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German Pages 296 Year 2018
Philipp Kamps Wahrnehmung – Ereignis – Materialität
Theater | Band 115
Philipp Kamps, geb. 1986, ist Lehrkraft für besondere Aufgaben am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in der Abteilung Literatur- und Mediendidaktik mit dem Schwerpunkt Theaterdidaktik. Weitere Arbeits- und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Ästhetischen und Kulturellen Bildung sowie im Bereich der Narratologie.
Philipp Kamps
Wahrnehmung – Ereignis – Materialität Ein phänomenologischer Zugang für die Theaterdidaktik
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Inhalt
Wahrnehmungen im Theater. Eine Einleitung | 7 1
Theaterdidaktik – Orientierung, Definition und Desiderat | 11
1.1 Erste Orientierung: zwischen Drama und Aufführung | 12 1.2 Zum Begriff der Theaterdidaktik | 20 1.3 Konkretisierung: Theaterdidaktik als Ergänzung der Dramendidaktik | 25 1.3.1 Produktion von Aufführungen | 26 1.3.2 Rezeption von Aufführungen: dramendidaktisch perspektiviert | 27 1.3.3 Rezeption von Aufführungen: theaterdidaktisch perspektiviert | 35 1.4 Theaterdidaktik: Ausgangspunkte der weiteren Überlegungen | 56 Das Theater von der Wahrnehmung her beschreiben | 59 2.1 Die Theatersituation | 60 2.2 Inszenierung und Aufführung | 62 2.2.1 Inszenierung | 63 2.2.2 Aufführung | 65 2.3 Die Aufführung – Fokussierung | 69 2.3.1 Theatralität | 69 2.3.2 Performativität | 72 2.3.3 Ereignishaftigkeit | 82 2.4 Theaterwissenschaftliche Zugänge zur Theateraufführung | 91 2.4.1 Theatersemiotischer Zugang | 91 2.4.2 Übergänge: Zwischen Bühne und Zuschauerraum | 102 2.4.3 Phänomenologischer Zugang | 110 2.5 Das Theater von der Wahrnehmung her beschreiben: Resultate | 119 2
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Wahrnehmung, Ereignis, Materialität: Die Aufführung im Licht der Phänomenologie | 123
3.1 Der Stil der Phänomenologie | 125 3.2 Wahrnehmung: intentional, leiblich, responsiv | 131 3.2.1 Intentionalität der Wahrnehmung | 131 3.2.2 Leiblichkeit der Wahrnehmung | 143
3.2.3 Responsivität der Wahrnehmung | 154 3.2.4 Subjektivität – Objektivität – Intersubjektivität | 169 3.3 Methode – Phänomenologische Epoché und Reduktionen | 171 3.3.1 Phänomenologische Epoché | 172 3.3.2 Theaterdidaktische Perspektiven | 179 3.4 Materialität der Aufführung | 180 3.4.1 Material und Materialität | 181 3.4.2 Leib und Präsenz | 186 3.4.3 Raum und Atmosphäre | 192 3.4.4 Laut und Klang | 199 3.4.5 Zeit und Rhythmus | 202 3.4.6 Theaterdidaktische Perspektiven | 208 3.5 Wahrnehmung, Ereignis, Materialität: Resultate | 211 4
Modellierung eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung im theaterdidaktischen Kontext | 215
4.1 Grundlegende Prämissen | 216 4.1.1 Spannungsfelder | 217 4.1.2 Konzeptuelle Überlegungen | 224 4.1.3 Grundanliegen der Phänomenologie | 231 4.2 Ziele | 237 4.2.1 Sondierung und Differenzierung: Die Theateraufführung wahrnehmen | 238 4.3 Methodische Aspekte | 254 4.3.1 Möglichkeiten der Sensibilisierung | 255 4.3.2 Möglichkeiten der Wahrnehmung von Aufführungen | 257 4.3.3 Möglichkeiten der Fixierung | 261 4.3.4 Möglichkeit des Gesprächs | 267 4.3.5 Möglichkeiten der Reflexion und der weiteren Auseinandersetzung | 274 5
Resümee | 279
Literatur | 283
Wahrnehmungen im Theater. Eine Einleitung
Zu den Aufgaben, denen sich Lehramtsstudenten1 des Faches Deutsch an der Universität Münster stellen müssen, wenn sie ein Seminar mit theaterdidaktischem Schwerpunkt gewählt haben, gehört der Besuch von Theateraufführungen, der für viele der jungen Studenten zugleich auch den Erstkontakt mit dem Theater und seiner Aufführungsdimension darstellt. Dabei lassen sich Beobachtungen machen, die in besonderer Weise die Herausforderungen aufzeigen, die die Wahrnehmung einer Theateraufführung stellt. So etwa jene Beobachtung: Nach dem Besuch einer Aufführung von Friedrich Schillers Die Räuber im Stadttheater Münster sitzt die Seminargruppe noch in gemütlicher Runde zusammen, um über das Gesehene ins Gespräch zu kommen und die unmittelbaren Wahrnehmungseindrücke auszutauschen. Die Inszenierung war turbulent, Feuer auf der Bühne, es gab viel zu sehen und zu hören. Mit Witz und großen Effekten wurde gespielt, das Publikum war begeistert. Nicht so aber ein Student der Gruppe, der im Anschluss an den Aufführungsbesuch äußerte, er habe den Abend nicht genießen können. Der Grund dafür: »Ich hatte die ganze Zeit Angst, jemand könnte sich ausziehen.« Plötzlich pflichten ihm auch andere Studenten darin bei, dass auch sie diese Angst gehabt hätten. Erleichtert ziehen sie das Fazit: »Zum Glück lief niemand nackt über die Bühne!« Eine zweite Beobachtung in einem anderen Seminar: Die Seminargruppe sitzt in einer Aufführung von Ulrich Hubs An der Arche um Acht, die sich ganz explizit an Grundschulklassen richtet. Die Schüler sind vergnügt, kommentieren laut das Geschehen auf der Bühne und weisen ihre Nachbarn auf interessante Beobachtungen oder spannende Situationen hin. Im Zuschauerraum herrscht
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In diesem Buch sollen – sofern nicht anders gekennzeichnet – mit dem generischen Maskulinum immer beide Geschlechter gemeint sein, also sowohl Männer als auch Frauen, aber auch Personen, die sich keiner dieser beiden Kategorien zugehörig fühlen.
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Tumult und einige Schüler erheben sich von ihren Plätzen, um näher an die Bühne zu kommen. Eine Lehrerin, die dies beobachtet, zerrt die Kinder zurück auf ihre Plätze, legt den Zeigefinger auf ihren Mund und mahnt mit einem deutlich hörbaren und scharfen »Psst!« die Kinder zur Ruhe. Diese Beobachtungen zeigen bereits viel von dem, was die Aufführungsdimension des Theaters ausmacht. Denn die erste Beobachtung verweist darauf, dass die erwartete oder reale Konfrontation mit Körperlichkeit im Theater als etwas unmittelbar Präsentes wahrgenommen wird. Bei allem Wissen um und bei aller Auseinandersetzung mit der Theatersituation ruft diese offenbar im Moment der Wahrnehmung eine sehr präsente Angst oder zumindest ein gehöriges Unwohlsein hervor. Dies irritiert nun aber gerade deshalb, weil Körperlichkeit außerhalb des Theaters alltäglich und in nahezu allen medialen Formen abgebildet wird: Werbung, Fernsehformate oder das Internet – die Darstellung von mehr oder weniger bekleideten Männern und Frauen ist nichts, mit dem die Studenten im Theater zum ersten Mal in Berührung kämen. Und dennoch war die bloße Erwartung einer Konfrontation mit nackten Körpern etwas, das die Rezeption der Theateraufführung einiger Studenten nachhaltig bestimmte. Die Frage war in diesem Moment nicht, ob der nackte Körper irgendetwas bedeuten könnte, ob er zur Inszenierung passt oder ein zugrunde liegendes Drama vorgibt, dass eine Figur an einer bestimmten Stelle nackt zu sein habe. Die Frage war, wie einer Konfrontation mit Körperlichkeit und mit einem Körper, der sich in seinem Sosein den Zuschauern aussetzt, begegnet werden soll. Dies zu beantworten, fiel den Studenten scheinbar schwer, ohne dass sie zu diesem Zeitpunkt und unmittelbar im Anschluss an die Aufführung bereits genauer hätten sagen können, was es war, das ihnen schwer fiel, und wo die Gründe dafür zu suchen sind. Die zweite Beobachtung hingegen irritiert, weil die Lehrerin Reaktionen der Schüler unterband, die von der Aufführung hervorgerufen wurden. Tatsächlich war in dem Moment, in dem die Schüler ihre Plätze verließen, auf der Bühne ein sehr kleiner Schmetterling zu sehen, der aus dem verschlossenen Orchestergraben durch ein Loch in Bewegung versetzt wurde. Um dies beobachten zu können, mussten die Schüler ihre Plätze verlassen. Sie wurden dazu herausgefordert, sich zu bewegen und zu einem gewissen Grad auch selbst zu Spielern zu werden. Dem stand die Intervention der Lehrerin gegenüber, die vielleicht davon geprägt war, eine angemessene Rezeptionshaltung der Schüler im Theater zu sichern: eine Haltung, die darauf ausgerichtet ist, das Geschehen auf der Bühne als das im Theater Relevante ruhig und aufmerksam zu verfolgen. Der Anspruch der Aufführung steht in diesem Fall einem Rezeptionsideal gegenüber, das die auch körperliche Reaktion auf diesen Anspruch als unangemessen unterbindet.
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Während die Irritation im ersten Fall auf die Frage nach den Eigenschaften des Theaters verweist, geht es im zweiten Fall vor allem darum, wie im Kontext des schulischen Aufführungsbesuches mit dem Theater als Gegenstand des Deutschunterrichts umgegangen werden sollte. Beide Aspekte, die miteinander verbunden sind, motivieren und strukturieren die Überlegungen der vorliegenden Arbeit, deren Resultat die Modellierung eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung im Kontext einer Theaterdidaktik sein wird, in der die Wahrnehmung von Theateraufführungen im Mittelpunkt steht. Dabei kann auf Vorarbeiten aus der Theaterwissenschaft zurückgegriffen werden, denn dort wird ein phänomenologischer Zugang bereits angedacht und zur Beschreibung der Wahrnehmung im Theater nutzbar gemacht. Zwei Perspektiven auf die Wahrnehmung des Menschen gibt die Phänomenologie von ihren philosophischen Ursprüngen her den folgenden Überlegungen vor: Einerseits sollen Aussagen darüber ermöglicht werden, was anhand der Analyse der Wahrnehmung über die Wahrnehmung selbst gesagt werden kann, andererseits soll eine größere Klarheit darüber gewonnen werden, was der Gegenstand der Wahrnehmung von sich selbst her zeigt. Diese Perspektiven gilt es damit auch in der vorliegenden Arbeit aufzugreifen. Bevor aber überhaupt auf theaterwissenschaftliche Theorien und Konzepte zurückgegriffen wird, ist zum Zwecke der Verortung zunächst der theaterdidaktische Forschungsstand daraufhin zu überprüfen, ob sich nicht bereits hier Konzepte und Modelle finden, die einen schulischen Umgang mit dem Theater – genauer: mit der Wahrnehmung der Theateraufführung – ermöglichen. Dabei ist auch zu klären, was die theaterdidaktische Forschungsperspektive ausmacht und welches Verständnis von Theaterdidaktik der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. Dies geschieht im ersten Kapitel. Im zweiten Kapitel ist es insofern möglich, erste Schritte zur Beseitigung der zu Beginn festgestellten Irritationen zu unternehmen, als darin das Theater von der Wahrnehmung her bestimmt und die Theateraufführung mit ihren wesentlichen Eigenschaften vor dem Hintergrund der Theatertheorie als Gegenstand der Theaterdidaktik herausgestellt werden kann. In diesem Zuge werden auch die zwei in der Theaterwissenschaft vorhandenen wesentlichen Zugänge zur Theateraufführung, der theatersemiotische und der phänomenologische Zugang, aus didaktischer Perspektive gegenübergestellt und erläutert. Da sich jedoch zeigen wird, dass diese Erläuterung nicht alle offenen Fragen auszuräumen vermag, die vor der Modellierung eines phänomenologischen Zugangs im Kontext der Theaterdidaktik beantwortet werden müssen, wird das dritte Kapitel sich der Auseinandersetzung mit einem Bedingungsgefüge widmen, das im Zusammenhang mit der Theateraufführung als zentral erachtet werden kann: dem Bedingungsgefüge von Wahrnehmung, Ereignis und Ma-
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terialität. Dabei wird die phänomenologische Basis des zu modellierenden Zugangs ebenso erläutert wie die materiellen Bestandteile der Theateraufführung, die in Körperlichkeit, Lautlichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit gesehen werden können. Abschließend lassen sich die Überlegungen in der Modellierung eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung im Kontext der Theaterdidaktik zusammenführen. Das vierte Kapitel, in dem diese Modellierung vorgenommen wird, nennt dazu neben den grundlegenden Prämissen dieses Modells auch Ziele und methodische Aspekte im Hinblick auf eine mögliche Umsetzung in Schule und Unterricht. Auf diese Weise werden im Laufe der folgenden Überlegungen jene Irritationen ausgeräumt, die ihre Entstehung motiviert haben. Dadurch soll einerseits die theaterdidaktische Forschung bereichert und weitergeführt werden, andererseits aber auch ein Beitrag zur weiteren Etablierung eines phänomenologischen Zugangs in der Literatur- und Mediendidaktik insgesamt geleistet werden, der die Wahrnehmung der Schüler nicht als notwendigen Ausgangspunkt kognitiver Reflexion über den Gegenstand ansieht, sondern der in der Wahrnehmung selbst einen Zugang zur Erkenntnis der Gegenstände sieht.
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Theaterdidaktik – Orientierung, Definition und Desiderat
Die in dieser Arbeit anzustellenden Überlegungen nehmen ihren Ausgang in einer Erkundung der Theaterdidaktik, die sich im Kontext der Literatur- und Mediendidaktik erst seit vergleichsweise kurzer Zeit zu etablieren beginnt. So kann bislang von einer einheitlichen Theaterdidaktik nicht die Rede sein, denn weder besteht ein konsensfähiger Begriff dessen, was Theaterdidaktik ist, noch ist ausreichend geklärt, inwiefern sich theaterdidaktische Forschung von anderen Bereichen der Literatur- und Mediendidaktik wie etwa der Dramendidaktik abzusetzen vermag. In diesem ersten Kapitel ist daher darzulegen, welcher Begriff von Theaterdidaktik der Arbeit zugrunde liegt, um auf diese Weise das Desiderat bestimmen zu können, das bearbeitet wird. Durch eine kritische Lektüre bereits vorhandener Ordnungsversuche in literatur- und mediendidaktischen Konzepten zum Umgang sowohl mit dem Drama als auch mit dem Theater wird zunächst gezeigt, welche Möglichkeiten des Zugriffes auf den Dramentext und die Theateraufführung bzw. -inszenierung die Didaktik bislang bereitstellt.1 Zu diesem Zweck kann vor allem auf den umfangreichen, »ordnenden, systematisierenden Zugriff« auf die Konzepte der Dramendidaktik zurückgegriffen werden, den Gabriela Paule in ihrer Habilitationsschrift Kultur des Zuschauens vorgenommen hat, aus der aber in dieser Arbeit nur jene Konzepte aufgegriffen werden, die auch die theatrale Dimension mit oder ohne Bezug zum Drama berücksichtigen.2 So ist etwa die Auseinandersetzung mit der Vielzahl der dramen1
Die für die Überlegungen dieser Arbeit unverzichtbare Differenzierung des Theaterbegriffes in Inszenierung einerseits und Aufführung andererseits wird im zweiten Kapitel vorgenommen und erläutert. Sie stellt an dieser Stelle noch keine Notwendigkeit dar. Zu dieser Differenzierung vgl. auch 2.1.5.
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Vgl. die weit umfassendere Darstellung dramendidaktischer Konzepte bei PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 65ff.
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didaktischen Konzepte, die das Drama als reines Lesedrama auffassen, für die Definition der Theaterdidaktik, wie sie in der vorliegenden Arbeit vorgenommen wird, nicht relevant und unterbleibt daher im weiteren Verlauf. Vielmehr wird nach der ersten Bestandsaufnahme in Ergänzung bereits vorhandener Vorschläge nach einer Definition von Theaterdidaktik gefragt und ein eigener Vorschlag gemacht, bei dem die Theateraufführung in den Mittelpunkt gestellt wird. Diese Begriffsdefinition wird schließlich anhand einer Skizze theaterdidaktischer Positionen inhaltlich geschärft, wobei die Aspekte der Produktion und Rezeption unterschieden werden. Eine Zusammenführung der Ergebnisse, die in die Benennung des zu bearbeitenden theaterdidaktischen Forschungsdesiderates mündet, schließt die Überlegungen dieses ersten Kapitels ab.
1.1 ERSTE ORIENTIERUNG: ZWISCHEN DRAMA UND AUFFÜHRUNG Bis in die jüngere Gegenwart hinein werden Drama und Theater innerhalb der Literatur- und Mediendidaktik ausschließlich im Rahmen dramendidaktischer Überlegungen behandelt. Ein erster Ordnungsversuch, der die Vielzahl der didaktischen Konzepte zum Umgang mit Drama und Theater zusammenführt, findet sich jedoch bereits 1978 bei Harro Müller-Michaels, der die damals vorhandenen dramendidaktischen Positionen in fünf Gruppen einteilt: in den strukturorientierten Lehrgang, den lernzielorientierten und den projektorientierten Dramenunterricht, den Schwerpunkt Drama und Theater und den handlungsorientierten Unterricht zum Drama.3 Zwar benennt er die Verbindung von Drama und Theater als eine mögliche Perspektive der Dramendidaktik, seinem Ordnungsversuch fehlt allerdings die Systematik, wenn zum Beispiel neben einem methodischen Zugriff gleichberechtigt Vorschläge zu Unterrichtsformen und Zielen gattungstheoretischer Auseinandersetzung versammelt sind.4 Auch dem Ordnungsversuch, den Franz-Josef Payrhuber 19985 anstellt, fehlt eine einheitliche Systematik. Die Gruppe der Gattungsspezifischen Umgangsmethoden theaterpädagogischer Konzepte akzentuieren das dramatische Spiel, während Payrhuber unter dem Schlagwort der Aufführungsbezogenen Lektüre seinen eigenen Ansatz erläutert, der »alle theaterorientierten Methoden im Umgang mit
3
Vgl. MÜLLER-MICHAELS: »Drama«, S. 14ff.
4
Zu einer ausführlicheren Kritik an diesem Ordnungsversuch vgl. auch PAULE: Kultur
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Vgl. PAYRHUBER: »Dramen im Unterricht«, S. 660ff.
des Zuschauens, S. 65.
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dem Drama [subsumiert] und zugleich [besagt], dass bei keiner dieser Verfahrensweisen der literarische Text selbst aus dem Blick verloren werden darf«6. Wie Müller-Michaels schlägt auch Payrhuber produktive Umgangsformen als methodische Zugriffe vor, die sowohl bei den theaterpädagogischen Konzepten als auch bei der Aufführungsbezogenen Lektüre zur Anwendung kommen können und daher nicht notwendigerweise eigens aufgeführt werden müssten. Klaus-Michael Bogdal und Clemens Kammler unterscheiden 2002 in ihrem Ordnungsversuch zwischen pädagogischem, gattungstheoretischem, theaterpädagogischem und produktionsorientiertem Ansatz. 7 Zwar stellt diese Einteilung im Falle der ersten drei Ansätze klar den jeweiligen didaktischen Zugriff heraus, wie bei Müller-Michaels und Payrhuber aber stellt der letzte Ansatz einen methodischen Zugriff dar, der in jedem der didaktischen Ansätze zur Anwendung kommen kann. Hans Lösener geht schließlich bei seinem Vorschlag aus dem Jahr 2005 von drei Ebenen der Inszenierung aus: der Ebene der impliziten Inszenierung des Textes, der Ebene der mentalen Inszenierung in der Vorstellungsbildung und der Ebene der aufgeführten Inszenierung auf der Bühne.8 Die erste Ebene der impliziten Inszenierung umfasst Lösener zufolge textorientierte Unterrichtskonzepte, in denen es nicht darum geht, die im Haupt- oder Nebentext vorhandenen Anweisungen für theatrale Realisierungen abzulesen, sondern darum, die Textelemente auf die »Behandlung der verschiedenen Inszenierungsgrößen (Sprache, Bewegung, Gebärden, Sprechweisen etc.)«9 hin zu befragen. Ziel der textorientierten Verfahrensweisen sei es, »Pausen, Tempowechsel, Überraschungseffekte, Bewegungen im Raum, Körperhaltungen und -aktionen, Sprechweisen und Sprechhaltungen etc., also wesentliche Parameter, die den ›Rhythmus‹ einer Inszenierung ausmachen, aus der internen Gliederung der einzelnen Repliken im dialogischen Gefüge«10 herauszubilden, um mit dem Rhythmus das entscheidende Bindeglied thematisieren zu können, das implizite, mentale und aufgeführte Inszenierung miteinander verbindet. Auf dieser Ebene wird der Dramentext somit nicht auf Spielanweisungen hin befragt, sondern auf den Wert eines bestimmten Elementes des Dramas im Textzusammenhang. Die Ebene der mentalen Inszenierung umfasst vor allem produktionsorientierte Konzepte der Dramendidaktik, die das »Erlesen der textuellen Inszenierung in der Lektüre«11 un6
Ebd., S. 663.
7
Vgl. BOGDAL/KAMMLER: »Dramendidaktik«.
8
Vgl. LÖSENER: »Konzepte der Dramendidaktik«.
9
Ebd., S. 302.
10 Ebd., S. 303. 11 Ebd., S. 300.
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terstützen. Die mentale Inszenierung entspringt dabei »aus der dialektischen Beziehung zwischen der impliziten Inszenierung des Textes und den vorgegebenen und geschaffenen Modalitäten des Lesens«12. Dazu werden etwa die Tätigkeiten des Regisseurs oder Schauspielers auf der Grundlage einer Verknüpfung von Wissen über das Theater einerseits und der Reflexion über die implizite Inszenierung andererseits simuliert, wobei nicht unbedingt auch szenisch gearbeitet wird, sondern das bessere Verständnis des Dramatischen und das Lesen des Dramas »sozusagen mit dem Zuschauerblick« erreicht werden soll.13 Da die bereits genannten Ebenen der Inszenierung, die der impliziten und die der mentalen Inszenierung, die aufgeführte Inszenierung noch nicht berücksichtigt haben, fasst Lösener dazugehörige Konzepte eigens zusammen. Er identifiziert als Elemente der aufgeführten Inszenierung vor allem theatersemiotische Aspekte wie die Bühnenbearbeitung eines Stückes, die Besetzung der Rollen, die Herstellung des Bühnenbildes, die Bereitstellung von Requisiten, das Anfertigen der Kostüme und die Regiearbeit.14 Im Vergleich zu den anderen Ebenen der Inszenierung wird die szenische Arbeit hier jedoch nicht nur simuliert, sondern tatsächlich geleistet. Die theatralen Mittel kommen zum Einsatz und werden hinsichtlich ihrer Wirkung in Bezug auf den zugrunde liegenden Text befragt. Unter den spielorientierten dramendidaktischen Konzepten, die sich vor allem durchgesetzt haben, ist die szenische Interpretation zu nennen, die maßgeblich von Ingo Scheller und Albrecht Schau entwickelt worden ist.15 Die bislang skizzierten Ordnungsversuche zur Systematisierung dramendidaktischer Konzepte zeigen, dass darin bereits die Dimension des aufgeführten Dramas Berücksichtigung findet. Klaus Göbel spricht in diesem Zusammenhang vom Dramentext als der »Partitur« einer szenischen Realisierung, »die erst in der Versinnlichung das zeigt, was sie ist«.16 Die Bezugnahme auf den Prozess der Transformation des Textes in die Form der Aufführung und die anschließende Realisierung vor einem konkreten Publikum stellen demnach aus dramendidaktischer Sicht den adäquaten Umgang mit dem Dramentext dar. Die alleinige Fokussierung auf das Drama als »Lesestoff« hingegen »fördert hinfort die Rezeptionsunfähigkeit von diesen Textpartituren, da die spezifische Kommunikationsstruktur, das Zeichensystem von szenischen Texten von Anfang an außer acht 12 Ebd., S. 301. 13 Vgl. dazu auch die Ausführungen bei PAULE: »Didaktik und Ästhetik des Theaters«, S. 161. 14 Vgl. LÖSENER: »Konzepte der Dramendidaktik«, S. 298. 15 Vgl. SCHELLER: »Szenische Interpretation«; SCHAU: Szenisches Interpretieren. Ein literaturdidaktisches Handbuch. 16 Vgl. GÖBEL: »Drama und Theatralität«, S. 18.
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bleibt«.17 Durch die Herstellung der Verbindung zwischen Text und Aufführung, so die Überzeugung Göbels, vertiefen Schüler nicht nur ihre Kenntnisse über den Dramentext, der einer Aufführung zugrunde liegt, sondern lernen zugleich auch das Zuschauen im Theater. Die Aufführung als eigenständigen, von der Textgrundlage unabhängigen Gegenstand nehmen die dramendidaktischen Konzepte indes, wenn überhaupt, dann nur bezogen auf eine eigene Bühnenrealisation in den Blick. Erst in ihrer 2008 erschienenen Dramen- und Theaterdidaktik unterscheiden Rudolf Denk und Thomas Möbius erstmals zwischen der Orientierung am Drama einerseits und am Theater andererseits und formulieren den Anspruch, »Dramen- und Theatralitätsansätze gleichwertig als Lehr- und Lernpotenzial zu begreifen«18. Lernende sollen demnach »von vornherein und unmissverständlich die unauflösliche und spannungsvolle Verknüpfung von dramatischen Texten mit den Dimensionen des Szenisch-Theatralischen entdecken, beschreiben, definieren und diskutieren«19. Fachdidaktischen Ordnungsversuchen insgesamt unterstellen Denk und Möbius die Vernachlässigung von Drama und Theater, was sie fordern lässt, »Veranschaulichungswege und Strategien« zu entwickeln, »welche die Lernenden auf die kulturellen Phänomene ›Drama‹ und ›Theater‹ […] vorbereiten, indem sie eine umfassende Theatralitätskompetenz der Heranwachsenden ausbilden«.20 Ihre Systematisierung von Konzepten der Dramenvermittlung von 1945 bis 2007 konzipieren die Autoren chronologisch, identifizieren zugleich jedoch didaktische Ziele, denen sich Konzepte eines bestimmten Zeitraums zuweisen ließen.21 Die Veröffentlichungen der 1950er Jahre seien von der »Gattungslehre als Einführungen in die Strukturen des Dramatischen und das Theatralische als Kunstform«22 geprägt. Als Gegenmodell zu den »eher kognitiv und auf inhaltlich-thematische bzw. formal-kategoriale Aspekte« ausgerichteten gattungstheoretischen Positionen gelten Denk und Möbius die Konzepte des
17 Vgl. ebd. 18 DENK/MÖBIUS: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 14. 19 Ebd., S. 16. 20 Vgl. ebd., S. 23. 21 Vgl. DENK/MÖBIUS: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 83ff. 22 Ebd. Allerdings ist anzumerken, dass Denk und Möbius dem Aspekt der Gattungslehre, den sie vor allem in den 1950er und 1960er Jahren vertreten sehen, Konzepte zuweisen, die sämtlich nach diesem Zeitraum entstanden sind. Vgl.: NOBIS: Einführung in die strukturale Dramenanalyse; MÜLLER-MICHAELS: Dramatische Werke im Deutschunterricht; KLEINSCHMIDT: »Das Drama im literarischen Unterricht der Grund- und Hauptschule«; STOCKER: Die dramatischen Formen in didaktischer Sicht.
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Darstellenden Spiels.23 In ihnen gehe es darum, »die affektiven Aspekte des dramatischen Textes« sowie »die Spielorientierung und die Wahrnehmung und Umsetzung des Prinzips des ›Theatralischen‹« zu akzentuieren und mit »dem Aspekt der Form des non-verbalen Ausdrucks« einen bis in die 1970er Jahre hinein unberücksichtigten Akzent in didaktische Überlegungen einzubeziehen.24 Denk und Möbius verweisen hier vor allem auf den Ansatz Herta-Elisabeth Renks, die über die Erarbeitung grundlegender theatralischer Ausdrucksformen wie der Handlungsführung, der Personendarstellung oder der dramatischen Rede sowie non-verbaler Formen wie der Körpersprache, der Mimik oder des Bühnenbildes das Theater als Kommunikationssystem zu vermitteln sucht.25 Daneben nennen sie ebenfalls das Konzept der Szenischen Interpretation.26 Als theaterpädagogische Konzepte bezeichnen Denk und Möbius solche, »die auf praktische Weise in das Theaterspielen einführen wollen und eine prozessorientierte, ganzheitlich verstandene ›Theaterarbeit‹« zum Ziel haben, »die das Spiel didaktisch multifunktional bewertet«.27 Mit einem Abschnitt über die Aufführungsbezogene Lektüre beziehen sich die Autoren zunächst auf Payrhuber, verweisen aber auch auf Walter Beimdick, Roland Haas und Heiner Willenberg, ohne jedoch die Spezifika der Modelle herauszustellen.28 Zuletzt nennen sie produktionsorientierte Ansätze, welche die Autoren selbst allerdings wegen der schwierigen Unterscheidung als »›eher‹ produktionsorientiert«29 bezeichnen. Insgesamt folgen sie damit früheren, dramendidaktisch motivierten Ordnungsversuchen, was ihrer Ausrichtung auf die Erschließung des Dramas entspricht.30
23 Vgl. DENK/MÖBIUS: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 88. 24 Vgl. ebd. 25 Vgl. RENK: Dramatische Texte im Unterricht. 26 Vgl. neben dem oben bereits genannten Artikel Schellers auch SCHELLER: Szenische Interpretation. 27 Vgl. DENK/MÖBIUS: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 91. 28 Vgl. BEIMDICK: Theater und Schule; HAAS/WILLENBERG: Theater lesen, sehen, spielen. 29 DENK/MÖBIUS: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 94ff. Diese Kategorie ist deshalb diskussionswürdig, weil die Produktionsorientierung einen methodischen Zugriff darstellt, der auch in den bereits von den Autoren genannten Konzepten zur Anwendung kommen kann. Die Zuordnung der hier versammelten Ansätze zu den übrigen didaktischen Konzeptionen wäre daher sinnvoll. Vgl. PIELOW: »Produktionsprojekt: Ein Theaterstück«; FROMMER: Lesen und Inszenieren; WALDMANN: Produktiver Umgang mit dem Drama. 30 Vgl. dazu ausführlich 1.3.2.
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In Anlehnung an die Ordnungsversuche von Bogdal/Kammler und Denk/Möbius legen Ulf Abraham und Matthis Kepser in ihrer Einführung in die Literaturdidaktik Deutsch eine Unterscheidung dramendidaktischer Konzepte in die bereits bekannten Gruppen der Gattungslehre, der Theater- und Spielpädagogik, der Produktionsorientierung und der Aufführungsbezogenen Lektüre vor. 31 Darüber hinaus aber erwähnen sie »Konzepte, die von einer schul- bzw. unterrichtsspezifischen Rezeptionssituation ausgehen und im Sinn einer mentalen Inszenierung eine aufführungsbezogene Lektürepraxis entwickeln«32. Nach Paules Plädoyer für eine Theaterdidaktik zwischen Textlektüre und Aufführungsrezeption stellt dies die erste Aufnahme der Rezeption auch von professionellen Theateraufführungen in das Repertoire dramendidaktischer Konzepte dar.33 Christian Dawidowski sieht in seiner Literaturdidaktik Deutsch bezogen auf den Umgang mit Drama und Theater zwei Bereiche in Konkurrenz zueinander, die er nach ihren Zielsetzungen »dramendidaktisch« und »theaterpädagogisch« nennt.34 Während er die der Dramendidaktik zugeordnete »Dramenanalyse im textbasierten Sinn […] im Deutschunterricht« verortet, habe »die praktische Umsetzung im aufführungsbezogenen Sinn ihren Ort im Fach ›Darstellendes Spiel‹ oder ›Literatur‹«.35 Dramendidaktik ziele demnach auf die Erschließung literaturwissenschaftlicher Kategorien ab, »die auf kognitivem Wege erschlossen werden sollen« und zur Erarbeitung gattungsbezogener Elemente, epochaler Bezüge und zur »Erschließung der sinnstiftenden Dimension des Dramas« dienen.36 Im Gegensatz dazu nennt er die theaterpädagogischen Zielsetzungen auch aufführungsbezogen und sieht sie auf die theatralen und aisthetischen Elemente des Theaters hin ausgerichtet.37 Wichtig für die Orientierung innerhalb der Ordnungsversuche zwischen Drama und Aufführung ist dabei, dass Dawidowski die aufführungsbezogenen Zielsetzungen des Deutschunterrichts an die Theaterwissenschaft bindet und sowohl »den Handlungsvollzug der Spielhandlung im Moment der Aufführung auf der Bühne« als auch die »Rezeptionshandlung durch das Theaterpublikum« von der Dramendidaktik gesondert aufführt.38 31 Vgl. ABRAHAM/KEPSER: Literaturdidaktik Deutsch. Eine Einführung. 32 Ebd., S. 200. 33 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 65. Zu Paules Konzept vgl. 1.3.3. 34 Vgl. DAWIDOWSKI: Literaturdidaktik Deutsch, S. 222f. 35 Vgl. ebd. 36 Vgl. ebd., S. 223. 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. ebd., S. 223ff. Allerdings bezieht Dawidowski sich später nur noch auf die textbezogenen Modelle der Dramendidaktik, die er um Modelle der Handlungs- und Produktionsorientierung und der simulierten Aufführung erweitert.
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Die Analyse der didaktischen Ordnungsversuche zeigt somit unterschiedliche didaktische Zugriffe auf Drama und Theater, die sich noch einmal zusammenfassen lassen: Der dramatische Text kann erstens als Lesedrama behandelt und damit die Textebene fokussiert werden. Darüber hinaus kann der Dramentext zweitens als Partitur der Aufführung verstanden werden, wobei die Dramenanalyse die theatrale Dimension dieser Partitur sowohl mit dem Ziel einer dramenadäquaten Lektüre berücksichtigt als auch das Ziel des Einblicks in den Produktionsprozess der Theateraufführung verfolgt.39 Diese Konzepte wollen die Schüler einerseits dafür sensibilisieren, »schon den dramatischen Text auf seine theatralen Qualitäten hin zu lesen und dadurch den Zuschauerblick zu schulen, andererseits fordert inszenierendes Arbeiten dazu heraus, sich mit dem Zeichensetzungsprozess des Theaters und der Wirkung einmal gefundener Zeichen auseinanderzusetzen und auf diese Weise ebenfalls die Rolle des Zuschauers mitzudenken«40. Die Zeichen des Textes werden dabei entweder probeweise in theatrale Zeichen übersetzt oder nach einem Aufführungsbesuch mit denen der Aufführung verglichen, obwohl dabei wesentliche Bedingungen des Zeichensetzungsprozesses im Theater nicht thematisiert werden: »Er [der jugendliche Zuschauer, P.K.] hat es hier nicht wie im Unterricht mit einfacheren und einzelnen Elementen einer Zeichensetzung zu tun, die schrittweise diskutiert und auf ihr Zusammenspiel befragt werden, sondern die Aufführung, der er zuschaut, ist ein äußerst komplexer, vielschichtiger theatraler Text, in dem das Zusammenwirken verschiedenster Zeichensysteme simultan wahrgenommen wird. Diese Gleichzeitigkeit der Eindrücke sowie die erschwerende Flüchtigkeit des Ereignisses stellen den Zuschauer vor nicht zu unterschätzende Anforderungen, wenn es darum geht, theatrale Texte lesen und verstehen zu lernen.«41
Schon 1975 hatte Beimdick deshalb von Lehrern gefordert, »Kriterien für den künstlerischen Rang einer Inszenierung kennen und anwenden« zu können, um dadurch auch Schüler für das Theater zu motivieren.42 Dass Lehrer sowie die Literatur- und Mediendidaktik dieser Forderung auch über dreißig Jahre später noch nicht nachgekommen sind, zeigt etwa Paules Resümee, der Unterschied zwischen Dramentext und Theateraufführung sei als »qualitativer Sprung« zu sehen, der aber »didaktisch […] selten konsequent zu Ende gedacht worden«
39 Vgl. PAULE: »Didaktik und Ästhetik des Theaters«, S. 162. 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Vgl. BEIMDICK: Theater und Schule, S. 9.
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sei.43 Dazu trage vor allem die Trennung von Literatur- und Theaterwissenschaft bei, die dazu führte, »dass theaterwissenschaftliche Grundlagen bis heute kaum Eingang in die Deutschdidaktik gefunden haben«.44 Aus diesem Grund fehlen bis heute »Verbindlichkeiten darüber, das Theater als Aufführungsort des Dramas konsequent in den Unterricht zu integrieren«45. An dieser Stelle setzt der von Paule ausgehende didaktische Zugriff an, der auf die Trennung von Text und Aufführung abzielt, um beide als eigenständige Gegenstände in den Blick zu nehmen. Diesem Zugriff geht es um die Beseitigung eines Desiderates dramendidaktischer Konzepte, mit deren Hilfe alleine Deutschlehrer nicht zu einem adäquaten Umgang mit dem Theater befähigt werden: »Die Arbeit mit tatsächlich gesehenen Theateraufführungen bleibt deshalb für Deutschlehrer ein Experimentierfeld, und zwar eines, dem man sich nach literaturwissenschaftlichem Verständnis mit gutem Gewissen fernhalten kann, denn es gehört eben nicht dem engeren Fachbereich an: Aufführungsbeschreibung, Aufführungsanalyse oder Theaterkritik gelten als traditionelle Aufgabenfelder der Theaterwissenschaft. Bezeichnenderweise arbeiten diejenigen Lehrkräfte, die Theateraufführungen bewusst in den Unterricht integrieren, häufig vorrangig inhalts- und bzw. themenorientiert, gerade weil ihnen im Hinblick auf Inszenierungs- und Aufführungsanalyse das nötige fachliche und didaktische Wissen fehlt […].«46
Die Theaterdidaktik stellt nach Paule eine Ergänzung der Dramendidaktik dar, die Brücken zu den relevanten Bezugswissenschaften schlägt und das darin, insbesondere zum Umgang mit der Theateraufführung vorhandene Wissen für den fachdidaktischen Kontext aufbereitet. Was dies konkret für die Begriffsbestimmung der Theaterdidaktik und die Aspekte der Produktion und Rezeption von Theateraufführungen im Kontext des Deutschunterrichts bedeutet, wird in den folgenden Abschnitten ausgeführt. Zunächst wird jedoch geklärt, welcher Begriff von Theaterdidaktik dieser Arbeit zugrunde gelegt wird.
43 Vgl. PAULE: »Didaktik und Ästhetik des Theaters«, S. 162; vgl. dazu auch die umfassende Darstellung in: PAULE: Kultur des Zuschauens, S.68ff. 44 Vgl. ebd., S. 163. 45 Ebd. 46 Ebd.
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1.2 ZUM BEGRIFF DER THEATERDIDAKTIK Die Skizze der Ordnungsversuche zeigte die verschiedenen didaktischen Zugriffe auf Drama und Theater, erwies aber zugleich auch, dass diese Zugriffe differenziert betrachtet werden müssen. Dass der Dramenunterricht die theatrale Dimension des Dramas mitzudenken hat, ist innerhalb der Dramendidaktik Konsens. Dass die Aufführung aber tatsächlich als eigener Gegenstand behandelt wird, blieb über viele Jahrzehnte hinweg eine Forderung, der in dramendidaktischen Konzepten nicht konsequent nachgegangen wurde. Diesem Umstand verschaffen etwa seit dem Jahr 2000 Didaktiker Abhilfe, die sich explizit als Theaterdidaktiker verstehen. Im Folgenden wird daher der Frage nachgegangen, was einen theaterdidaktischen Zugriff auszeichnet und in welchem Verhältnis Theater- und Dramendidaktik zueinander stehen. Der Begriff der Theaterdidaktik wird innerhalb der gegenwärtigen Forschungsliteratur implizit oder explizit im Anschluss an die zehn Thesen formuliert, die Göbel zu »Drama-Deutschunterricht-Theater« und eben auch »Theaterdidaktik« formuliert und in denen er eine Theaterdidaktik »als aus medientheoretischen und fachdidaktischen Gründen erweiterte Dramendidaktik« und damit als deren »Korrespondenz-/Erweiterungsdisziplin« entworfen hat.47 Weil die Theaterrelevanz in dramendidaktischen Konzepten mit wenigen Ausnahmen allein durch die Berücksichtigung einzelner Elemente hergestellt werde, »die aus dem Umkreis des Theaters entnommen sind und dramendidaktische Funktionen erfüllen oder ergänzen«, komme in den dramendidaktischen Konzepten die »Institution Theater« nicht vor und es fehle somit die Berücksichtigung sowohl von Theaterkunde als auch von Theaterkunst.48 Dies zeigt, dass Göbels Schwerpunkt auf der Vermittlung von Wissen über das Theater liegt. So sei das Drama mit der Theaterdimension und dessen Interpretation und Analyse mit der Vermittlung von Wissen über Theaterkunde und Theaterkunst zu verbinden, indem Theatervideos oder Informationsmedien und theaterwissenschaftlich ausgerichtete Forschungsliteratur genutzt wird.49 Dies, ergänzt um Arbeitsbesuche im Theater, gebe dem »Dramentext in der Schule leicht die anzustrebende, sinnlich ästhetische Qualität, erweckt Vorstellungskraft und Imagination für die Interpretation und ermöglicht so den Transfer in eine je aktuelle theatrale Bildlichkeit«50. Theaterdidaktik gehe somit »nicht vom Theater zur Schule, sondern von der Schule
47 Vgl. GÖBEL: »Drama – Deutschunterricht – Theater«, S. 326. 48 Vgl. ebd. 49 Vgl. ebd., S. 327. 50 Ebd.
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zum Theater«, von der Wissensvermittlung über das Theater also zur Anwendung dieses Wissens am »künstlerischen, sozialen und […] politischen Ort« Theater.51 Göbels Kritik richtet sich vor allen Dingen gegen einen Deutschunterricht, der im Theater »eine Vereinbarung zum darstellenden Spiel und dessen Praxis in den Räumen der Schule« sieht und damit den medialen Ort selbst ausklammert, an dem das Drama »vor, für und mit Präsenzpublikum in allabendlich neuen Prozessen (synchron und diachron) mit den Mitteln der Theaterkunst« zu seiner »Vorstellung und Veröffentlichung« kommt.52 Er folgert daraus jedoch nicht, dass die Theateraufführung als der spezifische mediale Ort der Vorstellung thematisiert werden muss, sondern fordert eine Sensibilisierung für deren Entstehungsprozess durch den Unterricht. Diesen Anstoß Göbels nimmt ein Themenheft der Reihe Der Deutschunterricht auf, das 2004 erschienen ist.53 Unter dem Titel Theaterdidaktik werden darin erstmals die »Medienspezifik des Theaters und seine ästhetischen Konzepte« in den Vordergrund gerückt, denn die versammelten Beiträge wollen »die Fixierung des Unterrichts auf (Schrift-)Text-Interpretation überwinden und Grundlagen einer Zuschaukunst vermitteln, die es erlaubt, aktuelles Theater bewusster zu genießen und über seine Wahrnehmung sachkundig zu sprechen und zu urteilen«.54 Die von Göbel angedachte Theaterdidaktik wird damit in diesem Heft erstmals auch als eine Forschungsperspektive geschärft, die sich als eigener Denkrahmen etablieren soll. Dazu wird die Rezeption von Theateraufführungen vor allem unter zwei Gesichtspunkten thematisiert: Einerseits ermögliche die Theaterrezeption den Zuschauern »eine aufführungsanalytische Alphabetisierung«, die eine »Ermunterung zum Verbalisieren und Reflektieren der eigenen Wahrnehmungsgewohnheiten« darstellt und zur »Entdeckung neuer interpretatorischer Spiel-Räume« anhalte.55 Darüber hinaus aber sei der Zuschauer andererseits »für die sinnlichen Qualitäten von Texten auch jenseits des Dialogischen empfänglich« zu machen, um so »noch vor der Bedeutungsebene ästhetische Qualitäten wahrzunehmen, aber auch performative Prozesse und theatrale Möglichkeiten in sprachlichem Material zu erkennen«.56 Für den ersten Aspekt der aufführungsanalytischen Alphabetisierung treten Hajo Kurzenberger und Guido Hiß ein, indem sie die in der Theaterwissenschaft bereits etablierte Methode der
51 Vgl. ebd. 52 Vgl. ebd., S. 324. 53 Vgl. Der Deutschunterricht 2 (2004). 54 Vgl. ROTH-LANGE: »Theater lesen – Texte sehen und hören«, S. 4. 55 Vgl. ebd., S. 3f. 56 Vgl. ebd., S. 4.
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Aufführungsanalyse auch für den Einsatz im Deutschunterricht vorschlagen.57 Die Verbindung von Zuschauen und Interpretation bedenkt Friedhelm RothLange in einem weiteren Beitrag.58 Interessant ist, dass der Aspekt der Sinnlichkeit des Theaters in den meisten Beiträgen dieses Themenheftes noch immer an die Sinnlichkeit des dramatischen Textes gebunden ist und daher theatrale Möglichkeiten im sprachlichen Material identifiziert werden sollen. Jens Roselt hingegen weist in seinem Beitrag deutlich darüber hinaus, wenn er als Theaterwissenschaftler eine phänomenologische Perspektive auf die Erfahrungen im Theater in die theaterdidaktische Diskussion einbringt.59 Zum ersten Mal wendet sich mit Paule auch eine Didaktikerin eigens der Theaterrezeption zu, die 2009 in ihrer Kultur des Zuschauens eine »Theaterdidaktik zwischen Textlektüre und Aufführungsrezeption« konzipiert und diese ausdrücklich im schulischen Dramenunterricht verortet. 60 Theaterdidaktik, die auch Theateraufführungen zu ihrem Gegenstand macht, wird von ihr mit dem Ziel bedacht, an das Verständnis und die Fähigkeit zum Genuss des Theaters als einer eigenständigen künstlerischen Ausdrucksform heranzuführen.61 Dieses Ziel, das Paule insgesamt dem Feld der ästhetischen Bildung zuordnet, mache ein »kontinuierliches Wahrnehmungstraining im Theater« notwendig, das über das Lesen des Dramentextes hinausweist.62 »Ziel einer so verstandenen Theaterdidaktik wäre es also, Theater sehen zu lernen: Zuschauen lernen als Ziel. Und zwar […] ein Zuschauen, das einerseits die affektive Bereitschaft mitbringt, sich tatsächlich einzulassen auf das Theaterereignis, sich ansprechen zu lassen von seiner sinnlichen Qualität und wach zu sein für die eigene Wahrnehmung, und das andererseits mit der notwendigen aufführungsanalytischen Kompetenz aktiv Bedeutungen herstellt im Umgang mit so komplexen Zeichensystemen wie denjenigen des Theaters. Letzteres wird in unterrichtlichen Zusammenhängen vor allem der höheren Jahrgangsstufen eng auf die Lektüre dramatischer Texte bezogen sein, die Inszenierung rückt also auch als Interpretation des Dramas in den Blick. Die Aufführung als theatrales Kunstwerk und als Interpretation eines dramatischen Textes, dies sind die beiden zentralen Perspektiven unterrichtlicher Aufführungsrezeption.«63 57 Vgl. KURZENBERGER: »Aufführungsanalyse im Deutschunterricht«; HIß: »Was analysiere ich wie?«. 58 Vgl. ROTH-LANGE: »Szenographien lesen«. 59 Vgl. ROSELT: »Kreatives Zuschauen«. 60 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 251. 61 Vgl. ebd., S. 253. 62 Vgl. ebd. 63 Ebd., S. 254. Hervorhebung im Original.
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Marion Bönnighausen und Gabriela Paule differenzieren den Begriff einer in den Deutschunterricht integrierten Theaterdidaktik unter Berufung auf Göbel und die zunehmend medienwissenschaftliche Ausrichtung der Literaturdidaktik weiter aus.64 Als Aufgabenbereiche der Theaterdidaktik gelten ihnen die Bearbeitung des komplexen theatralen Textes und des Zusammenspiels der Elemente theatraler Zeichensetzung, die Sensibilisierung für die Gleichzeitigkeit der Eindrücke und die Flüchtigkeit des Aufführungsereignisses, die Konfrontation mit verschiedenen theatralen Ästhetiken und die Reflexion des theoretischen Verhältnisses von dramatischem Text und Inszenierung. 65 Eine auf die »medienspezifische Dimension einer schulischen Auseinandersetzung mit dramatischen Texten« ausgerichtete Theaterdidaktik schließt nach Bönnighausen und Paule »selbstverständlich mit ein, dass das Theater auch einmal ohne dezidierten Bezug auf eine dramatische Textvorlage zum Unterrichtsgegenstand werden kann«, also sowohl »als Inszenierungen eines dramatischen Textes« als auch »als ausschließlich theatrales Kunstwerk«.66 Theaterdidaktik lässt sich im Anschluss an die bisher genannten Autoren also als eine um die medienspezifische Dimension des Dramas erweiterte Dramendidaktik auffassen, die das Theater mit und ohne dezidierten Bezug auf eine dramatische Textvorlage zum Unterrichtsgegenstand macht. Zielsetzung sei, so Bönnighausen und Paule 2011, »junge Menschen dazu zu befähigen, aktiv und kompetent an der kulturellen Institution Theater zu partizipieren«, und dies geschehe an »den Schnittstellen zwischen Literaturdidaktik, Theaterwissenschaft, Theaterpädagogik und Theaterdidaktik«.67 Eine Gegenposition dazu nimmt aus dramendidaktischer Sicht etwa Peter Bekes ein, der dem von der Theaterdidaktik formulierten Vorwurf, »dass sich der Deutschunterricht bei der Auseinandersetzung mit Dramen immer noch allzu sehr dem Diktat des Textes unterwerfe, vornehmlich Dienst am Dichterwort betreibe und dessen theatrale Dimensionen zu wenig berücksichtige«, entgegnet, dass die Konzepte der Aufführungsbezogenen Lektüre und der Simulierten Dramaturgie sowie der Szenischen Interpretation schon seit Jahren zur gängigen Praxis des Deutschunterrichts gehören.68 Er verweist dazu auf die dramendidaktischen Konzepte seit den späten 1970er Jahren und auf Paules Kultur des Zuschauens.69 Diesem Verständnis nach wäre eine eigenständige Theaterdidaktik 64 Vgl. BÖNNIGHAUSEN/PAULE: »›Theater intermedial‹«, S. 14f. 65 Vgl. ebd., S. 15. 66 Vgl. ebd., S. 16. 67 Vgl. BÖNNIGHAUSEN/PAULE: »Einleitung«. 68 BEKES: »›Seid ihr alle da?‹«. 69 Vgl. ebd., S. 5.
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überflüssig und eine weitere Ausgestaltung des ohnehin schon vorhandenen Theaterbezuges der dramendidaktischen Konzepte ausreichend, um einen adäquaten Zugang zum Theater im Unterricht zu ermöglichen. Gerade dieser Einwand zeigt, dass das Verhältnis zwischen Dramen- und Theaterdidaktik weder aus dramendidaktischer noch aus theaterwissenschaftlicher Perspektive eindeutig geklärt ist. Während diese Klärung aus dramendidaktischer Sicht nicht nötig zu sein scheint, reicht die Konzeption einer Theaterdidaktik, die lediglich die medienspezifische Erweiterung der Dramendidaktik darstellt, offensichtlich nicht zu ihrer Etablierung als eigenständiger didaktischer Forschungsperspektive aus. Gemeinsam mit Ralph Olsen geht Paule daher 2016 von einer »Theaterdidaktik in notwendiger Ergänzung zur Dramendidaktik« mit der Zielsetzung einer didaktischen Perspektivierung sowohl grundsätzlichen theoretischen Wissens über das Theater und seines Verhältnisses zum Drama als auch der Bereitstellung didaktischer und methodischer Modellierungen für die unterrichtliche Auseinandersetzung mit Inszenierungen und Theateraufführungen aus.70 Dieser Auffassung wird in der vorliegenden Arbeit grundsätzlich gefolgt und die Theaterdidaktik als die Dramendidaktik ergänzende und damit eigenständige didaktische Forschungsperspektive aufgefasst. Die Reichweite und Zuständigkeit einer solchen Theaterdidaktik lässt sich folgendermaßen abstecken: Didaktische Konzepte, die vom Umgang mit dem Dramentext ausgehen und auf dessen Erschließung mit oder ohne Bezug zur Aufführung und zur theatralen Dimension des Dramentextest abzielen, werden als dramendidaktisch aufgefasst. Die theatrale Dimension wird in diesen Konzepten dadurch berücksichtigt, dass der Inszenierungsprozess in Teilen oder bis hin zu einer Aufführung simuliert oder praktiziert und vor dem Hintergrund der Textlektüre reflektiert wird. Die Erschließung des Dramentextes kann methodisch vielfältig angeleitet und perspektiviert werden. Theaterdidaktisch werden in den Überlegungen dieser Arbeit solche Konzepte genannt, die von der Theateraufführung ausgehen und auf deren Erschließung abzielen. Die Bezugnahme auf Aspekte außerhalb der Theateraufführung, etwa der Vergleich mit Aspekten einer möglichen Textgrundlage, findet vor dem Hintergrund der praktizierten Aufführungswahrnehmung oder -produktion statt. Dabei kann die Erschließung der Theateraufführung ebenfalls methodisch vielfältig angeleitet und perspektiviert werden. Dieser Definitionsvorschlag, der die Theaterdidaktik als Ergänzung der Dramendidaktik versteht, trennt die Theateraufführung vom Drama, womit der Rekurs auf das Verhältnis dieser beiden Gegenstände zueinander zu einem von mehreren möglichen Aspekten wird, die im Anschluss an die Erschließung der 70 Vgl. OLSEN/PAULE: »Einleitung«, S. 5.
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Theateraufführung aufgegriffen werden können. Die Zuordnung didaktischer Konzepte zu Dramen- oder Theaterdidaktik richtet sich damit nicht mehr danach, ob und inwieweit die Aufführung als die medienspezifische Dimension des Dramas berücksichtigt wird, sondern nach dem Gegenstand, mit dem in diesen Konzepten primär umgegangen wird. Aufgabenbereich und Reichweite der Dramendidaktik werden durch ihren Ausgang vom Dramentext »als Sprach- und Sinngebilde«71 vorgegeben. Er bestimmt den Zugriff auf die Theateraufführung und wird im Rahmen des Zugriffes immer wieder als Referenz herangezogen. Aufgabenbereich und Reichweite der Theaterdidaktik hingegen werden durch ihren Ausgang von der Theateraufführung her vorgegeben. Um den soeben entwickelten Begriff einer Theaterdidaktik im Sinne der Definition als Ergänzung der Dramendidaktik weiter zu schärfen und die Theatervon der Dramendidaktik deutlicher abgrenzen zu können, sollen im folgenden Abschnitt jene didaktischen Konzepte skizziert werden, die den Umgang mit der Theateraufführung vorsehen. Dabei werden sie der hier getroffenen Unterscheidung von Dramen- und Theaterdidaktik unterzogen.
1.3 KONKRETISIERUNG: THEATERDIDAKTIK ALS ERGÄNZUNG DER DRAMENDIDAKTIK Im vorangegangenen Abschnitt wurde die Theaterdidaktik als eigene Forschungsperspektive stark gemacht, die, weil sie vom Gegenstand Theateraufführung ausgeht, eine Ergänzung gegenüber der Textorientierung der Dramendidaktik darzustellen vermag. Da sich aber sowohl dramen- als auch theaterdidaktisch motivierte Beiträge in der Forschungsliteratur finden, in denen die Aufführung zum Gegenstand gemacht wird, muss in diesem Abschnitt der Unterschied zwischen beiden Forschungsperspektiven konkretisiert werden. Die Auseinandersetzung mit den relevanten Konzepten geschieht dabei einerseits durch die Differenzierung der grundsätzlichen Optionen der Produktion einer Aufführung und der Rezeption, wobei der Schwerpunkt in dieser Arbeit wie in der Forschungsliteratur auch auf den Bereich der Rezeption gelegt wird. Andererseits wird die dramendidaktische von der theaterdidaktischen Perspektive getrennt, um die verschiedenen Zugriffe auf die Theateraufführung zu verdeutlichen. Auf diese Weise wird die Skizze des Forschungsstandes das Verständnis von Theaterdidaktik präzisieren, das dieser Arbeit zugrunde liegt und zugleich das zu bearbeitende Forschungsdesiderat identifiziert.
71 BEKES: »›Seid ihr alle da?‹«, S.5.
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1.3.1 Produktion von Aufführungen Während ein dramendidaktischer Zugriff bei der Produktion von Aufführungen auf die theatralen Aspekte des Dramentextes fokussiert, ist die Theaterdidaktik vorrangig an der produktiven Auseinandersetzung mit der medienspezifischen Ästhetik der Aufführung interessiert. Konzepte, die eine eigene Aufführungsproduktion vorsehen, lassen sich mit Paule danach unterscheiden, ob sie produkt- oder prozessorientiert ausgerichtet sind, ob sie also die Aufführung eines Dramas zum Ziel haben oder »die Interpretationsleistungen der Schüler bezogen auf den zugrundeliegenden dramatischen Text und die Erfahrungen, die die Schüler in diesem Prozess machen können«72. Darüber hinaus lassen sich die vorhandenen Konzepte daraufhin untersuchen, ob sie die Aufführung lediglich simulieren oder tatsächlich etwas aufgeführt wird.73 Wenn es der Theaterdidaktik um die Besonderheit der medienspezifischen Ästhetik der Theateraufführung geht, dann sollten die Lerner auch mit dieser Ästhetik in Berührung kommen und produktiv mit ihr umgehen können. Dies lässt sich am ehesten dann gewährleisten, wenn die tatsächliche Inszenierungsarbeit mit dem Ziel einer Aufführung der bloßen Simulation von Inszenierung und Aufführung vorgezogen wird. Ob die dazu entwickelten Konzepte produkt- oder prozessorientiert ausgerichtet sind, wird vom Aspekt der Aufführung abhängen, der herausgestellt werden soll. Aus zwei Gründen wird auf den Aspekt der Produktion von Aufführungen in dieser Arbeit nicht näher eingegangen: Erstens ist Paule darin zuzustimmen, dass das »auf eine Aufführung hin zielende Arbeiten im regulären Unterricht schon aus Zeitgründen nur selten zu bewerkstelligen ist und deshalb eher der fakultativen Arbeit in Schultheatergruppen oder Projektwochen zugeordnet bleibt«74. Damit geht einher, dass die produktorientierte Theaterarbeit in der Praxis zunehmend unabhängig vom Deutschunterricht in das dafür eingerichtete Schulfach Darstellendes Spiel ausgelagert wird. Zweitens gibt es bereits eine Vielzahl von insbesondere theaterpädagogischen Konzepten, Methoden und Materialien, die zum Theaterspiel in der Schule anhalten. Ein theaterdidaktischer Forschungsbedarf ist für den Bereich der Produktion von Theateraufführungen daher nicht in dem Maße gegeben wie für den Bereich ihrer Wahrnehmung.75 Dies zu belegen ist das Ziel der folgenden Abschnitte.
72 PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 83. 73 Vgl. ebd. 74 Ebd., S. 92. 75 Vgl. BÖNNIGHAUSEN/PAULE: »Einleitung«, S. 8.
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1.3.2 Rezeption von Aufführungen: dramendidaktisch perspektiviert Dramendidaktische Konzepte, die auch die Rezeption von Aufführungen vorsehen, kennzeichnet nach der vorgeschlagenen Definition das primäre Interesse am Dramentext, weshalb an die vorgängige Textlektüre eine simulierte oder tatsächliche Inszenierungstätigkeit bis hin zu einer möglichen Aufführungsproduktion oder -rezeption angeschlossen wird. Die Lerner nähern sich auf diese Weise einerseits einer adäquaten Lektüre des Dramas an, andererseits machen sie sich aber auch mit der Theaterarbeit vertraut, die bis zur Aufführung geleistet werden muss. Der Aufführungsbesuch bietet hingegen die Möglichkeit, das Gesehene mit den Ergebnissen der Textanalyse und Inszenierungstätigkeit zu vergleichen und daraus Rückschlüsse zu ziehen. Die dramendidaktischen Konzepte, deren Fokus auf der simulierten Inszenierungstätigkeit liegt, werden im Folgenden nicht berücksichtigt, weil der wesentliche Unterschied zwischen Dramen- und Theaterdidaktik im Zugriff auf die Theateraufführung gesehen wird, die von der Inszenierung zu unterscheiden ist.76 In ihrem historischen Überblick über dramendidaktische Konzepte führt Paule allerdings auch solche auf, in denen die Beschäftigung mit der Theateraufführung implizit oder explizit gefordert wird und die sie unter der Überschrift »Dramen als Theateraufführungen rezipieren« in drei Gruppen einteilt: »Teilhabe am kulturellen Leben«, »›Theaterkunde‹« und »Professionelle Inszenierungen als Gegenstand des Unterrichts«.77 Diese Gruppen werden nun kurz vorgestellt, um sie vor dem Hintergrund des dieser Arbeit zugrunde liegenden Begriffes von Theaterdidaktik zu bewerten. Ergänzt wird diese Zusammenfassung um die Darstellung des Konzeptes von Denk und Möbius, das sie in ihrer Dramen- und Theaterdidaktik vorstellen und in dem es um die Herausbildung einer Theatralitätskompetenz geht.78 Auf diese Weise werden Dramen- und Theaterdidaktik einerseits klarer voneinander abgegrenzt, andererseits kann so die Auffassung von der Theaterdidaktik als Ergänzung der Dramendidaktik in Auseinandersetzung mit dramendidaktischen Positionen zur Aufführungsrezeption konkretisiert werden.
76 Vgl. für einen umfassenden Überblick über Konzepte zur Inszenierung des Dramas PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 81ff. 77 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 104ff. 78 Vgl. dazu auch 1.2.
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Teilhabe am kulturellen Leben Dass das Theater als kultureller Raum der Aufführung ab den 1970er Jahren didaktisch berücksichtigt wurde, verdankt es zunächst der damals neuen Konkurrenz durch andere Medien wie Rundfunk und Fernsehen und der zunehmenden Verfügbarkeit und Bedeutung dieser Medien für das kulturelle Leben.79 Damit ging einher, dass eine »prospektive Literaturdidaktik«80 nun die literarische Praxis der Schüler außerhalb der Schule in den Blick nahm und auch der Dramenunterricht durch die Ergänzung der Textlektüre um Theaterbesuche, Methoden wie die des szenischen Spiels und die Aufnahme zeitgenössischer Theaterstücke in das Lektüreangebot die Teilhabe am kulturellen Leben der Gesellschaft ermöglichen sollte. Die dazu entwickelten didaktischen Konzepte waren bis in die 1990er Jahre hinein vor allem von der methodischen Etablierung und Ausdifferenzierung von Möglichkeiten des darstellenden Spiels bestimmt, während didaktische Konzepte zur Aufführungsrezeption »über lange Zeit auf Hinweise, Empfehlungen und Forderungen« beschränkt blieben und dieser Aufgabenkomplex daher didaktisch nicht systematisch erschlossen wurde.81 Das bedeutet, dass »die Ausrichtung des Dramenunterrichts auf die theatrale Dimension vorrangig auf den Ebenen des szenischen Spiels und des inszenierenden Arbeitens erfolgte, kaum aber im Hinblick auf die konkrete Theaterpraxis, also z.B. die Auseinandersetzung mit gesehenen Aufführungen, mit Inszenierungsstilen, mit der Rekonstruktion von Inszenierungskonzepten und theatralen Zeichensetzungen oder auch mit dem Vergleich von Text und Inszenierung«82. Dieser dramendidaktische Rekurs auf die Theateraufführung, der Teilhabe am kulturellen Leben ermöglichen soll, behandelt die Thematisierung der Aufführung in Verbindung mit der Partitur, die ihr zugrunde liegt, und wird durch die Aufnahme zeitgenössischer Stücke als »Öffnung hin zum Gegenwartstheater« flankiert.83 Dramendidaktische Konzepte, die eine Aktualisierung des Dramenunterrichts etwa durch die Beseitigung der Unsicherheiten in Bezug auf die Auswahlkriterien dramatischer Gegenwartsliteratur und der vielfältigen Schwierigkeiten, die zur Vernachlässigung dieser Literatur im Deutschunterricht geführt haben, erzielen möchten, »haben damit indirekt also auch die Teilhabe am aktuellen Theatergeschehen im Blick, machen aber sämtlich Halt vor einer Auseinandersetzung mit Theateraufführungen selbst«84. Theaterdidaktisch im Sinne 79 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 107. 80 STOCKER: Die dramatischen Formen in didaktischer Sicht, S. 16. 81 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 108. 82 Ebd., S. 108f. 83 Vgl. ebd., S. 109. 84 Ebd., S. 111f.
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der vorgeschlagenen Definition sind sie also nicht, auch wenn die Dramenlektüre und Inszenierungstätigkeit einen Beitrag zur Sensibilisierung für die theatrale Dimension des Dramentextes leisten kann. Theaterdidaktisch wären Konzepte zu nennen, die gerade nicht darauf beschränkt bleiben, die Aufführung von der Textlektüre aus zu simulieren oder zu erschließen. Solche Konzepte ordnet Paule einer Gruppe zu, die sie mit dem Begriff Theaterkunde bezeichnet. Theaterkunde Didaktische Konzepte, die dieser Gruppe zugeordnet werden können, haben nach Paule die Vermittlung von Kenntnissen über das Theater zum Ziel, um Schülern schon im Rahmen des Dramenunterrichts die enge Bezogenheit von Dramen- und Theaterform aufzuzeigen.85 Beimdick etwa vertritt die Auffassung, dass die Fähigkeit zur Äußerung von »Angaben zur Struktur und Inszenierung und zu den Kriterien der Beurteilung« in die Ziele des Dramenunterrichts aufgenommen werden muss, um auch den Lehrkräften begreiflich zu machen, dass »eine Theateraufführung keineswegs in der Unerklärbarkeit künstlerischer Intuition oder unkontrollierten Zufalls verbleibt, sondern rationalen Maßstäben zugänglich ist und deshalb nachdenkende Reflexion verlangt«.86 Er geht von der Grundannahme aus, dass die Theateraufführung »nicht durchgehend rational erfaßbar ist« und deshalb dort, wo ein Rezipient von der Aufführung affiziert wurde, »nach den Gründen solcher emotionalen Wirkung zu fragen« sei.87 Das im Dramenunterricht zu vermittelnde Wissen über das Theater dient diesem Zweck, denn es steht nicht für sich selbst, sondern ermöglicht eine »Deutung des engen Verhältnisses zwischen Dramentext und Aufführung«.88 Damit stellt Beimdicks Arbeit nicht das bloße Plädoyer für die Vermittlung von Wissen über das Theater dar, sondern »ist eine der ganz wenigen jener Zeit, die Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit tatsächlichen Theateraufführungen für die Schule aufbereitet, diese am Beispiel von vier professionellen Inszenierungen konkretisiert und das jeweils nötige Sachwissen dazu gleich mitliefert«89. Beimdick begründete in der Folge schließlich auch eine Reihe theaterkundlich orientierter Veröffentlichungen und trug maßgeblich dazu bei, dass das Theater im dramendidaktischen Kontext als Gegenstand Berücksichtigung fand, auch wenn dies nicht konsequent fortgesetzt wurde.
85 Vgl. ebd. 86 Vgl. BEIMDICK: Theater und Schule, S. 27. 87 Vgl. ebd., S. 59. 88 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 114. 89 Ebd.
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Von Beimdick zumindest beeinflusst wurde auch der bereits 1977 von Jutta Wermke verfasste Beitrag in Göbels Bestandsaufnahme Das Drama in der Sekundarstufe, in der sie das Verhältnis zwischen Drama und Theater zu klären und didaktisch zu reflektieren sucht.90 Sie plädiert darin für die Unterscheidung zwischen dem Drama als Wortkunstwerk und der Aufführung als theatralem Kunstwerk, die zwar aufeinander bezogen, aber eigenständig seien. Anders also als Göbel, der von der Vollendung des Dramas in der Aufführung ausging, lehnt Wermke die sich daraus ergebende Forderung nach der Werktreue der Aufführung ab und sieht die Aufführung als »Endpunkt und als Ausgangspunkt von Textverarbeitungsprozessen«91. Obwohl die Lektüre »immer ›Inszenierung durch Vorstellung‹« sei, ist das Drama über diese Inszenierung hinaus durch das neue ästhetische Produkt der Aufführung interpretierbar, das selbst Ergebnis einer einzigen Deutung ist, dennoch aber wiederum mehrdeutig sein kann. 92 Dieses Verhältnis zwischen Drama und Aufführung steht jeder Forderung nach Werktreue und Subordination der Aufführung unter die Partitur entgegen, »denn als Materialisierung einer Lesart verdeckt sie [die Aufführung, P.K.] nach Wermke gerade die Vielschichtigkeit des Dramentextes im Hinblick auf weitere Interpretationsmöglichkeiten«93. Lesen des Dramas und Sehen der Aufführung sind damit für Wermke zwei gleichwertige Rezeptionsweisen, die sich aber darin voneinander unterscheiden, »dass der Leser bei seiner Lektüre die Bühne sozusagen mitdenken muss, er muss den Text in seiner Vorstellung inszenieren und sich auch beim Lesen als Zuschauer begreifen«94. Der Zuschauer im Theater hingegen muss »die Balance zwischen Faszination und Distanz halten […], um neben dem punktuellen Wahrnehmen des Bühnengeschehens die Anlage des Stückes und/oder die Regiekonzeption zu durchschauen und die Konsequenz der Durchführung zu beurteilen«95. Während der lesende Umgang mit dem dramatischen Text also vor allem die Vorstellungsbildung fördert und die Vorstellungen gegebenenfalls durch simulierte Inszenierungen artikuliert werden, führt das Sehen einer konkreten Theateraufführung Wermke zufolge zu einer Verbesserung der Kritikfähigkeit durch die Reflexion und die Distanzierung vom unmittelbaren Erlebnis.96
90 Vgl. WERMKE: »Drama +/- Theater«. 91 Ebd., S. 247. 92 Vgl. ebd., S. 246. 93 PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 117. 94 Ebd. 95 WERMKE: »Drama +/- Theater«, S. 250. 96 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 117f.
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So reicht die Bandbreite dieser schon recht frühen didaktischen Positionierungen von der Einforderung des Theaterbesuches zur Ermöglichung kultureller Teilhabe bis hin zur Behandlung des Theaters als einer eigenständigen kulturellen Institution, »und zwar sowohl zur Vermittlung von Kenntnissen unterschiedlichster Art als auch im Hinblick auf den künstlerischen Produktionsprozess einer Drameninszenierung und deren Analyse«97. Wenn auch diese didaktischen Positionierungen bis in die 1990er Jahre hinein weitgehend unberücksichtigt bleiben, stellen doch insbesondere die zuletzt skizzierten Positionen Beimdicks und Wermkes das Fundament dar, auf dem spätere theaterdidaktische Überlegungen und Konzeptionen zum Umgang mit der Aufführung als eigenem Gegenstand aufbauen. Dies zeigt sich exemplarisch an jenen Konzepten, die Paule unter der Überschrift Professionelle Inszenierungen als Gegenstand des Unterrichts versammelt. Professionelle Inszenierungen als Gegenstand des Unterrichts Neben den von Beimdick und Wermke vertretenen Konzepten wird die Behandlung von Aufführungsbesuchen professionell inszenierter Theateraufführungen erst seit etwa den 1990er Jahren kontinuierlich von der Literatur- und Mediendidaktik thematisiert, während der Aufführungsbezug zuvor meist über die Auseinandersetzung mit Dokumentationen von Aufführungen hergestellt wurde.98 Ein Beispiel dafür ist das didaktische Konzept Karl Stockers, in dem er das Verfassen eines Theaterberichtes vorschlägt, den die Schüler nach dem Aufführungsbesuch erstellen und in der Klasse präsentieren sollen.99 Dieser Bericht ist in sechs Schritte gegliedert: Zunächst geben die Schüler den Inhalt der besuchten Aufführung wieder und verbinden ihn mit dem Autor, seiner Biographie, dessen Gesamtwerk und der Tradition des besuchten Theaters, um im zweiten Schritt die Höhe- und Tiefpunkte der Inszenierung mit der Regie, der Schauspielerleistung, dem Bühnenbild, der Kostümierung, dem Inszenierungsstil und der Bühnentechnik in Beziehung zu setzen.100 Die letzten Schritte stellen schließlich die Bekanntgabe von Sekundärliteratur, Quellen und angewandten Kriterien, die Rückbindung an den Dramentext zur Verstärkung der eigenen Argumentation, die Diskussion des Stückes und die »Zusammenfassung der Ergebnisse, und zwar nach Kenntnissen und den zu gewinnenden Einsichten und Fertigkeiten« dar.101 Dieser Ansatz, der nach Paule »eines der wenigen Beispiele für eine produktive 97
Ebd., S. 119.
98
Vgl. ebd., S. 118.
99
Vgl. STOCKER: Die dramatischen Formen in didaktischer Sicht.
100 Vgl. ebd., S. 380. 101 Vgl. ebd.
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Auseinandersetzung mit einer gesehenen Inszenierung« darstellt, ist mit hohen Anforderungen sowohl an die Schüler als auch die Lehrkräfte verbunden, denn er setzt einen Unterricht voraus, »der fundierte Kenntnisse über das Theater allgemein sowie über Aufführungsbeschreibung im Besonderen vermittelt«102. Dass sich dieser Beitrag insgesamt nicht durchsetzen konnte, liegt daher wohl auch daran, dass er offen lässt, »wie die dafür notwendige fachliche Grundlage geschaffen werden kann«103. Ein weiteres Konzept, das Paule anführt, geht einerseits auf Helmut Deck und andererseits auf Haas und Willenberg zurück. Deck geht davon aus, dass der Besuch einer Theateraufführung für die Besprechung eines Theaterstücks unablässig ist, und zeigt beispielhaft, wie Schüler anhand der Beschreibung und Analyse von Bühnenbildern die Intention einer Inszenierung entschlüsseln können.104 Über die Bezogenheit auf die Theateraufführung hinaus geht es ihm zugleich um die Sensibilisierung für die verschiedenen ästhetischen Möglichkeiten der Medien, die er über Medienvergleiche zu vermitteln sucht.105 Zwar setzt dieser Beitrag auf den Besuch einer professionellen Theateraufführung, er bleibt aber innerhalb der Fachdidaktik isoliert, da die konsequente Auseinandersetzung mit der Rezeption von Theateraufführungen im Unterricht unterbleibt.106 Isoliert bleibt auch das Modell von Haas und Willenberg, das sie unter dem Titel Theater lesen, sehen, spielen 1988 vorgestellt haben.107 Sie verfolgen das Ziel, das Drama durch den Blick auf seine Aufführung besser zu durchdringen, denn »das fachgerechte Verständnis für Inszenierungen als Ergebnis einer Deutungsabsicht soll gefördert werden, die Schüler sollen durch eigene Spiel- oder Schreibversuche neue Kompetenzen erwerben und durch die Auseinandersetzung mit dem Drama und der Inszenierung ihr soziales und historisches Bewusstsein erweitern«108. Ist das Interesse also einerseits am Drama ausgerichtet, verfolgen die Autoren andererseits ein über den textorientierten simulierten Aufführungsbezug hinausreichendes Ziel, wenn sie zeigen wollen, »wie beim Inszenieren die Theatermittel zur Gestaltung werden« und »ein Schauspieler mit dem Kostüm zu einer Haltung findet oder wie schon eine andere Nuance in der Betonung eines Satzes ein anderes Verhalten auf der Bühne zur Folge hat, 102 PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 120. 103 Ebd. 104 Vgl. DECK: »Dramentexte als Gegenstand medialer Verarbeitung«. 105 Vgl. ebd., S. 126. 106 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 121. 107 Vgl. HAAS/WILLENBERG: Theater lesen, sehen, spielen. 108 PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 123.
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wie eine Überlegung zur Lebensgeschichte Büchners eine Bühnenbildentscheidung hervorbringt, die fast konträr zur Perspektive der Bühne steht, oder wie eine Auseinandersetzung mit diesem Drama Woyzeck und seiner Entstehungsgeschichte Begriffe schafft, die, in die Inszenierung eingebracht, Bühnenbauten bedingen, die die Historizität der Handlung merkwürdig changierend bezeichnen.«109
Indem die Dramenlektüre dem Aufführungsbesuch professioneller Theaterinszenierungen gegenübergestellt wird und Haas und Willenberg »Aufführungsbeschreibung und -analyse bereits in ihr Konzept integrieren«, zielt es auf die »Schulung des Zuschauers im Theater« und die Aufführung als Gegenstand des Deutschunterrichts ab.110 In dieser Tradition stehen auch Veröffentlichungen, die sich explizit dem Feld der Theaterdidaktik zuordnen. Vor dem Hintergrund der Definition von Dramen- und Theaterdidaktik, die in der vorliegenden Arbeit verfolgt wird, soll eine prominente Veröffentlichung neueren Datums, die Einführung in die Dramen- und Theaterdidaktik von Denk und Möbius, im Folgenden genauer untersucht werden. Theatralitätskompetenz Ziel dieser 2008 erstmals veröffentlichten Einführung ist die Ausbildung einer umfassenden Theatralitätskompetenz. Diese Kompetenz äußert sich den Autoren nach in der Fähigkeit, »gewissermaßen als ›Schau-Meister‹ in Inszenierungskategorien denken und Theateraufführungen eigenständig analysieren, bewerten und beurteilen zu können«111. Wie dies geschieht, skizzieren Denk und Möbius vor allem in den Kapiteln fünf bis sieben, in denen sie den vorher entfalteten Rekurs auf die Dramendidaktik, Literaturwissenschaft, Theaterwissenschaft und Semiotik in »prozessorientierten Lernkapiteln« aufgreifen, um »Formen der eigenen Theatralitätskompetenz zu entwickeln, didaktisch erfolgreich zu erproben und gewinnbringend einzusetzen«.112 Den Kern ihres Konzeptes bildet die Ausbildung einer »›Meisterschaft‹« des Zuschauens, die den Autoren zufolge dann gelingen kann, »wenn die Schüler, Studierenden und Lehrenden die wesentlichen Elemente des Dramatischen und Theatralischen in spielerischkörperbezogenen und kognitiv-mentalen Probesituationen so eingeübt haben, dass sie Zeit ihres Lebens ›Meisterzuschauer/innen‹ im Theater werden und
109 HAAS/WILLENBERG: Theater lesen, sehen, spielen, S. 6. 110 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 123. 111 DENK/MÖBIUS: Dramen- und Theaterdidaktik, S. 11. 112 Vgl. ebd., S. 13.
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bleiben«113. Zu diesem Zweck greifen die Autoren auf dramendidaktische Konzepte zurück und betonen zugleich an einigen Stellen die Bedeutung der Wahrnehmung für die Ausbildung der Theatralitätskompetenz. Den Schwerpunkt der Dramen- und Theaterdidaktik stellt aber die Ausbildung einer »analytischstrukturell« ausgerichteten Erfassung von Dimensionen des Dramatischen und Theatralischen dar, also eine semiotische Erfassung der Theateraufführung als Zeichengefüge, die in der Einführung erklärt, vermittelt und praktisch erprobt werden soll.114 So schlagen die Autoren als Vorstufe der eigentlichen Arbeit mit dem Dramatischen und Theatralischen die Analyse von Dramaturgiemodellen vor, die sie um die Entwicklung und Analyse von Figuren, Regiekonzepten und Inszenierungsstilen über prozess- und produktionsorientierte Verfahren ergänzen.115 Die vor allem produktionsorientierte Auseinandersetzung mit der Inszenierung einer Textvorlage führt den Autoren nach dazu, »den Lernenden zum Schau-Meister zu bilden, so dass er in Inszenierungskategorien lesen und verstehen lernt«, um dadurch »semiotisch-symmediale dramaturgische Konzepte in Text und Inszenierung zu erkennen, eigenständig zu analysieren und gegebenenfalls zu benutzen«.116 Damit entspricht das Ziel der Ausbildung einer »›schaumeisterlichen‹ Kompetenz« im Kern der Heranführung an die Arbeit eines Dramaturgen, denn »Leserinnen und Leser dieser Einführung sollen dramaturgisch denken, handeln und dramaturgische Entscheidungen treffen können«.117 Zu diesem Kernziel gehört, dass die Einführung in ihrem Titel eine Dramen- und Theaterdidaktik ankündigt, bereits in der Einleitung jedoch den Aspekt der Theaterdidaktik zugunsten einer »Einführung in eine ›andere‹, eine werkstattorientierte Dramendidaktik« zurückstellt.118 Die Dramen- und Theaterdidaktik nimmt also weniger die Medienspezifik der Theateraufführung als Ausgangspunkt, sondern ist dramendidaktisch ausgerichtet. Dies wird auch an solchen Stellen deutlich, die sich auf die Wahrnehmung von Aufführungen beziehen. Denk und Möbius formulieren, dass der »Blick der Zuschauer […] automatisch diesen [durch die Handlungen der Schauspieler im Raum definierten, P.K.] Zentren jeder Aufführung und ihrer sprachlich-musikalischen Realisierung [folgt]«.119 Gegen diese Auffassung wäre zu überlegen, ob Wahrnehmung nicht vielmehr subjektiv und de-automatisiert statt113 Ebd., S. 21. 114 Vgl. ebd., S. 116. 115 Vgl. ebd. 116 Vgl. ebd., S. 201. Hervorhebung im Original. 117 Vgl. ebd., S. 144f. Hervorhebung im Original. 118 Vgl. ebd., S. 10. 119 Vgl. ebd., S. 109.
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findet, auch wenn Denk und Möbius den Rezipienten in einer Haltung sehen, in der er »alle proxemischen Verhaltensweisen, die leisesten Regungen und Bemerkungen sprachlicher und körperlicher Art […] bemerkt, denotativ im Bewusstsein vermerkt und akribisch weiterverfolgt«.120 So bildet die Dramen- und Theaterdidaktik zwar ein Werk, das sich um die Verbindung von Drama und Theateraufführung bemüht, in dem aber nicht genauer auf das theaterdidaktische Potenzial gerade der Wahrnehmung von Theateraufführungen eingegangen wird. Auch in dieser Hinsicht erweist sie sich als primär dramendidaktisch ausgerichtet. Nachdem nun die dramendidaktische Perspektive auf die Rezeption von Aufführungen hinreichend exemplarisch dargelegt worden ist, wird im folgenden Abschnitt die Rezeption von Theateraufführungen theaterdidaktisch perspektiviert und der theaterdidaktische Forschungsstand im Sinne der zugrunde liegenden Definition von Theaterdidaktik erörtert. 1.3.3 Rezeption von Aufführungen: theaterdidaktisch perspektiviert Theaterdidaktische Konzepte zeichnen sich unabhängig von der jeweils zugrunde liegenden Definition dieses Begriffes dadurch aus, dass sie die rezeptionsseitigen Aspekte des Theaters fokussieren, Theater also von der Wahrnehmung her aufgreifen. Sie haben damit grundsätzlich zum Ziel, eine Dramendidaktik zu ergänzen, die das Theater »als den medienspezifischen Ort des Dramas und als Institution selten wirklich integriert«121 hat. Da die Dramen- und Theaterdidaktik von Denk und Möbius dem dramendidaktischen Zugang zur Rezeption von Aufführungen zugeordnet werden konnte, ist es vor allem Paule, die in ihrer Kultur des Zuschauens den entscheidenden Akzent dafür gesetzt hat, die Theateraufführung und ihre Rezeptionsaspekte in den Deutschunterricht zu integrieren. Paules Werk richtet die Theaterdidaktik auf die Erforschung dieser Rezeptionsaspekte aus und benennt vier Aufgabenbereiche, die sowohl in der theaterdidaktischen Forschung als auch in dieser Arbeit als relevant erachtet werden und nachgezeichnet werden sollen. Natürlich kann der theaterdidaktische Forschungsstand in diesem Rahmen nur skizziert und nicht jeder Beitrag aufgegriffen werden. Die Auswahl der Beiträge soll aber verdeutlichen, welche Forschungsperspektive die Theaterdidaktik einnimmt.
