hans Jakob Fuggers Appellation ans Reichskammergericht verfassten Briefen. In den meisten Fällen reagierte er auf Glückwünsche zum Urteil, äußerte sich optimistisch über den Ausgang des Reichskammergerichtsprozesses und versandte weitere Abschriften desselben zur Weiterverbreitung. Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594, Band II/1 (wie Anm. 26), S. 124–133. 36

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recht V., dass am 16. November zu seiner Zufriedenheit in Augsburg ein Urteil gegen den „Wassermann“ zugunsten der Anton Fuggerschen Erben ergangen sei, wovon er noch eine Abschrift schicken werde.40 An Lazarus Schmid41 in Ingolstadt schrieb Hans Fugger am 4. Dezember unter anderem: „Ir werdt ohn zweifel vernommen haben, das H[ans] J[akob] Fugger vor 3 Jaren meinen Brüdern und mir ain Recht fertigung erwörckht ... auf 16. Novembris vergangen [war] alhie ain End Urthl zwischen unser gefallen, darvon Ir hieneben Copia haltet.“42 Dr. Christian Juda43 bat er, das Urteil in Padua bei den deutschen Studenten, in erster Linie jedoch bei Hans Fuggers Neffen, dem Grafen Hans von Monfort, Raymund Fugger, dem Sohn seines verstorbenen Cousins Georg Fugger, sowie dem jungen Grafen von Hardegg, bekannt zu machen.44 Mit dem Augsburger Urteil war der Konflikt allerdings noch lange nicht beigelegt, da Hans Jakob Fugger sofort an das Reichskammergericht appellierte. Obwohl dort seit dem 5. Januar 1575 in dieser Sache verhandelt wurde, finden sich für Monate keine Informationen darüber in der Korrespondenz. Erst im Oktober 1575, als der Prozess nach Hans Jakobs Tod zeitweilig zum Erliegen gekommen und Marx Fugger vom Kaiser nach Regensburg bestellt worden war, wurde die „causa der Wasservögel“ wieder Thema der Briefe:45 Am Rande des dortigen Kurfürstentages versuchten der Kaiser und der bayerische Herzog, die Konfliktparteien zu einem finanziellen Vergleich und zur Beilegung der Streitigkeiten zu bewegen. Eine Reihe hochrangiger und verwandtschaftlich mit den Fuggern verbundener kaiserlicher und herzoglicher Gesandter suchte das persönliche Gespräch mit Hans Fugger, der stellvertretend für den Leiter der Handelsgesellschaft angereist war. Hans allerdings infor-

■ 40 Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594, Band II/1 (wie Anm. 26), S. 115. 41 Lazarus Schmid war Erzieher im Hause Fugger. Vgl. Christian Grebner, Kaspar Gropper (1514–1594) und Nikolaus Elgard (ca. 1538–1587). Biographie und Reformtätigkeit. Ein Beitrag zur Kirchenreform in Franken und im Rheinland in den Jahren 1573 bis 1576, Münster 1982, S. 252. 42 Schreiben von Hans Fugger an Lazarus Schmid vom 04.12.1574. FA 1.2.7 H. 20. Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594, Band II/1 (wie Anm. 26), S. 122. 43 Dr. Christian Juda war während seines Studiums von Hans Fugger finanziell unterstützt worden. Vgl. Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594, Bd. I (wie Anm. 26), S. 348. 44 Schreiben von Hans Fugger an Dr. Christian Juda in Padua vom 04.12.1574. FA 1.2.7 H. 20. Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594, Bd. II/1 (wie Anm. 26), S. 122. Bei dem jungen Grafen von Hardegg handelt es sich Christl Karnehms Einschätzung nach um den Sohn von Hans Fuggers Schwester Regina von Hardegg. 45 HHStAW RHR Decisa 2285, Entwurf eines Forderbriefs an Marx Fugger, 10.10.1575. HHStAW RHR Decisa 2285, Schreiben von Hans Fugger an den Kaiser, 18.10.1575. Aus diesem Schreiben geht hervor, dass sich das Treffen nicht zufällig ereignete, vgl. Christl Karnehm, Hans Fuggers Auftritt beim Regensburger Kurfürstentag 1575, in: Johannes Burkhardt (Hg.), Die Fugger und das Reich. Eine neue Forschungsperspektive zum 500jährigen Jubiläum der ersten Fuggerherrschaft Kirchberg-Weißenhorn (Studien zur Fuggergeschichte 41), Augsburg 2008, S. 113–132, hier S. 113.

Kommunikationsstrategie „in causa der Wasservögel“

mierte seinen Bruder Marx in Augsburg in einer Reihe von Briefen detailliert über die Gespräche und Vorkommnisse in der Stube des Regensburger Rathauses. Die Vermittler versuchten, Hans Fugger seinen eigenen Angaben nach dazu zu bringen, den Erben Hans Jakob Fuggers mit 100 000 Dukaten auszuhelfen, „damit Sy Ire Schulden abzallen und Ires Herren Vattern Ehr retten mügen“ und argumentierten „Ir seid doch aines Geblüets und Herkhommens“. Hans Fugger signalisierte keinerlei Kompromissbereitschaft und konterte unter anderem „dann wie khemen wir dazu, daß wir mit unserm Gelt anderer Leut Schulden bezallen, und dessen Ehr retten sollten, der unserm Vattern under der Erden an seinen wolhergebrachten Ehren so schmählich angetascht“ haben.46 Hans und Marx Fugger beharrten auf einer gerichtlichen Klärung der Auseinandersetzung und nahmen Anfang 1578 den Prozess vor dem Reichskammergericht wieder auf.47 Danach hat kein einziger Brief Hans Fuggers mehr den noch mehrere Jahrzehnte andauernden Prozess mit Hans Jakob Fugger bzw. dessen Erben oder einen der zahlreichen übrigen Prozesse „Fugger contra Fugger“ zum Thema. Andere Prozesse, in welche die Fugger involviert oder an denen sie interessiert waren, wurden dagegen durchweg in der Korrespondenz Hans Fuggers thematisiert. 3. Resümee■Trotz der möglicherweise damit verbundenen Probleme und der vorhandenen Alternativen nutzten Mitglieder der Augsburger Kaufmannsfamilie respektive Gesellschafter der Familienhandelsgesellschaft der Fugger zwischen 1562 und 1631 in verstärktem Maße auch Gerichte als Foren innerfamiliärer und damit gesellschaftsinterner Konfliktlösung. Darüber hinaus betrieb Hans Fugger im Rahmen seiner Briefkorrespondenz gezielt Meinungsbildung, indem er bestimmte Informationen wie das positive Urteil „in causa der Wasservögel“ strategisch weiterleitete und andere zurückhielt. Als sich abzeichnete, dass der Prozess gegen Hans Jakob Fugger zu keiner schnellen und möglicherweise auch keiner befriedigenden Lösung führen würde, wurde von Hans Fugger nicht mehr darüber berichtet. Auch die anderen Verfahren „Fugger contra Fugger“, die danach an den Gerichten anhängig waren, fanden keine Erwähnung mehr in dieser Korrespondenz.

■ Schreiben von Hans an Marx Fugger vom 22. bis 27. Oktober 1575. Karnehm, Hans Fuggers Auftritt beim Regensburger Kurfürstentag 1575 (wie Anm. 45). Die Inhalte der Briefe finden sich als Regesten bei Karnehm (Bearb.), Die Korrespondenz Hans Fuggers von 1566 bis 1594, Bd. II/1 (wie Anm. 26), S. 269–282. 47 BayHStA RKG 1592/I. 46

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Das Oberappellationsgericht Celle als Mittler

■Stefan

Andreas Stodolkowitz■Das Oberappellationsgericht Celle als Mittler zwischen Reichsjustiz und territorialer Gerichtsbarkeit

1. Einleitung■Bis zu ihrer Auflösung im Jahre 1806 waren das Reichskammergericht in Wetzlar und der Reichshofrat in Wien die höchsten Gerichte im Alten Reich. Spätestens seit der Anerkennung der Landeshoheit (superioritas territorialis) durch den Westfälischen Frieden1 verselbständigten sich aber die Territorien mehr und mehr vom Reich und entwickelten ein eigenes, zunehmend in sich geschlossenes und institutionalisiertes Justizwesen. Auch wenn das Reichskammergericht bis zuletzt ziemlich kontinuierlich von Rechtsuchenden in Anspruch genommen wurde,2 standen in der Praxis des gerichtlichen Alltags territoriale Gerichte im Vordergrund. Sie vor allem verkörperten die Justiz für die Rechtsuchenden. Die Bedeutung der Reichsgerichte für die alltägliche Rechtspraxis setzte sich aber in den Gerichten der Territorien fort. Die landeseigenen obersten Gerichte hatten dabei eine herausgehobene Mittlerrolle inne; sie waren ein Medium, durch das die Reichsgerichtsbarkeit in den Territorien wirkte. Dies soll am Beispiel des Oberappellationsgerichts Celle dargestellt werden, das 1711 – nach der Verleihung der neunten Kur-

■ Art. V § 30 IPO = Konrad Müller (Hg.), Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westfälischen Friedensverträge. Vollständiger lateinischer Text mit Übersetzung der wichtigeren Teile und Regesten, 3. Aufl., Bern/Frankfurt am Main 1975 (Quellen zur neueren Geschichte 12/13), S. 36, 123f., und Art. VIII § 1 IPO = ebenda, S. 47f., 134. Vgl. Wolfgang Sellert, Art. Landeshoheit, in: HRG II, 1. Aufl. 1976, Sp. 1389f. Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte. Vom Frankenreich bis zur Wiedervereinigung Deutschlands, 6. Aufl., München 2009, § 21 II 3. Ders., Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit, Köln/Wien 1975 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 11), S. 121ff. 2 Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2001 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 36), S. 23ff. Für den Reichshofrat geht Karl Otmar Freiherr von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806, Bd. 2: Kaisertradition und österreichische Großmachtpolitik (1684–1745), Stuttgart 1997, S. 148 von Verfahrenszahlen aus, die diejenigen am Reichskammergericht um fast das zehnfache übersteigen. Abschließende Aussagen über den Reichshofrat sind aber wegen der noch lückenhaften Forschung und der unübersichtlichen Quellenlage nicht möglich. Vgl. zur derzeitigen Quellenlage und zur Inventarisierung der Akten des Reichshofrats Leopold Auer, Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung, in: Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann (Hg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn/Wetzlar 1997, S. 117ff. Eva Ortlieb, Gerichtsakten und Parteiakten zur Überlieferung der kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Köln/Weimar/Wien 2001 (QFHG 37), S. 106f. sowie das Vorwort von Wolfgang Sellert, in: ders. (Hg.), Die Akten des Kaiserlichen Reichshofrats, Serie I: Alte Prager Akten, Bd. 1: A–D, bearbeitet von Eva Ortlieb, Berlin 2009, S. 7ff. 1

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Stefan Andreas Stodolkowitz

würde3 und im Zusammenhang mit den Bemühungen um das unbeschränkte Appellationsprivileg – als oberstes Gericht des Kurfürstentums BraunschweigLüneburg (Kurhannover) gegründet wurde. Die Übertragung reichsgerichtlicher Grundsätze auf die Territorialjustiz betraf zunächst die Gerichtsverfassung (2.). Wiederholt legten Reichsgesetze den Landesherren nahe, sich bei der Gründung und Ausgestaltung landeseigener Gerichte an den Reichsgerichten zu orientieren.4 Davon war meist auch die Erteilung unbeschränkter Appellationsprivilegien abhängig. 5 So wurde das Reichskammergericht zum Vorbild zahlreicher territorialer Gerichte. 6 Diese Bindung an die Reichsgerichte bestand aber nicht nur bei der Gründung eines

■ 3 Die braunschweig-lüneburgische Kurwürde war im Kreise der Kurfürsten sehr umstritten. Bereits 1692 bewilligt, wurde sie erst 1708 durch die förmliche Einführung des Herzogs Georg Ludwig in das Kurfürstenkollegium endgültig anerkannt; Gerd van den Heuvel, Niedersachsen im 17. Jahrhundert (1618–1714), in: Christine van den Heuvel/Manfred von Boetticher (Hg.), Geschichte Niedersachsens. Dritter Band, Teil 1: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Reformation bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Hannover 1998 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVI), S. 158. Georg Schnath, Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1674–1714, Bd III: 1698–1714 – Ohne die Vorgeschichte der englischen Sukzession, Hildesheim 1978 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen XVIII), S. 398ff. Vgl. Freiherr von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806 (wie Anm. 2), S. 54ff., 179ff. Frieda Freiin von Esebeck, Die Begründung der hannoverschen Kurwürde. Ein Beitrag zur Geschichte des Heiligen Römischen Reichs im 17. und 18. Jahrhundert (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 43), Hildesheim/Leipzig 1935. Johann Jakob Moser, Einleitung in das Chur-Fürstund Herzoglich Braunschweig-Lüneburgische Staats-Recht, Frankfurt/Leipzig 1755, S. 165ff. 4 § 15 Abschied des Deputationstages zu Speyer von 1600 = Johann Jacob Schmauß/Henrich Christian Senckenberg (Hg.), Neue und vollständigere Sammlung der Reichs-Abschiede, Welche von den Zeiten Kayser Conrads des II. bis jetzo auf den Teutschen Reichs-Tägen abgefasset worden, sammt den wichtigsten Reichs-Schlüssen, so auf dem noch fürwährenden Reichs-Tage zur Richtigkeit gekommen sind, Bd. III, Neudruck der Ausgabe Frankfurt 1747, Osnabrück 1967, S. 476. § 137 JRA 1654 = Adolf Laufs (Hg.), Der jüngste Reichsabschied von 1654. Abschied der Römisch Kaiserlichen Majestät und gemeiner Stände, welcher auf dem Reichstag zu Regensburg im Jahr Christi 1654 aufgerichtet ist, Bern 1975 (Quellen zur neueren Geschichte 32), S. 67. 5 Holger Erwin, Machtsprüche. Das herrscherliche Gestaltungsrecht „ex plenitudine potestatis“ in der Frühen Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2009 (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 25), S. 234ff. Speziell zum Celler Oberappellationsgericht Peter Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht auf die Entstehung und Entwicklung des Oberappellationsgerichts Celle unter besonderer Berücksichtigung des Kampfes um das kurhannoversche Privilegium De Non Appellando Illimitatum, Aalen 1986 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, n. F. 27), S. 123; Stefan Andreas Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle und seine Rechtsprechung im 18. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien 2011 (QFHG 59; im Druck), S. 18. 6 Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II: Neuzeit bis 1806, Karlsruhe 1966, S. 286. Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: ders., Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich, Frankfurt am Main 1999 (Ius Commune Sonderhefte, Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 122), S. 229. Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 178.

Das Oberappellationsgericht Celle als Mittler

Gerichts. Denn gegen Entscheidungen territorialer Gerichte konnten sich Rechtsuchende im Wege der Nichtigkeitsbeschwerde (querela nullitatis) und der Beschwerde wegen verweigerter oder verzögerter Justiz (querela denegatae vel protractae iustitiae) an die Reichsgerichte wenden. Auch unbeschränkte Appellationsprivilegien schlossen diese Rechtsmittel nicht aus. 7 Wollten die Landesherren solchen Beschwerden vorbeugen, die den Ruf sowie die Eigenständigkeit ihrer Justiz gefährden und damit möglicherweise mittelbar das Gewicht des jeweiligen Territoriums im Reich schmälern8 konnten, mussten sie ein Gerichtswesen gewährleisten, das dem von den Reichsgerichten gesetzten Maßstab standhielt.9 Auch im Prozessrecht wird der reichsgerichtliche Einfluss sichtbar (3.). Dies gilt für die Regelungen der Oberappellationsgerichtsordnung ebenso wie für die Fortentwicklung des Verfahrens durch den Gerichtsgebrauch (stilus curiae).10 Weiterhin waren die Reichsgerichte durch personelle Verbindungslinien in der Territorialjustiz gegenwärtig (4.). Zudem war die Rechtsprechung ein Medium, das den Einfluss der Reichsgerichtsbarkeit vermitteln konnte, indem territoriale Gerichte die Judikatur der Reichsgerichte sowie kameralistische Literatur zur Rechtsfindung heranzogen (5.). Schließlich bedienten sich die Gerichte – wenn auch in Celle in geringerem Maße als am Reichskammer-

■ 7 Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia de non appellando, Köln/Wien 1980 (QFHG 7), S. 13. Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 89. Eingehend zu diesen Rechtsmitteln auch Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht. Zur politischen Geschichte der Rechtsmittel in Deutschland, Köln/Wien 1976 (QFHG 4), S. 45ff. Zur Bedeutung der Rechtsverweigerungsbeschwerde am Reichskammergericht Peter Oestmann, Rechtsverweigerung im Alten Reich, ZRG GA 127 (2010), 51 ff.; Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption. Eine rechts- und sozialgeschichtliche Analyse der Tätigkeit des Reichskammergerichts im 16. Jahrhundert, Bd. I, Köln/Wien (QFHG 17/I) 1985, S. 207ff. 8 Zur Bedeutung von Recht und Justiz für Entstehung und Stabilität staatlicher Herrschaft vgl. Ulrike Müßig, Höchstgerichte im frühneuzeitlichen Frankreich und England, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hg.), Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, Köln/Weimar/Wien 2007 (QFHG 53) S. 47f. Dies., Recht und Justizhoheit. Der gesetzliche Richter im historischen Vergleich von der Kanonistik bis zur Europäischen Menschenrechtskonvention, unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsentwicklung in Deutschland, England und Frankreich, 2. Aufl., Berlin 2009 (Schriften zur europäischen Rechts- und Verfassungsgeschichte 44), S. 337. Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart, 3. Aufl., München 2003, S. 281f. 9 Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 6), S. 221ff. Erwin, Machtsprüche (wie Anm. 5), S. 234ff. Gernot Sydow, Das Verhältnis von Landes- und Reichsgerichtsbarkeit im Heiligen Römischen Reich. Eine Neubewertung der privilegia de non appellando, Der Staat 41 (2002), S. 263ff. Vgl. Ulrike Müßig, Gesetzlicher Richter ohne Rechtsstaat? Eine historisch-vergleichende Spurensuche, Berlin 2007 (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft zu Berlin 182), S. 27. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 6), S. 177f. 10 Zur Bedeutung des Gerichtsgebrauchs am Oberappellationsgericht Celle Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 125. Vgl. allgemein Filippo Ranieri, Art. Gerichtsgebrauch, in: HRG II, 2. Aufl. 2009, Sp. 155ff.

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gericht – gerichtlicher Symbolik und öffentlichkeitswirksamer Ereignisse als Medien, um ihre Autorität sichtbar zur Geltung zu bringen und die Akzeptanz ihrer Rechtsprechung zu festigen (6.). 2. Gerichtsverfassung■Das Celler Oberappellationsgericht war in seiner Gerichtsverfassung weitgehend dem Reichskammergericht nachgebildet. Dies zeigt vor allem seine personelle Zusammensetzung. In Anlehnung an die Präsentation der Reichskammergerichtsassessoren durch die Reichsstände11 wurde die Mehrheit der Celler Richter im Wege der Präsentation durch die Landstände bestimmt. Der Landesherr selbst ernannte nur die Präsidenten und Vizepräsidenten sowie ein Viertel bis ein Drittel der Richter.12 Zwar hatte er insofern erheblichen Einfluss auf jede Neubesetzung einer Richterstelle, als auch die ständisch präsentierten Kandidaten von seiner Ernennung abhängig waren, die er jederzeit selbst willkürlich versagen konnte.13 In diesem zumindest rechtstheoretisch bedeutsamen Unterschied gegenüber dem Reichskammergericht, auf dessen Zusammensetzung der Kaiser nur beschränkt Einfluss hatte, zeigt sich die Landeshoheit des Fürsten. Tatsächlich haben die Herrscher

■ 11 Vgl. Sigrid Jahns, Die Personalverfassung des Reichskammergerichts unter Anpassungsdruck. Lösungen im Spannungsfeld zwischen Modernität und Überalterung, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte. Stand der Forschung, Forschungsperspektiven, Köln/Wien 1990 (QFHG 21), S. 76. 12 Dieses Verhältnis schwankte, da das Gericht in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts mehrfach vergrößert wurde. Zu Beginn bestand es aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten und neun Oberappellationsräten, von denen die Landstände sechs präsentierten. Th. I Tit. 1 § 4 OAGO = Chur-Braunschweig-Lüneburgische LandesOrdnungen und Gesetze. Zum Gebrauch der Fürstenthümer, Graf- und Herrschaften Calenbergischen Theils, Bd. II, Göttingen 1740, S. 8. Georg Heinrich Oesterley, Grundriß des bürgerlichen und peinlichen Processes für die Chur-Braunschweig-Lüneburgischen Lande und zwar für den Theil derselben welcher in zweyter Instanz den Obergerichten zu Hannover unterworfen ist, Göttingen 1800, S. 23f. Im Jahre 1716 wurde das Gericht um drei Ratsstellen erweitert, die alle im Wege ständischer Präsentation zu besetzen waren. Friedrich von Bülow, Über die Verfassung, die Geschäfte und den Geschäftsgang des Königlichen und Churfürstlich Braunschweig-Lüneburgischen Ober-AppellationsGerichts zu Zelle, Erster Theil, Göttingen 1801, S. 27. Weitere zwei Stellen kamen 1733 hinzu, von denen Eine ständischer Präsentation offenstand, während die andere vom Landesherrn zu besetzen war. Reglement wegen verbesserter Einrichtung des OberAppellations-Gerichts vom 31. März 1733 = Landes-Ordnungen und Gesetze II, S. 180– 186. Eine weitere, für das achtzehnte Jahrhundert letzte Änderung der Zusammensetzung brachte das Jahr 1740, in dem das Gericht um einen vom Landesherrn zu bestimmenden zweiten Vizepräsidenten erweitert wurde. Von Bülow, ebd., S. 28. 13 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 149. Ernst Peter Johann Spangenberg, Das Oberappellationsgericht in Celle für das Königreich Hannover nach seiner Verfassung, Zuständigkeit und dem bei demselben Statt findenden Geschäftsgange und Proceßverfahren, Celle 1833, S. 73. Anders Ernst Ludwig von Lenthe, Die landschaftlichen Präsentationsrechte zum Königlichen Ober-Appellations-Gerichte zu Celle. Besonderer Abdruck aus Band VII, S. 403 bis 614 des Archivs für Geschichte und Verfassung des Fürstenthums Lüneburg, Celle 1859, S. 547f., dessen Ansicht jedoch vereinzelt blieb und zum Rechts- und Verfassungsverständnis des achtzehnten Jahrhunderts im Widerspruch steht.