120 Vgl. ebd. 121 GÖBEL: »Drama – Deutschunterricht – Theater«, S. 326.
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War Paule noch an der wechselseitigen Verbindung von Text und Aufführung gelegen, um die Theaterdidaktik im Deutschunterricht verorten zu können, zeigt Bönnighausen mit der Konzeption von Theatralität als Dispositiv der Literaturdidaktik einen Weg auf, die Theaterdidaktik vom Rekurs auf das Drama freizustellen, womit auch der in dieser Arbeit vertretene Begriff von Theaterdidaktik zusätzlich legitimiert werden kann. Bönnighausens These greifen Ralph Olsen und Jana Blöchle auf und entwickeln ein didaktisches Stufenmodell der Ästhetischen Erfahrung des Zuschauers im Theater. Da es immer wieder auch Theaterwissenschaftler sind, die in theaterdidaktischen Veröffentlichungen wichtige Impulse setzen, sollen auch zwei Artikel Roselts in die Konkretisierung der Theaterdidaktik aufgenommen werden, in denen er die Aufführungsrezeption zwischen Wahrnehmen und Verstehen verortet. Als lohnender Beitrag auch für den theaterdidaktischen Zugriff auf die Theateraufführung soll abschließend ein nicht ausdrücklich theaterdidaktisch verorteter Beitrag Bönnighausens aufgegriffen werden, in dem sie über die ästhetische Erfahrung zwischen Materialität und Ereignis nachdenkt. Da Materialität und Ereignis Begriffe darstellen, die auch in der theaterwissenschaftlichen Definition der Theateraufführung Verwendung finden, ist in diesem Beitrag eine Brücke vom theaterdidaktischen Forschungsstand hin zum Desiderat zu sehen, das in der vorliegenden Arbeit bearbeitet wird. Kultur des Zuschauens Paules Kultur des Zuschauens nimmt ihren Ausgang einerseits vom Gegenstand Theater und andererseits von den Anforderungen her, die der Umgang mit diesem Gegenstand an Lehrer stellt. So leiste das Theater einen »Baustein gelingender kultureller Sozialisation«, indem es einen »Ort der Wahrnehmungsschulung und […] Reflexionsraum gesellschaftlicher Theatralität« darstelle.122 Allerdings sei der Deutschunterricht vor dem Hintergrund der Dramendidaktik auf diese Eigenschaften des Theaters nicht eingegangen und leiste somit auch keine »Erziehung zum Zuschauen«.123 Paule setzt hier mit ihrem Konzept der Ausbildung einer »Kultur des Zuschauens« im Sinne der Befähigung von Schülern zur Rezeption von Dramen als Theateraufführungen an.124 Sie fordert im Gegensatz zu dramendidaktischen Konzepten einen Blick von der Wahrnehmung der Aufführung her. So gebe es »im schulischen Bereich bis heute keine verbindlichen Regelungen dafür, den Aufführungsort Theater zum Gegenstand des Unterrichts zu ma122 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 46f. 123 Vgl. ebd., S. 108. 124 Vgl. ebd., S. 104ff.
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chen«, was auch daran liege, dass Lehrer »nach wie vor über keinerlei theaterwissenschaftliche oder -praktische Ausbildung« verfügen.125 Diese Bestandsaufnahme belegt sie mit dem auch in der vorliegenden Arbeit nachgezeichneten Befund, dass (dramen-)didaktische Beiträge, die »Theateraufführungen zum Gegenstand der unterrichtlichen Besprechung und Analyse […] machen, […] bis in die neunziger Jahre hinein auf vereinzelte Arbeiten beschränkt«126 blieben. Wenn dies geschehen sei, so herrschten hier Ansätze vor, die theatrale Zeichen in kleinste Einheiten teilten und davon ausgingen, dass sich theatrale Bedeutung als eine Addition der verschiedenen Zeichen und Zeichensysteme bestimmen ließe. Bedeutung entstehe aber, so argumentiert Paule, »nicht automatisch als Folge des Funktionierens eines generativen Systems«, sondern es bedürfe »zu ihrer Konstitution immer eines interpretativen Aktes des rezipierenden Subjekts«.127 Damit plädiert sie für eine Verbindung theatersemiotischer Gesichtspunkte mit Wahrnehmungsaspekten auf Seiten der Zuschauer, die in der Theaterwissenschaft unter dem durch Erika Fischer-Lichte geprägten Begriff der Ästhetik des Performativen verhandelt wird.128 Das Semiotische einerseits und das Performative andererseits bilden demnach zwei nicht voneinander zu trennende und sich ergänzende Perspektiven auf eine Theateraufführung. Paule greift aus Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen vier wesentliche Bestandteile auf: die Medialität der Aufführung, die vor allem durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern bestimmt ist, die spezifische Materialität, die im Theater performativ hervorgebracht wird, die Semiotizität und die Ästhetizität, die sie insbesondere an der Ereignishaftigkeit der Theateraufführung festmacht.129 Dabei seien es insbesondere die Aufführungen seit den 1960er Jahren, »die die Bedingungen der Entstehung von Aufführungen – Medialität, Materialität, Semiotizität und Ästhetizität – immer wieder demonstrativ herausgestellt, mit ihnen gespielt und sie reflektiert haben«.130 Von dieser Grundlage aus formuliert Paule ihre »Grundzüge einer Theaterdidaktik«, mit denen sie vier Aufgabenstellungen verbindet:131 Es wäre erstens zu vermitteln, »dass Inszenierungen Ausdruck und Ergebnis einer kreativen, künstlerischen Auseinandersetzung mit dem zugrundeliegenden Drama sind.«132 In125 Vgl. ebd., S. 105. 126 Ebd., S. 118. 127 Vgl. ebd., S. 186. 128 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen. 129 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 192ff.; zur Ereignishaftigkeit vgl. 2.2.3. 130 Vgl. ebd., S. 201. 131 Vgl. ebd., S. 251ff. 132 Ebd., S. 254.
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szenierungen, sofern sie sich auf eine Textvorlage beziehen, sind von dieser unabhängige, neue ästhetische Produkte, deren Vergleich vor Augen führen kann, »dass ästhetische Texte Deutungsspielräume geben, dass verschiedene Interpretationen, unterschiedliche Schwerpunktsetzungen denkbar und legitim sind.«133 Für den Deutschunterricht wäre damit die Einsicht ermöglicht, »dass sich Theaterinszenierungen naturgemäß nicht mit der eigenen mentalen Inszenierung des Dramas beim Lesen decken können, eben weil ihnen bereits ein Rezeptionsprozess (anderer) zugrundeliegt [sic!].«134 Damit würde sich der Deutschunterricht, wenn er theaterdidaktische Ziele verfolgt, zwangsläufig von seiner Fokussierung auf das Drama lösen müssen, ist doch die Inszenierung für Paule »eben nicht als eine einfache Umsetzung des dramatischen Textes auf die Bühne zu verstehen, sondern das texttragende Medium Bühne ist ein Kunstraum, der nach eigenen Gesetzen und mit einer eigenen Ästhetik arbeitet.«135 Was wahrgenommen und gegebenenfalls analysiert werden kann, ist also mehr als das Zeichensystem des Textes, etwa seine Kürzung oder Veränderung, sondern das Zusammenspiel und die Wechselwirkung der vielen ästhetischen und theatralen Zeichensysteme, die in der Inszenierung geplant und dann zur Aufführung gekommen sind. Zweitens nennt Paule das Ziel, »Theater als eine eigene Kunstform« wahrnehmen zu können.136 Damit ist für sie verbunden, dass sich eine »Theaterdidaktik, die die Rezeption professioneller Aufführungen zum Gegenstand des Unterrichts macht, […] nicht mit der Frage danach begnügen [wird], welche Lesart oder welche Deutungsschwerpunkte das Drama in einer Inszenierung erfahren hat«, sondern »auch danach fragen [muss, P.K.], auf welche Weise theatrale Bedeutung überhaupt entsteht«.137 Die Analyse der Aufführung erfordere daher eine Untersuchung der »Aufführung als bedeutungsgenerierender Zeichensetzungsprozess (semiotische Analyse) und als performatives Ereignis (phänomenologische Untersuchung)«, weil beides, das Semiotische und das Performative, sich in der Aufführung wechselseitig aufeinander beziehen.138 Konkret erwächst daraus für didaktische Überlegungen die Forderung, »dass unterrichtliche Gespräche und Urteile über Inszenierungen die Vorerfahrungen der Schülerinnen und Schüler keinesfalls außer Acht lassen« dürfen, denn sowohl ihre Sehgewohnheiten als auch ihre Zuschauerfahrungen bestimmen die Rezeption einer konkreten Insze-
133 Ebd., S. 255. 134 Ebd. 135 Ebd. 136 Vgl. ebd., S. 256. 137 Vgl. ebd. 138 Vgl. ebd.
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nierung entscheidend mit.139 Damit gerät die Rezeptionshaltung der Zuschauer in den Blick, denn was »der eine Zuschauer für konventionell hält, ist für den anderen eine neuartige Herausforderung, die sich gerade nicht von selbst versteht«140. Lernprozesse, die auf eine »rezeptive Kompetenz« abzielen, mit der insbesondere die Herausforderungen von unkonventionell erscheinenden Aufführungen bewältigt werden können, sind daher von der Theaterdidaktik anzustoßen und zu begleiten: »Für eine Theaterdidaktik in schulischem Rahmen lässt sich […] lernen, dass solche Lernprozesse nur dann initiiert werden, wenn Kinder und Jugendliche über ein breites und facettenreiches Angebot überhaupt dazu herausgefordert werden, sich z.B. mit unterschiedlichen Inszenierungsstilen auseinanderzusetzen. Man wird sie also nicht nur mit dem für sie Normalen, Konventionellen ›bedienen‹, sondern sie bewusst mit dem für sie Neuen konfrontieren. Und die Grenze zwischen beidem ist bei jungen Zuschauern schnell überschritten, weil sie in der Regel über noch sehr wenig Zuschauerfahrung verfügen. Ihre Wahrnehmung kann deshalb oft schon durch wenig spektakuläre Theaterereignisse provoziert werden. Gerade das aber, was sich unmittelbarem Verstehen sperrt, was die eigene Wahrnehmung stört oder irritiert, was sich widersetzt oder einfach nur ärgert, kann Ausgangspunkt für einen ästhetischen, künstlerischen Lernprozess sein.«141
Dabei geht es Paule nicht darum, die noch unerfahrenen Schüler zu Experten der Aufführungs- und Inszenierungsanalyse zu machen, sondern darum, ihren Blick für die Aufführung zu schärfen: »kognitiv für die Frage, wie im Theater Bedeutungen generiert werden, also für ein analytisches Lesen theatraler Zeichen, affektiv für die sinnliche Qualität des Aufführungsereignisses«.142 Konkret schlägt sie vor, dazu an solchen Momenten der Aufführung anzusetzen, die den Schülern auffällig geworden sind und über die sie sich austauschen wollen, dann aber die Komplexität der theatralen Zeichen als Raster in der anschließenden Arbeit zu reduzieren.143 Für entscheidend hält sie, »dass es sich bei Theateraufführungen um ästhetische Produkte handelt, die sich durch Mehrdeutigkeit auszeichnen, die sich einer eindeutigen Sinnzuschreibung sogar verweigern mögen.«144 Darin den Reiz eines Kunstwerkes zu erkennen, ist für Paule ein »im engeren Sinne litera-
139 Vgl. ebd. 140 Ebd., S. 257. 141 Ebd. 142 Vgl. ebd., S. 258. 143 Vgl. ebd., S. 259. 144 Ebd.
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turdidaktisches Ziel.«145 Damit verbindet Paule als dritte Aufgabenstellung der Theaterdidaktik die Herstellung des Kontaktes zwischen Schülern und zeitgenössischem Theater. 146 Denn das zeitgenössische Theater sei »zum Teil geprägt von rigorosen Eingriffen in die Dramaturgie, von einer Dominanz der Körperund Raumzeichen gegenüber dem Text und drastischen Brüchen mit Inszenierungstraditionen.«147 Schüler an dieses Theater heranzuführen, ist Paule zufolge jedoch nicht im Rahmen einer Dramendidaktik möglich, die »mit einem fachlich überholten Verständnis von Theater« arbeitet, »das mehr oder weniger nur auf die Frage ausgerichtet ist, wie eine Inszenierung den Text ›umsetzt‹ und ob sie das – gemessen womöglich an einem unreflektierten Begriff von Werktreue – ›richtig‹ oder ›falsch‹ tut«.148 Um dies zu ändern, sieht sie vor allem die Lehrkräfte in der Verantwortung, die selbst den Anschluss an das zeitgenössische Theater finden müssten, denn die »in zeitgenössischen Inszenierungen verstärkt festzustellende Verschiebung von der Zeichenhaftigkeit der Bühnenvorgänge hin zur Herausstellung performativer Qualitäten erfordert« zuallererst von den Lehrern »ein Rezeptionsverhalten«, das zur Irritation der eigenen Wahrnehmungsmuster und Sehgewohnheiten bereit ist, obwohl sich die Schule nachweislich sowohl der Gegenwartsdramatik als auch der aktuellen Inszenierungspraxis verschließt.149 Eine letzte Aufgabenstellung der Theaterdidaktik betitelt Paule mit der Überschrift »Ästhetische Bildung, gelingende kulturelle Sozialisation«.150 Die Heranführung an eine »genussvolle Rezeption von Theater«, die für Paule eng mit gelingender kultureller Sozialisation verbunden ist, steht insbesondere mit der Bewältigung von Herausforderungen in Zusammenhang, die durch »unbequeme Inszenierungen« an den Zuschauer gestellt werden, und setzt »entsprechendes Wissen und Zuschautraining voraus«.151 Dabei kann es aber aus Paules Sicht »weder um die Vermittlung abstrakten, von der eigenen Person losgelösten Wissens« gehen »noch um die Kultivierung eines Freizeitverhaltens, das lediglich an einem Erlebnis-Spektakel-Wert orientiert ist«, sondern »um kognitive wie affektive Auseinandersetzung mit der Kunstform Theater, um die Reflexion eigener Wahrnehmung und um das Ermöglichen ästhetischer Erfahrung«.152
145 Ebd. 146 Vgl. ebd., S. 259ff. 147 Ebd., S. 260. 148 Vgl. ebd. 149 Vgl. ebd., S. 260f. 150 Vgl. ebd., S. 261. 151 Vgl. ebd. 152 Vgl. ebd., S. 262.
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Während die ersten dieser geforderten Aspekte, die kognitive und affektive Auseinandersetzung sowie die Reflexion eigener Wahrnehmung, noch vergleichsweise einfach anschaulich gemacht werden könnten, verhält sich das mit der Forderung nach Ermöglichung ästhetischer Erfahrung anders. Denn Kunstrezeption gerate als wesentlicher Aspekt ästhetischer Bildung im Gefolge von PISA und der Kompetenzdebatte leicht aus dem Blick. 153 Derart unter Legitimationsdruck gelangt, wird auch von der Theaterdidaktik die Formulierung bestimmter Schlüsselkompetenzen verlangt, die im Umgang mit ihrem Gegenstand erlangt werden können. Dies stellt sie wie die Literatur- und Mediendidaktik insgesamt allerdings insofern vor Probleme, als ästhetische Erfahrung sich vom vorherrschenden vor allem kognitiv ausgerichteten Kompetenzbegriff nicht erfassen lässt und dies insbesondere an künstlerischen Gegenständen wie der Theateraufführung scheitert, die »auf Körperlichkeit und Sinnlichkeit« und auf eine »performative Qualität« angewiesen sind.154 »Theater ist nicht nur Sinngebungsinstanz, hat nicht nur repräsentative Funktion, auf die die Dekodierung von Zeichen zielt, sondern Theater ist auch ein Ort der Sinne, der Sinnlichkeit, ästhetische Erfahrung im Theater spielt sich zu einem großen Teil auf der Ebene des Performativen ab.«155
An die vier Aufgabenstellungen ihres theaterdidaktischen Konzeptes schließt Paule die Vorstellung einiger methodischer Varianten der Aufführungsrezeption im Unterricht an, die nicht auf eine vollständige Aufführungsanalyse abzielen, sondern das Theater in seiner Medienspezifik in den Blick nehmen.156 Für geeignet hält sie die Thematisierung von Rezeptionserfahrungen am Beispiel des Erinnerungsprotokolls, die Aufmerksamkeit für die Inszeniertheit des Theaters als eigener Kunstform und die Thematisierung der Rezeptions- und Aufführungsgeschichte eines Dramas durch Inszenierungsvergleiche, das Lesenlernen theatraler Zeichensetzungen am Beispiel des Bühnenbildes, die Textdeutung am Beispiel der Strichfassung und Inszenierungsbewertungen durch Theaterkritiken. 157 Diese methodischen Hinweise werden an anderer Stelle dieser Arbeit zum Teil aufgegriffen.158
153 Vgl. ebd., S. 263. 154 Vgl. ebd., S. 266. 155 Ebd. 156 Vgl. ebd., S. 269. 157 Vgl. ebd., S. 269ff. 158 Vgl. dazu auch 4.3.
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Paules Kultur des Zuschauens ist für die Theaterdidaktik richtungsweisend, weil sie explizit die Wahrnehmung von Theateraufführungen als Forschungsperspektive und Merkmal der Theaterdidaktik festschreibt. Die von ihr formulierten Aufgabenstellungen der Theaterdidaktik – die Inszenierung als Interpretation des Dramas anzusehen, Theater als eigene Kunstform wahrzunehmen, Kinder und Jugendliche dabei mit dem zeitgenössischen Theater in Kontakt zu bringen und Prozesse ästhetischer Bildung und kultureller Sozialisation anzustoßen – zeigen jene Forschungsperspektiven auf, die in der Folge zu einer Schärfung des Profils der Theaterdidaktik beitragen konnten. Hierbei wurde die Wahrnehmung in der Theateraufführung als Gegenstand zunehmend in den Mittelpunkt ihres Interesses gerückt. Die in dieser Arbeit vorgeschlagene Definition von Theaterdidaktik als Ergänzung der Dramendidaktik mit dem Ausgangspunkt der Theateraufführung lässt sich insbesondere mit den letzten drei der vier Aufgabenstellungen verbinden, umfasst aber auch die Behandlung der Inszenierung als Interpretation des Dramas als eine Perspektive, die vom Umgang mit der Aufführung aus eingenommen werden kann. Dass diese Perspektive nur eine mögliche ist, wird bereits durch die vorgeschlagene Definition von Theaterdidaktik suggeriert, bedarf aber der weiteren Legitimation. Diese Legitimation kann im Rekurs auf Überlegungen Bönnighausens gefunden werden, in denen sie den Begriff der Theatralität aufgreift und ihn als Dispositiv der Literaturdidaktik insgesamt entwirft. Wäre Theatralität ein solches Dispositiv, das über das Theater hinaus für die gesamte Literaturdidaktik Bedeutung hat, wäre damit eine Begründung des Theaters als Gegenstand des Deutschunterrichts geschaffen und die Theaterdidaktik im vorgeschlagenen Sinne als eigenständige Forschungsperspektive innerhalb der Literatur- und Mediendidaktik etabliert. Theatralität als Dispositiv der Literatur- und Mediendidaktik Ähnlich wie Paule leistet Bönnighausen in ihrem 2010 veröffentlichten Beitrag die Anbindung des Theaters als Gegenstand des Deutschunterrichts über den Begriff der Theatralität und attestiert der zeitgenössischen Kultur, eine »Kultur der Inszenierung« zu sein, in der – gleich dem Theater – »ein Akteur an einem (besonders hergerichteten) Ort etwas, einen anderen oder sich selbst zu einer bestimmten Zeit vor den Blicken der anderen (also Zuschauern) darbietet oder zur Schau stellt«.159 Der sich daraus ergebende Dialogprozess kultureller Handlungen, der sich durch die gleichzeitige Gegenwart von Zuschauern und Akteuren ergibt, funktioniere wesentlich über den Körper und die Körperlichkeit der An-
159 Vgl. BÖNNIGHAUSEN: »Zwischen Sinn-Stiftung und Wahr-Nehmung«, S. 126.
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wesenden und nehme »ihren Ausgang bei sinnlich wahrnehmbaren Phänomenen […] und [bedeutet] somit Erfahrbarkeit.«160 Ein solches Verständnis von Theatralität ist im Anschluss an Roland Barthes für Bönnighausen durchaus nicht auf den Bereich des Theaters begrenzt. Denn Barthes sei es gewesen, der die kulturgeschichtlich äußerst relevante Kategorie der Theatralität unter dem Begriff der Szenographie in den Text und in die Sprache selbst verlagert habe.161 Auch Schreibakte eröffnen demnach eine eigene Szene, womit »einem komplexen Spiel zwischen den Topoi Kultur als Handlung und Kultur als Text Raum gegeben [wird], in dem Texte als grundsätzliche und ursprüngliche Szeno-Graphien zu verstehen wären«, die »ein das gesellschaftliche Symbolsystem hinterfragendes und kritisch reflektierendes Ausdrucksmedium« bilden.162 In diesem Sinne deutet Bönnighausen Theatralität als Instanz, die über den Bereich des Theaters hinaus in »ganz unterschiedlichen Medien und auf vielfältigen Schauplätzen des Denkens, Sprechens, gestischen Agierens und eben auch des Schreibens zur Wirkung kommt.«163 Implizit argumentiert sie in ihren weiteren Ausführungen von einem phänomenologischen Standpunkt aus, denn sie entwirft Theatralität als Dispositiv, »das zwischen Wahr-Nehmung und Sinn-Stiftung« steht, bei dem beide – sinnliche Wahrnehmung und Sinnstiftung – aufeinander verwiesen sind und deren Zentrum der Körper mit seinen Wahrnehmungsorganen bildet.164 Dabei führt Bönnighausen ähnlich dem Modell der Responsivität des Phänomenologen Bernhard Waldenfels165 aus, was die Auseinandersetzung mit Kunstwerken auf dem Fundament des Theatralitätsbegriffes ausmacht. So lässt sich sagen, »dass die Auseinandersetzung mit einem Kunstwerk, mit Literatur, Bildern, mit multimedialen Texturen von einem Prozess der Wahrnehmung sowie von dem Versuch einer Sinnstiftung bestimmt ist. Diese Bereiche […] gehen dabei ineinander über, sinnliche Wahrnehmung ist unabdingbar Bestandteil der Rezeption, die Wahrnehmung mit Sinnstiftung verbindet, also die Deutung des Kunstwerkes zum Ziel hat. […] Weder ist dem Wahrheitsgehalt der Wahr-Nehmung zu trauen, die das Gesehene, Gehörte, Gelesene naiv für wahr nimmt, noch ist eine einfache Sinn-Stiftung möglich. Diese wird durch den Inszenierungscharakter unterlaufen […]: die Zeichen werden durch den zeigenden Gestus
160 Ebd. 161 Vgl. ebd., S. 128. 162 Vgl. ebd. 163 Ebd. 164 Vgl. ebd., S. 130. 165 Vgl. dazu auch 3.2.3.
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gebrochen, gespalten. […] Theatralität meint ein bewusstes, demonstratives In-SzeneSetzen von Sinn und damit ein Spiel mit der Sprache, eine Inszenierung […].«166
Dieses die Kultur der Gegenwart bestimmende Paradigma auszubilden, hält Bönnighausen für ein lohnenswertes Ziel des Literaturunterrichts und dem Theater als Gegenstand dieses Unterrichts misst sie dabei eine besondere Bedeutung bei. Denn die Auseinandersetzung mit Aufführungen, insbesondere in der Tradition des postmodernen oder intermedialen Theaters, stellt für sie »sozusagen Vorübungen dar, da sie das Einnehmen eines ›fremden Blicks‹, die Leugnung einer eindeutigen Sinn-Stiftung, die Überprüfung dessen, was man für wahr nehmen kann, bei einer gleichzeitigen Forderung nach einer gesteigerten Wahrnehmung strukturell einfordern.«167 Zugleich verbindet Bönnighausen die Auseinandersetzung mit der Theatralität in Theateraufführungen und derjenigen in literarischen Werken mit dem Ziel, »nicht (oder zumindest nicht immer) dem Impuls nachzugeben, allein auf der Oberfläche auf der Ebene von Inhaltsangaben und Figurencharakterisierungen stehen zu bleiben, sondern über die grundlegende theatrale Struktur des Werkes nachzudenken.«168 Damit fügt sie über den Kontext der Theaterdidaktik hinaus der Literaturund Mediendidaktik insgesamt das Dispositiv der Theatralität hinzu und richtet den Blick in der Begegnung mit Literatur im weiten Sinne auf den Zwischenraum, der sich zwischen sprachlicher Sinnstiftung und sinnlicher Wahrnehmung auftut und einen Dialogprozess zwischen dem Rezipienten des Kunstwerkes und dem Kunstwerk anregt.169 Den Endpunkt dieses Dialogprozesses bildet die »Entwicklung eines emanzipativen Gebrauchs der Sinne, der deutlich macht, dass Wahrnehmen nicht bedeutet, die Sinneseindrücke für wahr zu nehmen«, sondern dafür zu sensibilisieren, dass sich alle, die an diesem Prozess beteiligt sind, »inmitten einer künstlerischen, wissenschaftlichen, sozialen und sonstigen Pluralität […] bewegen« und zugleich »werden lernen müssen, auf schwankenden Böden und mit vielfältigen Fundamenten leben zu müssen«.170 Die Theaterdidaktik als eigenständige Forschungsperspektive und die Beschäftigung mit der Theateraufführung im Deutschunterricht sind damit in zweifacher Hinsicht legitimiert: Erstens wurde Theatralität als Dispositiv der Literatur- und Mediendidaktik insgesamt ins Spiel gebracht und abgesichert, zweitens wird dem Theater und der Wahrnehmung der Theateraufführung ein noch näher 166 BÖNNIGHAUSEN: »Zwischen Sinn-Stiftung und Wahr-Nehmung«, S. 133. 167 Ebd., S. 140. 168 Ebd. 169 Vgl. ebd., S. 140f. 170 Vgl. ebd., S. 141.
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zu definierender Beitrag zur Entwicklung des emanzipativen Gebrauchs der Sinne zugeschrieben, der die Teilhabe an diesem kulturellen Paradigma erst ermöglicht. Auf diesem Fundament, das Bönnighausen und Paule gelegt haben, bauen schließlich Didaktiker ihre Konzepte auf, die sich eingängiger mit Aspekten der Theaterrezeption und der Wahrnehmung von Theateraufführungen auseinandersetzen. Ein Beitrag von Olsen und Blöchle nimmt dabei explizit Erfahrungen von Zuschauern auf, die sie als ästhetische Erfahrungen bezeichnen. Ästhetische Erfahrung des Zuschauers Olsen und Blöchle schließen ihr »didaktisches Stufenmodell« der ästhetischen Erfahrung des Theaterzuschauers explizit an die Ausführungen Bönnighausens zur Theatralität als Dispositiv der Literatur- und Mediendidaktik und deren Annahme an, dass nur besonders weitreichende literarische Erfahrungen wie die des Barthes’schen frisson oder des Hegel’schen Schauers die Auseinandersetzung mit Literatur im Unterricht überhaupt rechtfertigten.171 Solche literarischen Erfahrungen zwischen Wahrnehmung und Sinnstiftung sind für Olsen und Blöchle gleichbedeutend mit ästhetischen Erfahrungen, die sie unter Bezugnahme auf Philosophen wie John Dewey, Bernd Kleimann und Martin Seel und den von ihnen angedachten Spielarten ästhetischer Erfahrung einerseits und auf das kognitionspsychologische Modell von Benno Belke und Helmut Leder andererseits schärfen.172 Im Anschluss daran machen Olsen und Blöchle sowohl die philosophischen als auch die kognitionspsychologischen Aspekte ästhetischer Erfahrung in einem Stufenmodell didaktisch fruchtbar.173 Die fünf von ihnen vorgeschlagenen Stufen bewegen sich dabei zwischen den beiden Polen Objektbezug und Subjektbezug und sind entweder einem der beiden oder – als »›Mischformen‹«174 – beiden Polen zugleich zuzuordnen. Die erste Stufe der ästhetischen Erfahrung des Theaterzuschauers besteht für Olsen und Blöchle in der Aufmerksamkeit für das wahrgenommene Objekt und ist daher allein dem Pol Objektbezug zugehörig. Auf dieser Stufe geht es um »›reines‹ Wahrnehmen, das kontextenthoben seine gesamte Aufmerksamkeit dem Objekt schenkt – und zwar noch in keinerlei Hinsicht interpretationsorientiert.«175 Die zweite Stufe bildet nach Meinung der Au171 Vgl. OLSEN/BLÖCHLE: »Die ästhetische Erfahrung (des Theaterzuschauers)«, S. 110; vgl. BÖNNIGHAUSEN: »Zwischen Sinn-Stiftung und Wahr-Nehmung«, S. 136. 172 Vgl. OLSEN/BLÖCHLE: »Die ästhetische Erfahrung (des Theaterzuschauers)«, S. 111ff. 173 Zum Folgenden vgl. ebd., S. 121ff. 174 Ebd., S. 121. 175 Ebd.
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toren die Informationsverarbeitung und ist einzig dem Pol Subjektbezug zugeordnet. Der Rezipient »setzt das Wahrgenommene in Beziehung zu seinen ganz individuellen Erfahrungen«, womit Olsen und Blöchle die Forderung der Didaktik nach »Lebensweltbezug« eingelöst sehen.176 Die dritte Stufe der expliziten Klassifikationsannäherung, die eine Mischform zwischen Subjekt- und Objektbezug darstellt, lässt den Rezipienten versuchen, Zuordnungen des Wahrgenommenen zu bereits vorhandenen Erfahrungsschemata vorzunehmen. Der Rezipient beginnt also »mit Einschätzungen, so dass ab dieser Stufe von einer sich allmählich vertiefenden Auseinandersetzung auszugehen ist.«177 Diese Vertiefung ist nach Olsen und Blöchle dadurch gewährleistet, dass für den Rezipienten nicht mehr nur das subjektiv Wahrgenommene ausschlaggebend ist, sondern in diesem Stadium auch eine Auseinandersetzung mit der Umgebung stattfindet. Die vierte Stufe schließlich benennen die Verfasser als Reflexionsweise und meinen damit zwei unterschiedliche Zugänge der Reflexion über eine erlebte ästhetische Erfahrung, die komprehensive und die personale. Wie die dritte stellt auch die vierte Stufe eine Mischform zwischen Objekt- und Subjektbezug dar, die Zugänge jedoch lassen sich eindeutiger einem der beiden Pole zuordnen. So widmet sich der Rezipient bei der komprehensiven Reflexionsweise »ausschließlich dem Kunstwerk beziehungsweise einem bestimmten Aspekt desselben«, womit Olsen und Blöchle vor allem einen Rekurs auf die Beziehung zwischen Form und Inhalt meinen. 178 Damit lässt sich diese Reflexionsweise dem Objektbezug zuordnen. Bei der personalen Reflexionsweise hingegen, die dem Pol Subjektbezug zuzuordnen ist und die unmittelbar an die zweite Stufe ästhetischer Erfahrung anschließt, kann etwa ein als unbefriedigt erlebter Verstehenszustand abgemildert werden, weil sie sich in hohem Maße durch Selbstbezogenheit auszeichnet. Insbesondere dieser Reflexionsweise bescheinigen die Autoren im schulischen Kontext großen Unterstützungsbedarf seitens der Lehrer oder geschulter Theaterpädagogen.179 Die fünfte Stufe des didaktischen Stufenmodells von Olsen und Blöchle bildet eine vorläufige Evaluation, die wiederum eine Mischform zwischen Objekt- und Subjektbezug darstellt: »Der Rezipient versucht, die erlebte Ambiguität zu reduzieren, indem er beginnt, ein Urteil zu bilden [sic!] und somit zu ersten Bewertungen/Einordnungen gelangt.«180 Dabei können die Rezipienten durch die Distanz, die sie mittlerweile zur ursprüngli-
176 Vgl. ebd., S. 122. 177 Ebd. 178 Vgl. ebd., S. 123. 179 Vgl. ebd. 180 Ebd., S. 124.
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chen Wahrnehmung des Kunstwerkes gewonnen haben, zu variablen Urteilen darüber kommen. Als Ziel ihres Modells sehen Olsen und Blöchle, »dass in Bildungszusammenhängen zukünftig nicht mehr von der ästhetischen Erfahrung gesprochen wird, sondern dass vielmehr danach geschaut wird, auf welcher Stufe sich der Schüler womöglich gerade befindet, um vielleicht anschließend didaktischmethodische Settings auszuwählen, die für ein Voranschreiten – oder auch Verweilen – sinnvoll erscheinen.«181 Im größeren Kontext beziehen sich die Autoren dabei nicht nur auf »ästhetische Theatererfahrungen«, sondern auf ästhetische Erfahrungen im Allgemeinen, die sie als Kern des literarischen Lernens erfassen und dem Deutschunterricht daher als Schwerpunkt einzuschreiben suchen. 182 Unbeantwortet bleibt die Frage, worin genau die ästhetische Erfahrung der Rezipienten zu sehen ist, die Olsen und Blöchle in ihrem Stufenmodell beschreiben. Dass diese Frage offenbleibt, liegt vor allen Dingen an den theoretischen Prämissen des Modells: So geht es Seel und Kleimann in ihren Ausführungen um Spielarten ästhetischer Wahrnehmung und nicht primär um die ästhetische Erfahrung, die aus dieser Wahrnehmung resultiert. Dies verhält sich anders im Modell von Belke und Leder, das aus kognitionspsychologischer Sicht daran interessiert ist, ästhetische Erfahrung als Prozess beschreibbar zu machen. So vermischen Olsen und Blöchle Spielarten ästhetischer Wahrnehmung, die untereinander nicht in einer prozesshaften Verbindung stehen, mit dem prozesshaften Denken Belkes und Leders zu einem neuen prozesshaft zu denkenden didaktischen Stufenmodell. Die ästhetische Erfahrung selbst ist aber in ihrem Modell schon als gemacht vorauszusetzen. Sie ist also nicht erst ein Ergebnis des Durchlaufens der vorgeschlagenen Stufen, sondern diese Stufen können umgekehrt nur dazu dienen, Aspekte des Zustandekommens einer bereits gemachten Erfahrung zu thematisieren und nachträglich zu reflektieren. Aus philosophischer Sicht stellt sich zudem die Frage, ob die erste bis dritte Stufe des Modells voneinander zu trennen sind. Der noch eingehend zu erläuternde und auch von der Theaterwissenschaft zur Beschreibung der Aufführung herangezogene phänomenologische Ansatz, den auch schon Paule als Pendant eines semiotischen Zugangs stark gemacht hat, würde etwa davon ausgehen, dass es etwas wie die von Olsen und Blöchle auf der ersten Stufe ihres Modells verorteten kontextenthobenen Wahrnehmungen nicht gibt und etwas erst dann wahrgenommen wird, wenn es dem Wahrnehmenden bedeutsam geworden ist. Darüber hinaus würde das, was die Autoren in der dritten Stufe des Modells verorten, immer schon die Grundlage der Wahrnehmung bilden: Der eigene Erfahrungshorizont, vor dem sich die Welt 181 Ebd. Hervorhebung im Original. 182 Vgl. ebd., S. 125.
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des Wahrnehmenden konstituiert, bestimmt bereits das, was wahrgenommen wird, und hat Auswirkungen darauf, wie es wahrgenommen wird. Die Wahrnehmung eines Gegenstandes wie der Theateraufführung lässt sich – phänomenologisch betrachtet – wie auch die Erfahrung dieses Gegenstandes im Zwischenraum zwischen Subjekt und Objekt verorten. Hilfreich ist das Modell von Olsen und Blöchle allerdings deshalb, weil es einzelne Aspekte des Wahrnehmungsvorgangs herausstellt und beschreibbar macht, auch wenn diese Aufspaltung letztendlich vor allem aus heuristischen Gründen zur Beschreibung der Aufführungsrezeption im Theater nutzbar gemacht werden kann. Die Vorstellung eines Stufenmodells und die Auffassung, dass es beschreibbare Stufen ästhetischer Erfahrung gibt, die unabhängig vom Kunstwerk für alle Wahrnehmenden in gleichem Maße beschreibbar sind, werden in dieser Arbeit nicht weiter verfolgt. Die spezifische Materialität und Medialität, die ein Kunstwerk zu einem Werk einer bestimmten Kunstgattung machen, müssten stärker in ein Modell der Wahrnehmung der Theateraufführung – und von Kunst allgemein – einbezogen werden, wenn die Gegenstände selbst ausreichend zur Geltung kommen sollen. Zudem wäre zu klären, in welchem Verhältnis Wahrnehmen und Verstehen bei der Aufführungsrezeption zu sehen sind. Einen Vorschlag zur Klärung dieses Verhältnisses bringt in die Didaktik der Theaterwissenschaftler Roselt ein. Auf eine Auswahl seiner Beiträge ist daher einzugehen. Aufführungsrezeption zwischen Wahrnehmen und Verstehen Hinweise darauf, wie die Auseinandersetzung mit Theateraufführungen auch im Rahmen der Theaterdidaktik konzipiert werden könnte, finden sich in den neueren didaktischen Veröffentlichungen zu diesem Thema immer wieder dort, wo auf die relevanten Bezugswissenschaften zurückgegriffen wird. Neben den Positionen Fischer-Lichtes, auf die auch Paule in ihrer Kultur des Zuschauens eingeht, ist es vor allem Roselt, der innerhalb der Theaterwissenschaft für die Ausformulierung einer Phänomenologie des Theaters183 steht und diesen Zugang auch der Theaterdidaktik vorschlägt. Im von Olsen herausgegebenen Themenheft zur Theaterrezeption findet sich ein Artikel, in dem Roselt den von ihm vertretenen phänomenologischen Zugang zur Aufführung skizziert und der daher auch an dieser Stelle aufgegriffen werden muss, um das Grundanliegen dieses Zugangs zu verdeutlichen.184 Die Herausforderung, vor die Roselt die Theaterdidaktik gestellt sieht, ist die Beantwortung der Frage, »wodurch sich die Lektüre eines Dramas im Unterricht von der Wahrnehmung einer Inszenierung dieses Dramas in einer Aufführung 183 ROSELT: Phänomenologie des Theaters; vgl. dazu auch 2.3.3. 184 Vgl. ROSELT: »Die Kunst des Ereignisses«.
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unterscheidet.«185 Dabei stellt er zwei Aspekte für den unterrichtlichen Umgang mit Aufführungen besonders heraus: die Umsetzung des Dramas einerseits und das flüchtige Erlebnis der Aufführung andererseits, das aus der Anwesenheit von Zuschauern und Schauspielern zur gleichen Zeit am gleichen Ort resultiert. »Das unmittelbare Erleben des Gegenübers, die Erfahrung der Präsenz des anwesenden Anderen ist für viele Theaterenthusiasten das Signum ästhetischer Erfahrung. Wenn man nun die gleichzeitige Anwesenheit, das Live-Erlebnis, für das Kennzeichen von Theateraufführungen hält, dann kann man dies bei deren Analyse beziehungsweise bei der Thematisierung von Inszenierungen und der Integration von Aufführungsbesuchen in den Unterricht nicht als Nebeneffekt abtun. Zur Kunst würde Theater demnach nicht allein durch die perfekte Inszenierung, die einen dramatischen Text adäquat auslegt und zur Anschauung bringt, sondern auch durch die Art und Weise, wie das flüchtige Ereignis der Aufführung gemeinsam mit den Zuschauern hervorgebracht und gestaltet wird. Eine Aufführung von ihrer Ereignishaftigkeit zu denken, bedeutet, in der gleichzeitigen Anwesenheit nicht lediglich die mediale Bedingung der Rezeption zu erkennen, sondern im Vollzug des Ereignisses etwas entstehen zu sehen, was nicht vorgefertigt oder lediglich zur Kenntnis zu nehmen wäre. Es geht damit um den Spielraum, der zwischen Akteuren und Zuschauern geschaffen wird.«186
Das Erleben der Theateraufführung ist also sowohl von der Körperlichkeit der Wahrnehmenden beeinflusst als auch von der Körperlichkeit der übrigen Anwesenden. Dadurch verlangt der Besuch einer Theateraufführung eine Rezeption, die »nicht als Lektüre einer mehr oder weniger fixierten zeichenhaften Textur beschrieben werden [kann], sondern […] als Teilhabe an einem flüchtigen Ereignis aufzufassen [ist]«187. So unterscheidet sich aufgrund der spezifischen Materialität der Theateraufführung auch die geforderte Rezeptionshaltung von der Haltung eines Analysierenden, »dessen Auseinandersetzung mit der Aufführung schon im Pausengespräch beginnt« und darüber hinaus »bis zur Unterrichtsdiskussion reichen kann«.188 Phänomenologisch auf die Theateraufführung zu blicken, bedeutet im Sinne Roselts vor allem Erinnerungsarbeit, weil die Erinnerung markanter Momente den Referenzpunkt der Analyse darstellt.189 Der Blick des sich Erinnernden wird damit zwangsläufig auf die Unabschließbarkeit des Erinnerungsprozesses ge185 Ebd., S. 48. 186 Ebd., S. 54. 187 Ebd., S. 58. 188 Vgl. ebd., S. 60. 189 Vgl. ebd.
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lenkt, weil das Gedächtnis des Subjektes, das ihm das Wissen zugänglich macht, »unabgeschlossen, prinzipiell unendlich und dabei kaum willkürlich verfügbar«190 ist. Erinnerungsvorgang und Wahrnehmungsvorgang können also voneinander unterschieden werden. Während die Wahrnehmung an den chronologischen Verlauf der Aufführung gehaftet ist, ist die Erinnerung vom tatsächlichen chronologischen Verlauf unabhängig. Dieser Unterscheidung zwischen chronologischem Ablauf und nichtchronologischer Rekonstruktion entspricht der begriffliche Unterschied zwischen Aufführung und Inszenierung.191 Das in der Inszenierung Angelegte und Geplante wird zeitlich sukzessiv aufgebaut. Nach der Aufführung wäre die Rekonstruktion der Inszenierung also gleichzusetzen mit der zeitlich sukzessiv verlaufenden Rekonstruktion des Wahrgenommenen. Anders verhält sich dies bei der Aufführung. Sie wird anhand markanter Momente erinnert, deren Relevanz nicht aus dem chronologischen Verlauf der Aufführung hervorgeht. Die Erinnerung verläuft im Gegensatz zur konkreten Wahrnehmung während der Aufführung also diskontinuierlich.192 Aufführungsanalyse geht es vor dem Hintergrund des phänomenologischen Zugangs um die »qualitative Dimension der eigenen Erinnerung«, an der sich in Gestalt der erinnerten markanten Momente zeigt, wie das Wahrzunehmende mit dem Wahrnehmenden im Zwischenraum von Subjektund Objektbezug zusammentrifft. Methodisch nähert sich Roselt den Erinnerungen über Protokolle, die im unmittelbaren Anschluss an die besuchte Theateraufführung von den Teilnehmern erstellt werden sollen.193 In diesen Protokollen geht es um die Nutzbarmachung der eigenen Wahrnehmung und der Erfahrungen während der Aufführung, nicht, um »den authentischen Aufführungsmoment nachträglich subjektiv wach zu küssen, sondern [um, P.K.] ihn zu objektivieren, indem man ihn für andere beschreibt und die eigene Beschreibung dabei distanziert in den Blick«194 nimmt. Die markanten Momente, die dabei erinnert und in den Protokollen durch die mediale Transformation in geschriebene Sprache bereits festgehalten und reflektiert wurden, können nun für die Analyse der Aufführung nutzbar gemacht werden. Roselt gibt dazu das Beispiel der Erinnerung an die Körperlichkeit eines bestimmten Schauspielers:
190 Ebd. 191 Vgl. dazu auch 2.1.5. 192 Vgl. ebd. 193 Vgl. ebd., S. 61. 194 Ebd.
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»Im Anschluss daran ließe sich fragen, wodurch die Körperlichkeit zum Ereignis für die Zuschauer werden konnte. Wie sah der Körper aus? Was hat er gemacht? Mit welchen Worten wird physische Präsenz beschrieben? Welche werden vermieden? Das Kichern und Tuscheln angesichts des nackten Königs […] versickert so nicht im Morast der zwielichtigen Rezeptionshaltungen eines pubertierenden Publikums, sondern wird als Erfahrung souveräner Zuschauer thematisch, die zwar verunsichert sind, ihrer eigenen Wahrnehmungskrise aber nicht mehr hilflos ausgeliefert bleiben.«195
Distanz zur eigenen Wahrnehmung bildet vor diesem Hintergrund das vorrangige Ziel, denn sie ist Roselt zufolge unabdingbare Voraussetzung für die Analyse und einen reflektierten Umgang mit Kultur überhaupt.196 Damit ist der phänomenologisch akzentuierte Zugang zum Theater und zur Aufführungsanalyse gegen einen Theaterbegriff in Stellung gebracht, der die performative Hervorbringung der Aufführung und ihrer Materialität nicht berücksichtigt und allein auf semiotische Gesichtspunkte fokussiert. Der Vorwurf gegen diesen Zugang, er thematisiere die Ästhetik des Theaters nur am Rande und sei eher dem Bereich der Verhaltensforschung zuzurechnen, ist für Roselt »insofern berechtigt, als deutlich geworden sein dürfte, dass ein in der Ästhetik elaboriertes klassisches Kunstverständnis, das auf Schöpfertum, Originalität und Werkbegriff fixiert ist, bei einer Ästhetik des Performativen nicht in Anschlag gebracht werden kann.«197 Rechnet das klassische Kunstverständnis im 18. Jahrhundert das Theater nur wegen seines Zusammenhangs mit dem literarischen Werk, dem Drama, überhaupt zur Kunst, hält im 19. Jahrhundert die These vom Theater als »Gesamtkunstwerk«198 Einzug, dessen Wert und Eigenart erst im Zusammenspiel der an ihm beteiligten Künste zur Geltung kommt und konstituiert wird.199 Weil das Gesamtkunstwerk hinsichtlich der ästhetischen Kriterien der Einzelkünste notwendigerweise zurückbleiben und als Reduktion aufgefasst werden muss, betont bereits die Theatertheorie des frühen 20. Jahrhunderts die Originalität der Aufführungssituation auch in »produktiver Abgrenzung« zu Wagners Begriff des Gesamtkunstwerkes. 200 In dieser Tradition ist auch der Zugang zum Theater und der Analyse der Aufführung zu sehen, den Roselt vorlegt. Der dramendidaktischen Perspektive, die der literarischen Parti195 Ebd., S. 62. 196 Vgl. ebd. 197 ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 363. 198 Dieser Begriff geht zurück auf Richard Wagners Ausführungen insbesondere zum Musikdrama. Vgl. WAGNER: »Das Kunstwerk der Zukunft«. 199 Vgl. ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 364. 200 Vgl. ebd., S. 365.
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tur einer Inszenierung bei der Analyse der Aufführung noch immer große Bedeutung zuschreibt, stellt er einen Zugang entgegen, der die Performativität des Theaters als Ausgangspunkt der Analyse begreift und im ereignishaften Vollzug von Zwischengeschehen das Markenzeichen des Theaters sieht. Ein unter dem Titel Wege ins Theater201 von Bönnighausen und Paule herausgegebener Sammelband vertieft das Anliegen, das auch das von Olsen herausgegebene Themenheft zur Theaterrezeption verfolgte, nämlich »die vorhandenen [theaterdidaktischen, P.K.] Konzepte konsequent auszubauen«.202 Dazu versammeln Bönnighausen und Paule Expertise aus Literaturdidaktik, Theaterwissenschaft, Theaterpädagogik und Theaterdidaktik, um »mehrperspektivisch und exemplarisch auszuloten, welche Wissensbestände im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Theater im schulischen Deutschunterricht relevant werden und auf welche Zielsetzungen, welche Kompetenzen hin sie didaktisch perspektiviert und gewichtet werden müssen.«203 Die Fokussierung auf die Rezeption von Theateraufführungen begründen Bönnighausen und Paule damit, dass »das Zuschauen im Theater, der unterrichtliche Umgang mit besuchten Theateraufführungen, […] ein Bereich [ist], der – verglichen mit dem szenischen Spiel – deutschdidaktisch weit weniger erschlossen und etabliert ist.«204 Für die Überlegungen der vorliegenden Arbeit ausschlaggebend ist der erneute Rückgriff auf die phänomenologische Perspektive der Theaterwissenschaft, für die in diesem Sammelband ebenfalls ein Aufsatz von Roselt steht. Er fasst darin zunächst zusammen, was die Wahrnehmung von Theateraufführungen ausmacht: »Die Wahrnehmung einer Aufführung kann nicht auf die Ermittlung von Bedeutungen, Interpretationen, Aussagen oder Regie-Absichten reduziert werden. Die Konzentration auf diese intellektuelle und auf das Verstehen gerichtete Dimension führt zur Verdrängung all jener ambivalenten Zuschauerhaltungen, von denen die Faszination für das Theater geprägt sein kann: Aufregung, Unterhaltung, Langeweile, Spannung, Aggression oder Erotik oder Aspekte wie Gefühle, Assoziationen und Biografisches.«205
Das Spannungsverhältnis von »Erleben/Erfahren« einerseits und »Verstehen/Interpretieren« andererseits führt demnach zu markanten »Krisensituatio201 BÖNNIGHAUSEN/PAULE: Wege ins Theater: Spielen, Zuschauen, Urteilen. 202 Vgl. BÖNNIGHAUSEN/PAULE: »Einleitung«, S. 7. 203 Ebd. 204 Ebd. 205 ROSELT: »Stile des Zuschauens«, S. 71f.
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nen«.206 Diese Krisensituationen zu etablieren, in denen das Erfahrene vom Rezipienten nicht unmittelbar interpretiert werden kann, gilt Roselt als der Zweck des Theaters, bedingen sie doch das »Schauspiel der Aufmerksamkeit«, das aus der leiblichen Ko-Präsenz aller an der Aufführung Beteiligten resultiert.207 Auf diese Weise wird der phänomenologische Zugang Roselts noch einmal präzisiert: Die Krisensituationen, die als markante Momente erinnert werden, können durch eine sorgfältige »Beschreibung dessen, was man gesehen und gehört hat«, erfasst werden, weil auf der Bühne »keine Konzepte [stehen], sondern Schauspieler, die in bestimmten Räumen konkrete Handlungen vollziehen«.208 Aus diesem Grund ist Aufführungsanalyse für Roselt zuallererst »Beschreibungskunst«209. Die Thematisierung dessen, was bei der Aufführungsrezeption wahrgenommen wurde, nimmt ihren Ausgang somit in der genauen Beschreibung der markanten Momente und gerade nicht in der kognitiv-intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Gesehenen. Rezipienten können, so Roselt, nach dem Besuch des Theaters zwar feststellen, dass sie eine Aufführung verstanden oder nicht verstanden haben, allerdings nicht, dass sie darin nichts gesehen, gehört oder erfahren haben.210 Gerade jene Momente aber, in denen wahrnehmbar wird, dass sie etwas nicht verstanden haben, in denen also das Aufeinandertreffen von Aufführung und Anwesenden zu einer kognitiv-intellektuell nicht überbrückbaren Irritation geführt hat, können für die Analyse von Aufführungen ausschlaggebend sein: »Analysieren heißt auch, die Lücken, Unklarheiten oder Fragwürdigkeiten einer Aufführung zu ermitteln und zu untersuchen.«211 Aufführungsrezeption, so lässt sich die Position Roselts bis hierher zusammenfassen, bewegt sich – phänomenologisch ausgerichtet – zwischen den Polen Verstehen und Wahrnehmen. Während die dramendidaktischen Konzepte, die auch die Theateraufführung berücksichtigen, das Verstehen der Aufführung auf verschiedenen Wegen wie der Vermittlung von Wissen über das Theater oder einer vorangegangenen Inszenierungstätigkeit herzustellen suchen, lassen sie die Wahrnehmung der Theateraufführung selbst unberücksichtigt. Soll die Theaterdidaktik, wie von Paule gefordert, auch den phänomenologischen Zugang zum Theater aufgreifen, muss sie sich zwangsläufig mit der Wahrnehmung von Theateraufführungen auseinandersetzen und diese didaktisch aufbereiten. Dies geschieht allerdings bis in die Gegenwart hinein im theaterdi206 Vgl. ebd., S. 69. 207 Vgl. ebd. 208 Vgl. ebd., S. 72. 209 Ebd. 210 Vgl. ebd., S. 73. 211 Ebd.
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daktischen Forschungsfeld noch nicht in ausreichendem Maße. Außerhalb des theaterdidaktischen Kontextes im engen Sinne allerdings hat Bönnighausen einen Vorstoß unternommen, Materialität und Ereignis als Pole ästhetischer Erfahrung in die literatur- und mediendidaktische Diskussion einzubringen, wobei sie explizit von der Wahrnehmung ausgeht. Im Folgenden wird diese Polarität zunächst skizziert, um anschließend darzulegen, inwieweit diese Begriffe auch den theaterdidaktischen Diskurs um die Erforschung rezeptionsseitiger Aspekte der Theateraufführung und ihre Aufbereitung befruchten können. Im Anschluss daran ist es möglich, das Desiderat auszumachen, das im weiteren Verlauf der Überlegungen bearbeitet wird. Aufführungsrezeption zwischen Materialität und Ereignis In ihrem 2015 veröffentlichten Aufsatz Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung (nicht nur) im Deutschunterricht untersucht Bönnighausen »wie im Bewusstsein der prinzipiellen Unmöglichkeit einer Vermittlung von Bildung, inner- und außerhalb des Deutschunterrichts Räume geschaffen werden können, die Schülern ästhetische Erfahrungen im Umgang mit Film, Theater und vor allem Literatur ermöglichen«.212 Eingedenk dessen, dass der Begriff der ästhetischen Erfahrung in allen Wissenschaften, die sich mit ihm auseinandersetzen, ein schillernder ist und auch innerhalb der Didaktik kein Konsens über eine einheitliche Begriffsdefinition besteht, greift Bönnighausen die Position Georg W. Bertrams auf, demnach ästhetische Erfahrung eine besonders komplexe Form der Erfahrung darstellt, die in der Auseinandersetzung mit Kunstwerken ihren Ursprung haben kann.213 Da ästhetische Objekte, so Bönnighausen vor allem im Anschluss an Christoph Menke214, eine Erfahrung ermöglichen, die als ein Zaudern zwischen den Polen Material und Signifikant gefasst werden kann, wird die Wahrnehmung dieser Objekte aufgrund der durch sie möglicherweise hervorgerufenen Irritation zu einer de-automatisierten.215 Damit lässt sich der Wahrnehmungsprozess ästhetischer Objekte nicht mehr nur als allein kognitiv gesteuerte Analyse fassen, sondern vielmehr als Widerfahrnis »in der Konfrontation beziehungsweise Interaktion mit dem Kunstwerk«, als »Ereignis, das durch die subjektive Komponente auch durchaus als affektiv bestimmt ist«.216 Dies lässt sie Überlegungen darüber anstellen, »inwieweit Materialität und Ereignis die entscheidenden Komponenten aller Überlegungen zur ästhetischen Erfahrung bilden 212 Vgl. BÖNNIGHAUSEN: »Materialität und Ereignis«, S. 176. 213 Vgl. BERTRAM: Kunst. Eine philosophische Einführung, S. 292. 214 Vgl. MENKE: Die Souveränität der Kunst, S. 63. 215 Vgl. BÖNNIGHAUSEN: »Materialität und Ereignis«, S. 177. 216 Vgl. ebd.
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und wie sich durch die Einbettung in eine phänomenologische Rezeptionstheorie beide Dispositive aufeinander beziehen lassen, um so einen Spielraum für ästhetische Erfahrung (nicht nur) im Deutschunterricht zu ermöglichen.«217 Im phänomenologischen Konzept ästhetischer Erfahrung kommen die von Bönnighausen identifizierten Pole Materialität und Signifikant dadurch zusammen, dass »Fühlen und Denken sowie der materielle Körper des Kunstwerks und des Rezipienten als Bestandteile ästhetischer Erfahrung gleichermaßen und gleichberechtigt aufeinander bezogen werden.«218 Denn dem sinnlichen Berührtwerden durch einen künstlerischen Gegenstand ist der Phänomenologie zufolge ein Erkenntnischarakter eigen, weil es das sinnliche Spüren der Gegenstände ist, das sie dem Wahrnehmenden als sie selbst erschließt. 219 Ein phänomenologischer Zugang zu den Gegenständen des Deutschunterrichts nimmt also das Ereignis der (Erst-)Begegnung zwischen Gegenstand und Subjekt der Wahrnehmung ernst und tut dies gerade ohne ein explizites Vorwissen bereitzustellen.220 Jedoch stellt auch ein solcher Zugang eigene Anforderungen an den Umgang mit der Erfahrung, die aus der Begegnung zwischen Subjekt und Gegenstand resultieren. Das Ernstnehmen der ästhetischen Erfahrung als Ereignis »entbindet nicht von einer präzisen und detaillierten Auseinandersetzung mit der Materialität von Kunstwerken, um zu erkunden, wodurch die Brüche und Irritationen ausgelöst werden. Wenn die Begegnung mit Literatur im Deutschunterricht von den Dispositiven Materialität und Ereignis ausgeht, kann deutlich werden, dass die im Literaturunterricht häufig zu beobachtende alleinige Beschränkung auf Handlungsaspekte und Figurencharakterisierungen in ihrer zeitgeschichtlichen Kontextuierung genau diejenige illusionäre Abbildung von Wirklichkeit als vermeintlich bruchlose Ganzheit beschwört, deren Durchbrechung erst Literarizität ausmacht. Um letztere nachvollziehbar zu machen, müssten hingegen die subjektiv erfahrene Ereignishaftigkeit des Kunstwerks über Brüche und Leerstellen sowie die Auseinandersetzung mit der materialen Beschaffenheit als Auslöser dieser Irritationen im Zentrum stehen.«221
Die Überlegungen Bönnighausens lassen sich in produktiver Weise mit den bisher skizzierten theaterdidaktischen Konzepten verbinden und schärfen auch die vorgeschlagene Begriffsdefinition von Theaterdidaktik. Diese Zusammenfüh-
217 Ebd. 218 Ebd., S. 186. 219 Vgl. ebd., S. 187. 220 Vgl. ebd. 221 Ebd.
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rung und die Benennung des daraus resultierenden Desiderates werden im Folgenden geleistet.
1.4 THEATERDIDAKTIK: AUSGANGSPUNKTE DER WEITEREN ÜBERLEGUNGEN Wenn Dramen- und Theaterdidaktik durch den Zugriff der Dramendidaktik auf die Aufführung vom Dramentext her und den Zugriff der Theaterdidaktik von der Aufführung her voneinander abgegrenzt wurden, dann sind dies unterschiedliche Perspektiven auf den Gegenstand, die von einer spezifischen Materialität und Ereignishaftigkeit ausgehen. Den Umgang mit Drama und Theateraufführung in didaktischen Konzepten miteinander zu verbinden, ohne sich der Literarizität des einen und der Theatralität und performativen Hervorbringung des anderen bewusst zu sein, hieße, die Wesensmerkmale beider Gegenstände unberücksichtigt zu lassen. In diesem Sinne kann die Theaterdidaktik, wenn sie die Theateraufführung als ihren zentralen Gegenstand begreift, die notwendige Ergänzung der Dramendidaktik darstellen: Erst wenn Schüler mit der je spezifischen Materialität beider Kunstformen, dem dramatischen Text und der Theateraufführung, und den als Widerfahrnis subjektiv wahrgenommenen Auslösern der durch sie ermöglichten Erfahrungen umzugehen vertraut sind, ist der Grundstein für die Fähigkeit zur Interaktion mit diesen Kunstformen gelegt worden. Die dieser Arbeit zugrunde liegende Theaterdidaktik hat also die Auseinandersetzung mit der spezifischen Materialität und Ereignishaftigkeit der Theateraufführung zum Ziel. Paule hatte ihre Grundzüge der Theaterdidaktik auf der Forderung aufgebaut, im Umgang mit der Theateraufführung sowohl semiotische als auch performative Aspekte miteinander zu verbinden, weil beide in der Aufführungsrezeption nicht voneinander zu trennen seien. Während allerdings die semiotischen Aspekte der Theateraufführung durch eine Analyse und Rekonstruktion der Inszenierung didaktisch gut operationalisierbar sind, ist dies im Falle der Aufführung schwieriger. Denn die Rekonstruktion dieses flüchtigen Ereignisses ist nur über markante Momente möglich, deren Abfolge sich vom tatsächlichen chronologischen Verlauf der Aufführung unterscheiden kann. Wenn sich die Aufführungsrezeption mit Roselt zwischen dem Verstehen – also der Ermittlung von Bedeutungen, Interpretationen, Aussagen oder Regieabsichten – und der Wahrnehmung unter den Bedingungen des Aufführungsereignisses verorten lässt, dann stellt sich die Frage, wie sich eine Verbindung zwischen beiden Dimensionen, dem Verstehen und der Wahrnehmung, dem Semiotischen und dem Performati-
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ven, herstellen lässt, damit daraus ein theaterdidaktisch aufbereiteter Umgang mit der Theateraufführung resultieren kann. Die Entwicklung einer Methode phänomenologischer Analyse sieht auch Paule dabei als Desiderat.222 Die Bearbeitung dieses Desiderates fällt nun aber nicht primär in den Bereich der Theaterdidaktik, sondern kann nur in Bezug auf deren Bezugswissenschaften geleistet werden. Wie anhand der Beiträge Bönnighausens und Roselts gezeigt werden konnte, lassen sich sowohl in der Theaterwissenschaft als auch in der Philosophie Ansätze finden, die einen phänomenologischen Zugriff auf die Theateraufführung verfolgen. Insbesondere der Beitrag Bönnighausens verwies zudem darauf, dass sich ein phänomenologischer Ansatz für die Literatur- und Mediendidaktik insgesamt nutzbar machen lässt. Die Tatsache jedoch, dass etwa das Modell Olsens innerhalb der theaterdidaktischen Forschungsliteratur kaum diskutiert worden ist, macht deutlich, dass die in den Bezugswissenschaften bereitliegenden und darin diskutierten Zugänge zur Aufführungsrezeption jenseits der semiotisch ausgerichteten Aufführungs- und Inszenierungsanalyse bislang von der Theaterdidaktik nicht konsequent aufgegriffen und nutzbar gemacht werden. Dass die theaterwissenschaftliche Forschung zudem bereits spätestens seit den 1990er Jahren bemüht ist, die semiotische um eine phänomenologische Zugangsweise zu ergänzen, fand in der Dramen- und Theaterdidaktik insgesamt ebenfalls nur wenig Widerhall. Damit aber kann ein wesentlicher Aspekt des Theaters, das Spiel mit der Wahrnehmung aller Beteiligten, didaktisch als unterrepräsentiert gelten. Insbesondere vor dem Hintergrund der noch immer als obligatorisch anzusehenden Theaterbesuche im Rahmen der schulischen Behandlung von Dramen wäre die Bearbeitung dieses Desiderates notwendig, um Schüler sowohl mit dem Wesen des Theaters, seiner Mittel und seiner Faszination vertraut zu machen als auch mit Aspekten der Wahrnehmung, die über die Begegnung mit dem Theater hinaus Bedeutung haben. Dieses Desiderat wird in der vorliegenden Arbeit durch die Modellierung eines phänomenologischen Zugangs im Kontext der Theaterdidaktik bearbeitet. Die weiteren Überlegungen knüpfen dabei an den skizzierten Forschungsstand an, klammern allerdings einige Aspekte aus, die in den genannten Beiträgen dieses Kapitels zur Sprache kamen. So stellen Olsen, Blöchle und Bönnighausen ihre Überlegungen vor dem Hintergrund von Erfahrungen an, die sie ästhetische nennen. Da die Fragen, ob es sich bei den Erfahrungen der Zuschauer im Theater um ästhetische handelt und welche Erfahrungen aus welchen Gründen als ästhetische zu qualifizieren sind, über den Rahmen dieser Arbeit hinausgehen würden, bleiben sie im Folgenden weitgehend unberücksichtigt. Wo der Begriff der ästhetischen Erfahrung genannt wird, geschieht dies unter Bezug222 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 250.
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nahme auf die jeweils zugrunde liegende Definition, ohne diese selbst wiederum zu diskutieren. Dies ist in dieser Arbeit insofern möglich, als Wahrnehmungserfahrungen überhaupt im Fokus stehen, ohne sie zwangsläufig als ästhetische qualifizieren zu müssen. Zudem bewegen sich die folgenden Überlegungen immer im Kontext einer Theaterdidaktik im skizzierten Sinn, womit ihre Reichweite durch den Gegenstand Theateraufführung begrenzt wird. Bönnighausens Ausführungen zu einem phänomenologischen Zugang mit den Dispositiven Materialität und Ereignis stellen den bislang letzten Versuch aus der Literatur- und Mediendidaktik selbst heraus dar, einen solchen Zugang zu den Gegenständen des Literaturunterrichts zu initiieren. In Verbindung mit ihren Ausführungen zur Theatralität kann man ihr daher zuschreiben, für eine erste tragfähige Anschlussfähigkeit der phänomenologischen Perspektive an die Literatur- und Mediendidaktik gesorgt zu haben. Anders als in den Überlegungen Bönnighausen aber soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit lediglich darüber nachgedacht werden, wie sich ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung unter Zuhilfenahme der Bezugswissenschaften im theaterdidaktischen Kontext nutzbar machen lässt und ob die Dispositive Materialität und Ereignis dazu in Dienst genommen werden können. Im ersten Kapitel wurde zunächst darauf eingegangen, welches Verständnis von Theaterdidaktik den Überlegungen dieser Arbeit zugrunde liegt, welche Forschungsperspektive sich daraus ergibt und welches Desiderat bearbeitet wird. Diese Bearbeitung beginnt damit, dass das Theater im Folgenden von der Wahrnehmung her unter Zuhilfenahme theatertheoretischer Positionen beschrieben wird. Gegen dieses Vorgehen kann eingewendet werden, dass das Theater aus didaktischer Perspektive im Laufe der Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand schon mehrfach beschrieben worden ist. Allerdings kann dem die vergleichsweise kurze Beschäftigung mit der Theateraufführung und ihrer Wahrnehmung entgegengehalten werden, die eine erneute Zuspitzung des Theaterbegriffs auf die Aufführungsdimension hin notwendig macht. Insofern wird das folgende Kapitel zunächst von einer allgemeinen Definition des Theaterbegriffes ausgehen und schließlich die Theateraufführung als Gegenstand fokussieren, um dann theaterwissenschaftliche Zugänge zur Aufführung unter besonderer Berücksichtigung des phänomenologischen Zugangs aufzugreifen.
2
Das Theater von der Wahrnehmung her beschreiben
Das erste Kapitel hatte zum Ziel, eine Definition der Theaterdidaktik vorzulegen und deren Forschungsperspektive zu verdeutlichen. Dabei zeigte sich, dass der Erforschung rezeptionsseitiger Aspekte der Theateraufführung didaktisch zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird und dies umso mehr geboten ist, wenn die Theateraufführung den Ausgangspunkt der Theaterdidaktik bilden soll. Begriffe wie Theater, Inszenierung oder Aufführung wurden dabei bisher so übernommen, wie sie in den didaktischen Konzepten und Positionen verwendet werden. Wenn nun aber das Unterscheidungsmerkmal zwischen Dramen- und Theaterdidaktik in ihrem Zugriff auf die Theateraufführung gesehen wird und die theaterdidaktisch perspektivierte Aufbereitung eines phänomenologischen Zugangs zur Wahrnehmung einer Theateraufführung ein Desiderat darstellt, dann muss die Aufführung zunächst selbst von ihrer Wahrnehmungsseite her in den Blick genommen werden. Die folgenden Überlegungen beschäftigen sich daher grundsätzlich aus theaterwissenschaftlicher Sicht mit dem Theater, um dann auf solche Aspekte zu fokussieren, die mit der Theateraufführung und ihrer Wahrnehmung verbunden sind. Deshalb wird in diesem Zusammenhang an erster Stelle Grundsätzliches über eine Definition der Theatersituation gesagt werden müssen, durch die die Theateraufführung in den Blick kommen kann. Im Zusammenhang mit der Fokussierung auf den Begriff der Aufführung wird auch auf die Begriffe Theatralität, Performativität und Ereignishaftigkeit eingegangen, die in einigen der im ersten Kapitel skizzierten didaktischen Beiträge ebenfalls bereits verwendet wurden. Um die Ergebnisse zu bündeln, stellt der letzte Abschnitt schließlich die in der Theaterwissenschaft vorhandenen Zugänge zur Theateraufführung, den theatersemiotischen und den phänomenologischen Zugang, einander gegenüber, wodurch auch die Auseinandersetzung mit der Phänomenologie im dritten Kapitel vorbereitet wird.
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2.1 DIE THEATERSITUATION Die Beschreibung des Theaters von der Wahrnehmung her verfolgt zuerst den Anspruch, die Theatersituation von anderen Situationen abzugrenzen und die grundsätzlichen Anforderungen zu skizzieren, welche die Theatersituation an alle Beteiligten stellt. Dieses Vorgehen lässt sich nicht zuletzt mit der theaterwissenschaftlichen Grundkonstante in Einklang bringen, seit ihrem Aufkommen auf die Aufführung zu fokussieren und den Dramentext als Untersuchungsgegenstand weitestgehend der Philologie zu überlassen.1 Eine Verbindung zwischen beiden, der Aufführung einerseits und dem Dramentext andererseits, wie sie sich in den dramendidaktischen Ansätzen zeigte, die diese Verbindung vom Drama aus herzustellen suchen, ist indes problematisch. Denn etwa die Verfahren der Simulierten Inszenierung vermögen die besondere Theatersituation nicht zu rekonstruieren, weshalb auch der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann darauf verweist, dass sich »das komplexe, diversifizierte und oft genug höchst widersprüchliche Verhältnis zwischen literarischem Text und Theaterrealität« nicht durch die Untersuchung der im Text intendierten »theatralen Wirklichkeit« erfassen lässt und »schon gar nicht eine implizierte, gar normative Kraft beanspruchende Ideal-Inszenierung auf diese Weise« konstruierbar ist.2 Dem Untersuchungsgegenstand der »theatralen Wirklichkeit« ordnet der Theaterwissenschaftler Manfred Brauneck gewissermaßen als Minimaldefinition verschiedene dialektische Verhältnisse zu, von denen zwei für die Beschreibung des Theaters von der Wahrnehmung her besonders bedeutsam sind:3 Als grundlegend gilt ihm, dass sich Theater »in der Dialektik von Spielen und Zuschauen«4 entfaltet. Es gibt in der Theatersituation also Spieler und Zuschauer, die sich jeweils bewusst für eine dieser Handlungsrollen entschieden haben und sich auf die daraus hervorgehende Dialektik einlassen.5 Nur so ist der Interaktionszusammenhang gegeben, der die Theatersituation von anderen Situationen unterscheidet. Ein Spielen zur Probe, ohne Anwesenheit von Publikum, ist demnach
1
Vgl. zu den Ausführungen Max Herrmanns, des Begründers der Theaterwissenschaft, auch HERRMANN: Forschungen zur deutschen Theatergeschichte des Mittelalters und der Renaissance.
2
Vgl. LEHMANN: »Die Inszenierung: Probleme ihrer Analyse«, S. 32.
3
Vgl. BRAUNECK: »Theater, Spiel und Ernst. Ein Diskurs zur theoretischen Grundle-
4
Ebd., S. 15.
5
Vgl. ebd.
gung der Theaterästhetik«.
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keine Theatersituation, sondern als eigene Situation neu zu bestimmen, weil sich der Charakter des Spiels wesentlich unterscheidet, wenn die Handlungsrollen des Spielers und des Zuschauers nicht eindeutig besetzt sind: »Die beiden Handlungsrollen, Spielen und Zuschauen, sind freilich höchst ungleich in ihrer Erfahrungsdimension, in der physischen und psychischen Beanspruchung der Rollenträger. Der Spieler exponiert sich ohne Rückhalt, der Zuschauer indessen vermag anonym zu bleiben im Dunkel des Parketts oder auf der Galerie [...] Durch diesen erst erhält das Spiel seine Ernst-Dimension, eine Qualität von Verbindlichkeit; ohne den Zuschauer bliebe das Spielen eben nur Spiel und würde nicht zum Theater, das seinem Wesen nach Spiel und Ernst zugleich ist. Der Spieler braucht den Zuschauer als Gegenüber; ihm als Kritiker oder Mitleidendem liefert er sich aus, und vor allem will er ihn unterhalten. In dieser Ausgesetztheit liegt die Verletzbarkeit des Spielers, aber auch seine Überlegenheit.«6
Mit der für die Theatersituation grundlegenden Dialektik von Spielen und Zuschauen ist das dialektische Verhältnis von »Spiel und Ernst«7 verknüpft. Denn für das Zustandekommen einer Theatersituation ist wie bei der Dialektik von Spielen und Zuschauen das Einlassen aller Beteiligten auf das Spiel der Theaterhandlung nötig, auch wenn die in der Theatersituation hervorgerufenen Emotionen als real empfunden werden können. Die Gleichzeitigkeit von Spiel und Ernst wird wiederum bedingt durch die Auswahl der Handlungsrollen und die Zustimmung zu den dialektalen Verhältnissen der Theatersituation. Sie manifestiert sich im Theater als Institution, in der Realität imaginiert und nachgeahmt und eine »Realität des ›Als-ob‹« dargestellt wird.8 Diese Realität konstituiert sich durch die klare Unterscheidung von Spielern und Zuschauern, die zwar beide ein fundamentales Element der Theatersituation sind, deren klare Differenzierbarkeit aber wesentlich für das Vorhandensein einer Theatersituation ist. Die Erörterung der theatertheoretischen Frage, ob diese Einschätzung Braunecks auch vor dem Hintergrund von Theaterformen zutrifft, die bewusst mit der Verwischung der Rollengrenzen spielen, muss im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Es ist davon auszugehen, dass das Spiel mit der Aufhebung der Handlungsrollen auf ihr Vorhandensein verweist und gerade deren Nicht-Unterscheidbarkeit thematisiert werden soll. Zu ihrer Entfaltung kommen die Eigenschaften der Theatersituation durch ein weiteres, allgemeines Element, das sie kennzeichnet und für die Wahrnehmung innerhalb der Theatersituation von entscheidender Bedeutung ist. Denn 6
Ebd., S. 28.
7
Ebd., S. 16f.
8
Vgl. ebd., S. 17f.
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»in seiner Unmittelbarkeit verweigert sich das Theater der Reproduktion« und »jede Aufführung ist in einem prinzipiellen Sinne einmalig, als aktuelle Handlung und Erlebnis ein Teil des Lebens selbst«.9 Wenn von einer Theatersituation die Rede sein soll, dann geht es also um unmittelbare Wahrnehmung und darum, »dass der agierende Schauspieler und der reagierende Zuschauer die Theaterhandlung gemeinsam vollziehen, dass in deren beider lebendiger Körperlichkeit Theater aktuell wird.«10 Auf der Grundlage dieser Ausführungen lässt sich nun noch einmal grundsätzlich umschreiben, was eine Theatersituation kennzeichnet: Konstitutiv für das Theater ist das Vorhandensein und die Unterscheidbarkeit von Personen, die sich für die Handlungsrollen der Spieler und der Zuschauer entschieden haben und die miteinander in Interaktion treten. Die von den Zuschauern unmittelbar wahrnehmbare und von den Spielern dargestellte Realität ist eine gespielte, auch wenn die Wirkung des Spiels und die wechselseitigen Reaktionen von Spielern und Zuschauern den Möglichkeitsraum des Als-ob verlassen und damit ›ernst‹ werden können. Insgesamt ist die Theatersituation mit ihren dialektischen Verhältnissen in hohem Maße von Konventionen geprägt, auf die sich sowohl Spieler als auch Zuschauer eingelassen haben, die aber durch deren gemeinsames Handeln auch in Frage gestellt und ausgehandelt werden können. In Bezug auf die Dimension der Wahrnehmung, die für die Ausführungen dieser Arbeit relevant ist, wird dabei an dieser Stelle eine begriffliche Differenzierung zwischen dem Inszenierungsbegriff und dem Aufführungsbegriff notwendig. Sie wird im Folgenden vorgenommen und vertieft.
2.2 INSZENIERUNG UND AUFFÜHRUNG Während die bisherigen Ausführungen mit dem Rückgriff auf die Definition der Theatersituation nach Brauneck bereits die Rolle der Wahrnehmung für das Theater angedeutet haben, wird nun auf jene Begriffe eingegangen, die sowohl in den Überlegungen zur Theaterdidaktik bereits Verwendung fanden als auch in der Theaterwissenschaft gebräuchlich sind, um den Theaterbegriff auszudifferenzieren: die Begriffe Inszenierung und Aufführung. Was für den Bereich der Theaterdidaktik festgestellt werden konnte, dass nämlich beide Begriffe häufig mit einer synonymen Bedeutungskonnotation verwendet werden, ist nun aus theaterwissenschaftlicher Perspektive zu bewerten.
9
Vgl. ebd., S. 24.
10 Ebd.
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2.2.1 Inszenierung In der theaterwissenschaftlichen Forschungsliteratur findet sich der Begriff der Inszenierung lange Zeit nicht als ein eigenständiger Begriff. So verwenden etwa Fischer-Lichte in ihrer für die Etablierung der theatersemiotischen Perspektive innerhalb der deutschsprachigen Theaterwissenschaft maßgeblichen Semiotik des Theaters und Hiß in seinem für die Inszenierungsanalyse wichtigen Werk Der theatralische Blick beide Begriffe synonym, beziehen sich jedoch in ihren Ausführungen nahezu ausschließlich auf das Theater als feste Zeichenstruktur.11 Auch der französische Theatersemiotiker Patrice Pavis, der in der Semiotik der Theaterrezeption sein Verständnis von Inszenierungsanalyse grundlegt, gebraucht beide Begriffe synonym und versteht sowohl die Aufführung als auch die Inszenierung als einen strukturierten Zusammenhang von Zeichen und ein »System von Entscheidungen«, das auf einen Prozess zurückgeht, den Pavis als »Konkretisation« bezeichnet.12 Theateraufführung und Inszenierung stellen damit der theatersemiotischen Auffassung der 1980er Jahre nach das Ergebnis von Transformationen eines ursprünglichen Materials in eine neue Form dar. »Die vom Regisseur bei der Lektüre und dem Durchführen der dramaturgischen Analyse geleistete Konkretisation kommt erst zur Vollendung, wenn sie sich in der szenischen Arbeit konkretisiert und dazu eine Verbindung mit Raum und Zeit, dem Bühnenmaterial und den Schauspielern eingeht. Hierin besteht das, was man die szenische Aussage nennt, d.h. die in Raum und Zeit stattfindende Verarbeitung aller szenischen und dramaturgischen Elemente, die für die Sinnproduktion und die Rezeption des Sinnes durch das Publikum, das damit in eine bestimmte Rezeptionssituation gebracht wird, als nützlich erachtet werden.«13
Die Entscheidung für den Einsatz bestimmter theatraler Mittel im Rahmen der szenischen Konkretisation ist also intentional und dient der »Verdeutlichung der Aussage« dessen, was durch das Spiel ausgedrückt werden soll. 14 In diesem Sinn gerät in den Fokus, »wie die Inszenierung [bzw. die hier noch synonym mitgemeinte Aufführung, P.K.] als globales szenisches Aussagesystem sich dem Publikum darbietet und auf welche Weise dieses System die Aussagebedingung mit-
11 Vgl. FISCHER-LICHTE: Semiotik des Theaters; vgl. auch HIß, Guido: Der theatralische Blick. 12 Vgl. PAVIS: Semiotik der Theaterrezeption, S. 44. 13 Ebd. 14 Vgl. ebd., S. 45.
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tels Zeit und Raum optisch (und akustisch) umsetzt, damit die Inszenierung vom Publikum [in der Aufführung, P.K.] rezipiert wird.«15 Erst in der Ästhetik des Performativen Fischer-Lichtes wird die Differenzierung der Begriffe Aufführung und Inszenierung stark gemacht, um unterschiedliche Aspekte der Theatersituation genauer beschreiben zu können.16 Für sie stellt der Begriff der Inszenierung – nun unterschieden vom Begriff der Aufführung – einen Sammelbegriff für alle geplanten, konzeptionellen Bestandteile des Theaters dar, die durch einen oder mehrere Künstler gemeinsam im Probeprozess erarbeitet werden und mit deren Hilfe den theatralen Elementen der Ort, der Zeitpunkt, die Dauer und die Art ihrer Erscheinung vor den Zuschauern zugewiesen wird.17 Die Inszenierung ist also ein intentionaler Prozess, »in dem mit den unterschiedlichsten Verfahren – die selbst keineswegs intentional geplant oder gelenkt sein müssen, wie z.B. Improvisation oder Zufallsoperationen – ermittelt wird, welche Elemente zu welchem Zeitpunkt der Aufführung an welchem Punkt des Raumes erscheinen, wie sie sich durch den Raum bewegen, gestalten und verändern und zu welchem Zeitpunkt und an welcher Stelle sie wieder aus ihm verschwinden sollen. Inszenierung lässt sich also als der Prozess beschreiben, in dem allmählich die Strategien entwickelt und erprobt werden, nach denen was, wann, wielange [sic!], wo und wie vor den Zuschauern in Erscheinung treten soll.«18
Damit wird durch die Inszenierung die Situation geplant, in die hinein sich sowohl Spieler als auch Zuschauer begeben, wenn sie aufeinander treffen. Genau in dieser Leistung der Inszenierung besteht allerdings auch ihre Grenze, vermag doch nicht vorhergesagt werden, wie Zuschauer mit der geplanten Situation umgehen und wie wiederum die Spieler auf Abweichungen von der Inszenierung reagieren werden. Obwohl die Inszenierung Vorgaben für die Theatersituation macht, Rahmenbedingungen und »spezifische Strategien zur Erregung und Lenkung von Aufmerksamkeit entwirft, […] ist sie jedoch außerstande, deren genauen Verlauf definitiv festzulegen, vorherzusagen und zu kontrollieren«.19 Wenn in dramendidaktischen Konzepten der Inszenierungsbegriff stark gemacht wurde, dann wird nach der vorliegenden Definition deutlich, was in diesen Konzepten von Schülern verlangt wird: Sie bewegen sich in ihrem Tun auf der Ebene der textuellen und szenischen Konkretisation und planen den Trans15 Ebd. 16 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 55. 17 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Art. Inszenierung«, S. 152f. 18 Ebd., S. 154. 19 Vgl. ebd., S. 155.
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port einer aus der Textarbeit resultierenden Aussage in szenischer Form. Der szenischen Konkretisation allerdings fehlt in diesen Konzepten die bereits bei Pavis eingeforderte Verbindung mit Raum und Zeit, dem Bühnenmaterial und den Schauspielern, insbesondere wenn sie lediglich eine simulierte Aufführung oder aufführungsbezogene Lektüre eines Dramas zum Ziel haben. Der Inszenierungsbegriff weist damit selbst schon über sich hinaus auf eine Dimension des Theaters, die sich den in der Inszenierung festgelegten Rahmenbedingungen entzieht und dort zeigt, wo Spieler etwas vor einem Publikum aufführen. Diese Dimension erfasst der Begriff der Aufführung. 2.2.2 Aufführung Im Gegensatz zum Inszenierungsbegriff bezeichnet der Aufführungsbegriff im theaterwissenschaftlichen Kontext die konkrete Situation, in der Zuschauer und Spieler zusammenkommen.20 Fischer-Lichte zufolge stellt diese Situation ein »Ereignis« dar, »das aus der Konfrontation und Interaktion zweier Gruppen von Personen hervorgeht, die sich an einem Ort zur selben Zeit versammeln, um in leiblicher Ko-Präsenz gemeinsam eine Situation zu durchleben«.21 Vor allem die Rolle der Zuschauer wird durch diese Sichtweise in ihrer Bedeutung für die Theatersituation aufgewertet: Sie sind weder distanzierte oder einfühlsame Beobachter der Handlungen noch intellektuelle Entzifferer von Botschaften, die auf der Bühne formuliert werden, sondern »Mitspieler […], welche die Aufführung durch ihre Teilnahme, d. h. ihre physische Präsenz, ihre Wahrnehmung, Rezeption und Reaktion mithervorbringen«.22 In diesem Kontext zeigen sich die von Brauneck definierten Dialektiken als Spielregeln, die zwischen den Anwesenden gelten müssen. Die wesentliche Grundbedingung der Aufführung als Spiel bildet die leibliche Ko-Präsenz zweier Gruppen, die sich ihrer Rolle als Spieler und Zuschauer bewusst sind. Erst diese Ko-Präsenz, die aus der Dialektik von Spielen und Zuschauen hervorgeht, bedingt die besondere Medialität der Theateraufführung, 20 Neben der Theaterwissenschaft hat auch die Ritualtheorie den Aufführungsbegriff seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert aufgegriffen. Beispiele für kulturelle Aufführungen wären etwa religiöse oder profane Zeremonien. Analog zu kulturellen Aufführungen ist auch der Inszenierungsbegriff auf allgemein kulturelle Inszenierungen anwendbar und wie für den Aufführungsbegriff gilt auch für den Inszenierungsbegriff, dass sich die Definitionen gleichen, wenn auch die Akteure andere sind. Vgl. dazu FISCHERLICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 43ff. 21 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Art. Aufführung.«, S. 15f. 22 Vgl. ebd., S. 16.
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welche in der Interaktion zwischen Spielern und Zuschauern und der gleichberechtigten Beteiligung beider Gruppen am Zustandekommen der Aufführung zu sehen ist. Obwohl die Spieler während der Aufführung die Festlegungen und Absprachen, die in der Inszenierung getroffen worden sind, genauestens einhalten können, öffnet die Bedingung der leiblichen Ko-Präsenz und die aus ihr resultierende Interaktion das Geschehen der Aufführung über das in der Inszenierung Angelegte hinaus. Es handelt sich damit bei der Aufführung um ein einzigartiges und unwiederholbares Ereignis. Zwar ist eine erneute leibliche KoPräsenz derselben Beteiligten an demselben Ort unter genauester Befolgung der Inszenierung möglich, dennoch haben sie sich doch bei ihrem zweiten Aufeinandertreffen mindestens durch den Umstand verändert, dass sie in dieser Konstellation bereits ein zweites Mal zusammenkommen. Sie werden sich also schon allein durch ihr verändertes Vorwissen anders verhalten als in der Aufführung zuvor. So ereignet sich jede Aufführung immer neu, während die Inszenierung im Gegensatz dazu gerade auf ihre Wiederholbarkeit hin angelegt ist. Verstärkt wird die Unwiederholbarkeit der Aufführung insbesondere durch ihre Eigenschaft, transitorisch zu vergehen. In dem Moment, in dem sie sich ereignet, ist die Aufführung für die Beteiligten bereits schon nicht mehr greifbar. Zwar lassen sich bestimmte Aspekte der Aufführung durch ihre mediale Transformation, etwa anhand einer Aufzeichnung, auch im Nachhinein noch einmal thematisieren, die Aufführungssituation selbst mit ihrem konstitutiven Merkmal der leiblichen Ko-Präsenz aber hat sich verflüchtigt und lässt sich – im Gegensatz zur Inszenierung – auch nicht vollständig rekonstruieren. Die Aufführung ist, und das ist ein weiterer Aspekt ihrer Medialität, weder unmittelbar fixier- noch tradierbar. Für die Thematisierung des Zeichenzusammenhangs sowohl in der Aufführung als auch in der Inszenierung wird also, wenn die Aufführungsrezeption deren Ausgangspunkt bilden soll, immer auch das bedeutsam, was von den Beteiligten wahrgenommen und erfahren worden ist. Beide, Wahrnehmung und Erfahrung, sind die einzigen möglichen Ankerpunkte eines Rekurses auf die Aufführung. Was wahrgenommen wird, kann Teil der Inszenierung und von ihr gelenkt sein, wird aber dennoch in der Aufführungssituation durch mehr beeinflusst als das in der Inszenierung Angelegte. Dass alle Beteiligten gemeinsamen durch die gleichzeitige leibliche Präsenz die Aufführung hervorbringen, wird insbesondere in bestimmten Momenten auffällig, in denen sich die Zuschauer mit ihren Erfahrungen und Verhaltensweisen als konstitutiver Teil der Aufführung erfahren. Dies ist der Fall, wenn sie von etwas angesprochen werden oder die Spieler direkt auf Impulse des Publikums reagieren. Auf diesen Umstand, der große Auswirkungen auf die mit dem Theater in
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Verbindung stehenden Wahrnehmungsaspekte hat, muss im Laufe der weiteren Überlegungen noch eingegangen werden. Das Gesagte hat aber auch Einfluss auf den Umgang mit der Theateraufführung. So berücksichtigte bereits Max Herrmann bei seiner Bestimmung des Aufführungsbegriffes gerade nicht die Texte, die in der Aufführung Verwendung fanden, und verzichtete auch auf die Beschreibung von Artefakten wie die Dekorationen.23 Diese waren seines Erachtens nach zu vernachlässigen, weil es zur Beschreibung der Materialität des flüchtigen Aufführungsereignisses zwischen den Spielern und Zuschauern vielmehr auf Aspekte wie Körperlichkeit oder die mit der Körperlichkeit verbundene Räumlichkeit ankommt.24 Insbesondere die veränderte Perspektive auf den Körper zeigt dabei, wie stark sich Herrmann von der damals gängigen Auffassung löste, dass etwa der Körper eines Schauspielers vor allen Dingen als »Zeichenträger, als Ausdruck und Übermittler bestimmter Bedeutungen« anzusehen ist.25 Schon Herrmann ist nicht an der semiotischen Funktion des Körpers interessiert, sondern an der Bedeutung, die in der Aufführungssituation erst durch die Interaktion aller Anwesenden hervorgebracht wird. Dabei lässt sich mit Fischer-Lichte davon ausgehen, dass sich die Semiotizität einer Aufführung in der Wahrnehmung in dreifacher Weise konstituieren kann: als Wahrnehmung selbstbezüglicher Phänomene, als Wahrnehmung von dramatischen Figuren und anderen symbolischen Ordnungen und als Umspringen der Wahrnehmung zwischen den ersten beiden Möglichkeiten. 26 Während im ersten Fall der Leib und die Dinge in ihrer spezifischen Phänomenalität eher chaotisch als etwas wahrgenommen werden, also im Moment der Wahrnehmung das bedeuten, als das sie dem Wahrnehmenden erscheinen, wird im zweiten Fall alles zielgerichtet »im Hinblick auf die Figur bzw. eine bestimmte fiktive Welt oder eine bestimmte symbolische Ordnung wahrgenommen«.27 Nimmt man diese Ausführungen zum Aufführungsbegriff in Anlehnung an Herrmann und Fischer-Lichte ernst, dann resultiert daraus nicht zuletzt, dass die Aufführung wegen ihrer Flüchtigkeit und Ereignishaftigkeit nicht als ein Werk aufgefasst werden kann. Ihre Ästhetizität, also ihr Kunstcharakter, kommt der Aufführung »nicht aufgrund eines Werkes zu, das sie schaffen würde, sondern aufgrund des Ereignisses, als das sie sich vollzieht«, weil in ihrer Einmaligkeit,
23 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 49. 24 Vgl. ebd., S. 49ff. Vgl. zum Aspekt der Materialität von Theateraufführungen auch 3.4. 25 Vgl. ebd., S. 52. 26 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Art. Aufführung«, S. 20. 27 Vgl. ebd.
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Unwiederholbarkeit und in ihrem nur bedingt kontrollierbaren Ablauf »etwas geschieht, das sich so nur dieses eine Mal ereignen kann«.28 Die Definition der Aufführung als Spiel oder als Ereignis, das aus der durch leibliche Ko-Präsenz bedingten Interaktion von Spielern und Zuschauern hervorgeht, die für eine bestimmte Zeit an einem bestimmten Ort zusammenkommen, hat also eine spezifische Medialität, Materialität, Semiotizität und Ästhetizität der Aufführung zur Folge. Für die Theaterdidaktik heißt das, dass sie sich mit diesen Aspekten der Aufführung auseinandersetzen und über Zugänge zu ihnen nachdenken muss. Es kann festgehalten werden, dass in der Theateraufführung die durch die Aufführungssituation beeinflusste Wahrnehmung der Beteiligten und die in der Inszenierung verabredete Verwendung theatraler Mittel und Zeichen in der leiblichen Ko-Präsenz aller Anwesenden aufeinandertreffen. Die weiteren Überlegungen zum theaterdidaktisch perspektivierten Umgang mit der Theateraufführung gehen dabei von der grundsätzlichen Differenzierung des Theaterbegriffes in Inszenierung und Aufführung aus, wie sie in diesem und dem letzten Abschnitt vorgenommen wurde. Da sich zeigte, dass der Aufführungsbegriff nach theaterwissenschaftlichem Verständnis die Wahrnehmungsaspekte in der Spielsituation zu beschreiben vermag, und der Umgang mit der Theateraufführung als Kern der theaterdidaktischen Forschungsperspektive herausgestellt wurde, wird dieser Begriff über seine basale Definition hinaus durch den Rückgriff auf den theaterwissenschaftlichen Forschungsstand im Folgenden weiter geschärft. Auf diese Weise sollen zwei Ziele verfolgt werden: Erstens wird die Theateraufführung als Gegenstand der Theaterdidaktik weiter präzisiert und zweitens wird der Horizont skizziert, vor dem theaterdidaktische Forschung zum Umgang mit diesem Gegenstand und zu seiner Perspektivierung stattfinden kann. Die Fokussierung auf den Aufführungsbegriff geschieht anhand der Auseinandersetzung mit den Begriffen Theatralität, Performativität und Ereignishaftigkeit, die in der theaterwissenschaftlichen Forschung wesentlich mit dem Begriff der Theateraufführung verbunden werden. Während der Theatralitätsbegriff auch bereits in den theaterdidaktischen Konzepten von Paule und Bönnighausen Verwendung fand, um die Aufführung als Gegenstand des Deutschunterrichts zu legitimieren, gilt dies nicht in gleicher Weise für den Begriff der Performativität, der daher zu erläutern ist. Mit der Ereignishaftigkeit wird schließlich ein Aspekt des Aufführungsbegriffes vertieft, der auch vor dem Hintergrund theaterdidaktischer Überlegungen zum Umgang mit Aufführungen relevant ist.
28 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 53.
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2.3 DIE AUFFÜHRUNG – FOKUSSIERUNG Ein für die Beschreibung der besonderen Eigenschaften der Aufführung und die Strategien, die sie hervorbringen, häufig verwendeter Überbegriff ist derjenige der Theatralität. Es zeigt sich jedoch, dass der Theatralitätsbegriff aus theaterwissenschaftlicher Sicht nicht eindeutig bestimmbar ist und dass deshalb angegeben werden muss, in welchem Sinn er verwendet wird. Zu diesem Zweck werden im Folgenden verschiedene Definitionen gegenübergestellt. Aus der Entscheidung für Fischer-Lichtes Definition aber, der sich die theaterdidaktischen Veröffentlichungen der letzten Jahre angeschlossen haben, folgt, dass damit zwar die Möglichkeit gegeben ist, auch kulturelle Prozesse beschreiben zu können, dass aber umgekehrt dieser Begriff noch präziser durch seine Elemente bestimmt werden kann. Ein solches Element von Theatralität ist Performativität. Dieser Begriff wiederum beschreibt die Interaktion genauer, die sich in der Aufführung aus der leiblichen Ko-Präsenz ergibt. Er ermöglicht zugleich die Beschreibung der Art und Weise, in der die Aufführung hervorgebracht wird. Die Darstellung der Begriffsgenese wird zeigen, welche Verbindungslinien zwischen Performativität und Aufführung hergestellt werden können, und zugleich auch den Zusammenhang zwischen Performativität im theatralen und kulturellen Kontext verdeutlichen. Die eingehende Untersuchung des Ereignisbegriffes rundet schließlich die Fokussierung auf die Aufführung ab, weil darin sowohl ein wesentliches Element der Definition von Aufführungen noch einmal zur Sprache kommt als auch über den Ereignisbegriff Aspekte der Performativität und Wahrnehmung thematisiert werden. Daraus ergeben sich Perspektiven für die Zugänge zur Rezeption von Theateraufführungen, deren Darstellung und Diskussion im letzten Abschnitt dieses Kapitels die Beschreibung des Theaters von der Wahrnehmung her abschließt. 2.3.1 Theatralität Im Zuge der Ausführungen zur Theaterdidaktik ist der Begriff der Theatralität bereits in zweifacher Hinsicht thematisiert worden: Einerseits haben Paule und Bönnighausen in ihren Ausführungen auf die gesellschaftliche Theatralität innerhalb einer Kultur der Inszenierung hingewiesen, andererseits hatte Bönnighausen darüber hinaus Theatralität im Anschluss an Barthes als Dispositiv der Literaturdidaktik insgesamt vorgeschlagen. Im umgangssprachlichen Sinn ist mit der Verwendung dieses Begriffes häufig Theaterhaftigkeit oder Theaterähnlichkeit gemeint, ohne dass dabei genauer geklärt wird, warum diese Eigenschaft einem bestimmten Phänomen zugeschrie-
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ben wird.29 An dieser Ausweitung des Theatralitätsbegriffes über den Bereich des Theaters hinaus auf die gesamte Kultur war die Theaterwissenschaft selbst beteiligt. Sie konnte »von der Erkenntnis ausgehend, dass theatrales Handeln nicht nur im Theater, sondern auf allen gesellschaftlichen Feldern anzutreffen ist, […] unmöglich länger als reine Kunstwissenschaft betrieben werden«30, sondern begriff sich zunehmend als Teil der Kulturwissenschaften, die Theatralität im Sinne von Tätigkeiten des Exponierens und Anschauens als einen Aspekt kultureller Praxis ansah. Der damit einhergehende zunehmende Anspruch an eine theoretisch ausgearbeitete Theatralitätsdefinition brachte schließlich drei terminologische Varianten des Theatralitätsbegriffes hervor: die anthropologische Variante, die ästhetische Variante und die dritte, beide Varianten verbindende Variante, die sich wiederum in solche Ansätze unterteilen lässt, die »Theatralität als Relation zwischen verschiedenen Praxisformen konzipieren«, und solche, »die Theatralität als Perspektive auf Kultur und Kunst fassen«.31 Während Theatralität im anthropologischen Sinne auf der Vorstellung beruht, dass die Selbstinszenierung des Menschen eine Bedingung seines Seins darstellt, verweist Theatralität im ästhetischen Kontext auf die originären Qualitäten von Kunstwerken oder künstlerischer Prozesse.32 Dabei sind im letzten Fall die Konnotationen, die mit Theatralität verbunden werden, jeweils an eine bestimmte historische, soziale oder kulturelle Vorstellung von Theater gebunden. So ist die umgangssprachliche Verwendung von Theatralität häufig beeinflusst von einer Vorstellung von Theater als »einer Guckkastenbühne, auf der Schauspieler vor einem qua Rampe separierten Publikum die fiktionalen Figuren eines Dramas repräsentieren«, was zu »negativen Konnotationen von Illusion, Übertreibung oder gar Täuschung« führen kann.33 Ersetzt man diese Vorstellung, die auf das Theatermodell des 18. Jahrhunderts bezogen ist, durch die Vorstellung eines Theaters im Sinne der Performancekunst, beschreibt Theatralität die »subjektbezogenen, psychodynamischen Potentiale des Theaters« und verliert so die negative Konnotation.34 Die Verwendung des Theatralitätsbegriffes zur Legitimation des Umgangs mit dem Theater im didaktischen Kontext kann hingegen vor allem im Anschluss an die dritte Variantengruppe gerechtfertigt werden. So deckt sich Paules Verwendung von Theatralität, die von einer »Politik als Inszenierung«, von »Insze-
29 Vgl. WARSTAT: »Art. Theatralität«, S. 382. 30 Ebd., S. 383. 31 Vgl. ebd. 32 Vgl. ebd., S. 383ff. 33 Vgl. ebd., S. 385. 34 Vgl. ebd., S. 384.
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nierungen im Fernsehen« und »Selbstinszenierungen im Alltag« ausgeht35, mit einem Theatralitätsbegriff, der »das Kunsttheater als ein Modell ausweist, mit dessen Hilfe sich kulturelle, diskursive und künstlerische Prozesse in verschiedenen Gesellschaftsbereichen analysieren und aufeinander beziehen lassen.«36 Dabei kommt es zur Mischung der anthropologischen und ästhetischen Begriffsvariante, denn »[i]m Theater finden sich Handlungsweisen, Energien und Konstellationen, die für eine Kultur kennzeichnend sind, in modellhaft verdichteter und zugleich reflexiver, selbstbezüglicher Form: Das Theater zeigt auf das, was sich in ihm zeigt; deshalb kann man es nutzen, um die Welt verdichtet und intensiviert wahrzunehmen. Fraglich ist jedoch, auf welche Aspekte von Wirklichkeit man die Aufmerksamkeit richten soll, um eine solche theatrale Perspektive einzunehmen. Dahinter steht das Problem, wie die spezifische Verdichtung des Theaters begrifflich zu fassen ist.«37
Dieses Problem bearbeitet Fischer-Lichte durch eine Verbindung von Theatralitäts- und Aufführungsbegriff, denn erst, wenn die Bedingungen für das Vorliegen einer Aufführung gegeben sind, kann Fischer-Lichte zufolge auch der Begriff der Theatralität Verwendung finden.38 Dabei gilt ihr seit der Einführung des Theatralitätsbegriffes in seinem bereits theaterübergreifenden Sinn zu Beginn des 20. Jahrhunderts Theatralität als grundsätzliche, die Textorientierung der Kulturwissenschaften mindestens ergänzende Kategorie. 39 Fischer-Lichte macht vier Kategorien aus, aus deren wechselseitiger Verknüpfung sich ihr Theatralitätsbegriff konstituiert: die Kategorie der Inszenierung, also der Fundierung der Zeichenverwendung in ästhetisierenden Kulturtechniken und Praktiken, die Kategorie der Korporalität, also der Bindung an Körper oder anderes spezifisches Material, die während der Aufführung in ihrer Eigenheit spürbar bleiben, die Kategorie der Wahrnehmung, also die notwendige Rezeption durch Andere, und die Kategorie der Performance, also der Aufführung als Zusammenspiel aller genannten Kategorien.40 Sowohl im Kontext kultureller Handlungen als auch im engeren Kontext des Theaters spielen Fischer-Lichte zufolge diese Kategorien in ihrem Zusammenspiel als Theatralität eine Rolle und machen die aufeinander
35 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S.15ff. 36 WARSTAT: »Art. Theatralität«, S. 386. 37 Ebd. 38 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Theatralität und Inszenierung«, S. 19ff. 39 Vgl. FISCHER-LICHTE: Performativität, S. 27ff. 40 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung, S. 285.
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bezogenen Aspekte Inszenierung, Korporalität, Wahrnehmung und Performance die Theatralität eines konkreten kulturellen Prozesses genauer beschreibbar.41 Im Hinblick auf die Fokussierung des Aufführungsbegriffes, um die es in diesem Kapitel geht, zeigt sich, dass der Begriff der Theatralität über seinen Aspekt der Performance wiederum auf den Begriff der Performativität verweist, der mit dem sogenannten performative turn ab den 1990er Jahren als eigenständiger Begriff neben den der Theatralität tritt »oder gar an seine Stelle, wenn es darum ging, den Aufführungscharakter von Kultur genauer zu beschreiben.«42 Denn obwohl sich sowohl der Theatralitäts- als auch der Performativitätsbegriff auf den Aufführungscharakter von Kultur beziehen lässt, besteht der Unterschied zwischen beiden in dem Schwerpunkt, den sie dabei legen. »Während Theatralität sich jeweils auf den historisch und kulturell bedingten Theaterbegriff bezieht und die Inszeniertheit und demonstrative Zurschaustellung von Handlungen und Verhalten fokussiert, hebt Performativität auf die Selbstbezüglichkeit von Handlungen und ihre wirklichkeitskonstituierende Kraft ab.«43
Bezogen auf die Aufführung eignet sich der Begriff der Performativität also in besonderer Weise dazu, die darin wahrnehmbaren, zum Teil selbstbezüglichen und wirklichkeitskonstituierenden Momente zu beschreiben. Mit der Verwendung dieses Begriffes anstelle des Theatralitätsbegriffes kann darüber hinaus dem Umstand Rechnung getragen werden, dass sich »der Begriff des Performativen [international] durchgesetzt [hat], auch wenn der Begriff der Theatralität in anderen Kontexten noch weiter verwendet wird.«44 Insbesondere auf den Begriff der Performativität wird daher im Folgenden ausführlicher eingegangen, um die theaterwissenschaftliche Diskussion der Begriffe Theatralität und Performativität auch aus didaktischer Sicht zu berücksichtigen und fruchtbar machen zu können. 2.3.2 Performativität Der Begriff der Performativität wurde in der deutschsprachigen Theaterwissenschaft ebenso wie der Theatralitätsbegriff vor allem von Fischer-Lichte stark gemacht, die ihn im Kontext ihrer Ausführungen zur Präzisierung der Interaktion zwischen den Beteiligten in der Theateraufführung gebraucht. Dabei geht mit dieser spezifischen Verwendung des Begriffes bereits die Festlegung auf eine 41 Vgl. WARSTAT: »Art. Theatralität«, S. 387. 42 FISCHER-LICHTE: Performativität, S. 29. 43 Ebd. 44 Ebd.
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bestimmte Deutung einher, lässt sich doch im Laufe der Begriffsgenese feststellen, dass sich Performativität von »einem terminus technicus der Sprechakttheorie zu einem umbrella term der Kulturwissenschaften verwandelt« hat, »wobei die Frage nach den ›funktionalen Gelingensbedingungen‹ der Sprechakte von der Frage nach ihren ›phänomenalen Verkörperungsbedingungen‹ abgelöst wurde«.45 Je nachdem, aus welcher wissenschaftlichen Perspektive heraus der Performativitätsbegriff in Anschlag gebracht wird, unterscheiden sich auch die Antworten auf die Frage, was mit Performativität im betreffenden Verwendungszusammenhang gemeint ist. »Performanz«, so fass Uwe Wirth zusammen, »kann sich ebenso auf das ernsthafte Ausführen von Sprechakten, das inszenierende Aufführen von theatralen oder rituellen Handlungen, das materiale Verkörpern von Botschaften im ›Akt des Schreibens‹ oder auf die Konstitution von Imaginationen im ›Akt des Lesens‹ beziehen«.46 Wenn auch die unterschiedlichen Bedeutungskonnotationen nur sehr schwer jenseits des Minimalkonsenses vereinheitlich werden können, dass mit dem Begriff der Performativität Phänomene bezeichnet werden, bei denen »›Wirklichkeiten‹, auf die sich bestimmte Handlungen beziehen, erst im Akt dieser Bezugnahme – erst durch den Vollzug der jeweiligen Handlung – hervorgebracht werden«47, lassen sich mit Jörg Volbers dennoch drei markante Ansätze identifizieren, von denen die Definition des Performativitätsbegriffes in den verschiedenen Kontexten geprägt ist: »Die sprachphilosophische Auffassung des Performativen diskutiert vor allem die ›performative Kraft‹ einer bestimmten Klasse verbaler Äußerungen; wichtige Referenzautoren sind hier die Sprachphilosophen Austin, Searle und Habermas. Die dekonstruktive Deutung konzentriert sich, oft auch in Abgrenzung von der sprechakttheoretischen Deutung, auf die destabilisierende Logik der Performativität. Für sie stehen insbesondere die Namen Derrida und Butler. Das theatralische Verständnis, für das im deutschsprachigen Raum insbesondere Fischer-Lichte bekannt ist, verlässt schließlich den Bereich der Sprachphilosophie und identifiziert performance primär mit einer Darstellung oder Aufführung im Sinne einer körperlichen Inszenierung.«48
Fischer-Lichte greift die theatralische Deutung des Performativitätsbegriffes schließlich auch in ihrer Ästhetik des Performativen auf.49 Dabei schließt diese 45 Vgl. WIRTH: Performanz, S. 10. Hervorhebung im Original. 46 Vgl. ebd., S. 9. Hervorhebung im Original. 47 VOLBERS: Performative Kultur, S. 1. Hervorhebung im Original. 48 Ebd., S. 20. Hervorhebung im Original. 49 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 55.
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Ästhetik auch an die sprachphilosophische und dekonstruktive Deutung des Begriffes an, weil jedoch kein Werk den Referenzpunkt des Aufführungsereignisses im Kontext des Theaters darstellen kann, fokussiert Fischer-Lichte auf Aspekte des Vollzugs der Aufführung und deren Wahrnehmung.50 Die von Volbers diagnostizierte Abkehr von der Performativität im sprachphilosophischen und dekonstruktiven Sinn ist damit dem Gegenstand Theateraufführung geschuldet und lässt sich nur dann in ihrer ganzen Tragweite verstehen, wenn die wesentlichen Elemente der Begriffsgenese insgesamt nachvollzogen werden. Erst so kann jene Verbindung hergestellt werden, die von der Sprechakttheorie Austins über Judith Butlers Gender Studies und das Aufkommen der Performancekunst bis zum performative turn der Kulturwissenschaften reicht und schließlich dazu führte, dass sich der Performativitätsbegriff allmählich vom Begriff der Theatralität absetzt.51 Dieser Begriffsgenese ist damit im Folgenden nachzugehen, um die insbesondere für die theatralische Verwendung relevanten Aspekte des Performativitätsbegriffes zu verdeutlichen und dann in einem weiteren Schritt mit dem Aufführungsbegriff zusammenzuführen. Performativität in Sprachphilosophie, Gender Studies und Performancekunst Der Ursprung des Performativitätsbegriffes liegt in einem Neologismus John L. Austins, der die Bezeichnung performativ bereits 1955 in den Vorlesungen How to do things with Words zur Kontrastierung von zwei Formen sprachlicher Äußerungen benutzt: den konstativen und den performativen Sprechakten.52 Obwohl Austin nur wenig später diese Differenzierung durch die heute bekanntere Einteilung in lokutionäre, illokutionäre und perlokutionäre Sprechakte ersetzt, bleiben doch Grund und Sinn der ursprünglichen Einteilung für die Genese des Performativitätsbegriffes wegweisend. Denn das Neuartige an Austins Sprechakttheorie war, dass sprachliche Äußerungen entweder als konstative Akte Sachverhalte schildern oder als performative Akte gleichzeitig Handlungen vollziehen. Performative Akte »sagen nicht nur etwas, sondern sie vollziehen genau die Handlung, von der sie sprechen«.53 In diesem Sinne sind sie in ihrer sprachphilosophischen Prägung »selbstreferenziell, das heißt beziehen sich auf sich selbst, insofern sie das bedeuten, was sie tun, und sie sind wirklichkeitskonstituierend, indem sie die soziale Wirklichkeit her50 Vgl. FISCHER-LICHTE: Performativität, S. 12ff. 51 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Vom ›Text‹ zur ›Performance‹«, S. 61. 52 Vgl. AUSTIN: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), S. 29. 53 Vgl. FISCHER-LICHTE: Performativität, S. 38.
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stellen, von der sie sprechen. Es sind diese beiden Merkmale, die performative Äußerungen charakterisieren.«54
Stellte Austin anfänglich konstative und performative Akte einander gegenüber, hob er diesen Gegensatz später in dem Gedanken auf, dass alles Sprechen immer zugleich auch ein Handeln darstellt. Dieses Handeln kann glücken oder scheitern, denn es bedarf außersprachlicher Voraussetzungen hinsichtlich der Konvention aller an der Handlung Beteiligten und hinsichtlich der Umstände, unter denen die Handlung stattfindet.55 So muss etwa gesichert sein, dass »die angesprochene Konvention existiert und akzeptiert« wird und dass »die Umstände, unter denen wir uns auf die betreffende Verfahrensweise zu stützen beanspruchen, dafür auch geeignet« sind.56 Von seinem sprachphilosophischen Ursprung her bezeichnet der Performativitätsbegriff also selbstreferenzielle und wirklichkeitskonstituierende Sprechhandlungen, die aus institutionellen oder sozialen Gründen glücken oder scheitern können. Durch den Widerspruch, den die Theorie Austins innerhalb der Sprachphilosophie hervorrief, verlor jedoch mit ihrem allmählichen Verblassen auch der Performativitätsbegriff in seinem ursprünglichen Verwendungszusammenhang an Bedeutung, bis er in der Kulturtheorie und -philosophie wiederentdeckt wurde.57 Zwei Aspekte sind im Zuge dieser Wiederentdeckung besonders betont worden: einerseits der Aspekt der Wirklichkeitskonstituierung, andererseits der Aspekt der Ausweitung des Performativitätsbegriffes über Sprechhandlungen hinaus. So nahm Butler den Gedanken der performativen Akte und ihrer außersprachlichen Voraussetzungen zum Anlass, die aus diesen Akten resultierenden Geschlechterverhältnisse und -konstruktionen zu untersuchen und ein essentialistisches Verständnis geschlechtlicher Identität zurückzuweisen.58 Aus diesen Überlegungen resultierte ihre Position, dass das Verhältnis von biologischem Geschlecht (Sex) und geschlechtlicher Identität (Gender) nicht als UrsacheWirkungs-Prinzip zu denken ist, sondern eine Leistung darstellt, die durch Handlungen und Äußerungen hervorgebracht wird. Zwar rekurriert Butler nicht ausdrücklich auf Austins Sprachphilosophie, zeigt aber in ihrem Aufsatz Performative Acts and Gender Constitution eine Nähe zu ihm, wenn sie in der Tradition der Phänomenologie versucht, den Performativitätsbegriff nicht nur auf sprachliche Äußerungen, sondern auch auf non-verbale Handlungen im kulturphiloso54 Ebd. 55 Vgl. AUSTIN: Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), S. 37. 56 Vgl. AUSTIN: »Performative Äußerungen«, S. 310. 57 Vgl. exemplarisch DERRIDA: »Signatur, Ereignis, Kontext«. 58 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 36ff.
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phischen Sinn zu übertragen.59 Körper und Identität, so Butler, sind nicht die ontologischen oder biologischen Voraussetzungen für Handlungen, sondern ihr Ergebnis, und beide konstituieren sich in beliebigen performativen Akten, die willkürliche, selbstreferenzielle körperliche Handlungen ohne innere Notwendigkeit darstellen.60 Ohne auf die gendertheoretischen Positionen Butlers an dieser Stelle näher eingehen zu müssen, geht es im Kontext der Genese des Performativitätsbegriffes vor allem darum, die durch Butler vorgenommene Ausweitung zu betonen, die darin besteht, diesen Begriff mit seinen Aspekten der Selbstreferentialität und Wirklichkeitskonstituierung aus der ursprünglich sprachphilosophischen Verwendung herauszulösen und den performativen Akt in das Begriffsrepertoire der Kulturphilosophie und deren Erkenntnisinteresse einzuschreiben. Auf diese Weise leitete sie zugleich einen Wechsel der kulturphilosophischen Forschungsperspektive ein, bestimmte doch vorher das semiotische Verständnis von Kultur als Text die Kulturwissenschaften. Mit Butlers Vorstoß und ihrer These, dass der performative Akt sich nicht auf eine zugrunde liegende Identität stützen kann, sondern diese erst erzeugt, ist eingeführt, was »für jegliche Theorie des Performativen gültig [ist]: Was durch performative Akte hervorgebracht wird, entsteht erst, indem dieser Akt vollzogen wird«61. Butler selbst versteht performative Akte dabei in erster Linie als körperliche und bestimmt im Anschluss an den französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty »den Prozess der performativen Erzeugung von Identität als einen Prozess der Verkörperung (embodiment)«, der weder nur in der individuellen Verfügungsgewalt liegt noch allein gesellschaftlich vorgegeben werden kann.62 Dazu stellt sie eine Verbindung zu Theateraufführungen und Inszenierungen her: Wie ein vorgegebener Text auf immer neue Weise inszeniert werden kann und wie »die Schauspieler im Rahmen der textuellen Vorgaben frei sind, ihre Rollen jeweils neu und anders zu entwerfen und zu realisieren, agiert der geschlechtsspezifische Körper innerhalb eines körperlichen Rahmens, der durch bestimmte Vorgaben eingeschränkt ist, und setzt Interpretationen innerhalb der Grenzen vorgegebener Regieanweisungen in Szene«63. Das hierin bereits Angelegte gelangt schließlich mit dem performative turn der 1990er Jahre in Form der Ansicht in die Kulturwissenschaften, dass performative Akte den kulturellen Handlungen und Ereignissen »einen spezifischen, 59 Vgl. BUTLER: »Performative Acts and Gender Constitution«, S. 270. 60 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 30. 61 FISCHER-LICHTE: Performativität, S. 42. Hervorhebung im Original. 62 Vgl. ebd.; vgl. zu Maurice Merleau-Ponty auch 3.2.2. 63 Ebd., S. 43.
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vom traditionellen Text-Modell nicht erfaßten Wirklichkeitscharakter verleihen«64. Auch wenn Fischer-Lichte darauf hinweist, dass sich schon vor dem performative turn Zeugnisse des damit verbundenen Umdenkens finden lassen, setzt sich der Performativitätsbegriff als Schlüsselbegriff der Kulturwissenschaften erst ab den 1990er Jahren endgültig durch.65 Roselt verweist in diesem Zusammenhang auf einen weiteren Aspekt, wenn er die Bedeutung der Performancekunst für die Genese des Performativitätsbegriffes herausstellt und drei Facetten dieser Kunstpraxis nennt, durch die dieser Begriff insgesamt noch einmal geschärft wird: cultural performances im Sinne Milton Singers, der auf die besondere Verfasstheit von Performances hinweist, Theateraufführungen im Raum des Theaters und die spezifische Performancekunst, die sich seit den 1960er Jahren herausbildet.66 Singer hatte cultural performances als Ereignisse definiert, die lediglich durch einen zeitlichen Rahmen mit Anfang und Ende, einen erkennbaren Ablauf, Darsteller, Publikum und irgendeine Gelegenheit an irgendeinem Ort gekennzeichnet sind.67 Auch die Theateraufführung stellt eine solche cultural performance dar, wobei der Aufführungsbegriff durch diese Zuschreibung noch erweitert wird: Wenn nämlich die Theateraufführung als cultural performance unabhängig ist von einem konkreten Ort, dann tritt damit die Frage nach dem Wesen des Theaters in den Vordergrund. So wird verständlich, dass sich mit dem Aufkommen des Begriffes der cultural performance im produktiven Austausch mit Happenings und Aktionskunst seit den 1960er Jahren eine eigene Praxis von Kunst etabliert, die Prozesse von Produktion und Rezeption, Handlung und Wahrnehmung, Erfahrung und Vermittlung zu ihrem Gegenstand macht. Die Performancekunst stellt die konkrete Situation der Aufführung im Hier und Jetzt heraus und begründet damit, was Lehmann für das Gegenwartstheater überhaupt feststellt, das er als »postdramatisch« klassifiziert: die Entgrenzung und Dehierarchisierung szenischer Mittel und die stetige Verdrängung der Textbindung.68 Da nun mit der Skizzierung der Begriffsgenese wichtige Aspekte des Performativitätsbegriffes genannt worden sind, die in dessen Verwendung im Kontext des Theaters einfließen, können im Folgenden konkrete Verbindungslinien zwischen Performativität und Aufführung herausgearbeitet werden, die den Aufführungsbegriff weiter präzisieren.
64 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 36. 65 Vgl. ebd., S. 44. 66 Vgl. ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 32ff. 67 Vgl. SINGER: »Preface«, S. xiii. 68 Vgl. LEHMANN: Postdramatisches Theater.
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Zusammenführung: Performativität und Aufführung Der Performativitätsbegriff bezeichnet in den Kulturwissenschaften vor allem »die jeweiligen Konstitutionsleistungen«, »so z.B. in der Literaturwissenschaft das materiale Verkörpern von Bedeutungen im Akt des Schreibens oder die Konstitution von Imaginationen im Akt des Lesens«.69 In der vorliegenden Arbeit muss jedoch auf den Wert des Performativitätsbegriffes für die Kulturwissenschaften insgesamt nicht weiter eingegangen werden. Vielmehr ist es an dieser Stelle geboten, die Implikationen aufzuzeigen, die sich aus der Zusammenführung des Gegenstandes Theateraufführung mit dem Performativitätsbegriff ergeben. Die Theateraufführung wurde bisher als kollektives Geschehen vorgestellt, das an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit und für einen bestimmten Zeitraum durch die leibliche Ko-Präsenz aller Beteiligten zustande kommt. Die Gemeinschaft auf Zeit, die dadurch gestiftet wird, konstituiert die Aufführung durch gemeinsames Handeln der Anwesenden. Vor dem Hintergrund des entwickelten Performativitätsbegriffs lässt sich diese Konstitution als performative Hervorbringung bezeichnen, mit der einhergeht, dass die Situation oder Wirklichkeit, also das Hier und Jetzt der Aufführung, für den Umgang mit ihr eine wichtige Rolle spielt: Weil die Aufführung durch performative Akte erst hervorgebracht wird, ist auch die Wahrnehmung der Aufführung durch die Rezipienten von der Art des Zustandekommens und dem Vollzug der Wahrnehmung beeinflusst, von den Erfahrungen, die alle Beteiligten während der Aufführung mit ihrer performativen Hervorbringung machen.70 Damit kommen einerseits die Selbstreferentialität und Wirklichkeitskonstituierung zum Tragen, die mit dem Performativitätsbegriff bereits in seiner sprachphilosophischen Verwendung verbunden waren. Andererseits aber entziehen sich die performativ hervorgebrachten Aufführungen zugleich auch der Analyse durch gängige ästhetische Theorien, denn sie widersetzen »sich hartnäckig dem Anspruch einer hermeneutischen Ästhetik, die darauf zielt, das Kunstwerk zu verstehen.«71 Das in der Aufführung Gezeigte zeigt sich immer erst in der Wahrnehmung derer, die an ihrer performativen Hervorbringung beteiligt sind. Daher sind auch die Bedeutungen, die während der Aufführung zugeschrieben werden können, an die Wahrnehmung derer gebunden, die an ihr teilnehmen.72 Dies wirft auch noch einmal einen neuen Blick auf das Verhältnis von Inszenierung und Aufführung. Die in der Inszenierung festgelegten Bedeutungsange69 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Art. Performativität/performativ«, S. 258. 70 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 17. 71 Ebd. 72 Vgl. ebd., S. 65.
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bote setzen zu einem großen Teil auf die Semiotizität des Wahrgenommenen, also auf den Verweis der Zeichen auf etwas außerhalb ihrer selbst. Auch wenn dies auf den ersten Blick so scheint, wird mit der Erweiterung des Aufführungsbegriffes durch den Aspekt der Performativität die Bedeutung der Semiotizität nicht geleugnet. Es geht vielmehr um den Versuch einer Neubestimmung des Verhältnisses von Inszenierung und Aufführung »zwischen Subjekt und Objekt, Betrachter und Betrachtetem, Zuschauer und Darsteller« und darum, »die Beziehung zwischen Körper- bzw. Materialhaftigkeit und Zeichenhaftigkeit der Elemente, zwischen Signifikant und Signifikat« zu fassen.73 Durch die begriffliche Trennung von Inszenierung und Aufführung und die Betonung der performativen Hervorbringung der Aufführung wird die Wechselwirkung zwischen Inszenierung und Aufführung also gerade erst zum Thema gemacht und die Wahrnehmung der Beteiligten als deren Kulminationspunkt herausgestellt. Die Auffassung von der Aufführung als Werk wird damit um die Auffassung von der Aufführung als Ereignis ergänzt, das für Fischer-Lichte weder durch »eine hermeneutische Ästhetik […] noch die heuristische Unterscheidung von Produktions-, Werk- und Rezeptionsästhetik« angemessen erfasst werden kann, wenn auch einige Elemente des Theaterereignisses mit diesen Ästhetiken beschreibbar bleiben.74 Die Trennung zwischen Künstlersubjekt, Kunstwerk und Rezipienten wird mit der Verbindung von Aufführung und Performativität dadurch aufgehoben, dass die Aufführung aufgrund ihrer Performativität die Beziehungen zwischen Künstlersubjekt, Kunstwerk und Rezipienten entgrenzt und die mit diesen Beziehungen verbundenen Rollenzuschreibungen auflöst, ohne sie zu leugnen.75 Insofern fügt sich der performative turn in die bereits seit spätestens den 1960er Jahren von Künstlern, Kunstkritikern, Kunstwissenschaftlern und Philosophen immer deutlicher bemerkte und beschriebene Entgrenzung der Künste ein, die Adorno mit dem Begriff der »Verfransung« bezeichnet.76 Im Angesicht der Auflösung eines alle Kunstarten umfassenden Kunstbegriffes gilt seine Feststellung, dass »gegenüber den Künsten […] Kunst ein sich Bildendes« sei.77 Mit der Verfransung geht im Zusammenhang mit dem performative turn die Tendenz aller Kunstarten einher, sich zunehmend als Aufführung zu realisieren. 78 Erst mit der allmählichen Etablierung des Performativitätsbegriffes aber geraten auch in den 73 Vgl. ebd., S. 19. 74 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 55. 75 Vgl. ebd., S. 55f. 76 Vgl. ADORNO: »Die Kunst und die Künste«, S. 189. 77 Vgl. ebd., S. 186. 78 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 29.
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übrigen Kunstarten jene Ereignisse in den Blick, »in die nicht nur sie selbst [die Künstler, P.K.], sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer, Zuschauer involviert sind« und durch die nicht nur die Bedingungen der Kunstproduktion und -rezeption nachhaltig verändert worden sind, sondern darüber hinaus auch das Verhältnis zwischen Material- und Zeichenstatus der Künste.79 Aus diesen Verbindungslinien geht hervor, dass der Aufführungs- und der Performativitätsbegriff insofern aufeinander bezogen sind, als mit der Performativität der Aufführungscharakter menschlicher Handlungen angesprochen ist. Diese Bedeutungsdimension teilt der Performativitätsbegriff mit dem Begriff der Theatralität, denn Inszenierung, Korporalität, Semiotizität und Performance werden nach den bereits angestellten Überlegungen sowohl im kulturellen als auch im theatralen Kontext als performative Prozesse realisiert.80 Der wesentliche Unterschied zwischen beiden Begriffen liegt jedoch darin, »dass der Theatralitätsbegriff sich nicht auf jegliche Konstitutionsleistungen anwenden lässt, die der Begriff des Performativen umfasst, wie z.B. diejenigen, die im Akt des Schreibens und Lesens hervorgebracht werden.«81 Aus diesem Grund ist, wenn es um die Beziehung der mit der Theateraufführung verbundenen Aspekte zu anderen Aufführungen kultureller Art geht, die Verwendung des Performativitätsbegriffes dem der Theatralität nicht nur aus theatertheoretischer Sicht vorzuziehen, sondern darüber hinaus zu überlegen, ob nicht die Herausstellung von Performativität auch für den Kontext der Theaterdidaktik eine sinnvolle Hilfe zur Legitimation des Umgangs mit der Theateraufführung darstellt. Er wäre damit dem Begriff der Theatralität im theaterdidaktischen Kontext zumindest an die Seite zu stellen und durch die theaterdidaktische Verwendung auch in die Literatur- und Mediendidaktik insgesamt einzubringen. Denn der Begriff der Performativität ist »weiter und umfassender als der Theatralitätsbegriff. In dieser Weite liegt allerdings auch eine gewisse Gefahr. Wenn der Begriff der Performativität in den Kulturwissenschaften als eine Art umbrella term für alle diejenigen Phänomene und Prozesse Verwendung findet, die sich der Untersuchung mit herkömmlichen textanalytischen Methoden widersetzen, besteht die Gefahr, dass er von einem wichtigen heuristischen Instrument, das bisher weitgehend übersehene Dimensionen im künstlerischen und sozialen Handeln zu erfassen vermag, zu einer leeren Worthülse degeneriert.«82
79 Vgl. ebd. 80 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Art. Performativität/performativ«, S. 258. 81 Ebd. 82 Ebd. Hervorhebung im Original.
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So hilfreich die Verwendung des Performativitätsbegriffes also einerseits ist, um den Umgang mit der Theateraufführung aus theaterdidaktischer Perspektive legitimieren und über den Kontext des Theaters hinaus ausweiten zu können, so wichtig ist andererseits die Fokussierung auf die spezifischen Dimensionen des künstlerischen und sozialen Handelns innerhalb der Theateraufführung, um eine Sinnentleerung und Verallgemeinerung des Begriffes zu verhindern. Aus diesem Grund ist im Folgenden zu klären, welche Dimensionen dies im Falle der Theateraufführung sind. Denn mit der These von der performativen Hervorbringung der Aufführung werden Fragen an den Aufführungsbegriff aufgeworfen, die bislang noch nicht zur Sprache gekommen sind. So wird etwa darauf einzugehen sein, was die Aufführung als Ereignis ausmacht. Wenn dabei die Zeichenhaftigkeit des Theaters hinter die Fokussierung auf das Prozessuale und Performative zurückweicht, spielt auch die Frage nach der »Unentscheidbarkeit von Signifikant (Realem) und Signifikat« keine herausgehobene Rolle mehr, »sondern die Frage, welcher Metamorphose der Zeichengebrauch unterliegt, wenn er von seiner ›pragmatischen‹ Einbettung in das Ereignis und die Situation des Theaters insgesamt nicht mehr abzulösen ist«.83 Damit geht es auch um eine Beschreibung jener Wirkungen, die »teilweise noch vor, in jedem Fall aber jenseits von jedem Versuch einer Bedeutungsbeilegung«84 wahrgenommen werden können. »So erscheint aus der Perspektive des Semiotischen das Performative als eine der wesentlichen Bedingungen der Möglichkeit für Bedeutungserzeugung. Deshalb eben fragt eine semiotische Ästhetik nach der besonderen Eigenart des jeweiligen Darstellungssystems, zu dem seine je spezifische Materialität ebenso gehört wie der Vollzug von Handlungen, die mit diesem Material vorgenommen werden […]. Insofern eine semiotische Ästhetik nach den Bedingungen fragt, unter denen im Kunstwerk Bedeutung erzeugt wird bzw. unter denen ›ästhetische‹ Bedeutung emergiert, wird sie das Performative berücksichtigen, ja berücksichtigen müssen. Sie wird es allerdings – und das ist die wesentliche Einschränkung – nur soweit berücksichtigen, als es einen Faktor im Prozeß der Bedeutungsgenerierung darstellt. Umgekehrt darf man sich das Performative nicht als das schlechthin Bedeutungslose, als das Un-bedeutende, das insignifiant denken.«85
Wäre das performativ Hervorgebrachte bedeutungslos, würde es nicht wahrgenommen werden. Die Performativität von Aufführungen führt aber vor allem dazu, »dass sie die Aufmerksamkeit des Wahrnehmenden nicht auf die Zeichenhaf83 Vgl. LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 178. Hervorhebung im Original. 84 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 29. 85 FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung, S. 142. Hervorhebung im Original.
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tigkeit der auftretenden Person und auftauchenden Objekte lenkt, sondern auf ihre je spezifische Phänomenalität«.86 Damit fokussiert das Performative auf die sinnlichen Qualitäten der Dinge, wie sie dem Wahrnehmenden im Moment der Wahrnehmung erscheinen. Als Ergebnis der bislang angestellten Überlegungen kann festgehalten werden, dass die Aufführung mit der Inszenierung in einer wechselseitigen Verbindung steht, beide sich aber gerade dadurch voneinander abgrenzen lassen, dass die Aufführung im Gegensatz zur Inszenierung selbstreferenziell eine eigene Wirklichkeit konstituiert. Bedeutung ist dabei etwas, das von der Wahrnehmung ausgeht. Diese Feststellung ist wesentlich an die leibliche Ko-Präsenz gebunden, aufgrund derer jeder, der an der Aufführung teilnimmt, auch Teil des Aufführungsereignisses wird. Damit ist der Ereignisbegriff als ein weiterer Aspekt zur Präzisierung des Aufführungsbegriffes eingeführt, der bislang zwar auch schon verwendet, jedoch nicht vertieft wurde. Diese Vertiefung, die sich zum einen aus theatertheoretischen Gründen ergibt, bildet zum anderen auch ein Bindeglied zur Beseitigung des Desiderates, das dieser Arbeit zugrunde liegt. So verortete Bönnighausen ihr Modell eines phänomenologischen Zugangs zu den Gegenständen des Literaturunterrichts zwischen den beiden Polen Materialität und Ereignis und legte damit eine Spur, die vor dem Hintergrund der bisher angestellten Überlegungen auch für den theaterdidaktischen Kontext fruchtbar gemacht werden kann. Die Erörterung des Ereignisbegriffes wird im Folgenden zeigen, was die Ereignishaftigkeit der Theateraufführung ausmacht, und damit einen Baustein zur Bewertung des Ereignisses als Pol eines theaterdidaktischen Umgangs mit der Aufführung bilden. 2.3.3 Ereignishaftigkeit Insbesondere im postdramatischen Gegenwartstheater spielt der Ereignischarakter der Theateraufführung eine herausragende Rolle, denn die Verwendung theatraler Zeichen geschieht darin im Rahmen des Theaterereignisses nicht lediglich zur Herstellung einer scheinbaren Realität, sondern mit der »Intention, ein Ereignis herzustellen oder zu ermöglichen«87. Postdramatischem Theater gehe es, so Lehmann, »um das im Hier und Jetzt real werdende Vollziehen von Akten, die in dem Moment, da sie geschehen«, ihren Lohn in eben diesem Vollzug haben »und keine bleibenden Spuren des Sinns, des kulturellen Monuments usw.
86 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Art. Performativität/performativ«, S. 257. 87 LEHMANN: Postdramatisches Theater, S. 178.
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hinterlassen müssen«.88 Damit zeigt sich gerade in diesem Fall die Selbstreferentialität, die aus der performativen Hervorbringung der Aufführung resultiert. Was Lehmann für das postdramatische Theater feststellt, ist aber, legt man den bisher erörterten Aufführungsbegriff zugrunde, keineswegs nur darauf begrenzt. Zwar stellt das postdramatische Theater die Ereignishaftigkeit, in der es sich vollzieht, auch mittels seiner Zeichenverwendung oftmals geradezu heraus, ein Ereignis ist eine Theateraufführung aber auch dann, wenn dies nicht eigens intendiert ist. Denn die Ereignishaftigkeit der Aufführung steht ganz grundsätzlich im Zusammenhang mit ihrer Performativität. Im Folgenden wird der Ereignisbegriff zur Untermauerung dieser These erörtert, um den Ereignischarakter der Aufführung zu präzisieren. Ein Ereignis ist, so formuliert ganz allgemein Jean-Luc Nancy, ein besonderes Erlebnis, das eine Unterbrechung des Gewöhnlichen und Erwarteten ausgelöst und dem Erwarteten damit einen neuen Verlauf ermöglicht hat.89 Es handelt sich also bei Ereignissen zunächst in einem ganz allgemeinen Sinn um besonders auffällige Momente, die von jenen gewöhnlichen Momenten abweichen, die alltäglich, routiniert und unauffällig begegnen.90 Der Philosoph Seel weist darauf hin, dass es einerseits Ereignisse gebe, die kollektiv auffällig werden, andererseits aber auch solche, die nicht jedem Menschen auffällig werden, weshalb er nach einen spezifischen Ereignisbegriff sucht, der »immer daran gebunden [ist], was als Ereignis in individuellem oder kollektivem Maßstab wahrgenommen, aufgefaßt, erlebt oder erfahren werden kann.«91 Ereignisse sind demnach Veränderungen, »die sich abheben von Zuständen, die sich sehr viel langsamer und unscheinbar verändern«92. Damit ist ein Ereignis »nicht einfach etwas, das geschieht«, sondern »etwas, das in einer bestimmten Weise auffällig geschieht«.93 Auffällig wird es aber, weil es mit dem Charakter des Widerfahrnisses behaftet ist, der Seel zufolge den Kern eines Ereignisses darstellt, ist damit doch verbunden, dass in einem auffälligen Moment nicht einfach nur etwas geschieht, sondern sich etwas denen, die es wahrnehmen, geradezu aufdrängt.94 Dadurch verändert das Ereignis den Sinn der Situation, in der es geschieht.95 Widerfahrnischarakter und Veränderung des Sinns einer Situation 88 Vgl. ebd. 89 Vgl. NANCY: »Theaterereignis«, S. 328. 90 Vgl. SEEL: »Ereignis. Eine kleine Phänomenologie«, S. 38. 91 Ebd. Hervorhebung im Original. 92 Ebd. 93 Vgl. ebd., S. 39. Hervorhebung im Original. 94 Vgl. ebd. 95 Vgl. ebd.
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kennzeichnen also das Ereignis zuallererst und unterscheiden es von anderen auffälligen Momenten, die Seel mit dem Begriff Vorkommnis bezeichnet und auf diese Weise vom Ereignisbegriff abgrenzt.96 Er identifiziert drei Merkmale des Ereignisses: Ein erstes Merkmal ist die Irritation, zu der es dadurch kommt, dass sich das Ereignis unerwartet als Widerfahrnis aufdrängt. Mit dieser Irritation ist »eine Störung der Ordnung gegeben, ein Moment der Negativität, nämlich eine Verneinung der Bedeutsamkeit, die man für den Vorfall, der jetzt zum Ereignis wird, vorgesehen hatte«97. Daraus resultiert unmittelbar als zweites Merkmal des Ereignisses die Umstellung der Orientierung, die noch vor dem eingetretenen Ereignis das Verständnis bestimmt hatte. Das dritte Merkmal eines Ereignisses betrifft seine Herstellbarkeit. Es umfasst nur solche Situationen, »die weder beliebig wiederholbar noch im Ganzen intentional bewirkbar sind«, wobei Seel gerade die Einschränkung wichtig ist, dass diese Definition »zwar eine beliebige Wiederholbarkeit und durchgängige Herstellbarkeit ausschließt, nicht aber Wiederholbarkeit und Herstellbarkeit generell«.98 In diesem Sinne wären also durchaus Handlungen, Gesten oder Gegenstände denkbar, die mit der Intention verbunden sind, eine bestimmte Situation als Ereignis auffällig werden zu lassen, etwa der intentionale Einsatz eines bestimmten theatralen Mittels oder eine in der Inszenierung festgelegte Strategie. Für die Aufführung bedeutet dies, dass Ereignisse auf Planung und gezielte Impulse zurückführbar sind. Bezogen auf den Ereignischarakter dieser Momente lässt sich aber festhalten, dass sich das Ereignis selbst »jeder durchgehenden Regie« entzieht und durch die Inszenierung zwar »beliebig viele Anfangszustände [des Ereignisses, P.K.] feststehen können«, mit diesen Anfangszuständen aber eben nur »der Anfang eines Geschehens« festgesetzt wird, das eine »eigene Dynamik« entfalten muss, wenn es irgendwem zum Ereignis werden soll.99 »Ereignisse können«, so Seel, »also sehr wohl die Folge eines Tuns sein, aber auch dann sind sie kein Tun, sondern etwas, das sich im Zuge dieses Tuns ohne ein Zutun vollzieht«.100 Seel unterscheidet zudem in seinen Ausführungen drei Formen von Ereignissen: kulturelle Ereignisse, ästhetische Ereignisse und Ereignisse im Zusammenhang mit Kunstobjekten. Die bisher skizzierte Definition bezog sich dabei auf kulturelle Ereignisse:
96
Vgl. ebd., S. 38.
97
Ebd., S. 39f.
98
Vgl. ebd., S. 40. Hervorhebung im Original.
99
Vgl. ebd. Hervorhebung im Original.
100 Vgl. ebd. Hervorhebung im Original.
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»Ereignisse in kultureller Bedeutung, so ließe sich das Bisherige zusammenfassen, sind Veränderungen, die als eine Unterbrechung des Kontinuums der historischen Zeit erfahren werden. Sie sind Vorgänge, die nicht eingeordnet, aber ebenso wenig ignoriert werden können; sie erzeugen Risse in der ›gedeuteten Welt‹. Sie machen sich bemerkbar, indem sie zugleich das Merken und Bemerken verändern. Ereignisse sind Vorgänge, die in der Zeit ihres Geschehens nicht zu fassen sind. Damit aber sind sie zugleich Vorgänge, die die Zeit ihres Geschehens auf besondere Weise erfahrbar machen. Ereignisse […] sind ein Aufstand der Gegenwart im Fluß der historischen Zeit.«101
Von diesen kulturellen Ereignissen grenzt Seel ästhetische Ereignisse ab, für die aber sämtliche Eigenschaften der kulturellen Ereignisse ebenfalls gelten. Das Besondere ästhetischer Ereignisse ist jedoch die Art und Weise, in der sie sich ereignen, denn dies geschieht als »Erscheinen«, »als eine unübersehbare Interaktion sinnlich vernehmbarer Qualitäten und Gestalten, in der die Individualität und Aktualität von Objekten und Situationen auffällig wird«.102 Anders als bei kulturellen Ereignissen vollzieht sich das ästhetische Ereignis als ein »Spiel von Möglichkeiten der Wahrnehmung, das nicht zur Wahrnehmung einer bestimmten Wirklichkeit des Erkennens und Handelns ausgenutzt wird«103 und dadurch seinen eigenen Prozess herausstellt. Während kulturelle Ereignisse also selbst als ein Aufstand der Gegenwart beschrieben werden können, sind ästhetische Ereignisse »Ereignisse, in denen ein ›Aufstand der Gegenwart‹ anschaulich wird«.104 Damit geht einher, dass ästhetische Ereignisse nicht notwendig an künstlerische Gegenstände gebunden sein müssen und darüber hinaus auch kulturelle Ereignisse zugleich ästhetische Ereignisse sein können. Immer dann, wenn im Ereignis sein eigener Prozess extrapoliert wird, wenn es sich um Prozesse handelt, »die in ihrer komplexen sinnlichen Präsenz das Potential einer komplexen Gegenwart auffällig machen«105, kann es sich um ästhetische Ereignisse handeln. Von den kulturellen und ästhetischen Ereignissen grenzt Seel in einem dritten Schritt Ereignisse im Zusammenhang mit Kunstobjekten ab. Kunstobjekte sind demnach »Ereignis-Objekte«, die »eine Unterbrechung, Umpolung und Transdisposition der Verläufe der Wahrnehmung und des Verstehens bewirken, wie sie für den Vorgang von Ereignissen generell kennzeichnend ist«106. Allerdings unterscheidet sie von Ereignissen ohne künstlerische Intention, dass sie sich einer »parado101 Ebd., S. 41. Hervorhebung im Original. 102 Vgl. ebd., S.42. Hervorhebung im Original. 103 Ebd. Hervorhebung im Original. 104 Vgl. ebd. 105 Ebd., S. 43. Hervorhebung im Original. 106 Ebd., S. 45.
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xen Operation der Herstellung von Ereignissen« verdanken, womit das Ereignis, das im Zusammenhang mit Kunstobjekten steht, ein Geschehen darstellt, »das zu eben diesem Zweck [der Unterbrechung, Umpolung und Transdisposition der Verläufe der Wahrnehmung und des Verstehens, P.K.] gemacht worden ist«.107 Für die Ereignisse, die mit Kunstobjekten im Zusammenhang stehen, gilt, was alle anderen Ereignisse nicht vermögen: Sie ermöglichen Ereignisse nicht nur, sie machen sie darüber hinaus reanimierbar, weil die »innere Prozessualität ihrer Werke […] ein Ereignis-Potential [ist], das in jeder Begegnung mit dem betreffenden Werk aktualisiert werden kann«108. Die Objekte der Kunst versprechen die »Bereitstellung eines Ereignisses«, indem sie »an einem bestimmten Ort für eine bestimmte Dauer« etwas veranschaulichen und zugänglich machen, was Seel die »Anschauung von Gegenwart« nennt.109 Sie bringen eine andauernde, vergangene, erwartbare oder denkbare Gegenwart zur Anschauung und können so zum Ereignis werden, wenn diese Anschauung dem Anschauenden zur eigenen, fremden, nahen oder fernen Gegenwart wird. 110 Im Kontext seiner Ästhetik des Erscheinens111 beschreibt Seel Kunstwerke darüber hinaus, wie etwa auch Dieter Mersch, als »Ereignisse des Erscheinens«, denen »eine besondere Gegenwärtigkeit« zukommt, deren Erscheinungsprozess allerdings »ein performativer Prozeß [ist], durch den sie etwas in seiner Gegenwärtigkeit zur Darbietung bringen«.112 Die »besondere Präsenz von Kunstobjekten« steht deshalb immer in einem engen Zusammenhang »mit einer besonderen Präsentation von Präsenz«.113 Wenn die Theateraufführung in den Ausführungen der vorliegenden Arbeit immer wieder als Ereignis bezeichnet wurde, dann lässt sich dies nun theoretisch fundieren. Denn alle an der Aufführung Beteiligten nehmen schon durch ihre leibliche Ko-Präsenz am performativen Prozess teil, der die Aufführung erst zustande kommen lässt. Dabei erwarten sie die Realisierung verschiedener, in der Aufführung bereitgestellter Ereignismöglichkeiten. Allerdings können die Anwesenden lediglich darauf hoffen, dass sich ihre Erwartungen an die Aufführung erfüllen, denn eine Garantie für die Erfüllung des Ereignis-Potenzials gibt es nicht. Das Besondere von Kunstobjekten ist in der Anschauung der Gegenwart
107 Vgl. ebd. Hervorhebung im Original. 108 Ebd. Hervorhebung im Original. 109 Vgl. ebd., S. 45f. Hervorhebung im Original. 110 Vgl. ebd., S. 46. 111 SEEL: Ästhetik des Erscheinens. 112 Vgl. ebd., S.186; vgl. MERSCH: Ereignis und Aura. 113 Vgl. SEEL: Ästhetik des Erscheinens, S. 186.
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zu sehen, die sie ermöglichen. Ihr Erscheinen selbst kann wie bei allen ästhetischen Ereignissen bereits ein Ereignis sein. Bezogen auf die Theateraufführung wäre die Auffassung Seels allerdings anzupassen und besonders zu betonen, dass für sie wegen ihrer Einmaligkeit und Flüchtigkeit eine besondere Bedingung gegeben ist. Denn während das EreignisPotenzial, das etwa Werken der bildenden Kunst eigen sein kann, auf der Objektseite nicht verändert wird, entsteht jede Theateraufführung immer wieder neu und beinhaltet damit auch je neues Ereignis-Potenzial, das jenseits dessen liegt, was in der Inszenierung zur Ermöglichung von Ereignissen angelegt sein kann. Das Ereignis-Potenzial der Theateraufführung ist also wiederum an die leibliche Ko-Präsenz aller Anwesenden gebunden. Die performative Hervorbringung jeder Aufführung macht ihre Ereignishaftigkeit aus und kennzeichnet alle Theateraufführungen gleichermaßen. Diese Auffassung lässt sich noch weiter an die theoretische Definition des Ereignisbegriffes anbinden: Wie im Zusammenhang mit dem Performativitätsbegriff bereits erläutert wurde, gehen sowohl Seel als auch Mersch davon aus, dass Kunstobjekte generell in ihrer Ereignishaftigkeit und Zeichenverwendung selbstreferenziell sind. Die Objekte verweisen also nicht mehr nur auf das, was sie darbieten, sondern in einer bestimmten Weise auch auf das Dargebotene, die nicht im bloßen Verweis aufgeht. Demnach sind Objekte der Kunst »Wahrnehmungsereignisse einer besonderen Art, eben weil sie Darbietungsereignisse einer besonderen Art sind«114. Diese besondere Art der Darbietung liegt in ihrer Selbstbezüglichkeit begründet. Denn noch bevor die Kunstobjekte auf etwas verweisen, das außerhalb ihrer konkreten Präsenz liegt, präsentieren sie sich selbst, ihre Materialität, ihre interne Konfiguration oder ihre Perspektiven. 115 Das Erscheinen der Kunstobjekte und das Spiel ihrer Selbstbezüglichkeit wahrnehmen zu können, ist nicht voraussetzungslos möglich, sondern auf Seiten des Wahrnehmenden an ein Offensein für dieses Erscheinen gebunden: »Das Erscheinen ist ein Prozeß von Erscheinungen, der nicht zur Anschauung kommen kann, solange ein Gegenstand einer erkennenden oder benutzenden Behandlung unterliegt. Es kommt erst zur Wahrnehmung, wenn wir der sinnlichen Präsenz eines Gegenstandes um dieser sinnlichen Präsenz willen begegnen – wenn uns daran liegt, ihn in der augenblicklichen Fülle seiner Erscheinungen wahrzunehmen.«116
114 SEEL: »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung«, S. 77. Hervorhebung im Original. 115 Vgl. ebd. 116 SEEL: Ästhetik des Erscheinens, S. 84.
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Objekte der Kunst erfordern also zur Wahrnehmung ihrer Erscheinung eine Offenheit für ihre sinnliche Präsenz und eine Begegnung mit ihnen, die um das Potenzial der Wahrnehmung dieser sinnlichen Präsenz weiß. Bezogen auf die Theateraufführung lässt sich damit auf die Frage Hans Ulrich Gumbrechts, wie es Aufführungen gelingt, »so auf ihre eigene Gegenwärtigkeit zu verweisen, dass diese zu auffälliger Gegenwart wird«117, antworten, dass Theateraufführungen aufgrund ihrer performativen Hervorbringung ein Ereignis darstellen, das schon per se an die Gegenwärtigkeit im Hier und Jetzt gebunden ist. In dieser Gegenwärtigkeit deutet das Aufführungsereignis auf sich selbst und das Dargebotene in einer besonderen Art und Weise hin, exponiert sich also beständig selbst. Der Gehalt der Theateraufführung muss aus den »Buchstaben«, die sie im Prozess der Wahrnehmung als Ereignis vor dem Betrachter ausbreiten kann, erst realisiert werden.118 Damit aber darf, wer sich der Beschreibung der Aufführung als Ereignis nähert, nicht mehr streng zwischen Bühne und Zuschauerraum trennen, denn das Theater verliert seine rein abbildhafte Funktion. Im und durch das Ereignis, das die Wahrnehmung von Kunstobjekten nach der Definition Seels in besonderem Maße beinhaltet, verbinden sich in der Wahrnehmung Sinn und Sinnlichkeit, wodurch die Theateraufführung zu jenem Zwischenereignis wird, von dem Waldenfels spricht.119 Die Selbstbezüglichkeit der Kunstobjekte »betont […] das Buchstäbliche«, es hebt das Faktische des Kunstobjektes hervor, »das Bild in seiner Dinglichkeit, die Farbe als Material, das Sujet, bedingt von seinen Gestaltungselementen«.120 Es ist die Wahrnehmung dieses Verweises auf sich selbst als Spiel der Eigenschaften eines wahrgenommenen Gegenstandes und die dadurch konstituierte neue Wirklichkeit, die im Ereignis auffällig wird. Insbesondere solche Kunstobjekte, die sich als Aufführung realisieren, zeigen, wie eng Aufführung, Performativität und Ereignis miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen. Bevor sie etwas außerhalb ihrer selbst bezeichnen und bedeuten können, bedürfen die Kunstobjekte der Wahrnehmung ihrer Präsenz. »Ihre eigene Gegenwart behaupten sie [die Kunstobjekte, P.K.] vorzugsweise durch ihre Materialität, durch den Laut der Sprachen, der Spur, die als Abdruck eines Vorübergegangenen dessen Gewesenheit aufbewahrt oder die Stofflichkeit des Materials, derer sich der Künstler bedient, um sein Bild, seine Skulptur oder sein Objekt zu schaffen, oft im Widerstreit zu dieser, indem er ihr seine eigenwillige Gestalt, seine Form aufzuprägen 117 GUMBRECHT: »Produktion von Präsenz«, S. 74. 118 Vgl. BOEHM: »Der erste Blick«, S. 360f. 119 Vgl. dazu auch 3.2.3. 120 Vgl. BOEHM: »Der erste Blick«, S. 362.
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sucht. Dies gilt gleichermaßen für den Vollzug von Gesten und Gebärden, die Performanz einer Handlung, der eine besondere Intensität zukommt, die wiederum zurückweist auf die Körperlichkeit des Ausführenden oder die räumlichen, zeitlichen und materiellen Bedingungen, denen sie unterstehen.«121
Es ist also in besonderem Maße die Materialität des Kunstobjektes, die das Objekt selbst und seine Präsenz auffällig werden lässt und so das Ereignis konstituiert. Denn der Prozess der Wahrnehmung wird durch den Fokus auf die Präsenz des Materials unterbrochen. Dabei hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass diese Unterbrechung bei Kunstobjekten an die »Duplizität von Bedeutung und Materialität« gebunden ist, indem eine »leibliche Präsenz« exponiert wird, die »ohne Regreß nicht wieder auf Zeichen rückführbar« ist.122 So oszilliert die Wahrnehmung zwischen dem, was im Kunstobjekt dargestellt wird, und dessen möglicher (Be-)Deutung.123 Wahrnehmende geraten damit in einen Zustand, den Fischer-Lichte als »betwixt and between« beschreibt und der sich im Zwischenraum von Wahrnehmung der Präsenz und Deutung bewegt.124 In dem Maße, in dem die Kunstobjekte diesen Zustand intendieren und tatsächlich hervorrufen, ist auch die Erweiterung des Instrumentariums notwendig, mit dem die Wahrnehmung von Kunstobjekten wie der Theateraufführung beschreibbar wird. Roselt schlägt in Bezug auf die Theateraufführung drei Dimensionen vor, mit denen die Aufführung als Ereignis erfahrbar werden kann und die auch deren Beschreibung berücksichtigen muss: die körperliche, die affektiv-emotionale und die kognitiv-intellektuelle.125 Die kognitiv-intellektuelle Dimension umfasst den Aspekt des Verstehens, der Erklärung und des Wissenszugewinns, also der kognitiv-intellektuellen Auseinandersetzung mit dem Wahrgenommenen. Die beiden anderen Dimensionen sind hingegen eher subjektiv verfasst, denn die affektiv-emotionale Dimension meint die Aufmerksamkeit des Rezipienten für etwas Wahrnehmbares, das zunächst noch durchaus diffus bleiben kann. Es handelt sich dabei nicht um eine primär auf das Verstehen ausgerichtete Aneignung des Wahrgenommenen, sondern um die Sensibilität für eine affektiv-emotional wahrnehmbare Konfrontation mit etwas, das die gängigen Kategorien sprengt und für das es weder eine Definition noch einen Begriff gibt. Wesentlich für die 121 MERSCH: Was sich zeigt, S. 11. Hervorhebung im Original. 122 Vgl. MERSCH: »Aisthetik und Responsivität«, S.276. Hervorhebung im Original. 123 Der Gedanke des Oszillierens der Wahrnehmung zwischen der Präsenz und der Bedeutung eines Kunstwerkes, den auch Fischer-Lichte übernimmt, geht im Ursprung auf Gumbrecht zurück: GUMBRECHT: »Epiphanien«. 124 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 151. 125 Zum Folgenden vgl. ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 19.
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Wahrnehmung ist jedoch die körperliche Dimension. Nicht nur, dass jede menschliche Wahrnehmung immer auch eine sinnlich und damit auch körperlich vermittelte ist; schon eine starre Körperhaltung, ein Hin- und Herrutschen auf dem Sitz, Lachen, Kopfschütteln oder Klatschen zeugen von der körperlichen Beteiligung an dem, was gerade geschieht. Körperliche Wahrnehmung und körperliche Reaktionen auf das Wahrgenommene sind darüber hinaus zumeist kein Ausdruck des Verstehens, der Erklärung oder des Wissensgewinns, sondern der Präsenz in einer bestimmten Situation. Die Erfahrung der Theateraufführung als Ereignis, die sich als vereinzeltes oder paralleles Auftreten der Dimensionen äußert, ist nach Roselt nicht eine notwendige Durchgangsstation auf dem Weg zu Aussagen über Urteile oder Bedeutungen des Wahrgenommenen, sondern insgesamt der primäre Aspekt des Aufführungserlebnisses.126 Wenn Seel die Wahrnehmung eines Ereignisses an einen bestimmten Modus der Wahrnehmung knüpft, dann lässt sich für die Theateraufführung als Ereignis und die damit verbundene Wahrnehmung sagen, dass dieser Modus sowohl für die kognitive Dimension der Wahrnehmung als auch für die affektive und körperliche Dimension gleichermaßen sensibel sein muss. Ebenso wie die Eigenschaft der Performativität verweist auch die der Ereignishaftigkeit auf die Selbstreferentialität und spezifische Wirklichkeitskonstituierung innerhalb der Aufführung. Weil sie sich ereignet, gewinnt die Wahrnehmung ihrer Materialität an Bedeutung, denn diese ermöglicht das Spiel von Wahrnehmungsmöglichkeiten, welches die wahrnehmende Begegnung mit Kunstobjekten ausmacht. Deutlich wurde jedoch, dass die Wahrnehmung dieser Objekte als Ereignis neben der Beeinflussung durch ihre Materialität auch an Voraussetzungen auf Seiten des Wahrnehmenden gebunden ist. Wahrnehmung, Materialität und Ereignis bilden dabei ein Bedingungsgefüge, das aus theatertheoretischer Perspektive in Zugängen zur Theateraufführung berücksichtigt werden muss. Paule hatte in ihren Ausführungen in der Kultur des Zuschauens im Anschluss an Fischer-Lichte festgestellt, dass solche Zugänge zur Theateraufführung sowohl semiotische als auch performative Aspekte zu berücksichtigen haben, und auch der Durchgang durch die Beschreibung des Theaters von der Wahrnehmung her legt dies nahe. Der Zusammenhang zwischen Inszenierung und Aufführung einerseits und dem Oszillieren der Wahrnehmung des Aufführungsereignisses zwischen semiotischen und performativen Aspekten andererseits wirft die Frage auf, welche Zugänge zum Aufführungsereignis die Theaterwissenschaft bereitstellt. Sie wird im Folgenden beantwortet.
126 Vgl. ebd., S. 17.
Das Theater von der Wahrnehmung her beschreiben | 91
2.4 THEATERWISSENSCHAFTLICHE ZUGÄNGE ZUR THEATERAUFFÜHRUNG Zwei Verfahren der Aufführungsanalyse haben sich in der Theaterwissenschaft herausgebildet und sollen im Folgenden dargestellt werden: der semiotische und der phänomenologische Zugang. Da aber der phänomenologische Zugang nicht ohne die gedankliche Vorarbeit Fischer-Lichtes und ihre Ausführungen zur autopoietischen Feedback-Schleife und zu theatralen Energien zu denken ist, werden diese Ausführungen ebenfalls in diesen Abschnitt aufgenommen. 2.4.1 Theatersemiotischer Zugang Im Folgenden wird zuerst der theatersemiotische Zugang zur Theateraufführung erläutert, wobei kein umfassender Überblick über die Semiotik im Allgemeinen gegeben, sondern die Theatersemiotik und somit der theatersemiotische Zugang im Speziellen als Möglichkeit zur Analyse von Aufführungen in den Blick genommen werden wird. Mit den Vorschlägen von Pavis, Fischer-Lichte und Hiß werden dabei drei Verfahren semiotischer Analyse konkret diskutiert. Theatrale Zeichen und theatraler Text Während die Semiotik als die zwei grundlegenden Zeichenmodelle jene von Ferdinand de Saussure und Charles Sanders Peirce kennt, die sich vor allem durch die Bedeutung des Referenten voneinander unterscheiden, verweist die Theatersemiotik auf die implizite Notwendigkeit des Referenten auch im Modell de Saussures und greift daher vornehmlich auf Peirce zurück.127 Da dieses Modell als bekannt vorausgesetzt werden kann, wird es im Folgenden unmittelbar in seinen theatersemiotischen Verwendungszusammenhang eingeordnet. Ein theatrales Zeichen definiert die Theatersemiotik angelsächsischer und deutscher Prägung als eine triadische Beziehung zwischen dem Repräsentamen, also dem materiellen Zeichenträger, dem Objekt, also dem Referenten des Zeichens, und dem Interpretanten, also der Beziehung zwischen Repräsentamen und Objekt.128 Auch wenn die Aufnahme der durch die Semiotik zur Verfügung gestellten Terminologie und Methodik durch die Theaterwissenschaft bereits etwa in den 1970er Jahren einsetzt, dauert es noch bis in die 1980er Jahre hinein, bis sie sich in der Theaterwissenschaft endgültig etablieren konnte und sich in der
127 Vgl. dazu vor allem PEIRCE: Schriften I und II. 128 Vgl. dazu auch die Ausweitung bei MORRIS: Grundlagen der Zeichentheorie, S. 22ff.
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Folge die Auffassung vom Theater »als […] System der Bedeutungsproduktion«129 durchsetzt. Dabei bot sich das Theater aus Sicht der Theaterwissenschaft als ein privilegierter Gegenstand semiotischer Analyse geradezu an.130 Denn das theatrale Geschehen, der Interaktions- und Kommunikationsprozess zwischen Spielern und Zuschauern, wurde als Prozess der Semiose aufgefasst, in dem verschiedenste Zeichen, »linguistische und paralinguistische […], mimische, gestische und proxemische Zeichen, Maske, Frisur, Kostüm, Raumkonzeption, Dekoration, Requisiten, Beleuchtung, Geräusche und Musik«131 zum Einsatz kommen. Fischer-Lichte ordnet diese Zeichen durch Rückbindung an die jeweilige »Leistung und Funktion in den primären kulturellen Systemen« größeren Oppositionspaaren zu, welche die Grundlage für ein Ordnungssystem bilden: »›akustisch – visuell‹, ›transitorisch – länger andauernde‹ und ›schauspielerbezogen – raumbezogen‹«132. Die Bindung an kulturelle Systeme macht theatrale Zeichen dabei zu »Zeichen von Zeichen«, denn »der Satz, den der Schauspieler A spricht, denotiert den Satz, den die Figur X macht; sein Kostüm, die Kleidung, die X trägt«.133 Ein theatrales Zeichen ist vor allem durch zwei Eigenschaften gekennzeichnet: seine Mobilität und Polyfunktionalität. Theatrale Zeichen können, anders als die Zeichen anderer Künste, »grundsätzlich in materieller Hinsicht dieselben Zeichen […] sein, wie diejenigen, die sie denotieren«134. Gleichzeitig vermag aber jedes Zeichen innerhalb eines kulturellen Systems im Theater durch ein anderes Zeichen, das anderen kulturellen Systemen angehört, ersetzt zu werden: »Dekoration durch Worte, Requisiten durch Gesten, Gesten durch Geräusche, Beleuchtung durch Requisiten etc.«135 Diese Eigenschaften des theatralen Zeichens, einerseits selbstreferenziell ein Zeichen für das zu sein, was es selbst darstellt, andererseits aber auch ein Zeichen für Zeichen zu sein, die anderen Zeichensystemen angehören, machen Mobilität zu seinem Kennzeichen. Damit verbunden ist die Eigenschaft der Polyfunktionalität: »[E]in Stuhl läßt sich beispielsweise nicht nur in der Bedeutung eines Stuhls verwenden, sondern auch in der eines Berges, einer Treppe, eines Autos, eines Schwertes, eines feindlichen Soldaten, eines schlafenden Kindes, eines zornigen Vorgesetzten, einer zärtlichen 129 Ebd., S. 234. 130 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung, S. 161f. 131 Vgl. ebd., S. 162. 132 Ebd. 133 Vgl. ebd. 134 Ebd., S. 163. 135 Ebd.
Das Theater von der Wahrnehmung her beschreiben | 93
Geliebten, eines reißenden Löwen etc. […] Der Stuhl nimmt die Bedeutungen an, die das Agieren des Schauspielers ihm beilegt.«136
Mobilität und Polyfunktionalität können in verschiedenen Theaterästhetiken eine unterschiedliche Gewichtung erfahren. So verweist Balme darauf, dass etwa eine realistische Theaterästhetik dazu tendiere, die Möglichkeiten von Polyfunktionalität und Mobilität einzuschränken, non-realistische Theaterstile diese jedoch bewusst einsetzen.137 Die Zeichenhaftigkeit des Theaters lässt eine Theateraufführung aus theatersemiotischer Perspektive als »einen Text aus theatralen Zeichen« erscheinen, weil für sie die Eigenschaften der »Explizität, Begrenztheit und Strukturiertheit« gelten, die »durch die je besondere Selektion und Kombination der als theatrale Zeichen fungierenden Elemente realisiert« werden.138 Mit Explizität ist gemeint, dass theatrale Texte sich immer aus bestimmten theatralen Zeichen zusammensetzen. Begrenztheit meint »sowohl die Abgrenzung von Elementen, die nicht in der Aufführung enthalten sind […], als auch die zeitliche und räumliche Abgrenzung«139. Strukturierte Kombinationen der Zeichen eines theatralen Textes untereinander machen wiederum das Merkmal seiner Strukturiertheit aus, denn aus der besonderen Kombination komplexer Zeichen unterschiedlicher Komplexität wird die Theateraufführung »als ein System von Äquivalenzen und Oppositionen« aufgebaut, »welches in seiner Gesamtheit und jeweiligen Eigenart die spezifische Strukturiertheit der Aufführung bedingt und ausmacht«140. Als ästhetischer Text besitzt der theatrale Text besondere Eigenschaften: Die syntaktische Dimension lenkt den Blick auf die einzelnen theatralen Zeichen und die mit ihnen zusammenhängenden größeren Analyseeinheiten. Eine Analyse allein der syntaktischen Dimension wird allerdings für sich alleine eine mögliche Bedeutung des analysierten theatralen Zeichens oder der größeren Analyseeinheit nicht hervorbringen können. Dazu ist der Bezug zur pragmatischen Dimension unabdingbar. Auf der Ebene dieser Dimension nämlich »werden die Zeichen im Hinblick auf die Beziehungen untersucht, in die sie zu ihren Benutzern – also zu ihren Produzenten oder Rezipienten – treten können«141. Fragen des einheitlichen Bezugs von Produzenten und Rezipienten auf dieselben theatralen und kulturellen Normen spielen in diesem Zusammenhang 136 Ebd. 137 Vgl. BALME: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 67. 138 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung, S. 168. 139 Ebd. 140 Ebd. 141 Ebd., S. 253.
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ebenso eine Rolle wie Fragen nach einem einheitlichen Bezug auf sekundäre kulturelle Systeme. Denn der theatrale Text lässt sich nur »unter der Bedingung als Schnittpunkt vieler heterogener Texte lesen und verstehen«, dass »dem Zuschauer die Texte, die sich im gegebenen theatralen Text kreuzen, auch tatsächlich bekannt sind«142. Somit spiegelt sich das Wissen um die Intertextualität des theatralen Textes als Bedingung der Möglichkeit zu seiner angemessenen Bedeutungsbeilegung in der pragmatischen Dimension der Semiose wieder. Hinsichtlich der semantischen Dimension »werden die Zeichen des theatralen Textes im Hinblick auf ihre Beziehung zu ihren Denotaten/Designaten untersucht«143. Dies stellt vor dem Hintergrund eines ästhetischen Textes wie der Theateraufführung insofern ein Problem dar, als den an diesem Text potenziell beteiligten Zeichensystemen »eindeutig festgelegte Denotate im Sinne linguistischer Lexikonbedeutungen« fehlen und das jeweilige Denotat nur unter Zuhilfenahme der syntaktischen und pragmatischen Dimension der Semiose zu identifizieren ist. 144 Wie bei anderen ästhetischen Texten, z.B. literarischen Texten, musikalischen Kompositionen, Werken der bildenden Kunst oder Filmen, liegt also die Besonderheit auch der Theateraufführung darin, dass ihre semantische Dimension von den Rezipienten auf der Grundlage der syntaktischen und pragmatischen Dimension erst erschlossen werden muss. Mit anderen Worten: Ästhetische Texte wie die Theateraufführung haben – anders als nicht-ästhetische Texte – unabhängig von der syntaktischen und pragmatischen Dimension keine eigenständige semantische Dimension.145 Dabei zeigen sich aus semiotischer Perspektive Selektion und Kombination als besondere bedeutungstragende Elemente. In Bezug auf das Merkmal der Explizität lassen sich drei Möglichkeiten der Selektion unterscheiden, die dies verdeutlichen: erstens die »Auswahl der zu verwendenden Zeichensysteme«, zweitens die »Auswahl innerhalb der Systeme« und drittens die »Auswahl eines besonderen konkreten Zeichens«.146 Neben der Selektion ist auch die Kombination ein bedeutungstragendes Element auf drei unterschiedlichen Ebenen:147 Jedes Zeichen eines Zeichensystems kann erstens mit jedem Zeichen eines anderen Zeichensystems und mit anderen Zeichen desselben Zeichensystems kombiniert werden. Diese Kombination kann zweitens entweder gleichberechtigt oder hierarchisch gegliedert erfolgen und darüber hinaus können die Zeichen drittens 142 Ebd. 143 Ebd., S. 255. 144 Vgl. ebd., S. 255f. 145 Vgl. ebd., S. 249. 146 Vgl. ebd., S. 168. 147 Vgl. ebd., S. 248.