Das Oberappellationsgericht Celle als Mittler

von ihrem Vorbehalt aber nie Gebrauch gemacht,14 der damit in der Praxis bedeutungslos war. Benannten die Landstände oder der Landesherr innerhalb von sechs Monaten nach Eintritt einer Vakanz keinen Kandidaten, so konnte das Gericht selbst im Wege des sogenannten Devolutionsrechts einen Kandidaten auswählen.15 Wie am Reichskammergericht, das ebenfalls eine entsprechende Regelung kannte,16 kam das Devolutionsrecht in der Celler Praxis aber kaum zum Tragen. Denn bei Verzögerungen pflegte das Gericht die Sechsmonatsfrist großzügig zu verlängern.17 Im Gegenzug für die Präsentationsrechte hatten die Landstände für die gesamten Personalkosten aufzukommen.18 Ihre Beiträge entrichteten sie an die Besoldungskasse des Gerichts, das aus diesen Geldern die Bezüge seiner Angehörigen beglich.19 Dieses Finanzierungssystem entsprach der Unterhaltung des Reichskammergerichts durch die Kammerzieler der Reichsstände, die das Gericht über seine Sustentationskasse selbst verwaltete.20 Wie in Wetzlar musste sich auch in Celle jeder Kandidat für eine Richterstelle einer Prüfung durch das Gericht unterziehen. Diese Prüfung bestand aus einem mündlichen und einem schriftlichen Teil und entsprach formell wie inhaltlich derjenigen des Reichskammergerichts. Der erste Teil der mündlichen

■ 14 Karl Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover. Festschrift zur Erinnerung an die Gründung des kurhannoverschen Oberappellationsgerichts in Celle am 14. Oktober 1711, Hannover 1911, S. 60. Karl Lühr, Die ersten zweihundert Jahre, in: Guido Schräder (Hg.), 250 Jahre Oberlandesgericht Celle 1711–1961, Celle 1961, S. 14. Ernst von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte 1680–1866, Bd. I: Die Verfassungsgeschichte, Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1898, Hildesheim 1973, S. 303. 15 Th. I Tit. 1 § 11 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 10f. Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 143. Von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. I (wie Anm. 14), S. 307. 16 Th. I Tit. 4 § 3 RKGO 1555 = Adolf Laufs (Hg.), Die Reichskammergerichtsordnung von 1555, Köln/Wien 1976 (QFHG 3), S. 77f. § 22 JRA 1654 = Laufs, Der jüngste Reichsabschied von 1654 (wie Anm. 4), S. 19f. Vgl. Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 142. Das Reichskammergericht hat sein Devolutionsrecht in der Praxis kaum ausgeübt. Rudolf Smend, Das Reichskammergericht. Geschichte und Verfassung, Neudruck der Ausgabe Weimar 1911, Aalen 1965, S. 385. 17 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 144. Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 60 sowie die Richtertabellen S. 467ff., die bis 1805 keine ex iure devoluto ernannten Oberappellationsräte verzeichnen. Vgl. auch Theodor Hagemann (Hg.), Die Ordnung des Königlichen Ober-AppellationsGerichts zu Celle, Hannover 1819, S. 9, Note 1. 18 Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 108f. 19 Th. I Tit. 3 § 16 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 25f. Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 218f. Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 78. Spangenberg, Das Oberappellationsgericht in Celle (wie Anm. 13), S. 98. 20 Th. I Tit. 40 RKGO 1555 = Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (wie Anm. 16), S. 138ff. Zur entsprechenden Einrichtung am Wismarer Tribunal Th. I Tit. 17 § 3 WTO 1657 = Ihro Königl. Majest. und derer Reiche Schweden in Dero Teutschen Provincien Gerichts-Ordnungen, Nebst theils beygefügten, theils eingerückten Visitations-Abschieden, Greifswald/Stralsund 1739, S. 38.

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Prüfung, das sogenannte Skrutinium, hatte die persönlichen und charakterlichen Eigenschaften des Kandidaten zum Gegenstand. Im Plenum hatte sich das Gericht „de vita & moribus […] so viel immer möglich, aufs genaueste zu erkundigen, und wann davon mit Grunde etwas widriges zu vernehmen wäre, solches sowohl, ja noch mehr, als den Mangel der Erudition zu attendiren.“21 Es prüfte zunächst die Zugehörigkeit zur Augsburger Konfession und zur deutschen Nation als gesetzliche Voraussetzungen.22 Des Weiteren waren Fleiß und Verträglichkeit in kollegialen Verhältnissen sowie Gesundheit, Lebenswandel, Ansehen und die Vermögensverhältnisse des Kandidaten Gegenstand des Skrutiniums.23 Dieser Teil der Prüfung entsprach dem examen generale am Reichskammergericht.24 An das Skrutinium schloss sich sodann das schriftliche Examen an. Den Kandidaten wurden hierzu „2. oder 3. Bund Acten ad referendum gegeben […], aus welchen sie schrifftliche Relationes mit beygefügtem Voto und Aufsatz der Sententz in wenigen, etwa 4. ad 6. Tagen zu Celle, […] verfertigen“ sollten.25 Das Gericht dehnte die Frist jedoch meist wegen des Umfangs der Akten, die stets seiner laufenden Tätigkeit entnommen waren, auf drei bis sechs Monate aus. Dies entsprach wiederum der reichskammergerichtlichen Praxis. 26 Schließlich hatte sich der Kandidat einer zweitägigen mündlichen Prüfung durch das Plenum zu stellen, in der er Teile seiner Proberelationen verlesen und beliebige rechtswissenschaftliche Fragen beantworten musste.27 Dieser Teil der Prüfung war dem Wetzlarer examen speciale nachgebildet. Lehnte das Gericht einen Kandidaten wegen fehlender charakterlicher oder fachlicher Eignung ab, so brauchte es seine Entscheidung ebenso wie das Reichskammergericht nicht zu begründen.28 Die Celler Richterschaft war in eine adlige und eine gelehrte Bank eingeteilt.29 Auch hierin folgte die Oberappellationsgerichtsordnung jedenfalls grundsätz-

■ Th. I Tit. 1 § 8 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 10. Th. I Tit. 1 § 3 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 7f. 23 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 151f. Lühr, Die ersten zweihundert Jahre (wie Anm. 14), S. 15. 24 Vgl. § 7 des Visitationsabschieds von 1713 = Sammlung der Reichs-Abschiede IV (wie Anm. 4), S. 263. 25 Th. I Tit. 1 § 7 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 9. 26 Vgl. Benjamin Ferdinand Mohl, Historisch-politische Vergleichung der beyden höchsten Reichsgerichte in ihren wichtigsten Verhältnissen, Ulm 1789, S. 55. 27 Th. I Tit. 1 § 7 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 9. Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 61. Ausführliche Schilderung des Ganges der mündlichen Prüfung bei Spangenberg, Das Oberappellationsgericht in Celle (wie Anm. 13), S. 76f. 28 Th. I Tit. 1 § 10 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 10. Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 165. Zum Reichskammergericht Heinrich Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des alten Reiches, Münster 1966, S. 20f. 29 Th. I Tit. 1 § 6 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 8f. 21 22

Das Oberappellationsgericht Celle als Mittler

lich dem Vorbild des Reichskammergerichts30 sowie zugleich dem des Reichshofrats,31 auch wenn die formelle Trennung zweier Bänke in Wetzlar schon seit dem sechzehnten Jahrhundert keine Rolle mehr gespielt haben mag. 32 Das Gleichgewicht zwischen den beiden Bänken war am Oberappellationsgericht dadurch gewährleistet, dass die Zahl der Richter der einen Bank diejenige der anderen niemals um mehr als zwei übersteigen durfte. Während die Richter der adligen Bank dem alten Geschlechtsadel entstammen mussten, gehörten der gelehrten Bank neben Bürgerlichen auch Neuadlige an.33 Letztere überwogen meistens,34 so dass das Gericht vorwiegend mit Adligen besetzt war. Hinsichtlich der Qualifikation der Richter bestand zwischen Bürgerlichen und Adligen kein Unterschied, denn die Oberappellationsgerichtsordnung schrieb ausdrücklich vor: „Es sollen aber die adeliche Persohnen nicht weniger, als die Gelehrte mit genugsahmer und zugehöriger Verwaltung des ihnen bey Unserem Ober-Appellations-Gericht anvertraueten Amts erforderter Erudition versehen seyn.“35 Das gelehrte Element36 hatte sich am Celler Gericht also von Anfang an vollständig durchgesetzt. Die Gründer des Gerichts übernahmen die Verfassung des Reichskammergerichts jedoch auch nicht unbesehen. Dies zeigt beispielhaft die Stellung des Präsidenten. Während am Reichskammergericht die hergebrachte Trennung

■ 30 Vgl. § 1 RKGO 1495 = Sammlung der Reichs-Abschiede II (wie Anm. 4), S. 6. Th. I Tit. 3 § 2 RKGO 1555 = Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (wie Anm. 16), S. 75f. Bernhard Diestelkamp, Von der Arbeit des Reichskammergerichts, in: ders., Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich (wie Anm. 6), S. 294. Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 16), S. 297ff. 31 Tit. 5 § 8 RHRO 1654 = Wolfgang Sellert (Hg.), Die Ordnungen des Reichshofrates 1550– 1766, 2. Halbbd.: 1626 bis 1766, Köln/Wien 1990 (QFHG 8/II), S. 192. Ders., Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens, Aalen 1973 (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, n. F. 18), S. 343. Vgl. David Georg Strube, Nebenstunden, Dritter Theil, Darmstadt 1789, S. 59f. mit dem Hinweis, dass Ende des achtzehnten Jahrhunderts neben dem Reichshofrat auch in Kursachsen, Böhmen, Österreich und Württemberg noch adlige Bänke bestanden hätten. 32 Jahns, Die Personalverfassung des Reichskammergerichts (wie Anm. 11), S. 75, Note 30. Strube, Nebenstunden, Dritter Theil (wie Anm. 31), S. 58. Auch ausweislich der Biographien bei Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich, Teil II: Biographien, zwei Bde., Köln/Weimar/Wien 2003 (QFHG 26/II), spielte die Trennung zwischen adligen und gelehrten Richtern im achtzehnten Jahrhundert keine Rolle mehr. Vgl. Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 16), S. 300. Anders Bernhard Diestelkamp, Zur Krise des Reichsrechts im 16. Jahrhundert, in: ders., Recht und Gericht im Heiligen Römischen Reich (wie Anm. 6), S. 488, der von „formeller Beibehaltung der beiden Bänke“ spricht. 33 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 40f. 34 Im achtzehnten Jahrhundert gehörte die Mehrheit (24 von insgesamt 33) der Räte auf der gelehrten Bank dem neuen Adel an. Von Meier, Hannoversche Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Bd. I (wie Anm. 14), S. 487. 35 Th. I Tit. 1 § 6 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 9. 36 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 6), S. 175ff.

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von Richter und Urteilern galt 37 und der Kammerrichter eine vorwiegend verfahrensleitende Funktion hatte, bei Stimmengleichheit aber den Ausschlag gab,38 war der Präsident in Celle bei allen Abstimmungen im Gerichtskollegium in gleicher Weise stimmberechtigt wie die Beisitzer.39 Er hatte grundsätzlich auch kein Recht zum Stichentscheid (votum decisivum) bei Stimmengleichheit.40 Insofern war am Celler Gericht bereits der moderne Grundsatz verwirklicht, dass der Präsident bei der Abstimmung über richterliche Entscheidungen kein anderes Gewicht hat als alle anderen Richter. 3. Das gerichtliche Verfahren in der Praxis 3.1. Die Grundsätze des Verfahrens■Das Celler Oberappellationsgericht judizierte auf der Grundlage des gemeinen Prozessrechts in der Gestalt, die dieses durch den Jüngsten Reichsabschied von 1654 angenommen hatte. Dies verwundert nicht, denn der Gemeine Zivilprozess prägte das Gerichtswesen im ganzen Reich, und wiederholt mahnten Reichsgesetze seine Anwendung in der territorialen Gerichtspraxis an.41 Bei der Ausarbeitung der 1713 in Kraft getretenen Oberappellationsgerichtsordnung hatten sich deren Väter an der Reichskammergerichtsordnung von 1555 und dem Jüngsten Reichsabschied sowie der Celler Hofgerichtsordnung und der Wismarer Tribunalsordnung orientiert,42 die ihrerseits eng an das Vorbild des Reichskammergerichts ange-

■ Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II (wie Anm. 6), S. 286f. Adolf Laufs, Art. Reichskammergericht, in: HRG IV, 1. Aufl. 1986, Sp. 657. Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 16), S. 251f., 261. Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 28), S. 11ff. Zur Parallele am Wismarer Tribunal Kjell Åke Modéer, Gerichtsbarkeiten der schwedischen Krone im deutschen Reichsterritorium. Voraussetzungen und Aufbau 1630–1657, Lund 1975, S. 354f. Zum Reichshofrat Sellert, Prozeßgrundsätze (wie Anm. 31), S. 344f. 38 Ob es dieses votum decisivum des Kammerrichters in der Wetzlarer Zeit noch gegeben hat, ist unklar. Smend, Das Reichskammergericht (wie Anm. 16), S. 253. Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 28), S. 147. Vgl. Mohl, Historisch-politische Vergleichung (wie Anm. 26), S. 340ff. Sellert, Prozeßgrundsätze (wie Anm. 31), S. 344. 39 Th. II Tit. 12 § 13 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 142. Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 141. 40 Th. II Tit. 12 § 14 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 142f. Friedrich von Bülow, Über die Verfassung, die Geschäfte und den Geschäftsgang des Königlichen und Churfürstlich Braunschweig-Lüneburgischen Ober-AppellationsGerichts zu Zelle, Zweyter Theil, Göttingen 1804, S. 365f. 41 § 15 des Speyerer Deputationsabschieds von 1600 = Sammlung der ReichsAbschiede III (wie Anm. 4), S. 476. § 137 JRA 1654 = Laufs, Der jüngste Reichsabschied von 1654 (wie Anm. 4), S. 67. Martin Ahrens, Prozeßreform und einheitlicher Zivilprozeß. Einhundert Jahre legislative Reform des deutschen Zivilverfahrensrechts vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zur Verabschiedung der Reichszivilprozeßordnung, Tübingen 2007 (Tübinger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 102), S. 13. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 6), S. 183. 42 Kurfürst Georg Ludwig wies die Verfasser der Gerichtsordnung an, „so viel sich füglich thun lassen will, und darauf quadriret, denen Cammer-Gerichts, Zellischen HofGerichts- auch Wismarschen Tribunals-Ordnungen nachzugehen“. Die von ihm einge37

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lehnt waren.43 Nur die ebenfalls herangezogene Sächsische Gerichtsordnung44 mag für einige Abweichungen vom Wetzlarer Verfahren verantwortlich gewesen sein. Trotzdem übernahm die Oberappellationsgerichtsordnung das am Reichskammergericht praktizierte Verfahren nicht unverändert. Damit verfolgte sie das Ziel der Verfahrensbeschleunigung,45 die zu jeder Zeit ein zentrales Anliegen der Justiz und eine unverzichtbare Voraussetzung für die Akzeptanz der Rechtsprechung ist.46 Im Zentrum der Modifikationen des reichskammergerichtlichen Verfahrens durch die Celler Oberappellationsgerichtsordnung stand das Prinzip strenger Schriftlichkeit des Verfahrens. Zwar war der Gemeine Zivilprozess insgesamt ein schriftliches Verfahren, getreu dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo. Die Akten waren die alleinige Grundlage der Beurteilung eines Falles durch das Gericht.47 Während das relative Schriftlichkeitsprinzip des Reichskammergerichts aber zumindest eingeschränkt noch die Möglichkeit mündlicher Parteivorträge in gerichtlichen Audienzen vorsah, 48 war in Celle auch diese Form der Mündlichkeit ausgeschlossen.49 Die Parteien verkehrten mit dem Gericht ausschließlich durch Schriftsätze, die sie beim Registrator einzureichen hatten. Dadurch wollten die Gründer des Gerichts überflüssige und prozessverzögernde Vorträge der Parteien und ihrer Prozessvertreter vermeiden, 50 die am Reichskammergericht während der drei Jahrhunderte seines

■ setzte Kommission erbat sich daraufhin zusätzlich die sächsische, brandenburgische und bayerische Appellationsgerichtsordnung. Sie konnte allerdings nur die sächsische erhalten, da, wie ein Reskript vom 17. Juni 1707 mitteilte, „die Bayersche OAGOrdnung nicht zu erhalten gewesen, die Brandenburgische aber noch nicht verfasset sey.“ Zitiert nach von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 5f. Vgl. Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 129. Spangenberg, Das Oberappellationsgericht in Celle (wie Anm. 13), S. 3f. 43 Vgl. Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 132. 44 Vermutlich handelte es sich um die sächsische Gerichtsordnung von 1622. Vgl. Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 128ff. 45 Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 161. 46 Vgl. beispielhaft aus der aktuellen Rechtsprechung zu rechtsstaatswidriger überlanger Verfahrensdauer EGMR EuGRZ 2007, 420; BVerfG DVBl 2009, 1164. 47 Vgl. Ahrens, Prozeßreform und einheitlicher Zivilprozeß (wie Anm. 41), S. 15ff. Wilhelm Endemann, Das deutsche Zivilprozessrecht, Neudruck der Ausgabe Heidelberg 1868, Aalen 1969, S. 358. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 6), S. 184. 48 Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. II (wie Anm. 6), S. 457. Bettina Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555, Köln/Wien 1981 (QFHG 10), S. 119ff., 123. Gunter Wesener, Art. Prozeßmaximen, in: HRG IV, 1. Aufl. 1985, Sp. 57f. Instruktiv zu den nicht unerheblichen mündlichen Elementen im reichskammergerichtlichen Verfahren Bernhard Diestelkamp, Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß, in: Peter Oestmann (Hg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit. Forschungen zum vormodernen Zivilprozeß, Köln/Weimar/Wien 2009 (QFHG 56), S. 105ff. 49 Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 158. 50 Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 161.