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sowohl gleichzeitig als auch in der zeitlichen Abfolge mit einem anderen Zeichen kombiniert werden. Im Anschluss an die von Lotman148 geprägten Begriffe der internen und externen Umkodierung beschreibt Fischer-Lichte die Entstehung von Bedeutung in den Elementen der Aufführung, wie sie durch Kombination und Selektion zustande kommt: Demnach ist ein theatraler Kode zunächst »die Gesamtheit des Zeichenrepertoires sowie aller syntaktischen, semantischen und pragmatischen Regeln, die bei der Produktion einzelner Werke (Inszenierungen) zur Anwendung kommen und mehreren Werken zugrunde liegen«149. Durch einen theatralen Kode wird bestimmt, welche materiellen Elemente als theatrale Zeichen fungieren sollen, nach welchen Möglichkeiten und Regeln diese Zeichen miteinander verknüpft werden und welche Bedeutungen diesen Zeichen entweder isoliert oder in einer besonderen Kommunikation beigelegt werden können. 150 Indem nun entweder ein Element der Aufführung auf ein anderes der Aufführung (interne Umkodierung) oder auf eine außertextuelle Strukturkette (externe Umkodierung) bezogen wird, erhält es seine Bedeutung. 151 Während also im Falle der internen Umkodierung die Bedeutungserzeugung auf eine text- bzw. inszenierungsimmanente Kohärenz zurückgeht, rekurriert die Bedeutungserzeugung im Rahmen der externen Umkodierung auf ein außerhalb der Inszenierung selbst bereitgestelltes Bedeutungssystem, das ein spezifisches kulturelles Wissen zur Prämisse hat.152 Beide Möglichkeiten tragen nach semiotischem Verständnis zur Erzeugung von Bedeutung bei. »Für Textelemente […] lassen sich nur Bedeutungen konstituieren, wenn sie zugleich für andere, dem Zuschauer zugängliche externe Umkodierungen offen sind oder ihre Bedeutung auch auf dem Weg interner Umkodierung eingeführt und entwickelt werden kann. Sehr häufig ist der Fall, daß ein Element der Aufführung sowohl auf unterschiedliche Elemente unterschiedlicher externer Strukturketten als auch auf unterschiedliche interne Elemente bezogen werden kann. […] Dem Rezipienten werden insofern in der Regel irgendwelche internen oder externen Umkodierungen als Verfahren der auf die Aufführung bezogenen Semiose immer möglich sein.«153
148 LOTMAN: Die Struktur literarischer Texte, S. 115. 149 FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung, S. 65. 150 Vgl. ebd., S. 247. 151 Vgl. ebd., S. 169f. 152 Vgl. ebd., S. 170. 153 FISCHER-LICHTE: »Die Zeichensprache des Theaters«, S. 245f.
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Die Identifizierung theatraler Zeichen, ihre Verknüpfung und die Bedeutungen, die sich aus dieser Verknüpfung ergeben, bilden den zentralen Fragehorizont der theatersemiotischen Analyse.154 Notwendig ist dazu die Segmentierung einer Theateraufführung in Segmente von unterschiedlicher semantischer Kohärenz. Geht es auf einer elementaren Ebene dieser Segmentierung zunächst überhaupt erst einmal um die Identifikation theatraler Zeichen, werden diese auf der klassematischen Ebene zu komplexen Zeichen geringerer Komplexität verdichtet. Komplexere Zeichen finden sich auf der dritten Ebene der Isotopien wieder, während die Totalität der Aufführung die größtmögliche zu segmentierende Ebene bildet. Zu den wesentlichen Leistungen der hier nur in ihren Grundzügen skizzierten Theatersemiotik gehört es, der sich bis in die 1970er Jahre hinein primär als historische Disziplin verstehenden Theaterwissenschaft eine Möglichkeit zur Analyse von Theateraufführungen an die Hand gegeben zu haben, die sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht entwickelt hatte. Indem eine Theateraufführung als ein strukturierter Zusammenhang theatraler Zeichen und damit als Text definiert wurde, konnten die semiotischen Analysemethoden auf die Theateraufführung übertragen werden. Bedeutung, so lässt sich für das theatersemiotische Vorgehen festhalten, ist darin dynamisch und im Blick auf das Zusammenspiel der drei semiotischen Dimensionen zu denken. Allerdings regte sich gegen die Theatersemiotik auch Kritik: So konstatiert Balme, dass sich hinter »Begriffen wie Kode und Umkodierung […] vielleicht die heimliche Utopie der Theatersemiotik (und der Semiotik im Allgemeinen) [verbirgt], den Schlüssel zu den nie abschließbaren Prozessen der Bedeutungserzeugung zu finden oder zu entwerfen«155. Dieser Schlüssel aber, so Balme weiter, lässt sich im Gegensatz zu menschlich konstruierten Kodes nicht finden, weshalb der Kodebegriff für ihn lediglich »ein notwendiges Postulat« darstellt, »das im Bereich des Theaters hauptsächlich von theoretischer Bedeutung ist«.156 Die mit der Suche nach Kodes und der Zergliederung des theatralen Textes einhergehende linguistisch inspirierte Identifikation der kleinsten Einheiten der Theatersprache blieb trotz einer Diskussion innerhalb der Theatersemiotik erfolglos.157 Darüber hinaus gibt es Fischer-Lichte zufolge bei theatralen Texten das Problem, dass die Frage danach, »wie vom Verstehen des einzelnen Zeichens zum Verstehen des Textes vorangeschritten werden kann«, bei theatralen Texten nicht beantwortet werden kann. Denn theatrale Texte haben 154 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung, S. 250. 155 BALME: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 69. 156 Vgl. ebd. 157 Vgl. HIß: Der theatralische Blick, S. 22f.
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»weder homogene kleinste unterschiedliche Einheiten, die sich zu kleinsten bedeutenden Einheiten zusammenfügen, noch homogene kleinste bedeutende Einheiten, aus denen sich Sätze, aus denen sich endlich Texte aufbauen. Dagegen finden wir uns mit einer Vielzahl von Zeichen konfrontiert, die unterschiedlichen Zeichensystemen angehören, mit unterschiedlichen kleinsten unterscheidenden sowie kleinsten bedeutenden Einheiten arbeiten, teilweise sogar überhaupt nicht über sauber abgrenzbare kleinste bedeutende Einheiten verfügen, ja bei denen es fraglich ist, ob sie überhaupt eine Zeichenfunktion übernehmen.«158
Bedeutung ergibt sich also im Theater »überwiegend als Ergebnis eines je spezifischen Zusammentreffens je besonderer performativer Prozesse mit unterschiedlichen syntagmatischen und paradigmatischen Achsen, die ein je besonderes Zuschauer-Subjekt zu konstituieren vermag«159. Denn die verbalen und nonverbalen Zeichen, die im theatralen Text verwendet werden, können sich gegenseitig »unterstützen, illustrieren, relativieren, neutralisieren, modifizieren, negieren oder widersprechen«, sind aber in ihrer Bedeutung nicht auf dieses System gegenseitiger Wechselwirkungen begrenzt, sondern darüber hinaus immer an die Interpretation der Rezipienten gebunden.160 Diese Bindung greift Fischer-Lichte bereits in ihrer Semiotik des Theaters auf, in der sie unterstreicht, dass aus der Ordnung der Zeichen allein »weder ihre Bedeutung noch sein [gemeint ist der theatrale Text, P.K.] Sinn eindeutig und für alle potentiellen Rezipienten in gleicher Weise zu deduzieren und festzulegen ist«, und der Rezipient »aufgrund seiner individuellen Erfahrung unter Berücksichtigung der spezifischen Textstruktur eine Bedeutung beilegen und so den Sinn des Textes für sich konstatieren« muss.161 Der Theatersemiotik eigen ist also ihr Blick über sich hinaus. Bevor darauf weiter eingegangen werden kann, sollen drei theatersemiotische Analyseentwürfe vorgestellt werden, die mit den Namen Pavis, Fischer-Lichte und Hiß verbunden sind. Semiotische Aufführungsanalyse: Pavis, Fischer-Lichte und Hiß Wie alle Zugänge zur Theateraufführung haben sich auch die semiotischen Konzepte der Aufführungsanalyse mit dem grundsätzlichen Problem der Transitorik auseinanderzusetzen: Der Gegenstand, der beschrieben und analysiert werden soll, liegt als solcher nur im Moment seiner performativen Hervorbringung vor und ist danach lediglich anhand von medialen Transformationen zugänglich. Um 158 FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung, S. 250. 159 Ebd., S. 256. 160 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Die Zeichensprache des Theaters«, S. 240. 161 Vgl. FISCHER-LICHTE: Semiotik des Theaters, S. 67.
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die szenischen Vorgänge, die während der Teilnahme an einer Aufführung wahrnehmbar waren, im Nachhinein ordnen zu können, entwickelte Pavis einen semiotisch ausgerichteten Fragenkatalog. dessen Ausgangspunkt jeweils die Konkretisation des Textes ist:162 »[D]er Regisseur konkretisiert seine Lektüre des Stückes in der Inszenierung. Diese Konkretisation ist also eine dargestellte, mit Körpern und Stimmen illustrierte Lektüre, ein Aussagen […] der Lektüre und der dramaturgischen Analyse mittels der Bühne. Aus einer solchen (szenischen) Konkretisation leitet der Zuschauer seine eigene Konkretisation ab, die sich daher stricto sensu als ›Konkretisation der Konkretisation der Konkretisation‹ beschreiben läßt.«163
Anhand der im Fragenkatalog genannten Aspekte soll es den Analysierenden ermöglicht werden, »die Sinnproduktion durch den Zuschauer aufgrund einer dialektischen Theorie der ästhetischen Produktion und Rezeption« im Anschluss an den Aufführungsbesuch zu beschreiben.164 Pavis richtet diesen Katalog daher auf zwei grundsätzliche Perspektiven hin aus, die er dadurch miteinander verbunden sieht, dass »jeder Bestandteil der Aufführung zur Bildung und zum Verständnis des Ganzen beiträgt«: den globalen Diskurs der Inszenierung und die kleineren Bedeutungseinheiten.165 So zwinge der Blick auf den globalen Diskurs »zur Synthese der erhaltenen Eindrücke, zur Ermittlung eines oder mehrerer Signifikate, die man zur Wiederholung oder Zusammenschließung von Teilsignifikanten erhalten hat«, um auf diese Weise den »dominanten Diskurs der Inszenierung zu beschreiben, ob er nun implizit oder explizit angedeutet wird«.166 Als Teilsignifikanten identifiziert Pavis sowohl Aspekte wie das Bühnenbild, die Kostüme oder die Auslegung der Fabel durch die Inszenierung als auch die Beobachtung der Zuschauer oder die Nennung von nicht auf Zeichen reduzierbare Elemente der Aufführung.167 Damit nimmt der von ihm vorgeschlagene semiotische Zugang über einen Fragenkatalog einerseits die Textstruktur der Aufführung und andererseits die Rolle der Zuschauer bei der Bedeutungsbeilegung auf. Es geht Pavis darum, das Theater als System der Bedeutungsproduktion zu erfassen und damit um die Freilegung der hinter der Inszenierung stehenden »Stellungnahme zur Interpretationstradition« und des »Kommentars über den Text 162 Vgl. PAVIS: Semiotik der Theaterrezeption, S. 100ff. 163 Ebd., S. 27f. Hervorhebung im Original. 164 Vgl. ebd., S. 101. 165 Vgl. ebd. 166 Vgl. ebd. 167 Vgl. ebd., S. 101f.
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und die Tradition«.168 Diesen Kommentar präzisiert Pavis an anderer Stelle als metatextuellen: »Der Metatext existiert nirgends als fertiger Text; er findet sich verstreut in den hinsichtlich der Darstellung, des Bühnenbildes und des Rhythmus getroffenen Entscheidungen sowie in der Wahl der Beziehungen zwischen den verschiedenen Signifikantensystemen.«169
Hinsichtlich der Art des metatextuellen Kommentars identifiziert Pavis drei Haupttypen von Inszenierungen: autotextuelle, ideotextuelle und intertextuelle Inszenierungen.170 Autotextuelle Inszenierungen zielen darauf ab, Mechanismen des Dramas und der zugrunde liegenden Fabel zu konservieren, ohne auf Faktoren außerhalb des Textes zurückzugreifen. Ideotextuelle Inszenierungen überlagern den Dramentext durch eine inszenatorische Interpretation und stellen damit einen Gegenpol zu autotextuellen Konzepten dar. Intertextuelle Inszenierungen hingegen bilden gewissermaßen eine vermittelnde Position, indem sie die zugrunde liegenden Texte zwar aktualisieren, sich darin aber immer mit weiteren Inszenierungen oder Elementen vergangener Inszenierungspraxis auseinandersetzen. Damit ist nun die grundsätzliche Vorgehensweise einer semiotischen Aufführungsanalyse skizziert, wobei bereits an dieser Stelle deutlich wird, dass darin der Aspekt des Performativen oder der Ereignishaftigkeit der Aufführung keine Berücksichtigung findet. Aus diesem Grund beziehen sich die Ergebnisse, die dieser Zugang hervorbringt, vor allem auf die Analyse der Inszenierung und weniger auf den Wahrnehmungsaspekt der Aufführung. Diese Tendenz lässt sich auch in den beiden Konzepten von Hiß und FischerLichte nachweisen: Während Hiß als Grundlage der Analyse eine Textinterpretation für verbindlich hält, um die Transformation bis zur Aufführung über die sich anschließenden Transformationsschritte zu untersuchen, stellt Fischer-Lichte eine Methode bereit, die von Segmentierungsebenen wie Figur, Handlung oder Raum ausgeht, also den Text nur als einen möglichen Ausgangspunkt der Analyse betrachtet. Ebenso wie Pavis regt auch sie die Bildung größerer und kleinerer Segmente der Aufführung an, die vor der Analyse geklärt sein müssen.171 Die Wahl der Segmentierung kann dabei von unterschiedlichen Faktoren wie dem Erkenntnisinteresse des Analysierenden oder dem Typ der Inszenierung abhän168 Vgl. ebd., S. 40. 169 PAVIS: »Die Inszenierung zwischen Text und Aufführung«, S. 21. 170 Zum Folgenden vgl. ebd., S. 24f. 171 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung, S. 245.
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gig sein und steht daher frei.172 Die Rekonstruktion der Ordnung, die dem gewählten Element zugrunde liegt, kann nach Fischer-Lichte in Bezug auf die drei Dimensionen der Semiotik vorgenommen werden.173 Auch ihre Strukturanalyse thematisiert die Performativität und Ereignishaftigkeit der Aufführung nicht und auch bei ihr wird der theatrale Text der Aufführung auf die Konstituierung von Bedeutung hin befragt. Der Wahrnehmungsaspekt kommt dabei insofern zum Tragen, als die in der Wahrnehmung identifizierte globale Bedeutungsaussage der Aufführung bzw. Inszenierung den Ausgangspunkt der semiotischen Analyse bildet, die Wahrnehmungsaspekte selbst jedoch sind nicht Gegenstand dieser Analyse. Deutlicher als Pavis und Fischer-Lichte stellt Hiß in seiner Transformationsoder Korrespondenzanalyse die Frage in den Mittelpunkt, wie sich aus der »Polyphonie« der in der Theateraufführung verwendeten Zeichen und Zeichensysteme für den Rezipienten der globale Diskurs der Inszenierung ergibt. 174 Dabei führt er zunächst den von Barthes entlehnten Begriff des Simulacrums175 ein, der den Prozess von der Textgrundlage bis zur Aufführungsrezeption als Folge von Interpretationen beschreibt, in der die paradigmatische Ebene, also das selektive, gliedernde, Einheiten bestimmende sprachliche Prinzip mit der syntagmatischen Ebene als dem Verbindenden und Ordnungsprinzip der Reihe verbunden ist.176. Hiß lässt die Folge von Interpretationen im dramatischen Text beginnen, der im Leseakt von einem Leser in dem Sinn interpretiert wird, dass sich eine »Synthese aus etwas Fremdem (dem Text) und etwas Eigenem« vollzieht.177 Interpretation ist demnach eine »Verstehensdisposition, die durch verschiedene Kontextfaktoren ideologischer, psychologischer, soziologischer Art bestimmt ist«.178 Das Drama bildet somit als Interpretation des dramatischen Textes dessen erstes Simulacrum.179 Das zweite Simulacrum stellt die Überführung und Materialisierung verschiedener Lesarten in eine neue, szenische Textur dar. Das dritte Simulacrum ist in der Aufführungsrezeption verortet, in der die szenische Textur als Fremdes mit dem Eigenen, also etwa dem Vorwissen, den Erwartungen oder Haltungen der Zuschauer, verschmilzt. 172 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Die Zeichensprache des Theaters«, S. 247. 173 Vgl. zum Folgenden ausführlich PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 244ff. 174 Vgl. HIß: Der theatralische Blick, S. 23f. und ausführlich PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 234ff. 175 Vgl. BARTHES: »Die strukturalistische Tätigkeit«, S.154. 176 Vgl. HIß: Der theatralische Blick, S. 13. 177 Vgl. ebd., S. 16. 178 Vgl. ebd. 179 Vgl. ebd., S. 156.
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Mit dem Begriff des Simulacrums und der Vorstellung eines fortgesetzten Interpretationsprozesses greift Hiß ebenso wie schon Fischer-Lichte und auch Pavis die Beteiligung von Objekt und Subjekt für den Prozess der Bedeutungsgenerierung auf. Er präzisiert das Verhältnis von Objekt und Subjekt durch eine Verbindung von Theatersemiotik und Interaktionstheorie. Die im Objekt vorhandenen gezielten Verknüpfungen disparater Ausdruckselemente werden erst im wahrnehmenden Bewusstsein durch Selektion und Kombination, Synthese und Analyse zur sogenannten Korrespondenzbedeutung verbunden: »In jedem Augenblick einer Theateraufführung werden Ausdruckselemente, die verschiedenen (potentiell selbstständigen) Zusammenhängen angehören, von den Zuschauern gleichzeitig wahrgenommen und zu einem Gesamteindruck verarbeitet, zur Korrespondenzbedeutung.«180
Diese Korrespondenzbedeutung ergibt sich aus den »Parallelbeziehungen«, den sogenannten Äquivalenzen, die zwischen den verschiedenen Ausdruckselementen hergestellt werden.181 Weil die Korrespondenzbedeutung als »Synthese […] im Bewußtsein der Zuschauer zustande [kommt]«, muss die Aufführungsanalyse »diesen Prozeß gleichsam umdrehen: in der Kombination der Elemente Strategien ihrer Anordnung abtasten«, um daraus Rückschlüsse auf den Prozess der Bedeutungsgenerierung ziehen zu können.182 Die Leistungen und Grenzen aller genannten Zugänge zur Theateraufführung lassen sich vor dem Hintergrund der drei von Christopher Balme beschriebenen Hauptansätze der Aufführungsanalyse folgendermaßen einordnen: Prozessorientierte Analysen fokussieren die prozessualen Aspekte von Inszenierungen und den Entstehungsprozess einer Inszenierung, sodass nicht die Dechiffrierung von Zeichen, sondern Probenbeobachtungen oder Interviews eine große Bedeutung bekommen.183 Produktorientierte Untersuchungen hingegen »gehen in der Regel von ästhetischen Fragestellungen aus und bedienen sich einer semiotischen Terminologie«, deren Ziel »die Inszenierung als fertiges ästhetisches Produkt« ist.184 Ereignisorientierte Analysen wiederum »legen ihr Hauptaugenmerk auf den Ablauf der Aufführung, die Interaktion zwischen Bühne und Zuschauerraum und interessieren sich insbesondere für die spektatorische Beteiligung an einer Thea-
180 Ebd., S. 39. 181 Vgl. ebd., S. 35. 182 Vgl. ebd., S. 39. Hervorhebung im Original. 183 Vgl. BALME: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 94. 184 Vgl. ebd.
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teraufführung«185. Auch wenn sie die Bedeutung der Rezipienten berücksichtigen, lassen sich doch alle diese Analysemöglichkeiten im Kern als produktorientierte Verfahren klassifizieren. Die Rezipienten kommen in ihnen letztlich vor allem in Bezug auf die Bedeutungsgenerierung in den Blick, die zur Konstituierung des globalen Diskurses der Inszenierung beiträgt. Bei aller Berechtigung dieses Vorgehens wird so doch auch bereits deutlich, dass semiotische Zugänge zur Aufführung die Analysemöglichkeiten auf die Bedeutungsdimension beschränken, die mit der Verweisfunktion theatraler Zeichen verbunden ist. Andere theaterwissenschaftliche Zugänge gehen hingegen von der Ereignishaftigkeit und Performativität der Theateraufführung aus. So konzipierte Fischer-Lichte nach der Semiotik des Theaters ihre Ästhetik des Performativen als Ergänzung der in ihren ersten Überlegungen entwickelten semiotischen Analyse. Damit einher ging ein neuer Zugang, der sich als ereignisorientiert bezeichnen lässt und die Prozesse zwischen Bühne und Publikum sowie die Wahrnehmungsaspekte des Aufführungsereignisses ernst nimmt. Diese Überlegungen führen schließlich zu einem phänomenologischen Zugang, auf den im letzten Abschnitt dieses Kapitels eingegangen werden wird. 2.4.2 Übergänge: Zwischen Bühne und Zuschauerraum Im Zugang, den Fischer-Lichte in der Ästhetik des Performativen entwickelt, greift sie die wechselseitige Bezogenheit von Spielern und Zuschauern bei der performativen Hervorbringung der Theateraufführung auf. Demnach beeinflussen sich deren Handlungen gegenseitig, wodurch ein Raum eröffnet wird, in dem auch Unvorhergesehenes die Bedeutung mitbestimmt, die der Theateraufführung gegeben wird. Ihren Ausgang nehmen Fischer-Lichtes Überlegungen daher vom Aufführungsereignis her, das sie »von einer selbstbezüglichen und sich permanent verändernden feedback-Schleife hervorgebracht und gesteuert«186 sieht. Diese Auffassung, die von zwischen den Beteiligten zirkulierenden theatralen Energien bestimmt ist, hat eine Sicht auf die Rolle der Wahrnehmung für die Bedeutungskonstitution in Aufführungen zur Folge, die zu einer neuen theaterwissenschaftlichen Beschäftigung mit der Phänomenologie geführt hat. Aus diesem Grund ist vor der Darstellung des phänomenologischen Zugangs sowohl auf das Konzept der Feedback-Schleife und der theatralen Energien als auch auf die daraus resultierende Betonung der Wahrnehmung einzugehen, weil dies die Übergänge vom theatersemiotischen hin zum phänomenologischen Zugang sichtbar macht. 185 Ebd. 186 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 59. Hervorhebung im Original.
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Feedback-Schleife und theatrale Energien Mit der Vorstellung einer Selbstbezüglichkeit der Feedback-Schleife zwischen den an der Aufführung Beteiligten kann präzisiert werden, weshalb in diesem Kapitel insbesondere die Ereignishaftigkeit als wesentliches Unterscheidungsmerkmal der Aufführung einerseits und der Inszenierung andererseits angesehen wurde: Erst die Selbstbezüglichkeit der Feedback-Schleife nämlich führt dazu, dass die Aufführung als Ereignis nicht vollständig plan- und vorhersagbar ist, weil die Handlungen sowohl der Spieler als auch der Zuschauer für die jeweils andere Gruppe und innerhalb jeder Gruppe als Unsicherheitsfaktor fungieren und ihnen damit unvorhersehbar widerfahren. Diese These veranschaulicht FischerLichte anhand der Theatergeschichte, in der sie nachweist, dass die Unbestimmtheit der Aufführung als Ärgernis gegolten hat, das reduziert oder abgestellt werden sollte.187 »Sicht- bzw. hörbare und damit potentiell störende Zuschauerreaktionen sollten sich in ›innere‹ verwandeln, die allenfalls zu spüren sind«188, die Forderung nach der Möglichkeit zur Einfühlung des Zuschauers in das Bühnengeschehen bestimmte infolgedessen die Inszenierungs- und Aufführungspraxis weiter Teile der Theatergeschichte. Auch die Bedeutungssteigerung des Regisseurs zu Beginn des 20. Jahrhunderts identifiziert Fischer-Lichte als Element der Auseinandersetzung mit der Feedback-Schleife, weil es plötzlich nicht mehr nur darum gegangen sei, »wahrnehmbare Zuschauerreaktionen auszuschalten, sondern [mittels einer Organisation und Steuerung der Schleife durch die Regisseure, P.K.] ganz bestimmte wahrnehmbare Reaktionen durch gezielte Inszenierungsstrategien allererst hervorzurufen«.189 Erst mit der performativen Wende in den 1960er Jahren wurde die Unvorhersehbarkeit und Unplanbarkeit der Aufführung als Bedingung der Aufführung angesehen und ernst genommen. Was in den vorangegangenen Epochen der Theatergeschichte unterbrochen oder organisiert werden sollte, wurde nun ausdrücklich thematisiert: »Das Interesse richtete sich nun explizit auf die feedback-Schleife als selbstbezügliches, autopoietisches System mit prinzipiell offenem, nicht vorhersagbarem Ausgang, das sich durch Inszenierungsstrategien weder tatsächlich unterbrechen noch gezielt steuern läßt. Dabei verschob sich das Interesse von einer möglichen Kontrolle des Systems zu seinem besonderen Modus der Autopoiesis.«190
187 Vgl. ebd. 188 Ebd. 189 Vgl. ebd., S. 60. 190 Ebd., S. 61. Hervorhebung im Original.
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Während also die Feedback-Schleife vor der performativen Wende als beeinflussbare Größe der Aufführungsrezeption gilt, wandelt sich dieses Verständnis in der Folge dieser Wende hin zu einem sich selbst hervorbringenden, nicht beeinflussbaren Element des Aufführungsereignisses. Fischer-Lichte nennt dabei drei Faktoren der Thematisierung der autopoietischen Feedback-Schleife, auf die alle im postdramatischen Theater entwickelten Inszenierungsstrategien abzielen: den Rollenwechsel zwischen Akteuren und Zuschauern, die Bildung einer Gemeinschaft zwischen Akteuren und Zuschauern und das Verhältnis von Distanz und Nähe, von Öffentlichkeit und Privatheit bzw. Intimität, Blick- und Körperkontakt.191 Diese Ausrichtung des postdramatischen Theaters weist noch einmal deutlich auf den Nutzen der theaterwissenschaftlichen Unterscheidung zwischen Aufführung und Inszenierung hin, weil das über die autopoietische FeedbackSchleife Gesagte nur für Aufführungen gelten und unter ihren Bedingungen stattfinden kann. Auch wenn die Spieler während mehrerer Aufführungen akribisch genau der Inszenierung folgen, kann es keine identischen Aufführungen geben, weil aufgrund der selbstbezüglichen Feedback-Schleife immer Abweichungen von anderen Aufführungen stattfinden. Die Gründe für diese Abweichungen sind jedoch jenseits der Kondition und Gestimmtheit der Beteiligten in ihrer Interaktion, ihren Wahrnehmungen und Reaktionen zu suchen.192 Die Wechselwirkung zwischen allen Anwesenden besteht jedoch nach Fischer-Lichte nicht nur aus deren beobachtbaren Handlungen und Verhaltensweisen, also solchen, die sicht- und hörbar werden, sondern auch aus »Energie, die zwischen ihnen zirkuliert«193. Dabei verwendet sie den Begriff der Energie bewusst nicht wie etwa in der Physik, sondern nimmt vielmehr dessen Vagheit in Kauf, um die Erfahrungsnähe aufzunehmen. Damit schließt sie sich der Verwendung in der ästhetischen, kunst- und kulturwissenschaftlichen Debatte insbesondere seit den 1970er Jahren an, die jedoch in diesen Kontexten zuweilen unpräzise bestimmt und divergent bleibt.194 Im theaterwissenschaftlichen Diskurs bezeichnet der Begriff der theatralen Energie einen »Austausch- und Aushandlungsprozess zwischen Schauspieler/innen, Performer/innen und Zuschauer/innen im theatralen Geschehen […], der zumeist von den Akteur/innen ausgeht, aber auch vom Publikum angeregt und evoziert werden kann«195. Somit gilt als theaterästhetische Funktion theatraler Energien, dass sie als »performative 191 Vgl. ebd., S. 62. 192 Vgl. ebd., S. 82. 193 Ebd., S. 99. 194 Vgl. die grundlegende Definition sozialer Energien bei GREENBLATT: Verhandlungen mit Shakespeare. 195 SCHRÖDL: »Art. Energie«, S. 93.
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Phänomene« die Aufführungen »zum Erlebnis einer Gemeinschaft […] machen, zu einer gesteigerten und intensivierten Erfahrung und Gewärtigung von Präsenz und Ko-Präsenz«.196 Die theatralen Energien werden dabei sowohl von der Materialität und Medialität der Aufführung charakterisiert als auch von ihrer Ereignishaftigkeit und der Wahrnehmung der Zuschauer, weshalb die »jeweilige Erscheinungsform und Ausprägung […] entscheidend für den Verlauf, die Wahrnehmung und das Erleben sowie für die Wertung der theatralen Aufführung«197 ist. Dabei spielt vor allem die Dimension der Körperlichkeit eine zentrale Rolle. Denn die an der Aufführung Beteiligten präsentieren bewusst oder unbewusst verschiedene körperliche Phänomene und Prozesse, mit denen sie einen energetischen Austausch anregen können. Andererseits betont Fischer-Lichte, dass die Energie auf eine besondere Art wahrnehmbar ist, »nämlich durch das leibliche Spüren«198, das sich in den Dimensionen »körperlich, affektiv oder mental« äußert.199 So »geht es bei der Evokation und Zirkulation von Energien im Theater immer auch darum, durch Handlungen und körperliche Aktionen Wirkungen und Kräfte freizusetzen, welche die Wahrnehmung, das Erleben und das Erkennen von Selbst und Anderem zumindest ansatzweise während der theatralen Aufführung verschieben und transformieren können«200. Damit kommt der Wahrnehmung in der Theateraufführung bei Fischer-Lichte eine neue Bedeutung zu, die sich von derjenigen in semiotischen Zugängen unterscheidet. Dem skizzierten Modell Fischer-Lichtes zufolge beeinflusst die Wahrnehmung nämlich selbst kreativ die Aufführung. Um dieses neue Verständnis der Rolle der Wahrnehmung zu verdeutlichen, ist darauf noch ausführlicher einzugehen. Wahrnehmung von Feedback-Schleife und theatralen Energien In der Wahrnehmung »nimmt der Zuschauer bereits auf den Verlauf der Aufführung Einfluß, die ihrerseits auf Akteure und Zuschauer einwirkt, indem sie Energie mobilisiert und zirkulieren läßt«201. So werden Zuschauer in der Aufführung zu Handelnden, ohne einen bewussten Rollenwechsel vollziehen zu müssen. Allein durch ihre Wahrnehmung beeinflussen sie die Aufführung, werden aber umgekehrt auch von der Aufführung in ihrem konkreten Verhalten und ihrer Wahrnehmung beeinflusst. 196 Vgl. ebd. 197 Ebd. 198 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 99. 199 Vgl. SCHRÖDL: »Art. Energie«, S. 93. 200 Ebd., S. 94. 201 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 100.
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»So bedarf es nicht erst des Rollenwechsels, um den Zuschauer zum Mit-Handelnden, zum Akteur zu machen. Der Gegensatz zwischen Handeln und Zuschauen kollabiert. […] [D]er Zuschauer [ist] als Zuschauer, d.h. als Wahrnehmender, immer auch zugleich ein Handelnder, der durch sein Tun und das, was ihm geschieht, auf den Verlauf der Handlung Einfluß nimmt. Es sind entsprechend die Wahrnehmungsbedingungen, die für eine Aufführung geschaffen werden – sei es durch räumliches Arrangement, sei es durch eine spezifische Art der Darstellung –, die je besondere Möglichkeiten für die Dynamik der feedback-Schleife bereitstellen und eröffnen, ohne sie doch determinieren zu können.«202
In diesem Sinne ermöglicht die Wahrnehmung der theatralen Energien im Rahmen der autopoietischen Feedback-Schleife »Schwellenerfahrungen«, weil die Wahrnehmung und Partizipation der Zuschauer an der Aufführung auf einen Widerspruch zurückgeht: Die Möglichkeit zur aktiven Teilnahme an der Aufführung, die von der Teilnahme im Rahmen der autopoietischen Feedback-Schleife bis zur tatsächlichen Teilnahme des Mitmachens oder Mitspielens reichen kann, widerspricht der Erfahrung, dass die Aufführung dem Wahrnehmenden letztendlich unverfügbar bleibt.203 Daher stehen die Zuschauer an einer Schwelle und ihr »Ort ist weder jenseits noch diesseits der Schwelle, weder bestimmen sie den Verlauf der Aufführung noch vollzieht diese sich jenseits ihrer Einflußnahme«204. Dieser Zustand, der insbesondere auf die leibliche Ko-Präsenz zurückgeht, ermöglicht Erfahrungen, die Fischer-Lichte mit ästhetischen Erfahrungen gleichsetzt. Grundvoraussetzung solcher Schwellenerfahrungen ist die Selbstreferentialität der Aufführung. »Der Schauspieler tut nicht nur so, als ob er ginge. Er geht tatsächlich und verändert damit die Wirklichkeit. Dieser Sachverhalt stellt überhaupt erst die Möglichkeit dafür dar, daß der Gang gegebenenfalls auch als etwas anderes gedeutet werden kann –zum Beispiel als Gang Hamlets zu Gertruds Zimmer. […] Die performative Hervorbringung der Materialität von Aufführungen hat zur Folge, daß alles, was in ihnen erscheint, sich wirklich ereignet, auch wenn ihm zusätzliche Bedeutungen zugesprochen werden können.«205
Es eröffnet sich in der Aufführung also eine Dichotomie, deren Pole man als außerästhetische Wirklichkeit einerseits und ästhetische Wirklichkeit andererseits beschreiben kann. Zugleich stellen Aufführungen ihre Rezipienten aber vor die Schwierigkeit, diese Pole voneinander trennen zu müssen. Vor dem Hintergrund 202 Ebd. Hervorhebung im Original. 203 Vgl. ebd., S. 114. 204 Ebd. 205 Ebd., S. 297.
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der dargelegten theaterwissenschaftlichen Definition des Aufführungsbegriffes jedoch sind Dichotomien wie außerästhetische Wirklichkeit und ästhetische Wirklichkeit, Wirklichkeit und Kunst oder Zuschauer und Schauspieler nicht immer scharf voneinander zu trennen. Darüber hinaus weist Fischer-Lichte darauf hin, dass insbesondere die Aufführungen der Performancekunst bewusst dichotomische Begriffspaare und Gegensätze missglücken und zusammenfallen lassen und dadurch »eine Wirklichkeit der Instabilität, der Unschärfen, Vieldeutigkeiten, Übergänge und Entgrenzungen« schaffen.206 Durch diese Eigenschaften konfrontieren die Aufführungen das Eigene, Bekannte und Gewohnte mit dem Fremden und seinen Ansprüchen, die das Eigene in Frage stellen. Denn wenn Aufführungen etwa alltägliche Erfahrungen aufgreifen und diese ausdrücklich in Frage stellen, »erhebt sich die Frage, ob sie, wenn sie dichotomische Begriffsbildungen zu ihrer Beschreibung als inadäquat zurückweisen, nicht auch Zweifel wecken, wieweit derartige dichotomische Begriffspaare geeignete heuristische Instrumente zur Beschreibung der außerästhetischen Wirklichkeit darstellen«207. Diese Eigenschaft von Aufführungen ist es, die Fischer-Lichte zum Begriff der Schwellenerfahrung bringt. Wenn Aufführungen dem Eigenen, etwa den dichotomischen Begriffsbildungen, das Fremde, diese Begriffe Destabilisierende gegenüberstellen, dann nähern sie sich nach Meinung Fischer-Lichtes dem Leben in der Weise an, dass »sie unvorhersagbar und unwägbar wie dieses werden, dann besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß Parameter, die sich auf sie nicht anwenden lassen, auch für die Beschreibung des Lebens keine Gültigkeit beanspruchen können«208. Solche Momente der Infragestellung oder Inanspruchnahme des Eigenen durch das Fremde, das in der Aufführung dem Rezipienten entgegentritt, führen dazu, dass sich »der Raum zwischen den Gegensätzen, ihr Zwischen-Raum« öffnet und das Zwischen »dergestalt zu einer bevorzugten Kategorie avanciert«209. Die Erfahrung dieses Zwischenraumes gilt Fischer-Lichte als die ästhetische oder Schwellenerfahrung, »die für den, der sie durchläuft, eine Transformation herbeizuführen vermag«210. Die Schwellenerfahrung ist es also, die die Transformation bewirkt, die mit der Ereignishaftigkeit der Aufführung einhergeht und durch die Bedeutung hervorgebracht wird:
206 Vgl. ebd., S. 304. 207 Ebd. 208 Ebd. 209 Ebd., S. 305. 210 Ebd.
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»Die Prozesse der Erzeugung von Bedeutung […] werden [in Aufführungen, P.K.] überwiegend nicht als hermeneutische Prozesse vollzogen. Es geht in ihnen offensichtlich nicht darum, die Aufführung zu verstehen, sondern bestimmte Erfahrungen zu ermöglichen. Zwar lassen sich hermeneutische Prozesse teilweise durchaus der ästhetischen Erfahrung inkorporieren, sie bleiben für sie jedoch marginal. Erst wenn die Aufführung vorbei ist, können zielgerichtete Bemühungen einsetzen, sie nachträglich zu verstehen.«211
Bereits auf dieser Grundlage lassen sich Wahrnehmungsmodi identifizieren, die der Einordnung eines theatralen Elementes als Zeichen vorausgehen: Einerseits kann dieses Element als es selbst, also in seinem »bloßen Erscheinen«212 und Sosein, wahrgenommen werden, andererseits kann es mit Assoziationen verknüpft werden, die aus dem eigenen Erfahrungs- oder Erinnerungshorizont dem So-sein beigemessen werden. »In beiden Fällen«, so präzisiert Fischer-Lichte, »treten Materialität, Signifikant und Signifikat in ein anderes Verhältnis zueinander«, denn in seinem bloßen Erscheinen wird ein solches Element »als das wahrgenommen, als was es erscheint«, und »Materialität, Signifikant und Signifikat [fallen] in eins«.213 Im Fall der Verknüpfung des So-seins mit dem Erfahrungsoder Erinnerungshorizont treten Materialität, Signifikant und Signifikat jedoch auseinander, weil das Element hier »als ein Signifikant wahrgenommen [wird], der sich mit den unterschiedlichsten Signifikaten verbinden läßt«, und die Bedeutungen, die in diesem Fall zugeschrieben werden, »unbegründet und unmotiviert« auftreten, auch wenn sie im Nachhinein plausibel erklärbar sind. 214 Beide Möglichkeiten, die Wahrnehmung des bloßen So-seins und der ungesteuerten Verknüpfung dieser Wahrnehmung mit Assoziationen und Erinnerungen, ordnet Fischer-Lichte einer »Ordnung der Präsenz« zu, in der »Bedeutung als phänomenales Sein des Wahrgenommenen erzeugt« wird.215 Dieser Ordnung der Präsenz steht eine Ordnung der Repräsentation gegenüber, in der die Phänomene denen, die wahrnehmen, zum Zeichen für etwas werden, indem sie diese im Rahmen einer identifizierten symbolischen Ordnung verorten.216 Das Umspringen zwischen beiden Ordnungen bezeichnet Fischer-Lichte als »perzeptive Multistabilität«217. Sie führt zur Fokussierung auf die eine oder die andere Ordnung 211 Ebd., S. 276. 212 SEEL: Ästhetik des Erscheinens, S. 148. Hervorhebung im Original. 213 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 249. 214 Vgl. ebd., S. 250. 215 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Perzeptive Multistabilität und ästhetische Wahrnehmung«, S. 132. 216 Vgl. ebd. 217 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 256ff.
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über einen gewissen Zeitraum. Weil aber weder die Ordnung der Präsenz noch die Ordnung der Repräsentation über die gesamte Aufführungsdauer aufrecht erhalten werden, sondern beständig wechseln, wird durch die Schwellenerfahrung das Umspringen zwischen den Ordnungen und damit die Eigengesetzlichkeit der jeweiligen Ordnung herausgestellt: »Die perzeptive Multistabilität, die das Umspringen der Wahrnehmung von einer Ordnung in die andere bewirkt, sorgt dafür, dass keine der beiden Ordnungen sich auf die Dauer zu stabilisieren vermag.«218
Dieser Effekt erst ermöglicht die Initiierung der autopoietischen FeedbackSchleife einerseits und zugleich die Fokussierung auf deren Konstitutionsprozess andererseits. Denn insbesondere in den Momenten des Umspringens der Wahrnehmung von einer Ordnung zur anderen kann dem Wahrnehmenden zunehmend bewusst werden, dass »ihm nicht Bedeutungen übermittelt werden, sondern dass er es ist, der sie hervorbringt, und dass er auch ganz andere Bedeutungen hätte hervorbringen können, wenn zum Beispiel das Umspringen von einer Ordnung zu einer anderen später oder weniger häufig eingetreten wäre.«219
Durch die Definition der Schwellenerfahrung als einer, die aus dem Umspringen der Ordnungen resultiert, zielt die Ästhetik des Performativen Fischer-Lichtes darauf ab, das Verhältnis zwischen den Beteiligten in einer Theateraufführung beschreibbar zu machen. Ihre Fragehorizonte sind die »Art und Weise der Herstellung von Energie« und »die Form der Wahrnehmung und Erfahrung«, die »komplexe und heterogene Themenfelder wie Fragen nach der Körperlichkeit, Materialität, Räumlichkeit […], Zeitlichkeit […] und der ästhetischen Erfahrung« umfassen.220 Die Untersuchung der Energie – und damit der autopoietischen Feedback-Schleife – ist mit dem Wesen der Aufführung verbunden, denn in der Wahrnehmung der Aufführung ergeben sich »Zusammenhänge von Intentionalität und Emergenz, von Wiederholbarkeit und Ereignishaftigkeit, von Dauerhaftigkeit und Veränderlichkeit; Fragen nach Ähnlichkeiten bzw. Differenzen von Energien mit anderen performativen Phänomenen und Prozessen wie Atmosphäre, Aura, Ausstrahlung, Rhythmus u.a. und schließlich Fragen des Rituellen 218 Ebd., S. 260. 219 FISCHER-LICHTE: »Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff«, S. 21f. 220 Vgl. SCHRÖDL: »Art. Energie«, S. 94.
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[…], der Kollektivität, der Macht, der Ethik sowie der medialen und technischen Reproduzier- und Darstellbarkeit.«221
Eine präzisere Definition theatraler Energien hat sowohl an der Produktion als auch an der Rezeption von Theater ein Interesse. Als potenzielles Resultat körperlicher und materieller Prozesse entzieht sich die theatrale Energie »bewusster Kalkulation und Intentionalität« und formiert sich »in jeder Aufführung und im Zusammenspiel mit einem jeweiligen Publikum immer wieder anders und neu«222. Das von Fischer-Lichte konzipierte Modell der autopoietischen FeedbackSchleife, der theatralen Energien und der Konzeption von Wahrnehmung ergänzt den semiotischen Zugang, indem es die Prozesse der Bedeutungsgenerierung nicht allein auf die Ordnung der Repräsentation bezieht, sondern auch performative Phänomene und Prozesse im Zusammenhang mit der Ordnung der Präsenz umfasst. Dieses Modell, das die Grundlage für einen phänomenologischen Zugang zum Theater bildet, befruchtet auch die Überlegungen zum theaterdidaktischen Umgang mit der Theateraufführung, denn deren Wahrnehmung ist an die Körperlichkeit gebunden und damit sowohl körperlich als auch affektiv und kognitiv dimensionierbar. Um dies zu beschreiben, gerät erneut ein phänomenologischer Zugang zur Aufführung in den Blick, der im Folgenden in seiner durch Roselt konzipierten Form erläutert und diskutiert wird. 2.4.3 Phänomenologischer Zugang Bereits in den theatersemiotischen Modellen von Pavis, Fischer-Lichte und Hiß war die Rolle des Zuschauers bedacht, dort allerdings auf den Aspekt der Bedeutungsgenerierung durch Dechiffrierung der theatralen Zeichen verengt worden. Im Gegensatz zu diesen Bestrebungen führen phänomenologische Ansätze die Konkretisation oder das Simulacrum eines Textes nicht allein auf die Dimension des Verstehens von Zeichenbedeutung zurück, sondern setzen bei der Wahrnehmung der Aufführung an. Da auf die Phänomenologie als Philosophie im dritten Kapitel ausgiebig eingegangen wird, soll an dieser Stelle der Arbeit gezeigt werden, wodurch die phänomenologischen Zugänge, die in der Theaterwissenschaft bereits entwickelt wurden, gekennzeichnet sind.
221 Ebd. 222 Ebd.
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Phänomenologie in der Theaterwissenschaft Die Phänomenologie fokussiert ganz allgemein »das Wesentliche an Phänomenen und will diese von verschiedenen Seiten und Perspektiven aus beleuchten, um eine Wesensschau zu ermöglichen«223. Dabei wird der phänomenologische Zugang im theaterwissenschaftlichen Kontext als Ergänzung des semiotischen im Sinn einer Theatertheorie »mit einer binokularen Perspektive«224 eingesetzt, welche mittels des semiotischen Zugangs die Bedeutungskonstitution im Theater erfasst und sich über den phänomenologischen Zugang dem Ereignishaften und der Wahrnehmung zuwendet. Erinnerungen, Erfahrungen und Beobachtungen gehen dabei Hand in Hand, denn der phänomenologische Zugang geht »im ersten Schritt stets von konkreten, am und mit dem eigenen Leib vollzogenen Wahrnehmungen in Aufführungen aus. Sein zweiter Schritt, der vorzugsweise erst nach der Aufführung vollends einsetzt, führt diese Wahrnehmungen und Erfahrungen der Sprache zu und zugleich auf Merkmale der Aufführung zurück. Sein dritter und letzter Schritt besteht darin, die entstandenen Beobachtungsberichte mit spezifischen Fragestellungen zu konfrontieren, ggf. zu komplettieren sowie mit fremden Beobachtungsberichten bzw. anderen Informationsquellen (Programmheft, Künstleraussagen, Wissen über kulturelle Kontexte etc.) zu kontrastieren und schließlich im Licht geeigneter Theorien zu reflektieren.«225
Der phänomenologische Zugang richtet den Fokus also auf die Bedingungen, die zur Wahrnehmung eines Phänomens geführt haben. Damit geht phänomenologische Analyse zunächst von der Subjektivität dieser Wahrnehmung aus, denn »[j]eder Zuschauer bringt andere Erfahrungen in eine Aufführung ein, weswegen er die während einer Aufführung erscheinenden Probleme und Prozesse auf seine eigene Weise nicht nur wahrnehmen«, sondern auch erfahren wird.226 Im Rahmen ästhetischer Überlegungen betrachtete bereits Roman Ingarden in seiner Untersuchung Das literarische Kunstwerk dramatische Sprache als »Grenzfall«, weil nicht allein sie der Bedeutungsträger des Theaters ist, sondern stets das komplexe Zusammenspiel von textlicher Ebene und anderen Darstellungsmitteln zur Beschreibung des Theaters heranzuziehen sei.227 Neben Ingarden war es vor allem Dietrich Steinbeck, dessen Einleitung in die Theorie und 223 BALME: Einführung in die Theaterwissenschaft, S. 72. 224 Der Begriff der binocular vision geht auf Bert States zurück: STATES: Great Reckonings in Little Rooms, S. 8. 225 JOST: »Analyse der Aufführung«, S. 249. 226 Vgl. FISCHER-LICHTE: Theaterwissenschaft, S. 84. 227 Vgl. INGARDEN: Das literarische Kunstwerk, S. 403.
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Systematik der Theaterwissenschaft eine phänomenologische Arbeit darstellt, in der drei Schichten des Theaterkunstwerkes voneinander unterschieden werden: die Schicht der realen Bedeutung, die Schicht der intendierten Bedeutung und die Schicht der vermeinten Bedeutung.228 Phänomenologisch relevant ist dabei die Ebene der vermeinten Bedeutung, also der Bedeutungsbeilegung durch den Zuschauer, die zwischen der intendierten Bedeutung als der vom Schauspieler intendierten Verkörperung einer bestimmten Rolle und der realen Bedeutung als der »Schicht der realen Personen und Gegenstände« angesiedelt ist.229 Diese frühen Versuche der Übertragung der Phänomenologie auf einen Zugang zum Theater ähneln noch sehr stark den semiotischen Zugängen und sind mehr an der Gegenständlichkeit und Verweisfunktion der Zeichen interessiert als daran, die Bedeutung des Wahrnehmungsvorgangs im Theater herauszustellen. Erst Bert O. States legt mit seiner Theatertheorie Great Reckonings in Little Rooms einen Vorschlag vor, in dem er sich deutlich vom semiotischen Zugang abgrenzt.230 Im Sinn der binokularen Perspektive fordert er, die Wahrnehmung der Zuschauer im Theater nicht auf die Bedeutungsdimension zu verengen, sondern zu ihrem Recht zu verhelfen, um vor allem die Momente der Irritation auch in theaterwissenschaftlichen Zugängen zum Theater zu berücksichtigen. 231 Wie Roselt allerdings nachweist, hat diese Untersuchung Schwächen hinsichtlich der Bezugnahme auf die phänomenologische Theorie, deren Grundpositionen – etwa die Bedeutung der Leiblichkeit – von States im Rahmen seiner Überlegungen nicht konsequent angewendet werden.232 So sind mit Ingarden, Steinbeck und States zwar die frühen Vertreter eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung benannt, ausgeschöpft ist das Potenzial dieses Zugangs mit den benannten Positionen allerdings noch nicht. Die Überlegungen, die Fischer-Lichte in der Ästhetik des Performativen zu einem phänomenologischen Zugang anstellte, griff hingegen Roselt in seiner Phänomenologie des Theaters auf, um sie weiterzuführen. Auf sein Konzept ist daher im Folgenden einzugehen. Jens Roselt: Phänomenologie des Theaters Die Überlegungen, die Roselt anstellt, zielen darauf ab, die Wahrnehmung und Erfahrung von Zuschauern im Theater als Zugang zur Theateraufführung zu nut228 Vgl. STEINBECK: Einleitung in die Theorie und Systematik der Theaterwissenschaft, S. 91. 229 Vgl. ebd. 230 STATES: Great Reckonings in Little Rooms, S. 6. 231 Vgl. ebd., S. 7. 232 Vgl. ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 252ff.
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zen und zur Grundlage von Aufführungsanalysen zu machen. Wahrnehmung und Erfahrung werden bei ihm daher »nicht in erster Linie als notwendiges Durchgangsstadium zur Ermittlung von Aussagen oder Bedeutungen angesehen […], sondern als ein primärer Aspekt des Aufführungserlebnisses«233. So orientiert sich seine Analyseperspektive »nicht an der quälenden Frage ›Was steckt bloß dahinter?‹, sondern an der erquickenden Frage ›Was steckt eigentlich dazwischen?‹«234, also an der performativen Hervorbringung der Aufführung zwischen Spielern und Zuschauern, dem Zwischenraum »zwischen den Zuschauern und der Bühne, zwischen ihren Sinnen und den Körpern der Schauspieler«235. Was während der Aufführung zwischen den Beteiligten untereinander und zwischen ihnen und den Dingen, die sie wahrnehmen, geschieht, benennt für Roselt »keinen statischen Zustand, sondern es ereignet sich als Erleben oder Erfahren, es vollzieht sich im einzigartigen Moment der Aufführung«236. Damit eröffnet sich für Roselt vor allem unter Rückgriff auf den Phänomenologen Waldenfels ein Zugang zur Theateraufführung, der über bloße Verstehens- und Interpretationsprozesse hinausgeht und durch den sich das Theater vom »Verschiebebahnhof vorgefertigter Interpretationen« zum kreativen Ort wandelt, »an dem Sinn erst entsteht in einem Ereignis zwischen Zuschauern und Bühne«.237 Wie auch schon States geht Roselt dabei vom Erlebnis markanter Momente aus, die ihm »als zentraler Aspekt der ästhetischen Erfahrung im Theater gelten«238. Seine These lautet, »dass Aufführungen von den Augenblicken dieser Erfahrungen her analytisch sinnvoll erschlossen werden können«239. Unterstützt wird diese Ansicht durch die Verwendung des Aufführungsbegriffes: Eine Theateraufführung folgt nicht denselben Regeln und Plänen wie die Inszenierung, weshalb sie als ganze »weder ein ausschließlich spontanes, planund regelloses Ereignis« ist, »noch […] sich in der konzeptuellen Exekution eines vorgegebenen Programms [erschöpft]«240. Eine Analyse der Aufführung, die in der Wahrnehmung und im Erlebnis ihren Ausgang nimmt, »kann sich damit nicht darauf beschränken, Wirkintentionen, Aussageansprüche und Interpretationen zu ermitteln, noch […] sich auf die Akkumulation subjektiver Erfahrungs-
233 Ebd., S. 17. 234 Ebd. 235 Ebd. 236 Ebd. 237 Vgl. ebd. 238 Ebd., S. 20. 239 Ebd. 240 Ebd., S. 132.
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und Verhaltensweisen konzentrieren«241. Durch das Oszillieren der Wahrnehmung zwischen dem spontan sich Ereignenden und dem Programm der Inszenierung werden Krisensituationen erlebbar, »in denen ihre Ordnung [die Ordnung der Wahrnehmung, P.K.] destabilisiert wird, indem Konventionen und Erwartungen in Frage gestellt werden und die schließlich zur Bestätigung oder Erweiterung tradierter Normen führen«242. Diese Krisensituationen des Theaters resultieren daraus, dass ein Ereignis in »die Privatsphäre der eigenen Erfahrung« eindringt, um diese neu auszurichten.243 So kommt eine zentrale Kategorie ins Spiel: der Einbruch des Fremden in das Eigene. Es gilt Roselt wie Fischer-Lichte »als das Paradigma dessen, was einem passieren und sich ereignen kann« und ist damit der »Schlüsselbegriff einer Phänomenologie der Erfahrung«.244 Das Fremde ist es, das irritiert und dem Wahrnehmenden im Ereignis widerfährt. Es bleibt aber selbst schwer zu fassen und lässt sich nur über Reaktionen beschreiben. »Das, wovon unser Reden und Sagen ausgeht, läßt sich nicht aussagen als etwas, das vorliegt, es kann sich nur zeigen in unserem Sagen und Tun; es ist angewiesen auf eine indirekte Rede- und Mitteilungsweise, die dem Schweigen verbunden bleibt.«245
Das Fremde ist demnach »überhaupt kein Etwas […], das positiv bezeichnet werden könnte«, weil es als Bedeutungsloses »keinen Namen und keine Anschrift [hat], kein Adjektiv kann seine Eigenart nennen, kein Subjektiv seine Stelle einnehmen und doch ist es stets gegenwärtig, wenn man etwas erlebt und von seiner Erfahrung Auskunft gibt«.246 Das Eigene und das Fremde sind – wie Roselt im Anschluss an Waldenfels festhält – nicht als autonome Pole zu denken, sondern sie bewegen sich aufeinander zu oder stoßen sich ab. 247 Das Fremde lässt sich nur in Bezug auf das Eigene als Fremdes klassifizieren. Die Zwischensphäre einer offenen Begegnung zwischen Eigenem und Fremden stellt damit für Roselt eine Schwelle dar, womit er auch begrifflich die Überlegungen Fischer-Lichtes aufgreift.248 Die Leistung der Wahrnehmenden besteht darin, die Schwellensituation als solche »zu ertragen, auszuhalten und so den fragilen Un241 Ebd., S. 132f. 242 Ebd., S. 134. 243 Vgl. ebd., S. 190. 244 Vgl. ebd. 245 WALDENFELS: Topographie des Fremden, S. 121f. 246 Vgl. ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 191. 247 Vgl. ebd., S. 193f. 248 Vgl. ebd., S. 193.
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terschied zwischen Beherrschung des Fremden und Infragestellung des Eigenen zu genießen«249. Die phänomenologische Aufführungsanalyse ist dadurch begründet, dass die Wahrnehmung markanter Momente von einer Auseinandersetzung zwischen Eigenem und Fremden zeugt, die während der Aufführung stattfindet. Das Fremde, das in Gestalt eines Ereignisses während der Aufführung gegenüber einem Wahrnehmenden einen Anspruch darstellt, fordert ihn zu einer Antwort heraus. Der Wahrnehmende aber durchlebt dabei eine Transformation: »Die diastatische Verschiebung von Ursache und Wirkung betrifft also das erfahrende Subjekt selbst. Das bedeutet, das Ich ist nicht die Voraussetzung einer Erfahrung, sondern geht in seiner aktuellen Verfasstheit erst aus dieser hervor. In Hinblick auf die Erfahrungssituation von Theateraufführungen ist deshalb zu formulieren, dass Zuschauer nicht die Voraussetzung von Aufführungen sind, sondern als solche erst durch die Aufführung gemacht werden. Man könnte sagen, jede Aufführung macht die Zuschauer, die sie verdient.«250
Das Erleben einer solchen Schwellensituation und die damit verbundene Transformation derer, die sie durchlaufen, verlangt jedoch nach einer weiteren Konkretisierung, um für die Aufführungsanalyse praktikabel zu werden. Roselt greift dazu erneut auf die Dichotomie von ästhetischer und außerästhetischer Wirklichkeit zurück und bemüht ein horizontales Schichtenmodell, das zwischen den Spielern, ihrer Rolle als Schauspieler und der Rolle der dargestellten Figur unterscheidet.251 Die Dichotomie zwischen dem, was im Theater dargestellt wird, und dem Dargestellten in der Realität wird in der Aufführung durch die Körperlichkeit der Schauspieler aufgelöst. Zu markanten Momenten können demnach besonders jene werden, in denen die Dichotomie spürbar aufgehoben wird, in denen eine »fragile Figur entsteht, die weder das eine (ein Schauspieler) noch nur das andere (eine Rolle) ist«252. Außerästhetische Wirklichkeit und ästhetische Wirklichkeit haben gleichermaßen Einfluss auf die Konstitution der wahrgenommenen Figuren. Diese »entstehen so in der Aufführung zwischen Zuschauern und Schauspielern; sie sind leibhaftig und imaginär zugleich. Sie lassen sich nicht als statische Konstruktionen beschreiben,
249 Ebd., S. 194. 250 Ebd. 251 Vgl. ebd., S. 226ff. 252 Ebd., S. 228.
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sondern als flüchtige Erlebnisse. Diese Figuren gehorchen weder der Logik der Handlung, die sie konstituieren, noch der Kausalität der Bühne, auf welcher sie auftreten.«253
Es ist immer ein konkret leiblich präsenter Schauspieler, der zusammen mit der von ihm dargestellten Rolle eine Figur konstituiert. Das leibliche So-sein dieses Schauspielers und die Rolle, die er verkörpert, lassen sich nicht trennen. Dass aber zwischen Fiktum und Faktum nicht sauber getrennt werden kann, stellt innerhalb der philosophischen Beschäftigung mit Kunst ein Alleinstellungsmerkmal des Theaters dar. Das Theater – und genauer die Schauspieler – werden daher in der Phänomenologie, etwa bei Husserl, Merleau-Ponty oder Waldenfels, nur im Rahmen übergeordneter Überlegungen erwähnt, bei Waldenfels sogar erst mehr oder weniger ausdrücklich im Anschluss an die Phänomenologie des Theaters von Roselt.254 Dennoch liegt ein phänomenologischer Zugang im Falle der Theateraufführung nahe, weil das Verhältnis von Spielern und Zuschauern von der Ereignishaftigkeit der Aufführung her zu denken ist und ein Zwischenereignis darstellt, »durch das für die Beteiligten eine Erfahrung gestiftet wird«255. Ausdrücklich bezieht sich dies nicht nur auf Zuschauer, sondern auch auf die auftretenden Schauspieler, die ihr leibliches So-sein mit der dargestellten Figur in Übereinstimmung bringen. In beiden Fällen geht es allerdings bei der gestifteten Erfahrung nicht nur um eine der Identifikation oder des Einverständnisses »im Sinne eines intellektuellen Austauschs«, sondern um eine konkrete »körperliche Erfahrung«.256 Bezogen auf das Verhältnis zwischen den Zuschauern und den Schauspielern kann die »Leistung der Schauspieler […] darin erkannt werden, dass sie dabei [bei der Stiftung der Erfahrung, die von dem Auftreten der Schauspieler ausgeht, P.K.] an die Responsivität ihrer Zuschauer appellieren«257. Wie die Antwort der Zuschauer ausfällt, bleibt offen, aber wenn sie antworten, verbinden sie sich mit den Schauspielern, »auch dann, wenn sie nicht einer Meinung sind oder unangenehm voneinander berührt werden«258. Von dieser Erfahrung, einer »Fremderfahrung« im Sinne Roselts, kann an die Wahrnehmenden der Impuls einer Überschreitung des Eigenen, also der eigenen Lebens- und Erfahrungswelt »bzw. dessen, was sie [die Wahrnehmenden, P.K.] dafür halten mögen«, erge-
253 Ebd., S. 228f. 254 Vgl. WALDENFELS: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 241ff. 255 ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 245. 256 Vgl. ebd. 257 Ebd. 258 Ebd.
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hen.259 Denn die Figuren begegnen den Zuschauern im Theater »nicht als festgestellte dramatische Personen, die immer schon einen Namen und eine Geschichte haben, sondern als werdende, die nicht lediglich zu registrieren sind«260. Durch die Erfahrungen, die alle Beteiligten im Theater machen, wird die Figur umgebaut oder in Frage gestellt, auch wenn die Inszenierung dafür klare Richtlinien bereitstellt. Die Wahrnehmung beeinflusst die Figur gleichermaßen durch »die Intentionen, mit denen Zuschauer die Figuren beleben«, indem sie etwa die biografischen Informationen der Rolle verifizieren oder revidieren, ohne dabei einer Unterscheidung von wahr oder falsch unterworfen zu sein.261 Die Identität der dargestellten Figur, die als eine Form von Sinn des Erscheinenden bezeichnet werden kann, wird dabei für die Beteiligten »erfahrbar als flüchtiges Gebilde, als eine Art Provisorium, das sich zwischen Zuschauern und Schauspielern abspielt« und das sich der Dichotomie von Schauspieler und Rolle oder einer Einteilung in echte und gespielte Gefühle vollkommen entzieht.262 Dies verlangt dem Publikum eine »Kunst des Zuschauens« ab, die Roselt am Schluss seiner Arbeit zu der These verdichtet, dass die Antworten während der Aufführung als eigene Stile des Zuschauens in Anschlag gebracht werden können. Da er diese Stile auch in die didaktische Diskussion eingebracht hat, ist darauf im Folgenden abschließend einzugehen. Stile des Zuschauens In seinem bereits erwähnten Aufsatz Stile des Zuschauens fasst Roselt im Rahmen einer didaktischen Veröffentlichung zusammen, wie der von ihm konzipierte phänomenologische Zugang auch im theaterdidaktischen Kontext nutzbar gemacht werden kann. So bewege sich die Wahrnehmung der Theateraufführung im »Spannungsverhältnis von Erleben/Erfahren und Verstehen/Interpretieren«, wodurch sie ihren Zweck nicht allein darin findet, »die Zuschauer zu befriedigen, indem ihren Erwartungen entsprochen wird, sondern auch darin, sie Krisensituationen auszusetzen, die sie und ihre Erwartungen in Frage stellen«.263 Die Beteiligung der bei der Aufführung Anwesenden, die für Roselt einen aktiven und produktiven Prozess darstellt, bietet ihnen die Möglichkeit, »einen eigenen Zuschaustil zu kreieren«264. Der Besuch einer Theateraufführung geht damit über das bloße »Scannen von Informationen« hinaus, weil die Kreativität 259 Vgl. ebd. 260 Ebd., S. 247. 261 Vgl. ebd. 262 Vgl. ebd., S. 248. 263 Vgl. ROSELT: »Stile des Zuschauens«, S. 69. 264 ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 366f.
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der Zuschauer, die etwa auch Paule fordert, bei Theaterbesuchen gerade darin besteht, »dass Zuschauer im Theater nicht lediglich tradierte Rezeptionsregister ziehen, sondern lernen, sich auf ungewohnte oder unerwartete Situationen einzustellen und notwendige Verhaltensweisen selbst zu generieren«.265 Die analytische Perspektive auf die Stile des Zuschauens ermöglicht Roselt zufolge, dass die Zuschauer ihre Rolle für die Aufführung und ihre Erfahrungen beständig reflektieren können, darüber hinaus aber auch den Gegenstand Theateraufführung immer tiefer durchdringen. Der »reflektierte Umgang mit der eigenen Erfahrung wird notwendig in einem kulturellen Umfeld, das verstärkt auf Event, Erlebnis und Attraktion setzt, neben dem flotten Konsum aber keine Modelle zur Auseinandersetzung anbietet. Die Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Theater, so schwierig es mitunter erscheinen mag, versteht sich somit auch als ein Beitrag für eine Kultur des Zuschauens, die in einem zunehmend medialisierten Alltag neben der Quantität von Bildern auch die Qualität des Blickes sucht. Das Ur-Ereignis Theater ist nicht nur eine Bühnenkunst, sondern auch eine Zuschaukunst.«266
Die traditionellen Rezeptionsregister, die von den Wahrnehmenden »Aufmerksamkeit, Konzentration, Neugier und Offenheit« fordern, erweisen sich so als nicht auf eine ästhetische Praxis zurückgehend, sondern als ein »ethisches Ideal, das kein Spezifikum des Theaters ist«.267 Damit geht es Roselt in seinem Zugang darum, durch die Reflexion der Zuschauerfahrungen zu zeigen, »dass Zuschauer keine gut programmierten Rezeptionsmaschinen sein müssen, sondern sie mit all ihren Unzulänglichkeiten, Ecken und Kanten im Theater sitzen können, wo diese Eigenschaften mitunter lustvoll und störend erfahren werden«268. Die Zuschaustile lassen sich dabei vor allem anhand der Konstitutionsbedingungen eines Publikums verdeutlichen, durch die sich einzelne Anwesende zu einem Publikum formieren: das »emphatische serialisieren« und die »Dissidenz«.269 So definiert Roselt die Wahrnehmungssituation als »chorische Prozedur«270 im körperlichen Miteinander, auf die Zuschauer in zweifacher Weise reagieren können: Sie können als einzelne Zuschauer mit anderen ein Publikum bilden, indem sie sich mit ihnen serialisieren, also sich dem Verhalten anderer 265 Vgl. ebd. 266 Ebd., S. 367. 267 Vgl. ROSELT: »Stile des Zuschauens«, S. 76. 268 Ebd. 269 Vgl. ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 366. 270 Ebd., S. 330.
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Zuschauer anschließen, von dem sie gewissermaßen angesteckt wurden.271 Ein Zuschauer kann »sein Verhalten am Dispositiv orientieren und es damit bestätigen; er kann durch sein Verhalten über die Einhaltung der Ordnung wachen […] oder […] gegen ein Dispositiv verstoßen und so an dessen Veränderung und ggf. Neuordnung teilhaben«272. Eine zweite Möglichkeit ist die der Dissidenz. Zuschauer geben, indem sie durch Serialisierung mit anderen ein Publikum bilden, zugleich Handlungs- und Bewegungsfreiheit auf. Erst durch einen expliziten »Akt der Dissidenz« wie den des Zwischenrufes können sie sich ein Stück der Freiheit zurücknehmen, die sie aufgrund der Aufführungsbedingungen für deren Dauer aufgegeben haben.273 Auch dieser Akt wirkt zugleich auf alle Anwesenden, die auf den Zwischenruf implizit oder explizit reagieren können, ihn aber wohl in jedem Fall wahrgenommen haben. Dissidenz und Serialität sind damit die entscheidenden Prozesse, durch die sich das Theaterpublikum bildet. Es sind die verschiedenen Antworten der Zuschauer auf das Aufführungsereignis, die unterschiedlichen Stile des Zuschauens, die Roselt anhand seines phänomenologischen Zugangs in den Blick zu nehmen sucht. Sie sind es auch, welche die Analyseperspektive des semiotischen Zugangs nach seinen Vorstellungen ergänzen. Allerdings stellt sich die Frage, wie der Zugang über die Stile des Zuschauens und markante Momente der Aufführungsrezeption konkret ausgestaltet sein muss, um mit dem semiotischen Zugang zusammen einen gegenstandsadäquaten Zugang zur Theateraufführung zu ermöglichen. Dass die Ausführungen bisher noch nicht ausreichen, um diese Frage befriedigend zu beantworten, zeigt die folgende Zusammenführung.
2.5 DAS THEATER VON DER WAHRNEHMUNG HER BESCHREIBEN: RESULTATE Die Überlegungen dieses Kapitels hatten zum Ziel, das Theater von der Wahrnehmung her zu beschreiben. Dabei stellte es sich als Gegenstand heraus, der wesentlich durch die Dialektiken von Spielen und Zuschauen und von Spiel und Ernst bestimmt ist und dabei eine Realität des Als-ob erschafft. Die so gekennzeichnete Theatersituation lässt sich theaterwissenschaftlich als Aufführungssituation definieren, wobei sich die leibliche Ko-Präsenz und die Transitorik als die elementarsten Eigenschaften der Aufführung im Hinblick auf ihre Medialität zeigten. Aus diesen Eigenschaften heraus wurde die Aufführung als Ereignis be271 Vgl. ebd., S. 331. 272 Ebd., S. 332. 273 Vgl. ebd., S. 333.
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schrieben, das von allen Beteiligten gleichermaßen performativ hervorgebracht wird. Weil das Aufführungsereignis, im Gegensatz zur Inszenierung, im Moment seiner performativen Hervorbringung transitorisch vergeht, ermöglicht es verschiedene Zugänge. Theaterwissenschaftlich lässt sich die Einteilung des semiotischen und phänomenologischen Zugangs vornehmen, die wiederum jeweils aus verschiedenen Konzepten bestehen, welche exemplarisch dargestellt wurden, um ihre Zielrichtung zu erfassen. Deutlich wurde allerdings, dass semiotische Verfahren, auch wenn sie die Rolle der Zuschauer bedenken, diese Rolle zumeist auf die kognitive Bedeutungsgenerierung über die Entschlüsselung von Zeichen beschränken. Dagegen fokussiert der phänomenologische Zugang vor allem auf den Wahrnehmungsaspekt während der Aufführung und nimmt diesen als Zugang zur Aufführung ernst. Er zielt »nicht auf die Zeichenfunktion des Gezeigten/Vorgeführten, sondern auf sein phänomenales So-Sein sowie auf die Art und Weise, wie es vom Zuschauer erfahren wird und auf ihn wirkt«274. Die weitere Auseinandersetzung mit der Phänomenologie ist vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Arbeit, inwieweit ein phänomenologischer Zugang auch für die Theaterdidaktik geeignet ist, aus drei Gründen motiviert: Erstens widmet sich die Phänomenologie als Philosophie seit ihren Anfängen explizit den Wahrnehmungsvorgängen und erhebt den Anspruch, eine Methode zu sein, mit der sich Wahrnehmungsvorgänge beschreiben lassen. Im Gegensatz zu einem theatersemiotischen Zugang geht die Phänomenologie dabei von der unzerteilbaren Erfahrung aus, während das Zerlegen dieser Erfahrung in Bedeutungs- und Sinneinheiten den theatersemiotischen Zugang prägt. Zweitens greift die Theaterwissenschaft selbst die Phänomenologie auf, um das beschreibbar zu machen, was sich in Aufführungen ereignet. Aus diesem Grund kann also im theaterdidaktischen Kontext auf die theaterwissenschaftliche Forschung zum phänomenologischen Zugang aufgebaut werden, in der bereits eine Verbindung zwischen der Phänomenologie und dem Gegenstand Theateraufführung hergestellt worden ist. Ein dritter Grund liegt im eingangs formulierten didaktischen Desiderat, das bereits in einer entscheidenden Weise bearbeitet wurde. So liegt am Ende der Überlegungen dieses Kapitels ein theaterwissenschaftlich fundierter Aufführungsbegriff vor, dessen Elemente auch eine Theaterdidaktik zu berücksichtigen hat, die von der Aufführung als ihrem Gegenstand ausgeht. Zugleich lässt sich sagen, dass sich die Übernahme eines phänomenologischen Zugangs durch die Theaterdidaktik insofern anbietet, als er sich mit der theaterwissenschaftlichen Perspektive deckt, die Aufführung auch aus ebendieser phänomenologischen Perspektive zu betrachten. Das Ereignis, das Bönnig274 FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung, S. 257.
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hausen in ihrem Vorschlag als ein Dispositiv aufgreift, lässt sich ebenfalls aus theatertheoretischer Perspektive mit der Aufführung als Gegenstand in Einklang bringen, bildet doch die Definition der Aufführung als Ereignis auch den Ausgangspunkt des phänomenologischen Zugangs von Roselt und dessen Grundlegung bei Fischer-Lichte. Wenn Bönnighausen also Materialität und Ereignis als Dispositive ästhetischer Erfahrung auf dem Fundament einer phänomenologischen Wahrnehmungstheorie für die künstlerischen Gegenstände des Deutschunterrichts insgesamt andenkt, zeigt sich insbesondere die Theateraufführung als Gegenstand für diesen Zugang geeignet. Allerdings: Diese Feststellung gilt bislang zunächst nur für das Dispositiv Ereignis. Die Materialität der Aufführung wird im Fall der Theateraufführung ebenfalls performativ hervorgebracht und ist daher eine spezifische, flüchtige, die mit der Wahrnehmung und dem Ereignischarakter der Aufführung ein Bedingungsgefüge eingeht. Auf die Bedeutung der Materialität in diesem Bedingungsgefüge und ihre Spezifität wurde bislang jedoch noch nicht näher eingegangen. Sie ist aber, was in der leiblichen Ko-Präsenz performativ hervorgebracht und wahrgenommen wird und worauf ein Stil der Zuschauer überhaupt antwortet. Wenn dem so ist und die Wahrnehmung während der Aufführung zwischen der Bedeutung und der hervorgebrachten Materialität in ihrem So-sein oszilliert, dann ist die Reflexion des Zuschaustils nicht nur ein Weg, die Zuschaukunst im Sinne eines Bewusstwerdens der eigenen Wahrnehmung auszubilden, sondern sie ist zugleich ein Zugang zum Gegenstand ohne die Eingrenzung auf die kognitiv ermittelte Bedeutung des theatralen Zeichenzusammenhangs allein. Diese Möglichkeit aber scheint bei Roselt zuweilen verkürzt dargestellt zu sein, der die phänomenologische Methode mit dem Ziel konzipiert, Wahrnehmungsprozesse in der Aufführung dialogisch und dynamisch beschreiben zu können. Die Bindung an die Materialität des Aufführungsereignisses umfasst jedoch sowohl die affektiv-emotionale und körperliche Dimension der Wahrnehmung als auch die kognitiv-intellektuelle, denn alle diese Möglichkeiten stellen, so wird die Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung aus phänomenologischer Perspektive erweisen, gleichberechtigte Möglichkeiten des Zugangs zur Theateraufführung dar. Es bleibt fraglich, inwieweit Roselt die von ihm benannten Dimensionen der Wahrnehmung tatsächlich konsequent als gleichberechtigte Konstituenten des Erkenntnisprozesses ansieht. Denn so wichtig die Herausstellung der affektiv-emotionalen und körperlichen Dimension auch ist: Wenn mit ihnen ebenfalls Bedeutung konstituiert wird, dann lassen sie sich der intellektuellen Dimension der Wahrnehmung nicht einfach gegenüberstellen. Die offene Frage, die daraus resultiert, ist, ob nicht alle Dimensionen der Wahrnehmung gleicher-
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maßen in einen phänomenologischen Zugang zu integrieren wären, der die intellektuelle Dimension nicht unabhängig von den Haltungen und Stilen der Zuschauer denkt und auch umgekehrt in den Assoziationen und Wahrnehmungen der Zuschauer Momente des Verstehens der Aufführung ausmacht. Wenn diese Frage beantwortet werden kann und sich ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung operationalisieren ließe, wäre das Desiderat, das im ersten Kapitel festgestellt wurde, beseitigt. Der Theaterdidaktik stünde damit ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung zur Verfügung, der unterschiedliche Perspektivierungen ermöglicht und die für die Wahrnehmung des Aufführungsereignisses relevanten Dimensionen berücksichtigt. Es zeigt sich also, dass die bisherige Skizze des phänomenologischen Zugangs in Auseinandersetzung mit dem Gegenstand Theateraufführung noch vertieft werden muss, um die offenen Fragen zu beantworten. Dies geschieht im folgenden Kapitel.
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Wahrnehmung, Ereignis, Materialität: Die Aufführung im Licht der Phänomenologie
Während das erste Kapitel das Ziel verfolgte, die Dramen- von der Theaterdidaktik abzugrenzen und den dieser Arbeit zugrunde liegenden Begriff von Theaterdidaktik zu bestimmen, wurde im zweiten Kapitel das Theater von der Wahrnehmung her beschrieben und dabei zwischen dem Aufführungs- und dem Inszenierungsbegriff unterschieden. Wie die anschließende Auseinandersetzung mit theaterwissenschaftlichen Zugängen zur Theateraufführung ergab, sind vor allem zwei sich gegenseitig ergänzende Zugänge, der theatersemiotische und der phänomenologische, vorhanden, mit denen sich sowohl die Zeichenfunktion des Theaters als auch Aspekte der performativen Hervorbringung beschreiben und analysieren lassen. Während allerdings der semiotische Zugang sowohl in der Theaterwissenschaft als auch im theaterdidaktischen Kontext als etabliert gelten kann, verhält sich dies mit dem phänomenologischen Zugang anders. Aus diesem Grund wird die Phänomenologie in diesem Kapitel eingehend thematisiert und noch einmal mit dem Gegenstand Theateraufführung verbunden. Durch die Auseinandersetzung mit der Theatertheorie konnte ein Bedingungsgefüge der Theateraufführung ausgemacht werden, das die Pole Wahrnehmung, Ereignis und Materialität umfasst. Dieses Bedingungsgefüge gibt den Aufbau der folgenden Überlegungen vor, in denen die Fragen beantwortet werden, die nach der Erörterung des phänomenologischen Zugangs im Kontext der Theaterwissenschaft am Ende des letzten Kapitels offengeblieben sind. Dabei besitzt ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung eine Relevanz, die über die Theaterdidaktik und den Umgang mit Gegenständen der Kunst hinausreicht und die Wahrnehmung insgesamt betrifft. Denn die Phänomenologie ist von ihrem philosophischen Ursprung her der Versuch, Wahrnehmungsprozesse ganz grundsätzlich aufzuschlüsseln. Damit aber bildet die Frage nach Wahrnehmung und Erkenntnis den Horizont, vor dem die Wahrnehmung der Theateraufführung im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs thematisiert werden
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kann. Der Stil der Phänomenologie, der sich daraus ergibt. wird zu Beginn der Überlegungen dieses Kapitels skizziert. Die Phänomenologie wird also im Folgenden als Wahrnehmungstheorie aufgegriffen, wobei die dabei identifizierten Elemente bereits auch schon auf theaterdidaktische Perspektiven hin zu untersuchen sind, um so die Theorie der Phänomenologie für die Modellierung eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung aufzubereiten, die im vierten Kapitel vorgenommen wird. Dies geschieht insbesondere vor dem Hintergrund der Auffassung, dass die Aufführung ein Widerfahrnis darstellt und es sich mithin bei ihr um ein Ereignis handelt. Wahrnehmung und Ereignis werden im phänomenologischen Sinne als untrennbar miteinander verwoben betrachtet. Leitend ist somit die These, dass ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung durch die Fokussierung des Ereignishaften, der Wahrnehmung und der Materialität, also dessen, was sich dem Blick der Theatersemiotik entzieht, einen Zugang nicht nur zur Reflexion eigener Wahrnehmungsprozesse, sondern auch zum Wesen der Theateraufführung darstellt. Die sinnliche Wahrnehmung wird deshalb als Fundament von Erkenntnis stark gemacht, denn die Phänomenologie betont die Bedeutung der Wahrnehmung in zweierlei Hinsicht: hinsichtlich möglicher Aussagen über das eigene Bewusstsein und hinsichtlich möglicher Aussagen über das Wesen des wahrgenommenen Phänomens. Insofern sie sich aber auf sinnliche und subjektive Wahrnehmung bezieht, steht die Phänomenologie unter einem Subjektivitätsverdacht, weshalb dieses Kapitel auch zum Ziel hat, die möglichen Ergebnisse der Wahrnehmung von Theateraufführungen zu beschreiben und dem Subjektivitätsverdacht entgegenzutreten. Es gilt also in diesem Kapitel zu zeigen, dass »sich Phänomenologie als philosophische Disziplin ins Recht setzen [kann], wo hermeneutische Theorien und Analyseverfahren angesichts subjektiver und individueller Erfahrungen an das Ende ihrer Möglichkeiten stoßen«1. Dabei kann es ihm Rahmen der Zielsetzung dieser Arbeit jedoch nicht darum gehen, die Phänomenologie in all ihren Facetten und historischen Spielarten zu diskutieren, sondern darum, ihre für die theaterdidaktische Modellierung relevanten Elemente zu identifizieren und auf den Gegenstand Theateraufführung zu übertragen. Um aus der Beschreibung der Wahrnehmung im Sinne der Phänomenologie auch methodische Aspekte ableiten zu können, ist in diesem Kapitel auch auf die Phänomenologische Epoché einzugehen, die bereits Edmund Husserl der Phänomenologie als ihre Methode einschrieb. Die Materialität der Theateraufführung, die sie auch mit anderen kulturellen Aufführungen gemein hat, kommt im vierten Abschnitt dieses Kapitels zur Sprache. Auf diese Weise wird mit den materiellen Bestandteilen des Aufführungsereignisses auch dieser 1
ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 146.
Die Aufführung im Licht der Phänomenologie | 125
Pol des Bedingungsgefüges der Theateraufführung erläutert und damit der Übergang zum vierten Kapitel geschaffen, in dem aus der Bündelung des Gesagten schließlich ein theaterdidaktisches Modell entsteht.
3.1 DER STIL DER PHÄNOMENOLOGIE Die Phänomenologie als einheitliche Disziplin zu bestimmen, ist angesichts ihrer Aufspaltung in verschiedene theoretische Strömungen ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, weshalb auch das, was von einem phänomenologischen Zugang überhaupt erwartet werden kann, abhängig ist von den Phänomenologen, auf die jeweils Bezug genommen wird. So gibt es jene Vertreter, welche die Wesensbestimmung der von ihnen in den Blick genommenen Phänomene als Ziel verfolgen, während andere Phänomenologie als Philosophie im strengen Sinn betreiben, als Transzendentalphilosophie oder deskriptive Wissenschaft. In dieser Arbeit wird die Auffassung geteilt, dass es sich bei einem phänomenologischen Zugang um einen wahrnehmungs- und erkenntnistheoretischen Zugang handelt, der eine von der Wahrnehmung ausgehende Wesensschau ermöglicht. Da dieses Ziel nicht von allen phänomenologischen Konzepten gedeckt wird, ist zunächst zu erweisen, dass es der Phänomenologie von ihrem Ursprung her eingeschrieben ist. Dazu bietet es sich an, nach der Motivation zu fragen, aus der heraus die Phänomenologie entstand, weil dort bereits zu finden ist, was sie als Philosophie und Stil zusammenhält. Auch wenn bis hin zur Bezeichnung der Phänomenologie einiges von dem, was Husserl um 1900 in seinen Logischen Untersuchungen2 über diese Philosophie sagt, schon etwa einhundert Jahre zuvor in Hegels Phänomenologie des Geistes3 zu finden ist, war doch erst Husserl es, mit dem die Etablierung der Phänomenologie als Denkrichtung verbunden ist. Er konzipiert die Phänomenologie von ihrem Ursprung her als subjektiv gewendete Philosophie, die darin allein allerdings nicht aufgeht. Denn in Form des Psychologismus lag zur Zeit Husserls bereits eine Philosophie vor, deren Vertreter davon ausgingen, dass Logik immer psychologisch fundiert und mithin die Psychologie die Grundlagenwissenschaft aller geisteswissenschaftlichen Disziplinen sei.4 Erscheinung und Wirklichkeit seien demnach gleichzusetzen, weil Erkenntnis allein in den Erfahrungen des Subjekts gründet. Was zunächst mit einfachen Erfahrungen in der
2
HUSSERL: Prolegomena.
3
HEGEL: Phänomenologie des Geistes.
4
Zum Folgenden vgl. HUSSERL: Prolegomena, S. 63ff.
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Kindheit beginnt, wird dann – mit weiter zunehmender Erfahrung – zu einem immer komplexeren Erfahrungsgebäude der Ideen von Wirklichkeit. Wie etwas erscheint, ist also abhängig von der Summe der Daten, die in psychischen Vorgängen erfahren und miteinander verknüpft werden. Diese Verknüpfungen wiederum erklären psychologistische Positionen mit einer Analogie zu empirischen Naturgesetzen: So wie sich die Naturgesetze assoziativ miteinander in Verbindung bringen lassen, werden auch Verknüpfungen zwischen den Ideen assoziativ hergestellt. Da der Psychologismus zur Zeit Husserls den Anspruch erhob, für alle Geisteswissenschaften zu gelten, wurde das Konzept der verknüpften Ideen, die der Psyche eigen sind, auch auf philosophische Disziplinen wie die Logik übertragen. Hier aber setzt Husserl in den Logischen Untersuchungen mit seiner Kritik an, dass der Psychologismus den wesentlichen Unterschied zwischen Psychologie und Logik übersehe: Während die Psychologie auf der Grundlage vager Verallgemeinerungen der Erfahrung auch nur vage Regeln hervorbringe, könne sie »auch nicht jene apodiktisch evidenten und somit überempirischen und absolut exakten Gesetze geben, welche den Kern aller Logik ausmachen«.5 Die Vagheit von »Realgesetzen«, die im Sinne des Psychologismus nur auf Grundlage individueller und realer Erfahrungen zustande kommen, steht für Husserl in einem deutlichen Gegensatz zu der Exaktheit der überempirischen Idealgesetze, welche die Logik hervorbringt. Aussagen über ein Erscheinendes sind dann nicht verallgemeinerbar, wenn sie lediglich auf die Erfahrungen des Wahrnehmenden zurückgehen, denn in diesem Fall würden sie nur für denjenigen gelten, der sie macht. Husserl und seiner Kritik geht es damit um nicht weniger als die Fragen danach, was Wahrheit ist und wie diese Wahrheit zustande kommen kann. Die Suche nach Wahrheit steht am Beginn der Phänomenologie und die für Husserl zentrale Unterscheidung zwischen Idealem und Realem resultiert aus seiner Grundüberzeugung, dass Wahrheit niemals bei einer Tatsachenwissenschaft wie der Psychologie zu finden ist: »Keine Wahrheit ist eine Tatsache, d.i. ein zeitlich Bestimmtes. Eine Wahrheit kann freilich die Bedeutung haben, daß ein Ding ist, ein Zustand besteht, eine Veränderung von statten geht und dgl. Aber die Wahrheit selbst ist über alle Zeitlichkeit erhaben, d.h. es hat keinen Sinn, ihr zeitliches Sein, Entstehen oder Vergehen zuzuschreiben.«6
Wenn Erkenntnis ein rein psychologischer Vorgang wäre, dann ließe sie sich als Prozess mit Anfang und Ende denken, der in der Erfahrung von etwas seinen Anfang nimmt und mittels Verknüpfung in der Erkenntnis endet. Husserls Kritik 5
Vgl. ebd., S. 75f.
6
Ebd., S. 87.
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betont hingegen, dass zwar ein psychologischer Vorgang durchaus die Voraussetzung oder Grundlage jeder Erkenntnis sei, die Voraussetzungen der Erkenntnis, die auf Seiten des Gegenstandes mittels der Logik benannt werden können, von diesem psychischen Vorgang jedoch unberührt bleiben. Erkenntnis steht also für Husserl in einem Zusammenhang mit der Erfahrung, entspringt aber nicht deswegen schon allein aus der Erfahrung als einem psychischen Phänomen. Immer ist es auch der Gegenstand, der die Erfahrung und die daraus resultierende Erkenntnis mitbestimmt. Das Ergebnis des erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch ausgerichteten Interesses, das von Husserls Kritik am Psychologismus ausging, ist die Phänomenologie. In ihr wird zur Beantwortung der Frage, wie Erkenntnis gewonnen wird, sowohl die Erfahrung dessen berücksichtigt, der wahrnimmt, als auch der Gegenstand, von dem diese Erfahrung ausgeht. Phänomenologisch auf Gegenstände wie die Theateraufführung zu schauen heißt also, auf die Art und Weise zu schauen, wie sie jemandem erschienen sind, zugleich aber auch zu fragen, auf welche Eigenschaften des Gegenstandes die Art und Weise der Erscheinung zurückgeht. Husserl unterscheidet zu diesem Zweck Bedingungen der Erkenntnis, die im Subjekt begründet sind, von solchen, deren Begründung außerhalb des Subjekts liegt.7 Dies sind zum Beispiel objektiv-logische Bedingungen, die im Inhalt der Erkenntnis gründen und apriorische Gesetze darstellen, oder Gründe und Prinzipien, die, weil sie zur Wahrheit selbst gehören, mit der Subjektivität und dem denkenden Subjekt selbst nichts zu tun haben. Noetische Bedingungen hingegen liegen im Subjekt begründet und beziehen sich auf dessen Fähigkeit, Erkanntes zu beurteilen und zu kategorisieren. Damit aber entsteht das Paradox, dass Erkenntnis Subjektivität und Objektivität zugleich umfasst: Die Gegenstände, die objektiv erfasst und erkannt werden sollen, werden in einem subjektiven Wahrnehmungsakt beurteilt und kategorisiert. In diesem Paradox liegt eine Provokation dessen begründet, was die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft sichern soll. Denn die subjektiv einsichtige Erkenntnis einer Theorie sichert für Husserl die Möglichkeit von Theorie überhaupt. Um dieses Paradox zu lösen, ist es sein Ziel, mittels der Phänomenologie Klarheit über die Wesenhaftigkeit des Erkenntnisaktes zu erlangen.8 Dies geschieht mithilfe der Untersuchung des Ursprungs jener Wahrnehmungsakte, die das Fundament der Erkenntnis und der ihnen a priori eingeschriebenen idealen Wahrheiten bilden. Ein phänomenologischer Zugang im Sinne Husserls vertraut also nicht naiv der Wahrnehmung einer Erscheinung und verbleibt daher auch nicht bei ihr, sondern untersucht ihren Ursprung, um so 7
Vgl. ebd., S. 240.
8
Vgl. ebd., S. 242f.
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die Grenzen der Subjektivität zu überschreiten. Damit gründet jede Aussage über einen wahrgenommenen Gegenstand dem phänomenologischen Verständnis nach auf einem subjektiven Wahrnehmungsakt, wobei im Folgenden schrittweise zu erörtern ist, wie sich vor dem Hintergrund der Phänomenologie die darin vorgenommene Analyse des Wahrnehmungsaktes und eine Wesensschau operationalisieren und nutzbar machen lassen. Von Husserl her, und dies ist das Ergebnis einer ersten Annäherung an den Stil der Phänomenologie, ist diese im Kern wissenschafts- und erkenntnistheoretisch ausgerichtet und an der Aufklärung der Bedingungen von Erkenntnis interessiert. Ihr Ausgangspunkt sind die Phänomene, die wahrgenommenen Erscheinungen der Gegenstände. Nachdem sich bereits bald nach Husserl die Phänomenologie ausdifferenzierte, war es Merleau-Ponty, der 1945 in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung9 die Frage nach der Einheit der Phänomenologie aufwarf. Er verwies darauf, dass Husserl für alles, was nach ihm an phänomenologischen Konzepten entwickelt wurde, der Gewährsmann bleibt. Anders als seine Zeitgenossen Sartre und Heidegger, die sich von Husserl entfernten, richtet Merleau-Ponty sein Denken daher noch einmal an Husserl aus und stellt fest: »Phänomenologie ist vollziehbar und ist erkennbar als Manier oder Stil, sie existiert als Bewegung, aber noch ist sie nicht zu abgeschlossenem philosophischem Bewußtsein gelangt.«10 Gegen die Ausdifferenzierung in theoretische Systeme und Schulen beschreibt MerleauPonty das Weltverhältnis, von dem die Phänomenologie als einheitliches philosophisches Denksystem beherrscht sein sollte: »Es gilt zu beschreiben, nicht zu analysieren und zu erklären: diese von Husserl der anfangenden Phänomenologie gegebene erste Losung, ›deskriptive Psychologie‹ zu sein, zurückzugehen auf ›die Sachen selbst‹, ist zunächst eine Absage an ›die‹ Wissenschaft. Was ich bin, ist nicht Resultat oder Schnittpunkt mannigfaltiger meinen Körper oder meinen ›Psychismus‹ bestimmender Kausalitäten, ich vermag mich weder als Teil der Welt, noch als Objekt der Biologie, Psychologie oder Soziologie zu fassen, noch überhaupt in die Welt der Wissenschaft mich einschließen zu lassen. Was immer ich – sei es auch durch Wissenschaft – weiß von der Welt, weiß ich aus einer Sicht, die die meine ist, bzw. aus einer Welterfahrung, ohne die auch alle Symbole der Wissenschaft nichtssagend blieben oder vielmehr wären. Das Universum der Wissenschaft gründet als Ganzes auf dem Boden der Lebenswelt […]. Zurückgehen auf die ›Sachen selbst‹ heißt zurückgehen auf diese aller Erkenntnis vorausliegende Welt, von der alle Erkenntnis spricht und bezüglich deren alle Bestimmung der Wissenschaft notwendig abstrakt, signitiv, sekundär bleibt […]. Die 9
MERLEAU-PONTY: Phänomenologie der Wahrnehmung.
10 Ebd., S. 4ff. Hervorhebung im Original.
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Welt ist kein Gegenstand, dessen Konstitutionsgesetz sich zum voraus in meinem Besitz befände, jedoch das natürliche Feld und Milieu all meines Denkens und aller ausdrücklichen Wahrnehmung. Die Wahrheit ›bewohnt‹ nicht bloß den ›inneren Menschen‹, vielmehr: es gibt keinen inneren Menschen: der Mensch ist zur Welt, er kennt sich allein in der Welt.«11
Damit geht Merleau-Ponty auf einen Vorwurf ein, der sich zwischenzeitlich gegen die Phänomenologie aufgetan hatte und der die Frage aufwarf, ob nicht die Phänomenologie letztendlich nur das offenlege, was im Sinne einer innerlichen Subjektivität bereits vorhanden ist. Indem der Wahrnehmende äußert, wie ihm ein Gegenstand erscheint, rekonstruiert er, so der Vorwurf, das, was er wahrnimmt, vor dem Hintergrund einer inneren, geistigen Instanz. Die Zuordnung des Wahrgenommenen wäre damit durch Konstitutionsgesetze gesteuert, die bereits im Wahrnehmenden angelegt sind. Die Welt – also die Erscheinung des Gegenstandes für einen Wahrnehmenden – stellt demnach lediglich die Rekonstruktion dessen dar, was im Subjekt bereits als Welt angelegt ist, und bildet das Produkt einer reflexiven Analyse, die »glaubt, in umgekehrter Richtung dem vorangegangenen Konstitutionsprozeß nachzugehen und im ›inneren Menschen‹ […] ein konstitutives Vermögen zu fassen, das immer schon da war.«12 Dieser Vorwurf wiegt schwer, denn er unterstellt, dass sich die Reflexion über das Bewusstsein und die Welt, wie sie die Phänomenologie betreibt, nicht auf wahre Erkenntnis bezieht, sondern letztlich doch nur auf das subjektive Vermeinen, den Raum der bloßen Subjektivität. Merleau-Ponty tritt diesem Vorwurf entschieden entgegen, indem er den »inneren Menschen« als Ort der subjektiven Konstitution der Erkenntnis dadurch ausschaltet, dass der Mensch die Welt als den Horizont begreifen müsse, zu dem er in Beziehung steht.13 Der Mensch kann nur vor diesem Horizont wahrnehmen und reflektieren. Nach Merleau-Pontys Auffassung ist die Welt nicht, wie etwa im von ihm scharf kritisierten Idealismus, ein bloßes Konstrukt des Bewusstseins, »vor welchem die Welt sich in einer absoluten Transparenz entfaltet« und in dem es »kein Problem [der Erkenntnis, P.K.] des Anderen und kein Problem [der Erkenntnis, P.K.] der Welt« gibt, weil die Welt selbst eine »Geltungseinheit« ist und die Wahrnehmenden »teilhaben an diesem Einen, ohne es zu zerteilen«.14 Wird hingegen die Phänomenologie konsequent angewandt, »muß der eine dem anderen zu erschei11 Ebd. Hervorhebung im Original. 12 Ebd., S. 6. 13 Zum Verhältnis von Subjektivität, Objektivität und Intersubjektivität in der Phänomenologie vgl. 3.2.4. 14 Vgl. MERLEAU-PONTY: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 8ff.
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nen vermögen, muß er und muß ich ein Äußeres haben, muß es außer der Perspektive des Für-sich – meines Blickes auf mich und des Anderen Blickes auf sich – eine Perspektive des Für-Andere geben – die meines Blickes auf den Anderen und des Blickes des Anderen auf mich«.15 Diese Auffassung, die von der Leiblichkeit der Wahrnehmung auf deren Perspektivität schließt, sieht mindestens zwei Perspektiven auf ein Ich vor, denn ein Ich existiert nicht nur in seiner Eigensicht für sich, sondern auch in der Sicht eines Anderen für andere. Was der Idealismus verspricht, nämlich eine transparente Weltsicht, ist damit unmöglich einzuhalten. Erkenntnis, so das Resultat der phänomenologischen Akzentuierung von Merleau-Ponty, ist an die sinnliche Wahrnehmung eines Leibes zwangsläufig gebunden. Diese Wahrnehmung ist weder subjektiv noch objektiv. Das eigene Bewusstsein muss immer schon »das Bewußtsein umfassen, das man von ihm haben kann, und damit seine Inkarnation in eine Natur und die Möglichkeit mindestens einer geschichtlichen Situation«16. Das Bewusstsein ist aus phänomenologischer Sicht daher intersubjektiv ausgerichtet. Wenn aber das Bewusstsein intersubjektiv ausgerichtet und das Sein stets ein »Zur-Welt-sein« ist, wir als Wahrnehmende also »durch und durch Verhältnis zur Welt sind, ist die einzig uns mögliche Weise, dessen gewahr zu werden, die, diese Bewegung aufzuheben, ihr unsere Teilnahme zu entziehen«17. Dies geschieht durch die Ausrichtung der Phänomenologie auf eine deskriptive Philosophie hin, die beschreibt, bevor sie analysiert und erklärt. Den Kern auch eines theaterdidaktischen Umgangs mit den Erscheinungen der Theateraufführung bildet daher vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs deren genaue Beschreibung. Von dieser Beschreibung ausgehend wird es dem Wahrnehmenden möglich, jenen Abstand zur Welt zu gewinnen, aus dem heraus sich sein In-der-Welt-sein analysieren lässt. Dabei intersubjektiv vermittelbare Ergebnisse zu generieren, ist das Ziel und die Leistung der Phänomenologie: »Dem Wesen der Wahrnehmung nachgehen heißt davon ausgehen, daß Wahrnehmung nicht nur angeblich oder vermeintlich wahr, sondern für uns definiert ist als Zugang zur Wahrheit«18. Im Gegensatz zu anderen Zugängen besteht die Leistung des phänomenologischen Zugangs also gerade darin, die Fundierung von Erfahrungen in der Wahrnehmung ernst zu nehmen und diese als Zugang zum Wesen des erscheinenden Gegenstandes aufzuwerten:
15 Vgl. ebd., S. 9. 16 Ebd. Hervorhebung im Original. 17 Ebd., S. 10. 18 Ebd., S. 13.
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»Ein Gegenstand ist ein Organismus von Farben, Düften, Tönen, Tasterscheinungen, die einander wechselseitig symbolisieren und modifizieren und miteinander zusammenstimmen in einer realen Logik, deren Analyse und Auslegung die längst nicht vollendete Aufgabe der Wissenschaft ist. Diesem lebendigen Wahrnehmungsphänomen gegenüber bleibt der Intellektualismus unzugänglich, hinter ihm zurückbleibend oder darüber hinausschießend: er findet seine Grenze an den mannigfaltigen Qualitäten, die bloß die Hülle des Gegenstandes sind, und von da aus führt er ohne Vermittlung zu einem Bewußtsein des Gegenstandes, das im Besitz von dessen Gesetz und Geheimnis ist, dadurch aber den Erfahrungsgang seiner Kontingenz und den Gegenstand seines perzeptiven Stils beraubt.«19
Wenn im Folgenden ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung aus theaterdidaktischer Perspektive konzipiert wird, dann beruht diese Konzeption auf der Prämisse, dass der phänomenologische Zugang nicht lediglich die Dimension des Performativen fassbar werden lässt, die im semiotischen Zugang nicht berücksichtigt wird. Vielmehr wird der phänomenologische Zugang als Zugang zum Wesen der Aufführung stark gemacht, der ein Fundament jeglicher Analyse und der weiteren unterrichtlichen Auseinandersetzung bilden kann.
3.2 WAHRNEHMUNG: INTENTIONAL, LEIBLICH, RESPONSIV Das Fundament des phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung, den Roselt im Kontext der Theaterwissenschaft entwickelt hat, bilden die Positionen von Husserl, Merleau-Ponty und Waldenfels, auf denen er die Überlegungen Fischer-Lichtes innerhalb der Phänomenologie verortete und zugleich vertiefte. Da allerdings diese Verortung noch Fragen offen ließ, wird diesen im Folgenden dadurch nachgegangen, dass Wahrnehmung aus phänomenologischer Sicht über deren Kernthemen der Intentionalität, der Leiblichkeit und der Responsivität definiert und über die Formulierung theaterdidaktischer Perspektiven mit dem Phänomen Theateraufführung in Verbindung gebracht wird. 3.2.1 Intentionalität der Wahrnehmung Mit der Einführung des phänomenologischen Konzeptes der Intentionalität der Wahrnehmung ist ein grundlegender Perspektivwechsel verbunden. Denn Intentionalität wird – zumal im didaktischen Kontext – häufig als etwas angesehen,
19 Ebd., S. 61.
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das vom Gegenstand ausgeht und das als eine Eigenschaft der Gegenstände unabhängig von der Wahrnehmung des Subjektes untersucht werden kann. Dies ist etwa der Fall, wenn die Inszenierung als der intendierte Prozess der Entwicklung und Erprobung von Strategien analysiert wird, mit dem in der Aufführung eine ebenfalls intendierte Bedeutung hervorgebracht wird. Es wurde allerdings bereits gesagt, dass die Inszenierung die intendierte Wirkung nicht garantieren kann, weil das in der Inszenierung Geplante nur einen möglichen Anfangspunkt für das darstellt, was in der Aufführung wahrgenommen werden kann. Die daraus resultierende Frage lautet, wie es dann überhaupt möglich sein soll, anhand der Wahrnehmung Verlässliches über die Intentionen einer Inszenierung auszusagen. An dieser Stelle aber bedeutet der Rückgriff auf das Intentionalitätskonzept einen Perspektivwechsel, da es nicht den Gegenständen eine Intention zubilligt, sondern die Wahrnehmung der Gegenstände seitens der Subjekte als intentional auffasst. Um die Erkenntnis, die aus der Wahrnehmung der Phänomene gewonnen werden kann, einzuordnen, nimmt Husserl im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Psychologismus zunächst die Bewusstseinsbildung und Bewusstseinsakte als »Erlebnisse des Bedeutens« in den Blick.20 Wem ein Gegenstand bewusst wird, dem wird einerseits der Gegenstand als ein Objekt bewusst, andererseits aber wird dieses Objekt immer einem Subjekt bewusst, das erlebt und das ein Bewusstsein des Erlebnisses hat. Beide, der Gegenstand als Objekt und das an das Subjekt gebundene Bewusstsein, stehen miteinander in einer Beziehung, die Husserl als intentional bezeichnet. Dies bedeutet, dass das Subjekt seine Wahrnehmung auf ein Objekt richtet, und Husserl nimmt an, dass diese Gerichtetheit für jeden Bewusstseinsakt zutrifft. Jeder Bewusstseinsakt ist damit ein intentionaler und auf einen Gegenstand gerichteter, weshalb die Intentionalität der Wahrnehmung für Husserl das »Generalthema« der Phänomenologie darstellt, weil erst durch die Intention das Bewusstsein des Subjektes zu einem Bewusstsein von einem Gegenstand wird.21 Weder der Gegenstand noch das Subjekt allein bestimmen, wie ein Gegenstand erscheint, welche Bedeutung dem Erscheinenden also zugeschrieben wird. Die mit dieser phänomenologischen Auffassung einhergehenden erkenntnistheoretischen Prämissen werden nun zunächst vom Subjekt aus dargestellt, um danach die Rolle des Gegenstandes für die Wahrnehmung zu bestimmen und theaterdidaktische Perspektiven ableiten zu können.
20 Vgl. HUSSERL: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, S. 353. 21 Vgl. HUSSERL: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, S. 187f.
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Intentionalität: vom Subjekt aus gesehen Wurde bisher mit Fischer-Lichte die Auffassung vertreten, dass die Wahrnehmung nach der Ordnung der Präsenz chaotisch zu Assoziationen führt, stellt sich vor dem Hintergrund des Intentionalitätskonzeptes die Wahrnehmung jedes Gegenstandes als die Herstellung einer Beziehung zwischen dem Subjekt und dem wahrgenommenen Gegenstand dar. Dabei ist mit dem Begriff Beziehung das Verhältnis zwischen wahrnehmendem Subjekt und Gegenstand allerdings noch nicht ausreichend beschreibbar, beeinflusst doch die Art und Weise, in der eine Beziehung hergestellt wird, in entscheidender Weise die Qualität und Bedeutung, die ihr beigemessen wird. So unterscheidet auch Husserl verschiedene sogenannte intentionale Akte voneinander, in denen sich die Beziehung zu den zugrunde liegenden Gegenständen konstituiert.22 Durch diese bedeutungsgebenden Akte werden die Gegenstände zu dem, als das sie dem Wahrnehmenden erscheinen, unabhängig davon, ob es Gegenstände physischer oder psychischer Natur sind oder ob die Bedeutung mit der Existenz der Gegenstände im ontologischen Sinne übereinstimmt.23 Sie erscheinen dem Wahrnehmenden also immer so, wie sie ihm als intentionale Gegenstände erscheinen: »Stelle ich Gott oder einen Engel, ein intelligibles Sein an sich oder ein psychisches Ding oder ein rundes Viereck usw. vor, so ist dieses hier Gemeinte und Transzendente eben gemeint, also (nur mit anderen Worten) intentionales Objekt: dabei ist gleichgültig, ob dieses Objekt existiert, ob es fingiert oder absurd ist. Der Gegenstand ist ein ›bloß intentionaler‹, heißt natürlich nicht: er existiert, jedoch nur in der intentio (somit als ihr reeles Bestandsstück), oder es existiert darin irgendein Schatten von ihm, sondern es heißt: die Intention, das einen so beschaffenen Gegenstand ›Meinen‹ existiert, aber nicht der Gegenstand. Existiert andererseits der intentionale Gegenstand, so existiert nicht bloß die Intention, das Meinen, sondern auch das Gemeinte.«24
Aus diesem Grund ist Intentionalität für Husserl eine Eigenschaft des Bewusstseins, deren Thematisierung fundierte Äußerungen darüber zulässt, wie die Wirklichkeit dem Wahrnehmenden erscheint. Diese Äußerungen beziehen sich auf etwas, das es außerhalb des Subjektes und seines Bewusstseins gibt, weil der 22 Vgl. HUSSERL: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, S. 43f. 23 Husserl unterscheidet nicht zwischen der Möglichkeit, einem physisch gegebenen Gegenstand auf diese Weise Bedeutung zu verleihen oder zum Beispiel einer Idee oder einem Gedankenspiel. Vgl. HUSSERL: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, S. 48. 24 Ebd., S. 439.
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»Gegenstand der Vorstellung, der ›Intention‹, das ist und besagt der vorgestellte, der intentionale Gegenstand« außerhalb der Vorstellung liegen muss, um überhaupt intendiert und damit bewusst werden zu können.25 Husserls Theorie zufolge besitzen die intentionalen Akte einen reellen und einen intentionalen Inhalt, wobei sich der intentionale Inhalt wiederum hinsichtlich seines Aktcharakters und des Inhaltes unterscheiden lässt. Wer etwas wahrnimmt, kann es zum Beispiel sehen, beurteilen, fühlen oder sich vorstellen und dies bestimmt den spezifischen Aktcharakter des intentionalen Aktes. Das Woraufhin des intentionalen Aktes bildet hingegen seinen Inhalt. Es markiert die Zieldimension der Intention. Die Wechselwirkung zwischen den Ausprägungen des intentionalen Inhaltes – also des Aktcharakters und des Inhaltes – und dem intentionalen Akt selbst fasst Husserl in den Begriffen Aktqualität, wenn er den Aktcharakter meint, und der Aktmaterie, wenn er sich auf den Inhalt des Aktes bezieht.26 Während die Aktqualität bestimmt, in welcher Weise die Aktmaterie bewusst wird, ist die Aktmaterie »dasjenige im Akte […], was ihm allererst die Beziehung auf ein Gegenständliches verleiht« und dies in einer derartigen Bestimmtheit, dass die Materie »nicht nur das Gegenständliche überhaupt, welches der Akt meint, sondern auch die Weise, in welcher er es meint«, bestimmt.27 Zwar sind Qualität und Materie gemeinsam auftretende Komponenten, die Aktmaterie aber allein bestimmt, dass »der Gegenstand dem Akte als dieser und kein anderer gilt, sie ist gewissermaßen der die Qualität fundierende […] Auffassungssinn«.28 Die Aktmaterie als das Woraufhin des Aktes bestimmt diesen also in höchstem Maße, weil sie im Vergleich zur Aktqualität den intentionalen Akt auf einen Gegenstand hin ausrichtet und damit auch die Art und Weise beeinflusst, in der diese Beziehung hergestellt wird. In diesem Sinne könnte man davon sprechen, dass die verschiedenen Aktqualitäten, die potenziell zur Verfügung stünden, um einen Gegenstand zu intendieren, vom Gegenstand selber eingeschränkt und bestimmt werden. Mit anderen Worten: Wie dem Wahrnehmenden ein Gegenstand erscheint, in welcher Weise also die Beziehung zwischen dem Wahrnehmenden und dem wahrgenommenen Gegenstand hergestellt wird, ist wesentlich vom Gegenstand selbst beeinflusst und nicht allein vom wahrnehmenden Subjekt. Aus diesem Grund stellt die vermeintlich subjektive Äußerung über die Wahrnehmung eines Gegenstandes aus phänomenologischer Perspektive eine fundierte Aussage über den intentionalen Gegenstand dar. Ob dieser Gegenstand ein realer ist oder ein idealer, eine Theateraufführung, ein Requi25 Vgl. ebd. 26 Vgl. ebd., S. 425ff. 27 Vgl. ebd., S. 429. 28 Vgl. ebd., S. 430.
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sit, ein Albtraum oder ein Gedanke, ist für das über die Intentionalität Gesagte unerheblich. Auf beide Arten von Gegenständen kann ein intentionaler Akt gerichtet sein und für beide Arten gelten die vorgenommenen Ausdifferenzierungen. War bislang nur vom intentionalen Inhalt des Aktes die Rede, benennt Husserl daneben den reellen oder phänomenologischen Inhalt, den »Gesamtinbegriff der ihn [den intentionalen Akt, P.K.] reell aufbauenden Teilerlebnisse«.29 Der reelle Inhalt umfasst »alles, was als reeller Teil den jeweiligen phänomenologischen Bewußtseinsstrom konstituiert«30, womit vor allen Dingen die Sinneswahrnehmung angesprochen ist. Im Gegensatz zum intentionalen Inhalt bildet der reelle Inhalt die Gesamtheit der Teile des intentionalen Aktes, während der intentionale Inhalt gewissermaßen dadurch von diesem Akt abgelöst ist, dass er dessen Teile zu Teilen von etwas Intentionalem macht. Beide, intentionaler und reeller Inhalt, sind bewusstseinsimmanent zu denken und im intentionalen Akt zu verorten. Sinneseindrücke, die zum reellen Inhalt gezählt werden, verdeutlichen, was das bedeutet: Wird ein Gegenstand sinnlich erfasst, also zum Beispiel gesehen, so sieht der Betrachter diesen Gegenstand aus einer möglichen Perspektive in jener Erscheinung, die für ihn aus dieser Perspektive heraus möglich ist. Verändert der Betrachter seine Position zum Gegenstand, indem er eine neue Perspektive einnimmt oder die Position des Gegenstandes verändert, entstehen durch die neuen Sinneseindrücke auch je neue Bewusstseinsinhalte, der Betrachter aber wird diese neuen Inhalte noch immer als Bestandteile desselben Gegenstandes wahrnehmen. Daraus folgt für Husserl, dass die Sinneseindrücke als erlebte Bewusstseinsinhalte eines Gegenstandes nicht der wahrgenommene Gegenstand selbst sein können, weil die verschiedenen Perspektiven auf den Gegenstand nur singuläre Sinneseindrücke sind. Die verschiedenen Perspektiven auf den Gegenstand zeigen diesen also in einer je spezifischen Erscheinung und trotzdem gibt es ein Bewusstsein davon, dass alle singulären Sinneseindrücke demselben Gegenstand angehören. Durch alle verschiedenen Sinneseindrücke hindurch ist es das »›Identitätsbewußtsein‹, d.h. dieses Vermeinen, Identität zu erfassen«, das trotz der Vielfältigkeit der Eindrücke noch immer denselben Gegenstand wahrnehmen lässt.31 Die Sinneseindrücke gehören also zum reellen oder phänomenologischen Inhalt, während der intentionale Inhalt die Identität des reellen Inhaltes – in dem Fall der Sinneseindrücke – als Sinneseindrücke vom selben Gegenstand sichert. Diese Identität ist aber selbst nicht sinnlich wahrnehmbar. Sinneseindrücke kon29 Vgl. ebd., S. 411. 30 Ebd., S. 363. 31 Vgl. dazu und zum Folgenden ebd., S. 396f.
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stituieren den intentionalen Inhalt, sie sind allerdings nicht intentional, sondern reell, und gehören daher auch nicht zum intentionalen Gegenstand. Denn dieser bleibt derselbe, obwohl sich die Sinneseindrücke von ihm verändern. Demnach wäre zu unterscheiden zwischen dem Akt der sinnlichen Wahrnehmung eines Gegenstandes und dem Akt der Intention dieses Gegenstandes, womit sich aber zwangsläufig die Frage stellt, welches Verhältnis zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Intention besteht. Mit anderen Worten: Es ist zu klären, wie aus einer sinnlichen Wahrnehmung die Wahrnehmung eines bestimmten Gegenstandes resultieren kann. Husserls Antwort auf diese Frage ist, dass die verschiedenen reellen Inhalte eines Gegenstandes wiederum selbst durch einen Sinn aufgefasst werden müssen, der sie zum wahrgenommenen Gegenstand macht und durch den sie »Erlebnischarakter« besitzen.32 Erlebnis und Empfindung bilden dabei die beiden Pole, die bloße sinnliche Wahrnehmung und das Erlebnis der Identität der verschiedenen Sinneseindrücke unterscheiden. Empfindung und Erlebnis sind miteinander verbunden über den Aktcharakter: »Apperzeption ist uns der Überschuß, der im Erlebnis selbst, in seinem deskriptiven Inhalt gegenüber dem rohen Dasein der Empfindung besteht; es ist der Aktcharakter, der die Empfindung gleichsam beseelt und es seinem Wesen nach macht, daß wir dieses oder jenes Gegenständliche wahrnehmen, z.B. diesen Baum sehen, jenes Klingeln hören, den Blütenduft riechen usw. Die Empfindungen und desgleichen die sie ›auffassenden‹ oder ›apperzipierenden‹ Akte werden hierbei erlebt, aber sie erscheinen nicht gegenständlich; sie werden nicht gesehen, gehört, mit irgendeinem ›Sinn‹ wahrgenommen. Die Gegenstände andererseits erscheinen, werden wahrgenommen, aber sie sind nicht erlebt.«33
Durch den Aktcharakter also wird ein Gegenstand als ein intentionaler wahrgenommen und beide, Aktqualität und Aktmaterie, bilden gemeinsam das »intentionale Wesen« eines Gegenstandes.34 Vom Subjekt aus betrachtet zeigt sich somit, dass mit dem Intentionalitätsgedanken Husserls die Verwobenheit von phänomenologischem und intentionalem Inhalt eines wahrgenommenen Gegenstandes einhergeht, wobei beide zugleich an den Gegenstand gebunden sind. Inwiefern die Wahrnehmung des Gegenstandes auch von diesem selbst beeinflusst ist, wird im Folgenden erläutert.
32 Vgl. ebd., S. 397. 33 Ebd., S. 399. 34 Vgl. ebd., S. 538.
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Der Einfluss des Gegenstandes auf die Intention des Subjektes Die Art und Weise sowohl des phänomenologischen wie auch des intentionalen Inhaltes ist auf Seiten des Gegenstandes von der Art und Weise seiner Erscheinung oder seines Gegebenseins abhängig. Denn um die Frage zu beantworten, welche Arten von Akten überhaupt zur Bedeutungsgenerierung beitragen können, muss berücksichtigt werden, welches Verhältnis zwischen Bedeutungsintention und Bedeutungserfüllung – zwischen dem Begriff oder Gedanken von einem Gegenstand und seiner anschauenden Wahrnehmung – besteht.35 Zwar hält Husserl daran fest, dass die Existenz des Gegenstandes im ontologischen Sinn für eine phänomenologische Analyse unerheblich ist, die Art des Gegebenseins des Gegenstandes aber, ob es sich also zum Beispiel um einen Gedanken oder einen materiell vorliegenden Gegenstand handelt, muss unterschieden werden. Das Sein eines Gegenstandes für das Bewusstsein bezieht sich auf die Weise, in der er gegeben ist. Husserl differenziert diese Weise nach der »Fülle« des Gegebenseins und stellt dieses Element der Aktqualität und Aktmaterie zur Seite.36 Er differenziert dabei unterschiedliche Akte nach dem Grad der Vollkommenheit, in dem ein Gegenstand zur Anschauung kommen kann: Auf der untersten Stufe der Fülle des Gegebenseins sieht Husserl die »signitiven Akte«, die einen Gegenstand intendieren, indem sie ihn in seiner Abwesenheit mit einem symbolischen Begriff Bedeutung verleihen.37 Die Bedeutungszuschreibung geschieht also, ohne dass der Gegenstand selbst anschaulich vorliegen würde. Auf der nächst höheren Ebene liegen die »imaginativen Akte«, die wie die signitiven Akte ihren Gegenstand indirekt intendieren, im Gegensatz dazu aber auf ein Bild rekurrieren, das dem intentionalen Gegenstand gegenüber Ähnlichkeit besitzt.38 Beide genannten Akte bringen nie den Gegenstand selbst zur Anschauung, sondern – wenn überhaupt – nur sein Bild. Direkt ist die Anschauung des intentionalen Gegenstandes nur über die sinnliche Wahrnehmung möglich, denn »der intentionale Charakter der Wahrnehmung ist, im Gegensatze zum bloßen Vergegenwärtigen der Imagination, das Gegenwärtigen (Präsentieren)«39. Nur in der Wahrnehmung wird der Gegenstand präsentiert, mittels (sprachlicher) signitiver oder imaginativer Akte findet lediglich eine abbildhafte Repräsentation des intendierten Gegenstandes statt. Bevor also überhaupt eine sprachliche Aussage über einen Gegenstand möglich wird, kommt es zu einer wahrnehmenden Be-
35 Vgl. ebd., S. 538f. 36 Vgl. ebd., S. 614. 37 Vgl. ebd., S. 566ff. 38 Vgl. ebd., S. 646. 39 Ebd.
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gegnung mit diesem Gegenstand, die dann zum Auslöser signitiver oder imaginativer Akte werden kann. Die Einteilung der Wahrnehmung nach der Ordnung der Präsenz und der Ordnung der Repräsentation, wie sie im zweiten Kapitel vorgenommen wurde, ist also im phänomenologischen Sinne als hierarchisch zu qualifizieren. Der Wahrnehmung unmittelbar gegeben ist die Ordnung der Präsenz und in ihr kommt die Bedeutung zum Ausdruck, die einem Gegenstand aufgrund seiner Präsenz, also seiner unmittelbaren Erscheinung in der sinnlichen Wahrnehmung, gegeben werden kann. Erst auf ihrem Fundament kommt es auch zu Zuschreibungen, die der Ordnung der Repräsentation entsprechen und die auf Kognition beruhen, diese allerdings nicht zwangsläufig auch mit dem Präsentischen verknüpfen. Die Zuschreibungen müssen sich deshalb im Sinne Husserls analytisch auf ein Fundament zurückführen lassen, wobei der Fokus nicht darauf liegt, das Sein des intendierten Gegenstandes im ontologischen Sinn zu rekonstruieren, weil dieses Sein »schlechthin nichts Wahrnehmbares«40 ist. Als elementare Voraussetzung der phänomenologischen Analyse signitiver oder imaginativer Akte erweist sich in diesem Zusammenhang die »Äquivokation«, die Doppeldeutigkeit des Wahrnehmungsbegriffes, die es gestattet, »als Erscheinung nicht nur das Erlebnis, in dem das Erscheinen des Objektes besteht (z.B. das konkrete Wahrnehmungserlebnis, in dem uns das Objekt vermeintlich selbst gegenwärtig ist), sondern auch das erscheinende Objekt als solches zu bezeichnen«.41 Es ist möglich, sowohl einen wahrgenommenen Gegenstand mit seinen Eigenschaften als auch den Prozess, in dem der Gegenstand wahrgenommen wird, als Wahrnehmung zu bezeichnen. Aus diesem Grund ist die phänomenologische Analyse einerseits immer an der Art und Weise des Gegebenseins eines intentionalen Gegenstandes interessiert, andererseits an der damit »korrespondierenden Anschauung«42. Erkenntnis vollzieht sich dabei im Prozess der Deckung zwischen signitivem und anschauendem Akt, was Husserl selbst ausdrücklich betont und mit dem Begriff der »Evidenz« versieht.43 Von Evidenz ist deshalb dort zu sprechen, »wo immer eine setzende Intention […] ihre Bestätigung durch eine korrespondierende und vollangepaßte Wahrnehmung […] findet«44. Dass es sich dabei jedoch um ein Ideal handelt, offenbart die Praxis, weil die Anschauung oder Wahrnehmung eines intendierten Gegenstandes, insbesondere eines physisch vorliegenden, immer eine 40 Ebd., S. 666. 41 Vgl. ebd., S. 359. 42 Ebd., S. 538ff. 43 Vgl. ebd., S. 651ff. 44 Ebd.
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perspektivische ist. Den Gegenstand aus einer anderen Perspektive heraus wahrzunehmen, hieße, einen neuen anschauenden Akt zu vollziehen. Abhängig davon, ob eine Perspektive zur Wahrnehmung des intendierten Gegenstandes geeignet ist, ließe sich der Grad der Fülle der Übereinstimmung von signitivem und anschauendem Akt bestimmen, dadurch aber, dass es sich notwendigerweise um eine perspektivische Wahrnehmung unter vielen anderen möglichen handelt, bleiben immer Aspekte des Gegenstandes im anschauenden Akt unberücksichtigt. Der Gegenstand erscheint also potenziell auf verschiedene Weisen und nie in seiner ganzen Fülle. Aus diesem Grund ist es auch nicht möglich zu bestimmen, welche der Erscheinungsweisen die höchste Fülle an Evidenz garantiert. Die intentionale Anschauung eines Gegenstandes ist auf den Gesamtgegenstand gerichtet, ohne dass bestimmte Eigenschaften dieses Gegenstandes besonders intendiert sind. Die »Sonderwahrnehmung« einer einzelnen Eigenschaft geschieht erst nach der Anschauung des Gesamtgegenstandes als »Partialintention«45. Die in Partialintentionen wahrgenommenen Eigenschaften als Teil des Gesamtgegenstandes zu erfassen, ist nur durch eine Synthese von Gesamt- und Partialintentionen möglich, die beständig in der Wahrnehmung geschieht, »als unmittelbare Verschmelzung der Partialintentionen und ohne Hinzutritt neuer Aktintentionen«46. Die Verhältnisse der Teile zum Ganzen sind dabei zwar sinnlich fundiert, aber idealer Natur. Dies bedeutet jedoch, dass zwischen zwei verschiedenen Arten von Anschauung zu unterscheiden ist: Einerseits gibt es sinnliche Anschauung und andererseits kategoriale oder ideale Anschauung. Auf der untersten Stufe steht für Husserl die sinnliche Wahrnehmung. Dabei wird etwas unmittelbar so erfasst, dass das Wahrgenommene »sich nicht in beziehenden, verknüpfenden und sonstwie gegliederten Akten konstituiert, die in anderen, anderweitige Gegenstände zur Wahrnehmung bringenden Akten fundiert sind«.47 Fischer-Lichtes Wahrnehmung des So-seins im Rahmen der Ordnung der Präsenz würde dieser sinnlichen Wahrnehmung entsprechen. Eine kategoriale Anschauung ergibt sich hingegen aus der Synthese der fundierenden Akte sinnlicher Wahrnehmung als eine neue Gegenständlichkeit oder Objektivität des angeschauten Gegenstandes und gehört daher zu einer höheren Stufe der Wahrnehmung. Was das bedeutet, wird insbesondere anhand von Gegenständen deutlich, die nicht sinnlich, sondern nur in signitiver Intention erfasst werden können. Ein Gegenstand wie das Gefühl von Glück etwa ist sinnlich nicht wahrnehmbar, doch können sehr wohl auch über die signitive Intention hinaus Beziehungen der Teile des Gegenstandes zum Ganzen anschaulich gegeben sein, die ebenfalls 45 HUSSERL: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, S. 682. 46 Ebd., S. 677. 47 Vgl. ebd., S. 647.
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nicht sinnlich erfahren werden können.48 Das Lächeln vor Glück oder der laute Ausruf nach einem glücklichen Moment sind anschaulich gegeben und werden dem Gegenstand Glück zugeordnet, ohne dass das Glück selbst anschaulich vorliegt. Es findet also eine Synthese der fundierenden Akte statt, die zu kategorialer Anschauung führt. Durch die Unterscheidung zwischen sinnlicher und kategorialer Anschauung deckt Husserl sowohl reale als auch ideale Gegenstände ab und befreit sich von der empiristischen Festlegung, nur sinnlich Wahrnehmbares könne zur Anschauung gebracht werden. So sind nun die Grundkonstanten der phänomenologischen Intentionalitätstheorie Husserls benannt, die er in späteren Werken präzisiert und variiert. Es kann festgehalten werden, dass das Verhältnis zwischen dem Erlebnisakt und dem Gegenstand, der erlebt wird, eine »bezügliche Intention«49 darstellt, womit ausgesagt wird, dass Akt und Gegenstand aus phänomenologischer Perspektive immer aufeinander verwiesen sind. »Ein Wahrnehmen ist Wahrnehmen von etwas, etwa einem Dinge; ein Urteilen ist Urteilen von einem Sachverhalt; ein Werten von einem Wertverhalt; ein Wünschen von einem Wunschverhalt usw. Handeln geht auf Handlung. Tun auf Tat, Lieben auf Geliebtes, sich Freuen auf Erfreuliches usw. In jedem aktuellen cogito richtet sich ein von dem reinen Ich ausstrahlender ›Blick‹ auf den ›Gegenstand‹ des jeweiligen Bewußtseinskorrelats, auf das Ding, den Sachverhalt usw. und vollzieht das sehr verschiedenartige Bewußtsein von ihm.«50
Dieses Verhältnis kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass sich ein Gegenstand erst im Laufe der Wahrnehmung als er selbst erweist. Kernmerkmal des intentionalen Aktes ist dabei, dass er den Dualismus von Innen und Außen der Wahrnehmung unterläuft, wie am Beispiel der sinnlichen und insbesondere der kategorialen Anschauung deutlich geworden ist. Relationen kategorialer Anschauung sind – bezogen auf die Relation von Teil und Ganzem – nicht sinnlich wahrnehmbar, aber dennoch sinnlich fundiert. Eine Trennung zwischen rein bewusstseinsimmanenten oder -transzendenten Inhalten ist also vor dem Hintergrund der phänomenologischen Konzeption Husserls nicht gegeben. In diesem Sinne eröffnet ein phänomenologischer Zugang die Möglichkeit, über die Deskription von Wahrnehmungsprozessen das dahinter liegende Wesen der wahr48 Husserl nennt als Beispiele etwa die Formworte das, ein, einige, viele, wenige, zwei, ist, nicht, welches, und, oder, substantivische und adjektivische oder singulare und plurale Bildungsformen der Wörter. Vgl. ebd., S. 658. 49 HUSSERL: Untersuchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, S. 385. 50 HUSSERL: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, S. 204.
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genommenen Erscheinung zu erschließen. Die im Frühwerk Husserls noch als deskriptiv zu bezeichnende Phänomenologie ermöglicht damit die Erkenntnis des Wesens eines wahrgenommenen Gegenstandes aus dessen Erscheinung heraus. Es gilt nun, aus dem Intentionalitätskonzept Implikationen für einen theaterdidaktisch perspektivierten phänomenologischen Zugang zur Theateraufführung abzuleiten, um das Gesagte an späterer Stelle auf die Modellierung dieses Zugangs anwenden zu können. Theaterdidaktische Perspektiven Kern der Theaterdidaktik, wie sie in der vorliegenden Arbeit vertreten wird, ist, dass die Theateraufführung als Gegenstand ihren Mittel- und Ausgangspunkt bildet. Mit diesem Gegenstand vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs umzugehen, bedeutet nach den Ausführungen zur Intentionalität, die wahrgenommenen Phänomene als Erscheinungen aufzugreifen und in Zeugnissen dieser Wahrnehmung einen Zugang zum Wesen der Theateraufführung zu sehen. Ein solcher Zugang setzt sich damit von Lehr- und Lernarrangements ab, die eine Transformation des vermeintlich unvollständigen, unsystematischen und vorwissenschaftlichen Erfahrungswissens und des bloß Vermeinten und Erspürten der Lerner in ein systematisches, fachlich und wissenschaftlich abgesichertes Fachwissen zum Ziel haben. Denn vor dem Hintergrund des phänomenologischen Intentionalitätskonzeptes ist der Lern- und Verstehensprozess auf eine vom Subjekt intentional gestiftete Beziehung zurückzuführen. Diese Beziehung ist auf eine Erscheinung gerichtet und beruht auf sinnlicher Anschauung, in der bereits Bedeutung gegeben wird, indem ein Gegenstand dem Wahrnehmenden als dieser bestimmte Gegenstand erscheint. Die Wahrnehmung widerfährt und beruht auf dem Ereignis-Potenzial der Aufführung, das sie von der Inszenierung unterscheidet. So erscheint das in der Inszenierung Angelegte als möglicher Anfangspunkt für die Herstellung einer intentionalen Beziehung, die Intention selbst aber geht vom Wahrnehmenden aus und lässt sich durch die Inszenierung nicht garantieren. In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass die Einteilung der Wahrnehmung in die Ordnung der Präsenz einerseits und die Ordnung der Repräsentation andererseits phänomenologisch präzisiert werden muss. Denn jegliche Wahrnehmung ließe sich nach dem Intentionalitätskonzept hinsichtlich ihrer Aktqualität und Aktmaterie, also des intentionalen und phänomenologischen Inhaltes, näher qualifizieren, auch die Wahrnehmung eines Gegenstandes in seinem So-sein oder die Zuordnung bestimmter Assoziationen in den Grenzen des erscheinenden Gegenstandes – ebenso wie die Wahrnehmung nach der Ordnung der Repräsentati-
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on. Unabhängig davon, ob das Subjekt das Wahrgenommene als Zeichen deutet, den Gegenstand in seinem So-sein wahrnimmt oder Erinnerungen assoziiert: Hinter diesen Möglichkeiten der Wahrnehmung steht die Ausrichtung der Wahrnehmung auf die Aufführung und ihre Elemente in einer bestimmten Art und Weise, also in diesem Fall in der Art des Deutens, Wahrnehmens oder Assoziierens, die in der sinnlichen Wahrnehmung der Aufführung fundiert ist und den Akt der Wahrnehmung bereits beeinflusst. Aus diesem Grund fokussiert ein phänomenologischer Zugang zur Aufführung die Art und Weise, die Konstitution der intentional hergestellten Beziehung zwischen dem Subjekt und dem Gegenstand, ohne dabei jedoch die affektiv-emotionale, kognitive und körperliche Dimension der Wahrnehmung voneinander zu trennen. Das Spannungsfeld, in dem sich ein phänomenologischer Zugang insbesondere auch im schulischen Kontext vor dem Hintergrund des Intentionalitätskonzeptes bewegt, ist damit nicht das Erleben bzw. Erfahren auf der einen und Verstehen bzw. Interpretieren auf der anderen Seite, sondern das Spannungsfeld zwischen individueller und vermittelter Evidenz. Die individuelle Evidenz ist es, die den Ausgangspunkt eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung im theaterdidaktischen Kontext bildet. Deklaratives und prozedurales Wissen – etwa der Germanistik, Theaterwissenschaft oder -didaktik – wird mit dieser individuellen Evidenz konfrontiert und kann sie, wo es den Lernern einsichtig wird, ergänzen oder ersetzen. Dies kann allerdings erst dann geschehen, wenn der individuelle Wahrnehmungsakt hinsichtlich seiner in diesem Abschnitt erläuterten Elemente erschlossen, beschrieben und reflektiert wurde. Wo die Wahrnehmung während der Aufführung durch die Konstruktion eines Zeichenzusammenhangs geprägt war, kann bereits auch ein semiotischer Zugang zu seiner Geltung kommen. Vielleicht wird er aber auch erst dann relevant, wenn die individuelle Evidenz nicht dazu ausreicht, ein wahrgenommenes Element der Aufführung zu erschließen. In beiden Fällen geht seine Anwendung jedoch zurück auf die intentionale Herstellung einer bedeutungsstiftenden Beziehung zwischen dem Wahrnehmenden und dem wahrgenommenen Gegenstand. Der Mehrwert eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung im Rahmen der Theaterdidaktik liegt also darin, das über die Theateraufführung zu Lernende in der sinnlichen Wahrnehmung und der Erfahrung der Schüler zu fundieren. Dabei lassen sich über das Gelernte hinaus auch verschiedene Rezeptionsmodi und Wissensformen als Perspektiven erschließen, mit denen der Gegenstand aufgefasst und die eigene Perspektive erweitert werden kann. Beschreibung und Reflexion des in der Theateraufführung intentional Wahrgenommenen haben aus phänomenologischer Sicht daher im schulischen Kontext
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nicht vornehmlich den Ersatz einer falschen Vorstellung oder Perspektive auf die Aufführung und die darin wahrgenommenen Elemente zum Ziel, sondern vielmehr die Fundierung, Reflexion und Begründung der eigenen Wahrnehmung und Erfahrung. Wissenschaftlich begründete Erfahrungen als Möglichkeit, die Aufführung und ihre Elemente zu erklären und zu deuten, werden auf diese Weise mit den eigenen Erfahrungen gleichgestellt und beide Möglichkeiten der Weltdeutung lassen sich auf dieselbe Weise phänomenologisch analysieren, miteinander vergleichen und diskutieren. Das Intentionalitätskonzept schreibt einem theaterdidaktischen Zugang zur Aufführung, der auf die Phänomenologie rekurriert, ein, in der Wahrnehmung und Erfahrung der Schüler nicht eine bloße affektiv begründete und damit vorwissenschaftliche Annahme zu sehen, die es durch vermittelte Evidenz zu korrigieren gilt. In diesem Sinne zielt ein phänomenologischer Zugang im Kontext der Theaterdidaktik auf die Fundierung der Inhalte in der individuellen Erfahrung der Schüler ab. Während diese Perspektiven vor allen Dingen auf die Erschließung der Gegenstände im Bewusstsein des Subjektes abzielen, die Wahrnehmung ganz grundsätzlich betreffen und nicht auf den Gegenstand Theateraufführung im Speziellen begrenzt sind, verhält sich das bei einem Element phänomenologischer Theorie anders, das Merleau-Ponty ihr eingeschrieben hat: der Leiblichkeit der Wahrnehmung. 3.2.2 Leiblichkeit der Wahrnehmung Im Kontext der Ausführungen über den Aufführungsbegriff im zweiten Kapitel, in dem das Theater von der Wahrnehmung her beschrieben worden ist, wurde die leibliche Ko-Präsenz als das wesentliche Konstitutionsmerkmal der Theateraufführung benannt, denn aus ihr resultiert sowohl deren spezifische Medialität als auch die performative Hervorbringung ihrer Materialität. Die Bedeutung der Leiblichkeit für die Aufführung jedoch nur darin zu sehen, dass die Beteiligten physisch präsent sein müssen, ist für die Entwicklung eines didaktischen Modells zum Umgang mit der Theateraufführung im Unterricht noch nicht ausreichend. Aus diesem Grund wird im Folgenden die leibliche Ko-Präsenz mit dem phänomenologischen Konzept der Leiblichkeit von Merleau-Ponty zusammengebracht, der es zuerst und prominent vertreten hat. Leib und Leiblichkeit In seiner Phänomenologie der Wahrnehmung gibt Merleau-Ponty eine Antwort auf die Frage, in welchem Verhältnis die Intentionalität der Wahrnehmung und die Leiblichkeit des Menschen zueinander stehen. Seine Überlegungen münden
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schließlich in eine Phänomenologie der Leiblichkeit, deren Ziel die »Aufklärung der primordinalen Funktion« darstellt, »durch die wir Raum, Gegenstände und Werkzeuge für uns sein lassen und uns zu eigen machen, und die Beschreibung des Leibes als des Vollzugsortes dieser Zueignung«.51 In grundsätzlicher Übereinstimmung mit der Phänomenologie Husserls und dessen Intentionalitätskonzept untersucht Merleau-Ponty den Urgrund, in dem die Wahrnehmung fundiert ist. Diesen Urgrund bezeichnet er mit einem Begriff, der im Deutschen mit Leib zu übersetzen wäre, ohne dass im französischen Original die begriffliche Differenzierungsmöglichkeit zwischen Körper und Leib zur Verfügung steht. Dort differenziert Merleau-Ponty deshalb den Begriff corps aus, wobei die Übersetzung mit dem Begriff Leib für seinen corps phénoménal oder corps propre verwendet werden kann, der die unauflösliche Verbindung von Leib und eigenem Leben oder von Geist und Körper bezeichnet. Anders als der corps objectiv, also der verobjektivierbare Körper, der für Merleau-Ponty nur eine begriffliche Existenz besitzt, umschließt der Leibbegriff die Möglichkeit des Menschen, sich mit den Mitteln seines Körpers die Umwelt zu erschließen. Die in der Philosophie sowie darüber hinaus angelegte und auf Descartes zurückgehende Ambiguität von Körper und Geist gilt damit, wenn im Sinne Merleau-Pontys von Leib die Rede ist, als überwunden, denn der Leib ist zugleich wahrnehmbares Äußeres und wahrnehmendes Inneres. »Indem ich meine Hand an mein Knie führe, erfahre ich in jedem Moment der Bewegung die Realisierung einer Intention, die nicht auf mein Knie als Idee oder auch als Gegenstand abzielt, sondern als gegenwärtigen und wirklichen Teil meines lebendigen Leibes, und d. h. letztlich als Durchgangspunkt meiner beständigen Bewegung auf die Welt zu.«52
Es gibt vor der Berührung eine Instanz, die für die Einheit aller Teile des Körpers garantiert, die vor aller Bewegung und vor aller Wahrnehmung ist und die Bedingung der Wahrnehmung überhaupt darstellt: das Bewusstsein der Leiblichkeit. So ist es Merleau-Pontys Überzeugung, dass sowohl für die Wahrnehmung als auch die sensomotorischen Komponenten, derer sie sich bedient, »die Gegenstände wie auch der Raum unserer Erkenntnis nicht gegenwärtig zu sein vermögen, ohne es für unseren Leib zu sein«53. Durch die leibliche und damit zugleich sinnliche Wahrnehmung, durch das Sehen oder Berühren, werden die Gegenstände überhaupt erst konstituiert, wenn auch der Leib nicht in der Lage ist, sich selbst in dieser Weise vollends wahrzunehmen. 51 MERLEAU-PONTY: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 185. 52 Ebd., S. 174f. 53 Ebd., S. 169.
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»Er [der Leib, P.K.] ist nicht Limes einer offenen endlosen Erkundung, er entzieht sich vielmehr jeder Durchforschung und stellt sich mir stets unter demselben ›Blickwinkel‹ dar. Seine Ständigkeit ist keine solche der Welt, sondern Ständigkeit ›meinerseits‹. Daß er ständig bei mir und ständig für mich da ist, besagt in eins, daß ich niemals ihn eigentlich vor mir habe, daß er sich nicht vor meinem Blick entfalten kann, vielmehr am Rand meiner Wahrnehmung bleibt und dergestalt mit mir ist.«54
Die sich aus diesem Leib-Verständnis heraus ergebende phänomenologische Einsicht besteht darin, den Leib nicht mehr als – wenn auch wichtigen – Gegenstand unter Gegenständen der Wahrnehmung zu begreifen.55 Der Leib ist vielmehr, so entwickelt Merleau-Ponty weiter, die Bedingung der Möglichkeit des Wahrnehmens schlechthin, wenn er auch selbst der Wahrnehmung nicht zugänglich ist, und es »[n]ie […] unser objektiver Körper [ist], den wir bewegen, sondern stets unser phänomenaler Leib«.56 Jede Wahrnehmung und jede damit verbundene Erkenntnis der Welt ist an den Leib gebunden. Aus diesem Grund stellt der Leib die menschliche »Verankerung in der Welt«57 dar als »unser Mittel überhaupt, eine Welt zu haben«58. Der Leib ist daher »Subjekt der Wahrnehmung«59. Was leiblich wahrgenommen wird, ist nicht das Ergebnis einer Syntheseleistung von Leib und Welt oder eine Leistung des Verstandes, sondern eine jedem personalen Ich vorgängige Sinnstiftung.60 Das Wahrgenommene ist damit, »ehe es Anzeige eines Begriffs ist, […] zunächst ein meinen Leib ergreifendes Geschehnis, und seine Wirkung auf meinen Leib umschreibt seinen Bedeutungsbereich.«61 Nach dieser Auffassung vollziehen weder ein absolutes Bewusstsein noch der objektive Leib die Syntheseleistungen der Wahrnehmungseindrücke, sondern der Leib als natürliches Ich, weil »[d]ie Geste der Hand, die sich auf einen Gegenstand zubewegt, […] einen Verweis auf den Gegenstand nicht als solchen der Vorstellung [impliziert], sondern als dieses sehr bestimmte Ding, auf das hin wir uns entwerfen, bei dem wir vorgreifend schon sind«.62 An dieser Stelle scheint erneut die phänomenologische Grundüberzeugung auf, dass auch
54 Ebd., S. 115. Hervorhebung im Original. 55 Vgl. ebd., S. 168. 56 Vgl. ebd., S. 131. 57 Ebd., S. 174. 58 Ebd., S. 176. 59 Ebd., S. 263. 60 Vgl. ebd., S. 243. 61 Ebd., S. 275. 62 Vgl. ebd., S. 167.
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der erscheinende Gegenstand mitbestimmt, als was er im Akt der an den Leib gebundenen Wahrnehmung wahrgenommen und gedeutet werden kann. Zur weiteren Spezifizierung dessen, was die Sinnstiftung zu leisten vermag, unterteilt Merleau-Ponty den phänomenalen Leib in zwei Schichten: »die des habituellen und die des aktuellen Leibes«63. Der habituelle Leib bildet das auf nichtkognitiven Wissenselementen beruhende Vermögen ab, Gegenstände zu handhabbaren Gegenständen werden zu lassen, während der aktuelle Leib der konkreten Disposition des physischen Körpers entspricht: »Der Reflex, insofern er dem Sinn einer Situation sich öffnet, die Wahrnehmung, insofern sie jeder erkenntnismäßigen Gegenstandssetzung zuvor eine Intention unseres ganzen Seins verkörpert, sind Weisen der präobjektiven Sicht, die wir als das Zur-Welt-sein bezeichnen.«64
Die intelligible Kraft des Leibes ist präobjektiv und präreflexiv, also jeder Analyse vorgängig, intuitiv und spontan sich ereignend. Sie bildet aber gleichermaßen eine Form der Erkenntnis, die auf der leiblichen Wahrnehmung der Welt beruht, also einer sinnlichen und sinnhaften Wahrnehmung zugleich, einer Wahrnehmung als Geist und als Leib. Merleau-Ponty löst damit die Ambiguitäten von Leib und Geist oder Körper und Verstand nicht auf, sondern stellt sie als Konstitutionsbedingungen der Wahrnehmung heraus. Was dies für die Erkenntnisbeziehung bedeutet, äußert er wenige Jahre später: »Die Beziehung von Subjekt und Objekt ist nicht mehr jene Erkenntnisbeziehung, von der der klassische Idealismus sprach und in der das Objekt stets wie vom Subjekt konstruiert erscheint, sondern eine Seinsbeziehung, der zufolge das Subjekt paradoxerweise sein Körper, seine Welt und seine Situation ist und auf gewisse Weise sich austauscht.«65
Damit ist eine Entwicklung erkennbar, die sich schon in der Phänomenologie der Wahrnehmung angedeutet hatte, wenn Merleau-Ponty dem objektiven Körper den phänomenalen Leib zur Seite stellt, diesen »als erkennenden Leib« begreift »und als Subjekt der Wahrnehmung an die Stelle des Bewußtseins die Existenz, d. h. das Zur-Welt-sein-durch-einen-Leib« setzt.66 Existenz und leibliches Zur-Welt-sein sind für ihn aufeinander bezogen und zugleich ein Synonym für das Bewusstsein: 63 Ebd., S. 107. 64 Ebd., S. 104. Hervorhebung im Original. 65 MERLEAU-PONTY: Sinn und Nicht-Sinn., S. 96. 66 Vgl. MERLEAU-PONTY: Phänomenologie der Wahrnehmung, S. 358. Anm. 19.
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»Ich nehme wahr mit meinem Leib, mit meinen Sinnen, wobei mein Leib und meine Sinne nichts anderes sind als eben dieses habituelle Wissen von der Welt, diese implizierte oder sedimentierte Wissenschaft […]. Derjenige, der wahrnimmt, […] hat seine geschichtliche Dichtigkeit, übernimmt eine Wahrnehmungstradition und sieht sich konfrontiert mit einer Gegenwart. In der Wahrnehmung denken wir nicht den Gegenstand und denken nicht uns als ihn denkend, wir sind vielmehr zum Gegenstand und gehen auf in unserem Leib, der mehr als wir selbst von der Welt und von den Motiven und Mitteln weiß, sie zur Synthese zu bringen.«67
Das Wesen der Subjektivität ist »gebunden an das des Leibes und das der Welt, weil meine Existenz als Subjektivität eins ist mit meiner Existenz als Leib und mit der Existenz der Welt und letztlich das Subjekt, das ich bin, konkret genommen untrennbar ist von diesem Leib hier und dieser Welt hier«.68 Der Phänomenologie im Sinne Merleau-Pontys geht es also um die Voraussetzung der Untrennbarkeit von leiblicher Wahrnehmung und Weltverständnis und darum, »in uns und in der Welt das Verhältnis von Sinn und Un-Sinn zu begreifen«69. Die Ambiguitäten zwischen Körper-haben und Leib-sein oder zwischen Geist und Leib, welche die Erkenntnistheorie prägen, lassen sich demnach nicht vollends aufheben und dies ist auch – wie bereits erwähnt – nicht das Ziel, das Merleau-Ponty verfolgt. Vielmehr interessieren ihn die Bedingungen und Prozesse der sinnlichen Wahrnehmung und Sinngebung, die sich aus der menschlichen Leibgebundenheit ergeben. Für Merleau-Ponty stellen die Sinne das »Vermögen« dar, mit denen das Zur-Welt-sein permanent vollzogen wird.70 Es ist nicht möglich, sich seiner Sinnesorgane zu entledigen, denn auch, wenn zum Beispiel die Augen verdeckt sind, wird durch sie noch immer die Dunkelheit aufgenommen. Die Wahrnehmung mittels der Sinnesorgane ist aber wiederum im Leib als der Einheit von Körper und Geist gebündelt, mit dem wahrgenommen wird.71 Es ordnet also nicht der Geist, was der Körper aufnimmt, denn Wahrnehmung vollzieht sich vielmehr im Leib ohne eine von der Wahrnehmung unabhängige kognitive Leistung des Geistes als eigene Form der Erkenntnis. Die Sinne stehen im Leib in einer Kommunikation miteinander und sind in den Leib integriert. Es wäre ein Missverständnis, die Leistung Merleau-Pontys vor allem darin zu sehen, einen dem Bewusstsein vorausgehenden, präreflexiven Bereich der Er67 Ebd., S. 278f. Hervorhebung im Original. 68 Vgl. ebd., S. 464. 69 Ebd., S. 487. Hervorhebung im Original. 70 Vgl. ebd., S. 324f. 71 Vgl. ebd., S. 278.
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fahrung offengelegt zu haben, »ein Feld vorlogischer oder magischer Erfahrung«72. Vielmehr steht diese Offenlegung in einem Dienst an der Explikation von Wahrnehmung, Verstehen und Reflexion, einer »Phänomenologie der Phänomenologie«, die aus der Phänomenologie der Leiblichkeit hervorgeht und deren zentralen Bestandteil die Deskription bildet: »Wir müssen die Deskription zum Anlaß nehmen, ein Verstehen und eine Reflexion zu begründen, die sich als radikaler erweisen als alles objektive Denken. Der Phänomenologie im Sinne direkter Beschreibung muß sich eine Phänomenologie der Phänomenologie zur Seite stellen. Wir müssen erneut auf das cogito zurückgehen, um in ihm einen fundamentaleren Logos als den des objektiven Denkens zu gewinnen, der diesem sein relatives Recht wie auch seinen beschränkten Platz zuweist.«73
Welche Auswirkungen die Verbindung von Leiblichkeit und Wahrnehmung auf das hat, was leiblich wahrgenommen werden kann, wird nun im folgenden Abschnitt thematisiert werden. Wahrnehmung als Interpretation Anhand seiner Raum- und Zeitanalyse kann exemplarisch gezeigt werden, welche Auswirkungen die Verbindung von Leiblichkeit und Wahrnehmung bei Merleau-Ponty für Erkenntnis und Deutung hat. »Der Akt des Blickens ist in eins prospektiv, da der Gegenstand im Zielpunkt meiner Fixierungsbewegung steht, und retrospektiv, da er sich als seiner Erscheinung vorgängig geben wird, als der ›Reiz‹, das Motiv oder das erste Bewegende des ganzen Prozesses von seinem Anfange an. Raumsynthese wie Gegenstandssynthese gründen in dieser Entfaltung der Zeit. In jeder Fixierungsbewegung verschlingt mein Leib eine Gegenwart, eine Vergangenheit und eine Zukunft zu einem einzigen Knoten, scheidet Zeit gleichsam aus, oder vielmehr wird zu dem Ort der Natur, an dem Geschehnisse erst, statt nur einander ins Sein zu stoßen, die Gegenwart mit dem doppelten Horizont von Vergangenheit und Zukunft umgeben und selber geschichtliche Orientierung gewinnen […]. Mein Leib ergreift Besitz von der Zeit und läßt für eine Gegenwart Vergangenheit und Zukunft dasein; er ist kein Ding, denn er vollbringt die Zeit, statt ihr bloß zu unterliegen.«74
Dass der Leib von der Zeit Besitz ergreift und erst die leibliche Fixierungsbewegung Raum und Zeit konstituiert, führt Merleau-Ponty auf das »Körperschema« 72 Ebd., S. 418. 73 Ebd. Hervorhebung im Original. 74 Ebd., S. 280.
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zurück, durch das der Ort aller ineinander eingeschlossenen Glieder des Körpers bekannt ist und das zudem eine »Grenze bildet, die von den gewöhnlichen Raumbeziehungen unüberschritten bleibt«.75 Je nach Situation kann sich die Wahrnehmung des Leibes verändern, weshalb Merleau-Ponty die Räumlichkeit des Körpers als »Situationsräumlichkeit« definiert, aus der sich »die Verankerung des aktiven Leibes in einem Gegenstand, die Situation des Körpers seinen Aufgaben gegenüber« ergibt.76 Der Mensch ist in der Welt und auf die Welt hin ausgerichtet. Seine Wahrnehmung ist leiblich vermittelt, vollzieht sich sinnlich, ist präreflexiv, anonym und sinnstiftend. Durch das leibliche Zur-Welt-sein ist er als Leib in bestimmte Situationen gestellt, in denen ihm die Dinge bereits als etwas entgegentreten und die ein Umfeld kreieren, in dessen Rahmen die Wahrnehmung stattfindet. Aus dieser Wahrnehmung geht die bewusste Existenz als Fundament des Verstehens hervor, denn das Zur-Welt-sein führt dazu, dass es dem Menschen unmöglich ist, dem Sinn zu entgehen, der in der Welt bereits vorhanden ist und der ihm in der Welt entgegentritt. In diesem Sinne ist der Mensch regelrecht »verurteilt zum Sinn«77, denn es gibt Merleau-Ponty zufolge eine »von allen Reizen unabhängige Konsistenz« der Welt, die präobjektiv im Zur-Welt-sein erfahren wird und die Reduzierung des Zur-Welt-seins auf einen kognitiven Bewusstseinsakt allein ausschließt.78 Sinn hängt nach dieser Auffassung bestimmten Inhalten und Gegenständen an, in denen er entdeckt werden kann, »ohne ihn ihnen selbst kraft einer konstituierenden Leistung erst verliehen zu haben«.79 Somit untermauert die Phänomenologie der Wahrnehmung Merleau-Pontys die Feststellung, dass die Konstitution von Sinn weder allein im Subjekt noch allein im Gegenstand zu verorten ist. Auf Seiten des Subjektes ist die Wahrnehmung an den Leib gebunden und damit kein rein kognitiver Vorgang. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive ist diese Auffassung verheerend, denn mit ihr geht einher, dass strenggenommen weder eine belastbare Aussage über das Subjekt noch über das Objekt getroffen werden kann. Dies ist nur dadurch zu durchbrechen, »den Ursprungsort des Gegenstandes im Innersten unserer Erfahrung selbst« aufzusuchen, um »das Paradox zu verstehen […], wie für uns etwas an sich zu sein vermag«.80 Merleau-Pontys Lösung besteht darin, den Sinn eines Gegenstandes mit ihm eng zu verknüpfen. Er »wohnt ihm inne […]: 75 Vgl. ebd., S. 123. Hervorhebung im Original. 76 Vgl. ebd., S. 125f. Hervorhebung im Original. 77 Ebd., S. 16. Hervorhebung im Original. 78 Vgl. ebd., S. 104. 79 Vgl. ebd., S. 254. 80 Vgl. ebd., S. 96. Hervorhebung im Original.
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sein Sinn liegt nicht hinter den Erscheinungen«81, sondern in ihnen. Wenn beschrieben wird, wie ein wahrgenommener Gegenstand dem Wahrnehmenden – leiblich vermittelt – erscheint, dann verbirgt sich hinter dieser Beschreibung der Sinn dieser Erscheinung. Das heißt aber auch, dass der Sinn, der einem Gegenstand mittels der leiblichen Wahrnehmung gegeben wird, wesentlich abhängig ist von der Perspektive, aus der heraus ein Gegenstand in einer bestimmten Situation betrachtet wird, weil »es nicht anders sein [kann], als daß der Sinn des Gegenstandes selbst […] an seine Orientierung geknüpft ist«.82 Das Sein eines Gegenstandes ist nicht ein bloßes »Sein-für-ein-denkendes-Subjekt«, sondern ein »Sein für den Blick, dem er unter einem gewissen Blickwinkel begegnet und nur so kenntlich ist«.83 In diesem Sinne ist Wahrnehmen das »Erfassen eines jedem Urteil zuvor dem Sinnlichen eigenen Sinnes«84. Diese Annahme fasst MerleauPonty in dem prägnanten Satz zusammen: »Die Welt ist da, vor aller Analyse.«85 Sinn kann daher ohne eine reflexive Analyse wahrgenommen werden, die damit zu einem sekundären Akt wird. Die sinnliche Wahrnehmung ist »der Untergrund, von dem überhaupt erst Akte sich abzuheben vermögen und den sie beständig voraussetzen«.86 Auch hier stellt sich bezogen auf die Auseinandersetzung mit vorhandenen phänomenologischen Zugängen die Frage, ob Erleben bzw. Erfahren und Verstehen bzw. Interpretieren wirklich die Pole des Spannungsfeldes darstellen, in dem sich die Wahrnehmung von Gegenständen wie der Theateraufführung aus phänomenologischer Sicht bewegt. Die Antwort auf diese Frage findet sich bei Merleau-Ponty dort, wo es um die Erfassung der Welt in ihrem So-sein geht. Demnach handelt es sich bei der Wahrnehmung der Welt als Phänomen um ein »Für-uns-geboren-werden in einem Feld, in das eine jede Wahrnehmung uns zurückversetzt, […] wo noch kein Wissen und besonders keine Wissenschaft die individuelle Perspektive nivelliert und ihrer Reduktion unterworfen haben«87. Der allererste Zugang zum Wesen der Welt wird also in der Wahrnehmung gefunden, was sich mit den Ausführungen im Anschluss an Husserls Konzept der Intentionalität deckt. Weil den Dingen, die in der Welt sind und aus denen die Welt sich zusammensetzt, ein Sinn immer schon inkarniert ist, bedeutet das Wahrnehmen der Welt bereits eine Interpretation dieser Dinge. 81 Ebd., S. 370. 82 Vgl. ebd., S. 295. 83 Vgl. ebd. 84 Ebd., S. 57. 85 Ebd., S. 6. 86 Vgl. ebd., S. 7. 87 Ebd., S. 298.
Die Aufführung im Licht der Phänomenologie | 151
»Ist einmal die Wahrnehmung als Interpretation verstanden, so ist doch der Empfindungsbegriff […] bereits definitiv überwunden, da also jedes perzeptive Bewußtsein je schon über das bloße Empfinden hinaus ist. Die Empfindung selbst ist nicht empfunden, das Bewußtsein ist stets Bewußtsein eines Gegenstandes. Zum Begriff der Empfindung gelangen wir erst, wenn wir, auf unser Wahrnehmen reflektierend, zum Ausdruck bringen suchen, daß es niemals ausschließlich unser eigenes Werk ist. […] Im Hinblick auf die Welt und der herrschenden Meinung gegenüber kann und muß die Wahrnehmung sich als Interpretation darstellen. Für das Bewußtsein selbst ist sie kein Schluß – denn die Empfindungen, die einem solchen als Prämissen dienten, gibt es nicht, ist sie nicht Interpretation, da nichts ihr zuvor gegeben ist, was sie zu interpretieren vermöchte.«88
Wahrnehmung und Interpretation, Erleben und Verstehen sind also aus der Perspektive Merleau-Pontys keine entgegengesetzten Pole, sondern miteinander verwoben. Jede Interpretation der Welt ist nur eine von vielen möglichen Interpretationen, weil sie an die individuelle Perspektive des Wahrnehmenden und die spezifische Erscheinung des Gegenstandes gebunden ist. Aus diesem Grund muss die Haltung gegenüber der Welt durch Offenheit gekennzeichnet sein, denn »Wahrnehmen, das heißt: mit einem Schlage eine ganze Zukunft von Erfahrungen in eine Gegenwart engagieren, welche uns jener nie bindend versichert, es heißt: glauben an eine Welt«.89 Nur vor dem Hintergrund der Offenheit zur Welt ist Wahrnehmung überhaupt möglich. In diesem Sinne ist die Welt der Horizont, vor dem Erfahrungen als Interpretationen der Dinge in der Wahrnehmung gemacht werden. Wahrnehmung und Erfahrung sind für Merleau-Ponty daher Synonyme. Sie konstituieren sich nicht »im Sinne eines Systems von Beziehungen, die jedes Vorkommnis in ihr [der Welt, P.K.] vollständig determinieren, sondern im Sinn einer offenen Totalität, deren Synthese unvollendbar bleibt.«90 Aus diesem Grund ist auch ein Ding der Welt »in der Wahrnehmung nicht wirklich gegeben, sondern von uns innerlich übernommen, rekonstruiert und erlebt, insofern es einer Welt zugehört, deren Grundstrukturen wir in uns selbst tragen und von der es eine der möglichen Konkretionen darstellt.«91 »Bewußtsein«, so fasst Merleau-Ponty zusammen, »ist Sein beim Ding durch das Mittel des Leibes«92. Diese Konkretion durch das Mittel des Leibes wiederum vollzieht sich im Umkreis der Situation, in der etwas wahrgenommen wird. Die Situation eröffnet das Wahrnehmungsfeld als Mög88 Ebd., S. 59. 89 Vgl. ebd., S. 345. 90 Ebd., S. 257. 91 Ebd., S. 377. Hervorhebung im Original. 92 Ebd., S. 167f.
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lichkeitsraum, wobei es der habituelle Leib ist, der die Gegenstände der Wahrnehmung konkret werden lässt: »Stets liegt das ›Etwas‹ der Wahrnehmung im Umkreis von Anderem, stets ist es Teil eines ›Feldes‹. Nie vermöchte eine schlechthin homogene Fläche, auf der durchaus nichts wahrzunehmen wäre, Gegenstand einer Wahrnehmung zu werden. Was Wahrnehmung ist, kann einzig und allein die Struktur des wirklichen Wahrnehmens lehren. Die reine Impression ist sonach nicht allein unauffindbar, sie ist unwahrnehmbar, und folglich undenkbar als Moment der Wahrnehmung.«93
Merleau-Ponty veränderte durch seine Phänomenologie der Wahrnehmung das Intentionalitätskonzept Husserls in dem Sinne, dass der Zugang zum Wesen der Dinge nicht unabhängig von der Welt als dem Horizont des Leibes und damit von Wahrnehmung und Erfahrung zu beschreiben ist. Das Wesen der Dinge, das Husserl durch die Deskription zu erfassen suchte, ist nach Merleau-Ponty an die Perspektive der Leiblichkeit gebunden. Deskription wäre demnach immer ausgerichtet auf die Reflexion der leiblichen Gebundenheit der Wahrnehmung und die Verstehensprozesse, die darin zum Ausdruck kommen. Die Perspektiven, die sich daraus für die Theaterdidaktik ergeben, wird der folgende Abschnitt aufzeigen. Theaterdidaktische Perspektiven Der wahrnehmende Mensch ist, so schreibt es die Phänomenologie der Leiblichkeit der Phänomenologie insgesamt ein, mit seiner Welt so sehr verbunden, dass diese immer den Horizont seiner Wahrnehmung darstellt. Die Wahrnehmung findet nicht als ein von den Sinnen unabhängiger kognitiver Akt statt, sondern ist eine leibliche, stellt doch der Leib das Mittel des menschlichen Zur-Welt-seins dar. Als eine erste theaterdidaktische Perspektive lässt sich daraus das Ziel ableiten, die sinnliche Wahrnehmung der Schüler in der Situation der Theateraufführung beschreiben zu lassen und zum Ausgangspunkt der Begegnung mit anderen Perspektiven auf das Wahrgenommene zu machen. Dabei macht die Theateraufführung aufgrund ihrer spezifischen Medialität die Leiblichkeit der Wahrnehmung einerseits und die leibliche Gebundenheit der menschlichen Existenz andererseits augenfällig und durch die Deskription handhabbar. Diese Möglichkeit des Aufführungsbesuches aber kann durch dessen unterrichtliche Vorbereitung gemindert werden, indem die Wahrnehmung im Voraus gelenkt wird. Wird etwa das entsprechende Drama vorab gelesen, werden die Schüler in der Theateraufführung möglicherweise nur das als relevant erachten, 93 Ebd., S. 22. Hervorhebung im Original.
Die Aufführung im Licht der Phänomenologie | 153
was sich auf Text- und Aufführungsebene vergleichen lässt. Weil die kognitivintellektuelle Leistung, die dieses Vorgehen fordert und die darin besteht, die Wahrnehmungen und Erfahrungen hinsichtlich bestimmter sekundär gegebener Kategorien zu selektieren, einseitig betont wird, kann es zur Vernachlässigung der spezifischen Materialität der Theateraufführung, ihrer sinnlichen Wahrnehmung und der ihr eigenen Erkenntnismöglichkeit kommen. In der Aufführung wird immer schon etwas als etwas wahrgenommen, das damit im Moment der Wahrnehmung bereits als etwas Bestimmtes bedeutsam ist. Diese Bedeutsamkeit wiederum resultiert aus dem In-der-Welt-sein und der leiblich gebundenen Perspektive, mit denen der Mensch in einer bestimmten Situation anwesend und verortet ist. Ob ein Schüler seinen Lehrer in der Situation der Schule wahrnimmt oder einen Schauspieler in der Atmosphäre des Theaters, beeinflusst auch die Bedeutung, die dem Wahrgenommenen zugeschrieben wird. Aus diesem Grund weist die Phänomenologie der Leiblichkeit darauf hin, dass ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung die Leibgebundenheit des Menschen und sein leibliches In-der-Welt-sein berücksichtigen muss. Dies impliziert, die Perspektivität jeder Wahrnehmung ebenso zu beachten wie die Welt als den je individuellen Horizont der Wahrnehmung und Bedeutungsbeilegung. Es impliziert für die Theaterdidaktik aber auch, dass Schüler nur dann einen Zugang zur Theateraufführung finden, wenn sie diesem Gegenstand auch wirklich leiblich und nicht anderweitig medial vermittelt begegnen. Wenn nämlich die Wahrnehmung an die Situativität gebunden ist und das, was wahrgenommen wird, auch von der Situation her mitbestimmt wird, dann ist das Wesen der Theateraufführung nur im Umgang mit diesem Medium und der Erfahrung seiner spezifischen Medialität und Materialität zu erschließen. Ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung bietet der Theaterdidaktik also die Möglichkeit, ausgehend von der Auseinandersetzung mit der spezifischen Medialität und Materialität der Theateraufführung, sowohl den Gegenstand zu erschließen als auch die Medialität und Materialität anderer Gegenstände des Deutschunterrichts zu thematisieren. Damit zeigt sich, dass ein phänomenologischer Zugang nicht allein auf den Gegenstand Theateraufführung begrenzt ist, sondern sich auch die Möglichkeit ergibt, über diesen Gegenstand hinausgehende Perspektiven zu formulieren. Was hinsichtlich der Intentionalität und Leiblichkeit der Wahrnehmung grundsätzlich für viele mögliche Gegenstände des Deutschunterrichts gilt, wenn sie phänomenologisch analysiert werden sollen, wird doch besonders dort auffällig, wo die Gegenstände selbst diese Aspekte der Wahrnehmung herausstellen. Im Falle der Theateraufführung geschieht dies durch ihre Grundbedingung der leiblichen Ko-Präsenz, ihre Ereignishaftigkeit, ihre Performativität und dadurch, dass sie unmittelbar vergeht.