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Bestehens ein ständiges Problem waren.51 Mündliche Termine gab es nur bei Vergleichsversuchen52, zur Abnahme von Eiden53 und beim Urkundenbeweis54, und auch diese Termine fanden regelmäßig nicht vor dem Richterplenum statt, sondern wurden allein vom Referenten oder von einer auswärtigen Kommission durchgeführt.55 Diese strenge Schriftlichkeit folgte dem am Reichshofrat gebräuchlichen Verfahren, an dem es schon seit der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts keine Audienzen mehr gegeben hatte.56 Durch den fast völligen Ausschluss der Mündlichkeit fehlte am Oberappellationsgericht die Möglichkeit symbolischer Kommunikation mit den Parteien in den Audienzen, die am Reichskammergericht ein wichtiges Element medialer Inszenierung von Gerichtsbarkeit war.57 Die Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichts wurde in den Audienzen für die Öffentlichkeit unmittelbar wahrnehmbar. Einen solchen unmittelbaren Kontakt gab es in Celle nur sehr eingeschränkt. Nur bei der vierteljährlich stattfindenden Verkündung der Urteile trat das Gericht der Bevölkerung gegenüber. Sämtliche Prokuratoren mussten der Verkündung beiwohnen, „und nachdem sie, und zwar der CammerAnwald voran, die übrigen Procuratoren aber nach der Ordnung des Alters ihrer Dienstzeit, hinter die in dem großen Rathszimmer befindlichen Schranken getreten sind, verrichtet der Protonotarius, in der vollen Rathsversammlung und bey offenen Thüren, die Publication der Sentenzen, durch die Verlesung derselben aus dem Urthelsbuche.“ So schildert der Celler Richter von Bülow 1804 die Urteilsverkündungen, und er fügt hinzu, dass neben den Prokuratoren und den Parteien „andere Personen, in so weit es der Raum gestattet, zugelassen [werden], um der Publication beyzuwohnen.“58 Trotz der fehlenden Audienzen war sich das Celler Gericht somit der Bedeutung medialer Inszenierung gegenüber der Öffentlichkeit für die Legitimation der Rechtsprechung bewusst. Dies galt allerdings nur für förmliche Urteile. Andere gericht-

■ Das Reichskammergericht hat immer wieder durch Gemeine Bescheide versucht, solcher Verzögerungen Herr zu werden. Diestelkamp, Beobachtungen zur Schriftlichkeit im Kameralprozeß (wie Anm. 48), S. 107ff. 52 Th. II Tit. 3 § 21 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 83. 53 Th. II Tit. 8 Sec. III §§ 1–6 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 122–124. 54 Th. II Tit. 8 Sec. II § 4 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 117. 55 Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 198ff. 56 Peter Jessen, Die Gründung des Oberappellationsgerichts und sein Wirken in der ersten Zeit, in: Harald Franzki (Hg.), Festschrift zum 275jährigen Bestehen des Oberlandesgerichts Celle, Celle 1986, S. 46f. Zur strengen Schriftlichkeit am Reichshofrat Tit. III §§ 1–4, 16, 22–24 RHRO 1654 = Sellert, Ordnungen (wie Anm. 31), S. 131–135, 145f., 152–154. Ders., Prozeßgrundsätze (wie Anm. 31), S. 132ff., 135. 57 Vgl. den Beitrag von Maria von Loewenich in diesem Bande sowie die bildlichen Darstellungen der Reichskammergerichtsaudienzen bei Jost Hausmann (Hg.), Fern vom Kaiser. Städte und Stätten des Reichskammergerichts, Köln/Weimar/Wien 1995, S. 79ff. 58 Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 300f., mit Note 62. 51

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liche Entscheidungen wie insbesondere Beschlüsse (decreta) wurden nur den Parteien mitgeteilt und waren für die Öffentlichkeit nicht wahrnehmbar. Das Verfahren war in seinen wesentlichen Zügen in der Oberappellationsgerichtsordnung geregelt. Deren Vorschriften waren aber nicht immer abschließend und ließen Detailfragen oftmals unbeantwortet. Für Fälle, „darüber von Uns in dieser Ordnung nichts verordnet“, gebot sie, „daß nach gemeinen beschriebenen Käyserlichen Rechten, wie auch des heiligen Reichs-Satzungen […] procediret und erkant […] werden solle.“ 59 Sie verwies aber nicht ausdrücklich auf das Verfahren des Reichskammergerichts oder des Reichshofrats. Daher blieben dem Gericht in verfahrensrechtlichen Fragen erhebliche Freiheiten, zumal das frühneuzeitliche Prozessrecht nicht von einer so strengen Bindung an das positive Gesetz ausging, wie dies in der heutigen Rechtspraxis selbstverständlich ist. Schließlich konnte das Gericht das Prozessrecht ebenso wie das materielle Recht auslegen, ohne an die authentische Interpretation des Gesetzgebers im Wege eines référé législatif gebunden zu sein.60 Diese Freiräume füllte das Gericht durch seinen Gerichtsgebrauch (stilus curiae) sowie durch den Erlass Gemeiner Bescheide aus. Die Gemeinen Bescheide waren gerichtliche Anordnungen in Verfahrensfragen, deren Beantwortung sich nicht ohne weiteres aus der Oberappellationsgerichtsordnung ergab oder die in der Praxis zu Problemen führten. Dem geltenden Recht durften sie nicht widersprechen. 61 Sie besaßen Gesetzeskraft, solange nicht eine abweichende gesetzliche Regelung getroffen wurde.62 Die Befugnis des Gerichts zum Erlass solcher Gemeinen Bescheide war nicht ausdrücklich geregelt. Sie ergab sich aber aus „der Natur der Sache und der Analogie anderer Gerichtshöfe“63 und folgte vor allem der Praxis des Reichskammergerichts 64 . Das Oberappellationsgericht hat von dieser Möglichkeit um-

■ 59 Th. II Tit. 19 § 2 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 171. Vgl. Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 168. Matthias Miersch, Der sogenannte référé législatif. Eine Untersuchung zum Verhältnis Gesetzgeber, Gesetz und Richteramt seit dem 18. Jahrhundert, Baden-Baden 2000 (Fundamenta Juridica, Beiträge zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 36), S. 108. 60 Miersch, Der sogenannte référé législatif (wie Anm. 59), S. 108. 61 Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 393. 62 Helmut Coing, Zur Geschichte des Oberlandesgerichts in Celle, Celle 1951, S. 8. Werner Kirchner, Generell bindende Gerichtsentscheidungen im reichsdeutschen und österreichischen Recht, Leipzig 1932 (Untersuchungen zur deutsch-österreichischen Rechtsangleichung 8), S. 14. Georg Wilhelm Stock, De iure et officio summorum imperii tribunalium circa interpretationem legum imperii, in: Johann Stephan Pütter, Opuscula rem iudiciariam imperii illustrantia, Frankfurt am Main/Leipzig 1768, S. 213. 63 Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 392. Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 157f. Spangenberg, Das Oberappellationsgericht in Celle (wie Anm. 13), S. 26. 64 Th. II Tit. 36 RKGO 1555 = Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (wie Anm. 16), S. 217. Vgl. auch § 14 Visitationsabschied von 1713 = Sammlung der ReichsAbschiede IV (wie Anm. 4), S. 264. Bernhard Diestelkamp, Die Gemeinen Bescheide des

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fangreichen Gebrauch gemacht und allein bis zum Jahre 1803 71 Gemeine Bescheide erlassen.65 Eine inhaltliche Untersuchung der Gemeinen Bescheide steht bislang noch aus. Anders als am Reichskammergericht67 waren die Gemeinen Bescheide in Celle auf Fragen des Prozessrechts beschränkt. Meistens bekräftigten sie die Regelungen der Gerichtsordnung und ermahnten die Parteien sowie Advokaten und Prokuratoren zu deren gewissenhafter Befolgung.68 So kann ihnen wohl kaum die gleiche Bedeutung beigemessen werden wie den Gemeinen Bescheiden des Reichskammergerichts, die wesentlich zur Entwicklung des Kameralprozesses beigetragen haben.69 3.2. Die Entscheidung von Rechtssachen im Extrajudizialverfahren■Stellvertretend für den Gerichtsgebrauch soll hier die Entscheidung von Rechtsfällen im Extrajudizialverfahren näher dargestellt werden. Dafür ist kurz auf den grundsätzlichen Ablauf eines Appellationsprozesses einzugehen. Das Verfahren des Gemeinen Zivilprozesses war in ein Extrajudizial- und ein Judizialverfahren unterteilt. Jenes begann mit der Einführung des Rechtsmittels. In ihm prüfte das Gericht, ob die Sache anzunehmen oder wegen Unzulässigkeit oder offenbarer Unbegründetheit sogleich ohne weiteres Verfahren „abzuschlagen“ war.70 Hierüber entschied es in der Regel, ohne zuvor die Akten der Vor-

■ Reichskammergerichts, in: Ders./Hans-Heinrich Vogel/Nils Jörn/Per Nilsén/Christian Häthén (Hg.), Liber amicorum Kjell Å Modéer, Lund 2007, S. 143ff. Carl Friedrich Gerstlacher, Corpus iuris Germanici publici et privati. Abhandlung von den Gesetzen, Ordnungen, Friedensschlüssen, und anderen Hauptnormalien des teutschen Reichs, Vierter Band, Stuttgart 1789, S. 184ff. Ulrike Müßig, Geschichte des Richterrechts und der Präjudizienbindung auf dem europäischen Kontinent, ZNR 28 (2006), 83. 65 Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 393, Note 2. Die bis 1819 erlassenen Gemeinen Bescheide sind abgedruckt bei Hagemann, Die Ordnung des Königlichen Ober-Appellations-Gerichts zu Celle (wie Anm. 17), S. 229ff. 67 Die Kompetenz des Reichskammergerichts, Fragen des materiellen Rechts durch Mehrheitsbeschluß des Plenums allgemeinverbindlich zu entscheiden, wurde auf § 77 Reichsabschied von 1570 = Sammlung der Reichs-Abschiede IV (wie Anm. 4), S. 297 gestützt. Die Terminologie ist uneinheitlich; teilweise wird auch hier von Gemeinen Bescheiden (decreta communia), teilweise von senatus consulta oder praeiudicia cameralia gesprochen. Müßig, Geschichte des Richterrechts (wie Anm. 64), 83f. Dies., Höchstgerichtsbarkeit als Motor des frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses: Frankreich und das Heilige Römische Reich im Vergleich, in: Tiziana J. Chiusi/Thomas Gergen/Heike Jung (Hg.), Das Recht und seine historischen Grundlagen. Festschrift für Elmar Wadle zum 70. Geburtstag, Berlin 2008, S. 721ff. 68 Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 125. Vgl. Miersch, Der sogenannte référé législatif (wie Anm. 59), S. 108f. 69 Bernd Schildt, Reichskammergericht – Geschichte, Verfassung und Überlieferung, Jura 2006, 498. Rechtstheoretisch beruhten die Gemeinen Bescheide des Reichskammergerichts auf dem Gleichheitsgrundsatz, denn in gleich gelagerten Fällen durften die gerichtlichen Entscheidungen nicht unterschiedlich ausfallen. Müßig, Höchstgerichtsbarkeit als Motor des frühneuzeitlichen Staatsbildungsprozesses (wie Anm. 67), S. 724. 70 Th. II Tit. 3 §§ 2, 3 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 77. Vgl. Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 28), S. 98. Christian Jacob von Zwierlein, Vermehrte Beiträge zu Verbesserung des Justizwesens am Cammergericht, Erster Theil, Frankfurt am Main/Leipzig 1768, S. 113f.

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instanz eingesehen zu haben. In diesem Verfahrensstadium wurde die Gegenseite noch nicht angehört und erfuhr oftmals nicht einmal von der Anrufung der höheren Instanz.71 Erst wenn das Gericht den Eintritt in das Judizialverfahren beschloss,72 sprach es die Ladung der Gegenseite aus und forderte die Akten der Vorinstanz ein. Nun folgte der Austausch umfangreicher Schriftsätze, falls erforderlich eine Beweisaufnahme und schließlich die Urteilsfindung durch das Gericht. Eine umfassende Untersuchung des Verfahrensablaufs wird dadurch ermöglicht, dass das Oberappellationsgericht, anders als das Reichskammergericht,73 mit der Aktenführung nicht erst beim Eintritt in das Judizialverfahren begann, sondern bereits mit dem Eingang einer Sache in der Kanzlei.74 Daher sind auch die schriftlichen Vorgänge im Extrajudizialverfahren praktisch lückenlos dokumentiert. Nach der Oberappellationsgerichtsordnung konnte eine Sache nur bei Unzulässigkeit oder offenbarer Unbegründetheit bereits im Extrajudizialverfahren abgeschlossen werden. So wurde ein Rechtsmittel bei Verstößen gegen Fristen und Formalien als desert verworfen (decretum desertorium). 75 War es in der Sache offensichtlich aussichtslos, so wurde es durch ein – seit 1733 zu begründendes76 – decretum reiectorium abgeschlagen.77 Als Regelfall sah die Gerichts-

■ 71 Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 28), S. 103. Von Zwierlein, Vermehrte Beiträge (wie Anm. 70), S. 114. 72 Th. II Tit. 3 § 4 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 77f. 73 Peter Oestmann, Die Rekonstruktion der reichskammergerichtlichen Rechtsprechung des 16. und 17. Jahrhunderts als methodisches Problem, in: ders., Aus den Akten des Reichskammergerichts. Prozeßrechtliche Probleme im Alten Reich, Hamburg 2004 (Rechtsgeschichtliche Studien 6), S. 368f. Ranieri, Recht und Gesellschaft (wie Anm. 7), S. 77. Vgl. zur Aktenführung des Reichskammergerichts Anette Baumann, Die quantifizierende Methode und die Reichskammergerichtsakten, in: Baumann/Westphal/Wendehorst/Ehrenpreis (Hg.), Prozessakten als Quelle (wie Anm. 2), S. 58f. 74 Diesen Grundsatz lückenloser Aktenführung schon im Extrajudizialverfahren teilte das Celler Gericht mit dem Wismarer Tribunal. Hans-Konrad Stein, Bericht über den Tribunalsbestand im Stadtarchiv Wismar und Vorschläge zur Verzeichnung der Tribunalsakten, in: Nils Jörn/Bernhard Diestelkamp/Kjell Åke Modéer (Hg.), Integration durch Recht. Das Wismarer Tribunal (1653–1806), Köln/Weimar/Wien 2003 (QFHG 47), S. 369. 75 Th. II Tit. 2 §§ 9, 10, Tit. 3 § 2 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 75, 77. Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 70f., 79. Georg Heinrich Oesterley, Handbuch des bürgerlichen und peinlichen Processes für das Königreich Hannover, Zweyter Theil: Bürgerlicher Proceß, Zweyte Abtheilung, Göttingen 1819, S. 355. Vgl. zum Reichskammergericht Dick, Die Entwicklung des Kameralprozesses (wie Anm. 48), S. 207. Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 28), S. 158. Zum Wismarer Tribunal Th. II Tit. 2 § 6 WTO 1657 = GerichtsOrdnungen (wie Anm. 20), S. 57. 76 § 4 des Reglements wegen verbesserter Einrichtung des Ober-Appellations-Gerichts vom 31. März 1733 = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 182. Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 179. Vgl. zur Begründung gerichtlicher Erkenntnisse in der frühen Neuzeit Heinrich Gehrke, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands. Charakteristik und Bibliographie der Rechtsprechungsund Konsiliensammlungen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am

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ordnung dagegen den förmlichen Prozess des Judizialverfahrens vor. Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis stimmte aber jedenfalls in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts nicht mehr mit der Gerichtspraxis überein. Die Untersuchung der im Landesarchiv Schleswig erhaltenen Prozessakten des Gerichts aus dem Herzogtum Lauenburg78 hat gezeigt, dass mehr als jede zweite Sache (59,1 % von 443 untersuchten Verfahren) durch decretum reiectorium entschieden wurde. Rechnet man die für desert erklärten Fälle hinzu, endeten zwei Drittel der an das Gericht herangetragenen Rechtssachen mit einem Misserfolg des Rechtsmittelführers schon im Extrajudizialverfahren. Diese Verfahrensweise betraf aber nur unbegründete Sachen. Für den Fall offensichtlicher Begründetheit stand eine entsprechende Verfahrensmodalität zunächst nicht zur Verfügung. Der Gerichtsgebrauch entwickelte aber auch hier eine Verfahrensweise, die das umständliche Judizialverfahren weitgehend entbehrlich machte. Kam das Gericht nämlich bereits im Extrajudizialverfahren zu dem Ergebnis, dass dem Rechtsmittel abzuhelfen sei, so erließ es ein sogenanntes rescriptum de emendando. 79 Damit hob es die angegriffene Entscheidung auf, verwies die Sache an den Vorderrichter zurück und gab ihm zugleich Anweisungen für das weitere Verfahren. Diese Entscheidung erging meist nur auf der Grundlage der Appellationsbegründung, denn die Akten der Vorinstanz forderte das Gericht im Extrajudizialverfahren in der Regel noch

■ Main 1974 (Ius Commune Sonderhefte, Texte und Monographien 3). Ders., in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Zweiter Band, Neuere Zeit (1500–1800). Das Zeitalter des Gemeinen Rechts, Zweiter Teilband: Gesetzgebung und Rechtsprechung, München 1976, S. 1347ff. Stephan Hocks, Gerichtsgeheimnis und Begründungszwang. Zur Publizität der Entscheidungsgründe im Ancien Régime und im frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2002 (Rechtsprechung. Materialien und Studien 17), S. 16ff. 77 Th. II Tit. 3 § 3 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 77. Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 178. Vgl. zur Parallele im reichskammergerichtlichen Verfahren Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 28), S. 184f. Eine entsprechende Regelung galt auch am Wismarer Tribunal, Th. II Tit. 3 § 3 WTO 1657 = Gerichts-Ordnungen (wie Anm. 20), S. 58. Vgl. allgemein Sylvester Jordan, Art. Appellation, in: Julius Weiske (Hg.), Rechtslexikon für Juristen aller teutschen Staaten enthaltend die gesammte Rechtswissenschaft, Bd. I, Leipzig 1839, S. 399. 78 Der größte Teil der Prozeßakten des Oberappellationsgerichts war im Hauptstaatsarchiv Hannover archiviert und ist dort am 8./9. Oktober 1943 einem Luftangriff zum Opfer gefallen. Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 20 (1947), 195f. Nur die Akten aus dem Herzogtum Lauenburg, für das das Gericht von 1747 bis 1816 zuständig war, wurden stets gesondert registriert und sind im Bestand Abt. 216 des Landesarchivs Schleswig nahezu vollständig erhalten. Vgl. zur Überlieferungsgeschichte dieses Bestandes Wolfgang Prange, Findbuch der Bestände Abt. 216 und Abt. 217, Lauenburgische Gerichte, Schleswig 1992 (Veröffentlichungen des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs 29), S. 6. 79 Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 181ff. Oesterley, Handbuch des bürgerlichen und peinlichen Processes (wie Anm. 75), S. 352.