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Vor dem Hintergrund des Gesagten zeigt sich das Oszillieren der Wahrnehmung in der Theateraufführung, von dem Fischer-Lichte spricht, als Aufmerksamkeit für unterschiedliche Perspektiven, die gegenüber dem Wahrgenommenen eingenommen werden können. Am Beginn des Oszillierens steht allerdings die sinnliche Wahrnehmung als das Fundament, das selbst schon eine vom Gegenstand ausgehende Bedeutung erfasst. Leiblich und sinnlich wahrzunehmen und dabei neben der kognitiven insbesondere die körperliche und affektivemotionale Dimension der Wahrnehmung aufzugreifen, ergibt sich als Konsequenz einer Berücksichtigung der Phänomenologie der Leiblichkeit. Um dabei nicht dem Gedanken zu erliegen, dass letztlich doch der sinnlichen Wahrnehmung allein die Rolle der Bedeutungsbeilegung zukommt, ist die bisher gezeichnete Skizze der Phänomenologie um den Gedanken der Responsivität zu erweitern, der von Waldenfels zum Kern seiner Phänomenologie gemacht worden ist. 3.2.3 Responsivität der Wahrnehmung Sein Konzept entwickelt Waldenfels vor allem in seinem Werk Antwortregister94. Darin ergänzt er die Phänomenologie um den Gedanken der Responsivität, den er in Auseinandersetzung mit dem Intentionalitätsbegriff Husserls und im Anschluss an die Phänomenologie der Leiblichkeit Merleau-Pontys gewinnt. Husserls Intentionalitätskonzept nämlich war immer wieder der Vorwurf gemacht worden, es sei letztlich doch zu einseitig auf die Rolles des Subjektes fokussiert und nehme damit den Einfluss des Gegenstandes auf den Wahrnehmungsakt nicht in der Weise ernst, in der es sie propagiere. Waldenfels verknüpft daher das Intentionalitätskonzept mit der Leiblichkeit der Wahrnehmung. Responsivität Den Ausgangspunkt seiner Überlegungen bilden bei Waldenfels zunächst Sprach- bzw. Sprechakttheorien, deren bedeutsamste Neuerung er in der Wende zum Sprachpragmatismus sieht.95 Waldenfels wendet sich dabei vor allem Austin und Searle zu, weil sie den Primat der Bedeutungsintention und der Darstellungsfunktion der Sprache überwinden, um dann im Anschluss an Searle Fragesätze als einen speziellen Fall von Aufforderung zur Wissensauskunft bzw. zur Information zu definieren.96 Im Fall der Fragesätze nämlich ist die Darstellungsfunktion der Frage dadurch überwunden, dass hinter der Darstellung des propositionalen Gehaltes eine Aufforderung steht, jeder Fragesatz also ohne Gehaltsver94 WALDENFELS: Antwortregister. 95 Vgl. ebd., S. 45ff. 96 Vgl. ebd., S. 51.
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lust in einen Aufforderungssatz umgewandelt werden kann. Dadurch öffnet sich der Fragesatz auf eine interpersonale Ebene hin: »Die Frage ›Wer ist der erste Präsident der Vereinigten Staaten (=x)?‹ bzw. die Aufforderung ›Sag mir, wer x ist!‹ impliziert: ›Ich weiß nicht, wer x ist‹ und ›Ich möchte wissen, wer x ist‹. Schließlich zielt die Frage ab auf einen Aussagesatz, nämlich auf die Antwort: ›y ist x‹, und hinzu kommen Präsuppositionen wie ›Es gibt einen x‹, die in der Frage selbst liegen.«97
Diese Unterscheidung der Sprechakttheorie aufgreifend, trennt Waldenfels zwei Antwortmöglichkeiten auf den Fragesatz voneinander: die Möglichkeit der Answer, »die durch Entscheidung der Wahrheitsfrage bzw. durch Vervollständigung der Proposition die Informationslücke im Wissensstand des Sprechers wunschgemäß schließt«, und die Möglichkeit der Response, »die sich auf eine Reihe von Aufforderungsakten bezieht und deshalb auch zu einer entsprechenden Erweiterung des Fragekonzeptes einlädt«.98 Hinsichtlich der Analyse einer konkret gegebenen Antwort bedeutet das, dass sich die in der Antwort hervortretende Information, das Was der Antwort, von der in der Antwort hervortretenden Aufforderung, dem Worauf der Antwort, unterscheiden lässt. Die Differenz zwischen dem Was und dem Worauf bezeichnet Waldenfels mit dem Begriff der »responsiven Differenz«99 der Antwort, was im Deutschen der Unterscheidung von antworten und beantworten entspricht.100 Wird eine Frage beantwortet, so wird im Sinne der Answer eine Wissenslücke beim Fragenden geschlossen, die der Grund der Frage war. Im Sinne der Response aber wird auf eine Frage geantwortet, deren Intention nicht die Abfrage eines propositionalen Gehaltes gewesen ist, sondern verschiedene Aufforderungsakte. Sowohl im Fall der Answer als auch im Fall der Response besteht zwischen der Frage und der Antwort jedoch eine Beziehung der Anknüpfung, indem der Antwortende den propositionalen Gehalt der Frage, also das befragte Thema, und den Frageaspekt aufgreift und die Fragebewegung somit fortsetzt.101 Dabei unterscheidet Waldenfels bei diesem Phänomen bewusst zwischen den Begriffen Anknüpfung und Verknüpfung:
97
Ebd., S. 55.
98
Vgl. ebd., S. 58.
99
Ebd., S. 332. Hervorhebung im Original.
100 Vgl. ebd., S. 190ff. 101 Vgl. ebd., S. 233.
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»Indem wir etwas sagen, knüpfen wir an Gesagtes/Gehörtes an, und wiederum ist das, woran die Antwort anknüpft, nichts anderes als das, woran sie anknüpft […]. Das Woran der Anknüpfung ist kein separates Was wie bei der Verknüpfung, die Gegebenes miteinander verbindet […]. Dies besagt, daß die [als passiv zu bezeichnende, P.K.] Beziehung [zwischen Frage und Antwort, P.K.] (a) sich lateral und seriell ausbreitet und nicht vertikal zu einer Architektonik zuspitzt, daß sie (b) durch keine dritte Verbindungsinstanz hergestellt wird und daß sie (c) nicht-reziprok ist und nicht wechselweise in beiden Richtungen durchlaufen wird wie bei übereinstimmenden Äußerungen, wo Zustimmung nur einen Moment der Übereinstimmung ausmacht.«102
Damit ist ein Blickwechsel vorgenommen, der die Grundlage der phänomenologischen Responsivitätstheorie darstellt: Bei der Analyse von Frage und Antwort geht es nicht mehr um die Frage als Ausdruck eines Mangels an etwas, sondern um die Antwort, die auf einen Anspruch der Frage antwortet, verstanden »als das, worauf die Antwort geht und wem sie gilt«103. Nach diesem Verständnis ist die Frage als responsiv aufzufassen, denn sie vermag bereits die Antwort auf einen Anspruch zu sein, dem das zur Frage führende Interesse gilt. Im Vergleich zu den Sprach- und Sprechakttheorien, auf die er sich bezieht, besteht also nach Waldenfels weder der Primat der Frage weiter noch wird der Primat der Frage durch einen Primat der Antwort ausgetauscht: »Jedes Prius entfällt, wenn das Antworten selbst in nichts anderem besteht als in dem Eingehen auf fremde Ansprüche; und auch das Fragen, das nicht ins beliebige ausschweift, wäre in diesem Sinne noch ein Antworten. Wenn es hier Höhen und Tiefen und zeitliche Verschiebungen gibt, so müßten sie aus dem Zwischen von Antwort und Anspruch selbst hervorgehen. Das Antworten auf einen Anspruch, das durch keine Zielstrebigkeit oder Regelhaftigkeit, durch keine vorweggenommene Lösungsmöglichkeit und durch keine Selbstermöglichung geschaffen wird, stellt uns weiterhin vor die Frage, wie das ›und‹ von Frage und Anspruch zu verstehen ist. Wenn kein vorgängiges Ziel-, Sinn- oder Kausalkontinuum beide durchzieht und keine normative Klammer sie vorweg schon vereint, so reicht weder das Eigene noch das Gemeinsame aus, den Riß zwischen Antwort und Anspruch zu heilen und den Hiatus zu überbrücken.«104
Das Zwischen von Antwort und Anspruch macht aus dem Frage- und Antwortereignis ein »Zwischenereignis«. Von Zwischenereignissen ist bei Waldenfels immer dann die Rede, »wenn nicht bloß ein Ereignis mit oder nach einem ande102 Ebd. 103 Ebd., S. 193. 104 Ebd., S. 193f. Hervorhebung im Original.
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ren auftritt, sondern das Ereignis als solches an andere Ereignisse anknüpft, so daß sich zwischen ihnen etwas abspielt, was weder dem einen noch dem anderen Ereignis noch einer Drittinstanz zugeschrieben werden kann«105. In diesem Zusammenhang wird die Unterscheidung von Answer und Response für die phänomenologische Position relevant. »Während Antwort- und Fragegehalt teilweise zur Deckung kommen und zueinander passen müssen, damit überhaupt eine Antwort zustande kommt, klafft zwischen Anspruch und Antwortgeben (response) eine unüberbrückbare Kluft. Die Ereignisse von Frage und Antwort mögen einander entsprechen, so daß die Antwort den Anspruch trifft, doch als Zwischenereignis bleiben sie disparat.«106
In das Zwischenereignis spielt eine Dimension der Affiziertheit hinein, die Waldenfels als pathische Dimension bezeichnet und die in der Auseinandersetzung mit dem Ereignisbegriff als Widerfahrnischarakter des Ereignisses identifiziert wurde. Da Waldenfels mit den Polen Pathos und Response das Ereignis noch schärfer zu konturieren vermag und der Begriff des Pathos für das Verständnis der Responsivitätstheorie von großer Bedeutung ist, soll er im Folgenden dargelegt und mit dem ebenfalls zentralen Begriff der Response in Verbindung gebracht werden. Der fremde Anspruch (Pathos) und die Antwort (Response) Anders als im Intentionalitätskonzept, in dem der Wahrnehmende eine aktive Rolle innehat, betont Waldenfels in seinem Responsivitätskonzept den Widerfahrnischarakter der Wahrnehmung. Widerfahrnis und Antwort definiert er als die zwei Pole seines Modells mit den Begriffen Pathos und Response, wobei ihm Pathos als das Fremde gilt, das sich in der Erfahrung zeigt und das sich »jenseits der Ordnung« ausbreitet, die eine Erscheinung als etwas verortet und durch die »unser Leben, unsere Erfahrung, unsere Sprache, unser Tun und unser Schaffen Gestalt annimmt«.107 Weil das Fremde also an die jeweils individuell vorhandene Ordnung gebunden ist, konstituiert es sich immer im Hier und Jetzt, »von dem aus jemand spricht, handelt und denkt«108, und steht damit in enger Verbindung mit der Situativität der Wahrnehmung. Das Fremde ist der Anspruch, an den die Response anknüpft. Es ist deshalb nur über diese Response des Wahrnehmenden identifizierbar und liegt zunächst nicht als klar definierbares Objekt der Wahr105 Ebd., S. 234. 106 Ebd., S. 242. 107 Vgl. WALDENFELS: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 15. 108 WALDENFELS: Topographie des Fremden, S. 23.
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nehmung vor, sondern vielmehr als Entzug, weil es sich der vorhandenen Ordnung, dem Eigenen, entzieht.109 Jede Art von Erfahrung gilt Waldenfels als Ausdruck davon, dass ein Rezipient von etwas Fremden getroffen ist, und dieses Getroffensein, also das Widerfahrnis, in dem etwas als Abwesendes in Erscheinung tritt, bezeichnet er als Pathos. »[W]as wir ›Widerfahrnis‹ nennen, bringt uns auf einen Weg besonderer Art. Dieser Weg öffnet sich, wenn wir das pathische Ereignis des Widerfahrnisses als Getroffensein zu denken versuchen. […] Was uns zustößt oder zufällt, ist immer schon geschehen, wenn wir darauf antworten.«110
Daraus entsteht eine unübersehbare Nähe zum Ereignisbegriff, wie er im Anschluss an Seel im Kontext der Definition der Aufführung bereits entwickelt worden ist. Weil es dem Wahrnehmenden unkontrolliert und unkontrollierbar entgegentritt, erscheint im Widerfahrnis etwas, »bevor es als etwas aufgefaßt, verstanden oder abgewehrt wird«, weshalb die Deutung des Wahrgenommenen nicht das Wahrgenommene selbst ist.111 Widerfahrnisse sind an sich bedeutungslos und werden erst nach ihrem Erscheinen durch die Antwort, die darauf gegeben wird, mit einer bestimmten Bedeutung versehen. Jegliche Form antwortenden Handelns auf das Widerfahrnis ist eine Response, wenn auch das Verhältnis zwischen Pathos und Response nicht chronologisch zu sehen ist. Denn Waldenfels lehnt alle Kausalverbindungen oder chronologische Ordnungen ab. Für ihn ist das Pathos vielmehr ein »Geschehen […], in das wir wohl oder übel auf immer verwickelt sind«.112 Erscheinen und Antworten, Pathos und Response sind jedoch trotzdem voneinander unterscheidbar. Waldenfels macht dazu eine Bruchstelle aus, die zwischen beiden Polen ihren Platz hat und vor allem die zeitliche Verschiebung der Erfahrung implementiert. Weil es ihm widerfährt, weil der Rezipient vor seiner Deutung des Ereignisses von diesem getroffen wird, ist das Pathos immer mit einem Moment zeitlicher Vorgängigkeit verbunden: »Was uns zustößt oder zufällt, ist immer schon geschehen, wenn wir darauf antworten. Eben deshalb hat jede Bezugnahme auf Widerfahrnisse einen indirekten Charakter, sie geschieht aus einem zeitlichen Abstand heraus. Widerfahrnisse sind keine Wunderdinge, auf die wir einladend oder warnend mit dem Finger zeigen können. Einladung und Warnung 109 Vgl. ebd., S. 30. 110 WALDENFELS: Bruchlinien der Erfahrung, S. 56. Hervorhebung im Original. 111 Ebd., S. 33. 112 Vgl. ebd., S. 9.
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kämen entweder zu früh oder zu spät. Widerfahrnisse gleichen einer Wunde, die wir schon empfangen haben, wenn wir sie vorweisen.«113
Dies legt den Schluss nahe, dass der Wahrnehmende dem Widerfahrnis vollkommen passiv ausgeliefert ist, wogegen sich Waldenfels ebenso verwahrt wie gegen Kausalitätsvorstellungen. Die radikale Ausformulierung des Widerfahrnischarakters im Responsivitätskonzept lässt ihn das Getroffensein vielmehr als »Vorgängigkeit einer Wirkung [denken, P.K.], die ihrer Ursache vorausgeht«114. Das bedeutet, dass erst in der Response »auf das, wovon wir getroffen sind, […] das, was uns trifft als solches zutage [tritt]«115. Das Antworten ist also dem Getroffensein zeitlich nachgeordnet, hat seinen Ausgangspunkt im Anderen, »als eine Wirkung, die ihre Ursache übernimmt«.116 Hier macht sich jedoch die Besonderheit des Erfahrungsbegriffes bei Waldenfels bemerkbar, denn Erfahrung definiert er als »eine einzige gegenüber sich selbst verschobene Erfahrung«117. Daraus resultiert eine kreative Dynamik, die das Kennzeichen jeder Erfahrung im phänomenologischen Sinne ist: »Phänomenologisch betrachtet, besteht Erfahrung darin, daß etwas als etwas auftritt und somit bedeutsam wird und daß etwas in etwas erstrebt und somit begehrenswert wird. Gemeinhin wird die Erfahrung dadurch in Gang gehalten, daß sie jeweils auf etwas aus ist und daß es jemandem an etwas mangelt.«118
Im zeitlich gegeneinander verschobenen Aufeinandertreffen geschieht etwas, das aufschrecken, anrühren, angehen, ansprechen, trennend verbinden oder verbindend trennen kann.119 Nach Waldenfels muss das Aufeinandertreffen von Pathos und Response als etwas Prozessuales gedacht werden, als »ein Riß ohne etwas, das zerreißt, als Spalt ohne etwas, das sich aufspaltet, als Pause, ohne etwas, das aufhört oder wieder beginnt, als Abweichung ohne etwas, das abweicht – und so eben auch als Diastase, ohne etwas, das auseinandertritt.«120 Das vorgängige Getroffensein des Wahrnehmenden und seine nachträgliche Antwort darauf kulminieren in einer einzigen Erfahrung, welche die chronologische Ordnung zusam113 Ebd., S. 56. 114 Ebd., S. 58. 115 Ebd., S. 59. 116 Vgl. ebd. 117 WALDENFELS: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 50. 118 WALDENFELS: Bruchlinien der Erfahrung, S. 378. Hervorhebung im Original. 119 Vgl. ebd., S. 174. 120 Ebd. Hervorhebung im Original.
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menführt, ohne sie aufzulösen. Denn das vorgängig sich ereignende Pathos wird erst in der nachträglichen Antwort darauf zu dem, als das es sich ereignet hat. Ohne dieses vorgängige Widerfahrnis aber wäre eine Antwort überhaupt nicht möglich gewesen. Die Diastase ist also ein Differenzierungsprozess, »in dem das, was unterschieden wird, erst entsteht«121. In diesem Prozess der Erfahrung lassen sich mit Waldenfels zahlreiche weitere Bruchstellen ausmachen, an denen das diastatische Geschehen auseinanderklafft und sich in verschiedenen Dimensionen ausbreitet.122 Innerhalb des Risses zwischen vorgängiger Affizierung und nachträglicher Antwort, der »Urdiastase«123, ist es die Auseinandersetzung mit diesen Bruchstellen, welche die Bedeutung beeinflusst, die in der artikulierten Erfahrung zur Sprache kommt. Es ist also das »Wovon des Getroffenseins […] nicht etwas, was mit dem Worauf des Antwortens zu identifizieren wäre, so wie der Erleidende nicht schlicht der oder dieselbe ist wie der Antwortende«124. Zwischen pathischem Ereignis und der Antwort darauf »breitet sich ein Geflecht aus, das aus Aufforderungen und Appellen, aus Intentionen und Bestrebungen besteht« und in dem sich Bedeutung konstituiert.125 So ist das Pathos nicht als eine Eigenschaft zu verstehen. Genauso wenig aber ist es eine rein subjektive Einbildung des Wahrnehmenden, die davon unabhängig wäre, ob es einen Gegenstand gibt oder nicht. Das Pathos begegnet »zunächst nicht als etwas, das wir meinen, verstehen, beurteilen, abwehren oder begrüßen, sondern es bildet den Zeit-Ort, von dem aus wir all dies tun, indem wir darauf antworten«.126 Damit ist aber auch im Pathos kein eindeutiger Sinn verborgen, der eine Antwort als richtig oder falsch qualifizieren würde. Das Widerfahrnis ist »nicht etwas, das aus der Erfahrung stammt oder unter bestimmten Bedingungen in der Erfahrung gegeben ist, es ist die Erfahrung selbst, sofern sie sich selbst entgleitet«127. Mit dieser Definition des Pathos ist die Position eines durch seinen Vernunftgebrauch autonom zu nennenden Subjektes in Frage gestellt:
121 Ebd. 122 Vgl. ebd., S. 175. 123 Ebd., S.10. 124 Vgl. ebd., S. 178. 125 Vgl. ebd., S. 178f. 126 Vgl. WALDENFELS: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 50. Hervorhebung im Original. 127 WALDENFELS: Bruchlinien der Erfahrung, S. 173. Hervorhebung im Original.
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»Das Pathos untergräbt die Position eines Subjekts, das in Autonomie, Selbstsetzung und Eigenhandlung seine Freiheit sucht. Die Diastase bildet den Kontrapunkt zu einem Vernunftdenken, das einzig in der Synthesis, der Komposition, seine ordnende Kraft entfaltet.«128
Das Zwischenereignis, das in der Erfahrung versprachlicht wird, speist sich nicht durch die Aktivität von Individuen oder Gruppen. Es kann aber auch nicht »auf eine vermittelnde Ordnungsinstanz, noch auf codierte Regelungen zurückgeführt werden«129. Hinter dem pathischen Widerfahrnis und dem Antworten steht »keine Korrespondenzregel, aber auch keine spontane, geheime Ent-sprechung [sic!]«, was eine große Bandbreite des Antwortens möglich macht. 130 Zwar gibt es durch die Bindung an das Widerfahrnis eine passende oder eine unpassende Antwort, es gibt jedoch kein passendes oder unpassendes Antworten. 131 Antworten ist deshalb immer schöpferisches Antworten, »sofern wir Antworten in der offenen Form der Anknüpfung erfinden«132. Zugleich spricht Waldenfels vom antwortenden Schöpfen, »sofern diese Schöpfungen und Erfindungen woanders beginnen, im Bereich des Pathischen, das in Aufforderungen übergeht und einen eigenen Zwang ausübt, den wir als Unausweichlichkeit bezeichnet haben.«133 Der Antwortende ist, wenn er den Anspruch wahrnimmt, gezwungen, eine Antwort zu erfinden, in der sich Anspruch und Antwort aufeinander beziehen, aber nicht zu einem eindeutigen Konsens gebracht werden können. Daraus entsteht das »Paradox einer kreativen Antwort, in der wir geben, was wir nicht haben«134 und in welcher der Antwortende das Worauf seiner Antwort dadurch bestimmt, dass er antwortet.135 Pathos und Response lassen sich demnach nicht nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung trennen, sondern stellen ein Doppelereignis dar.136 Damit ist ein Grundzug der Responsivität herausgearbeitet, der über das konkrete Sprachgeschehen hinausgeht, von dem Waldenfels ausging. Das Neue dieses Konzeptes im Vergleich zu früheren phänomenologischen Positionen ergibt sich aus der Gegenüberstellung von Responsivität und Intentionalität. 128 Ebd., S. 10. 129 Ebd., S. 174. 130 Vgl. ebd., S. 239. 131 Vgl. ebd. 132 Ebd. 133 Ebd. 134 WALDENFELS: Topographie des Fremden, S. 109. 135 Vgl. ebd., S. 67. 136 Vgl. WALDENFELS: Sinne und Künste im Wechselspiel, S. 111.
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Zwar kritisiert Waldenfels das von Husserl entwickelte Intentionalitätskonzept, jedoch wird im Folgenden gezeigt, dass seine Überlegungen zu einer Phänomenologie der Responsivität vielmehr dessen Ergänzung darstellen. Intentionalität und Responsivität Das Verhältnis von Intentionalität und Responsivität kann zunächst dadurch schärfer konturiert werden, dass der Blick erneut auf den sprachphilosophischen Ausgangspunkt der Überlegungen bei Waldenfels gerichtet wird. Dieser nennt auf der Grundlage der engsten möglichen Definition des Antwortbegriffes, dass nämlich eine Antwort eine in sprachlicher Form geäußerte Frage ebenfalls in sprachlicher Form beantwortet, vier Ausweitungen dieser Definition, die seine Untersuchung ergeben hat:137 Eine erste Ausweitung zeigt sich in dem Fall, dass die Antwort sprachlich auf den Anspruch eingeht, der in einer Frage zum Ausdruck kommt. Mit dieser Unterscheidung ist der erläuterte Unterschied zwischen Answer und Response aufgenommen. Eine zweite Ausweitung erfährt das Antworten durch die Definition, dass nicht auf eine Frage, sondern auf irgendeine andere sprachliche Äußerung geantwortet wird, die einen Anspruch darstellt. Mit dieser Definition ist der strenge Bezug zum Wechsel von Frage und Antwort verlassen und auch das Fragen selbst kann eine Antwort auf einen Anspruch darstellen. Umgekehrt beinhaltet aber jede Äußerung auch ein Moment der Frage, weil sie weitere Äußerungen provozieren kann, die auf einen identifizierten Anspruch antworten. Waren die bisher genannten Ausweitungen noch auf der sprachlichen Ebene verortet, wird diese Ebene in der dritten Ausweitung überschritten. Antworten ist demnach jedes Eingehen auf einen Anspruch, der in einer sprachlichen Äußerung zum Ausdruck kommt. Gemeint sind damit nonverbale Frage- oder Antworthandlungen, die allerdings noch an verbale Äußerungen anknüpfen. In der letzten Ausweitung gelten Antworten als verbales oder non-verbales Eingehen auf einen Anspruch, der sich sprachlich, vor- oder außersprachlich ausdrücken kann. Damit ist die sprachliche Ebene ganz verlassen. Dies wäre der Fall, wenn etwa in einem Blickkontakt Frage und Antwort ausgetauscht würden. Bereits anhand dieser Ausweitungen zeigt sich ein Unterschied zwischen dem Konzept der Intentionalität und dem der Responsivität. Denn bezogen auf das Phänomen Antwort entspricht dem Intentionalitätskonzept lediglich die engste Definition bei Waldenfels, weil das Antworten als intentionaler Akt verstanden werden muss, der sich auf eine Frage bezieht. 138 Waldenfels selbst hingegen plädiert dafür, »das Antworten im weiteren Sinne der Response als gene137 Zum Folgenden vgl. WALDENFELS: Antwortregister, S. 320ff. 138 Vgl. ebd., S. 323.
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rellen Grundzug sprachlicher bzw. außersprachlicher Akte und Handlungen zu begreifen, eben als Responsivität«.139 Ausgehend von den unterschiedlichen Fragestellungen der Responsivitätsund Intentionalitätstheorie tritt der Unterschied zwischen beiden Konzepten noch deutlicher hervor.140 Denn das Intentionalitätskonzept ist besonders auf das Woraufhin der Intentionalität ausgerichtet, also auf den Sinn, der mittels verschiedener Akte konstituiert wird. Der intentionale Akt wäre daher – mit dem Vokabular der Responsivitätstheorie gesprochen – eine Frage, die durch die Beschreibung der Bewusstseinsbildung des Intendierten beantwortet wird, denn einen Gegenstand als ihn selbst wahrzunehmen, bedeutet, ihn auf ihn selbst hin wahrzunehmen. Die leitende Fragestellung der Intentionalität nach dem Woraufhin tritt nun mit den Fragen der Responsivität insofern in Konkurrenz, als es die Absicht des mit dem Konzept der Responsivität einhergehenden Blickwechsels ist, »das Woraufhin einer Sinnesintention […] aus seiner beherrschenden Stelle zu verdrängen«141. Dadurch, dass mittels der responsiven Differenz das Was und das Worauf einer Antwort getrennt werden, ist ausgeschlossen, was das Intentionalitätskonzept verspricht: dass nämlich die subjektive Intention zu einer Erfüllung kommen kann. Waldenfels zufolge bedeutet die Fremderfahrung, von der aus er seine Überlegungen begonnen hatte, »keinen Akt, den wir uns zuschreiben können, sie besteht aus singulären Ereignissen, die unseren Intentionen zuvorkommen, sie durchkreuzen, von ihnen abweichen, sie übersteigen«.142 Wenn Fragen und Antworten als Zwischenereignisse aufgefasst werden, ist die vom Subjekt ausgehende intentionale Gerichtetheit durchbrochen und zugleich die von Husserl begründete Auffassung in Zweifel gezogen, dass der intentionale Akt eine vom wahrnehmenden Ich steuer- und planbare Handlung ist. Vielmehr ist es das Verdienst von Waldenfels und seinem Konzept, die Phänomenologie für das Ungeplante und gewissermaßen Unintendierte geöffnet zu haben, ist doch die Anknüpfung einer Antwort an den dahinter liegenden Anspruch ohne Ziel-, Sinnund Kausalkontinuum zu denken. Bezogen auf die Fragestellung dieser Arbeit ist damit Entscheidendes gewonnen. Denn erst mit dem phänomenologischen Responsivitätskonzept ist ein wahrgenommener Gegenstand als Ausgangs- und Bezugspunkt von Erkenntnisprozessen ernst genommen. Gleichzeitig ist die Wahrnehmung aber vor allen Dingen durch die Leiblichkeit auf beiden Seiten bestimmt. Die Leiblichkeit des 139 Vgl. ebd., S. 324. Hervorhebung im Original. 140 Zum Folgenden vgl. WALDENFELS: Topographie des Fremden, S. 329f. 141 Ebd., S. 332. 142 Vgl. ebd., S. 51. Hervorhebung im Original.
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Wahrnehmenden weist ihm eine Perspektive zu, aus der heraus er die Gegenstände wahrnimmt. Der Anspruch eines Gegenstandes aber, der je nach seiner Erscheinung und der Perspektive, die er eröffnet, von Subjekt zu Subjekt verschieden ist, lässt nur bestimmte wahrnehmbare Eigenschaften dieses Gegenstandes sichtbar und damit auffällig werden. Weil nun also das Responsivitätskonzept das Intentionalitätskonzept durch die Herausstellung der Bedeutung ergänzt, die aus der Erscheinung des Gegenstandes resultiert, lassen sich aus ihm auch theaterdidaktische Perspektiven ableiten, die sich von den übrigen dadurch unterscheiden, dass sie den Umgang mit dem Fremden fokussieren, das im Pathos erscheint und in der Response zum Ausdruck kommt. Bevor jedoch auf diese Perspektiven eingegangen werden kann, soll der Blick zunächst auf die Auswirkungen gelenkt werden, die dieses Konzept auf die Wahrnehmung der Theateraufführung hat. Responsivität und die Wahrnehmung der Theateraufführung Vor dem Hintergrund des Responsivitätskonzepts lässt sich der Gegenstand der Theateraufführung aus theatertheoretischer Sicht weiter schärfen, denn es stellt auch die Grundlage des phänomenologischen Zugangs dar, den Roselt in seiner Phänomenologie des Theaters beschreibt. Darin warnt er vor der mit FischerLichtes Modell aus seiner Sicht verbundenen problematischen Annahme, dass die Wahrnehmung einem regelgeleiteten Automatismus unterliegt, den die Herkunft des Feedback-Begriffes aus der Kybernetik implizieren könnte.143 Da Roselt sich nur kurz dem Verhältnis zwischen Feedback-Schleife und Responsivität widmet, die Auseinandersetzung mit diesem Verhältnis allerdings zur Modellierung des phänomenologischen Zugangs im theaterdidaktischen Kontext notwendig ist, wird darauf nun noch ausführlicher eingegangen. Roselt wendet sich insbesondere gegen die Annahme, dass sich die Feedback-Schleife als »Kontinuität eines geregelten mithin harmonischen Anschlusses« vollzieht, womit die responsive Differenz außer Acht gelassen würde, die mit dem Responsivitätskonzept einhergeht.144 Denn mit der Vorstellung, dass die Wahrnehmung in der Theateraufführung auf einer Feedback-Schleife beruht, ist zugleich die Annahme eines kausalen und chronologischen Vollzugs verbunden. Diese Kritik äußert auch Waldenfels, der gegen den Begriff des Feedbacks den Begriff der Diastase stark macht, die sich »durch keine Ziel- oder Regelordnung überbrücken [lässt], und […] auch den Regelkreis [sprengt], der sich im Feedback aus sich selbst speist«145. 143 Vgl. ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S.195. 144 Vgl. ebd. 145 WALDENFELS: Phänomenologie der Aufmerksamkeit., S. 188.
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Was in der Theateraufführung in körperlicher, affektiv-emotionaler oder kognitiv-intellektueller Dimension wahrnehmbar ist und aus phänomenologischer Perspektive nicht unmittelbar auf Urteile, Wahrheiten oder Inhalte ausgerichtet sein muss, kennzeichnet Erfahrungen, die im Rückgriff auf das Konzept der Responsivität deutlicher zu beschreiben sind, als dies mit dem Konzept der autopoietischen Feedback-Schleife geschehen kann. Denn das Hauptmerkmal des Responsivitätskonzepts ist die Auffassung, dass das Verhältnis von Anspruch und Antwortgeben durch eine responsive Differenz bestimmt ist und nicht auf einem autopoietischen Feedback beruht. Die Disparatheit, die in diesem Kontext für die Beziehung zwischen Anspruch und Antwortgeben festgestellt wurde, lässt jede Vorstellung eines Dialoges im Sinne eines permanenten Austauschs von Informationen in Form einer Schleife fragwürdig erscheinen. Die Feedback-Schleife suggeriert jedoch diesen Austausch, der im Sinne des Responsivitätskonzepts dem Verhältnis von Frage und Antwort als Answer entspricht. Damit käme aber abhanden, wofür das Responsivitätskonzept im Kern steht: die Offenheit für das Ungeplante und Unintendierte des Ereignisses ohne die dazu notwendige Annahme eines Kausalkontinuums und chronologischen Ablaufes. Das Unintendierte und Ungeplante zeichnet allerdings gerade auch die Theateraufführung als Gegenstand aus, weshalb auf dessen Wahrnehmung auch und gerade im Blick auf theaterdidaktische Perspektiven nicht verzichtet werden kann. Der Nachteil, der im Modell der autopoietischen Feedback-Schleife für den Umgang mit der Theateraufführung liegt, besteht also darin, die mit ihm verbundene Kausalität zwischen einem Anspruch und der darauf folgenden Antwort rekonstruieren zu wollen und die Aufführung auf ein Geflecht von Ursache und Wirkung zu beschränken. Das Fremde bliebe vor diesem Hintergrund leicht unberücksichtigt, denn im Hinblick auf die Beschreibung von Erfahrungen während der Theateraufführung würde davon ausgegangen werden, dass vor dem Hintergrund der Feedback-Schleife diese Erfahrungen Wirkungen darstellen, die kausal aus den Ansprüchen der Gegenstände resultieren. Kausalität und Kontinuität sind also Eigenschaften, die mit der Vorstellung einer autopoietischen Feedback-Schleife verbunden sind. Damit aber widerspricht dieses Modell einem phänomenologischen Zugang zur Erfahrung, wie er sich aus dem Responsivitätskonzept ergibt. Wenn nämlich die Erfahrung Polen wie Kausalität und Kontinuität sowie Ursache und Wirkung unterliegt, dann müsste es möglich sein, ihren zeitlich vor der Erfahrung selber liegenden Auslöser im Nachhinein bestimmen zu können. Die Erfahrung selbst jedoch – so die Pointe des Responsivitätskonzepts – ist als Zwischenereignis weder vor- noch nachgängig, sondern in sich zeitlich verschoben. Die Ursache lässt sich damit erst aus der Erfahrung selbst
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rekonstruieren und nicht allein daraus, dass der Auslöser für ein bestimmtes Feedback identifiziert wird. Aus diesem Grund stellt das Modell der Responsivität in einem wesentlichen Punkt ein Gegenmodell zur autopoietischen FeedbackSchleife dar: Es zielt ganz auf die Spontaneität und das Widerfahrnis des Ereignisses ab, in dem Sinn in der sinnlichen Wahrnehmung entsteht. Wären Responsivität und Feedback-Schleife synonyme Konzepte, wäre das Pathos als Autopoiesis und die Response als deren Reflexion aufzufassen. Waldenfels betont jedoch: »Das Doppelereignis von Pathos und Response entschlüpft aber auch der systemischen Zirkularität einer Autopoiesis, die auf eine ›Aufmerksamkeitsaufmerksamkeit‹, eine ›reflexiven [sic!] Aufmerksamkeit‹ oder eine ›Aufmerksamkeit auf Aufmerksamkeit‹ hinausläuft. Pathos bedeutet nicht Autopoiesis, Response nicht Reflexion.«146
Man antwortet auf etwas, das auffällt, aber erst in der Antwort wird das auffällig, worauf geantwortet wird.147 Waldenfels lehnt also den Regelkreis des Feedback ab, weil »[z]wischen dem Wem-Status des ›Patienten‹, dem etwas zustößt oder zufällt, und dem Wer-Status dessen, der darauf eingeht, sich abschirmt, sich dagegen wehrt, aber so oder so antwortet, […] ein Sprung [liegt]«148, der sich nicht überbrücken lässt. Aus der Diastase zwischen Pathos und Response ergeben sich somit die Perspektiven, die aus einem phänomenologischen Zugang zur Theateraufführung auch von der Theaterdidaktik aufgegriffen werden können, wenn sie sich auf das Konzept der Responsivität bezieht. Dies geschieht in dieser Arbeit, weshalb im folgenden Abschnitt skizziert werden soll, welche theaterdidaktischen Perspektiven ein solcher Umgang mit der Theateraufführung eröffnet. Theaterdidaktische Perspektiven So wie der Ausgangspunkt der Überlegungen von Waldenfels der Umgang mit dem Fremden war, so stellt genau dieser Umgang auch eine zentrale Perspektive für die Theaterdidaktik dar, die aus dem Konzept der Responsivität resultiert. Denn das Fremde widerfährt dem Wahrnehmenden aus phänomenologischer Perspektive im pathischen Ereignis ebenso wie auch die Aufführung den Beteiligten widerfährt, die diese durch ihre leibliche Ko-Präsenz erst performativ hervorbringen. Mit der aus dem Konzept der Responsivität abgeleiteten Auffassung, dass das Fremde nur über die Response erschlossen werden kann und immer 146 Ebd., S. 112. 147 Vgl. ebd. 148 Ebd., S. 188.
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fremd bleibt, verbindet sich didaktisch, dass es selbst nicht lehr- und vermittelbar ist und einem Zugriff letztendlich entzogen bleibt. Es kann aber zugleich den Ausgangspunkt eines phänomenologischen Zugangs bilden, indem der Anspruch identifiziert wird, an den die Response anknüpft. Die Response wiederum geht zurück auf die Konfrontation mit dem Fremden, das erst vor dem Hintergrund der eigenen Ordnungen als Fremdes erscheint. Seine Identifikation ist an die Leiblichkeit gebunden, die physische und psychische Disposition der Wahrnehmenden. Für die Konzeption eines theaterdidaktischen Zugangs bedeutet dies, dass mit der Berücksichtigung der Response Elemente der Aufführung aufgegriffen werden, die einerseits beeinflussen können, welche Akteure, Themen oder Requisiten der Aufführung den Schülern auffällig wurden, andererseits aber auch zeigen, auf welche Art und Weise sie ihnen auffällig geworden sind, kurz: auf welchen Anspruch der Aufführung sie antworten. Die Antworten der Schüler, die sich im Verlauf der Aufführung spontan ergeben mögen, werden also im Nachhinein noch einmal thematisiert, analysiert und reflektiert, wozu sie aber zunächst rekonstruiert und nachvollziehbar gemacht werden müssen. Zu diesem Zweck setzt ein phänomenologischer Zugang notwendigerweise dort an, wo Schüler von der Aufführung affiziert worden sind, wo etwas, das sie wahrgenommen haben, den Anstoß für das gab, was ihnen »einfällt, auffällt, was sich aufdrängt,« sie »anlockt, abschreckt, auffordert, […] verletzt, […] zu denken gibt und […] im äußersten Fall als ›denkendes Schilfrohr‹ vernichtet«149. Philosophisch und ebenso didaktisch entscheidend ist nun aber nicht die Feststellung, dass es solche Momente in der Aufführung gibt, sondern der Umgang mit diesen Momenten. Obwohl das Fremde als Fremdes nicht fassbar ist, zeigt sich doch bereits in der Wahrnehmung und Erfahrung des Subjektes, in welcher Weise darin ein Anspruch identifiziert und mit diesem umgegangen wurde. Das Worauf des Antwortens, das nach Waldenfels aus dem Wovon des Getroffenseins hervorgeht, ist aus theaterdidaktischer Perspektive also ein Element der Aufführung, auf das reagiert und dem ein spezifischer Sinn zugeschrieben wird. Die Aufführung und die Ansprüche, die sie stellt, bilden damit den Mittelpunkt eines phänomenologischen Zugangs im Sinne der Responsivität. Für die Theaterdidaktik könnte dies bedeuten, auf die Vorbereitung der Theateraufführung als Gegenstand im Vorhinein durch Interpretationsmodelle, Erklärungen, Erläuterungen oder Wissen auch einmal zu verzichten, weil dieses Vorgehen bereits Antworten bereitstellen kann, die nicht aus der leiblichen Wahrnehmung resultieren. Wenn Schüler für die eigene Wahrnehmung und die Antworten sensibilisiert werden sollen, die sie 149 WALDENFELS: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, S. 41.
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auf das Fremde geben, dann muss ein theaterdidaktisches Modell die Möglichkeit bieten, das kreative Antworten zu erlernen. Wenn die Theateraufführung selbst den Anspruch stellen kann, auf den geantwortet wird, ist auch die Aufmerksamkeit möglich, vor deren Hintergrund die Aufführung als etwas wahrgenommen wird, das in einer bestimmten Weise und aus einer bestimmten Perspektive heraus erscheint. Die Theateraufführung ist aufgrund ihrer spezifischen Medialität und Materialität auf diese Art der Wahrnehmung angewiesen. Um die Relevanz des pathischen Ereignisses nicht zu relativieren, wäre dabei auch die Lehrperson an den Anspruch gebunden, der sich aus der Wahrnehmung der Aufführung ergibt, auch wenn sie im anschließenden Unterricht für die Moderation und die Rückbindung der Schülerwahrnehmung an den Gegenstand und alternative Antwortmöglichkeiten auf das pathische Ereignis zuständig ist. Auch die Lehrperson nimmt – wie die Schüler – eine bestimmte Perspektive im Umgang mit der Aufführung ein und ihre Auswahl und das Einbringen bestimmter Perspektiven sind an ihr Vorwissen und bestimmte Zielsetzungen gebunden, die transparent gemacht werden können. Auf diese Weise greift ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung das Potenzial auf, das in der Theateraufführung steckt, wenn sie konsequent als Ereignis ernst genommen wird. Darüber hinaus macht er dieses Potenzial für Lernprozesse im Zusammenhang mit dem Gegenstand und dem Wahrnehmungsprozess gleichermaßen nutzbar. Ein Problem jedoch, das sich im Rahmen der philosophischen Diskussion um die Phänomenologie ergab, spielt für die theaterdidaktischen Überlegungen eine besondere Rolle und soll daher bereits an dieser Stelle erörtert werden: Der Ausgang der Phänomenologie von der Antwort oder Intention des Subjektes lässt die Bedeutung der Ergebnisse dieses Zuganges fragwürdig erscheinen. Zwar ist bereits mehrfach angeklungen, dass das Ziel der Phänomenologie gerade die Überwindung der cartesianischen Ambiguitäten ist, allerdings spielen diese Ambiguitäten im Diskurs um die Legitimation von bestimmten Inhalten gerade auch im Kontext des Unterrichts noch immer eine wesentliche Rolle. Geboten ist daher an dieser Stelle eine zusammenfassende Auseinandersetzung mit dem Stellenwert von Subjektivität, Objektivität und Intersubjektivität in den erwähnten phänomenologischen Konzepten, um anhand dieser Zusammenfassung nach dem Mehrwert phänomenologischer Analyse über die Identifikation von Stilen des Zuschauens hinaus zu fragen und zu erweisen, dass der Anspruch der Phänomenologie von Anfang an war, die subjektive Wahrnehmung mit der Allgemeingültigkeit ihrer Aussagen zu verbinden.
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3.2.4 Subjektivität – Objektivität – Intersubjektivität Nach dem bisher Gesagten gilt das Interesse der Phänomenologie an der Beschreibung von Bewusstseinsakten nicht einer Verbindung von Philosophie und Psychologie, sondern der Beschreibung der Möglichkeit von Erfahrung und Erkenntnis überhaupt. Dieses Interesse rührt also von der Überzeugung her, dass die Untersuchung der erscheinenden Gegenstände ohne Berücksichtigung der subjektiven und sinnlichen Wahrnehmung nicht möglich ist. Die Bedeutung, die etwas hat, ist aus phänomenologischer Perspektive nicht losgelöst vom Subjekt identifizierbar, das diese Bedeutung beilegt, denn ein Gegenstand erscheint nicht lediglich als etwas, sondern immer als etwas für jemanden. Die Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt bzw. zwischen dem Subjekt und der Welt wird auf diese Weise in einem phänomenologischen Zugang ausgeschaltet und nur zu heuristischen Zwecken aufrechterhalten. Weder gibt es eine Welt, die unabhängig von jeglichem Erfahrungskontext eines Subjektes existiert, noch gibt es Subjektivität, also den Erfahrungskontext, ohne die spezifische Erscheinungsweise der Gegenstände in der Welt. Subjektivität und Objektivität sind damit erkenntnistheoretische Kategorien, denen sich ein phänomenologischer Zugang entzieht, weil es nach phänomenologischem Verständnis keine subjektunabhängige Wirklichkeit gibt. Gerade dieses Interesse der Phänomenologie an der Aufklärung der Subjektivität der Wahrnehmung brachte ihr den Vorwurf ein, bei dieser Subjektivität zu verbleiben und den Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt bzw. sinnlicher Anschauung und sinnhaftem Verstehen in einer Subjektivität der Innerlichkeit und einem Solipsismus aufgehen zu lassen. Das Forschungsfeld der Phänomenologie sei, so lässt sich dieser Vorwurf weiterführen, allein auf das Bewusstsein des Wahrnehmenden und der darin erscheinenden Gegenstände begrenzt. Der Fokus auf die Art und Weise der Erscheinung eines Gegenstandes für ein bestimmtes Subjekt mache die Aussagen, die auf dieser Grundlage getroffen werden können, zu Aussagen, die nur für dieses Subjekt Geltung besitzen, weil keine Möglichkeit bestehe, etwas über die Erscheinung des Gegenstandes für andere auszusagen. Gegen diesen Vorwurf kann vor allem das Argument ins Feld geführt werden, dass das Subjekt nie allein als Voraussetzung der Wahrnehmung zu denken ist, sondern selbst erst aus dem Bezug auf die wahrgenommenen Gegenstände hervorgeht. So ist nicht das wahrnehmende Subjekt die Grundvoraussetzung des phänomenologischen Zugangs, sondern die leibliche Verknüpfung zwischen Subjekt und Welt, zwischen dem Innen und dem Außen der Wahrnehmung. Weil das Bewusstsein immer ein Bewusstsein von etwas ist, handelt es sich bei der
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Subjektivität im phänomenologischen Sinn nicht um eine rein innerliche. Die Frage, die damit einhergeht, ist jene nach dem Status der Analyse des subjektiven Wahrnehmungsprozesses. Wenn nämlich das Subjekt durch die Analyse seiner Wahrnehmungsakte lediglich zu der Erkenntnis gelangen würde, dass diese Wahrnehmungsakte subjektive sind, wäre nicht viel gewonnen. Die Lösung sieht Husserl in der Intersubjektivität, zu der jede Analyse der Wahrnehmung gelangen muss: »Die konkret volle transzendentale Subjektivität ist das von innen her, rein transzendental einige und nur so konkrete All der offenen Ichgemeinschaft. Die transzendentale Intersubjektivität ist der absolute, der allein eigenständige Seinsboden, aus dem alles Objektive, das All des objektiv real Seienden, aber auch jede objektive Idealwelt, seinen Sinn und seine Geltung schöpft.«150
Der auch methodisch von Husserl angeleitete Rückgang auf die subjektive Wahrnehmung offenbart demnach dem Subjekt die Notwendigkeit des intersubjektiven Austausches, weil erst dieser Austausch die Begrenztheit der eigenen Perspektive zu erweitern vermag. Die Konstitution der Wirklichkeit lässt sich also allein durch einen intersubjektiven Austausch absichern. Wenn nämlich der Zugang über die sinnliche Wahrnehmung ein Zugang zum Wesen des Gegenstandes sein und dieses Wesen einen Wahrheitsanspruch über das Subjekt hinaus haben soll, dann muss davon ausgegangen werden, dass auch anderen Subjekten dieser perspektivische Zugang offen steht, dass sie also genauso wahrnehmen können wie das wahrnehmende Subjekt. Die Reflexion der eigenen Wahrnehmungsakte bedingt damit immer auch die Notwendigkeit des Abgleichs mit der Wahrnehmung anderer und mithin den intersubjektiven Austausch. Nur dadurch, dass auf diese Weise die verschiedenen Perspektiven der Wahrnehmung miteinander verglichen werden, kann die auf der eigenen spezifischen Perspektive eines Gegenstandes beruhende Wahrnehmung und Sinnzuschreibung überprüft werden. Neben dem, was in den Überlegungen bisher bereits zur Intersubjektivität gesagt worden ist, sei an dieser Stelle zusätzlich darauf verwiesen, dass schon für Husserl nur durch die Intersubjektivität der erkenntnistheoretische Anspruch der Phänomenologie gesichert werden kann, weshalb er sich mit diesem Thema umfassend beschäftigte.151 Die Anderen sind für ihn Mitkonstituierende der Wirklichkeit, weil sich die perspektivische, leiblich begrenzte Wahrnehmung der Erscheinung eines Gegenstandes innerhalb eines Horizontes bewegt, der auch 150 HUSSERL: Phänomenologische Psychologie, S. 344. 151 Vgl. ZEHAVI: Husserls Phänomenologie, S. 114ff.
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dadurch gekennzeichnet ist, dass bestimmte Eigenschaften des Gegenstandes nicht wahrgenommen werden können. Die Wahrnehmung selbst verweist damit zwangsläufig auf andere Wahrnehmende und die Intersubjektivität, aus der heraus das Wesen des Gegenstandes konstituiert wird. Diesen, der Wahrnehmung innewohnenden Verweis auf die Intersubjektivität bezeichnet Husserl als »offene Intersubjektivität«: »Also jedes Objektive, das mir in einer Erfahrung und zunächst in einer Wahrnehmung vor Augen steht, hat einen apperzeptiven Horizont, den möglicher Erfahrung, eigener und fremder. Ontologisch gesprochen, jede Erscheinung, die ich habe, ist von vornherein Glied eines offen endlosen, aber nicht explizit verwirklichten Umfanges möglicher Erscheinungen von demselben, und die Subjektivität dieser Erscheinungen ist die offene Intersubjektivität.«152
Die Sicherung des Anspruches seiner Phänomenologie leistet Husserl über die Entwicklung einer Methode, die als Phänomenologische Epoché bezeichnet wird und aus verschiedenen Schritten, den sogenannten Reduktionen, besteht. Im folgenden Abschnitt wird auf diese Methode eingegangen, um dann die Frage beantworten zu können, ob sich daraus ebenfalls theaterdidaktische Perspektiven für einen phänomenologischen Zugang ableiten lassen.
3.3 METHODE – PHÄNOMENOLOGISCHE EPOCHÉ UND REDUKTIONEN Mit den verschiedenen phänomenologischen Strömungen gehen zugleich methodische Überlegungen einher, die jedoch nahezu vollständig auf die Methode Husserls zurückgehen. Waldenfels etwa bezieht sich vor allem auf MerleauPonty und dieser wiederum fordert die Fundierung der Phänomenologie in Husserl. So liegt es nahe, Husserls Methode, die Phänomenologische Epoché, aufzugreifen und darauf einzugehen. Zudem können die Überlegungen des vorangegangenen Abschnittes auf diese Weise hinsichtlich der Ermöglichung des intersubjektiven Austausches methodisch abgesichert werden. Schließlich wird auch die Frage zu beantworten sein, ob und inwiefern diese Methode einen Betrag zur Bearbeitung des Bedingungsgefüges von Wahrnehmung, Ereignis und Materialität liefern kann, das sich in den theatertheoretischen Überlegungen des zweiten Kapitels ergab und das dritte Kapitel strukturiert.
152 HUSSERL: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität, S. 289.
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3.3.1 Phänomenologische Epoché Steht Husserls erste Untersuchung noch unter dem Einfluss der Suche nach einer deskriptiven Philosophie, entwickelt er die Phänomenologie in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie zur »Grundwissenschaft der Philosophie«153 weiter, weil er nur die Phänomenologie in der Lage sieht, die Wirklichkeit der Dinge vorurteilsfrei beschreiben zu können. War die philosophische Gegenposition der Logischen Untersuchungen der Psychologismus, nehmen in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie diesen Platz »naturalistische Fehldeutungen« ein:154 Die größte dieser Fehldeutungen besagt demnach, dass alle Wissenschaft in Erfahrung gründen müsse, was sich direkt auf die Frage auswirkt, welche Aussagen die Wirklichkeit adäquat beschreiben. Denn mit den Mitteln der Vernunft wissenschaftlich über Dinge zu urteilen, heißt für Husserl, »sich nach den Sachen selbst richten«, »sie in ihrer Selbstgegebenheit befragen und alle sachfremden Vorurteile beiseite tun«.155 So stellt Husserl den naturalistischen Fehldeutungen das unmittelbare sinnliche Wahrnehmen gegenüber, das allein ihm als »letzte Rechtsquelle aller vernünftigen Behauptungen«156 gilt. Wissenschaftlich und sachlich vorzugehen, bedeutet, alles »durch originär gebende Anschauung aufweisen, und es durch Urteile, die sich dem in ihr Gegebenen getreu anpassen, fixieren.«157 Nur das phänomenologische Denken geht also nach Husserl von dem aus, »was vor allen Standpunkten liegt: vom Gesamtbereich des anschaulich und noch vor allem theoretisierenden Denken selbst Gegebenen, von alledem, was man unmittelbar sehen und erfassen kann.«158 Vor diesem Hintergrund definiert Husserl als das »Prinzip aller Prinzipien«159 phänomenologischen Denkens, »daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, daß alles, was sich uns in der ›Intuition‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzunehmen sei, als was es sich da gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche Theorie irre machen.«160 153 HUSSERL: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, S. 3. 154 Vgl. ebd., S. 42. 155 Vgl. ebd. 156 Ebd., S. 44. 157 Ebd. 158 Ebd., S. 46. 159 Ebd., S. 52. 160 Ebd.
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Diesem Prinzip steht allerdings wirkmächtig die natürliche Einstellung des Menschen entgegen. Betrachtet er die Welt, ist diese Anschauung nie eine originär gebende und nichts wird lediglich so wahrgenommen, wie es sich gibt. Ob der Mensch an der Wirklichkeit skeptisch zweifelt oder sie ganz verwirft, immer findet er, wenn er in natürlicher Einstellung auf sie blickt, die Welt mit ihren Gegenständen als etwas vor, das bereits da ist und das als gegeben vorausgesetzt wird. Die grundsätzliche Auffassung, dass es die Welt gibt und sie in der Weise, in der sie dem Menschen in der Wahrnehmung erscheint, existiert, bezeichnet Husserl als die »Generalthesis der natürlichen Einstellung«.161 Das beständige Wissen des Menschen von der Welt verstellt seiner Wahrnehmung Husserl zufolge die Möglichkeit der Unmittelbarkeit. Es stellt ein Vorurteil dar und muss daher in einer phänomenologischen Analyse aufgehoben werden. Aus diesem Grund entwickelt er die Methode der Phänomenologischen Epoché, die in die Geschichte der Phänomenologie als phänomenologische Methode schlechthin eingegangen ist. »Die zum Wesen der natürlichen Einstellung gehörige Generalthesis setzen wir außer Aktion, alles und jedes, was sie in ontischer Hinsicht umspannt, setzen wir in einem Schlage in Klammern: also diese ganze natürliche Welt, die beständig ›für uns da‹, ›vorhanden‹ ist, und die immerfort dableiben wird als bewußtseinsmäßige ›Wirklichkeit‹, wenn es uns auch beliebt, sie einzuklammern.«162
Mithilfe der Phänomenologischen Epoché wird die Wirklichkeit also nicht geleugnet oder bezweifelt, sie wird eingeklammert, um so einen unverstellten Zugang zu ihr zu bekommen. Es ist elementar, dass durch dieser Methode keinem möglichen Vorurteil das Recht bestritten werden soll, etwas Wahres auszusagen. Es soll lediglich zu seinem Fundament zurückgeführt werden, um es für den intersubjektiven Austausch aufzubereiten und sich so dem Wesen des Gegenstandes nähern zu können. Was über die phänomenologischen Konzepte zur Wahrnehmung gesagt wurde, ist nicht etwas, das Husserl für voraussetzungslos durchführbar hält, sondern methodisch angeleitet wissen will. Um sich der Welt und ihrer Wahrnehmung im phänomenologischen Sinne überhaupt nähern zu können, bedarf es der Phänomenologischen Epoché als methodischer Grundvoraussetzung. Ihre Leistung besteht in der Schaffung einer veränderten Einstellung zur Wirklichkeit, denn erst durch die Phänomenologische Epoché wird den Erfahrungen der natürlichen Einstellung der Boden entzogen und es bleibt übrig, was Husserl »reine Erleb161 Vgl. ebd., S. 62f. 162 Ebd., S. 67.
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nisse« und »reines Bewußtsein« nennt.163 Dabei ist es vor allem der Begriff der Epoché, der die Bedeutung dieser Methode für das Denken Husserls signalisiert, denn er entnimmt ihn der philosophischen Tradition und richtet ihn neu aus. Im Gegensatz zur skeptischen Epoché der Antike oder jener Weiterentwicklung der Epoché, für die Descartes steht, betont Husserl, dass es ihm »nicht um die Umwandlung der Thesis in die Antithesis, der Position in die Negation« oder »eine Umwandlung in Vermutung, Anmutung, in Unentschiedenheit, in einen Zweifel« geht.164 Es geht ihm also gerade nicht um die Preisgabe der Thesis, sondern darum, die Thesis zuallererst einzuklammern, ohne etwas an dieser Thesis zu ändern, preiszugeben oder in Frage zu stellen. Übrig bleibt nach dem Vollzug der Epoché das »Bewußtsein in seinem absoluten Eigensein«165. Husserl konkretisiert diese Methode, indem er ausführt, wie durch die Einklammerung der natürlichen Einstellung die auf ihren Gegebenheiten aufbauenden Wahrnehmungsakte nicht mehr mitvollzogen werden. »In der phänomenologischen Einstellung unterbinden wir in prinzipieller Allgemeinheit den Vollzug aller […] kogitativen Thesen, d.h. die vollzogenen ›klammern wir ein‹, für die neuen Forschungen ›machen wir diese Thesen nicht mit‹; statt in ihnen zu leben, sie zu vollziehen, vollziehen wir auf sie gerichtete Akte der Reflexion, und wir erfassen sie selbst als das absolute Sein, das sie sind, und mit allem, was in ihnen und von ihrem eigenen Sein unabtrennbar Vermeintes, z.B. Erfahrenes als solches ist.«166
Auf diese Weise wird schließlich das »Feld absoluter Erlebnisse« erreicht, um das es der Phänomenologie Husserls geht.167 Die Urerfahrung, die alle anderen erfahrenden Akte im Sinne der Generalthesis der natürlichen Einstellung wesentlich bestimmt, ist die sinnliche Erfahrung, deren Gegenstand ein individuelles Objekt ist.168 Dieses Objekt wird intendiert und wahrgenommen und so entsteht allmählich ein »System von kontinuierlichen Erscheinungs- und Abschattungsmannigfaltigkeiten«, aus dem als Ergebnis ein »Erfahrungsbewußtsein« hervorgeht.169 Es werden vom Gegenstand also Abschattungen wahrgenommen, weil er »sich ›abschattet‹«, das Erlebnis der Erscheinung des Gegenstandes aber schattet sich nicht ab und somit ist die Abschattung »prinzipiell nicht von derselben Gat163 Vgl. ebd., S. 70f. 164 Vgl. ebd., S. 65. 165 Ebd., S. 118f. 166 Ebd., S. 119. 167 Vgl. ebd. 168 Vgl. ebd., S. 88. 169 Vgl. ebd., S. 93ff.
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tung wie Abgeschattetes«.170 Der vom wahrnehmenden Ich intendierte Gegenstand und das Erlebnis dieses Gegenstandes gehen eine untrennbare Symbiose ein, denn »die Erlebniswahrnehmung ist schlichtes Erschauen von etwas, das in seiner Gegenwart, in jedem Punkt seines Jetzt in der Wahrnehmung als Absolutes gegeben […] ist und nicht als Identisches von Erscheinungsweisen durch einseitige Abschattungen«171. Was wahrgenommen wird, ist für das wahrnehmende Ich im Moment der Wahrnehmung eine absolute Wahrheit. Die Existenz des Gegenstandes jedoch ist im Gegensatz zu dessen Erlebnis immer nur eine zufällige, denn sie unterliegt, anders als das Erlebnis, der Möglichkeit der Revision und Umbildung: »Immer kann es sein, daß der weitere Verlauf der Erfahrung das schon mit erfahrungsmäßigem Recht Gesetzte preiszugeben nötigt. Es war, heißt es nachher, bloße Illusion, Halluzination, bloßer zusammenhängender Traum u.dgl. Dazu kommt, daß es in diesem Gegebenheitskreise als beständig offene Möglichkeit so etwas gibt wie Auffassungsänderung, Umschlagen einer Erscheinung in eine mit ihr nicht einstimmig zu vereinende und damit einen Einfluß der späteren Erfahrungssetzungen auf frühere, wodurch die intentionalen Gegenstände dieser früheren hinterher sozusagen eine Umbildung erleiden – lauter Vorkommnisse, die in der Erlebnissphäre wesensmäßig ausgeschlossen sind. In dieser absoluten Sphäre lebendiger, immanenter Gegenwart hat Widerstreit, Schein, Anderssein keinen Raum. Es ist eine Sphäre absoluter Position.«172
Während Husserl also die Dingexistenz in der Welt als zufällig ansieht, ist das Erlebnis des Dinges absolut, nicht zufällig und zweifellos. Alles gegebene Dingliche könnte auch nicht dieses Gegebene sein, für gegebene Erlebnisse jedoch gilt diese Möglichkeit nicht.173 Das reale Sein einerseits und das Bewusstsein andererseits stellen also verschiedene Seinsarten dar, das Bewusstsein allein jedoch – und zwar das Bewusstsein in Reinheit – ist für Husserl »ein für sich geschlossener Seinszusammenhang […], ein Zusammenhang absoluten Seins, in den nichts hineindringen und aus dem nichts entschlüpfen kann«174. Das Gegenüber des Bewusstseins, die »räumlich-zeitliche Welt«, ist hingegen »ihrem Sinne nach bloßes intentionales Sein, also ein solches, das den bloßen sekundären, relativen Sinn eines Seins für ein Bewußtsein hat als in Bewußtseinssubjekten
170 Vgl. ebd., S. 94. 171 Ebd., S. 101. 172 Ebd., S. 108. 173 Vgl. ebd., S. 108f. 174 Vgl. ebd., S. 117.
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durch Erscheinungen erfahrbares und sich als Bewährungseinheit von Erscheinungen […] bewährendes«175. Erst jetzt, nachdem Husserl durch die Beschreibung des Bewusstseins nachgewiesen hat, dass diesem ein Eigensein zukommt, wird die Leistung der Phänomenologischen Epoché deutlich: Das reine Bewusstsein träte als phänomenologisches Residuum zu Tage, wenn die Existenz der Dinge in Frage gestellt würde. Diese Infragestellung geschieht probehalber durch die Einklammerung der Welt. Ohne ihre Anwendung würden in natürlicher Einstellung die bewusstseinskonstituierenden Akte nachvollzogen und die transzendenten Thesen, die sich aus diesem Nachvollzug ergeben, zu immer neuen transzendenten Thesen erweitert werden. Die auf diese Weise erfahrenen Dinge erscheinen in natürlicher Einstellung als wirklich gegeben und vorhanden. Der Logik der Erfahrungen folgend, werden Denkakte vollzogen und nachvollzogen, in denen die als wirklich gegebenen Gegenstände »denkmäßig« bestimmt werden und in denen aufgrund der bereits erfahrenen Transzendenzen auf neue geschlossen wird. 176 Die phänomenologische Reduktion verwehrt dieses Vorgehen, weil die bewusstseinskonstituierenden Akte und transzendenten Thesen nicht nachvollzogen, sondern selber Gegenstände intentionaler Akte der Reflexion werden. Husserl entwickelte seine phänomenologische Methode über eine lange Periode seines Schaffens, allerdings mündet das bisher Gesagte in vier methodische Schritte, die sich herausarbeiten lassen: die Beschreibung der natürlichen Einstellung, die phänomenologische Reduktion, die eidetische Reduktion und die transzendentale Reduktion. Der erste Schritt der phänomenologischen Methode hat zum Ziel, einen Ausgangspunkt phänomenologischer Untersuchungen zu finden. Dieser Ausgangspunkt ist die natürliche Einstellung, also die Wahrnehmung der Gegenstände auf der Grundlage der fraglos hingenommenen Annahme, dass etwas so ist, wie es im Moment der Wahrnehmung erscheint. Alle Vorannahmen – insbesondere jene, die auf theoretischem Wissen beruhen – sollen in diesem Schritt nach Möglichkeit bereits nicht mehr berücksichtigt werden, denn sie beruhen nicht auf der natürlichen Anschauung der Welt, sondern stellen unnatürliche, das heißt sekundäre Zugänge zur Welt dar. Der phänomenologische Zugang erfordert also zuallererst eine genaue Beschreibung der Gegenstände in ihrem Erscheinen, worauf ja auch schon Merleau-Ponty hingewiesen hatte. Die Aufgabe, die dieser erste Schritt verlangt, ist eine neue Blickrichtung auf die Gegenstände der Welt. Diesen grundlegenden Schritt der Phänomenologie bezeichnet der Begriff Epoché: 175 Ebd. 176 Zum Folgenden vgl. HUSSERL: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, S. 119.
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»Das Erste ist die schlicht gegebene Lebenswelt, und zwar vorerst so, wie sie als ›normale‹, schlicht, bruchlos in purer Seinsgewissheit (also zweifellos) daseiende sich wahrnehmungsmäßig gibt. Mit der Etablierung der neuen Interessenrichtung und somit in ihrer strengen Epoché wird sie ein erster intentionaler Titel, Index, Leitfaden für die Rückfrage nach den Mannigfaltigkeiten der Erscheinungsweisen und ihren intentionalen Strukturen. Eine neue Blickrichtung, in der zweiten Reflexionsstufe, führt auf den Ichpol und das seiner Identität Eigene.«177
Der zweite Schritt der phänomenologischen Methode besteht in der phänomenologischen Reduktion der natürlichen Einstellung zu einer phänomenologischen durch Einklammerung. Nachdem in einem ersten Schritt durch die Epoché die natürliche Einstellung zu Tage gefördert wurde, wird das in natürlicher Einstellung Wahrgenommene in einem zweiten Schritt distanziert betrachtet. Was nun eingeklammert wird, ist der weitere Nachvollzug der natürlichen Einstellung und die Analyse der durch die Intention hergestellten Beziehung zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und der Welt. Erst durch diese Reduktion kommt der Gegenstand als ein in bestimmter Weise intendierter bzw. – mit den Worten der Responsivitätstheorie – die Response als bestimmte Antwort auf ein Pathos in den Blick. Mit den Gegenständen werden im zweiten Schritt der phänomenologischen Methode zugleich auch die intentionalen bzw. responsiven Akte reflektiert und beschreibbar, die mit ihr einhergegangen sind. »Also alle auf diese natürliche Welt bezüglichen Wissenschaften, so fest sie mir stehen, so sehr ich sie bewundere, so wenig ich daran denke, das mindeste gegen sie einzuwenden, schalte ich aus, ich mache von ihren Geltungen absolut keinen Gebrauch. Keinen einzigen, der in sie hineingehörigen Sätze, und seien sie von vollkommener Evidenz, mache ich mir zu eigen, keiner wird von mir hingenommen, keiner gibt mir eine Grundlage […]. Ich darf ihn nur annehmen, nachdem ich ihm die Klammern erteilt habe […]. Das heißt: nur im modifizierenden Bewußtsein der Urteilseinklammerung, also gerade nicht so, wie der Satz in der Wissenschaft ist, ein Satz, der Geltung beansprucht, und dessen Geltung ich anerkenne und benutze.«178
Den dritten Schritt der phänomenologischen Methode bildet die Wesensschau durch eidetische Reduktion oder Variation. Während im zweiten Schritt die Wahrnehmungsakte und dadurch die intendierten Gegenstände identifiziert und beschrieben worden sind, geht es nun darum, durch Variation der möglichen In177 HUSSERL: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, S. 175. 178 HUSSERL: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, S. 68.
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tentionen Aussagen zum Wesen des Gegenstandes treffen zu können. In der eidetischen Reduktion bzw. Variation findet also eine Fokussierung auf das Wesen des wahrgenommenen Gegenstandes statt. »Das Wesen (Eidos) ist ein neuartiger Gegenstand. So wie das Gegebene der individuellen oder erfahrenden Anschauung ein individueller Gegenstand ist, so das Gegebene der Wesensanschauung ein reines Wesen.«179
Dieses Wesen, gewissermaßen das Was der Erscheinung, wird durch die Variation möglicher Intentionen und Perspektiven als Invariantes gebildet. Dazu ist der Analysierende vor mehrere Aufgaben gleichzeitig gestellt: Er muss mögliche Varianten der Intention oder Response bilden und sie darüber hinaus miteinander verknüpfen. Schließlich hat er zu entscheiden, welche Eigenschaften des Gegenstandes oder des wahrnehmenden Subjektes bei aller Variation gleich bleiben. Die Reflexionsleistung im dritten Schritt der eidetischen Reduktion greift also die Ergebnisse der phänomenologischen Einstellung auf und führt die Analyse in zwei Richtungen weiter: erstens in Richtung des Wesens eines wahrgenommenen Gegenstandes und zweitens in Richtung des Wesens der Wahrnehmung. Allerdings ist hier das Ziel der phänomenologischen Analyse noch nicht erreicht. Denn die eidetische Variation kann nur dann geschehen, wenn die Varianten als Varianten des wahrgenommenen Gegenstandes angenommen werden. Damit ist mit der eidetischen Reduktion das Wesen des Wahrgenommenen in seiner Selbstgegebenheit noch nicht identifiziert. Die eidetische Reduktion ist ein Durchgangsstadium, das dabei hilft, das Wesentliche eines wahrgenommenen Gegenstandes zu identifizieren. Zu dieser Identifikation des Wesens eines Gegenstandes in seiner Selbstgegebenheit fehlt jedoch noch die vierte Stufe der transzendentalen Reduktion. In der transzendentalen Reduktion werden die Ergebnisse von phänomenologischer und eidetischer Reduktion auf die natürliche Einstellung rückbezogen, die sich so als fundiert herausstellt. Zwar kann schon auf Ebene der phänomenologischen Reduktion dieser Schritt vollzogen werden, erst nach eidetischer Variation und Reduktion aber ist es möglich zu verstehen, dass die natürliche Einstellung aus einem Verhältnis von wahrnehmendem Ich und gegebener Welt hervorgeht. Der Unterschied zur bloßen Wahrnehmung in natürlicher Einstellung, den ein phänomenologischer Zugang herausstellt, ist, dass die vorher noch unreflektierte Einstellung nun reflektiert wurde und der Wahrnehmende sich ihres Zustandekommens bewusst ist. Die Wahrnehmung wird ihm so zur Quelle und zu einem Zugang zum Wesen der Welt, die er schließlich intersubjektiv einbrin179 Ebd., S. 14.
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gen kann. Damit ist ein Perspektivwechsel erreicht, denn was vor der Anwendung der Phänomenologischen Epoché als gegeben und unreflektiert hingenommen wurde, ist nun hinsichtlich seiner Konstitutionsbedingungen erschlossen und fundiert. Welche Perspektiven sich aus der Phänomenologischen Epoché für einen phänomenologischen Zugang der Theaterdidaktik ergeben, soll im folgenden Abschnitt dargelegt werden. 3.3.2 Theaterdidaktische Perspektiven Die Phänomenologische Epoché als die Methode der Phänomenologie lässt sich auch für den theaterdidaktischen Kontext nutzbar machen, denn sie zeigt einen Weg auf, wie man sich den Erfahrungen der Schüler schrittweise nähern und diese in eine Reflexion überführen kann. Die Übernahme dieser Methode ist dabei auch deshalb geboten, weil schon Husserl sie als essentiell für das Verständnis seiner Phänomenologie und der Phänomenologie überhaupt ansah.180 Zwei Aspekte sind für die Operationalisierung dieser philosophischen Methode im theaterdidaktischen Kontext besonders wichtig: Erstens wird die Methode durch die Nachfolger Husserls in entscheidender Weise konkretisiert. So ist die natürliche Einstellung bei Merleau-Ponty an das leibliche Zur-Welt-sein gebunden, das für die gesamte Wahrnehmung eine unhintergehbare Voraussetzung darstellt. Eine von aller theoretischen Vorannahme und sämtlichen Vorurteilen gereinigte natürliche Einstellung – das Ziel der Phänomenologischen Epoché – lässt sich im Sinne Merleau-Pontys also niemals gänzlich verwirklichen und stellt damit ein Ideal dar. Philosophisch wie didaktisch kann die natürliche Einstellung daher nur so vorurteilsfrei wie möglich sein und es ist das Bemühen darum, einen Gegenstand so weit wie möglich in seinem tatsächlichen Erscheinen wahrzunehmen, das der Phänomenologischen Epoché immanent ist. Daraus resultiert zweitens, dass unter theaterdidaktischen Gesichtspunkten nicht alle Schritte der phänomenologischen Methode Anwendung finden müssen. Sie ermöglicht die Bildung eines Fundamentes, das die grundlegenden Wesensmerkmale des Gegenstandes aufzeigt und von dort aus weitere Perspektivierungen des Gegenstandes erlaubt. Bei jenen Elementen oder Schritten der Phänomenologischen Epoché, die in einem theaterdidaktischen Modell weniger Beachtung finden müssen, handelt es sich vor allen Dingen um die phänomenologische Reduktion und die Fokussierung auf die philosophische Dimension des Subjektes oder gar des leiblichen In-der-Welt-seins der Schüler. Zwar bilden die mit der genuin 180 Vgl. HUSSERL: Die Phänomenologie und die Fundamente der Wissenschaften, S. 155.
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philosophischen Dimension der Phänomenologie einhergehenden erkenntnistheoretischen Annahmen auch die Grundlage eines phänomenologisch beeinflussten theaterdidaktischen Zugangs, dessen Fokus aber liegt in der schrittweisen Überführung der sinnlichen Wahrnehmung in ein Fundament für den intersubjektiven Umgang mit dem Gegenstand Theateraufführung im Unterricht. Die theaterdidaktische Perspektive, die sich aus der Phänomenologischen Epoché ergibt, ist also vor allem auf die Gegenstandsseite der Wahrnehmung des Aufführungsereignisses hin ausgerichtet. Sowohl aus phänomenologischer Sicht als auch aus den Überlegungen heraus, die im Rahmen der Definition des Aufführungsereignisses bereits angestellt wurden, gerät dessen spezifische Materialität in den Blick, die für die Art und Weise der Erscheinung des Gegenstandes als zentral angesehen werden kann. Im Folgenden wird daher auf den Begriff der Materialität von Aufführungen und deren Aspekte im Zusammenhang mit der Theateraufführung im Speziellen eingegangen, um damit das letzte Elemente der Trias von Wahrnehmung, Ereignis und Materialität zu beschreiben und zugleich die bisherigen Überlegungen zu bündeln und zu konkretisieren.
3.4 MATERIALITÄT DER AUFFÜHRUNG Während in den vorangegangenen Abschnitten auf die Phänomenologie in Bezug auf Wahrnehmung und methodische Aspekte eingegangen wurde, bezieht sich die Beschreibung der Materialität als dritter Pol des festgestellten Bedingungsgefüges wieder auf den konkreten Gegenstand Theateraufführung. Denn das Ereignis-Potenzial eines Gegenstandes, auf dessen Widerfahrnis der Wahrnehmende antwortet, ist an die spezifische Medialität und Materialität gebunden. Dabei stehen Materialität und performative Hervorbringung in einem wechselseitigen Verhältnis. So ist die Materialität der Theateraufführung zwar auch an physisch vorhandene Gegenstände der Wahrnehmung gebunden, zugleich aber unvollständig beschrieben, wenn nicht auch der Prozess der Wahrnehmung berücksichtigt wird, durch den im Zusammenspiel mit dem Anspruch der Gegenstände und ihrer Verwendung performativ Bedeutung hervorgebracht wird. Diese Feststellung, die wesentlich aus einem phänomenologischen Zugang zur Theateraufführung resultiert, hat erhebliche Auswirkungen auf das Verständnis ihrer Materialität. Wenn sich nämlich eine Aufführung als Ereignis vollzieht, performativ hervorgebracht wird und unmittelbar verflüchtigt, ist ihr Material, im Gegensatz etwa zu dem Material von Werken der bildenden Kunst, ebenfalls dieser Flüchtigkeit unterworfen. Damit ist die Behandlung der Materialität einer Aufführung in den Kontext ihrer performativen Hervorbringung und des Ereignisbe-
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griffes einzuordnen, um dann herauszustellen, welche Elemente der Materialität einer Aufführung zugerechnet werden können. Im Anschluss an eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Begriffen Material und Materialität werden die Elemente Leiblichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit und Zeitlichkeit erörtert, um abschließend erneut theaterdidaktische Perspektiven abzuleiten. 3.4.1 Material und Materialität Bereits seit ihren Anfängen setzte sich die Philosophie mit dem Begriff der Materie auseinander, wobei lange Zeit der bereits durch Aristoteles eingeführten Hierarchie von Stoff einerseits und Form andererseits gefolgt wurde. Mit dem Begriff Stoff wird demnach lediglich eine »noch nicht realisierte Möglichkeit« bezeichnet, »in der aber ein Vermögen […] zur Realisierung liegt«.181 Im Gegensatz dazu ist mit dem Begriff der Form »die durch den Begriff und den Logos erkannte Form« gemeint, also »die Form als ›Gestalt‹«, die dem bloß Möglichen des Stoffes übergeordnet ist.182 Damit ist der Stoff selbst gestaltlos, denn erst durch die Gestaltung kommt er zu seiner Verwirklichung. Synonym verwendet bereits Aristoteles den Begriff der Materie. Für den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit ist dabei wichtig, dass in der Philosophie der Antike bereits die Spur gelegt wurde, die über Jahrtausende hinweg bestimmend wurde, dass nämlich die Materie oder der Stoff bloße Möglichkeit und das Potenzielle darstellt, die Form hingegen die Verwirklichung und Wirklichkeit. Die aus dieser Spur resultierende Zurücksetzung des Materials hinter die Form und die in der Philosophiegeschichte lange Zeit fehlende philosophische Auseinandersetzung mit Materialität und Material lässt etwa Ludwig Pfeiffer zu dem Schluss kommen, dass der Materialitätsbegriff »aus herrschenden Wissenschaftsparadigmen ausgesperrt« und wegen der fehlenden Begriffsgeschichte geradezu »gehandicapt« sei.183 Nicht zuletzt die bei Pfeiffer und etwa auch Gumbrecht versammelten Beiträge, die insgesamt eine »begriffliche Unschärfe« der Definitionen des Materialitätsbegriffes noch Ende der 1980er Jahre diagnostizieren, führten jedoch zu einer Veränderung in der Materialitätsforschung.184 Zwar liegt bis in die Gegenwart hinein noch immer keine interdisziplinär konsensfähige Definition vor, dennoch wurde der Materialitätsbegriff aber zunehmend »in die herrschenden Wissenschaftsparadigmen nicht bloß integriert, sondern darin 181 Vgl. MERSCH: »Erscheinung des ›Un-Sichtbaren‹«, S. 30. 182 Vgl. ebd. 183 Vgl. PFEIFFER: »›Materialität der Kommunikation?‹«, S. 16. 184 Vgl. BARCK: »Materialität, Materialismus, Performance«, S. 121.
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zu theoriefähigen Konzepten modelliert«, was zu seiner allmählichen Etablierung als eigenes Wissenschaftsparadigma führte.185 Die damit einhergehende Reflexion über Materialität, die zur Verankerung einer Materialikonographie insbesondere in der Kunstwissenschaft und zu einer Institutionalisierung der Material Culture Studies führte, ließ das Paradigma des material turn in den Kulturwissenschaften aufkommen. Diesem material turn ordnet Strässle drei methodisch-theoretische Anliegen zu: Erstens wird die seit Aristoteles bestehende Hierarchie zwischen Materie und Form aufgehoben und sogar umgekehrt, wenn »die Materialität des Kunstwerks nicht mehr länger unter dem Primat der Form betrachtet, sondern […] die Form als variable Größe und Ergebnis materialer Eigenschaften und Energien« gesehen wird.186 Zweitens betonen sowohl die Literatur- als auch die Medien- und Musikwissenschaft seit längerem die Abhängigkeit der »Bedeutungsspielräume des Aufgeschriebenen, Dargestellten und Übermittelten« von seinem materiellen Träger. Drittens wurde im Anschluss an die bereits skizzierten Überlegungen Butlers zur Performativität das Material nicht mehr nur als das lediglich Vorgängige angesehen, sondern »im Gegenzug als Produkt performativer und diskursiver Praktiken«.187 Mersch weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass durch die Veränderungen des Materialitätsbegriffes von Material immer nur im Plural gesprochen werden kann und Formulierungen wie Materialität der Kunst oder Materialität der Sprache die veränderte Sicht auf Materialität nicht erfassen. »So wenig wie es isolierte Zeichen gibt, die nur einzig und einmal beschrieben werden können, vielmehr die Semiosis sich immer schon in der Komplexität einer Transition oder Verkettung befindet, gibt es auch keine isolierten Stofflichkeiten, von denen der Begriff der Materialität zehrt, sondern sie stehen stets im Kontext von Spannungsverhältnissen zueinander, in einem vielgestaltigen Dialog […].«188
Diese Definition wirft allerdings im Hinblick auf die Materialität mancher Gegenstände Fragen auf. So erscheint sie etwa bezogen auf die Materialität von Sprache insofern fragwürdig, als die von Saussure vorgenommene Differenzierung des sprachlichen Zeichens in langue und parole in eine Dichotomie mündet, weil aus dieser Differenzierung eine doppelte Materialität von sprachlichen Zeichen hervorgeht: »die des Signifikanten selbst – beim schriftlichen Zeichen seiner Bildhaftigkeit – und die des materiellen Trägers, vor dessen Hintergrund 185 Vgl. STRÄSSLE: »Einleitung. Pluralis materialitatis«, S. 7. 186 Vgl. ebd., S. 8. 187 Vgl. ebd., S 8f. 188 MERSCH: »Erscheinung des ›Un-Sichtbaren‹«, S. 29.
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sich das sprachliche Zeichen als Signifikant manifestiert – etwa Papier oder Stein.«189. Problematisch, so weist Kleinschmidt nach, ist diese doppelte Materialität, weil sie einerseits Materialitätskonzepte hervorbringt, die mit der Betonung konkreter Stofflichkeit, Dinglichkeit oder Körperlichkeit wieder in die Nähe des aristotelischen Paradigmas der Hierarchie von Materie und Form rücken, andererseits aber auch Konzepte bereitstellt, die im Sinne Merschs das präsentische Erscheinen des Materials in den Blick nehmen und etwa dessen Widerstände gegen die verstehende Aneignung als Zeichen betonen.190 Die Lösung dieser Dichotomie liege in einer Vereinigung beider Positionen, weil der Bereich der Kunst, anders als der Bereich der Nicht-Kunst, wesentlich durch seine Selbstreferentialität geprägt ist, »da das zur Aussage Gebrachte nicht von seinem Material zu trennen ist und somit auf dieses zurückverweist«.191 Zudem ist es aber auch »in dem Sinne Selbstzweck, als dass die Verwendung des Materials nur auf die im Kunstobjekt vollzogene Weise wirksam ist und nicht gegen eine andere ausgetauscht werden kann«192. Damit gilt aber auch für die Theateraufführung, dass die angesprochene Dichotomie der doppelten Materialität im Bereich der Kunst aufgehoben wird, tritt doch Kunst in ihrer Verwendung immer als beides in Erscheinung: »Material als Widerständigkeit im Zeichenprozess und seine manifeste Stofflichkeit und Gegenständlichkeit als Träger- und Dingmaterial, technische Apparatur oder Bearbeitungswerkzeug«193. Das »Wie der Verwendung und die selbstreferenzielle Rückkopplung des Dargestellten an die Konstituenten der Darstellung« macht das Besondere des Künstlerischen im Gegensatz zum NichtKünstlerischen aus.194 Mit anderen Worten: Kunst im Ganzen und Kunstarten im Speziellen sind durch das konstitutive Material bestimmt, ohne das die betreffende Kunstart nicht hervorgebracht werden kann. Der Gebrauch des konstitutiven Materials inklusive seines spannungsreichen Inszenierens »ist für die Kunst eine conditio sine qua non«195. Für den weiteren Verlauf der Ausführungen zur Materialität der Aufführung wird daher der Auffassung gefolgt, dass das Material der Kunst das ist, »was bearbeitet bzw. womit gearbeitet werden muß, damit von Kunst einer bestimmten Gattung die Rede sein kann.«196 Das künstlerische Material, das dem Kunstwerk 189 KLEINSCHMIDT: Intermaterialität, S. 39. 190 Vgl. ebd. 191 Vgl. ebd., S. 40. 192 Ebd. 193 Ebd., S. 39. 194 Vgl. ebd., S. 40. 195 SEEL: Ästhetik des Erscheinens, S. 173. 196 Ebd.