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nicht ein. 80 Bemerkenswert ist ferner, dass die Gegenpartei vor dem Erlass eines solchen Reskripts keine Gelegenheit zur Stellungnahme hatte. Dem Anspruch auf rechtliches Gehör wurde nur dadurch Genüge getan, dass der Rechtsmittelgegner seine Einwendungen gegen das für ihn ungünstige Reskript dem Oberappellationsgericht nachträglich im Rechtsbehelfswege mitteilen konnte.81 Diese Verfahrensweise war in den Prozessakten des Zeitraums 1747–1766 nur vereinzelt zu beobachten. In den folgenden Jahrzehnten erlangte sie hingegen erhebliche Bedeutung. Insgesamt entschied das Gericht ein Sechstel der untersuchten Fälle durch rescriptum de emendando. Die vorinstanzlichen Gerichte befolgten diese Reskripte stets. Den förmlichen Plenarprozess des Judizialverfahrens, den die Oberappellationsgerichtsordnung als Regelfall vorsah, ließ das Gericht dagegen nur noch selten durchführen. Zweck und Folge dieser Entwicklung des Gerichtsgebrauchs war die Verfahrensbeschleunigung. Während der sehr umständliche förmliche Prozess durchschnittlich etwa zehn Jahre in Anspruch nahm, benötigte das Gericht im Extrajudizialverfahren in der Mehrzahl der Fälle weniger als ein halbes Jahr für eine Sachentscheidung.82 Damit konnte es die Effektivität und Autorität seiner Rechtsprechung erheblich erhöhen. Die Entscheidung durch Reskript an den Vorderrichter war im gemeinen Zivilprozess zumindest seit der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts üblich.83 Vorbild für diese Entwicklung waren die Ordinationen84 des Wetzla-

■ 80 22. Gemeiner Bescheid vom 10. Juni 1717 = Hagemann, Die Ordnungen des Königlichen Ober-Appellations-Gerichts zu Celle (wie Anm. 17), S. 240f. Oesterley, Handbuch des bürgerlichen und peinlichen Processes (wie Anm. 75), S. 331. 81 Dieser Rechtsbehelf mit Suspensiv-, aber ohne Devolutiveffekt wurde als emendatio libelli oder elisio rationum decidendi bezeichnet. Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 212 ff. Friedrich von Bülow/Theodor Hagemann, Practische Erörterungen aus allen Theilen der Rechtsgelehrsamkeit, hin und wieder mit UrtheilsSprüchen des Zelleschen Tribunals und der übrigen Justizhöfe bestärkt, Bd. VI, Hannover 1818, S. 254. 82 Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 5), S. 193ff.; siehe auch ders., Gericht und Gesellschaft. Die Rechtsprechung des Oberappellationsgerichts im 18. Jahrhundert, in: Peter Götz von Olenhusen (Hg.), 300 Jahre Oberlandesgericht Celle. Festschrift zum 300jährigen Jubiläum am 14. Oktober 2011, Göttingen 2011, S. 74f. 83 Ludwig Harscher von Almendingen, Metaphysik des Civil-Processes oder Darstellung der obersten Grundsätze des gerichtlichen Verfahrens in den bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten. Ein Handbuch für gebildete Geschäftsmänner, Gießen 1821, S. 189ff. Friedrich Christian Bergmann, Grundriß einer Theorie des deutschen Civilprocesses, Nachdruck der Ausgabe Göttingen 1827, Aalen 1973, S. 286. Justus Claproth, Einleitung in den ordentlichen bürgerlichen Proceß. Zum Gebrauch der practischen Vorlesungen, Zweiter Theil, hg. von Friedrich Christoph Willich, 4. Aufl., Göttingen 1817, S. 676. Endemann, Das deutsche Zivilprozessrecht (wie Anm. 47), S. 925. Nikolaus Thaddäus Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses in einer ausführlichen Erörterung seiner wichtigsten Gegenstände, Dritter Bd., Erlangen 1802, S. 426. Jordan, Art. Appellation (wie Anm. 77), S. 399. Ernst Peter Johann Spangenberg, Art. Appellation, in: Johann Samuel Ersch/Johann

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rer Verfahrens. Sie wiederum hatten sich vermutlich aus dem reichshofrätlichen Reskriptsprozess entwickelt.85 Im Einzelnen sind diese Zusammenhänge und Entwicklungen bislang nur unzureichend erforscht. Wie das Reskript des Celler Gerichtsgebrauchs waren die reichskammergerichtlichen Ordinationen gerichtliche Entscheidungen im Extrajudizialverfahren, wichen aber vom Celler Verfahren in Einzelheiten teilweise ab. So war die offensichtliche Begründetheit eines Rechtsmittels nur einer ihrer Anwendungsfälle. 86 Wie die Reskripte des Reichshofrats richteten sie sich auch nicht an das vorinstanzliche Gericht, sondern an den zuvor nicht gehörten Beklagten.87 Darüber hinaus lag der wesentliche Unterschied zum Celler Verfahren darin, dass sie – zumindest in der Regel – weder verbindlich noch sanktionsbewehrt waren. Vielmehr waren sie rechtstechnisch eine Eröffnung des Appellationsprozesses unter der Bedingung, dass die Anordnung an den Beklagten nicht befolgt würde.88 Das Celler Oberappellationsgericht hingegen konnte das vorinstanzliche Gericht durch Verhängung von Geldbußen zur Befolgung seiner Reskripte anhalten.89 Wie dieser Aspekt des Celler Verfahrens zeigt, haben sich die Territorialgerichte auch über die Vorgaben von Gerichtsordnungen hinweg an der Praxis des Reichskammergerichts orientiert. Dabei haben sie dessen Gerichtsgebrauch nicht nur übernommen, sondern dynamisch fortentwickelt und auf die eige-

■ Gottfried Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, Fünfter Theil, Leipzig 1820, S. 3a. 84 Vgl. die Definition der reichskammergerichtlichen Ordinationen bei Franz Anton Dürr, Dissertatio inauguralis de ordinationibus in processu camerae imperialis usitatis, Mainz 1776, S. 2: „Ordinationes esse decreta, quibus Camera Imperialis partibus litigantibus extra ordinam in cujusvis processus genere prospicit.“ Auch Bergmann, Grundriß einer Theorie (wie Anm. 83), S. 286 sowie Andreas Christian Johannes Schmid, Handbuch des gemeinen deutschen Civilprocesses, Dritter Theil, Kiel 1845, Nachdruck 1971, S. 470 betrachten das rescriptum de emendando als mit den Ordinationen wesensgleich. Anders von Almendingen, Metaphysik des Civil-Processes (wie Anm. 83), S. 232: Die Ordinationen des Reichskammergerichts seien aus der Entwicklung der Territorialgerichtsbarkeit hervorgegangen. 85 Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses (wie Anm. 83), S. 422f. Georg Wilhelm Wetzell, System des ordentlichen Zivilprozesses, Neudruck der 3. Aufl. Leipzig 1878, Aalen 1969, S. 760, Note 104. Vgl. Wolfgang Sellert, Pax Europae durch Recht und Verfahren, in: Auer/Ogris/Ortlieb, Höchstgerichte in Europa (wie Anm. 8), S. 111. 86 Dürr, Dissertatio inauguralis (wie Anm. 84), S. 24ff., S. 26: „Quarto etiam pro Causa legitima habendum esse existimo, si per Ordinationem Processus aut omnino tolli, aut saltem abbreviari possit, quorsum & pertinet ista, si Gravamen ita evidens sit, ut Judicii illud brevi manu tollendum esse videatur.“ 87 Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses (wie Anm. 83), S. 433. Sellert, Prozeßgrundsätze (wie Anm. 31), S. 185. 88 Von Almendingen, Metaphysik des Civil-Processes (wie Anm. 83), S. 243f. Mohl, Historisch-politische Vergleichung (wie Anm. 26), S. 237f. Sellert, Prozeßgrundsätze (wie Anm. 31), S. 186, Note 652. Christian Jacob von Zwierlein, Vermehrte Beiträge zu Verbesserung des Justizwesens am Cammergericht, Zweiter Theil, Frankfurt am Main/Leipzig 1769, S. 139 unterscheidet hingegen Ordinationen mit Strafandrohung für den Fall der Nichtbefolgung und Ordinationen ohne solche. 89 Vgl. Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 122.

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nen Bedürfnisse zugeschnitten. Auf diese Weise konnten sie ihr Verfahren erheblich rationalisieren und beschleunigen. Dies stärkte ihre eigene Leistungsfähigkeit und kam letztlich den Rechtsuchenden zugute. 4. Personelle Verbindungslinien■Ein weiteres Medium, durch das die Reichsgerichte in der Territorialjustiz wahrgenommen wurden, waren personelle Verbindungen. So trugen vor allem in der Gründungsphase des Oberappellationsgerichts die Personen, die an seiner Entstehung beteiligt waren, zur Orientierung an den Vorbildern in Wetzlar und Wien bei. Solche personellen Verbindungslinien zwischen den höchsten Reichsgerichten und dem Oberappellationsgericht sind ein Beispiel für die personelle Osmose90 der Juristen im Reich und in den Territorien. Sie haben wesentlich dazu beigetragen, dass die Reichsjustiz und ihre Grundsätze in der Territorialgerichtsbarkeit zur Wirksamkeit kommen konnten. An der Gründung des Oberappellationsgerichts und der Ausarbeitung seiner Gerichtsordnung waren Andreas Gottlieb von Bernstorff (1649–1726), Premierminister des Kurfürsten Georg Ludwig, und Weipart Ludewig Fabricius (1640–1724), Direktor der Celler Justizkanzlei, maßgeblich beteiligt. Der letztgenannte sollte der erste Präsident des Gerichts werden. Beide waren dafür prädestiniert, Elemente der Reichsjustiz in den Gründungsprozess einfließen zu lassen: Von Bernstorff hatte nach seinem Studium in Helmstedt bei seinem Vetter, dem Reichskammergerichtsassessor Joachim Andreas von Bernstorff,91 in Speyer praktiziert, wo das Reichskammergericht im siebzehnten Jahrhundert ansässig war. Wie er später in seiner Autobiographie äußerte, hatte er dabei die Absicht, „den modum procedendi bei solchem iudicio etwas mihr bekandt zu machen.“92 Daher war er mit Gerichtsverfassung und Verfahrenspraxis des Reichskammergerichts vertraut.93 So beruht beispielsweise die Regelung der Prüfung der Kandidaten durch das Gericht, die dem reichskammergerichtlichen Vorbild entsprach, auf von Bernstorffs Einfluss.94 Fabricius hatte zunächst in Gießen studiert und dort das Lizentiatenexamen abgelegt. Von 1666 bis 1668 hatte er sodann als Agent am Reichshofrat in Wien gewirkt,

■ Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 6), S. 231ff. 91 Joachim Andreas von Bernstorff (1629–1710) war 1663 vom Obersächsischen Reichskreis, und zwar vom Reichsstand Sachsen-Altenburg-Coburg, präsentiert worden und gehörte dem Reichskammergericht von 1664 bis zu seinem Tode 1710 als Assessor an. Vgl. Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter II/2 (wie Anm. 32), S. 380f. 92 Adolf Köcher, Die Selbstbiographie des Ministers Andreas Gottlieb von Bernstorff, in: 2. Jahresbericht des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums zu Hannover, Hannover 1877, S. 5. 93 Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 127f. Ders., Die Gründung des Oberappellationsgerichts (wie Anm. 56), S. 35. Hermann Kellenbenz, Art. Andreas Gottlieb v. Bernstorff, in: NDB II, S. 137f. Joachim Lampe, Aristokratie, Hofadel und Staatspatriziat in Kurhannover, Bd. II, Göttingen 1963, S. 21. 94 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 156, Note 13. 90

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an dem auch sein Schwager Schütz tätig war.95 Im Übrigen war von Bernstorff mit einer Tochter dieses Reichshofrates Schütz verheiratet und hatte daher ebenfalls Beziehungen nach Wien. 96 Auf Grund dieser Verbindungen ist es nicht erstaunlich, dass das Celler Gericht nicht nur weitgehend der Gerichtsverfassung und dem Verfahren des Reichskammergerichts folgte, sondern auch Elemente des reichshofrätlichen Verfahrens wie insbesondere das strenge Schriftlichkeitsprinzip übernahm. Der zweite Präsident des Oberappellationsgerichts Rudolph Johann von Wrisberg, vor 1711 Hofrat in Hannover, war als kurbraunschweig-lüneburgisches Mitglied der Visitationskommission an der außerordentlichen Reichskammergerichtsvisitation 1707–1713 beteiligt.97 Gleichwohl wurde er bereits 1710 zum Oberappellationsgerichtsrat ernannt und war damit noch vor dessen Gründung das erste Mitglied des Celler Gerichts.98 Die Oberappellationsgerichtsordnung folgte dem Vorbild der Reichskammergerichtsordnung,99 indem sie Vorschriften über regelmäßige Visitationen 100 enthielt, die allerdings in der

■ Rudolf Grieser, Art. Weipart Ludwig v. Fabrice, in: NDB IV, S. 731. Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 127. Ders., Die Gründung des Oberappellationsgerichts (wie Anm. 56), S. 35. Lampe, Aristokratie, Hofadel und Staatspatriziat (wie Anm. 93), S. 29. Friedrich Samuel Ernst Vogell, Geheimer-Rath und erster Oberappellations-Gerichts-Präsident Weipart Ludewig von Fabrice in Zelle, Neues vaterländisches Archiv 4 (1823), S. 216ff. 96 Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 128; Kellenbenz, Art. Andreas Gottlieb v. Bernstorff, in: NDB II, S. 137f. 97 Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 218. 98 Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 467. 99 Th. I Tit. 50 § 1 RKGO 1555 = Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (wie Anm. 16), S. 146. Vgl. Wolfgang Sellert, Das Verhältnis von Reichskammergerichts- und Reichshofratsordnungen am Beispiel der Regelungen über die Visitation, in: Diestelkamp, Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte (wie Anm. 11), S. 111ff. Allgemein zu den Visitationen des Reichskammergerichts Klaus Mencke, Die Visitationen am Reichskammergericht im 16. Jahrhundert, zugleich ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Rechtsmittels der Revision, Köln/Wien 1984 (QFHG 13). Bereits der Jüngste Reichsabschied ordnete die Wiederaufnahme der 1588 zum Erliegen gekommenen Visitationen an und dürfte daher ein Signal für die Territorien gewesen sein, ihre eigenen Gerichte ebenfalls visitieren zu lassen. Vgl. § 128 JRA 1654 = Laufs, Der jüngste Reichsabschied von 1654 (wie Anm. 4), S. 63. Die Wirksamkeit dieses Signals wird am Wismarer Tribunal sichtbar, dessen drei Jahre nach dem Jüngsten Reichsabschied in Kraft getretene Gerichtsordnung regelmäßige Visitationen anordnete: Th. III Tit. 10 §§ 2, 3 WTO 1657 = Gerichts-Ordnungen (wie Anm. 20), S. 130. Nils Jörn, Gerichtstätigkeit, personelle Strukturen und politisch relevante Rechtsprechung am Wismarer Tribunal 1653–1815, in: Baumann/Westphal/Wendehorst/Ehrenpreis (Hg.), Prozessakten als Quelle (wie Anm. 2), S. 237. Modéer, Gerichtsbarkeiten (wie Anm. 37), S. 370. Patrick Reslow, Die Visitation des Tribunals, in: Jörn/Diestelkamp/Modéer (Hg.), Intregration durch Recht (wie Anm. 74), S. 239ff. 100 Th. II Tit. 18 § 1 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 168ff. Vgl. Oesterley, Handbuch des bürgerlichen und peinlichen Processes (wie Anm. 75), S. 160. 95

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Rechtswirklichkeit nie stattgefunden haben.101 Nach Angaben des Celler Richters von Bülow gehen diese Vorschriften auf von Bernstorff zurück.102 Gleichwohl ist es aber naheliegend, dass die seit 1707, also in der Gründungsphase des Celler Gerichts, währende Reichskammergerichtsvisitation im allgemeinen und die Beteiligung von Wrisbergs an ihr im besonderen die Gründer des Gerichts dazu bewogen hat, in der Oberappellationsgerichtsordnung regelmäßige Visitationen anzuordnen. Die genannten beiden ersten Präsidenten des Gerichts, Fabricius und von Wrisberg, waren für dessen Entwicklung auch insofern von Bedeutung, als sie dem Gericht insgesamt mehr als fünfzig Jahre vorstanden, Fabricius von 1711 bis 1724 und von Wrisberg von 1724 bis 1764.103 Damit waren ein halbes Jahrhundert lang an der Spitze des Oberappellationsgerichts zwei Personen, die mit der Praxis der Reichsgerichte vertraut waren, Garanten für eine an ihr ausgerichtete Rechtsprechung und deren Kontinuität. Einige weitere Richter hatten die Praxis des Reichkammergerichts durch eine Praktikantenzeit in Wetzlar kennengelernt. Allerdings ist dies für nicht mehr als fünf Celler Richter der Zeit vor 1806 nachweisbar.104 Auch lassen sich keine konkreten Auswirkungen der Reichskammergerichtspraktika auf die Celler Rechtsprechung feststellen. Gleichwohl zeigt das Praktikantenwesen, wie stark die Territorialgerichtsbarkeit mit der Reichsjustiz verbunden war. Auf diese Weise betätigte sich das Reichskammergericht in der Juristenausbildung. Der Wechsel der Juristen und ehemaligen Praktikanten zwischen Reich und Territorien hatte schon in den Jahrhunderten zuvor eine homogene Schicht führender Juristen hervorgebracht, durch deren Wirken das Reichsrecht und die reichskammergerichtliche Praxis Eingang in die Territorialgerichtsbarkeit fanden.105 Diese Verbindungslinien trugen maßgeblich zur engen Orientierung territorialer Gerichte am Verfahren der Reichsgerichte bei. Dass trotz dieser Bedeutung der Reichskammergerichtspraktika nur relativ wenige Celler Richter des achtzehnten Jahrhunderts in Wetzlar praktiziert haben, mag auch auf die verdrängende Kraft zurückzuführen sein, die von der praktischen Ausrichtung der Juristenausbildung in Göttingen vor allem bei Pütter ausging. Pütter hielt über vier Jahrzehnte lang Übungsveranstaltungen für die juristische Pra-

■ 101 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 328. Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 115. 102 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 10. 103 Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 463. 104 Vgl. eingehend Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 216 ff. mit Hinweisen auf die im Einzelnen bestehenden Unsicherheiten. 105 Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts (wie Anm. 6), S. 236.

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xis ab. Diese „Practica“ waren an der Praxis des Reichskammergerichts ausgerichtet und erfreuten sich großer Beliebtheit.106 Mit Günther von Bünau setzte ein Richter des Oberappellationsgerichts seine Laufbahn in Wetzlar fort. Er war von 1741 bis 1752 Oberappellationsrat in Celle und wechselte anschließend als Reichskammergerichtsassessor nach Wetzlar. 107 Mehrere Wetzlarer Assessoren hatten vor ihrer Präsentation der Justizkanzlei und dem Hofgericht in Celle angehört.108 Weiterhin waren die Söhne zweier Richter des Oberappellationsgerichts Assessoren in Wetzlar,109 und der Celler Oberappellationsrat Anton von Ulmenstein entstammte einer Familie, die über mehrere Generationen hinweg dem Reichskammergericht verbunden war. 110 Insofern gingen die Beziehungen zwischen dem Reichskammergericht und der Celler Juristenschaft über die Richter des Oberappellationsgerichts hinaus. Beziehungen zum Reichshofrat hingegen hatte außer Fabricius keiner der Celler Richter. Hierfür mögen neben der geographischen Entfernung zwischen Celle und Wien auch konfessionelle Gesichtspunkte eine Rolle gespielt haben.111

■ 106 Vgl. Arno Buschmann, Estor, Pütter, Hugo – Zur Vorgeschichte der Historischen Rechtsschule, in: Thomas Gergen (Hg.), Vielfalt und Einheit in der Rechtsgeschichte. Festgabe für Elmar Wadle zum 65. Geburtstag, Köln/Berlin/München 2004, S. 89. Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, Göttingen 1975, S. 37, 54. Vgl. auch die eigene Schilderung Pütters, ebd., S. 188. Gerd Kleinheyer/Jan Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten. Eine biographische Einführung in die Geschichte der Rechtswissenschaft, 3. Aufl., Heidelberg 1989, S. 220. Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1979 (Ius Commune Sonderhefte, Texte und Monographien 11), S. 193f. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Bd., Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800, München 1988, S. 315. 107 Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 469. Ausführliche Biographie bei Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter II/1 (wie Anm. 32), S. 425ff. 108 Dabei handelte es sich um S. E. von Oppel (RKG-Assessor 1719–1736; Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter II/1 (wie Anm. 32), S. 423), O. H. von Gemmingen (1727–1790, RKG-Assessor 1758–1765; ebd., S. 1364ff.), Chr. von Ulmenstein (1738– 1801, RKG-Assessor 1774–1801; ebd., S. 681ff.) und L. G. von Hohnhorst (1772–1836, RKG-Assessor 1802–1806; ebd., S. 458ff.) sowie den 1806 präsentierten, aber infolge der Auflösung des Reichskammergerichts nicht mehr zum Zuge gekommenen G. L. von Avemann (1775–1856; Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter II/2 (wie Anm. 32), S. 1443ff.). 109 F. F. von Bremer (1759–1836, RKG-Assessor 1788–1796; Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter II/1 (wie Anm. 32), S. 442ff.) und F. A. von Wenckstern (1755–1790, RKG-Assessor 1782–1786; ebd., S. 436ff.). 110 Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter II/1 (wie Anm. 32), S. 683. Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 217. 111 Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 214ff. Eine indirekte Verbindung zum Reichshofrat gab es allerdings in der Person Konrad Friedrich Pufendorfs, der 1770 zum Reichshofrat ernannt wurde. Er war ein Sohn Fried-

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Trotz dieser persönlichen Beziehungen einiger Richter kannte deren überwiegende Mehrheit die Reichsgerichte und ihre Praxis nicht aus eigener Anschauung.112 Dieser Umstand spricht aber nicht entscheidend gegen die Bedeutung der Reichsgerichte für die Celler Rechtsprechung. Denn die gelehrten Juristen in Reich und Territorien waren durch die Universitäten am Gemeinen Recht und dem Verfahren des Reichskammergerichts geschult. Zudem förderte die kameralistische Literatur die Wirksamkeit des Reichsrechts in den Territorien. Als 1711, über 200 Jahre nach der Gründung des Reichskammergerichts, das Celler Oberappellationsgericht ins Leben gerufen wurde, hatten die Grundsätze des Reichsrechts über die Universitäten und die kameralistische Literatur als wirkmächtige Medien in der Rechtswissenschaft der Territorien bereits so stark Fuß gefasst, dass es unmittelbarer persönlicher Verbindungslinien zu deren Vermittlung nicht mehr im gleichen Maße bedurfte wie in früheren Jahrhunderten. Als juristisches Zentrum mag das Reichskammergericht dadurch, dass die Orientierung an seiner Praxis selbstverständlich geworden war, letztlich sogar an Bedeutung verloren haben. 5. Berücksichtigung von reichskammergerichtlicher Rechtsprechung und Kameralliteratur am Oberappellationsgericht■Das wichtigste Medium, durch das die moderne Gerichtsbarkeit von der Rechtsgemeinschaft wahrgenommen wird, ist das gedruckte Wort. Vor allem die veröffentlichte Rechtsprechung trägt dazu bei, dass die Tätigkeit eines Gerichts von der Öffentlichkeit wahrgenommen und von anderen Gerichten berücksichtigt wird. Diese mediale Bedeutung gedruckter Urteile war in der Frühen Neuzeit erst im allmählichen Entstehen begriffen. So war eine unmittelbare Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichskammergerichts an territorialen Gerichten allenfalls eingeschränkt möglich. Denn schriftliche Urteilsbegründungen zeichnete das Gericht nur für seinen internen Gebrauch auf.113 Spruchsammlungen mit originalen Entscheidungsgründen gab es daher nicht. Nur in Gestalt privater Rechtsprechungssammlungen wurde die Wetzla-

■ rich Esaias und ein Enkel Esaias Pufendorfs, die beide Richter am Oberappellationsgericht waren. 112 Vgl. Jessen, Der Einfluss von Reichshofrat und Reichskammergericht (wie Anm. 5), S. 214ff. 113 Vgl. Th. I Tit. 28 § 3 RKGO 1555 = Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (wie Anm. 16), S. 116. § 94 des Reichsabschieds von 1566 = Sammlung der ReichsAbschiede III (wie Anm. 4), S. 227. § 157 JRA 1654 = Laufs, Der jüngste Reichsabschied von 1654 (wie Anm. 4), S. 74. Wolfgang Sellert, Zur Geschichte der rationalen Urteilsbegründung gegenüber den Parteien insbesondere am Beispiel des Reichshofrats und des Reichskammergerichts, in: Gerhard Dilcher/Bernhard Diestelkamp (Hg.), Recht, Gericht, Genossenschaft, Policey. Studien zu Grundbegriffen der germanistischen Rechtstheorie. Symposion für Adalbert Erler, Berlin 1986, S. 101ff. Vgl. oben Anm. 76.

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rer Judikatur öffentlich.114 Darüber hinaus kann sie die Territorialjustiz aber mittelbar über wissenschaftliche Werke der zeitgenössischen Literatur beeinflusst haben.115 Dem stand in Celle jedoch zunächst die Oberappellationsgerichtsordnung entgegen: Sie verbot dem Gericht die Verwendung rechtswissenschaftlicher Literatur. Denn sie ging davon aus, deren Berücksichtigung könne dazu führen, dass die Wertungen des Gesetzes übergangen werden könnten und sich akademische Lehrmeinungen als „irrige Principia in die Gerichte einschleichen, und als Praejudicia, ja gleichsahm als ordentliche Rechts-Reguln eingeführet werden“.116 Für diese strenge Ablehnung, die auf von Bernstorff zurückgeht,117 mag vor der Gründung der Göttinger Universität im Jahre 1737 die Sorge eine Rolle gespielt haben, Rechtsgelehrte aus anderen Territorien könnten das einheimische Recht verfälschen. Ob das Gericht indes, wie Lühr meint, tatsächlich in der Anfangszeit die wissenschaftliche Literatur „insgeheim fleißig benutzte, aber in den Urteilen nicht zitierte“118, wird sich kaum mehr nachprüfen lassen. Auch die ab 1747 erhaltenen Prozessakten sind insofern unergiebig. Denn die Relationen der Referenten, die hierüber Aufschluss geben könnten, wurden nicht zu den Akten genommen und sind, soweit ersichtlich, auch nicht anderweitig erhalten.119 Unabhängig davon musste die Rechtswissenschaft des Reiches die Celler Rechtspraxis aber jedenfalls insoweit beeinflussen, als die Richter von ihr an den Universitäten geprägt worden waren. Ab 1737 entwickelten sich zudem intensive Beziehungen zur Göttinger Universität und damit auch zur Rechtswissenschaft. 120 Die genannte Bestimmung der Gerichtsordnung wurde schließlich nicht mehr streng angewandt. Von Bülow, selbst Richter am Oberappellationsgericht, führte im Jahre 1801 aus, dass Meinungen der Rechtswissenschaft Berücksichtigung finden dürften, sofern sie sich „auf deutliche Gesetze, oder auf triftige und klare, aus den Rechten und Gesetzen her-

■ 114 Gehrke, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands (wie Anm. 76), S. 23 ff. Ders., in: Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur (wie Anm. 76), S. 1347ff. 115 Allgemein zur Kameralliteratur Ernst Holthöfer, Die Literatur der Kameraljurisprudenz am Ende des Alten Reichs. Die reichskammergerichtliche Literatur von der Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1806, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht am Ende des Alten Reiches und sein Fortwirken im 19. Jahrhundert (QFHG 41), Köln/ Weimar/Wien 2002, S. 189–215. Peter Oestmann, Kameralliteratur, in: Zeitenblicke 3 (2004), Nr. 3 [13. 12. 2004], URL: http://www.zeitenblicke.de/2004/03/oestmann3/index.html (21. Februar 2010). 116 Th. II Tit. 12 § 12 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 141. Vgl. Miersch, Der sogenannte référé législatif (wie Anm. 59), S. 109f. 117 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 79, Note 9. 118 Lühr, Die ersten zweihundert Jahre (wie Anm. 14), S. 25. 119 Vgl. von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 299, Note 59. 120 Bernhard Heile, Die Zeit von 1733 bis 1866, in: Franzki (Hg.), Festschrift (wie Anm. 56), S. 72f.

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genommene Argumente gründen“.121 Auf diese Weise konnte die kameralistische Literatur mediale Wirkung auf die Celler Rechtsprechung entfalten. Dies setzte freilich voraus, dass diese Medien dem Gericht tatsächlich zur Verfügung standen. Über eine nennenswerte Bibliothek verfügte das Oberappellationsgericht in den ersten Jahrzehnten seines Bestehens indes nicht. Lediglich einige Bücher wurden bereits bei seiner Gründung zum Gebrauch in der alltäglichen Praxis durch einen von der landesherrlichen Kammer gewährten kleineren Geldbetrag angeschafft. In der Folge wurde diese bescheidene122 Bibliothek aus den Gerichtsgebühren und durch gelegentliche Geschenke vermehrt.123 Ihr Bestand, der für die Verwendung kameralistischer Literatur in den ersten Jahrzehnten des Gerichts aussagekräftig sein könnte, ist heute nicht mehr zu ermitteln. Ein nach Angaben Gunkels 1911 noch vorhandenes Verzeichnis 124 konnte in der Bibliothek des Oberlandesgerichts nicht ausfindig gemacht werden.125 Dieser Zustand änderte sich, als der hannoversche Bürgermeister und Konsistorialrat Christian Ulrich Grupen126 (1692–1767) im Jahre 1743 dem Oberappellationsgericht seine umfangreiche Privatbibliothek zuwandte. Das Gericht erweiterte diese Grupensche Stiftungsbibliothek, die bis in unsere Tage besteht,127 nach dem Tode Grupens aus einem ebenfalls zugewandten verzinslich angelegten Kapital.128 Ihr Bestand ist durch einen umfangreichen gedruckten Katalog von 1926129 erschlossen. Für die Zeit ab 1767130 lässt sich daher feststel-

■ Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 79. Ralf Michael Thilo, Die Bibliothek des Oberlandesgerichts Celle/Bibliothek der Grupenschen Stiftung, Köln 1981, S. 48 rechnet mit einem Bestand von zuletzt rund 120 Bänden. 123 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 378f. 124 Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 511. 125 So schon Thilo (wie Anm. 122), S. 48. Vgl. auch Robert Figge, Die Bibliothek des Oberlandesgerichts in Celle, in: Schräder (Hg.), 250 Jahre (wie Anm. 14), S. 219–225. HansJoachim Glaser, Die Bibliothek der Grupenschen Stiftung im Oberlandesgericht, in: Franzki (Hg.), Festschrift (wie Anm. 56), S. 325–334. Ders., Die Bibliotheken des Oberlandesgerichts Celle, in: Wolfgang Dietz/Dietrich Pannier (Hg.), Festschrift für Hildebert Kirchner zum 65. Geburtstag, München 1985, S. 99–107. Paul Raabe (Hg.), Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland, Bd. 2.1: Niedersachsen A–G, Hildesheim 1998, S. 108f., die ein solches Verzeichnis nicht erwähnen. 126 Zu Grupen vgl. Ferdinand Frensdorff, in: ADB X, S. 60–64. Dietrich Hoppenstedt, Christian Ulrich Grupen als Jurist und Rechtshistoriker, Göttingen 1970. Herbert Mundhenke, in: NDB VII, S. 234–235. Oskar Ulrich, Christian Ulrich Grupen, Bürgermeister der Altstadt Hannover 1692–1767. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Städtewesens im 18. Jahrhundert, Hannover 1913. 127 Raabe, Handbuch der historischen Buchbestände (wie Anm. 125), S. 105–109; Eckard Vorwerk, 268 Jahre Bibliothek der Grupenschen Stiftung und ihre bibliophilen Kostbarkeiten, in: Götz von Olenhusen (Hg.), 300 Jahre Oberlandesgericht Celle (wie Anm. 82), S. 53 ff. 128 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 379ff. Figge, Die Bibliothek des Oberlandesgerichts (wie Anm. 125), S. 220. Glaser, Die Bibliothek der Grupenschen Stiftung (wie Anm. 125), S. 101. 129 Walter Schubert, Katalog der Bibliothek des Oberlandesgerichts in Celle, Celle 1926. 121 122

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len, welche Werke das Gericht angeschafft hat. Beispiele aus der Literatur, die auf der Wetzlarer Rechtsprechung gründete, sind Johann Ulrich Cramers (Reichskammergerichtsassessor, 1706–1772) Wetzlarische Nebenstunden 131 sowie seine Observationes iuris universi132. Beide Werke sind in der Bibliothek vollständig vorhanden. 133 Offenbar hat das Gericht sie zu seiner täglichen Arbeit herangezogen. Gleiches gilt für mehrere umfangreiche Werke über die Reichsgerichte und ihr Verfahren von Julius Friedrich Malblank, Friedrich August Schmelzer und wiederum Johann Ulrich Cramer.134 Das Gericht verfolgte auch die aktuellen Entwicklungen in Wetzlar. So schaffte es in den Jahren nach 1767 für seine Bibliothek über ein Dutzend Bücher zur Visitation der Jahre 1767 bis 1776 an.135 Auch etliche andere Werke über das Reichskammer-

■ 130 Die Bibliothek enthält in großem Umfang auch bedeutsame Werke von vor 1767. Dabei kann aber nicht zuverlässig auf die Verwendung durch das Gericht geschlossen werden, da diese Werke zumindest teilweise – das jeweilige Anschaffungsdatum ist dem Katalog nicht zu entnehmen – noch von Grupen selbst erworben worden sind. 131 Johann Ulrich Freiherr von Cramer, Wetzlarische Nebenstunden, worinnen auserlesene beym höchstpreislichen Cammergericht entschiedene Rechts-Händel zur Erweiter- und Erläuterung der teutschen in Gerichten üblichen Rechts-Gelehrsamkeit angewendet werden, 32 Bände, Ulm 1755–1773. Vgl. Gehrke, in: Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur (wie Anm. 76), S. 1358 mit Note 1. Oestmann, Kameralliteratur (wie Anm. 115). Instruktiv zur Bedeutung der Wetzlarischen Nebenstunden Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter II/1 (wie Anm. 32), S. 670f. Allgemein zu Cramer ebenda, S. 655ff. 132 Johann Ulrich Freiherr von Cramer, Observationes iuris universi ex praxi recentiori supremorum imperii tribunalium haustae, sechs Bände, Ulm 1758–1772. 133 Schubert, Katalog der Bibliothek (wie Anm. 129), Sp. 39, 56. 134 Johann Ulrich Freiherr von Cramer, Systema processus imperii seu superiorum augustissimorum tribunalium, Ulm/Frankfurt/Leipzig 1767. Julius Friedrich Malblank, Anleitung zur Kenntniß der deutschen Reichs- und Provinzial-Gerichts- und Kanzleyverfassung und Praxis, vier Bde., Nürnberg/Altdorf 1791–1795. Friedrich August Schmelzer, Contumacialproceß der höchsten Reichsgerichte in einer mit den Gesetzen verglichenen systematischen Darstellung der gegenwärtigen Praxis, Göttingen 1792. Zum Bestand der Celler Bibliothek Schubert, Katalog der Bibliothek (wie Anm. 129), Sp. 585f. 135 In chronologischer Reihenfolge nach Schubert, Katalog der Bibliothek (wie Anm. 129), Sp. 589–592: Christian Gottfried Oertel, Kurze, auf die Reichs-Gesetze sich gründende Abhandlung von dem Kaiserl. und des Reichs Cammer-Gerichte und dessen letztfürgewesener auch jetzt bevorstehender Visitation, Regensburg 1767; [Anonym] Betrachtungen über das reichs-kammergerichtliche Visitationswesen, Mainz 1767; Johann Jacob Moser, Bedenken von der Cammer-Gerichts-Visitation, Stuttgart 1767; ders., Unmasgebliches Bedenken über einige Hauptpuncten, so bey Einrichtung des Visitations-Wesens bey dem Kaiserl. Reichs-Cammergerichte zu beobachten seyn, Regensburg 1767; Christian von Nettelbladt, Vermehrter und verbesserter abgeforderter Bericht vom Ursprung, Beschaffenheit, Umständen und Verrichtungen der kaiserlichen Reichscammergerichtlichen Visitationen, Freiburg 1767; Christian Jacob von Zwierlein, Vermischte Briefe und Abhandlungen über die Verbesserung des Justizwesens am Kammergerichte, Berlin 1767; Johann Stephan Pütter, Patriotische Gedanken über einige das Kayserliche und ReichsCammergericht und dessen Visitation betreffende Fragen, Göttingen 1768; Carl Wilhelm Schnitzlein, Reverien von Verbesserung des Justizwesens, bey Gelegenheit der kaiserl. u. reichs-cammergerichtl. Visitation, Frankfurt/Leipzig 1768; Johann Stephan Pütter, Unpartheyische Gedanken über die in dem Cammergerichts-Visitations-Berichte vom 16. Jul. 1768 enthaltenen Materien, Göttingen 1769; ders., Neuester Reichsschluß über

Das Oberappellationsgericht Celle als Mittler

gericht und die zeitgenössische Entwicklung seiner Gerichtsverfassung 136 sowie über den Reichshofrat 137 fanden Eingang in den Bücherbestand des Oberappellationsgerichts. Auch wenn der Einfluss dieser Literatur auf die Rechtsprechung nicht mehr im Einzelnen ermessen werden kann, spricht ihr Umfang dafür, dass das Celler Gericht Verfahren und Entwicklungen der Reichsgerichte aufmerksam beobachtet und in seiner Praxis berücksichtigt hat. 6. Mediale Wirkung durch gerichtliche Symbolik■Ein jedes Gericht bedarf, um Einfluss in Staat und Gesellschaft zu erlangen, der Akzeptanz der

■ einige Verbesserungen des kaiserlichen und Reichs-Cammergerichts, Göttingen 1776; ders., Ueber das Präsentationswesen am Cammergerichte, insonderheit die jetzige Lage der Churpfälzischen Präsentation betreffend, Göttigen 1781; Franz Ferdinand von Schrötter, Gesammelte Original-Briefe, in welchen die mehresten Handlungen der am 2. May 1767 ausgerückten Extraordinari-Kammergerichts-Visitations- und Revisions-Deputation beleuchtet werden, drei Bände, Wien 1777; Georg Gottlieb Balemann, Beiträge zur Revision und Verbesserung der fünf ersten Titeln des Concepts der Kaiserlichen Kammergerichtsordnung, Lemgo 1778; ders., Visitstions-Schlüsse, die Verbesserung des Kaiserlichen Reichs-Kammergerichtlichen Justizwesens betreffend, Lemgo 1779; Johann Heinrich Christian von Selchow, Concepte der Reichskammergerichtsordnung auf Befehl der jüngsten Visitation entworfen, Göttingen 1782; Damian Ferdinand Haas, Vorschläge wie das Justizwesen am Kammergericht bey künftiger Visitation, oder am Reichstage nach den schon älteren Gesetzen einzurichten und zu verbessern sey, zwei Bände, ohne Ort 1786; Dietrich Heinrich Ludwig von Ompteda, Geschichte der vormaligen ordentlichen Cammergerichts-Visitationen und der zweyhundertjährigen fruchtlosen Bemühungen zu deren Wiederherstellung, Regensburg 1792; Günther Heinrich von Berg, Darstellung der Visitation des Kaiserlichen und Reichs-Kammergerichts nach Gesetzen und Herkommen, Göttingen 1794. 136 In chronologischer Reihenfolge nach Schubert, Katalog der Bibliothek (wie Anm. 129), Sp. 590–592: Johann August Reuß, Beiträge zur neuesten Geschichte der reichsgerichtlichen Verfassung und Praxis, drei Bände, Ulm 1785–1790; Dietrich Heinrich Ludwig von Ompteda, Betrachtungen über die Materie der Senate des kaiserlichen und ReichsCammer-Gerichts, Regensburg 1788; [Anonym] Sammlung verschiedener Abhandlungen, die Einrichtung der Senate des Kaiserlichen und Reichs-Kammergerichts betreffend, Regensburg 1788; Benjamin Ferdinand Mohl, Versuch eines Systemes der Gerichtsbarkeit des kayserlichen Reichs-Cammergerichts, zwei Bände, Tübingen 1791; Karl Georg Freiherr Riedesel zu Eisenbach, Vorträge an den vollen Rath des Kaiserlichen Kammergerichts über einige wichtige Materien des kammergerichtlichen Prozesses, Jena 1791; Franz Dietrich von Dittfurth, Zwei Abstimmungen: eine über die Vorträge des Freiherrn von Riedesel, die andre über einige wichtige kammergerichtliche Einrichtungen, insbesondre die Referirart, Jena 1792; Egid Josef Karl von Fahnenberg, Literatur des kaiserlichen Reichskammergerichts, Wetzlar 1792; ders., Vortrag über die Abkürzung der kammergerichtlichen Relationen, Wetzlar 1792; ders., Schicksale des Kaiserlichen Reichskammergerichts vorzüglich in Kriegszeiten, Wetzlar 1793; Wilhelm August Friedrich Danz, Grundsätze des Reichsgerichts-Prozesses, Stuttgart 1795. 137 Nach Schubert, Katalog der Bibliothek (wie Anm. 129), Sp. 592: Vincenz Hanzely, Anleitung zur neuesten Reichshofrathspraxis, zwei Bände, Frankfurt/Leipzig 1784; ders., Grundriß des reichshofräthlichen Verfahrens in Justiz- und Gnaden-Sachen mit den nöthigen Formeln, vier Bände, Stuttgart 1786–1788; Johann Christian Herchenhahn, Geschichte der Entstehung, Bildung und gegenwärtigen Verfassung des Kaiserlichen Reichshofraths, nebst der Behandlungsart der bei demselben vorkommenden Geschäfte, drei Bände, Mannheim 1792–1793.