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zugrunde liegt, ist selbst niemals neutral und deshalb erst vom Künstler mit Bedeutung versehen worden, sondern hat im »historischen, kulturellen und erst recht im speziellen künstlerischen Kontext […] immer schon eine mehr oder weniger festliegende Signifikanz oder Symbolik«197, auf die der Künstler reagiert und mit der er operiert. Die auf diese Weise aufgeladenen Materialien bilden das Kunstwerk, ohne das aber das Kunstwerk allein vom Material her zu verstehen wäre, aus dem es gemacht ist, weil es erst die Arten der Verwendung der basalen Materialien sind, die dem Kunstwerk einer bestimmten Gattung seine je spezifische Kontur verleihen.198 Dabei können die »Differenzen, die aus einer spezifischen Verwendung eines basalen Materials entstehen, […] als das primäre Medium einer künstlerischen Gestaltung verstanden werden, das ein weites Spektrum von Möglichkeiten der Kombination von Elementen [bereitstellt], aus dem heraus etwas in die Gestalt eines bestimmten Artefakts gebracht werden kann«199. Zwar fällt in der Wahrnehmung des Artefaktes die doppelte Materialität zusammen, dennoch lassen sich ihre beiden Pole heuristisch voneinander trennen, denn dem wahrnehmenden Subjekt kann je nach Einstellung sowohl die Zeichenhaftigkeit des Materials bewusst werden als auch das Wesen des materiellen Zeichenträgers. Kunstwerke als Resultate der künstlerischen Produktion »kann man nicht einfach wahrnehmen, so wie man Steine, Geräusche und Farben wahrnehmen kann. Man muß vielmehr bis zu einem gewissen Grad verstehen, welchen Operationen sie sich verdanken oder in welchen Funktionen sie stehen. Dieses Verstehen führt jedoch nicht von der Wahrnehmung weg, sondern vielmehr zu einer Wahrnehmung, die eben dies vermag – ihre Objekte in der Organisation ihres Materials als Erzeugnisse einer bestimmten Art von Operationen aufzufassen. […] Ihre Materialien sind so organisiert, daß sie sich so präsentieren, auf daß wir etwas von ihnen präsentiert finden können.«200
Zu den jeweiligen Grundoperationen der Anordnung und Organisation des Materials tritt »also eine spezifische Ausführung dieser Operationen hinzu[…], damit es zu Gebilden der einen oder anderen künstlerischen Gattung – oder zu Objekten einer noch unbekannten künstlerischen Spezies – kommt«201. Wer verstehen will, was das Kunstwerk zur Anschauung bringen soll, der muss daher zugleich
197 Ebd., S. 174. 198 Vgl. ebd. 199 Ebd., S. 175. Hervorhebung im Original. 200 Ebd., S. 175f. Hervorhebung im Original. 201 Ebd., S. 176. Hervorhebung im Original.
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für das sinnliche Material offen sein, durch das etwas zur Anschauung gebracht wird, und für den Prozess der Produktion, dem sich diese Anordnung verdankt. Dieses Verständnis von Material und Materialität gilt es nun über die bisher angestellten Überlegungen hinaus mit dem Aufführungsbegriff zusammenzubringen. Wenn es also um die Benennung der basalen Materialität der Theateraufführung geht und ernst genommen wird, dass diese sich als Ereignis vollzieht, dann folgt daraus, dass deren Materialität sich den Beteiligten ebenfalls entzieht. Weil die Aufführung selbst vergeht und sich unmittelbar verflüchtigt, ist sie nicht fixierbar, auch wenn von ihr Requisiten, Texte oder Dokumente des Inszenierungsprozesses vorliegen. Das performativ Hervorgebrachte und unmittelbar Vergangene, die Wirkungen der Körper, Geräusche oder Räume der Aufführung verlieren auf diese Weise ihren Status als reine Zeichenträger. Der Prozess ihrer Wahrnehmung gewinnt hingegen an Bedeutung und so wird die performative Hervorbringung selbst zum Material der Aufführung, das sich den kognitiven Deutungs- und Reflexionsversuchen immer schon entzieht. Es ist dies der wesentliche Unterschied zwischen solchen Kunstwerken, die sich primär als Aufführung realisieren, und jenen, die als Werk ausgestellt, immer wieder betrachtet und wahrgenommen werden können. Das bedeutet zugleich, dass insbesondere einer Aufführung ihre Ästhetik nicht aufgrund eines Werkes zukommt, das sie ausstellt, sondern aufgrund des Aufführens, des Prozesses der performativen Hervorbringung ihrer Materialität. Dies hat Auswirkungen auf die Rolle, welche die an der Hervorbringung einer Aufführung Beteiligten einnehmen: Wenn nämlich die Aufführung ihre Materialität als und im Ereignis exponiert, dann ist unter den Voraussetzungen der unmittelbaren Verflüchtigung des Materials der Zugang dazu nur über die Dokumente und Zeugnisse der Beteiligten möglich. Die performativ hervorgebrachte Materialität »bedarf […] der Transformation in andere Medien – in Video, Photographie, Beschreibung u.a. –, um überhaupt verfügbar zu werden«202. Alles, was in der Aufführung erscheint, sei es intendiert oder nicht, konstituiert die spezifische Materialität der Aufführung. Den Gegensatz, den diese performative Hervorbringung zu anderen Künsten darstellt, fasst Roselt zusammen: »Aufführungen sind keine Kunstwerke, insofern sie über ihren konkreten Vollzug hinaus auf keine materiellen Artefakte reduziert werden können.«203 An dieser Stelle kommt die Frage auf, was im Prozess der Wahrnehmung einer Aufführung als deren Materialität aufgefasst werden kann. Wenn ihre Grundvoraussetzung die leibliche Ko-Präsenz von Spielern und Zuschauern an einem bestimmten Ort für einen bestimmten Zeitraum ist, dann ist es geboten, 202 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 128. 203 ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 117.
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mit Fischer-Lichte das Ereignis-Potenzial der Leiblichkeit, Räumlichkeit und Zeitlichkeit von der Wahrnehmung her in den Blick zu nehmen und diese Elemente durch den Aspekt der Lautlichkeit zu ergänzen. Auf diese Weise kann ein Erwartungshorizont auch für einen phänomenologischen Zugang zur Theateraufführung aufgespannt werden, der mögliche Ansprüche zu formulieren vermag, die von der Materialität des Aufführungsereignisses her den Wahrnehmenden entgegentreten können. Einem theaterdidaktischen Modell, das die Aufführung in den Mittelpunkt des unterrichtlichen Geschehens stellt, wird damit die Möglichkeit gegeben, neben der Frage nach der Bedeutung von Elementen des Aufführungsereignisses auch die Wahrnehmung der darin performativ hervorgebrachten Materialität berücksichtigen zu können. Da sich die Leiblichkeit sowohl theatertheoretisch als auch phänomenologisch bereits als zentral erwies, wird darauf diesen Aspekt der Materialität von Theateraufführungen nun zuerst eingegangen. 3.4.2 Leib und Präsenz Die Bedeutung des Körpers als Material besteht darin, dass er nicht wie anderes Material zu beschreiben ist, weil es sich bei ihm um einen lebenden Organismus handelt, was seine Bearbeitungsmöglichkeiten einschränkt. Wenn allerdings der Körper aus phänomenologischer Perspektive als etwas aufgefasst wird, das nicht ohne den Geist zu denken ist, dann sollte auch nicht der Körper als Material der Theateraufführung aufgefasst werden, sondern der Leib. Während vor dem Hintergrund der Ausführungen zur Wahrnehmung die unauflösliche Bindung der Wahrnehmung an die Leiblichkeit betont und damit die Auswirkungen auf die Prozesse der Wahrnehmung verdeutlicht werden sollte, geht es nun um die Perspektive auf den Leib als Gegenstand der Wahrnehmung. Dabei lässt sich Fischer-Lichte zufolge der überwiegende Teil der Theatergeschichte ohne Rekurs auf die Trennung von Körper und Leib nicht verstehen, weshalb sich in der Theaterwissenschaft zum Zweck einer präziseren Beschreibung die Differenzierung zwischen phänomenalem Leib und dem semiotischen Körper als einem bloßen Konstrukt durchgesetzt hat.204 Wenn diese Trennung trotz der Beibehaltung des Leiblichkeitsbegriffes von Merleau-Ponty in dieser Arbeit übernommen wird, dann vor dem Hintergrund der Auffassung, »dass beide [phänomenaler Leib und semiotischer Körper, P.K.] unlösbar miteinander verbunden sind, der eine nicht ohne den anderen in Erscheinung treten kann, 204 Vgl. dazu etwa Plessners Rede vom »unaufhebbaren Doppelaspekt« der conditio humana von Leib-Sein und Körper-Haben: PLESSNER: Die Stufen des Organischen und der Mensch, S. 293f.
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wobei der phänomenale Leib durchaus ohne den semiotischen Körper gedacht werden kann, das Umgekehrte jedoch nicht möglich ist«.205 Dies lässt sich vor allem anhand der Beschreibung des Schauspielers beispielhaft verdeutlichen. Auf der Bühne präsentiert er einerseits seinen phänomenalen Leib, verkörpert andererseits jedoch zugleich eine ihm zugedachte Figur, indem er seine Rolle mit den Mitteln seines Körpers konkretisiert. Das Material, mit dem der Schauspieler als Künstler auf der Bühne arbeitet, ist demnach sein Körper. Zugleich ist der Schauspieler aber phänomenaler Leib, setzt diesen als semiotischen Körper ein und erscheint dadurch als einer dargestellten Figur zugehörig. Die zeichenhafte Wahrnehmung der verkörperten Rolle gründet somit zuallererst auf der Präsenz des Schauspielers mit seinem phänomenalen Leib, die sich selbst einer ausschließlich zeichenhaften Deutung entzieht, da nicht jede körperliche Eigenschaft des Schauspielers der Inszenierung und semiotischen Indienstnahme geschuldet ist. Begriffe wie Charisma oder Ausstrahlung etwa, die zur Beschreibung der Wahrnehmung des Schauspielers herangezogen werden können, weisen darauf hin, dass in der bloßen Präsenz des Schauspielers etwas semiotisch nicht definitiv Bestimmbares zum Ausdruck kommen kann, das auf der Eigenschaft der Leiblichkeit im phänomenologischen Sinn beruht. Auch der Zuschauer ist in der Aufführung leiblich anwesend. Seine Wahrnehmung ist, so hatte es Merleau-Ponty theoretisch formuliert, durch die Gegebenheiten seines Körpers bestimmt und auch seine Reaktionen auf das Wahrgenommene drückt er mit seinem Körper aus. Auch die Zuschauer haben also einen Körper, sind aber Leib. Lachen, Klatschen oder das nervöse Hin- und Herrutschen auf dem Sitz sowie Müdigkeit bis hin zum Schlaf sind mehr als bloße körperliche Reaktionen, sondern Antworten der Wahrnehmenden auf ihre Umwelt, die auf die Einheit von Körper und Geist im Leib hinweisen. Der Blick in die Theatergeschichte zeigt, dass sich der Umgang mit dem Verhältnis zwischen phänomenalem Leib und semiotischem Körper mehrfach gewandelt hat.206 Dieser Wandel wird vor allem vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der literarischen Gattungslehre für die Frage nach der Materialität der Aufführung insgesamt bedeutsam. Insbesondere die philosophischästhetische Betrachtung des Dramas ab dem 18. Jahrhundert zementiert die sogenannte Literarisierung des Theaters und lässt die Leiblichkeit der Schauspieler nur als semiotische Körperlichkeit zu, also nur dann, wenn sie im Dienste der semiotischen Übersetzung der literarischen Vorlage mit dem Körpermaterial steht. So schreibt Hegel:
205 Vgl. FISCHER-LICHTE: Theaterwissenschaft, S. 45f. Hervorhebung im Original. 206 Vgl. BALME: Einführung in die Theaterwissenschaft, S.123ff.
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»Das Drama muß, weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetsten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst überhaupt angesehen werden. Denn den sonstigen sinnlichen Stoffen, dem Stein, Holz, der Farbe, dem Ton gegenüber, ist die Rede allein das der Exposition des Geistes würdige Element und unter den besonderen Gattungen der redenden Kunst wiederum die dramatische Poesie diejenige, welche die Objektivität des Epos mit dem subjektiven Prinzipe der Lyrik in sich vereinigt, indem sie eine in sich abgeschlossene Handlung als wirkliche, ebensosehr aus dem Inneren des sie durchführenden Charakters entspringende als in ihrem Resultat aus der substantiellen Natur der Zwecke, Individuen und Kollisionen entschiedene Handlung in unmittelbarer Gegenwärtigkeit darstellt.«207
Andere mit dem Theater verbundene sinnliche Stoffe haben sich also nach dieser Auffassung der Vorrangstellung der literarischen Vorlage unterzuordnen, weil außer der Sprache kein anderes Material des Theaters besser dazu geeignet ist, die Gegenwärtigkeit des Dargestellten zu garantieren. Folgerichtig findet die körperliche Dimension des Theaters, das Schauspiel, in Hegels Poesie zwar Erwähnung, Schauspielkunst aber ist nach Hegel nur solche, die sich ihrer Dienstfunktion für die Rede bewusst ist.208 In diesem Sinne besteht die Aufgabe des Schauspielers darin, »in den Geist des Dichters und der Rolle« einzudringen und »seine eigene Individualität im Innern und Äußern demselben ganz angemessen« zu machen.209 Darüber hinaus muss er das vom Dichter Vorgegebene mit seiner eigenen Produktivität ergänzen und ausfüllen und den Zuschauern »durch sein Spiel den Dichter erklären, insofern er alle geheimen Intentionen und tiefer liegenden Meisterzüge desselben zu lebendiger Gegenwart sichtbar herausführt und faßbar macht«210. In dem Maße, in dem die Textvorlage als Kontrollinstanz der Aufführung stark gemacht wird, wird der semiotische Körper des Schauspielers für die Theateraufführung und die Beschreibung ihrer Materialität relevant. Die Passung zwischen dem im Drama verborgenen Textsinn und der semiotischen Umsetzung durch den Schauspieler wird zum Maßstab dafür, ob ein Schauspieler die Schauspielkunst beherrscht oder nicht. Alles, was auf den phänomenalen Leib des Schauspielers hinweist und den Rezipienten von der im Text angelegten Bedeutung, die der semiotische Körper zu übertragen hat, ablenkt, muss dieser Auffassung gemäß verhindert werden. Dazu ist der Schauspieler allerdings erst dann in der Lage, wenn er einen Prozess der Entleiblichung durchgemacht und
207 HEGEL: Die Poesie, S. 259. 208 Vgl. ebd., S. 296. 209 Vgl. ebd., S. 300. 210 Ebd.
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seinen Körper ganz zum semiotischen Körper gemacht hat.211 Diese Auffassung bestimmt die Theatergeschichte über einen langen Zeitraum, weshalb etwa noch Ingarden schreibt: »Nicht zu vergessen ist, daß die realen Schauspieler (Menschen und ›Requisite‹) keinen Bestandteil des Theaterschauspiels bilden. Sie sind lediglich die psychophysischen Seinsfundamente des in der Ausführung sich befindenden Schauspiels, dessen Bestandteil erst die in ihm dargestellten Personen sind: dramatis personae.«212
In dieser Tradition verweist auch Wolfgang Iser darauf, dass sich der Schauspieler zur Erzeugung der »Bestimmtheit einer irrealen Figur […] irrealisieren«, also die Wirklichkeit seines Körpers weitestgehend ausschalten müsse, um durch das daraus hervorgehende »Analogon« der irrealen Figur überhaupt erst die Möglichkeit für ihr Erscheinen geben zu können.213 Für ein anderes Verständnis von Leiblichkeit ist schließlich die Entwicklung bedeutsam, die ab den 1960er Jahren vor allem durch die Performancekunst aufgegriffen und vorangetrieben wurde, da darin zum Ausdruck gebracht wird, dass Bedeutung in der Response des Zuschauers auf den Anspruch der Leiblichkeit des Schauspielers hervorgeht. Dieser Anspruch wird nicht nur in der Bedeutungsübermittlung des semiotischen Körpers gesehen, sondern darüber hinaus in der Erscheinung des phänomenalen Leibes. In ihr wird die Leiblichkeit auffällig und lässt sich mit ihrer Ereignishaftigkeit verbinden. Die Vorstellung des Oszillierens der Wahrnehmung zwischen semiotischer und phänomenaler Ebene weist darauf hin, dass die Bedeutung der Leiblichkeit im Theater nicht darauf reduziert werden kann, dass »einem ›Geistigen‹ – einer Idee, einer Vorstellung, einer Bedeutung oder auch einem körperlosen Geist – vorübergehend ein Körper ›geliehen‹ wird«, dem die Aufgabe zukommt, dieses Geistige wahrnehmbar zu machen und es zur Erscheinung zu bringen.214 Vielmehr verkörpert der Schauspieler etwas und dies meint vor dem Hintergrund des Konzeptes der Leiblichkeit »diejenigen körperlichen Prozesse, mit denen der phänomenale Leib sich immer wieder selbst als einen je besonderen hervorbringt und damit zugleich spezifische Bedeutungen erzeugt«215. Das Geistige kann es nicht außerhalb eines Leibes geben, womit »Geist nur als ein in diesem Sinne verkörperter zu denken ist«216. 211 Vgl. ebd., S. 133. 212 INGARDEN: Das literarische Kunstwerk, S. 404. 213 Vgl. ISER: »Akte des Fingierens«, S. 145f. 214 Vgl. FISCHER-LICHTE: »Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff«, S. 16. 215 Ebd. 216 Ebd.
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Dieser Gedanke hebt den Dualismus von Körper und Geist sowie von phänomenalem Leib und semiotischem Körper letztlich in einem verkörperten Geist, einem »embodied mind« auf.217 Das leibliche In-der-Welt-sein des Menschen ist die »Bedingung der Möglichkeit dafür, daß der Körper als Objekt, Thema, Quelle von Symbolbildungen, Material für Zeichenbildungen, Produkt kultureller Einschreibungen u.a. fungieren kann«, was in der Theater-, aber auch in der Literaturwissenschaft jedoch nach Meinung Fischer-Lichtes lange Zeit nicht ausreichend beachtet worden ist.218 Mit den Konzepten der Verkörperung und des embodied mind ist auf die performative Hervorbringung der Materialität der Theateraufführung verwiesen, denn die performativen Akte, mit denen die Körperlichkeit in den Aufführungen hervorgebracht wird, sind Akte der Symbiose von phänomenalem Leib und semiotischem Körper, unabhängig davon, ob tatsächlich eine Figur dargestellt wird oder nicht.219 Immer kommt es zum Dialog zwischen einem Körper in seinem So-sein und den Deutungen, die er ermöglicht, und es ist letztlich unwichtig, ob es sich um Aufführungen handelt, in denen die Körperlichkeit der Beteiligten ausdrücklich thematisiert wird oder ob dies nicht der Fall ist. Immer gilt aber zugleich auch die Feststellung, dass das Erscheinen des phänomenalen Leibes seiner Semiotisierung vorausgeht. Damit stellt Leiblichkeit zugleich einen Aspekt der Materialität von Aufführungen dar, der sich auch auf jenes Material auswirkt, das im Kontext räumlicher, zeitlicher oder lautlicher Prozesse erscheint. In diesem Zusammenhang bekommt der Begriff der Präsenz eine besondere Bedeutung, denn mit ihm lässt sich Leiblichkeit als Aspekt der Materialität der Theateraufführung präziser fassen. »In der Präsenz des Darstellers erfährt und erlebt der Zuschauer den Darsteller und zugleich sich selbst als embodied mind, als dauernd Werdenden, die zirkulierende Energie wird von ihm als transformatorische Kraft […] wahrgenommen.«220
Dem »Leib des Akteurs, dem es aufgrund bestimmter Techniken und Praktiken gelingt, den Raum zu schaffen bzw. zu besetzen und die ungeteilte Aufmerksamkeit der Zuschauer auf diese seine leibliche Präsenz zu fokussieren«, steht der phänomenale Leib des Zuschauers gegenüber, »der auf eine solche Erfah-
217 Vgl. ebd., S. 17. Hervorhebung im Original. 218 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 153. 219 Vgl. ebd., S. 154. 220 Ebd., S. 171. Hervorhebung im Original.
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rung von Präsenz auf ganz spezifische Weise antwortet«221. Somit ist die leibliche Ko-Präsenz von Schauspielern und Zuschauern, aus der die Theateraufführung hervorgeht, wesentlich bestimmt durch gegenseitige Ansprüche und Antworten aller an ihr Beteiligten. »In Aufführungen wirkt der phänomenale Leib der Beteiligten mit seinen je spezifischen physiologischen, affektiven, energetischen und motorischen Zuständen unmittelbar auf den phänomenalen Leib anderer ein und vermag in diesem je besondere physiologische, affektive, energetische und motorische Zustände hervorzurufen. […] Ob in einer Interaktion, in einem Ritual oder in einer Theateraufführung, immer wieder wird derjenige, der die Zuschauerposition einnimmt, nicht nur den anderen in seiner phänomenalen Leiblichkeit spüren, sondern sich zugleich die Frage stellen, was dieses Stirnrunzeln, das Anheben des Armes oder der Gang durch den Raum bedeuten soll – zumindest, ob sie überhaupt etwas bedeuten sollen.«222
Die Erfahrung der Präsenz, die auf der Wahrnehmung der Leiblichkeit des Anderen beruht, ist es, die die Materialität der Aufführung wesentlich prägt und sie von anderen Medien, etwa technischen und elektronischen, unterscheidet. Diese Medien erzeugen nach Fischer-Lichte lediglich »Präsenz-Effekte«, indem sie den »Schein von Gegenwärtigkeit« hervorrufen, »ohne doch tatsächlich Körper – und Objekte – als gegenwärtige in Erscheinung treten zu lassen«.223 Weil die Präsenz auf Leiblichkeit beruht, kann sie technisch nicht reproduziert werden, was Fischer-Lichte zu dem Schluss kommen lässt, dass sich die Theateraufführung und elektronische bzw. technische Medien unvereinbar gegenüberstehen. »Der Weg, den sie [die technischen und elektronischen Medien, P.K.] einschlagen, ist allerdings dem der Präsenz diametral entgegengesetzt. Während in der Präsenz der menschliche Leib auch und gerade in seiner Materialität in Erscheinung tritt, als energetischer Leib, als lebendiger Organismus, rufen die technischen und elektronischen Medien den Schein der Gegenwart des menschlichen Leibes hervor, indem sie diesen entmaterialisieren, ihn entleiblichen.«224
Das Spezifikum der Materialität der Theateraufführung besteht also gerade darin, die Leiblichkeit von Spielern und Zuschauern als Präsenz erfahrbar zu ma221 FISCHER-LICHTE: »Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff«, S.15f. 222 Ebd., S. 16. 223 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 174. Hervorhebung im Original. 224 Ebd., S. 174f.
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chen und den phänomenalen Leib nicht als semiotischen Körper zu entleiblichen. Ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung geht damit bezogen auf den Aspekt der Leiblichkeit nicht lediglich auf die Leiblichkeit der Wahrnehmung ein, sondern ermöglicht auch den Ausgang von der wahrgenommenen Leiblichkeit, indem er den Fokus auf die Erscheinung des Leibes in seinem Sosein richtet, noch bevor er als Zeichen im Zeichenzusammenhang der Aufführung verortet wird. Diese Spur der Materialität von Aufführungen im Allgemeinen und Theateraufführungen im Speziellen soll nun an einem weiteren Aspekt nachvollzogen werden, der für die Wahrnehmung zentral ist: der Aspekt von Raum und Atmosphäre. 3.4.3 Raum und Atmosphäre Vor dem Hintergrund der Ausführungen zum Aufführungsbegriff ereignet sich eine Aufführung überall dort, wo die leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit gegeben ist. Im Sinne dieses Aufführungsbegriffes sind jedoch die bestimmten Orte, an denen sie sich ereignet, nicht mit bestimmten Gebäuden gleichzusetzen oder an die immer gleichen Orte gebunden. Die performative Hervorbringung konstituiert einen Raum, der zwar von den Gegebenheiten des Ortes beeinflusst ist, an dem die Aufführung sich ereignet, der diese Gegebenheiten aber übersteigt. Im Falle der Theateraufführung hieße dies, dass sie weder allein an einen Theaterbau noch an eine Bühne gebunden sein muss, sondern zunächst einmal durch die Festlegung entsteht, dass es in irgendeinem begrenzten Raum zu einer Verteilung der Rollen von Spielern und Zuschauern kommt. Diese Differenzierung hatte bereits Max Herrmann 1931 vorgenommen: »In der Theaterkunst handelt es sich nicht um die Darstellung des Raumes, sondern um die Vorführung menschlicher Bewegung im theatralischen Raum. Dieser Raum ist aber niemals oder doch kaum je identisch mit dem realen Raum, der auf der Bühne existiert […]. Der Raum, den das Theater meint, ist vielmehr ein Kunstraum, der erst durch eine mehr oder weniger große innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raumes zustande kommt, ist ein Erlebnis, bei dem der Bühnenraum in einen andersgearteten Raum verwandelt wird.«225
Die genaue Ausgestaltung des Kunstraumes bleibt bei Herrmann noch offen. Konkret wäre also zu klären, was der Raum der Theateraufführung ist und welche Faktoren und Einflüsse bei der Konstituierung dieses Raumes zu berücksich225 HERRMANN: »Das theatralische Raumerlebnis«, S. 153.
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tigen sind. Das Problem der Verbindung von phänomenologischem Zugang und Räumlichkeit als Material der Theateraufführung besteht vor dem Hintergrund des skizzierten Aufführungsbegriffes jedoch vor allem darin, die Konstitution des Theaterraumes aus dem Erlebnis des interaktiven Verhältnisses zwischen Bühne und Zuschauerraum und die innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raumes zu erklären. Obwohl Herrmann wohl an einen auf der Bühne dargestellten realen Raum denkt und ihn von jenem Raum abgrenzt, der in der Wahrnehmung der Zuschauer entsteht, lässt sich diese Unterscheidung auch mit der Definition der Theateraufführung in Verbindung bringen. Wenn nämlich als realer Raum über die Bühne hinaus das gesamte Umfeld aufgefasst wird, in dem sich die Theateraufführung ereignet, lässt sich davon immer noch das unterscheiden, was erst als performativ hervorgebrachtes Ereignis entsteht. Damit berührt die Auseinandersetzung mit der Räumlichkeit des Theaters schon bei Herrmann eine über den theaterwissenschaftlichen Kontext hinausgehende Debatte um Raumkonzepte, die zwischen den beiden Polen des physikalischen Raumes einerseits und des Wahrnehmungsraumes andererseits geführt wird. So unterscheidet zum Beispiel Fischer-Lichte den architektonischgeometrischen Raum, der vor und nach der Aufführung gewissermaßen als ihr »Behälter« zurückbleibt, vom »performativen Raum«, der das Produkt theatraler Vorgänge und damit der Dynamik von Handlungen aller Beteiligten ausgesetzt ist.226 Auf diese Weise bildet sie Konzepte kultureller Räumlichkeit ab, die seit Ende des 17. Jahrhunderts maßgeblich von der Naturphilosophie beeinflusst worden sind.227 Isaac Newton etwa ging in seinem physikalischen Raumkonzept zum ersten Mal von einem absoluten Raum aus, der als leerer Raum alle Gegenstände umfasst und dessen Gegenposition in der von Leibnitz vertretenen Vorstellung des mathematisch-topologischen Raumes zu sehen ist, in dem Räumlichkeit durch die Beziehung der Objekte zueinander bestimmt wird. 228 Diese Gegenüberstellung lässt sich mit Michel de Certeau als Gegensatz zwischen Raumordnung und Raumpraxis beschreiben.229 Demnach sind Räume, die durch Praktiken erzeugt werden, von Räumen zu unterscheiden, die als Ordnung den kulturellen Rahmen etwa für Bewegungen der Individuen bereitstellen. Diese Unterscheidung bestätigt sich bei einem Blick in die Theatergeschichte insbesondere der frühen Neuzeit:
226 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 187. 227 Zu einer umfassenden Abbildung der Theorieentwicklung vgl. DÜNNE/GÜNZEL: Raumtheorie. 228 Vgl. GÜNZEL: »Einleitung [Teil I: Physik und Metaphysik des Raums]«, S. 27. 229 Vgl. CERTEAU: Kunst des Handelns.
194 | Wahrnehmung – Ereignis – Materialität
»Die ›Raumgeschichte‹ des Theaters ließe sich auf dieser Grundlage als die historische Entwicklung von einem Raum der Aufführung, der in einen ihn umfassenden festlichen Zusammenhang eingebettet ist, zu einem eigens zu diesem Zweck geschaffenen institutionalisierten Theaterraum beschreiben. In letzterem kann sich das dargestellte raumtheoretische Spannungsverhältnis von vorgegebener Ordnung, die sich im Theater als Rahmen der Bühnenarchitektur manifestiert, und Raumpraxis, die diese Bühnenarchitektur ›bespielt‹, dabei aber auch vorgegebene Grenzen überspielen kann, voll entfalten. Jedoch ist auch in Aufführungssituationen vor der Institutionalisierung eines eigenen Spielorts zumindest ansatzweise eine Grenzziehung vonnöten, die ein theatrales Geschehen aus dem festlichen Zusammenhang, in dem es stattfindet, heraushebt und somit als Inszenierung deutlich werden lässt – Theatralität ist demnach nicht einfach ein Residuum von vorinstitutionellem theatralem Spiel, das auch im instituierten Theater erhalten bleibt, sondern sie entsteht erst, wenn Praxis des Spiels und ein raumsetzender Rahmen zusammenkommen, der das theatrale Spiel in wie rudimentärer Form auch immer als solches markiert.«230
Die Räumlichkeit des Theaters kann als ein komplexes Wechselverhältnis zwischen dem institutionalisierten Theaterraum, dem Ordnungsraum im Sinne de Certeaus, und seiner Bespielung als Praxisraum beschrieben werden. Praxisräume werden demnach insbesondere durch die Bewegungen der Darsteller auf der Bühne und durch ihre mögliche Interaktion mit den Zuschauern im Spiel definiert, was der Sicht der Theaterwissenschaft entspricht, die sich an FischerLichtes Darstellung orientiert und in der vor allem die physische Körperpräsenz betont wird. Dabei entsteht die Räumlichkeit der Praxisräume performativ, insofern diese »[u]ngeachtet der raumzeitlichen Kontiguität von Handelnden und Zuschauern Prozesse der Vermittlung zwischen Publikum und Schauspielern voraus[setzen], welche […] in den körperbezogenen Interaktionsformen der Akteure einen Praxisraum konturieren, der stets zugleich auf den umfassenden medialen Ordnungsraum des Theaters bezogen ist«231. Der Ordnungsraum wird dagegen durch die Inszenierung und den vorhandenen Spielort bereitgestellt, »der sich aus der technisch-apparativen Ausstattung der Bühne, der visuellen Gestaltung der Dekorationen sowie der spezifischen Bühnenform ergibt«232. Roselt nennt in diesem Zusammenhang im Anschluss an die Soziologin Martina Löw zwei wesentliche Konstitutionsprozesse des performativen Raumes, das Spacing und die Synthese:233 Das »Spacing« bezeichnet das »Errichten, Bauen und Positionieren« von Räumen »durch das Platzieren von sozialen Gütern 230 KRAMER/DÜNNE: »Einleitung. Theatralität und Räumlichkeit«, S. 20. 231 Ebd., S. 22. 232 Ebd. 233 Vgl. ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 71f.
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und Menschen bzw. das Positionieren primär symbolischer Markierungen, um Ensembles von Gütern und Menschen als solche kenntlich zu machen« und damit Räume zu konstituieren, die benennbar und beschreibbar sind. 234 Dem stellt Löw als zweiten Konstitutionsprozess die »Synthese« gegenüber, mit der wiederum ein eigener Raum zustande kommt, denn »über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsprozesse werden Güter und Menschen zu Räumen zusammengefasst«.235 Damit deutet sich an, dass die Konstitution des performativen Raumes in der Aufführung keineswegs allein ungeordnet oder rein spontan und subjektiv verläuft, sondern auf benennbare und beschreibbare Faktoren ebenso zurückzuführen ist wie auf die Syntheseleistung in der Wahrnehmung. Die Räumlichkeit der Aufführung ist »nicht […] als ein Artefakt gegeben, für das ein oder mehrere Urheber verantwortlich zeichnen«, sie vollzieht und konstituiert sich vielmehr selbst performativ als Ereignis, ohne dass damit die wechselseitige Beeinflussung von performativem und geometrischem Raum aufgehoben werden würde.236 Sie ist also nicht allein auf die Aspekte des physikalischen Raumes einzugrenzen, allerdings ist auch die These abzulehnen, dass die Räumlichkeit allein aufgrund subjektiver Wahrnehmung konstituiert wird. Die enge Verbindung beider Raumkonzeptionen im Aufführungsereignis und deren Konstitution in der Wahrnehmung kann am Beispiel der Atmosphäre nachvollzogen werden, die bezogen auf die Theateraufführung als räumliches Phänomen eingeordnet wird. Die in der Theaterwissenschaft bereitgestellten Konzepte zur Wahrnehmung der Atmosphäre gehen in ihrem Ursprung auf Untersuchungen zurück, die einerseits von Hermann Schmitz und andererseits von Gernot Böhme vorgelegt wurden.237 Insbesondere Böhme definiert darin Atmosphären als Räume, die sich zwischen Subjekt und Objekt konstituieren und die »als etwas [gedacht werden müssen, P.K.], das von den Dingen, von Menschen oder deren Konstellationen ausgeht und geschaffen wird. Die Atmosphären sind so konzipiert weder als etwas Objektives, nämlich Eigenschaften, die die Dinge haben, und doch sind sie etwas Dinghaftes, zum Ding Gehöriges, insofern nämlich die Dinge durch ihre Eigenschaften – als Ekstasen gedacht – die Sphären ihrer Anwesenheit artikulieren. Noch sind die Atmosphären etwas Subjektives, etwa Bestimmungen eines Seelenzustandes. Und doch sind sie subjekthaft, gehören zu Subjekten, insofern sie in leiblicher Anwesenheit durch
234 Vgl. LÖW: Raumsoziologie, S. 158. 235 Vgl. ebd. 236 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 200. 237 Vgl. SCHMITZ: Der Leib, der Raum und die Gefühle; BÖHME: Atmosphäre.
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Menschen gespürt werden und dieses Spüren zugleich ein leibliches Sich-Befinden der Subjekte im Raum ist.«238
Atmosphären sind also nach Böhme als räumliche Phänomene zu denken, die den Wahrnehmenden in einem konkreten Raum umfangen oder von ihm imaginiert werden und damit in jedem Fall in einem Bezug zu räumlichen Begebenheiten und Arrangements stehen. Erst in der Wahrnehmung wird im Zusammenklang der einzelnen atmosphärischen Elemente der Raum atmosphärisch aufgeladen, was Fischer-Lichte als Wahrnehmung des atmosphärischen Gesamteindruckes beschreibt.239 Dabei kommt die Unterscheidung von geometrischer und performativer Räumlichkeit zum Tragen. So spricht etwa Sabine Schouten von fünf charakteristischen Aspekten der Unterscheidung von atmosphärischem Raum – dem performativen Raum bei Fischer-Lichte – und dem gegenständlichen Raum, der dem geometrischen Raum bei Fischer-Lichte entspricht.240 Es sei erstens die Topographie des atmosphärischen Raumes »von der Wahrnehmung der situativen Umgebung abhängig und nur anhand der eigenen Befindlichkeit zu ergründen«, womit eine Verbindung zwischen dem das Subjekt umgebenden Außenraum und seinem »Innenraum«, also seinem emotionalen Befinden hergestellt ist.241 Zweitens werde dadurch der Wahrnehmende zugleich zum »Mitarchitekten« des atmosphärischen Raumes, da dieser nur durch das Hinzutreten seines emotionalen Befindens konstituiert werden kann.242 Damit ist erneut die Bedeutung der leiblichen Ko-Präsenz und der Leiblichkeit für die Theateraufführung untermauert, denn durch diese Ko-Präsenz und das interaktive Verhalten aller an der Aufführung Beteiligten unterliegt der atmosphärische Raum einer ständigen Veränderung. Ein dritter differenzierender Aspekt ist die Richtungs- und Distanzlosigkeit der atmosphärischen Räumlichkeit, die sich nach Schouten »nicht als quantitativ messbares Was, sondern als qualitatives Wie der Umgebung« ausbreitet.243 Mit diesen Aspekten geht einher, dass der atmosphärische Raum im Gegensatz zum gegenständlichen Raum nicht als statisch und kontinuierlich zu denken ist. Tritt der gegenständliche Raum etwa dem zeitlichen Verlauf der Aufführung als kontinuierliche Struktur entgegen, ist der atmosphärische Raum »an den Verlauf der
238 Ebd., S. 33f. 239 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 201. 240 SCHOUTEN: Sinnliches Spüren. 241 Vgl. ebd., S. 45. 242 Vgl. ebd. 243 Vgl. ebd.
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Zeit, die situativen Veränderungen im Wahrnehmungsraum gekoppelt«244. Was in einem gegenständlichen Raum dadurch auffällig wird, dass es sich in ihm vollzieht, ist also im atmosphärischen Raum an die prozesshafte Veränderung der Wahrnehmung gebunden. Dies ist ein eigener, der vierte Aspekt der Differenzierung zwischen gegenständlichem und atmosphärischem Raum. Ein in diesem Sinne atmosphärischer Raum ist nun darüber hinaus – und das stellt schließlich den fünften Unterschied zwischen atmosphärischem und gegenständlichem Raum dar – durch seine performativ bedingte stetige Veränderung in besonderem Maße affektiv besetzt und wirkt sich so auch auf die Wahrnehmung des gegenständlichen Raumes aus.245 Die theatrale Räumlichkeit konstituiert sich somit performativ durch die Handlungen und Bewegungen der an der Aufführung beteiligten Schauspieler und Zuschauer und wird »von akustischen, visuellen, kinästhetischen und eben auch den daraus resultierenden Atmosphären geprägt«246. Damit unterliegt der performative Raum der Aufführung einem steten Wandel der sich kontinuierlich vollziehenden Raumerfahrungen, die »immer an die bereits im Verschwinden begriffene szenische Konfiguration gebunden«247 ist. Böhme erhebt die Atmosphäre wegen der Verknüpfung von Wahrnehmung und Gegenstand und von Erkennen und Handeln zu einem Grundbegriff der Ästhetik.248 Allerdings entzieht sich das »auf die leibliche Responsivität des Wahrnehmenden angelegte Atmosphärische eines Ortes […] der funktionalen Betrachtung, lediglich in der vorreflexiven, leiblichen Erspürung der Dinge wird es präsent«.249 Seel hält die Wahrnehmung von Atmosphären für ein »sinnlichemotionales Gewahrsein existentieller Korrespondenzen«, das aus einem »synästhetischen Spiel von Erscheinungen« hervorgeht.250 Die Wahrnehmung der Atmosphären beruhe nicht lediglich auf der »generellen Spürbarkeit von Atmosphären«, sondern auf wahrnehmbaren Eigenschaften des Gegenstandes in einer bestimmten Situation, etwa von »Temperaturen, Gerüchen, Geräuschen, Sichtbarkeiten, Gesten und Symbolen«251. Dieses Gewahrsein berührt und betrifft »die, die sich in dieser Situation befinden, auf die eine oder andere Weise«252. So
244 Ebd. 245 Vgl. ebd. 246 Ebd., S. 46. 247 Ebd. 248 Vgl. BÖHME: Atmosphäre, S. 34f. 249 Vgl. SCHOUTEN: »Art. Atmosphäre«, S. 15. 250 SEEL: Ästhetik des Erscheinens, S. 153. Hervorhebung im Original. 251 Vgl. ebd. 252 Vgl. ebd.
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wird auch hier die wechselseitige Beeinflussung von atmosphärischem und gegenständlichem Raum deutlich. »Immer zeigt sich oder ergibt sich das Atmosphärische […] aus einer Korrespondenz zwischen – längerfristigen oder augenblicklichen – Lebensvorstellungen oder Lebenserwartungen und dem, wie eine Situation – längerfristig oder augenblicklich – im Licht dieser Dispositionen erscheint. […] Auch dies aber ist ein objektives Verhältnis in dem Sinn, daß es von jedem mitvollzogen werden kann, der entsprechende existentielle Affinitäten hat oder kennt.«253
Fischer-Lichte denkt zudem darüber nach, ob die »Bedeutungsdimension der Dinge für die Wirkung von Atmosphären völlig ohne Belang ist« und ob nicht vielmehr den »Bedeutungen durchaus ein Anteil an der starken Wirkung von Atmosphären zukommt«.254 Diese Überlegung ergibt sich notwendigerweise aus dem Aufführungserlebnis, dessen erste Eindrücke zwar durch eine erspürte Atmosphäre geprägt sein können, »diese entschwindet aber nicht, sobald das Dargebotene vom Zuschauer mit einer bestimmten Bedeutung belegt wird«.255 Erst in der »gegenseitigen Verschränkung, Abschwächung und Wechselwirkung zwischen der Materialität und Referentialität« stellt sich jedoch Schouten zufolge die Atmosphäre her, die in einer bestimmten Raumkonstellation wahrgenommen wird.256 Es kann also festgehalten werden, dass mit der Atmosphäre ein materieller Aspekt der Aufführung benannt ist, der performativ hervorgebracht wird und auf gestaltete Elemente der Aufführung zurückgeführt werden kann, wie sie in der Inszenierung und dem bereits vorhandenen physikalischen Raum angelegt sind. Darin erschöpft sich die Konstitution der Atmosphäre jedoch nicht, sondern sie ist ebenso auf ein wahrnehmendes Subjekt angewiesen, das selbst Teil der performativen Konstituierung der Atmosphäre ist. Atmosphäre als Material der Aufführung, das mit ihrer Räumlichkeit in Verbindung steht, wird vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs und nach den Ergebnissen der Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung in den vorangegangenen Abschnitten nicht spontan und willkürlich wahrgenommen. Sie stellt nicht allein das Wiedererkennen eines in der Inszenierung angelegten Programmes dar, denn Atmosphären werden auch von der Wahrnehmung solcher Gegenstände beeinflusst, die der Architekt des Theaters oder der Regisseur nicht vorgesehen hatten. Vielmehr 253 Ebd., S. 153f. 254 Vgl. FISCHER LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 209. 255 Vgl. SCHOUTEN: »Art. Atmosphäre«, S. 15. 256 Vgl. ebd.
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konstituiert sich die Wahrnehmung der Atmosphäre wie die Aufführung als Ereignis. Die performativ sich konstituierende Materialität der Aufführung, die sich unmittelbar verflüchtigt, ist, so ging aus der Erörterung der Räumlichkeit des Theaters und der Atmosphäre der Aufführung hervor, wahrnehmbar, beschreibbar und lässt sich über die Anwendung der Phänomenologischen Epoché auf das Wesen der Aufführung zurückführen. Dieser Gedanke wird ebenfalls im Blick auf einen weiteren Aspekt der Materialität einer Theateraufführung deutlich, dem Blick auf ihre Lautlichkeit, die vor allem in der Wahrnehmung von Klang bedeutsam werden kann. 3.4.4 Laut und Klang Im zweiten Kapitel wurden den an der Theateraufführung Beteiligten die Rollen der Spieler und Zuschauer zugewiesen. Dabei stellt die Rede vom Publikum als den Zuschauern jedoch bereits eine Eingrenzung dessen dar, was insgesamt sinnlich wahrgenommen werden kann. Denn über das Schauen hinaus wird auch etwas gehört, möglicherweise gerochen oder sogar geschmeckt. Stellen jedoch die letztgenannten Weisen der sinnlichen Wahrnehmung in Theateraufführung eher eine Seltenheit dar, verhält sich dies mit dem Hören anders, auf das daher näher eingegangen werden muss. Sowohl Zuschauer als auch Zuhörer unterliegen gemeinsamen Bedingungen: Beide sind – insofern sie in einer Gruppe an einem bestimmten Ort zusammenkommen, um etwas anzusehen und anzuhören – den Bedingungen der Aufführung unterworfen. Ebenso wie das Gesehene ist auch das Gehörte flüchtig, denn ein aus der Stille im Raum auftauchender Laut »breitet sich in ihm aus, füllt ihn, um im nächsten Augenblick zu verhallen, zu verwehen, zu verschwinden«257. Laute und Klänge, die in einem Moment vernehmbar präsent sind, verflüchtigen sich bereits im nächsten Moment unwiederbringlich, was die Wahrnehmung der Anwesenden in hohem Maße beeinflusst. So können Klänge zum Beispiel bestimmte Emotionen, Erinnerungen oder Reaktionen hervorrufen, bestimmte räumliche Atmosphären mit konstituieren oder zeitliche Rhythmen vorgeben. Wenn auch der Klang also selbst unmittelbar verhallt, ist seine Wirkung auf die Zuhörer dennoch in vielfacher Hinsicht nachhaltig. Darüber hinaus wirkt die Lautlichkeit von Aufführungen auch auf die beschriebenen räumlichen materiellen Bestandteile der Aufführung ein und ist selbst als ein solcher Bestandteil der Aufführung anzusehen.258 Denn das Theater ist »niemals nur ein Schau-Raum (theatron), sondern immer auch ein Hör-Raum (auditorium)«, in dem Laute ver257 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 209. 258 Vgl. ebd., S. 209f.
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schiedenster Art, zum Beispiel »sprechende und singende Stimmen, Musik, Geräusche«, erscheinen können.259 Dabei kommt jedoch in der langen Geschichte des Theaters insbesondere den Stimmen der Schauspieler und dem durch sie übermittelten Text eine besondere Rolle zu, obwohl Fischer-Lichte darauf verweist, dass die »Lautlichkeit im europäischen Theater keineswegs ausschließlich und noch nicht einmal überwiegend durch sprechende Stimmen, also gesprochene Sprache hervorgebracht [wird]«260. Ihr kommt es gerade auf den Unterschied zwischen Sprache und Stimme an. Dem steht zunächst entgegen, dass im Theater Stimmen wahrgenommen werden, die sprechen oder singen, also unterschiedliche Laute von sich geben. Stimme und Sprache sind damit scheinbar eine Symbiose eingegangen, in der die Sprache sich der Stimme bedient, sie dominiert.261 Aus diesem Verständnis des Verhältnisses von Stimme und Sprache heraus entwickelte sich in der Theatergeschichte die Überzeugung, dass Akteure auf der Bühne ihre Stimme so einzusetzen hätten, dass »sie in Bezug auf das Gesprochene eine parasyntaktische, eine parasemantische und eine parapragmatische Funktion zu erfüllen vermag« und die syntaktische Gliederung verdeutlicht, die Bedeutung hervorhebt und die Wirkung des gesprochenen Wortes verstärkt. 262 Diese Dominanz der Sprache wird erst im Zuge des Naturalismus abgeschwächt und die Stimme als eigenes gestaltbares Material des Theaters entdeckt, mit dem dann spätestens ab den 1960er Jahren von der Performancekunst und dem Theater immer weiter experimentiert wird.263 In den Auflösungsversuchen der Dominanz der Sprache gegenüber der Stimme erscheint die Stimme polymorph und »verliert jede auf Geschlecht, Alter, ethnische Zugehörigkeit oder anders verweisende Markierung«, womit sie selbstreferenziell eingesetzt und von ihrer Funktion als Medium der Sprache endgültig entbunden wird.264 Diese Entwicklung führt schließlich dazu, die Stimme auch selbst zu einer Art von Sprache werden zu lassen: »Sie übermittelt nicht länger Sprache, ist vielmehr selbst Sprache, in der ein leibliches Inder-Welt-Sein sich ausspricht und den Zuhörer anspricht. Sie ist reine Aus- und Ansprache. In der Materialität der Stimme tritt so nicht nur die gesamte Materialität der Aufführung in Erscheinung – als Lautlichkeit, weil die Stimme als Laut erklingt; als Körperlich259 Vgl. ebd., S. 210. Hervorhebung im Original. 260 Ebd., S. 213. 261 Vgl. ebd., S. 220. 262 Vgl. ebd. 263 Vgl. ebd., S. 223. 264 Vgl. ebd.
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keit, weil sie sich mit dem Atem dem Körper entringt; als Räumlichkeit, weil sie sich als Laut im Raum ausbreitet und an das Ohr des Zuhörers und des sich in der Stimme Verlautbarenden dringt. Die Stimme ist vielmehr Sprache, ohne erst Signifikant werden zu müssen.«265
Natürlich bleibt die Stimme dabei auch immer Signifikant, insbesondere dort, wo Dramentexte als Partitur der Aufführung dienen. Worauf die Differenzierung Fischer-Lichtes allerdings hinweist, ist, dass die Begrenzung lautlicher Aspekte von Theateraufführungen zu kurz greift. Die Stimme selbst konstituiert bereits ohne ihre Dienstfunktion als Übermittlerin sprachlicher Zeichen als Material durch ihre Lautlichkeit und den Klang den Raum zwischen Verlautbarenden und Zuhörenden und setzt die an der Aufführung Beteiligten damit in ein Verhältnis, indem sie eine Beziehung zwischen ihnen stiftet.266 Die Hör-Räume des Theaters werden in Theateraufführungen durch sämtliche wahrnehmbare Laute und Klänge konstituiert, sowohl durch solche, die von den Spielern ausgehen und zum Teil in den Inszenierungen intendiert wurden, als auch durch jene, die durch die Zuschauer hervorgebracht werden. Darüber hinaus beeinflussen aber auch Laute und Klänge die Aufführung, die von außerhalb des gegenständlichen oder performativen Raumes der Aufführung in diesen Raum hineindringen, etwa das Knistern der Scheinwerfer oder ein mit Martinshorn vorbeifahrender Krankenwagen. Wenn man auch davon ausgehen darf, dass etwa die Stimmen der Schauspieler eine größere Bedeutung für die Wahrnehmung der Aufführung haben als der Verkehr vor dem Theater, so ist doch der Hör-Raum in jeder Aufführung ein anderer, weil er auch durch Zufälligkeit, Flüchtigkeit und Unverfügbarkeit bestimmt ist und die Geräusche der Aufführung ihren Beteiligten in hohem Maße widerfahren können. Zudem ist auch in diesem Fall die Art und Weise, in der Laute und Klänge einem Zuschauer erscheinen, von dem Anspruch abhängig, der vom Wahrnehmenden identifiziert wird. Über die Bedeutung gesprochener Sprache hinaus kann dieser Anspruch auch im Klang der Stimme, in der Lautstärke oder in außersprachlichen und von der Stimme unabhängigen Lauten und Klängen liegen. Inwiefern dabei auch Zeit und Rhythmus eine Rolle spielen, wird nun abschließend erörtert.
265 Ebd., S.226. 266 Vgl. ebd.
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3.4.5 Zeit und Rhythmus Im Zusammenhang mit den Erörterungen zum Aspekt der Räumlichkeit als Material der Theateraufführung wurde der Aspekt ihrer Zeitlichkeit bereits angesprochen: Es war vor allem die Prozesshaftigkeit, der die Konstitution des atmosphärischen Raumes unterworfen ist, die den Gegensatz zum statischen gegenständlichen Raum gebildet hatte und so beide Räume voneinander unterscheidbar machte. Zudem lässt sich zur Darstellung der Bedeutung von Zeit als Material der Theateraufführung der Ereignisbegriff heranziehen, der mit dem Gedanken des Widerfahrnisses, des plötzlichen Einfalls einer Irritation in den erwartbaren oder erwarteten Verlauf einer Situation, verbunden war. Damit liegt es also nahe, die Zeit als einen Aspekt der Materialität von Aufführungen aufzufassen und zu vertiefen, um in diesem Zusammenhang auch die Auswirkungen auf das Zeitempfinden während der Aufführung zu skizzieren. Diese Einordnung von Zeit als Material von Theateraufführungen ist jedoch umstritten, denn etwa Fischer-Lichte formuliert, dass sich »Zeitlichkeit nicht – wie Körperlichkeit, Räumlichkeit, Lautlichkeit – unter die Materialität der Aufführung subsumieren lässt«267. Vielmehr könne man die Zeitlichkeit der Aufführung als Bedingung ihrer Möglichkeit auffassen, strukturiere sie doch das Erscheinen des gesamten Materials.268 In diesem Sinne ist Zeit dem übrigen Material gewissermaßen übergeordnet, da Aufführungen notwendig in einem bestimmbaren Zeitabschnitt geschehen, der durch einen Anfang und ein Ende markiert wird. Die Zeit zwischen Anfang und Ende bildet den Abschnitt des konkreten Vollzuges der Aufführung, über den hinaus von ihr kein materielles Artefakt zurückbleibt. Die Wiederholbarkeit, von der im Kontext der Ausführungen über den Inszenierungsbegriff die Rede war, setzt die Flüchtigkeit der Aufführung voraus, weil durch die Wiederholung »nur etwas wieder(ge)holt werden [kann], was weg war«269. Die Transitorik der Aufführung ist also durch die Wahrnehmung ihrer Zeitlichkeit bestimmt. »[G]erade in der räumlichen und zeitlichen Gegenwärtigkeit des Hier und Jetzt […] [wird] eine besondere Qualität des Theaters ausgemacht, deren Erfahrung enthusiastisch mit Begriffen wie Unmittelbarkeit, Präsenz oder Intensität zu beschreiben wäre. Es ist also davon auszugehen, dass Gegenwärtigkeit und Vergänglichkeit einander bedingen. Es handelt sich um die zwei Seiten einer Medaille, insofern die Intensität des Theaterereignisses ge-
267 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 227. 268 Vgl. ebd. 269 ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 117f.
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rade seiner Vergänglichkeit geschuldet ist. Die Erfahrung von Intensität oder Präsenz wäre damit gekoppelt an die des Entzugs, des Entgleitens oder des Verlusts.«270
Insofern aber die durch die theatrale Aufführung gestaltete Zeit bewusst eingesetzt wird, um der narrativen Vergegenwärtigung von Zeit zu entsprechen oder zuwiderzulaufen, handelt es sich bei der Zeit doch um ein Material der Aufführung.271 Ähnlich der Differenzierung der Räumlichkeit in physikalischen und Wahrnehmungsraum ist auch die Zeitlichkeit in die gestaltete einerseits und die wahrgenommene, subjektive Zeitlichkeit andererseits zu differenzieren. In diesem Sinne bringen die »Erinnerungen, Imaginationen und Assoziationen der Zuschauer […] andere Zeitdimensionen ins Spiel«, die nicht den Gesetzmäßigkeiten chronologischer Rekonstruktion entsprechen, sondern unmittelbar von den Wahrnehmungsweisen der Zuschauer abhängig sind.272 Im Vorgang der Rekonstruktion der Aufführung aus der Erinnerung etwa offenbart sich die Diskontinuität der Wahrnehmung in besonderem Maße, denn diese Rekonstruktion wird nicht chronologisch oder dramaturgisch korrekt, also in der »›richtigen‹ Reihenfolge der einzelnen Szenen«, erinnert, sondern in einer neuen, eigenen zeitlichen Abfolge.273 So kommt neben der gestalteten und wahrgenommenen Zeit nachträglich die erinnerte Zeit der Aufführung hinzu, die als rekonstruierte Dramaturgie wiederum eigene Akzente setzt. Roselt erinnert daran, dass die »Dramaturgie der Erinnerung […] Lücken, Brüche und Unklarheiten aufweisen [kann] und […] dennoch nicht als defizitär gelten [muss], denn sie schafft ihre eigenen Höhepunkte, Peripetien usw.«274. Die Gestaltung der Zeit im Rahmen der Inszenierung und der tatsächliche, als gegenwärtig wahrgenommene zeitliche Ablauf der Aufführung sind also für die Dramaturgie der Erinnerung letztendlich unerheblich, weil sie nicht verbindlich machen können, was als zeitlicher Ablauf erinnert wird.275 Vielmehr umfasst die Rekonstruktion der Zeitlichkeit einer Aufführung solche Momente, in denen die Zeitlichkeit selbst auffällig geworden ist. Dies können etwa Phasen von Langeweile sein, in denen die Aufführung endlos erschien, oder Momente erlebter Beschleunigung innerhalb der Aufführung, in denen Auftritte und Handlungen scheinbar unmittelbar aufeinander folgen.
270 Ebd., S. 122. 271 Vgl. PRIMAVESI: »Art. Zeit«, S. 424. 272 Vgl. ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 127. 273 Vgl. ebd. 274 Ebd. 275 Vgl. ebd.
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Die Wahrnehmung der besonderen Zeitlichkeit der Aufführung unterliegt allerdings nicht allein subjektiven Eindrücken, sondern lässt sich als Material der Aufführung konkretisieren und an Elemente der dargestellten Zeit rückbinden. Dies verdeutlicht der Blick auf das Beispiel Rhythmus. Insbesondere für die Theateraufführungen seit den 1960er Jahren spielt die Zeitlichkeit und ihre Wahrnehmung eine herausragende Rolle, wobei es häufig der Rhythmus der Aufführungen ist, der diese Zeitlichkeit wahrnehmbar werden lässt und den Fischer-Lichte sogar als »das leitende, das übergeordnete, wenn nicht sogar das ausschließliche Prinzip zur Organisation und Strukturierung von Zeit«276 in der Aufführung bezeichnet.277 Für die Wahrnehmung und Analyse des Rhythmus in Aufführungen hält Clemens Risi vier Aspekte für wichtig, die zugleich die Definitionsgeschichte des Rhythmusbegriffes bündeln:278 Zum einen stellt Rhythmus ein Gliederungsund Ordnungsprinzip von Zeit dar. So kann vom Herzrhythmus, vom Rhythmus eines Musikstückes oder dem Rhythmus einer Handlung gesprochen werden und in jedem Fall bezieht sich dies auf die »Wiederholung von kontrastiven oder komplementären Elementen«, womit der Rhythmusbegriff auch als »zentrale Kategorie performativer Prozesse anzusehen« ist.279 Damit kommt dem Rhythmus etwas Prozessuales zu, weil es den mit ihm in Verbindung stehenden Beschreibungen zeitlicher Prozesse um »das Momentane, das in Bewegung Befindliche, den Verlauf, die Prozessualität«280 geht. Das wesentliche Kennzeichen des Rhythmus ist also die Ordnung verschiedener Elemente etwa durch ihre Wiederholung, die sich als Prozessualität bemerkbar macht. Ein zweiter Aspekt, den Risi nennt, ist mit der Intermodalität der rhythmischen Wahrnehmung verbunden. Rhythmen sind für Risi »nicht beschränkt auf eine bestimmte Materialität oder Sinnes-Modalität«, denn sie sind »grundsätzlich Phänomene, die sich in der Zeit ereignen, ob akustisch, visuell oder haptisch«.281 Weil also der Rhythmus immer zugleich die Bewegung verschiedener Materialien ordnet, etwa die Bewegung von Schritten, Gesten, Silben oder Tönen, entstehen Wechselwirkungen der Wahrnehmungsmodi untereinander, die durch den Rhythmus als Ordnungsprinzip erst ausgelöst werden. Rhythmische Wahrnehmung ist also in diesem Sinne
276 FISCHER-LICHTE: Ästhetik des Performativen, S. 233. 277 Vgl. RISI: »Rhythmen der Aufführung«, S. 168. 278 Vgl. ebd., S. 168f. und RISI: »Art. Rhythmus«, S. 294ff. 279 Vgl. RISI: »Rhythmen der Aufführung«, S. 168. 280 RISI: »Art. Rhythmus«, S. 294. 281 Ebd.
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eine intermodale.282 Aussagen über den Rhythmus einer Aufführung beziehen sich damit immer auf die ihr zugrunde liegende Materialität als einer performativ hervorgebrachten. Die Wahrnehmung dieser Materialität aber ist drittens an ein wahrnehmendes Subjekt gebunden, das wie bei der Wahrnehmung von Atmosphäre den ihm eigenen mit dem wahrgenommenen Rhythmus konfrontieren muss. Denn als physiologische und kognitive Bedingungen der rhythmischen Wahrnehmung gilt Risi die Tatsache, dass der Mensch seine Umwelt immer schon selbst rhythmisiert, indem er eintretende Ereignisse oder neue Informationen der subjektiven Rhythmisierung unterwirft. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass der wahrgenommene Rhythmus beim Wahrnehmenden die Erwartung und Antizipation einer bestimmten zeitlichen Struktur oder einer Fortsetzung der wahrgenommenen Bewegungen und Abläufe auslöst. Zeitliche Strukturen werden also nicht nur im »Prozess des Erkennens von kohärenten Phänomenen oder zusammenhängenden zeitlichen ›Objekten‹« wahrgenommen, sondern haben »auch produktive mentale (Eigen-)Leistungen« zur Voraussetzung, sind also nie ohne den Bezug zur subjektiven Rhythmisierung zu denken, die auf der Leiblichkeit der Wahrnehmung beruht.283 Der in der Inszenierung angelegte Rhythmus, der »auf eine Zeitachse eintragbare«, trifft in der Aufführung auf den wahrgenommenen Rhythmus, der auch »der in die Aufführung mitgebrachte […], der eigene (angeborene, genetisch bestimmte) Körperrhythmus und die individuelle Verfassung zum Zeitpunkt der Rezeption«284 ist. Da das Widerfahrnis ein zentrales Kennzeichen des Ereignisses ist, sind solche Momente der Aufführung besonders interessant, in denen das Zusammentreffen von vorgegebenem und eigenem Rhythmus sich nicht als Übereinstimmung und Regelmäßigkeit bemerkbar macht, sondern als Bruch, Störung und Pause. Die Wahrnehmung von Bekanntem und die widerfahrende Durchbrechung dieser Wahrnehmung gehören also gleichermaßen zur Wahrnehmung des Rhythmus einer Aufführung: »Hier wird deutlich, dass es beim Rhythmus eben nicht nur um die Gleichmäßigkeit, Regelmäßigkeit geht, sondern auch um die Störung, den Bruch, die Pause, und zwar im Wechselspiel, in der gegenseitigen Bezugnahme. Zum Rhythmus gehören Puls und Bruch, Wiederholung und Differenz, Kontinuität und Diskontinuität. […] In der Gleichberechtigung von Puls und Bruch treffen zwei Rhythmus-Bestandteile oder zwei verschiedene Rhythmen aufeinander.«285
282 Vgl. RISI: »Rhythmen der Aufführung«, S. 169. 283 Vgl. RISI: »Art. Rhythmus«, S. 295. 284 Ebd. 285 RISI: »Rhythmen der Aufführung«, S. 171. Hervorhebung im Original.
206 | Wahrnehmung – Ereignis – Materialität
In diesem Sinne bewegt sich die Wahrnehmung des Rhythmus einer Aufführung immer auch zwischen der Erfahrung der vergangenen Rhythmus-Wahrnehmung und der daraus für den Wahrnehmenden resultierenden und auf die Zukunft gerichteten Rhythmus-Struktur. Eng damit verbunden ist der vierte und letzte Aspekt, auf den Risi eingeht, und der unmittelbar aus der Wechselwirkung zwischen vorgegebenem und eigenem Rhythmus resultiert. Dieser Aspekt fokussiert aber noch einmal stärker auf die körperliche Wirkung als affektive Teilhabe an oder Abgrenzung von der Aufführung, denn physiologische Vorgänge wie Herzschlag oder Atmung unterliegen einem rhythmischen Muster und zugleich wird auch der Körper selbst durch bestimmte Rhythmen zur Bewegung angeregt. Risi zeigt dabei unter Bezugnahme auf aktuelle physiologische Untersuchungen, dass sich »[a]lle physiologischen Vorgänge in unserem Körper (wie Herzschlag, Atmung, Muskelkontraktionen im Magen-Darm-Trakt, Hormonbewegungen im Blut, überhaupt Körperbewegungen) […] in rhythmischen Mustern« ereignen, als »Folge von sich wiederholenden Ereignissen, die einer inneren Logik folgt und die deswegen für andere Menschen nachvollziehbar ist«.286 Weil der Körper und die in ihm sich vollziehenden Prozesse rhythmisch organisiert und strukturiert sind, ist es Wahrnehmenden möglich, »in ein produktives Verhältnis zu den wahrgenommenen Rhythmen«287 einer Aufführung zu treten. Die eigene leibliche Disposition hat dabei ebenso Einfluss auf die Wahrnehmung der sich ereignenden und in der Aufführung hervorgebrachten Rhythmen wie auch umgekehrt die in der Aufführung produzierten Rhythmen die leibliche Disposition beeinflussen. Noch deutlicher als bei den anderen von Risi erwähnten Aspekten tritt hier die von Merleau-Ponty intendierte Gebundenheit menschlicher Wahrnehmung an die Leiblichkeit zutage. Was lediglich als vermeintliches Gefühl aufgefasst werden kann, die Empfindung eines Rhythmus, zeigt sich wesentlich von der Leiblichkeit einer Wahrnehmung von erscheinenden Gegenständen und Handlungen abhängig, die diese sinnliche Wahrnehmung nicht nur ermöglichen, sondern auch beeinflussen. Die Beschreibung des Rhythmusbegriffes ergibt also, dass sich der Rhythmus einer Aufführung, der sich aus dem Wechselspiel von inszeniertem und sich ereignendem Rhythmus konstituiert, ebenfalls als ein Ereignis bezeichnen lässt, das sich zwischen allen Beteiligten und zwischen einem Anspruch und der Antwort darauf ereignet. Den engen Bezug zur performativen Hervorbringung des Rhythmus stellt Risi daher eigens heraus:
286 Vgl. ebd., S. 175. 287 Ebd.
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»Der Rhythmus […] erweist sich insofern als performativ, als er seine eigene Herstellung – in der Wiederholung, in den Kollisionen, in den Übergängen – anstellt und eine Bewusstwerdung der Wahrnehmung ermöglicht. Auf den ersten Blick mag dieser Rhythmus dazu verleiten, in ihm eine Möglichkeit zu sehen, das Flüchtige zu bannen, zu hintergehen – und zwar durch die Erfahrung der ihn mitbestimmenden Wiederholung. Indem aber die Wiederholung gerade durch ihre Zeitlichkeit und die sich verändernden Wahrnehmungsbedingungen nie identisch sein kann, verdeutlicht die Wiederholung gerade die Flüchtigkeit der performativen Aufführung selbst.«288
Insbesondere seit den 1960er Jahren wird der Rhythmus zum ausschließlichen Prinzip der Organisierung und Strukturierung von Zeit in Theateraufführungen, das zuvor in den Aufführungen des dramatischen Theaters dessen leitenden dramaturgischen Prinzipien unterworfen war. Deshalb bietet sich eine Analyse des Rhythmus der Aufführung, die auf die eben skizzierten Aspekte Wert legt, sowohl in den postdramatischen und performativen als auch in klassisch inszenierten Aufführungen an. Der Rhythmus kann dabei die Funktion der Dehierarchisierung der theatralen Mittel, der Durchbrechung von Handlungs- oder Psychologiken und der Stiftung einer Gemeinschaft von Spielern und Zuschauern und der Zuschauer untereinander in besonderer Weise erfüllen. So mögen die Zuschauer im Verlauf der Aufführung zu einem gemeinsamen Rhythmus finden, aus dem sie allerdings auch wieder aussteigen können, weil auch er, ebenso wie der Raum, einer ständigen Transformation unterworfen ist.289 Diese Gemeinschaft wird »nicht durch Verpflichtung auf gemeinsame Ideen, Ideologien, Glauben, Überzeugungen, Werte, Vorstellungen, Haltungen etc.« konstituiert, sondern durch die Eröffnung der Möglichkeit, »Gemeinschaft als geteilte Erfahrung in ihrer Dynamik leiblich zu spüren und zu erleben«290. So erweist sich der Rhythmusbegriff als Konkretisierung der Zeitlichkeit, indem er beschreibbar macht, wie die Zeit als Material der Aufführung wahrgenommen werden kann. Dabei ist das Gesagte mit dem Aufführungsbegriff vereinbar, der dieser Arbeit zugrunde gelegt wird, und weist zudem ebenfalls auf die bereits skizzierten phänomenologischen Positionen hin. Im Rhythmus und als Rhythmus materialisiert sich Zeit, die so zur Ereignishaftigkeit der Aufführung wesentlich beiträgt und als Erfahrung verbalisierbar wird, wenn man sich ihr über einen phänomenologischen Zugang nähert. Welche theaterdidaktischen Perspektiven sich daraus und insgesamt aus der Materialität der Aufführung ergeben, wird im Folgenden dargestellt. 288 Ebd., S.175f. 289 Vgl. ROSELT: Phänomenologie des Theaters, S. 132. 290 FISCHER-LICHTE: »Rhythmus als Organisationsprinzip von Aufführungen«, S. 246.
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3.4.6 Theaterdidaktische Perspektiven Die Auseinandersetzung mit der Materialität der Theateraufführung zeigt, dass diese solche Elemente beinhaltet, die im Rahmen der leiblichen Ko-Präsenz performativ hervorgebracht werden und damit der spezifischen Medialität der Aufführung unterliegen. Aufgrund der Transitorik der Aufführung sind auch deren materielle Elemente der Flüchtigkeit unterworfen. Die von der Materialität der Aufführung ausgehenden Erfahrungen ereignen sich damit im Moment ihrer Erscheinung, ohne dass von diesem Ereignis ein Artefakt zurückbliebe, an dem sich die reflexive Auseinandersetzung abarbeiten kann. Dies unterscheidet die Materialität von Aufführungen im Allgemeinen und von Theateraufführungen im Speziellen von der Materialität anderer Medien und Gegenstände des Deutschunterrichts wie Buch oder Film. Die Erfahrungen von Flüchtigkeit einerseits und Präsenz andererseits sind damit die treibenden Kräfte hinter der Wahrnehmung von Körper bzw. Leib, Raum, Zeit und Laut als Material einer Aufführung. Es ist jedoch zuerst und vor allem die Leiblichkeit von Spielern und Zuschauern, die als der zentrale Aspekt der Materialität gerade einer Theateraufführung gelten kann, da ohne deren Vorhandensein weder in medialer noch materialer Hinsicht eine Theateraufführung überhaupt zustande kommt. Die theaterdidaktische Perspektive, die hieraus erwachsen kann, wäre insbesondere die Thematisierung der wechselseitigen Beeinflussung von phänomenalem Leib und semiotischem Körper unter der Bedingung von Flüchtigkeit und Ereignishaftigkeit. Fundiert in der eigenen Erfahrung der Präsenz des phänomenalen Leibes und der Rückführung dieser Erfahrung auf Eigenschaften des wahrgenommenen Gegenstandes wäre die Möglichkeit gegeben, sowohl die Prozesse der Präsenzerfahrung aufzuklären als auch nach den semiotischen Aspekten zu fragen, die mit dieser Präsenzerfahrung in Verbindung stehen. Durch die Hinzunahme theaterhistorischer Anteile könnte die Auseinandersetzung mit Strategien zur weitgehenden Zurückdrängung oder Betonung von Körperlichkeit bzw. Leiblichkeit vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit diesem Element der Materialität in der besuchten Aufführung vermittelt werden. Darüber hinaus wäre, wenn die semiotische Funktionalisierung des Körpers erfahren wurde, auch eine Thematisierung der Inszenierungsstrategien möglich oder der Vergleich des theatralen und schriftlichen Zeichengebrauches unter Berücksichtigung einer Textpartitur der Aufführung. Ähnlich verhält es sich auch mit der theaterdidaktischen Perspektive, die aus der Räumlichkeit des Theaters und der eingeführten Unterscheidung von architektonisch-geometrischem und performativem Raum erwächst. In Bezug auf den architektonisch-geometrischen Raum wäre danach zu fragen, wie dieser die In-
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teraktion und Konfrontation von Schauspielern und Zuschauern strukturiert und dadurch die Möglichkeiten zur performativen Hervorbringung des performativen Raumes bedingt. Ein phänomenologischer Zugang eröffnet der Theaterdidaktik dementsprechend die Möglichkeit, über die Wahrnehmung der Atmosphäre und der an ihrem Zustandekommen beteiligten Elemente zu diesem Wechselspiel von architektonisch-geometrischen Gegebenheiten und der performativen Hervorbringung vorzudringen, an der die Zuschauer ebenso beteiligt sind wie die Schauspieler. Die Wahrnehmung der Atmosphäre ist weder allein an die Gegenstände oder Menschen gebunden, die sie hervorbringen, noch geht sie allein aus der Wahrnehmung der Subjekte hervor. Aus diesem Grund liegt darin die theaterdidaktische Perspektive begründet, aus dem Zwischenereignis mittels eines phänomenologischen Zugangs sowohl Aussagen zum Wesen des Gegenstandes zu generieren als auch die Verbindung zwischen Gegenstand und Subjekt und mithin den Prozess der Bedeutungsgenerierung offenlegen zu können. Denn der Anspruch, auf den die Zuschauer in der Theateraufführung antworten, wenn sie sich auf die Atmosphäre beziehen, geht auch auf Licht, Laute, Körper, das Bühnenbild oder Gerüche zurück, die zum Teil in der Inszenierung angelegt sind, sich zum Teil jedoch auch spontan ereignen. Die genaue Beschreibung der Wahrnehmung eröffnet so den Weg hin zum Wesen des wahrgenommenen Gegenstandes und zur Aufführung, in der diese wahrgenommenen Gegenstände zusammenspielen. Einen Beitrag zur Konstituierung der Atmosphäre leistet auch die Lautlichkeit. Weil zum Beispiel die Stimme nicht auf die Übermittlungsfunktion der Sprache beschränkt ist, sondern darüber hinaus jegliche durch sie erzeugbare Laute als Material der Theateraufführung gelten können, wäre es eine theaterdidaktische Perspektive, auch die Wahrnehmung von Lauten und Klängen aufzugreifen und auf die Antwort hin zu befragen, die von den Schülern darauf gegeben wurde. Ob sie nun Gänsehaut aufgrund eines bestimmten Geräusches bekamen oder sie eine eingespielte Musik an Bekanntes erinnerte, immer äußert sich darin eine leibliche bzw. affektiv-emotionale Antwort, die zugleich aber auch schon ein Moment des Verstehens dieses Gegenstandes beinhaltet. Dabei hängt Lautlichkeit als Aspekt der Materialität von Theateraufführungen eng mit Räumlichkeit und Leiblichkeit zusammen, denn der sich im Raum ausbreitende Klang konstituiert den performativen Raum mit, der auf Seiten der Schauspieler zum Beispiel durch Gestik und Bewegung und auf Seiten der Zuschauer etwa durch das Hineinrufen oder Lachen auch lautlich hervorgebracht wird. Laute, Klänge und Geräusche sind häufig insofern an die Leiblichkeit der Spieler und Zuschauer gebunden, als die Stimme im Körper erzeugt oder ein Geräusch mittels eines handelnden Umgangs mit einer Requisite hervorgebracht wird. Was als markan-
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ter Moment hinsichtlich der Lautlichkeit während der Theateraufführung von Schülern erinnert wird, ist damit mehr als ein subjektives Befinden. Theaterdidaktisch würde die sinnliche Wahrnehmung vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs aufgegriffen werden können, um daraus im intersubjektiven Austausch der Perspektiven und unter Hinzunahme wissenschaftlich generierter Perspektiven fundiert über das Wesen eines wahrgenommenen Gegenstandes in Austausch zu kommen. Die Klammer, mit der die genannten Aspekte der Materialität der Theateraufführung zusammengehalten werden, ist die Zeit, die in Form des Rhythmus der Aufführung wahrnehmbar ist. Weil sich die Aufführung im Rahmen eines bestimmbaren Anfangs und eines bestimmbaren Endes ereignet und dazwischen transitorisch vergeht, kommt der zeitlichen Organisation des gesamten Materials der Aufführung eine besondere Rolle zu. Körper, Raum und Laute werden über den Rhythmus der Aufführung zueinander in ein Verhältnis gesetzt und so lässt sich auch die Wahrnehmung dieses Materials theaterdidaktisch aufgreifen und auf weitere Aspekte beziehen. Denn ebenso wie die Lautlichkeit ist auch die Zeitlichkeit an die performative Hervorbringung auf Seiten der Zuschauer und Schauspieler gebunden, indem etwa in besonderer Weise gesprochen oder die Geschwindigkeit von Gesten und Bewegungen verlangsamt wird. Auf der anderen Seite mögen Schüler eine Aufführung als lang- oder kurzweilig erleben. Theaterdidaktisch wäre dann vom Subjekt ausgehend die Suche nach Elementen möglich, die zu dieser Auffassung geführt haben. Für theaterdidaktische Perspektiven gilt in Bezug auf die Materialität, was für den phänomenologischen Zugang und das Bedingungsgefüge der Theateraufführung im Ganzen in diesem Kapitel bereits gesagt worden ist: Es geht nicht nur darum, die subjektive Wahrnehmung der Schüler ernst zu nehmen, die dann als notwendige Ergänzung einer späteren kognitiven Analyse fungiert. Eine Theaterdidaktik, die den Schülern Möglichkeiten zum Umgang mit ihrem Gegenstand vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs anbieten will, wird die sinnliche Wahrnehmung als Zugangsart zu Erkenntnis aufgreifen und sie für den intersubjektiven Austausch aufbereiten, um schließlich auch wissenschaftliche Perspektiven ins Gespräch zu bringen. Dies wäre in allen genannten Aspekten der Materialität von Aufführungen möglich, da die Theatertheorie und -historiografie Modelle und Konzepte bereitstellen, die im Unterricht aufgegriffen werden können, um die Auseinandersetzung mit der Theateraufführung wissenschaftlich fundiert inhaltlich zu perspektivieren. Bevor nun im vierten Kapitel ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung für die Theaterdidaktik modelliert wird, sollen die Konsequenzen,
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die sich für dieses Modell aus dem in diesem Kapitel Herausgearbeiteten ergeben noch einmal insgesamt zusammengeführt werden.
3.5 WAHRNEHMUNG, EREIGNIS, MATERIALITÄT: RESULTATE Dieses Kapitel hatte zum Ziel, Bausteine eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung herauszuarbeiten, die ihr Bedingungsgefüge mit den Polen Wahrnehmung, Ereignis und Materialität für den theaterdidaktischen Kontext operationalisierbar machen. Dabei wurde eine phänomenologische Perspektive auf die Wahrnehmung der Theateraufführung durch die Konzepte der Intentionalität, Leiblichkeit und Responsivität eröffnet, die mit den Namen Husserl, Merleau-Ponty und Waldenfels verbunden sind. Diese Elemente auch für einen theaterdidaktischen Zugang nutzbar zu machen, bedeutet, die leibliche Affizierung der Schüler, die affektiv-emotionale und kognitive Aspekte gleichermaßen umfassen kann, als Zugang zur Theateraufführung und Erkenntnisform eigener Art anzusehen und ernst zu nehmen. Die Auseinandersetzung, die der Unterricht im Anschluss an den Aufführungsbesuch leisten soll, wird dann von den Antworten der Schüler bestimmt, verbleibt aber nicht bei ihnen, sondern greift sie als Aussagen über das Zwischenereignis auf, das sich zwischen den Schülern und den Schauspielern ereignet hat. Damit geht es einer theaterdidaktischen Auseinandersetzung mit den verschiedenen Antworten um den Nachvollzug und die Reflexion der identifizierten Erfahrung einerseits und des Anspruches andererseits, den die in der Aufführung wahrgenommenen Gegenstände gestellt haben. Die Theateraufführung kann die Schüler durch ihre spezifische Medialität aus phänomenologischer Perspektive mit dem für sie Fremden konfrontieren, an dessen performativer Hervorbringung sie jedoch selbst beteiligt sind. In diesem Punkt verlässt ein phänomenologischer Zugang den alleinigen Fokus auf die Deutung der in der Theateraufführung verwendeten Zeichen, weil die Wahrnehmung – wie auch die Auseinandersetzung mit der Materialität der Aufführung zeigte – über die Semiotisierung und die intendierte Bedeutungshervorbringung in der Inszenierung hinausgeht. In der Aufführung bedienen sich die Beteiligten nicht lediglich vorhandener Zeichensysteme, die es zu entschlüsseln gilt, um die Aussage der Inszenierung identifizieren zu können, sondern sie reagieren darauf in unterschiedlicher Weise vom Stirnrunzeln bis hin zum Wunsch, die Aufführung zu verlassen. Durch diese Reaktion geben sie den erscheinenden Gegenständen bereits Bedeutung.
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Der Besuch einer Theateraufführung fordert daher die kreative Antwort der Schüler heraus und weist damit auf Wahrnehmungs- und Verstehensmöglichkeiten hin, die alle Dimensionen der Wahrnehmung – kognitiv-intellektuell, affektiv-emotional und körperlich – gleichermaßen und nicht hierarchisch voneinander getrennt umfassen. Ein analytischer Zugang zur Theateraufführung, der auf den phänomenologischen Grundprinzipien und methodisch auf der Phänomenologischen Epoché beruht, schließt diese Möglichkeiten über den Weg der Reduktionen auf. Dadurch, dass er auf der sinnlichen Wahrnehmung beruht und auf der Offenheit, diese Wahrnehmung als Zugang zum Wesen des Gegenstandes anzusehen, steht am Beginn der Auseinandersetzung die Wahrnehmung des Gegenstandes Theateraufführung in seiner Medialität, Materialität und seinem Ereignis-Potenzial. Dabei entzieht sich der phänomenologische Zugang aufgrund seiner erkenntnistheoretischen Grundausrichtung dem im schulischen Kontext häufig präferierten Fokus auf einen kognitiven Umgang mit den Gegenständen. Damit geht im Falle der Theateraufführung einher, dass dieser Gegenstand sich einem solchen Fokus entzieht, weil darin im Raum des Als-ob Wirklichkeiten geschaffen werden, an deren Zustandekommen der Zuschauer eben nicht nur kognitiv, sondern auch affektiv-emotional und leiblich beteiligt ist. Theaterdidaktisch ist deshalb immer wieder zu betonen und einzuholen, inwiefern die Theateraufführung mit ihren Ansprüchen Anlass für eine individuell möglicherweise verschiedene Antwort gegeben hat. Dieses Ziel kann dadurch verfolgt werden, dass der Unterricht das Antworten der Schüler einholt, zu neuem Antworten herausfordert und das Antworten an den Gegenstand und seine Materialität rückbindet. Dadurch sind es die Antworten, welche die weitere Auseinandersetzung mit der Aufführung und ihren Elementen strukturieren. Die Erfahrung und das Erlebnis im phänomenologischen Sinne können so den Ausgangspunkt des Unterrichts bilden, weil sie bereits vom Gegenstand ausgehen. Dabei muss die Antwort auf das Fremde nicht immer mit einer Irritation oder Störung verbunden sein. Auch das Aufgehen in der Welt des Als-ob oder die Weigerung, auf die Ansprüche und Herausforderungen der Aufführung einzugehen, stellt eine Antwort auf die Aufführung dar. Die Erfahrungen im Umgang mit dem Aufführungsereignis selbst zum Ausgangspunkt zu machen, bedeutet, die Unterbrechung und Umorientierung der Wahrnehmung zu fokussieren, die durch das Aufführungsereignis und seine performative Hervorbringung ermöglicht wird. Durch das Aufgreifen im Unterricht wird die je eigene Erfahrung und die individuelle Antwort auf das Fremde intersubjektiv aufbereitet und an das Wesen des Gegenstandes und seine Materialität gebunden. Wie diese Aspekte bearbeitet werden, ist einerseits von den vorhandenen Erfahrungen der Schüler
Die Aufführung im Licht der Phänomenologie | 213
und andererseits von den Entscheidungen des Lehrers abhängig, dessen Aufgabe es wäre, die verschiedenen Antwortmöglichkeiten zu systematisieren und für eine Auseinandersetzung auch mit den wissenschaftlichen Perspektiven in eine Beziehung setzen zu können. So entbindet der Ausgang von der Wahrnehmung des Aufführungsereignisses aus phänomenologischer Perspektive die Lehrkraft nicht von der theoretischen Durchdringung des Gegenstandes. Von der Wahrnehmung der Aufführung auszugehen, weitet aber auch ihren Blick über die Auseinandersetzung mit theoretischen Positionen hinaus und lenkt ihn zurück auf deren Fundierung in der sinnlichen Wahrnehmung. Damit verlangt ein phänomenologischer Zugang von den Lehrkräften zugleich auch die Kenntnis der wesentlichen Elemente der phänomenologischen Theorie und Methode, damit das Ausgehen von der Wahrnehmung nicht im Subjektiven endet, sondern einer Auseinandersetzung mit der Theateraufführung zugeführt werden kann. Die Vermittlung dieser Elemente auch an Lehrkräfte wird daher eine von der Theaterdidaktik zu unterstützende und auch methodisch weiter zu konkretisierende Aufgabe sein. Dabei geht es im Unterricht, der von einem phänomenologischen Zugang zur Theateraufführung ausgeht, nicht unbedingt darum, mit den Schülern diesen phänomenologischen Zugang selbst explizit und unmittelbar zu thematisieren, sondern zunächst vielmehr darum, auf der Grundlage dieses Zugangs einen Raum zu schaffen, in dem die Auseinandersetzung mit dem Aufführungsbesuch und dessen Perspektiven auf der Beschreibung der Wahrnehmung beruhen und von dieser strukturiert werden. Damit geht die Einnahme der Haltung einher, die Theateraufführung als eigenständigen Gegenstand unabhängig vom Drama wahrzunehmen und dieser Wahrnehmung und ihrer Beschreibung einen Vorrang einzuräumen. Sowohl Husserl als auch Merleau-Ponty sahen dabei in ihren phänomenologischen Überlegungen die Beschreibung der Wahrnehmung als den methodischen Kern eines phänomenologischen Zugangs an. Damit ist bereits ein methodisches Element herausgestellt, das aus der Phänomenologischen Epoché resultiert und auch im theaterdidaktischen Modell eine Rolle spielen muss, das im folgenden Kapitel konzipiert wird. Zudem wird im Zuge der Modellierung eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung im theaterdidaktischen Kontext danach zu fragen sein, welche Elemente darüber hinaus in diesem spezifischen Kontext Verwendung finden. Zu diesem Zweck werden unter Rückgriff auf die Ergebnisse des ersten Kapitels noch einmal die Ziele eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung herausgestellt und didaktisch perspektiviert, um auch zu thematisieren, inwiefern der erkenntnistheoretische Anspruch der Phänomenologie und deren Auffassung vom Verstehen im Rahmen der in der in der Literatur- und Mediendidaktik zu beobachteten Diskussion um den Verstehensbegriff verortet werden kann.