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Rechtsgemeinschaft. Seine Autorität beruht darauf, dass die Bevölkerung, der es als Institution der Rechtspflege gegenübertritt, sie ihm zuschreibt. Hierfür sind die Qualität und Effektivität seiner Rechtsprechung nicht allein entscheidend. Damit sich ein Gericht als herrschaftliche Institution aus der Sphäre des Alltäglichen heraushebt, ist symbolische Repräsentation erforderlich.138 Diese ist das Medium, in der sich die Würde des Gerichts verkörpert. Von gesteigerter Bedeutung war die Ebene des Symbolischen in der ungeschriebenen vormodernen Verfasstheit einer Ordnung, die in erster Linie auf Präsenz und persönlichem Handeln der Beteiligten beruhte. Feste und symbolisches Handeln trugen wesentlich zur Legitimation vormoderner Herrschaftsverhältnisse bei. In Zeremonien und Ritualen wirkte Symbolik auch konstitutiv und stellte das her, was sie darstellte.139 Der Wert, den die Zeitgenossen der symbolischen Ebene beimaßen, kommt am Reichskammergericht darin zum Ausdruck, dass „das Etikett oder Ceremoniel beym Cammergericht (decorum Camerale)“ dem stilus cameralis zugeordnet wurde, 140 der gleich einem Gesetz zu befolgen war.141 Zur symbolisch-medialen Wirkung des Reichskammergerichts trugen neben den Audienzen und der Etikette im alltäglichen Geschäftsgang vor allem Ereignisse bei, die das Gericht aus seiner alltäglichen Praxis herausgehoben darstellten. Dies waren beispielsweise „die Feyerlichkeiten bey Einführung eines jeweiligen Cammerrichters“142 sowie die auch reichsverfassungsrechtlich relevanten Vorgänge bei einer Visitation. 143 Die symbolische Entfaltung des Oberappellationsgerichts war demgegenüber relativ gering. Visitationen sollten nach der Oberappellationsgerichtsordnung zwar mindestens alle zehn Jahre durchgeführt werden,144 fanden aber tatsächlich nie statt.145 Ihre mediale Wirkung konnten sie in Celle daher nicht entfalten. Besondere öffentlichkeits-

■ Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches, München 2008, S. 10. 139 Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassung und Fest. Überlegungen zur festlichen Inszenierung vormoderner und moderner Verfassungen, in: Hans-Jürgen Becker (Hg.), Interdependenzen zwischen Verfassung und Kultur. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 22.3.–24.3.1999, Berlin 2003 (Der Staat, Beiheft 15), S. 10. Vgl. Harriet Rudolph, „Mit gewohnlichen Solennitäten“. Politische Rituale und Zeremoniell im Alten Reich, in: Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hg.), Lesebuch Altes Reich (bibliothek altes Reich = baR 1), München 2006, S. 67ff. 140 Gerstlacher, Corpus iuris Germanici (wie Anm. 64), S. 270. 141 § 76 Reichsabschied von 1570 = Sammlung der Reichs-Abschiede IV (wie Anm. 4), S. 297. Gerstlacher, Corpus iuris Germanici (wie Anm. 64), S. 267. 142 Gerstlacher, Corpus iuris Germanici (wie Anm. 64), S. 270. 143 Vgl. zur medialen Bedeutung der Reichskammergerichtsvisitationen den Beitrag von Alexander Denzler in diesem Bande sowie ders., Die Visitation des Reichskammergerichts von 1767 bis 1776. Ein mediales Großereignis und seine Bedeutung für die Kommunikations- und Rechtsgemeinschaft des Alten Reiches, Saarbrücken 2008. 144 Th. I Tit. 18 § 1 OAGO = Landes-Ordnungen und Gesetze II (wie Anm. 12), S. 168. 145 Von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 328. Gunkel, Zweihundert Jahre Rechtsleben in Hannover (wie Anm. 14), S. 115. 138

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wirksame Zeremonien im Zusammenhang mit der Einführung neuer Präsidenten und Richter sind nicht überliefert. Eine Ausnahme bildet zwar die Eröffnungszeremonie am 14. Oktober 1711, in deren Rahmen die Präsidenten und die Oberappellationsräte vereidigt wurden. Im Gegensatz zum Wismarer Tribunal 146 ist aber nicht mehr nachzuvollziehen, ob sie der Öffentlichkeit zugänglich oder ein rein gerichtsinterner Akt war.147 Repräsentative Feierlichkeiten wie etwa ein Festzug sind ebenfalls nicht überliefert. Auch im gerichtlichen Alltag spielte die mediale Kommunikation mit der Bevölkerung nur eine geringe Rolle. Dies lag vor allem daran, dass das Gericht keine Audienzen abhielt, so dass es praktisch keine Möglichkeit hatte, den Rechtsuchenden in den Prozessen unmittelbar gegenüber zu treten. Mündliche Termine im Rahmen der Beweisaufnahme oder zum Versuch einer gütlichen Einigung wurden regelmäßig einem beauftragten oder ersuchten Richter übertragen.148 Auch hier trat das Gericht als ganzes den Parteien also nicht gegenüber. Eine Ausnahme bildeten lediglich die öffentlichen Urteilsverkündungen. In ihnen stellte das Gericht sich und seine Rechtsprechung als etwas dar, das nicht nur die Prozessparteien, sondern die Öffentlichkeit als solche berührte. Zumindest auf diese Weise trat es mit der Bevölkerung medial in Kontakt. Dass medienwirksame Ereignisse wie insbesondere Visitationen in Celle nicht stattgefunden haben, lag daran, dass der Landesherr von ihrer Anordnung abgesehen hat. Offenbar hielt er derartige Aufsichtsmaßnahmen nicht für erforderlich. Tatsächlich sind auch im Rückblick offenkundige Missstände, die eine Visitation erheischt hätten, nicht ersichtlich. Darüber hinaus spricht das gänzliche Unterbleiben von Visitationen aber auch dafür, dass der mit ihnen verbundenen symbolischen Darstellung der Gerichtsbarkeit im BraunschweigLüneburg des achtzehnten Jahrhunderts kein großer Wert beigemessen wurde. Das schriftliche Verfahren ohne Audienzen beruhte zunächst auf verfahrenstechnischen Erwägungen, denn es diente der Beschleunigung der Prozesse. Auch in ihm zeigt sich aber, dass die Gründer des Gerichts die symbolische Repräsentation, die mit den Audienzen verbunden war, für entbehrlich hielten. Dies scheint dem allgemeinen Empfinden im Kurstaat entsprochen zu haben. Denn aus dem ganzen achtzehnten Jahrhundert sind – abgesehen von einer

■ 146 Anonymus, Beschreibung des Actus Introductionis Des Königl. Hohen Tribunals in Wißmar, hrsg. und kommentiert von Nils Jörn, in: Jörn/Diestelkamp/Modéer (Hg.) Integration durch Recht (wie Anm. 74), S. 5ff. Hans Hattenhauer, Zum Gründungszeremoniell des Tribunals in Wismar AD 1653, in: Jörn Eckert/Pia Letto-Vanamo/Kjell Å. Modéer (Hg.), Juristen im Ostseeraum. Dritter Rechtshistorikertag im Ostseeraum 20.–22. Mai 2004, Frankfurt am Main 2007 (Rechtshistorische Reihe 342), S. 45ff. 147 Die einzige Schilderung der Eröffnungszeremonie findet sich bei von Bülow, Über die Verfassung, Erster Theil (wie Anm. 12), S. 17f., dem offensichtlich das nicht erhaltene Protokoll noch zugänglich gewesen ist. Zur Beteiligung der Öffentlichkeit an dem Festakt ist dieser Schilderung jedoch nichts zu entnehmen. 148 Von Bülow, Über die Verfassung, Zweyter Theil (wie Anm. 40), S. 198ff.

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bescheidenen, schlichten Gebäudeskizze und einigen Grundrisszeichnungen149 – auch keine bildlichen Darstellungen des Gerichts überliefert. Waren am Reichskammergericht die Audienzen ein verbreiteter Gegenstand bildlicher Darstellungen, 150 so hätten sich in Celle neben dem Gebäude jedenfalls die öffentlichen Urteilsverkündungen als Sujet angeboten. Offensichtlich bedurfte die Autorität des Gerichts solcher symbolischer Vermittlung in den Augen der Zeitgenossen nicht. So beschränkte sich die symbolisch-mediale Repräsentation des Gerichts auf die Betonung der gesellschaftlichen Rangordnung, die für jedermann sichtbar in einem eigenen Gestühl in der Celler Stadtkirche für alle Gerichtsmitglieder ihren Ausdruck fand.151 Ein weiteres Beispiel symbolischer Legitimation der Gerichtsbarkeit sind die Herrscherportraits, die die Landesherren dem Gericht stets nach ihrer Thronbesteigung zu schenken pflegten und die noch heute den Plenarsaal des Oberlandesgerichts zieren, 152 sowie die Dankschreiben des Gerichts für diese Gemälde.153 In ihnen wird die legitimierende Herleitung der Gerichtsbarkeit vom Landesherrn sichtbare Wirklichkeit.154 7. Fazit■Das Oberappellationsgericht Celle ist ein beredtes Beispiel dafür, wie ausgeprägt die Territorialjustiz im achtzehnten Jahrhundert von den Grundsätzen der Reichsgerichte durchdrungen war. Es fungierte als Medium zwischen der Reichsjustiz und der territorialen Gerichtspraxis, indem es die Grundsätze der Reichsgerichte auf territorialer Ebene zu praktischer Wirksamkeit brachte. In seinem Aufbau war es – wie andere territoriale oberste Gerichte – weitgehend dem Reichskammergericht nachgebildet. Das Verfahren folgte ebenfalls reichsgerichtlichem Vorbild, wobei es auch Elemente des reichshofrätlichen Verfahrens wie das strenge Schriftlichkeitsprinzip übernahm. Zugleich bildeten die Oberappellationsgerichtsordnung und vor allem der Gerichtsgebrauch das Verfahren dynamisch fort, um den Anforderungen gerecht zu werden, die die Rechtsuchenden an die Justiz stellten. Dazu, dass die Reichsgerichte in der territorialen Gerichtspraxis gegenwärtig waren, trug neben der medialen Wirkung personeller Verbindungslinien und der reichsweit homogenen Prägung der Juristen durch die Universitäten auch die Ver-

■ 149 Wilhelm Grendel, Baugeschichte des Oberlandesgerichts Celle, in: Schräder (Hg.), 250 Jahre (wie Anm. 14), nach S. 216. Gunkel, Zweihundert Jahre (wie Anm. 14), nach S. 510. 150 Siehe oben Anm. 57. 151 Wolfgang Kappe, Die Kirchenbank des Oberappellationsgerichts in der Stadtkirche zu Celle, in: Franzki (Hg.), Festschrift (wie Anm. 56), S. 335ff. 152 Coing, Zur Geschichte des Oberlandesgerichts in Celle (wie Anm. 62), S. 19. Martin Stosch, Baugeschichte des Oberlandesgerichts, in: Franzki (Hg.), Festschrift (wie Anm. 56), S. 310, 313. Abbildungen der Gemälde bei Franzki, ebd., S. 31, 61f., 109ff. 153 Stodolkowitz, Das Oberappellationsgericht Celle (wie Anm. 5), S. 86f. 154 Barbara Stollberg-Rilinger, Die Würde des Gerichts. Spielten symbolische Formen an den Höchsten Reichsgerichten eine Rolle? in: Oestmann (Hg.), Zwischen Formstrenge und Billigkeit (wie Anm. 48), S. 203.

Das Oberappellationsgericht Celle als Mittler

wendung kameralistischer Literatur als Medium bei, die in Celle durch die Grupensche Stiftungsbibliothek einen erhöhten Stellenwert hatte. Die mediale Wirkung des Oberappellationsgerichts gegenüber der Öffentlichkeit war indes im Vergleich zum Reichskammergericht schon auf Grund des Fehlens von Audienzen und Visitationen gering. Auch symbolische Repräsentation spielte nur eine untergeordnete Rolle. Dies zeigt, dass die Bedeutung der symbolischen Ebene im Territorialstaat des achtzehnten Jahrhunderts zurückging. Je mehr sich homogene staatliche Strukturen, verbunden mit einer effizienten Landesverwaltung, verfestigten, desto weniger bedurfte die Territorialherrschaft der symbolischen Legitimation. Als oberstes Gericht des Kurfürstentums trat das Celler Gericht weitgehend an die Stelle der Reichsgerichte. In ihm lebten diese – auch über das Ende des Alten Reiches hinaus – weiter. Es ist anzunehmen, dass es diese Prägung an die ihm nachgeordneten braunschweig-lüneburgischen Hofgerichte und Justizkanzleien weitergegeben hat. Je mehr die Grundsätze der Reichsjustiz in die Territorialgerichtsbarkeit Eingang fanden, desto mehr verselbständigte diese sich. So entstand in den welfischen Territorien ein eigenständiges Justizwesen, das der vereinheitlichenden Klammer der Reichsgerichte im gerichtlichen Alltag immer weniger bedurfte. Als die Reichsgerichte 1806 in Wegfall kamen, hatte sich die Justiz in Braunschweig-Lüneburg, vor allem in Gestalt des Celler Oberappellationsgerichts, so weit verselbständigt, dass sie nunmehr allein in der Lage war, dem Anspruch der Rechtsuchenden an Effizienz und Autorität der Rechtsprechung gerecht zu werden. Die Geschichte des Oberappellationsgerichts ist insofern Teil der Entwicklung der deutschen Justiz im achtzehnten Jahrhundert. Im Zuge der Ausbildung des modernen Anstaltsstaates entstand in den Territorien, wie das Celler Beispiel zeigt, eine gut organisierte Justiz, während das Reichskammergericht seine Bedeutung als Motor der Rezeption und der Verrechtlichung155 allmählich einbüßte. Die Frage, ob das Celler Gericht als repräsentativ für die Masse territorialer Oberappellationsgerichte gelten kann, ist damit allerdings noch nicht beantwortet. Schon auf Grund seiner relativ späten Gründung im Jahre 1711 mag es in gewisser Hinsicht eine Ausnahme gewesen sein. Denn dadurch konnten die Gründer des Gerichts mögliche Negativerfahrungen aus anderen Territorien berücksichtigen, ohne dass die Entwicklung des Gerichts durch veralteten Ballast behindert gewesen wäre. So ist schon die lückenlose Aktenführung bereits im Extrajudizialverfahren ein Merkmal moderner Gerichtsbarkeit, das das Celler Gericht möglicherweise von anderen territorialen Gerichten unterschied. Hier bleiben eingehende Untersuchungen oberster Gerichte anderer Territorien wünschenswert, bevor die Rolle der obersten Territorialjustiz in der Spätphase des Alten Reiches umfassend bewertet werden kann.

■ 155

Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 6), S. 177.

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Die Real Chancilleria und Audiencia von Granada

■Ignacio Czeguhn■Die Real Chancilleria und Audiencia von Granada – ihre Inszenierung und Bedeutung im 16. und 17. Jahrhundert I. Einführung■Das Jahr 1494 ist bezüglich der Geschichte der Höchstgerichtsbarkeit Kastiliens ein entscheidendes.1 In Ciudad Real wird ein weiteres königliches Gericht neben der Audiencia und Chancilleria in Valladolid gegründet.2 Es handelt sich dabei um den Ausbau und eine Expansion des Königlichen Apparates hinsichtlich der Höchstgerichtsbarkeit, denn auch in Galizien wird eine neue Audiencia ins Leben gerufen.3 Einer territorialen Expansion (Eroberung Granadas als letztes Kalifat auf der iberischen Halbinsel) folgte eine institutionelle Erweiterung der Justizverwaltung. Es galt die Präsenz des Königs in seinen Reichen als höchster Richter durch hierfür eigens neu geschaffene Organe zu festigen, die als dessen Stellvertreter Recht sprechen sollten.4 Nachdem die katholischen Könige die ordnungsgemäße Arbeitsweise der Chancilleria in Valladolid durch strenge Kontrolle und Visitationen garantiert hatten,5 mussten die neu hinzugewonnenen Territorien mit einer ihnen geographisch näher liegenden Institution versehen werden. Die neue Chancilleria der Ciudad Real bestand aus einem Präsidenten und vier Oidores, die mit den Zivilstreitigkeiten betraut waren. Somit war die Anzahl der in ihr tätigen Richter kleiner als bei ihrer „Zwillingsschwester“ in Valladolid. Sie besaß jedoch die gleichen Zuständigkeiten und ihre Ämter waren genau so konzipiert wie die der Chancilleria in Valladolid. Einziger Unterschied war, dass die Chancilleria in Ciudad Real keinen höchsten Richter für die Fälle aus Vizcaya besaß, da diese Region nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fiel. Denn die territoriale Zuständigkeitsabgrenzung wurde folgendermaßen festgelegt: „Alle Städte und Dörfer und Orte und Kastelle und Festungen und Gutshöfe und Bauernhöfe und Pachtgüter, die auf der anderen Seite des Flusses Tajo liegen, mit Andalusien, dem Reich Granadas und Murcias, mit dem Marquisat Villena und mit den Besitztümern der Orden von Santiago und Alcantara und Calatrava und San Juan mit den Inseln der Kanaren, und auch die Räte und Universitäten sowie die Personen und Nachbarn und Bewohner derselben,

■ Ignacio Czeguhn, Die kastilische Höchstgerichtsbarkeit 1250–1520, Berlin 2002, S. 100. Präambel der Real Provisión 30.09.1494, in: Libro de las Bulas y Pragmaticas de los Reyes Catolicos (Faksimileausgabe der Ordonnanz aus Alcala de Henares, 1503, Madrid 1973), fol. 62–63. 3 Pragmaticas y leyes hechas y recopiladas por mandato de los muy altos y poderosos Principes y Señores el Rey don Fernando y la Reina doña Isabel ... Medina del Campo 1549, Kapitel LII, fol. 43. 4 José Angel Garcia de Cortazar, Organización social del espacio en la España medieval: la corona de Castilla en los siglos VIII a XV, Barcelona 1985, S. 156; vgl. auch insgesamt Carlos Garriga, La Audiencia y las Chancillerias Castellanas 1371–1525, Madrid 1994. 5 Czeguhn, Die kastilische Höchstgerichtsbarkeit (wie Anm. 1), S. 182ff. 1 2

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sollen gehen und mögen gehen an unsere Chancilleria mit allen ihren Geschäften und Klagen und alles andere unserer Reiche und die señorios diesseits der Häfen des Meeres, dem Erzbistum Toledo und Bistum Siguenza und Cuenca und Palencia und Coria diesseits des Tajo, sollen an unsere alte Chancilleria, die in Valladolid residiert, kommen.“6 Es handelt sich mithin um eine Zweiteilung des Landes in Norden und Süden. Den Norden erhält zuständigkeitshalber die Chancilleria in Valladolid, den Süden die Chancilleria in Ciudad Real. Doch es sollte nicht lange dauern, bis der Umzug der Chancilleria von Ciudad Real nach Granada von den Katholischen Königen beschlossen wurde. Im Jahre 1505 wird die bereits zu Lebzeiten Isabellas getroffene Entscheidung, die Chancilleria von Ciudad Real nach Granada zu verlegen, mittels einer königlichen Ordonnanz durchgeführt.7 Die Gründe lagen offen auf der Hand: Ciudad Real war kein symbolischer Ort für ein königliches Gericht. Zudem war Granada Hauptstadt des letzten Kalifats auf der iberischen Halbinsel gewesen, und stellte daher vor allem nach der Reconquista eine große symbolische Bedeutung für das neu entstandene spanische Königreich dar. Die Könige verfolgten damit die Absicht, das politisch neu hinzugewonnene Territorium auch verwaltungsmäßig und insbesondere rechtsprechungsmäßig zu beherrschen. Bevor auf die Inszenierung der Real Chancilleria von Granada eingegangen werden soll, wird der Beitrag kurz die Zuständigkeiten und die Zusammensetzung des Gerichtes erläutern. II. Zuständigkeiten und Zusammensetzung der Real Chancilleria von Granada■Die Chancilleria von Granada nimmt zunächst nicht nur rechtsprechende Aufgaben wahr, sondern auch justizverwaltende und allgemein verwaltende Kompetenzen. Dies führt anfänglich zu einer ständigen

■ Real Provisión 30.09.1494 in: Libro de las Bulas y Pragmaticas de los Reyes Catolicos (Faksimileausgabe der Ordonnanz aus Alcala de Henares, 1503, Madrid 1973), fol. 62–63. 7 „Ya sabeys como entre otras cosas que yo, y la sereníssima Reyna doña Ysabel mi muger que santa gloria aya, ouimos otorgado y concedido a essa ciudad de Granada fue vna, que la Audiencia de Ciudad Real fuesse a estar y residir en essa ciudad: y assi por esto, como por la voluntad que la dicha mi muger y yo siempre touimos al noblecimiento y población de essa ciudad, é mandado al Presidente y Oydores de la dicha Audiencia que luego se vayan a estar y residir en essa ciudad“, Cédula del traslado – „Cedvula de Sv Alteza para que la audiencia se passe de Civdad Real a esta civdad de Granada“ – en fol. 2 de Cédvlas, Prouisiones, visitas y Ordenanças de los Sennores Reyes Catholicos y de sus Maiestades y Autos de los Señores Presidente y Oidores concernientes a la fácil y buena expedición de los negocios y administración de Iusticia y gobernación de la Audiencia Real que reside en la Ciudad de Granada, Granada 1551; Übersetzung des Textes: „Wie ihr alle wisst haben ich und meine sanftmütige Frau, sie möge die ewige Seligkeit erlangen, verordnet und der Stadt Granada zugestanden, dass die Audiencia von Ciudad Real nach Granada umsiedeln soll; und deswegen, und wegen meines und meiner Frau Zuneigung, die wir immer dem Adel und den Einwohnern der Stadt Granada entgegengebracht haben, habe ich dem Präsidenten und den Oidores der Audiencia in Ciudad Real befohlen, nach Granada umzusiedeln.“ 6

Die Real Chancilleria und Audiencia von Granada

Auseinandersetzung mit der Capitania General8, die ursprünglich die verwaltende Behörde in Granada gewesen war. Sie ist geographisch zuständig für die Gebiete südlich des Tajo und die kanarischen Inseln. Die Chancilleria ist darüber hinaus als Zivil- und Strafgericht für fünf Leguas um ihren Sitz herum zuständig.9 Erstinstanzlich ist sie zuständig für die Hofgerichtsfälle und solche, an denen Adlige beteiligt sind, zudem in Rechtstreitigkeiten Adliger mit ihren Vasallen. Als Appellationsgericht wird sie tätig in Zivilsachen bei Fällen bestimmten Streitwerts und als Strafinstanz, wenn die Todesstrafe verhängt werden sollte. Dabei ist zu beachten, dass im Verlauf des noch jungen 16. Jahrhunderts der Königliche Rat immer mehr Kompetenzen an sich zog, darunter auch einzelne Prozesse der Real Chancillerias sowohl in Valladolid als auch in Granada.10 Zusammengesetzt wird die Real Chancilleria von Granada aus einem Präsidenten, vier Zivilkammern (Salas de lo Civil), einer Strafkammer (Sala del Crimen), einer Adelskammer (Sala de los Hijosdalgo), mehreren allgemeinen Ämtern wie z.B. Gerichtsschreiber und Torwächter, einer Kanzlei und Strafwärtern.11 Der Präsident wurde durch den König ernannt und musste eine „hochrangige, kirchliche Persönlichkeit“ sein. Er saß sowohl der Strafkammer als auch der Zivilkammer vor, soweit Hoffälle (Casos de Corte) behandelt wurden. Er führte den Vorsitz in der Audiencia und kontrollierte das Personal der Chancilleria. Insgesamt gab es an der Chancilleria von Granada vier Zivilkammern, die jeweils mit vier Oidores besetzt waren. Darüber hinaus standen den Zivilkammern 12 Berichterstatter (Relatores) und 16 Gerichtsschreiber zur Verfügung. Es bestand darüber hinaus eine Strafkammer mit vier Strafrichtern (Alcaldes del Crimen), der vier Gerichtsschreiber und drei Berichterstatter zugewiesen waren. Andere Ämter wie z.B. zwei Staatsanwälte, 30 Prokuratoren, 65 Zustellungsbeamte mit Beurkundungsaufgaben, zwei Gerichtsvollzieher, ein Gerichtsgutachter (Schätzer) ergänzten das Personal der Chancilleria. Der Chancilleria von Granada war auch eine Kanzlei zugeordnet, die aus einem Kanzler und einem Registerbeamten bestand. Das Gefängnis zählte einen

■ Hierzu Antoino Jimenez Estrella, La capitanía general del Reino de Granada: Apuntes sobre la evolución histórica de una institución político-militar en el siglo XVI, in: Qalat, S. 111–136. 9 Zum Ganzen Carlos Garriga, La Real Audiencia y Chancilleria de Granada, in: Real Chancilleria de Granada, V. Centenario, Granada 2006, S. 149–220. 10 Czeguhn, Die kastilische Höchstgerichtsbarkeit (wie Anm. 1), S. 72f.; auch insgesamt Antonio Sanchez Aranda, El recurso de segunda suplicación en el derecho castellano, Granada 2007. Der königliche Rat konnte als höchste Instanz, die beim König angesiedelt war, Prozesse an sich ziehen. Dies geschah insbesondere nach dem Tod Isabellas ab 1504, als Ferdinand sich politisch auf den Rat stützte, willkürlich, was von den Städten auch kritisiert wurde. 11 Garriga, La Real Audiencia (wie Anm. 9), S. 150. 8

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Henker, einen Arzt, einen Kaplan, einen Barbier und einen Gefängnisaufseher als Personal.12 Eine Kontrolle der Chancilleria in Granada erfolgte zunächst wirtschaftlich und finanziell durch die sog. Junta de cuentas.13 Für das Personal an der Chancilleria waren als Kontrollmechanismus die Jueces oficiales bei Vergehen zuständig. Darüber hinaus erfolgten in regelmäßigem Abstand Visitationen, die durch die Krone angeordnet wurden.14 Rechtsquelle für die Chancilleria waren die Ordonnanzen, die an alle Mitglieder der Chancilleria verteilt wurden. Es existieren heute noch zwei Ausgaben dieser geschriebenen Ordonnanzen, die sog. Reales cedulas y provisiones aus dem Jahr 1551 und die Ordenanzas aus dem Jahre 1601.15 III. Die Inszenierung der Chancilleria in Granada 1. Das Gebäude■„Damit die Majestät des Tribunals nicht minderen Wert hat als die Fälle, die hier behandelt werden, hat die Klugheit des katholischen Königs Philipps II. entschieden, diesen Palast zu verschönern. Dies geschah im Jahre 1587 während der Präsidentschaft von Fernando Nino de Guevara“. So lautet noch heute die Inschrift, die sich über dem Eingangsportal des Chancilleria in Granada befindet. Aus ihr wird deutlich, wie König Philipp II. den Vorsitzenden Richter an der Chancilleria mit Majestät des Tribunals bezeichnet und damit eine Gleichsetzung mit seiner Person herbeiführen möchte. Dies macht offenkundig, dass der König die entscheidenden Richter an den Chancillerias als seine ureigenste Vertretung ansah, die in seiner Person und mit seiner Bevollmächtigung die Fälle vor Gericht entschieden. Das Gebäude der Real Chancilleria in Granada ist für die damalige Zeit des 16. Jahrhunderts ein imposantes, und von seiner Größe her auffallendes Gebäude. Fertiggestellt wurde es im Jahre 1587 unter der Regentschaft Philipps II., nachdem 1508 (3 Jahre nach dem Umzug der Chancilleria von Ciudad Real nach Granada) die Entscheidung gefallen war, dem Gericht einen neuen Palast zu bauen.16 Der neue Bau sollte in seiner architektonischen Typologie den Funktionen des Gerichtshofs entsprechen, und die hohe ethisch-politische Bedeutung der königlichen Gerichtsbarkeit symbolisieren. Es war das erste

■ Ordenanzas de la Real Audiencia y Chancilleria de Granada 1601, Faksimilenachdruck Granada 1997, S. 191ff. 13 Die Junta de cuentas war eine Einrichtung der königlichen Kanzlei, die eine Kontrolle der ordnungsgemäßen Verwendung der von der Krone bereitgestellten finanziellen Mittel durch die Chancilleria gewährleisten sollte. 14 Czeguhn, Die kastilische Höchstgerichtsbarkeit (wie Anm. 1), S. 186. 15 Reales cedulas y provisiones de la Real Chancilleria de Granada 1551, Editorial Lex Nova, Junta de Andalucia 1995; Ordenanzas de la Real Audiencia y Chancilleria de Granada, Diputación de Granada, Editorial Lex Nova, Junta de Andalucia 1997. 16 Ignacio Henares Cuéllar, La Real Chancilleria de Granada: Imagen urbana y construcción simbólica, in: Real Chancilleria de Granada, V. Centenario, Granada 2006, S. 267ff. 12

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Mal, dass einem königlichen Gerichtshof ein eigenes, neues und imposantes Gebäude gebaut werden sollte.17 Eine königliche Visitation der Stadt Granada, bestehend aus dem Präsidenten und den Richtern der Chancilleria, königlichen Beratern und Architekten, erkundete zunächst die spezifischen städtebaulichen Voraussetzungen und vor allem einen geeigneten Bauplatz für den künftigen Gerichtshof.18 Nach mehrtägigen Verhandlungen entschied man sich dann, den königlichen „Gerichtspalast“ an der Plaza Nueva zu platzieren.19 Dieser freie große Platz lag nicht unweit von dem Gebäude, das bisher die Chancilleria beherbergt hatte. Mit dem Bau dieses neuen Gerichtsgebäudes hatten die spanischen Könige nach der Chancilleria in Valladolid einen zweiten, fest verankerten Sitz für ein königliches Gericht geschaffen. Über dem Eingangsportal thronen die Gerechtigkeit und die Stärke als Statuen, im Inneren des Gebäudes befindet sich eine monumentale Marmortreppe, die zu Zeiten Philipps II. fertig gestellt wurde.20 Wir haben es mithin mit einem prächtigen Gebäude und Symbol für die königliche Gerichtsbarkeit in Granada zu tun. Im Verlauf der 79-jährigen Bauzeit des Gebäudes kam es gelegentlich zu Finanzierungsschwierigkeiten. Nachgewiesen ist dies z.B. in Bezug auf den Bau der monumentalen Marmortreppe, die nur durch eine gegenüber dem Marquis von Salar verhängte Strafe finanziert werden konnte. So findet sich ein Teil des ausgesprochenen Urteils zitiert in einem Reiseführer für Granada aus dem Jahre 1846: „Vor mir steht ein gar adeliger Mann, aber ich werde es nicht dulden, dass jemand sich über die Allerheiligste Gerechtigkeit, die meine Oidores repräsentieren, stellt. So zahle deine Strafe und sie möge die Kosten der Errichtung der Treppe, die bereits begonnen hat, decken.“21 Dieser Fall beweist, dass Geldstrafen zwischen 1510 und 1579 zum Teil auch zur Kostendeckung des Baus des Gerichtspalastes verhängt wurden.22 Kein Gebäude in Granada repräsentiert so deutlich wie der Justizpalast das neue politische Vorbild, das sich trennend von den mittelalterlichen Auffassungen königlicher Gerichtsbarkeit, sich dem Aufbruch einer neuen monarchischen Vorstellung widmet, und die Justiz als gerechten Arm der modernen Monarchie und als ausgleichende Gewalt im Hinblick auf die sozialen Konflikte und Spannungen darstellt.

■ 17 Die Real Chancilleria und Audiencia in Valladolid residierte im 16. Jahrhundert in einem mittelalterlichen Gebäude, das zunächst einer adeligen Familie namens Vivero als Wohnsitz gedient hatte. 18 Antonio Garcia Samos, La Audiencia de Granada desde su fundación hasta el ultimo pasado siglo, Granada 1889. 19 Antonio Angél Ruiz Rodríguez, La real Chancilleria de Granada, Granada Diputación Provincial 1987, S. 69. 20 Cuéllar, La Real Chancilleria de Granada (wie Anm. 16), S. 272. 21 Manuel Gómez-Moreno González, Guia de Granada, Granada 1892, S. 403. 22 Weitere Urkunden mit verhängten Strafen zur Finanzierung der Treppe finden sich im Archiv der Real Chancilleria von Granada.

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Darüber hinaus finden sich im gesamten Gebäude Hinweise auf einen Bezug zum sozialpolitischen und ethischen Humanismus Spaniens im 16. Jahrhundert, der fast an utopische Vorstellungen angrenzt.23 Im Hof des Justizpalastes finden wir Bezüge zu den viris illustribus, eine darstellende Serie gebildeter Männer und Frauen. Ein Thema, das aus der klassischen Antike übernommen und vom Humanismus wiederentdeckt, gestärkt wurde. An den Türen finden sich allegorische Darstellungen, Figuren und eine symbolische Ornamentik, die dem Betrachter die Werte und die Bedeutung der Institution, die sich hier befindet, nahebringen. Die gesamte Architektur des Gebäudes zeigt sich durchdacht und der bildlichen Darstellung der Institution, die es beherbergt, gewidmet.24 Zum Gebäude der Real Chancilleria von Granada gab es einen symbolischen Schlüssel, der aus Gold angefertigt war und sich in einer mit Intarsien geschmückten Holzschatulle befand. Mit diesem goldenen Schlüssel öffnete der Präsident an jedem Gerichtsjahr beginnend mit dem 2. Januar die Pforte der Real Chancilleria von Granada unter Beobachtung aller wichtiger Persönlichkeiten des Ortes. Am Ende des Gerichtsjahres, dem 23. Dezember, wurde die Pforte wiederum symbolisch vom Präsidenten verschlossen. Den Weg zur Real Chancilleria von Granada begann man am 2. Januar zur Eröffnung der Pforte immer in Form einer Prozession durch die Stadt, bei der sie der Präsident gefolgt von den Oidores anführte. Teil nahmen auch alle Amtsinhaber der Real Chancilleria sowie der Bürgermeister, die Stadtrichter, alle Adeligen in der Stadt und selbstverständlich die kirchlichen Vertreter des Bistums Granada.25 2. Das Personal an der Chancilleria■Das an der Chancilleria tätige Personal trug, je nach Amtsinhaberschaft, unterschiedliche Bekleidung. Der Präsident saß als kirchlicher Würdenträger immer in kirchlichem Bischofsornat oder Kardinalsornat den Sitzungen vor. Ein zeitgenössisches Bild aus dem Jahre 1585 zeigt Fernando Niño de Guevara, Präsident der Chancilleria im Jahre 1584 bis 1609, als Kardinal im kirchlichen Ornat.26 Fernando Niño de Guevara war außerdem Generalinquisitor und Erzbischof von Sevilla. Zunächst Oidor an der Chancilleria in Granada wurde er Mitglied des Königlichen Rates und anschließend Präsident der Chancilleria.27 An dieser Persönlichkeit lässt sich sehr schön die personelle Verflechtung zwischen Amts- und Würdenträgern der Chancilleria aufzeigen. Sie waren darüber hinaus kirchliche Würdenträger, aber zum Teil eben auch königliche Räte.

■ 23 Miguel Angél Léon Coloma, El programa iconográfico del Palacio de la Real Chancilleria de Granada, Granada 1988, S. 33–34. 24 Ebda. 25 Archivo de la Real Chancilleira de Granada, Colección de documentos manuscritos, 01RACH, Nr. 060CDMA. 26 Gemälde von Luis Tristan (zugeschrieben), ca. 1600, heute Museo del Greco, Toledo. 27 Michael Scholz-Hänsel, Inquisition und Kunst: Convivencia in Zeiten der Intoleranz, Berlin 2009, S. 75ff.

Die Real Chancilleria und Audiencia von Granada

Die Oidores an der Chancilleria trugen im modischen Stil des 16. Jahrhunderts in Spanien ganz in schwarz gehaltene Kleidung. Sie bestand aus samtigem Stoff, in dem Hose, Jacke, Umhang und Barett gehalten waren. Die Tracht wurde durch eine Halskrause abgeschlossen, die aus weißem Leinen bestehend mit einer Brennschere röhrenförmig getollt wurde und im Lauf der Zeit teilweise sehr ausladend wurde (auch Mühlsteinkragen genannt). Im Archiv der Chancilleria in Granada, aber auch in Privatsammlungen, finden sich in einigen Akten Darstellungen der entscheidenden Oidores in Farbe.28 Die Oidores saßen auf der Estrade, die um zwei Stufen höher als der Fußboden liegt und rückseitig von einem roten Aufbau abgeschlossen wurde, der goldene Fransen trägt. Die Stufen waren mit einem wertvollen orientalischen Teppich ausgestattet. Davor befanden sich zwei Tische jeweils besetzt mit einem Gerichtsschreiber. Dieser war ebenfalls im Stil der spanischen Mode schwarz gekleidet. Diese Darstellungen in den Akten der Real Chancilleria von Granada geben ein schönes Bild der damaligen Mode und zeigen gleichzeitig, dass die Amtsträger an der Chancilleria in Granada schon durch ihre Kleidung hervorgehoben waren. Sowohl der Präsident als auch die Oidores trugen diese Kleidung nämlich auch außerhalb des Gerichtes und wurden so in der Öffentlichkeit von den Einwohnern der Stadt als Amtsträger erkannt und geachtet. Interessant ist auch der Umstand, dass sich an der Plaza Nueva, dem Standort des Justizpalastes, heute noch der sog. „Paseo de los Tristes“ befindet. Wörtlich übersetzt bedeutet dies der „Spazierweg der Traurigen“. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass die Richter an der Chancilleria in Granada nach den königlichen Ordonnanzen für das Gericht keinerlei Kontakt mit den Einwohnern der Stadt unterhalten durften. Sie waren mithin gezwungen, nur unter sich bzw. mit dem übrigen Personal des Gerichtes zu sprechen. Dies hatte zur Folge, dass die Richter, wenn sie das Gebäude verließen, am Fluss entlang unterhalb der Alhambra spazieren gingen. Da sie scheinbar sehr traurig wirkten, gaben die Einwohner der Stadt diesem Weg eben den Namen „Spazierweg der Traurigen“.29 3. Das mediale Ereignis der Eröffnung des Gerichtsjahres■Am 2. Januar eines jeden Jahres wurde das Gebäude der Chancilleria symbolisch durch den Präsidenten mit dem goldenen Schlüssel geöffnet. Anlässlich dieser symbolischen Handlung fuhren der Präsident und alle Oidores in ihren Kutschen durch die Stadt bis zum Platz vor dem Gerichtsgebäude vor. Es waren teilweise bis zu 20 Kutschen, die unterwegs waren und in Form einer Kolonne durch die Stadt zum Gerichtsgebäude fuhren. Begleitet waren diese Kutschen durch die Wachen der Chancilleria, die zu Pferde reitend ihre Amtsornate trugen. Am Gerichtsgebäude angekommen stiegen der Präsident und die Oidores aus den

■ 28 Die Abbildung einer solchen Zeichnung in einer Akte aus einer Privatsammlung findet sich in: Real Chancilleria de Granada, V. Centenario, Granada 2006, S. 192. 29 Gómez-Moreno González, Guia de Granada (wie Anm. 21), S. 299.

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Kutschen, wobei sie sich schreitend Richtung Hauptportal bewegten. Dort hatte der Kanzleivorsteher der Chancilleria die mit Intarsien versehene Holzschatulle auf einem Tisch bereitgestellt, die der Präsident nun öffnete um den goldenen Schlüssel herauszunehmen. Mit diesem schlug er drei Mal auf das Holz des Hauptportals bis er vom Hauptmann der Wache zugerufen bekam: „So walte auch in diesem Jahr deines Amtes und übe Gerechtigkeit im Namen des Königs / der Königin“. Nachdem der Präsident diesen Ausruf vernommen hatte, öffnete er mit dem goldenen Schlüssel das Hauptportal und trat in den Innenhof, begleitet von den Oidores und dem gesamten Personal der Chancilleria. Dieses Ritual wurde alljährlich vollzogen.30 Ähnlich war es am 23. Dezember eines jeden Jahres, an dem der Präsident feierlich das Gerichtsgebäude verschloss. Hierzu versammelten sich wiederum das gesamte Personal der Chancilleria und die Oidores am Hauptportal, durch das sie das Gebäude verließen. Auf dem Platz warteten die Kutschen und Pferde, in die der Präsident, die Oidores und das Personal einsteigen sollten. Der Präsident verschloss das Hauptportal des Gebäudes mit dem goldenen Schlüssel und legte diesen anschließend in die Holzschatulle. Nachdem er diese Handlung vollzogen hatte, kam der Hauptmann der Wache und rief aus: „Nachdem dieses Jahr in diesem Gebäude Gerechtigkeit geübt worden ist, mag es bis zur Wiedereröffnung am 2. Januar ruhen.“31 Diese Ereignisse wurden selbstverständlich von der Bevölkerung und den gesamten Einwohnern beobachtet. Sie hatten symbolischen Charakter und sollten die königliche Gerichtsbarkeit am Ort nach außen hin repräsentieren. Zu diesen Ereignissen kamen auch Würdenträger anderer Städte Andalusiens und kirchliche Vertreter aus Sevilla und Cordoba. 4. Die Prozession■Zu den wichtigsten und aufwändigsten religiösen Festen in Spanien gehört die heilige Karwoche. Die Feiern anlässlich des Todes und der Auferstehung Christi sind ein großes Spektakel, ein religiöses Schauspiel, das vom Palmsonntag bis zum Ostersonntag stattfindet. In Andalusien, dem Sitz Granadas, waren die Festlichkeiten schon immer ausdrucksreich, lebhaft, spontan und farbenfroh. Seit dem Mittelalter nahmen die gesamte Bevölkerung und tausende Besucher aus dem Land an diesen beeindruckenden Festen teil, bei denen Schweigen und Trommelschlag sich abwechseln.32 Das von Palmen und Ölbäumen umgebene Granada schmückt sich zum Palmsonntag und erwacht zu den ersten Trommelwirbeln. Die Tradition der sog. „Semana Santa“ geht auf das 16. Jahrhundert zurück, als die katholische Kirche begann, der Bevölkerung die Passion Christi näher zu bringen.

■ Francisco Andújar Castillo/Manuel Barrios Aguilera, Hombre y territorio en el Reino de Granada (1570–1630): estudios sobre repoblación, Almeria 1995, S. 263f; Valeriano Sanchez Ramos, El Reino De Granada En El Siglo XVII: Almeria 1997, S. 247. 31 Ebda. 32 Zum Ganzen: Alfred Kühn, Das alte Spanien: Landschaft, Geschichte, Kunst, California 1925. 30

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Ab ca. 1530 vollzieht das Personal der Chancilleria in der Karwoche selbst eine eigene Prozession. Sie zieht sich entlang von dreizehn Stationen bis zum Palast Karls V. hin. Der Bau des Palastes wurde 1527 begonnen, aber nie vollendet. Nichts desto trotz zog die Prozession des gesamten Personals der Chancilleria von Beginn an dorthin. Karl V. hatte den Renaissancepalast im Inneren der Alhambra als Zeichen seiner Macht und der Wiederchristianisierung Andalusiens bauen lassen. Die einzelnen Stationen der Prozession umfassten: 1. Puerta de Elvira (Elvirator) 2. Hospital Real (Königliches Hospital) 3. Iglesia de San Jerónimo (Kirche San Jerónimo) 4. Catedral (Kathedrale) 5. Curia (Kuriengebäude, Alte Universität) 6. Iglesia del Sagrario (Kirche Sagrario) 7. Capilla Real (Königliche Kapelle) 8. Madraza (Altes Rathaus) 9. Iglesia de San Matía (Kirche San Matía) 10. Real Chancillería 11. Puerta de las Granadas (Granadator) 12. Pilar de Carlos V (Säule Karls V.) 13. Palacio de Carlos V (Palast Karls V.).33 Dieser Ablauf nannte sich „Itinerario Carolino“, da er unter Karl V. eingeführt worden war. Die erste Station, die Puerta de Elvira, wurde im 11. Jahrhundert errichtet und war Haupttor der Stadt Granada bis zum 16. Jahrhundert. Der zweite Stationspunkt, das königliche Hospital, wurde von den katholischen Königen in Auftrag gegeben für die Pflege und Unterkunft der bei der Reconquista verletzten Soldaten. Ebenso wurde die Kirche San Jerónimo von den katholischen Königen gestiftet. Der Bau der neuen Kathedrale in Granada begann im Jahre 1518 als Zeichen der Wiederchristianisierung der Stadt. Bauherr war zunächst Karl V., der beabsichtigte, Granada durch christliche Wahrzeichen seiner muselmanischen Vergangenheit zu entreißen. Das Gebäude der Curia ist das der alten Universität, die 1524 durch Kaiser Karl V. gegründet worden war. Zunächst als Hohe Schule gegründet, bekam sie 1531 die endgültige Gründungsurkunde. Die Iglesia del Sagrario ist an die Kathedrale angebunden und ebenso die Königliche Kapelle, in der sich heute noch die Gräber der katholischen Könige finden. Das Alte Rathaus und die Kirche St. Matía waren weitere Stationen der Prozession, bevor sie an das Gebäude der Real Chancilleria gelangte und dann durch das Granadator in den Bereich der Alhambra zu treten und an der Säule Karls V. vorbei schließlich zu seinem Palast

■ 33 Die Dokumente des genauen Prozessionsablaufs finden sich heute im Rathausarchiv von Granada.

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zu gelangen. Die Prozession beinhaltete mithin alle wichtigen und mit der Geschichte der Stadt und des Königtums, vor allem Karls V., zusammenhängenden Gebäude. Sie fand einen Tag vor Gründonnerstag statt, so dass sie nicht mit den üblichen Prozessionen der Karwoche zusammenfiel. Dieser Zeitpunkt war bewusst gewählt, um die symbolische Kraft der Prozession des Gerichtspersonals nach außen hin bewusst werden zu lassen.34 5. Die Prozessakte■Im Archiv zur Chancilleria in Granada befinden sich mehrere prunkvoll ausgestattete Prozessakten, die mehrfach farbig ausgestaltete Zeichnungen enthalten.35 Betrachtet man sich die rechtlichen Inhalte dieser Prozessakten, so stellt man fest, dass es sich überwiegend um testamentarische Streitigkeiten um Erbfolge und Nachlass handelt, bzw. um rechtliche Streitigkeiten über Adelstitel und Erhebungen von Ständen in einen höheren Adelsstand. Die Zeichnungen sind aufwändig gestaltet, zum Teil mit goldenpurpurnem Hintergrund, Abbildungen der Muttergottes, des Heiligen Geistes, Heiliger und Engel. Darüber hinaus befinden sich in den Akten jeweils durchgehend die Wappen der beteiligten Prozessparteien. In Akten, in denen es um Erbstreitigkeiten geht, finden sich insbesondere aufwändig gestaltete Stammbäume mit Namensbezeichnungen der Vorfahren der beteiligten Prozessparteien. Alle Zeichnungen enthalten auch die für die Zeit des 16. Jahrhunderts typischen Ornamentikbänder. In einigen dieser Prozessakten findet man auch eine Darstellung der entscheidenden Richter an der Chancilleria, den Oidores. Dargestellt sind vier schwarz gekleidete, mit schwarzen Baretten und weißen Halskrausen bestückte Richter, die auf einer mit einem Teppich versehenen Estrade sitzend unter einem roten Baldachin mit goldenen Fransen gerade die Sitzung abhalten. Des Weiteren sind ein Anwalt und ein Gerichtsschreiber abgebildet. Diese Darstellungen gewähren einen Einblick in die Handlungsweise und in die vorgegebene Sitzeinteilung bei Gericht. Für die Anfertigung dieser Zeichnungen in den Gerichtsakten waren die Gerichtsschreiber an der Chancilleria zuständig. Einige von ihnen hatten eine Ausbildung als Maler und Portraitzeichner erfahren, die es ihnen erlaubte, diese Gerichtsakten entsprechend aufwändig zu gestalten. Natürlich konnten nur reiche Parteien die entsprechenden Akten mit Bildern verzieren lassen. Denn die Zeichnungen wurden von den Gerichtsdienern eigens in Rechnung gestellt. Mehrere solcher Rechnungen und Quittungen sind auch im Archiv der Chancilleria in Granada erhalten, aus denen sich ergibt, dass die beteilig-

■ Zur Prozession: Juan Luis Castellano, Carlos V: Europeísmo y universalidad, Congreso internacional, Bd. 5, Sociedad Estatal para la Conmemoración de los Centenarios de Felipe II y Carlos V., Granada 2001, S. 195. 35 Als Beispiele: Archivo de la Real Chancilleira de Granada, Colección de documentos manuscritos, 01RACH 151-1, 01RACH 4492-0, 01RACH 4343-3, 01RACH 4353-11. 34

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ten Parteien für die angefertigten Gemälde und Zeichnungen finanziell herangezogen wurden.36 Allein die Tatsache, dass sich in Gerichtsakten Zeichnungen und Gemälde der Parteien befinden, ist für sich gesehen noch kein mediales Ereignis. Allerdings ist zu beachten, dass bereits die Ankündigung des Gerichtstermins mit Zeichnungen versehen war, die dann auch Bestandteil der Akte wurden. Solche aufwändig gestalteten Gerichtsaushänge sind mir bis dato in Europa nicht bekannt. Durch den öffentlich gemachten Aushang des Gerichtstermins wurde ein Bestandteil der Akte aber zumindest selbst zum medialen Ereignis.37 6. Schluss■Im Übergang zur Neuzeit und unter der Regentschaft Karls V. und Philipps II. wird dem neuen Gericht in Granada ein monumentalrer Gerichtspalast erbaut. Damit repräsentieren die Herrscher einerseits ihre Machtansprüche hinsichtlich der innehabenden höchsten Gerichtsbarkeit, andererseits dokumentieren sie die Vertretungsmacht des Gerichtes im Hinblick darauf, dass es den König in der Gerichtsbarkeit repräsentiert. Der bereits unter den Katholischen Königen sichtbar gewordene absolutistische Machtanspruch des nun, nach der Vereinigung Kastiliens und Aragons sowie der abgeschlossenen Reconquista, spanischen Königtums manifestiert sich auch und insbesondere durch das mediale Ereignis Gericht. Dieser Umstand bildet Bestandteil der im 16. Jahrhundert verfolgten Politik der spanischen Könige, den Süden, inklusive des manchmal aufsässigen Adels, unter die zentrale Machtausübung des Königtums zu stellen. Monumentale Werke, mediale Inszenierungen der königlichen Organe waren ein Instrument, dieses Vorhaben erfolgreich anzugehen. Die Bevölkerung jedenfalls nahm Kenntnis von den neuen königlichen Einrichtungen und Anteil am Jahresverlauf der richterlichen Arbeit. Damit wurde die iberische Halbinsel endgültig zu einem zentral regierten Königreich mit festen geographischen Zuständigkeitseinteilungen in der königlichen Gerichtsbarkeit. Dies kann allerdings im Hinblick auf die sachliche Zuständigkeit nicht immer behauptet werden.

■ 36 Vgl. nur die erhaltenen Quittungen der Gerichtsschreiber über den erhaltenen Betrag für die „farbige Ausgestaltung“ der Akte, Archivo de la Real Chancilleria de Granada, Colección de documentos administrativos, 01RACH 5678-1. 37 Ein öffentlicher Aushang des Urteils wurde nicht vorgenommen.

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bibliothek altes Reich baR herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal

Als ein innovatives, langfristig angelegtes Forum für Veröffentlichungen zur Geschichte des Alten Reichs setzt sich die „bibliothek altes Reich – baR“ folgende Ziele: – Anregung zur inhaltlichen und methodischen Neuausrichtung der Erforschung des Alten Reichs – Bündelung der Forschungsdiskussion – Popularisierung von Fachwissen – Institutionelle Unabhängigkeit Inhaltliche und methodische Neuausrichtung An erster Stelle ist die Gründung der Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als Impuls für die interdisziplinäre Behandlung der Reichsgeschichte und deren Verknüpfung mit neuen methodischen Ansätzen konzipiert. Innovative methodische Ansätze, etwa aus der Anthropologie, der Geschlechtergeschichte, den Kulturwissenschaften oder der Kommunikationsforschung, wurden in den letzten Jahren zwar mit Gewinn für die Untersuchung verschiedenster Teilaspekte der Geschichte des Alten Reichs genutzt, aber vergleichsweise selten auf das Alte Reich als einen einheitlichen Herrschafts-, Rechts-, Sozial- und Kulturraum bezogen. Die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ ist daher als Forum für Veröffentlichungen gedacht, deren Gegenstand bei unterschiedlichsten methodischen Zugängen und thematischen Schwerpunktsetzungen das Alte Reich als Gesamtzusammenhang ist bzw. auf dieses bezogen bleibt. Bündelung der Forschung Durch die ausschließlich auf die Geschichte des Alten Reichs ausgerichtete Reihe soll das Gewicht des Alten Reichs in der historischen Forschung gestärkt werden. Ein zentrales Anliegen ist die Zusammenführung von Forschungsergebnissen aus unterschiedlichen historischen Subund Nachbardisziplinen wie zum Beispiel der Kunstgeschichte, der Kirchengeschichte, der Wirtschaftsgeschichte, der Geschichte der Juden, der Landes- und der Rechtsgeschichte sowie den Politik-, Literatur- und Kulturwissenschaften. Popularisierung von Fachwissen Die „bibliothek altes Reich – baR“ sieht es auch als ihre Aufgabe an, einen Beitrag zur Wissenspopularisierung zu leisten. Ziel ist es, kurze Wege zwischen wissenschaftlicher Innovation und deren Vermittlung herzustellen. Neben primär an das engere Fachpublikum adressierten Monographien, Sammelbänden und Quelleneditionen publiziert die Reihe „bibliothek altes Reich – baR“ als zweites Standbein auch Bände, die in Anlehnung an das angelsächsische textbook der Systematisierung und Popularisierung vorhandener Wissensbestände dienen. Den Studierenden soll ein möglichst rascher und unmittelbarer Zugang zu Forschungsstand und Forschungskontroversen ermöglicht werden. Institutionelle Unabhängigkeit Zur wissenschaftsorganisatorischen Positionierung der Reihe: Die „bibliothek altes Reich – baR“ versteht sich als ein grundsätzlich institutionsunabhängiges Unternehmen. Unabhängigkeit strebt die „bibliothek altes Reich – baR“ auch in personeller Hinsicht an. Über die Annahme von Manuskripten entscheiden die Herausgeber nicht alleine, sondern auf der Grundlage eines transparenten, nachvollziehbaren peer-review Verfahrens, das in der deutschen Wissenschaft vielfach eingefordert wird.

Band 1 Lesebuch Altes Reich Herausgegeben von Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal 2006. VIII, 283 S. 19 Abb. mit einem ausführlichen Glossar. ISBN 978-3-486-57909-3 Band 2 Wolfgang Burgdorf Ein Weltbild verliert seine Welt Der Untergang des Alten Reiches und die Generation 1806 2. Aufl. 2008. VIII, 390 S. ISBN 978-3-486-58747-0 Band 3 Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich Herausgegeben von Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich 2007. 303 S. ISBN 978-3-486-57910-9 Band 4 Ralf-Peter Fuchs Ein ,Medium zum Frieden‘ Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges 2010. X, 427 S. ISBN 978-3-486-58789-0 Band 5 Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation Herausgegeben von Stephan Wendehorst 2012. ISBN 978-3-486-57911-6 Band 6 Siegrid Westphal, Inken Schmidt-Voges, Anette Baumann Venus und Vulcanus Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit 2011. 276 S. ISBN 978-3-486-57912-3 Band 7 Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte Herausgegeben von Stefan Ehrenpreis, Andreas Gotzmann und Stephan Wendehorst 2012. ISBN 978-3-486-70251-4 Band 8 Pax perpetua Neuere Forschungen zum Frieden in der Frühen Neuzeit Herausgegeben von Inken Schmidt-Voges, Siegrid Westphal, Volker Arnke und Tobias Bartke 2010. 392 S. 2 Abb., ISBN 978-3-486-59820-9 Band 9 Alexander Jendorff Der Tod des Tyrannen. Geschichte und Rezeption der Causa Barthold von Wintzingerode 2012. VIII, 287 S. ISBN 978-3-486-70709-0 Band 10 Thomas Lau Unruhige Städte Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt (1648–1806) 2012. 156 S. ISBN 978-3-486-70757-1 Band 11 Die höchsten Reichsgerichte als mediales Ereignis Herausgegeben von Anja Amend-Traut, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich 2012. 231 S. ISBN 978-3-486-71025-0

Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe

Gian Luca Potestà (Hrsg.)

Autorität und Wahrheit Kirchliche Vorstellungen, Normen und Verfahren (13. bis 15. Jahrhundert) 2012 | XII, 200 Seiten | 8 Abbildungen Pappband | € 49,80 ISBN 978-3-486-70771-7

Schriften des Historischen Kollegs, Bd. 84

Die Beiträge dieses Bandes sind an der Schnittstelle zwischen Kirchen- und Geistesgeschichte anzusiedeln. Während sich im hohen und späten Mittelalter autoritative Instanzen vervielfachen, mit den magistri an den Universitäten neue theologische Kompetenzen heranwachsen, aber auch mit den neuen charismatischen Führern, Propheten und Mystikern den alten Autoritäten Konkurrenz erwächst, entsteht für das kirchliche Establishment, insonderheit das Papsttum, Rechtfertigungsdruck. Jede Autorität hat einen Wahrheitsanspruch. Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit muss neu gestellt, die Dialektik von Autorität und Wahrheit neu überdacht werden.

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Schnittstelle von Kirchen- und Geistesgeschichte

Mit Beiträgen von: David Burr, Duane Henderson, Isabel Iribarren, Deeana Klepper, Robert E. Lerner, Elsa Marmursztejn, Alexander Patschovsky, Sylvain Piron, Gian Luca Potestà, Roberto Rusconi, Pavlina Rychterova, Felicitas Schmieder

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Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe

Thomas Lau

Unruhige Städte Die Stadt, das Reich und die Reichsstadt (1648–1806) 2012 | 156 Seiten | Pappband | € 24,80 ISBN 978-3-486-70757-1

bibliothek altes Reich, Bd. 10

Die Reichsstädte entwickelten sich im Verlauf der Frühen Neuzeit zu Bühnen des Reiches – zu materiellen Verfestigungen eines komplizierten Systems, das hier fassbar, sichtbar und erlebbar wurde. In den Reichsstädten trat das Reich als handlungsfähige Ordnungsinstanz auf. Hier bewies es seine Fähigkeit, Schutz zu garantieren und vor allem Konflikte zu regulieren. Streit war die Grundbefindlichkeit der Reichsstädte. Konflikte zwischen Städten, innerhalb der Städte und zwischen dem Reich und den Reichstädten waren an der Tagesordnung. Sie alle besaßen nicht nur eine lokale, sondern regionale und eine reichspolitische Dimension. Thomas Lau spürt dieser Dimension nach. Er zeigt, wie der Streit der Städte lokale und überregionale Räume dauerhaft miteinander verband und aus den unruhigen Reichsstädten Fabrikationsstätten des Reiches wurden.

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Konflikte, Streit und Krieg in der Stadt Thomas Lau ist Professor am Lehrstuhl für Allgemeine und Schweizer Geschichte der Neuzeit an der Universität Freiburg im Üechtland.

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Joachim Bahlcke

Landesherrschaft, Territorien und Staat in der Frühen Neuzeit 2012 | XIV, 170 Seiten | Broschur € 19,80 ISBN 978-3-486-55046-7

Enzyklopädie deutscher Geschichte, Bd. 91

Die spezifische Staatlichkeit des Alten Reiches, die latente Spannung zwischen Einheit und Vielheit, zwischen Integration und Desintegration, ließ nicht nur manch älteren Staatsdenker, Juristen und Verwaltungspraktiker verzweifeln. Auch die Geschichtsforschung des 19. und 20. Jahrhunderts tat sich mitunter schwer, diese Vorgänge mit der notwendigen Distanz zu beschreiben und zu bewerten. Joachim Bahlcke präsentiert kenntnisreich die allmähliche Umformung spätmittelalterlicher Fürstenherrschaft zum frühneuzeitlichen Territorialstaat in der Zeit zwischen 1500 und 1800, die Historiker heute kurz als Epoche der Staatsbildung bezeichnen. Im Mittelpunkt steht ein Fundamentalprozess, der auf Verdichtung, Verräumlichung und Institutionalisierung von Herrschaft abzielte. Gleichzeitig diskutiert er die verschiedenen Sichtweisen auf die Entwicklung des »Staates« in Deutschland, die oft mehr über den Zeitpunkt ihres Entstehens als über die Vergangenheit aussagen. Die thematisch gegliederte Bibliographie bietet Lehrenden und Studierenden einen Leitfaden durch das umfangreiche Forschungsfeld.

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Gesamtschau über die frühmoderne Staatsbildung Joachim Bahlcke, geboren 1963, ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Stuttgart.

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Geschlechtergeschichte – Frühe Neuzeit Siegrid Westphal, Inken Schmidt-Voges, Anette Baumann

Venus und Vulcanus Ehen und ihre Konflikte in der Frühen Neuzeit 2011 | 273 Seiten | Pappband | € 49,80 ISBN 978-3-486-57912-3

bibliothek altes Reich, Bd. 6

Nicht das Liebespaar Venus und Mars, sondern das Ehepaar Venus und Vulcanus dient als Sinnbild dieser Geschichte ehelicher Konflikte in der Frühen Neuzeit. Das Sozialgefüge »Ehe« veränderte sich in den Jahren von 1500 bis 1800 maßgeblich. Sozioökonomische Notwendigkeiten wurden von emotionalen Bedürfnissen der Ehepartner überlagert; gleichzeitig blieb die theologische Überhöhung der Beziehungsform Ehe bestehen. Diese Gemengelage führte unweigerlich zu einer latenten Krisenanfälligkeit. Die Autorinnen verknüpfen aktuelle Forschungsergebnisse mit vielen Prozessbeispielen aus dem Alten Reich und machen Art, Verlauf und Bewältigung der Konflikte in den drei Phasen – Anbahnung, Bestand und Auflösung einer Ehe – anschaulich. Siegrid Westphal ist Professorin am Interdisziplinären Institut für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. Inken Schmidt-Voges ist wissenschaftliche Assistentin am Lehrstuhl Geschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück. Anette Baumann ist Leiterin der Forschungsstelle der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung in Wetzlar.

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Europäische Erinnerungsorte 1 Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses 2012 | 333 Seiten | 35 Abbildungen Leinen | € 39,80 ISBN 978-3-486-70418-1

Europäische Erinnerungsorte 2 Das Haus Europa 2012 | 626 Seiten | 51 Abbildungen Leinen | € 49,80 ISBN 978-3-486-70419-8

Europäische Erinnerungsorte 3 Europa und die Welt 2012 | 290 Seiten | 20 Abbildungen Leinen | € 39,80 ISBN 978-3-486-70822-6

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Europäische Erinnerungsorte Band 1-3 Herausgegeben von Pim den Boer, Heinz Duchhardt, Georg Kreis und Wolfgang Schmale

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Diese vielfältigen und spannungsreichen »Europäischen Erinnerungsorte« – von Christentum und Menschenrechten über Wittenberg und Istanbul bis zum Kaffeehaus und zum Konzert der Mächte – sind sehr viel mehr als eine Addition von einzelnen Nationalgeschichten: Sie eröffnen Zugänge zu jenen Mythen und Erbschaften, Erfahrungsräumen und Leitmotiven, die nur aus der Verflechtung und den multilateralen Bedeutungen, der Vielfalt und Vielstimmigkeit europäischer Geschichten zu verstehen sind. Und liegt nicht genau darin das europäische an der europäischen Geschichte? Jörn Leonhard, Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS)

Europa: Mythos und Konzept

Eine Vielzahl von Erinnerungsorten, die für Europäer aller Länder eine Bedeutung haben, denken wir mit, wenn wir Europa sagen.

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