4
Modellierung eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung im theaterdidaktischen Kontext
Während im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit das Theater von der Wahrnehmung her beschrieben und ein Bedingungsgefüge mit den Polen Wahrnehmung, Ereignis und Materialität herausgearbeitet wurde, ist dieses Bedingungsgefüge im dritten Kapitel vor dem Hintergrund der phänomenologischen Theorie und Methode entfaltet und jeder Pol präzisiert worden. Dabei kam auch die spezifische Materialität der Theateraufführung zur Sprache, die sich insbesondere aus ihrer Transitorik ergibt und ihr Ereignis-Potenzial wesentlich bestimmt. In diesem Kapitel wird nun das Gesagte auf das identifizierte theaterdidaktische Desiderat bezogen und ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung im theaterdidaktischen Kontext modelliert. Der Ausgangspunkt der Überlegungen, die in dieser Arbeit angestellt wurden, war die Konzeption einer Theaterdidaktik, in deren Zentrum die Theateraufführung steht, wobei ein besonderer Fokus auf die Generierung von Bedeutung im Akt der sinnlichen Wahrnehmung gelegt wurde. Die Dispositive der Materialität und des Ereignisses ergänzt deshalb das Dispositiv der Wahrnehmung, das im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs gewissermaßen eine Klammer bildet, die Materialität und Ereignis umschließt. Dabei zeigte sich, dass der phänomenologische Zugang insbesondere dann, wenn man sein erkenntnistheoretisches Interesse ernst nimmt, alle Dimensionen der Wahrnehmung – die kognitivintellektuelle, die affektiv-emotionale und die körperliche Dimension – gleichermaßen berücksichtigt. Wahrnehmung beinhaltet somit immer Erkenntnis- und Sinngebungsprozesse, denn aus der phänomenologischen Perspektive heraus sind Zugangsart und Seinsgehalt der erscheinenden Gegenstände untrennbar miteinander verbunden.
216 | Wahrnehmung – Ereignis – Materialität
Umgekehrt wird aber auch die Wahrnehmung von der Materialität und von dem beeinflusst, was dem Wahrnehmenden im Ereignis widerfährt. Dass es sich bei der Materialität der Theateraufführung dabei nicht um etwas handelt, das als Werk oder Artefakt über den Moment der Wahrnehmung hinaus zurückbleibt, in dem etwas dem Wahrnehmenden auffällig wurde, konnte in Bezug auf die Materialität der Aufführung in Gestalt der Leiblichkeit, Lautlichkeit, Zeitlichkeit und Räumlichkeit anschaulich gemacht werden. Die Überlegungen der vorangegangenen Kapitel zusammenzuführen und in Form einer Modellierung auf den Kontext der Theaterdidaktik zu übertragen, ist die Aufgabe dieses Kapitels. In diesem Zusammenhang ist die Frage leitend, ob ein theaterdidaktisches Modell bereitgestellt werden kann, das Schüler auf dem Fundament der Phänomenologie einen Zugang zur Theateraufführung ermöglicht, der von der Wahrnehmung ausgeht und sie als Erkenntnisform aufgreift. Im Zuge der Beantwortung dieser Frage wird schließlich zu klären sein, welcher Art diese Erkenntnisform ist und wie sie gegenüber anderen Formen der Erkenntnisgewinnung, die im literaturund mediendidaktischen Diskurs von Bedeutung sind, verortet werden kann. Am Beginn der Modellierung des phänomenologischen Zugangs im Kontext der Theaterdidaktik steht die Zusammenführung der grundlegenden Prämissen, die sich aus den Überlegungen der vorangegangenen Kapitel ergeben. In diesem Zusammenhang werden Spannungsfelder zwischen dem Gegenstand Theateraufführung und einem literatur- und mediendidaktischen Interesse an Prozessen des Verstehens und Nichtverstehens der Gegenstände des Deutschunterrichts ebenso zur Sprache kommen wie konzeptuelle Überlegungen zur Modellierung eines phänomenologischen Zugangs. Nachdem dieser auf einer grundsätzlichen Ebene fundiert wurde, werden in einem zweiten Schritt Ziele benannt, die sich mit diesem Zugang im Kontext der Theaterdidaktik verfolgen lassen. Methodische Aspekte schließen die Modellierung ab.
4.1 GRUNDLEGENDE PRÄMISSEN Die grundlegenden Prämissen des phänomenologischen Zugangs schließen an jene theaterdidaktischen Perspektiven an, die vor allem im dritten Kapitel aus den Erläuterungen des Bedingungsgefüges von Wahrnehmung, Ereignis und Materialität resultierten. Die Zusammenführung von Theatertheorie und Phänomenologie in einem theaterdidaktischen Modell offenbart jedoch zunächst zahlreiche Spannungsfelder. So bleibt von der Theateraufführung beispielsweise kein Werk zurück, das im Vor- oder Nachhinein in irgendeiner Weise im Unterricht behandelt werden
Modellierung eines phänomenologischen Zugangs | 217
könnte. Über die konkrete Wahrnehmung und die nachträgliche Erinnerung an einen besonders markanten Moment der Aufführung hinaus ist von der Aufführung kein Artefakt übrig. Dass die Erinnerung etwa an die Wahrnehmung der besonderen Präsenz eines Schauspielers dabei von mehr geprägt sein kann als von dem, was über einen semiotischen Zugang im Nachhinein im Hinblick auf die Zeichenfunktion zu erschließen ist, verstärkt die Problematik der Zusammenführung zusätzlich. Es steht im theaterdidaktischen Kontext bislang noch kein Zugang bereit, der es ermöglichen würde, Wahrnehmungserfahrungen der Schüler über die Verweisfunktion des Zeichensystems hinaus aufzugreifen und zum Gegenstand und Ausgangspunkt des Unterrichts zu machen. Was sich gegen eine Verbindung von Theatertheorie, Phänomenologie und Literatur- und Mediendidaktik in besonderer Weise sperrt, ist die spezifische Medialität und Materialität des Mediums Theateraufführung sowie das Bemühen um die Ermöglichung von Verstehen, das in der Literatur- und Mediendidaktik vorherrscht. Die sich daraus ergebenden Spannungsfelder sind im Folgenden zunächst zu benennen und schließlich zu präzisieren. 4.1.1 Spannungsfelder Insofern die Phänomenologie die Wahrnehmung der Theateraufführung aufgreift, ergibt sich im didaktischen Kontext ein Spannungsfeld im Verhältnis von phänomenologischem Zugang und einem Umgang mit den Gegenständen im Deutschunterricht, wie er sich unter den Vorzeichen von Verstehen und Nichtverstehen darstellt. Dabei findet der Begriff des Verstehens auch in der Literaturund Mediendidaktik Verwendung, obwohl er nur schwer eindeutig zu definieren ist.1 Marcus Steinbrenner benennt als Grundbedingung von Verstehen, dass jede sprachliche Äußerung im Moment der Äußerung ein Eigenleben entfalten kann, weil sie »losgelöst von den Intentionen ihres Autors und zu einem bestimmten Grad frei für eine Sinnzuschreibung durch das verstehende Subjekt«2 ist. Was Steinbrenner hier auf sprachliche Äußerungen bezieht, gilt in gleichem Maße auch für andere nicht-sprachliche Gegenstände, denn auch für nicht-sprachliche Handlungen wie Gesten oder Geräusche trifft die Möglichkeit zur Sinngebung durch ein Subjekt zu, die unabhängig von der Intention des Zeichensenders ist. Jede Geste, jede auf der Bühne vollzogene Handlung und sogar jedes Husten des Sitznachbarn ist frei für eine Sinnzuschreibung. Das bedeutet, dass der Gebrauch des Verstehensbegriffes mit der Annahme einer grundsätzlichen Verstehbarkeit 1
BAUM: »Literarisches Verstehen und Nichtverstehen«, S. 102.
2
STEINBRENNER: »Art. Verstehen«, S. 787.
218 | Wahrnehmung – Ereignis – Materialität
der Gegenstände einhergeht und das verstehende Subjekt sich durch Selbst- oder Fremdzuschreibung vergewissern kann, eine allgemein gegebene Aufgabe individuell gelöst bzw. eine Sinnzuschreibung vorgenommen zu haben, die als dem Gegenstand angemessen angesehen wird.3 Verstehen ist damit Michael Baum zufolge einerseits ein auch operationalisierbares »funktional-konstruktives Moment von Lernprozessen«4, andererseits aber ist Verstehen aufgrund des im Verstehensprozess generierten kognitiven Überschusses unabschließbar und baut sowohl auf Wissensbeständen der Verstehenden als auch auf institutionellen, interpersonalen und psychischen Bedingungen der Struktur verstehender Interaktion auf.5 Weil der Begriff des Verstehens sowohl im literaturwissenschaftlichen als auch -didaktischen Kontext vieldeutig und schwer zu fassen ist, hält Steinbrenner es für angemessen, »die Fragen zu skizzieren, die mit dem Verstehensbegriff verbunden sind, und diese – abhängig vom wissenschafts- und sprachtheoretischen Paradigma, in dem sich der Fragensteller bewegt – unterschiedlich zu beantworten.«6 Solche Fragen können sein: »Ist Verstehen eher ein vom verstehenden Subjekt bewusst gesteuertes Handeln oder ein vom Text ausgelöstes Geschehen? […] Inwieweit ist Verstehen methodisch plan- und steuerbar und objektiv erfassbar? Ist das Verstehen vorbestimmt durch Diskurse und Sprachsysteme – oder ist Verstehen immer auch individuell geprägt? […] Inwieweit ist es [das verstehende Subjekt, P.K.] in seiner Sinnzuschreibung frei – inwieweit ist es an Vorgaben des Textes, des Sprachsystems, der Gesellschaft gebunden? […] [G]enauso die Frage, ob das Verstehen eher als kognitiver Prozess zu denken (und didaktisch zu modellieren) ist oder ob es auch affektive Komponenten enthält […]. Inwiefern ist Verstehen als spezifisch literarisches Verstehen abhängig von seinem Gegenstand, dem Literarischen Text? Inwieweit ist Verstehen sprachlich: Ist etwas erst verstanden, wenn es in Sprache gefasst ist? Gibt es unterschiedliche Grade, Stufen, Ebenen, Dimensionen des Verstehens und ist das Verstehen eher ein Prozess oder das Resultat bzw. Produkt eines Prozesses? Wie lässt sich das Verstehen als Prozess begrifflich fassen?«7
Die Vielzahl der Fragen zeigt, wie vielfältig zugleich auch der Verstehensbegriff in der Literatur- und Mediendidaktik Verwendung finden kann und wie groß das Konfliktpotenzial ist, wenn es um die Frage geht, »welche Inhalte, Begriffe, Ver3
Vgl. BAUM: »Literarisches Verstehen und Nichtverstehen«, S. 102f.
4
Ebd., S. 103.
5
Vgl. ebd.
6
STEINBRENNER: »Art. Verstehen«, S. 788.
7
Ebd., S. 788f.
Modellierung eines phänomenologischen Zugangs | 219
fahren etc. für eine entsprechende Modellierung herangezogen werden sollten«8. Dass Verstehen dabei einen unabschließbaren Prozess darstellt, zugleich aber deshalb auch nicht kontrollierbar und unverfügbar ist, erleichtert weder die Definition des Begriffes noch die präzise Definition des Beitrages, den ein Zugang wie der phänomenologische zum Verstehen der Theateraufführung leisten würde.9 Neben den von Steinbrenner gesammelten Fragehorizonten bringt Baum vor allem im Anschluss an Positionen Humboldts und Schleiermachers den Begriff des Nichtverstehens als Korrelat ein, das er in der Geschichte der Literaturdidaktik im Gegensatz zum Begriff des Verstehens als unterrepräsentiert und vernachlässigt ansieht.10 Dabei gehe es nicht darum, mit diesem Begriff zum Ausdruck zu bringen, dass im Umgang mit einem Gegenstand nichts verstanden worden ist, sondern um eine konstitutive Verbindung von Verstehen und Nichtverstehen, die zur Folge hat, dass aufgrund des unabschließbaren Verstehensprozesses nie restlos und endgültig verstanden werden kann: denn »nur Nichtverstehen provoziert weitere Verstehensversuche. Diskontinuität sichert Kontinuität. Nichtverstehen ist also nicht das leere Gegenphänomen des vollen Verstehens, sondern ereignet sich im Verstehen selbst.«11 Wer meint, etwas verstanden zu haben, ist demnach immer zugleich auf die Kehrseite des Verstehens verwiesen, die darin besteht, nie restlos und abschließend verstehen zu können. Die Betonung des Wertes und der Berechtigung des Nichtverstehens und damit der Unabschließbarkeit des Verstehens tritt in Konflikt mit einem Literaturunterricht, der daran interessiert ist, Verstehen zu ermöglichen. Ein solcher Unterricht und auch eine Literatur- und Mediendidaktik, die diesen Unterricht zu modellieren versucht, ist in Teilen bemüht, die »produktive Unruhe konkret stattfindenden Literaturunterrichtes« durch Modelle einzufangen, die »in der Regel Konzeptionen gelingenden Unterrichts« darstellen und »einen Weg weisen, wie vom anfänglichen Nichtverstehen schrittweise zum Verstehen vorangegangen werden kann«.12 Dabei rekurrieren solche Modelle, insbesondere Phasenmodelle, literaturtheoretisch vor allem auf den hermeneutischen Intentionalismus, also auf die Auffassung, dass die Gegenstände und deren Produzenten ihren Rezipienten »etwas mitteilen wollen, das sich schrittweise (in Stufen) erschließen lässt«13. Nichtverstehen gilt dann schnell als etwas, das durch einen organisierten Umgang mit den Gegen8
BAUM: »Literarisches Verstehen und Nichtverstehen«, S.103.
9
Vgl. ebd.
10 Vgl. ebd., S.105f. 11 Ebd., S. 105. 12 Vgl. ebd., S. 117f. 13 Ebd., S. 118.
220 | Wahrnehmung – Ereignis – Materialität
ständen und ihrer Fremdheit beseitigt und in Verstehen überführt werden kann. Es stellt sich jedoch gerade auch im Kontext von Bildungsprozessen die Frage, »ob Fremdheit verstehend eingeholt werden kann oder ob Fremdheit jenes Moment ist, das die Grenzen des Verstehens markiert«14. Im Falle der Schrift geht Baum davon aus, dass deren Fremdheit daher rührt, dass »ihre Materialität, Abstraktheit und innere Differenziertheit nie ganz verstehend eingeholt werden kann«, weshalb es nötig wird, sich auf das Angesprochen-Werden durch diese Fremdheit einzulassen und ihr mit dem Bemühen um Verstehen zu begegnen.15 Dass Literatur nicht gänzlich und abschließend verstehend eingeholt werden kann, dennoch aber im Literaturunterricht vom Nichtverstehen zum Verstehen vorangeschritten werden soll, führt Baum auf eine basale Paradoxie zurück, die er in der Literatur- und Mediendidaktik und ihren Modellen jedoch weder expliziert noch reflektiert findet: »Literatur soll gelehrt werden, weil sie nicht lehrbar ist.«16 Auch die Phänomenologie versteht sich in ihrer Ausprägung des Responsivitätskonzepts nach Waldenfels als Möglichkeit des Umgangs mit dem Fremden, allerdings in der Form, dass das Fremde nicht in etwas anderes überführt, sondern vielmehr der Umgang mit der Fremdheit selbst ermöglicht werden soll. Ein phänomenologischer Zugang, der sich auf dieses Konzept beruft, löst also das Fremde nicht auf, sondern nimmt es als Phänomen in den Blick und macht es zum Gegenstand eines Zugangs zum Fremden, das es als Fremdes bestehen lässt. In diesem Sinne steht die Phänomenologie sowohl dem Anspruch entgegen, etwas verstehen zu wollen, als auch dem Anspruch, Nichtverstehen in Verstehen zu überführen. So ist ein phänomenologischer Zugang am ehesten jenen literaturdidaktischen Versuchen zuzuordnen, die den Verstehensbegriff von seiner Zielgerichtetheit und auf die Abschließbarkeit dieses Prozesses zielenden Implikationen zu lösen versuchen. Ulf Abraham etwa setzt mit seiner Konzeption eines »Poetischen Verstehens« zu einer Kritik der Tradition des schulischen Umgangs mit Literatur an, die er mit Vokabeln wie »Erschließung, Erklärung« und »Deutung« gekennzeichnet sieht, wodurch sich der Verstehensprozess im unterrichtlichen Kontext mit »Strukturierung, Beeinflussung, vielleicht sogar Lenkung« verbindet.17 Insbesondere der Begriff der Erschließung, für Abraham eine »Kolonialmetapher«, bedinge eine »literaturkolonialistische« Grundhaltung, in der Poesie
14 Ebd., S. 108. 15 Vgl. ebd. 16 BAUM: »Die verdrängte Paradoxie«, S. 119. Hervorhebung im Original. 17 Vgl. ABRAHAM: »P/poetisches V/verstehen«, S. 14. Hervorhebung im Original.
Modellierung eines phänomenologischen Zugangs | 221
lediglich als ein »zitierbares Bildungsgut« erscheine.18 Die Alternative sieht er in einem Umgang mit Literatur, der deren Potenzial aufgreift, »den Verstehenden zu ändern, sein Denken, sein Fühlen, seine Vorstellungsbilder«19. Wo nach den Gratifikationen eines Umgangs mit Gegenständen wie literarischen Texten oder aber auch Theateraufführungen gefragt wird, stehen die Gegenstände in der Gefahr, in ihrer Fremdhaftigkeit und ihrem Ereignis-Potenzial nicht mehr unmittelbar zur Wirkung kommen zu können. Denn insbesondere bei einem Gegenstand wie der Theateraufführung steckt das Potenzial der Veränderung nicht allein in ihrer Bedeutungsdimension, die über die Erschließung des entsprechenden Verweises innerhalb des Zeichensystems geklärt werden soll und die eine am Verstehen und Nichtverstehen ausgerichtete Literatur- und Mediendidaktik fokussiert, sondern in den vielfältigen Wahrnehmungserfahrungen, die mit diesem performativen Ereignis gemacht werden können. Damit stellt sich gerade die Theateraufführung den Bemühungen um Verstehen in den Weg. Die Verständigung über ein angemessenes oder unangemessenes Verstehen der Theateraufführung und der Wunsch danach, das Wahrgenommene auch zu verstehen, macht es erforderlich, den Gegenstand immer wieder unter verschiedenen Perspektiven befragen zu können. Selbst wenn Nichtverstehen als die Offenheit gegenüber der Unabschließbarkeit des Verstehensprozesses angesehen wird, kann dies nur schwer an einem Gegenstand exemplifiziert werden, der sich als Ereignis realisiert. Die Theateraufführung entzieht sich den Versuchen des Verstehens durch ihre unmittelbare Verflüchtigung und Einmaligkeit. Was dem Wahrnehmenden widerfährt und was mithin von ihm verstanden werden soll, liegt ihm im Gegensatz zu allen anderen Gegenständen des Deutschunterrichts nicht als verobjektivierbarer Gegenstand vor. Den Gegenstand selbst auf die Bedingungen von Verstehen und Nichtverstehen hin zu befragen, ist im Fall der Theateraufführung also nicht möglich, weil es einen solchen befragbaren Gegenstand als Objekt nicht mehr gibt. Damit geht einher, dass auch die Verständigung über einen Verstehensbegriff, welcher der Theateraufführung angemessen wäre, die Möglichkeiten jener Konzepte übersteigt, die dazu im literatur- und mediendidaktischen Diskurs herangezogen werden.20 Die Theateraufführung als Gegenstand und eine um Verstehen bemühte Literaturund Mediendidaktik befinden sich damit in einem weiteren Spannungsfeld. Was sich dabei dem Bemühen um Verstehen vor allem in den Weg stellt, ist – nicht nur bei einer Theateraufführung – die Materialität, die »nie ganz verste-
18 Vgl. ebd., S. 15. Hervorhebung im Original. 19 Ebd., S. 16. 20 Vgl. BAUM: »Literarisches Verstehen und Nichtverstehen«.
222 | Wahrnehmung – Ereignis – Materialität
hend eingeholt werden kann.«21 Im Falle der Theateraufführung aber verschärft sich das Spannungsfeld zwischen dem Gegenstand Theateraufführung und der Literatur- und Mediendidaktik noch weiter, wenn deren Materialität Beachtung findet. Denn die Materialität der Theateraufführung mit den Aspekten der Räumlichkeit, Zeitlichkeit, Lautlichkeit und Körperlichkeit wurde bereits dahingehend weiter ausdifferenziert, dass diese Aspekte einerseits in ihrer Verweisfunktion wahrgenommen, andererseits in ihrem phänomenalen So-Sein betrachtet werden können. Daraus resultiert allerdings im didaktischen Kontext die Frage danach, inwiefern die Subjektivität der Wahrnehmung aufgegriffen werden kann, um Fragen des Verstehens und Nichtverstehens beantworten zu können. Wenn nämlich das Ziel des Umgangs mit der Theateraufführung darin gesehen wird, Schülern ein Verstehen überhaupt erst zu ermöglichen, dann muss auch benennbar sein, auf welche Elemente des Gegenstandes dieses Verstehen zurückgeht. Ein Zugang, der auf ihr Verstehen abzielt, greift also auf die Medialität und Materialität der Aufführung zurück, die aber vor dem Hintergrund der im dritten Kapitel skizzierten materiellen Aspekte oftmals auf einem subjektiven Erspüren beruht: die leibliche Ko-Präsenz, die Flüchtigkeit, das Eingehen auf den phänomenalen Leib im Gegensatz zum semiotischen Körper, Atmosphären oder Rhythmus. Diese subjektiven Erfahrungen können nicht ohne Weiteres intersubjektiv verstanden werden, weil sie auf je verschiedene Weisen an das In-der-Welt-sein gebunden sind. In ihnen zeigt sich eine Spur des Gegenstandes, der verstanden werden soll, allerdings zugleich schon eine subjektive Form des Verstehens, die in der Antwort des Wahrnehmenden zum Ausdruck kommt. Nicht alle Schüler werden sich in gleicher Weise an dieselben Elemente der Aufführung erinnern und genau dies stellt im theaterdidaktischen Kontext insbesondere dann ein Problem dar, wenn es darum geht, das Verstehen und Nichtverstehen der Aufführung als zentrale Frageperspektive im Unterricht aufzugreifen. Wenn das, was für die Analyse relevant wird, von individuellen Erinnerungen abhängt, dann ist auch keine für alle Schüler aufgrund derselben Wahrnehmung des Gegenstandes vorauszusetzende Grundlage der Analyse gegeben. So sieht auch Fischer-Lichte ein Dilemma für phänomenologische Analyseversuche insgesamt darin, dass im Moment der Wahrnehmung nicht entschieden werden kann, ob der Wahrnehmende »sich bei der Beschreibung der Zuschauerreaktionen auf die beobachtbaren Reaktionen beschränken« oder »angesichts der Subjektivität der Wahrnehmung […] ganz und gar auf die beobachtbaren Reaktionen anderer verzichten« soll, um sich nur auf die eigene Wahrnehmung konzentrieren zu können.22 Insbesondere im Verhältnis zwischen phänomenalem Leib und 21 Vgl. ebd., S. 108. 22 Vgl. FISCHER-LICHTE: Ästhetische Erfahrung, S. 261f.
Modellierung eines phänomenologischen Zugangs | 223
semiotischem Körper konkretisiert Paule dieses Dilemma durch den Verweis auf die Schwierigkeit, im Moment der Wahrnehmung zwischen leiblichem Affiziertsein und der Bedeutung, also zwischen der phänomenologischen und semiotischen Dimension eines Elementes der Aufführung, differenzieren zu können.23 Selbst wenn dies als Form des Nichtverstehens angesehen wird, das eine weitere Bemühung um Verstehen nach sich zieht, resultiert aus diesem Dilemma spätestens dann ein Spannungsfeld zur Literatur- und Mediendidaktik, wenn es operationalisiert werden soll. Das Problem des Wahrnehmenden ist im skizzierten Dilemma nicht, wie das Wahrgenommene – auch vor dem Hintergrund von Deutungsoffenheit – gedeutet werden kann, sondern ob überhaupt etwas wahrgenommen wurde, das die Deutungsmöglichkeit in semiotischer Hinsicht eröffnet. Zwischen dem Gegenstand Theateraufführung mit seiner spezifischen Medialität und Materialität und dem didaktischen Kontext resultieren also ebenso Spannungsfelder wie aus diesem Kontext und dem phänomenologischen Ausgang von der Wahrnehmung her. Die Frage nach Verstehen und Nichtverstehen, also der Fragehorizont der Bedeutung des Wahrgenommenen sowie der Unabschließbarkeit des Sinngebungsprozesses, lässt sich mit einem semiotischen Zugang zur Theateraufführung beantworten. Weniger vermag dieser semiotische Zugang allerdings über die Wahrnehmungsprozesse auszusagen, die der Sinngebung zugrunde liegen, weshalb die Aufgabe eines phänomenologischen Zugangs vor dem Hintergrund der literatur- und mediendidaktischen Ausrichtung darin gesehen werden könnte, mit dem Fokus auf die Analyse des Bewusstseins den blinden Fleck der Theatersemiotik zu beseitigen. Diese Erwartung aber kann ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung nicht erfüllen, weil in ihr ein Ereignis-Potenzial vorhanden ist, das sich nicht ausschließlich auf die Ermittlung von Bedeutungen zurückführen lässt. Das Ereignis-Potenzial der Theateraufführung stellt damit insofern ein Spannungsfeld zur Literatur- und Mediendidaktik dar, als auch solche Momente der Aufführung wahrgenommen werden, die sich entweder nicht vollständig versprachlichen lassen oder bei denen die Kategorie des Verstehens im Moment der Wahrnehmung überhaupt keine Rolle spielt. Wenn im Sinne der leiblichen Ko-Präsenz auch die Anwesenheit anderer beeinflusst, welcher Sinn der Aufführung gegeben wird, dann stellt dies eine Frageperspektive vor Herausforderungen, die auf das Verstehen des Geschehens auf der Bühne abzielt und damit vor allen Dingen die Inszenierung, das Bühnengeschehen oder ein Drama zum Gegenstand hat. Dieses Spannungsfeld hatte auch Paule gesehen, wenn sie in Bezug auf das Wahrnehmen von Atmosphären bemerkt, dass diese zwar unterschieden und daraufhin analysiert werden können, 23 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 247.
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»mit welchen künstlerischen Mitteln und Verfahren sie hergestellt werden«, »die Auswirkungen, die das Erspüren der so geschaffenen Atmosphäre auf die Wahrnehmung und die Rezeption des Zuschauers tatsächlich hat«, sind indes daraus nicht zu erschließen.24 Damit zeigt sich der Versuch der Modellierung eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung im didaktischen Kontext von zahlreichen Spannungsfeldern begleitet. Dass die Übernahme von Theorien und Zugängen in der Literatur- und Mediendidaktik vor allem auf einer »nur sehr zögerlichen, kaum ernsthaften Auseinandersetzung« der Literatur- und Mediendidaktik mit deren Grundlagen beruht, lässt sich Baum zufolge auch daran ablesen, dass zumeist auch keine Debatten über die Grundlagen jener Theorien stattfindet, die sie sich aneignet.25 Dies gilt nicht zuletzt auch für die Aneignung der Phänomenologie, wenn dieser lediglich die Operationalisierung subjektiver Wahrnehmung als notwendigem Gegenüber und als Ergänzung zur Erschließung des Wahrgenommenen zugeschrieben wird. Die in dieser Arbeit angestellten Überlegungen dienen dazu, die Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Phänomenologie und der Theatertheorie zu suchen, um einen phänomenologischen Zugang modellieren zu können, der aus dieser Auseinandersetzung hervorgeht und durch sie fundiert wird. Bisher zeigt sich allerdings, dass die Grundlagen der Phänomenologie einer Übernahme des phänomenologischen Zugangs in das Repertoire der Didaktik wegen der entstehenden Spannungsfelder eher im Wege stehen. Bevor in einem letzten Abschnitt daher im Rahmen von Überlegungen zum Grundanliegen der Phänomenologie auch diese Spannungsfelder noch einmal aufgegriffen werden müssen, sind konzeptuelle Überlegungen anzustellen, die zentrale Elemente des phänomenologischen Zugangs zusammenführen und diese noch einmal herausstellen. 4.1.2 Konzeptuelle Überlegungen Wahrnehmung, Ereignis und Materialität erwiesen sich bisher als Bedingungsgefüge der Theateraufführung, das einem phänomenologischen Zugang als Grundlage dienen kann. Diese Elemente bilden daher auch die drei Säulen des theaterdidaktischen Modells, wobei ebenso wie auch im dritten Kapitel Wahrnehmung und Ereignis gemeinsam thematisiert werden. Darüber hinaus ergibt sich eine weitere Säule aus der Phänomenologie selbst, die eine Haltung den Gegenständen und ihrer Wahrnehmung gegenüber darstellt. Da auch die Literatur- und Mediendidaktik mit ihrem Bemühen um Verstehen und Nichtverstehen eine be24 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 249. 25 Vgl. BAUM: »Die verdrängte Paradoxie«, S. 114.
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stimmte Haltung gegenüber den Gegenständen einnimmt, wird sich insbesondere aus dieser Säule die Möglichkeit ergeben, den hier modellierten phänomenologischen Zugang in der Literatur- und Mediendidaktik zu verorten. Sondierung: Phänomenologie in der Theaterdidaktik Eine erste Sondierung der Möglichkeiten zur Übertragung der Phänomenologie in den literatur- und mediendidaktischen Kontext führt unweigerlich zurück zu Paules Kultur des Zuschauens. In ihren Überlegungen und in der darin vertretenen Auffassung einer gegenseitigen Ergänzung von Semiotik und Performativität findet sich nämlich eine weitere Gegenüberstellung von Bedeutungen einerseits und Wahrnehmungen und Reaktionen andererseits.26 Für Paule ist »gerade für den schulischen Kontext […] zentral, eben nicht nur die Suche nach Bedeutungen in den Mittelpunkt des Unterrichts zu stellen, sondern insbesondere auch die Wahrnehmungen und Reaktionen, die durch die performative Qualität einer Aufführung ausgelöst werden«, weil gerade diese Wahrnehmungen und Reaktionen »zum Austausch über eine Aufführung drängen«.27 Wahrnehmungen und Reaktionen bilden somit auch für die von Paule vertretene Theaterdidaktik einen Ausgangspunkt und werden dann vor dem Hintergrund eines Aufführungsbegriffes, der diese als das »komplexe Zusammenwirken heterogener Zeichensysteme« definiert, in einen Unterricht integriert, der Wahrnehmungen und Reaktionen gleichberechtigt neben die »Suche nach Bedeutungen« in den Mittelpunkt stellt.28 Paule hält dazu ein an den Anforderungen des Gegenstandes methodisch flexibel ausgerichtetes Vorgehen für angemessen und verbindet auch begrifflich Aspekte der Aufführungs- und Inszenierungsanalyse.29 Sie schlägt vor, im Unterricht »den Blick der Schülerinnen und Schüler für Inszenierungen als solche zu schärfen«, was vor allem durch den Vergleich zweier Inszenierungen zu verfolgen wäre.30 Ihr zweiter Vorschlag lautet, »die ästhetische Erfahrung zu thematisieren, die der Besuch einer Theateraufführung in Gang gesetzt hat«.31 Im Anschluss an den Besuch soll hierzu bei den Erinnerungen der Schüler angesetzt werden. »Insbesondere ist dadurch gewährleistet, dass in den Inszenierungsgesprächen nicht nur die semiotische Ebene diskutiert wird, also die Ermittlung von Bedeutungen, Interpretati26 Vgl. PAULE: »Didaktik und Ästhetik des Theaters«, S. 174. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. ebd. 29 Vgl. ebd., S. 174ff. 30 Vgl. ebd., S. 175. 31 Ebd., S. 176.
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onen und Aussagen über Regieabsichten, sondern auch die performative Qualität der Aufführung in den Blick rücken kann.«32
Das Erinnerungsprotokoll hält sie für geeignet, das Ziel der Thematisierung ästhetischer Erfahrung zu verfolgen, da diese Methode ermögliche, »bei markanten Momenten anzusetzen, die in mehreren Protokollen eine Rolle spielen«.33 Als dritte Möglichkeit schlägt Paule vor, dass »die theatrale Form der Inszenierung im Zentrum des Unterrichtsinteresses« steht, wobei der Unterricht nicht von markanten und flüchtigen Momenten ausgehen sollte.34 Im Gegenteil sei in Bezug auf die theatrale Form der Ausgang von »relativ stabilen theatralen Zeichen wie Bühnenraum, Kostümen oder Requisiten« sinnvoll, die »aufgrund ihrer relativen Konstanz leichter zu beschreiben und auf ihre Funktion hin zu befragen« seien.35 Konkret schlägt Paule für den Unterricht vor, Bühnenräume von verschiedenen Inszenierungen eines Dramas zu vergleichen und »darauf zu befragen, an welche Deutung des Textes sie anknüpfen, auf welche konkreten Textschichten sie sich beziehen oder ob ein semantischer Bezug zum Text sich überhaupt auf Anhieb erschließt«.36 Ein vierter Vorschlag thematisiert die Deutung des dramatischen Textes durch die Inszenierung. Ein Vergleich zwischen Dramentext und Spielfassungen soll den Schülern helfen, Deutungsschwerpunkte zu identifizieren, indem »die Spielfassung – als Dokumentation einer eigenen Lesart des Textes – gerade in ihrer eventuellen Abweichung von eigenen Lesarten das Deutungspotenzial des Textes und die Legitimität verschiedener Schwerpunktsetzungen evident macht«.37 Paules letzter Vorschlag zielt auf die kompetente Äußerung über theatrale Kunstwerke und somit auf eine »Beurteilungskompetenz« ab, wozu sie die Auseinandersetzung mit Theaterkritiken für geeignet hält.38 Durch den Vergleich und die Analyse der angelegten Beurteilungsmaßstäbe sollen die Schüler ihre eigenen Maßstäbe reflektieren lernen. Paule verfolgt in ihren Ausführungen das Ziel, im Unterricht sowohl die Wahrnehmungsdimension der Aufführung zu berücksichtigen als auch nach der Bedeutungsdimension zu fragen, und tut dies vor allem vor dem Hintergrund einer theaterwissenschaftlich etablierten semiotisch ausgerichteten Inszenierungsanalyse. An dieser Stelle setzt die folgende Konzeption der Säulen des phäno32 Ebd. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. ebd., S. 176f. 36 Vgl. ebd., S. 177. 37 Vgl. ebd. 38 Vgl. ebd.
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menologischen Zugangs an, durch die die Wahrnehmungsdimension der Theateraufführung im phänomenologischen Sinne in den didaktischen Kontext übertragen und darin ausgeschärft wird. Die Konzeption der Säulen beruht dabei auf der Überzeugung, dass die Phänomenologie und damit auch ein phänomenologischer Zugang die Grundlage und nicht die Ergänzung eines semiotischen Zugangs darstellt. Erste Säule: Wahrnehmung und Ereignis Wahrnehmung bildet den ureigenen Gegenstand der Phänomenologie und muss daher auch den phänomenologischen Zugang im theaterdidaktischen Kontext wesentlich prägen. Sie ist der Thematisierung von Verstehen nicht als notwendiger Ausgangspunkt zur Seite zu stellen, sondern der Auseinandersetzung mit dem Gegenstand gleichzustellen. Die einzige Möglichkeit, an einer Theateraufführung teilzunehmen, ist die der leiblichen Ko-Präsenz. Da außerhalb dieser Präsenz kein Werk als Aufführung gelten kann, ist wiederum die Wahrnehmung die unmittelbare und ebenfalls einzige Möglichkeit, mit der Aufführung als medialer Erscheinungsform von Kunst in Kontakt zu kommen. In ihr widerfahren bestimmte Ansprüche den Wahrnehmenden, unabhängig davon, ob sie in der Inszenierung planvoll angelegt sind oder sich zufällig und ungeplant ereignen. Das Fremde dringt damit über den Weg der Wahrnehmung in das Eigene ein, orientiert die Wahrnehmung neu und bleibt als ein markanter Moment in Erinnerung. Diese Umorientierung kann durch viele Elemente bewirkt werden, etwa durch den Rhythmus, die Leiblichkeit, das Bühnenbild, den Sitznachbarn oder das Knistern eines Scheinwerfers. Obwohl diese Elemente sich auf verschiedene Akteure beziehen, in ihrer Zeichenfunktion semiotisch zu deuten sind oder auch nur allein auf eine Erinnerung des Wahrnehmenden zurückgehen mögen, sind diese Möglichkeiten der Beschreibung des Wahrgenommenen bereits sekundäre Antworten auf das Widerfahrnis, auf das vielleicht auch ganz anders hätte geantwortet werden können. Primär war die Wahrnehmung eines Widerfahrnisses, das sich als es selbst in dem Moment bereits verflüchtigt hat, in dem es auffällig geworden ist. Die Bedeutung, die diesem Widerfahrnis gegeben wird, wird ihm bereits im Moment der sinnlichen Wahrnehmung vor dem Hintergrund des leiblichen Inder-Welt-seins gegeben. Die in der sinnlichen Wahrnehmung fundierte Bedeutung ist damit ebenso fundiert wie andere Bedeutungen, die möglich wären, und genau aus diesem Grund bildet die Wahrnehmung eine Säule des phänomenologischen Zugangs, wie er in dieser Arbeit vertreten wird. Wenn es im theaterdidaktischen und darüber hinaus im literatur- und mediendidaktischen Kontext gelingt, die Rolle der sinnlichen Wahrnehmung für den Sinngebungsprozess zu
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stärken und dabei über die kognitiv-intellektuelle Dimension hinaus auch die affektiv-emotionale und körperliche Dimension der Wahrnehmung nutzbar zu machen, dann ist den Schülern ein Weg zu den Gegenständen eröffnet, der ihre Erkenntnis – und das Bemühen um Verstehen – sinnlich fundiert. Das wahrgenommene Ereignis der Begegnung zwischen Schülern und Gegenständen bildet dabei den Ausgangspunkt des Unterrichts, der sich wahrnehmend dem Wesen der Theateraufführung, ihrer Medialität, Materialität und ihrem Ereignis-Potenzial zuwendet. Im Gegensatz zu einer ergänzenden Funktion des phänomenologischen Zugangs, in der die Wahrnehmung letztlich auch am zu Verstehenden ausgerichtet wird, richtet sich nun das zu Verstehende umgekehrt an der Wahrnehmung aus. Die Beschreibung der Wahrnehmung identifiziert das zu Verstehende und bildet den Maßstab für eine Beurteilung der Passung zwischen Wahrnehmung und dem Bemühen um Verstehen. Wesentlich ist vor dem Hintergrund der Phänomenologischen Epoché, nicht im Subjektiven zu verbleiben, um nicht der Gefahr zu erliegen, psychologische Prozesse der Bedeutungszuschreibung zu rekonstruieren. Ziel eines phänomenologischen Zugangs im Kontext der Theaterdidaktik ist es, Aussagen zum Gegenstand zu ermöglichen, nicht aber zu den psychischen Prozessen, die dazu geführt haben. Deshalb ist es wichtig, immer auch die intersubjektive Dimension der Wahrnehmung zu berücksichtigen. Nur durch den Austausch der Perspektiven ist es möglich, das Wesen des wahrgenommenen Gegenstandes zu beschreiben. Dieser intersubjektive Austausch verhindert die Verabsolutierung der eigenen Wahrnehmung und Perspektive und betont im Gegenteil gerade deren Begrenztheit sowie die Notwendigkeit, sowohl zum Zweck der Erfassung als auch zum Zwecke des Verstehens der wahrgenommenen Gegenstände andere Perspektiven hinzuzuziehen. Damit fördert der phänomenologische Zugang Offenheit und das Bewusstsein der Unabschließbarkeit von Sinnbildungsprozessen, was nicht zuletzt auch Baum gefordert hat. Zweite Säule: Materialität Vor dem Hintergrund der performativen Hervorbringung der Aufführung und dessen, was aus theatertheoretischer Sicht zur Bestimmung der Aufführung gesagt worden ist, ist die Materialität der Aufführung als das anzusehen, was transitorisch vergeht und durch Spieler und Zuschauer gemeinsam hervorgebracht wird. Präsenz, Klang, Rhythmus oder Atmosphäre sind dabei jene materiellen Elemente, die im Rahmen eines phänomenologischen Modells fokussiert werden, wenn dieses von der Wahrnehmung der Theateraufführung ausgeht. Zwar werden Schüler oftmals nicht unmittelbar Rhythmus oder Atmosphäre als Material erkennen, sie werden aber Elemente benennen können, die unter Hinzunah-
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me dieser Begriffe auf die Erfahrung einer bestimmten Situation übertragen werden können. Das Bühnenbild etwa kann hinsichtlich seiner Verweisfunktion ebenso als Zeichen betrachtet werden wie das Licht, die Kostüme oder ein Requisit. Diese Deutung aber blendet die subjektive Wahrnehmung und die Funktion des genannten Elementes für die Wahrnehmung aus: die Atmosphäre, die durch das Licht erzeugt wurde, der Rhythmus, der durch ein besonderes Sprechtempo zustande kam oder die Präsenz eines Schauspielers, der schweigend ins Publikum sah. Nur unter Bezug auf die Wahrnehmung lassen sich diese Erfahrungen als Material der Aufführung begreifen und hinsichtlich der in der Wahrnehmung selbst gegebenen Bedeutung beschreiben. Wenn auch zu anderen Medien im Deutschunterricht ein solcher Zugang möglich ist, so ist doch die Theateraufführung aufgrund der leiblichen Ko-Präsenz und der Transitorik in besonderer Weise dazu geeignet, eine solche Haltung der Wahrnehmung gegenüber einzunehmen. In jedem Fall aber ermöglicht die Auseinandersetzung mit der Materialität der Aufführung im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs zwei Blickrichtungen: Einerseits spielt die Materialität als Eigenschaft des Gegenstandes eine Rolle, denn ihre Wahrnehmung geht von einem Anspruch des Gegenstandes aus. Andererseits richtet sich aber der Blick auch auf den Wahrnehmenden, seine Leiblichkeit, die Rhythmen, von denen er geprägt ist, und die Assoziationen, mit denen er das Wahrgenommene zu einer Atmosphäre verbindet. Der phänomenologische Zugang im Kontext der Theaterdidaktik wird dabei weniger den zweiten Aspekt vertiefen, sondern den Anspruch zu identifizieren suchen, der vom Gegenstand ausgeht. Dies deckt sich mit dem Ziel und der Ausrichtung des Unterrichts, einen Zugang zu und einen Umgang mit dem Gegenstand zu ermöglichen, nicht aber mit Bewusstseinsprozessen des Wahrnehmenden. Der Ausgang von diesen Prozessen dient immer der Annäherung an das Wesen des Wahrgenommenen, seiner Medialität und Materialität. Dritte Säule: Phänomenologie als Haltung Mit der Entscheidung für einen phänomenologischen Zugang vor dem Hintergrund der Theorie, die in der vorliegenden Arbeit entfaltet worden ist, verbindet sich die Einnahme einer Haltung, weil auch die Phänomenologie selbst eine Haltung den Gegenständen gegenüber darstellt. Sie ist als Stil gekennzeichnet von der Auflösung der Ambiguitäten und damit von der Überzeugung, dass Objektivität jenseits des intersubjektiven Austausches auf dem Fundament der subjektiven Wahrnehmung nicht vorliegen kann. Damit macht der phänomenologische Zugang jede Zugangsart beschreibbar und nimmt sie als eine mögliche Perspek-
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tive auf den Gegenstand auf, klammert sie aber zugleich auch ein, um die Gegenstände so vorurteilsfrei wie möglich beschreiben zu können. Weil sich die Phänomenologie von ihrem Ursprung her auf die Wahrnehmung aller möglichen Phänomene und nicht nur auf performative Künste oder Kunstwerke ganz allgemein bezieht, wendet sie sich auch nicht nur den performativen Anteilen der Aufführung zu, sondern potenziell allem, was in der Aufführung wahrgenommen werden kann. Das heißt auch, dass der phänomenologische Zugang, der hier entwickelt und modelliert wird, als Möglichkeit verstanden werden kann, dem Wesen der Theateraufführung in ihrer Gesamtheit nachzugehen. Auch die Erfahrung starker Zeichenhaftigkeit, etwa einer besonderen Geste, stellt eine von vielen möglichen Perspektiven dar, mit denen diese Geste wahrgenommen werden kann. Semiotik ist daher nicht der Phänomenologie gegenüberzustellen, sondern als Möglichkeit der wissenschaftlichen Beschreibung einer bestimmten Perspektive auf den wahrgenommenen Gegenstand in den intersubjektiven Austausch einzubinden, wenn in der Aufführung die Erfahrung der Zeichenhaftigkeit gemacht wird. Wo die Phänomenologie als Haltung nicht geteilt wird, gerät der phänomenologische Zugang in die Gefahr, auf die Beschreibung der subjektiven Wahrnehmung verkürzt und damit nur unvollständig zur Anwendung zu kommen. Die im dritten Kapitel bereits skizzierten theaterdidaktischen Perspektiven würden damit nahezu alle entfallen, weil objektive Erkenntnis zum Beispiel über den semiotischen Zugang unter weitgehender Ausschaltung der subjektiven Komponente des Wahrnehmungsprozesses erreicht werden soll. Im Gegensatz dazu aber wird in dieser Arbeit der erkenntnistheoretische Anspruch der Phänomenologie geteilt und damit der phänomenologische Zugang als Möglichkeit stark gemacht, sich dem Wesen des Gegenstandes Theateraufführung auf dem Boden der subjektiven Wahrnehmung intersubjektiv zu nähern. Die Phänomenologie ist als Haltung den Gegenständen gegenüber geprägt von der Beschreibung des Wahrgenommenen. Erst die Beschreibung dessen, was wahrgenommen wurde, lässt wissenschaftliche Erklärungen und eine auf ein bestimmtes Erkenntnisinteresse ausgerichtete Analyse zu. Als Haltung geht die Phänomenologie davon aus, dass das In-der-Welt-sein jedes Wahrnehmenden ein Wissen bereitstellt, das dem in Wissenschaften generierten Wissen in der Hinsicht gleichgestellt ist, dass auch die Wissenschaft in einem In-der-Welt-sein der Wahrnehmenden gründet. Die Erkenntnis, die das Zurückgehen zu den Sachen selbst ermöglicht, ist eine Erkenntnis auf dem Boden einer Welt, die der Erkenntnis vorausgeht: des natürlichen Feldes oder Milieus des Denkens und der Wahrnehmung. Die Haltung, die also mit einem phänomenologischen Zugang zur Theateraufführung im Kontext der Theaterdidaktik einhergeht, ist die einer
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Einklammerung der Erklärungen, Deutungen und Interpretationen, die erst dann wieder hinzugezogen werden, wenn das Wahrgenommene fundiert wurde. Nachdem nun mit Wahrnehmung, Ereignis, Materialität und der Phänomenologie als Haltung jene Säulen benannt wurden, die einen phänomenologischen Zugang zur Theateraufführung im Kontext der Theaterdidaktik konzeptuell bestimmen, ist dieses Modell erneut in den literatur- und mediendidaktischen Kontext zu übertragen und sein Grundanliegen herauszustellen. Im Rahmen dieser Übertragung werden auch die Spannungsfelder noch einmal aufgegriffen, die sich zu Beginn dieses Kapitels aufgetan hatten. 4.1.3 Grundanliegen der Phänomenologie Der Versuch einer Verortung der Phänomenologie innerhalb der Literatur- und Mediendidaktik ist nur unter der der Bedingung jener Offenheit den Gegenständen gegenüber denkbar, welche die Phänomenologie als Haltung kennzeichnet. Denn nur unter dieser Bedingung stellt die Phänomenologie auch eine Methode dar, mit der das Wesen des Wahrgenommenen zu erschließen ist: »Vielfach wird behauptet, Phänomenologie sei eine Methode. Dies trifft nur dann zu, wenn man unter Methode kein neutrales Werkzeug versteht, das auf vorgegebene Sachen anzuwenden ist, sondern buchstäblich einen Weg, der den Zugang zur Sache eröffnet. Die Verklammerung von Sachgehalt und Zugangsart bewährt sich auch hier. Was Husserl ›Reduktion‹ nennt, bedeutet Rückführung dessen, was sich zeigt, auf die Art und Weise, wie es sich zeigt.«39
Diese Rückführung steht, so konnte im Abschnitt über die Phänomenologische Epoché gezeigt werden, im Dienst einer Offenlegung der eigenen Wahrnehmungs- und damit auch Erkenntnisperspektive und der Art und Weise, in der sich ein Gegenstand von sich selbst her zeigt. Erst die Variation dieser Perspektive ermöglicht dessen idealtypische Beschreibung und mithin auch das Nachdenken über ein Verstehen des wahrgenommenen Gegenstandes. Die Phänomenologie als eine Haltung den Gegenständen gegenüber führt daher auch nicht lediglich zur notwendigen Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung bei jedweder Analyse, sondern zeigt einen Weg zu den Sachen selbst von der Wahrnehmung und von dem her auf, was die Sache selbst von sich in ihrer Verklammerung mit der Zugangsart zu erkennen gibt. Ein phänomenologischer Zugang ist damit nicht in erster Linie am kognitiv-analytischen Verstehen und an der Überführung von Nichtverstehen in Verstehen ausgerichtet, sondern an der Of39 WALDENFELS: Einführung in die Phänomenologie, S. 30.
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fenlegung der Grundlagen des Verstehens, des Verhältnisses zwischen der Zugangsart des Wahrnehmenden und der Erscheinung des Gegenstandes für diesen Wahrnehmenden. Die Phänomenologische Epoché mit ihren beschriebenen Reduktionen bietet hierzu die methodische Richtschnur eines Verfahrens, das zu erweisen vermag, welcher Sinn und welche Bedeutung einem Gegenstand gegeben worden ist. Schon Husserl gebraucht dazu die beiden Begriffe Sinn und Bedeutung, wobei er betont, dass er Sinn in einer erweiterten Form als Wahrnehmungssinn auffasst, der die Erscheinung des Gegenstandes als etwas für jemanden beschreibt: »Die Wahrnehmung z.B. hat ihr Noema, zu unterst ihren Wahrnehmungssinn, d.h. das Wahrgenommene als solches. […] Überall ist das noematische Korrelat, das hier (in sehr erweiterter Bedeutung) ›Sinn‹ heißt, genau so zu nehmen, wie es im Erlebnis der Wahrnehmung des Urteils, des Gefallens usw. ›immanent‹ liegt, d.h. wie es, wenn wir rein dieses Erlebnis selbst befragen, uns von ihm dargeboten wird.«40
Der Begriff der Bedeutung hingegen ist an sprachliche Aussagen gebunden: »Wir blicken ausschließlich auf ›Bedeuten‹ und ›Bedeutung‹ hin. Ursprünglich haben diese Worte nur Beziehung auf die sprachliche Sphäre, auf die des ›Ausdrückens‹. Es ist aber nahezu unvermeidlich und zugleich ein wichtiger Erkenntnisschritt, die Bedeutung dieser Worte zu erweitern und passend zu modifizieren, womit sie in gewisser Art auf die ganze noetisch-noematische Sphäre Anwendung findet: also auf alle Akte, mögen diese nun mit ausdrückenden Akten verflochten sein oder nicht. So haben auch wir immerfort von ›Sinn‹ – ein Wort das doch im Allgemeinen gleichwertig mit ›Bedeutung‹ gebraucht wird – bei allen intentionalen Erlebnissen gesprochen. Der Deutlichkeit halber wollen wir das Wort Bedeutung für den alten Begriff bevorzugen und insbesondere in der komplexen Rede ›logische‹ oder ›ausdrückende‹ Bedeutung. Das Wort Sinn gebrauchen wir nach wie vor in der umfassenderen Weite.«41
Insofern also Bedeutung für Husserl an die begriffliche Fixierung des Wahrgenommenen gebunden und diese begriffliche Fixierung mit einem Akt der Reflexion verbunden ist, zeigt sich eine Nähe zum Verstehen, da Verstehen ein Moment darstellt, »das es erlaubt, gegenstands- und personenbezogene Kommunikation zu prozessieren, im Verlaufe dieses Prozesses permanent zu integrieren und als Kette von kommunikativen Erfolgen erlebbar zu machen«42. Da ein phä40 HUSSERL: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, S. 201. 41 Ebd., S. 285. 42 BAUM: »Literarisches Verstehen und Nichtverstehen«, S. 102.
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nomenologischer Zugang zugleich aber auf die Transparenz der Bedingungen pocht, unter denen Wahrnehmung stattfindet, und diese Bedingungen aufklären will, ist er nicht einfach in die Reihe jener für die Literaturwissenschaft und Literatur- und Mediendidaktik maßgeblichen Verstehenstheorien einzuordnen, deren fraglose Anwendung dieser Zugang in Form ihrer Einklammerung zuallererst vermeiden will. So stellt ein phänomenologischer Zugang nicht nur einen Zugang zu den Dingen der Wahrnehmung bereit, sondern zugleich auch sich selbst und alle anderen Zugänge durch Einklammerung in Frage. Auf die Frage, inwiefern sich der phänomenologische Zugang in einer Debatte um Verstehen und Nichtverstehen verorten lässt, ist also aus phänomenologischer Sicht mit der Einklammerung des Bemühens um Verstehen zu antworten, da dieses Bemühen auf der fraglos hingenommenen Bedingung beruht, dass es am Gegenstand etwas zu verstehen gibt. Dieses Vorurteil aber gilt es einzuklammern, um den Gegenstand so wahrnehmen zu können, wie er sich in seinem Erscheinen zeigt. Damit wird nicht gesagt, dass es nichts zu verstehen gibt. Damit wird allerdings wohl gesagt, dass schon die Frage danach, ob es etwas zu verstehen gibt, eine Prämisse darstellt, welche die Perspektive des Wahrnehmenden zugleich festlegt und begrenzt. Die Frage nach der Angemessenheit im Umgang mit einem Gegenstand stellt sich demnach vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs nicht in Bezug auf die Kategorien von Verstehen und Nichtverstehen, sondern in Bezug auf die Angemessenheit eines Umgangs und die Beschreibung dessen, was am Gegenstand wahrgenommen werden kann. Verstehen spielt im phänomenologischen Sinn also erst in späteren Phasen der Epoché, etwa der eidetischen Variation oder im Rückbezug der Erkenntnisse der Epoché auf die natürliche Einstellung, eine Rolle. So ist es durchaus möglich, als Ergebnis der Reflexion des phänomenologischen Zugangs den Verstehensbegriff in Anschlag zu bringen, wenn die Einflussfaktoren auf die ursprüngliche sinnliche Wahrnehmung aufgeklärt und neue Perspektiven auf das Wesen des wahrgenommenen Gegenstandes hinzugewonnen werden konnten. Indem die Voraussetzungen aufgedeckt werden, die der Wahrnehmung zugrunde liegen, versteht der Wahrnehmende also anders und nimmt damit anders und Anderes wahr als zuvor. Erst hier setzt im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs die Diskussion um den Verstehensbegriff ein, von der die Wahrnehmung selbst jedoch dispensiert wird. Dass sich diese Verortung des phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung innerhalb einer didaktischen Debatte durchhalten lässt, die in weiten Teilen von literarischen Texten als ihren Gegenständen ausgeht, hängt damit zusammen, dass diese dem Bereich der Kunst zugeordnet werden können, in dem sich das Verhältnis von Wahrnehmen und Verstehen paradigmatisch erweist.
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Das der Kunst eigene Ereignis-Potenzial, das sich jeweils in einem medial und material spezifisch bestimmten Möglichkeitsraum entfalten kann, beruht wesentlich auf Perspektivität, die künstlerische Gegenstände selbst bereits in je spezifischer Weise durch die Herstellung einer eigenen Realität ausstellen. Kunst thematisiert, weil sie entkontextualisiert ist, immer auch den Blick auf ihre Gemachtheit. Unabhängig davon, ob es sich um einen literarischen Text oder eine Theateraufführung handelt, kann bei künstlerischen Gegenständen davon ausgegangen werden, dass in ihnen die Verbindung von spezifischer Materialität und Wahrnehmung ein Ereignis ermöglicht, das den Wahrnehmenden auf eben diese Pole zurückwirft. Für den Zusammenhang zwischen der Materialität literarischer Texte und dem poetischen Verstehen, das diese Materialität bedingt, fasst Wintersteiner zusammen: »Es ist aber heute kulturwissenschaftlicher common sense, Kunst nicht mehr, wie noch bei Schiller, als ›schönen Schein‹ zu betrachten, sondern sie wird als eine alternative Weltsicht und Kommunikationsform gesehen, die sich von der Alltagskommunikation radikal unterscheidet. Das Besondere des literarischen Kunstwerkes […] ist allerdings, dass es als Basis, als Ausgangsmaterial, mit der Alltagssprache arbeitet – im Gegensatz etwa zur Musik.«43
Die Grundlage des Verstehens eines poetischen Kunstwerkes ist demnach zuerst das »Verstehen des Kunstwerkes als Poetisches«44. Zu ergänzen wäre diese Sichtweise nach dem bisher Gesagten durch die Auffassung, dass die Grundlage für das Verstehen eines Kunstwerkes als Poetisches wiederum bereits in dessen Wahrnehmung als ein poetisches Kunstwerk liegt. Schon diese Voraussetzung aber ist – ähnlich wie der Prozess des Verstehens und Nichtverstehens – unabschließbar, weil er an die individuelle Perspektive gebunden ist und den intersubjektiven Austausch verlangt. Zugleich aber kann auch die Feststellung, etwa ein Theaterstück nicht verstanden zu haben, vor dem Hintergrund der Phänomenologie fruchtbar gemacht werden, indem Nichtverstehen als eine bestimmte Form der kognitiven Wahrnehmung aufgegriffen, auf die sinnliche Wahrnehmung zurückgeführt und auf ihren Seinsgehalt hin befragt wird. Mit der Verortung der Phänomenologie als einer Haltung den Gegenständen gegenüber, die zunächst die subjektive Wahrnehmung nutzbar macht und diese aufbereitet und in den intersubjektiven Austausch zur Annäherung an das Wesen des Gegenstandes einbringt, lassen sich auch die Spannungsfelder zwischen der Theateraufführung und dem didaktischen Kontext neu beurteilen, wenn das Be43 WINTERSTEINER: »Wir sind, was wir tun«, S. 24. Hervorhebung im Original. 44 Ebd., S. 26.
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mühen um Verstehen eingeklammert ist. So lässt sich gegen das Spannungsfeld, welches das Verhältnis zwischen phänomenalem So-sein und der semiotischen Funktion des Wahrgenommenen betrifft, anführen, dass gerade der phänomenologische Zugang die Erfahrung des Oszillierens als Ausgang nehmen und diese für einen Zugang zur Analyse fruchtbar machen kann, weil sich im Dilemma der Unentschlossenheit etwas über das Wesen des Wahrgenommenen aussagen lässt. Ziel dieses Aufgreifens kann es sein, das Oszillieren als Besonderheit der Wahrnehmung in einer Theateraufführung auf deren Materialität zurückzuführen. Bestehen bleibt dieses Spannungsfeld allerdings, wenn die Dimensionen der Wahrnehmung voneinander getrennt werden. Dies geschieht, wenn Aspekte der Sinnund Bedeutungskonstitution unbedacht bleiben, die sich gerade im leiblichen Affiziertsein zeigen. Im Sinne der Responsivitätstheorie wäre die Erfahrung des Affiziertseins als eine Response anzusehen, deren Anspruch im Gegenstand ausgemacht werden muss. Vor dem Hintergrund des skizzierten Aufführungsbegriffes und der phänomenologischen Theorie erscheinen damit auch die Wahlmöglichkeiten des Wahrnehmenden – zwischen Introspektion einerseits und der Berücksichtigung von Zuschauerreaktionen andererseits – nicht mehr als gegensätzlich. Denn alle Formen der Wahrnehmung lassen sich mittels der Phänomenologischen Epoché als Perspektiven in einer bestimmten Situation zurückführen. Wenn dabei dem Wahrnehmenden die Reaktion anderer Zuschauer aufgefallen ist, so lässt sich diese Perspektive zum Beispiel in Richtung der leiblichen Ko-Präsenz als der spezifischen medialen Bedingung der Aufführung weiter thematisieren. Da eine phänomenologische Analyse nicht bei der Subjektivität der Wahrnehmung verbleibt, sondern den intersubjektiven Austausch zwingend vorsieht, relativiert sich die Tatsache der eigenen begrenzten Perspektive, die im individuell ausgemachten Anspruch eines Momentes der Aufführung begründet liegt. Das Oszillieren der Wahrnehmung stellt somit kein Spannungsfeld phänomenologischer Analyse dar, sondern weist auf deren Ausgangspunkt hin und wird von ihr explizit aufgegriffen. Auch das Spannungsfeld, das auf die Probleme der Wahrnehmung für die Analyse hinweist, verliert seine Bedeutung im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs, der sich als Haltung begreift. Dies kann gerade am Beispiel der Atmosphäre verdeutlicht werden, die im dritten Kapitel in Verbindung mit der Räumlichkeit als materielles Element der Theateraufführung vorgestellt wurde. Sie wird in der Aufführung performativ hervorgebracht und kann nach phänomenologischer Auffassung sowohl auf die Intentionen der Inszenierung als auch auf das wahrnehmende Subjekt zurückgeführt werden. Damit vollzieht sich die Wahrnehmung von Atmosphären nicht spontan und willkürlich, sondern wie die Aufführung zwischen Spontaneität und Programm als Ereignis. Nachdem die
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Ekstasen der Dinge, durch die bestimmte Atmosphären konstituiert werden, den Wahrnehmenden auffällig geworden sind, weil sie ihnen als Ereignis widerfuhren, lassen sie sich nach ihrer Verflüchtigung analytisch nur über markante Momente greifen, die in Erinnerung geblieben sind. Wahrnehmen und Erspüren sind im phänomenologischen Sinne damit keine Gegensätze und der Begriff Rezeption wird vor dem Hintergrund eines Aufführungsbegriffes obsolet, der nicht mehr zwischen Akteuren auf der Bühne und Rezipienten im Zuschauerraum unterscheidet, sondern nur noch Akteure kennt, die gleichermaßen am Zustandekommen der Aufführung beteiligt sind. Ein phänomenologischer Zugang setzt also dort an, wo eine Wirkung des Wahrgenommenen in Erinnerung geblieben ist. Phänomenologische Analyse führt eine wahrgenommene Atmosphäre auf ihr Wesen zurück, um vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung für den subjektiven Wahrnehmungsprozess die Wirkung dieser Atmosphäre genau dann zu thematisieren, wenn sie für die Wahrnehmung der Aufführung als bedeutsam wahrgenommen wurde. Geschieht dies im individuellen Fall nicht, lässt sich im weiteren Unterrichtsverlauf klären, inwiefern die Berücksichtigung einer bestimmten Atmosphäre das Wesen der Aufführung, etwa die Interpretation einer bestimmten Geste oder Handlung, neu zu perspektivieren vermag. Die Auswirkungen der Wahrnehmung werden damit im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs zuallererst thematisiert, denn die Erfahrung der Bedeutsamkeit dieser Wahrnehmung ist es, die diese Thematisierung motiviert. Das Spannungsfeld, das aus der Ereignishaftigkeit und Transitorik der Theateraufführung resultiert, kann sowohl im Anschluss an die theatertheoretische Auseinandersetzung und damit vom Gegenstand der Theateraufführung aus als auch vor dem Hintergrund der Responsivitätstheorie als Kern der phänomenologischen Analyse der Theateraufführung angesehen werden. Die Analyse der Antwort des Wahrnehmenden stellt dabei die Möglichkeit dar, dem Pathos, also dem Anspruch des Widerfahrnisses, nachzugehen und es zu beschreiben. Zwar ist das Pathos selbst im Moment, in dem es widerfährt und in dem es als es selbst erscheint, in einem objektiven Sinne nicht beobachtbar und nicht beschreibbar, die phänomenologische Analyse aber sieht gerade dieses Merkmal als Grundbedingung jeder Erfahrung an und macht das Widerfahrnis im Nachhinein als Wirkung beschreibbar, die ihre Ursache übernimmt. Gerade an dieser Stelle zeigt sich, wie wichtig die Angabe der Bezüge ist, vor deren Hintergrund ein phänomenologischer Zugang modelliert wird. Denn ein Spannungsfeld ergibt sich aus der subjektiven Wahrnehmung des flüchtigen Aufführungsereignisses dann, wenn Subjektivität im Sinne der Ambiguitäten von Subjektivität und Objektivität oder von Körper und Geist als etwas angesehen wird, das, weil es nur individuelle Gültigkeit besitzt, durch das objektiv Gültige zu korrigieren ist. Phänomeno-
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logische Analyse aber geht darüber hinaus, weil subjektive Wahrnehmung das Fundament bildet, auf dem diese Analyse stattfindet, weshalb das Wesen des Wahrgenommenen nur intersubjektiv und nicht objektiv erwiesen werden kann. Der Widerfahrnischarakter der Wahrnehmung ist damit nicht etwas, das sich nur auf den Gegenstand Theateraufführung bezieht, weil sie transitorisch vergeht. Für einen phänomenologischen Zugang zeigt sich in diesem Widerfahrnis ein Grundzug jeglicher Wahrnehmung. Diese Überzeugung aber stellt für einen phänomenologischen Zugang – anders als etwa für einen semiotischen – kein Spannungsfeld dar, sondern den methodischen Ansatzpunkt der Analyse. So individuell die Antworten der Wahrnehmenden dabei sein können, so vielfältig können auch die Formen der Antwort sein. Die Anschlussfrage an die verschiedenen Antwortmöglichkeiten wäre dabei vor dem Hintergrund der Phänomenologischen Epoché zunächst diejenige nach den Gründen für eine spezifische Antwort oder – mit den Worten Husserls – nach der spezifischen Intentionalität, die darin zum Ausdruck kommt. Im Rahmen der weiteren Modellierung des phänomenologischen Zugangs wird daher darüber nachzudenken sein, wie verschiedene Antwortmöglichkeiten berücksichtigt und der Analyse zugeführt werden können. Es zeigt sich, dass die zu Beginn dieses Kapitels benannten Spannungsfelder dann obsolet sind, wenn die Grundintention des phänomenologischen Zugangs beibehalten wird, sowohl etwas über die Aufschlüsselung von Bewusstseinsvorgängen als auch über die Gegenstände der Wahrnehmung in Erfahrung zu bringen. Dabei geschieht die Verortung dieses Zugangs innerhalb der Literatur- und Mediendidaktik unter der Bedingung der Einklammerung des Bemühens um Verstehen im Sinne einer ersten Reduktion der natürlichen Einstellung, nach der es in Gegenständen überhaupt etwas zu verstehen gibt. Die folgenden Überlegungen greifen dieses Grundanliegen auf, indem Ziele und methodische Aspekte vorgestellt werden, mit denen die Wahrnehmung der Theateraufführung zum Ausgangspunkt des Unterrichts und der ihm zugrunde liegenden Theaterdidaktik gemacht werden.
4.2 ZIELE In diesem Abschnitt werden mögliche Ziele eines phänomenologischen Zugangs im theaterdidaktischen Kontext benannt. Auch diese Überlegungen sind an der entwickelten Trias von Wahrnehmung, Ereignis und Materialität ausgerichtet und basieren auf der Phänomenologie als einer Haltung den Gegenständen gegenüber. Besondere Berücksichtigung finden in der folgenden Darstellung jene
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Ziele der Theaterdidaktik Paules, die bereits im ersten Kapitel vorgeschlagen wurden. Dabei wird sich der Fokus jedoch aufgrund der zugrunde liegenden Definitionen von Theaterdidaktik verschieben. 4.2.1 Sondierung und Differenzierung: Die Theateraufführung wahrnehmen Ein phänomenologisch akzentuierter Zugang zur Theateraufführung ist, so geht aus dem bisher Gesagten hervor, an Erfahrungen gebunden, die von auffällig gewordenen Ansprüchen der Theateraufführung ausgehen. Das Wissen um die Theatertheorie oder die Medialität und Materialität der Theateraufführung, das in der vorliegenden Arbeit bereitgestellt wurde, markiert in diesem Sinne die Ränder des Ermöglichungsraumes der Erfahrungen, die Schüler in Theateraufführungen machen können.45 Auf diese Weise wird eines der Ziele verfolgt, das auch Paule der Theaterdidaktik eingeschrieben hatte und das nun zunächst als ein grundlegendes vertieft werden soll: das Ziel, Theateraufführungen als eigenständige Kunstform wahrnehmen zu können.46 Im Rahmen dieser Aufgabenstellung sieht Paule die Notwendigkeit, die Theateraufführung unabhängig von ihrer Verbindung zu einem Drama oder sogar zur Inszenierung zu behandeln, um im Unterricht auf die Spezifika der theatralen Bedeutungsgenerierung zu sprechen kommen zu können. Dieses Ziel lässt sich nun deutlicher konturieren, wozu es zunächst in zwei einzelne Bestandteile zerlegt werden kann. Einer dieser Bestandteile lässt sich mit wahrnehmen können benennen, ein anderes fokussiert den Gegenstand als eigene Kunstform und lässt sich als den Gegenstand identifizieren bezeichnen. Damit betrifft dieses Ziel sowohl das Subjekt, das seine Fähigkeit verbessern soll, die erscheinenden Gegenstände wahrzunehmen, als auch den Gegenstand der Wahrnehmung, die Theateraufführung, die Schüler in ihrer spezifischen Medialität und Materialität wahrnehmen sollen. Beide Bestandteile dieses Ziels lassen sich mit einem phänomenologischen Zugang verfolgen. Die Theateraufführung als eigene Kunstform in ihrer spezifischen Medialität und Materialität wahrzunehmen bedeutet, sie als eigenständige Sache wahrzunehmen, zu deren Wesen unter größtmöglichem Ausschluss aller Vorurteile zunächst von der Wahrnehmung ihrer Erscheinung her vorgedrungen werden soll. Sie gerät aus phänomenologischer Perspektive als ein performatives Ereignis
45 Vgl. zum Begriff des Ermöglichungsraumes im literaturdidaktischen Kontext auch HÄRLE: »Literarische Bildung im Spannungsfeld von Erfahrung und Theorie«. 46 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 256.
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zwischen Zuschauern und Schauspielern in den Blick, nicht aber vornehmlich als bedeutungsgenerierender Zeichensetzungsprozess. Um dem gerecht zu werden, müssen in unterrichtlichen Gesprächen und bei Urteilen über Aufführungen die Vorerfahrungen der Schüler aufgegriffen und so weit wie möglich eingeklammert werden, weil das, was sich in diesen Urteilen zeigt, eine Antwort auf einen Anspruch darstellt, der vom Gegenstand Theateraufführung ausgegangen ist. Diesen Anspruch gilt es zu identifizieren und zum Gegenstand zurückzuführen. Die Art und Weise, mit der sich Schüler ebenso wie die Lehrkräfte einer Aufführung genähert haben, sowie die Art und Weise, in der ihnen Elemente der Aufführung erschienen sind, dürfen vor dem Hintergrund des phänomenologischen Zugangs nicht nur nicht außer Acht gelassen werden, sondern müssen unbedingt im Fokus stehen, um das Ziel zu erreichen, die Theateraufführung als sie selbst – und das heißt mit ihren konstitutiven medialen und materiellen Bedingungen – wahrzunehmen. Auf der Grundlage der Beschreibung dessen, was als Ereignis auffällig geworden ist, wird abgeleitet, was aus der Wahrnehmung dieser spezifischen Erscheinung über das Wesen des Wahrgenommenen gesagt werden kann. Durch die Phänomenologische Epoché lassen sich schließlich sowohl der Erkenntnisgrad hinsichtlich des Gegenstandes Theateraufführung und der darin wahrgenommenen Elemente als auch die Wahrnehmung selbst verändern, die dann als Prozess zwischen Pathos und Response, zwischen Gegenstand und wahrnehmendem Subjekt, transparent gemacht worden ist. Die Theateraufführung vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs als sie selbst wahrzunehmen bedeutet also, die Wahrnehmung der Schüler methodisch geleitet zu fundieren. Damit dies erreicht werden kann, ist es für jede didaktische Perspektivierung erforderlich, dass Schüler an Theateraufführungen auch wirklich teilnehmen. Die Wahrnehmung einer Aufführung – und mithin deren Besuch – steht somit am Beginn des phänomenologischen Zugangs. Dabei ist es, wenn die Theateraufführung als das wahrgenommen werden soll, als das sie den Schülern erscheint, zunächst nicht nötig, diesen Besuch etwa durch die vorgängige Vermittlung des Dramas oder theatertheoretischen Wissens vorzubereiten. Im Gegenteil besteht die Gefahr dann darin, dass dieses Wissen die unvoreingenommene Wahrnehmung verhindert. Wichtiger wird es sein, methodische Schritte und Fertigkeiten einzuüben, die mit der Phänomenologischen Epoché einhergehen. Damit wird die Theateraufführung im Kontext eines phänomenologischen Zugangs in einer Weise zum Gegenstand, in der die Fragen, die sie aufwirft, und die Antworten, die sie hervorruft, bewusst gemacht und aufeinander bezogen werden sollen. Das grundlegende Ziel eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung ist es also, im Prozess der Wahrnehmung das Phänomen Theaterauffüh-
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rung seinem Wesen und seiner Struktur nach so zu beschreiben, wie es sich von sich selbst her zeigt. Damit lässt sich gerade mittels eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung das Ziel verfolgen, diese als eigenständige Kunstform wahrzunehmen, weil es das Verhältnis zwischen dem Wahrnehmenden und dem spezifischen Gegenstand Theateraufführung ist, das im Unterricht thematisiert wird. Die Besonderheit dieses Zugangs, der auch über den theaterdidaktischen Kontext hinaus bedeutsam ist, liegt darin, die Entstehung des Gegenstandes im Zwischenereignis zu verorten, das sich im Prozess der Wahrnehmung zwischen dem Wahrnehmenden und dem Gegenstand ereignet. Die subjektive Wahrnehmung dieses Ereignisses wiederum und die Erkenntnisse, die aus der Anwendung der Phänomenologischen Epoché gewonnen werden können, sollen dann in den intersubjektiven Austausch auch unter Hinzunahme weiterer Perspektiven und Erklärungsversuche eingebracht werden, um die eigene Perspektive zu verändern oder weiter zu schärfen. Im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs und der noch zu skizzierenden methodischen Implikationen wird es also insbesondere bei der Erstbegegnung mit dem Gegenstand Theateraufführung zunächst darum gehen, Schüler zu einer möglichst vorurteils- und vorwissensfreien Wahrnehmung zu verhelfen und sie für die Möglichkeiten sinnlicher Wahrnehmung zu sensibilisieren. Schüler dazu zu befähigen, als kompetente Zuschauer das Gesehene kognitiv verorten zu können, ist vielen theaterdidaktischen Konzepten ein grundsätzliches Anliegen. Sofern dieses Anliegen aber nicht von der Wahrnehmung der Schüler ausgeht, besteht die Gefahr, weder dem Gegenstand Theateraufführung als performativem Zwischenereignis gerecht zu werden noch die kognitive, affektiv-emotionale und leibliche Dimension der Wahrnehmung gleichermaßen zu berücksichtigen. Dabei ist der phänomenologische Zugang an eine Haltung gebunden, mit der verschiedene methodische Schritte einhergehen. Die Einnahme dieser auch erkenntnistheoretisch relevanten Haltung und das Einüben eines Umgangs mit den daraus resultierenden Anforderungen und den wahrgenommenen Gegenständen stellt somit ein Ziel des phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung dar, das sich aus dessen Grundausrichtung ableiten lässt. Das Ziel, die Theateraufführung als eigene Kunstform wahrnehmen zu lernen, wird im Folgenden in weitere Teilziele ausdifferenziert. Während mit Beobachten lernen, Beschreiben lernen und Kritisieren lernen solche Ziele formuliert werden, die mit dem Wahrnehmungsprozess auf der Subjektseite verbunden sind, fokussiert das Ziel Analysieren lernen auf den Gegenstand.
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Beobachten lernen Zu den Bedingungen der Wahrnehmung von Theateraufführungen gehört, dass diese von den Fragestellungen beeinflusst wird, die an die Aufführungen gerichtet werden. Damit verbunden kann dann eine vorgängige Fokussierung der Wahrnehmung auf bestimmte Elemente und Aspekte der Aufführung sein, die im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs, der auf die Wahrnehmung der Aufführung als eigenständige Kunstform abzielt, weitestgehend vermieden werden soll. Beobachten zu lernen spielt in diesem Kontext eine besondere Rolle, insofern das, was beobachtet werden soll, wiederum von Faktoren wie dem Verständnis vom Theater als Kunstform abhängt oder von der Rolle, die den Zuschauern in der Theateraufführung zugestanden wird. Dabei besteht ein wesentlicher Unterschied zum Beispiel in der Frage, ob das Theater »als Repräsentation einer fiktiven Welt begriffen [wird], die der Zuschauer beobachten, deuten und verstehen soll«47 oder sich die Beobachtung auf das performative Zustandekommen der Aufführung in leiblicher Ko-Präsenz richtet. Der zweite Aspekt, den Fischer-Lichte als die Beobachtung nach der Ordnung der Präsenz klassifiziert hatte, ist vor dem Hintergrund des phänomenologischen Zugangs von wesentlicher Bedeutung. Beobachtung ist dabei eng an das Bewusstsein der Bedingungen gebunden, die auf Seiten des Wahrnehmenden die Wahrnehmung beeinflussen, weil zunächst in natürlicher Einstellung beobachtet wird, also vor dem Hintergrund der Vorannahmen und des vorhandenen Vorwissens. Damit nicht nur das beobachtet wird, was auf vorgängige theoretische Instruktion zurückgeht, wäre in diesem Zusammenhang zu vermeiden, dass sich die Beobachtung als Bestätigung und Vertiefung des bereits erworbenen theoretischen Wissens der Beobachtenden erweist, ohne dieses Wissen zuvor eingeklammert zu haben. Die Interpretation, die mit der Wahrnehmung in der Theateraufführung nach phänomenologischem Verständnis immer schon einhergeht, wäre daher an die Beobachtung und die Art und Weise der Anschauung des Gegenstandes rückzubinden. Damit wird aber das Erlernen der Beobachtung selbst zu einem Ziel der Theaterdidaktik, das sich mit einem phänomenologischen Zugang verbindet, denn es gilt, Beobachtung und Interpretation, die im Moment der Wahrnehmung selbst kaum voneinander zu trennen sind, als deren analytisch aufklärbare Bestandteile zu behandeln und bewusst werden zu lassen. Die enge Rückbindung der Beobachtung an die Interpretation, also der konkreten Anschauung des Gegenstandes an die Art und Weise, in der er dem Wahrnehmenden erscheint, ist einer der wesentlichen Grundzüge eines phänomenologischen Zugangs, den es aufzuklären gilt, um zur Sache selbst zu gelangen. Anschauung und Reflexion erweisen sich insofern als die beiden Pole, zwi47 FISCHER-LICHTE: Theaterwissenschaft, S. 30.
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schen denen die phänomenologische Analyse sich bewegt, um die Wahrnehmung zu fundieren und Gewissheit über das Wesen des wahrgenommenen Gegenstandes zu gewinnen. Im Wechsel zwischen Beobachtung und Reflexion nähert sich die Analyse im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs dem Wesen des Gegenstandes an. Für den Wahrnehmenden bleibt damit letztlich bei jeder Auseinandersetzung mit den Gegenständen eine Ungewissheit bestehen. Ein phänomenologischer Zugang, der in der Beobachtung seinen Ausgang nimmt, stellt die offene Frage nach der Angemessenheit des vermittelten Wissens zur Beschreibung der wahrgenommenen Phänomene einerseits, andererseits können weiterführende Fragen an den Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung gestellt werden. Die Beobachtung im Sinne einer Offenheit für das, was in der Wahrnehmung auffällig werden kann, unterscheidet sich von einer Beobachtung, die das Bekannte wiederentdecken will. Beobachtung im phänomenologischen Sinn steht dabei im Dienst der Erkundung und benötigt als nächsten Schritt die Beschreibung des Beobachteten. Es gilt, die Handlungsweisen in der Theateraufführung und die darin subjektiv wahrgenommenen markanten Momente so zu beschreiben, als begegne man ihnen zum ersten Mal ohne Vorkenntnisse, Vorurteile und ohne ein Kategoriensystem, durch welches das Wichtige vom Unwichtigen unterschieden werden kann. Die Entscheidung darüber, was anhand des Beobachteten, also anhand der Anschauung des Gegenstandes, über dessen Wesen herausgefunden werden kann, wird somit auf Basis der genauen Beschreibung des Beobachteten gefällt und kann dann auch mit dem Wissen in Verbindung gebracht werden, das im unterrichtlichen Kontext vermittelt werden soll. Bevor dies geschehen kann, wäre es ein eigenes Ziel, Beschreiben zu lernen. Dieses Ziel lässt sich im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs am Beispiel der Theateraufführung ebenfalls verfolgen. Beschreiben lernen In den skizzierten phänomenologischen Ansätzen zeigte sich insbesondere bei Husserl und Merleau-Ponty die Bedeutung, die eine genaue Beschreibung des Wahrgenommenen im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs bekommt. Es wurde gesagt, dass die Beobachtung dessen, was der Gegenstand von sich selbst her zeigt, im Dienste der Beschreibung steht, die auf die Beobachtung folgt. Erst die Beschreibung des Beobachteten kann in den intersubjektiven Austausch eingebracht werden, da sie dem Wahrnehmenden als Vergewisserung über das Wahrgenommene und dessen Fixierung dient. Insofern muss ein phänomenologischer Zugang auch zum Ziel haben, Beschreiben zu lernen, denn die
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Beschreibung liefert das Material, das zur Annäherung an das Wesen des wahrgenommenen Gegenstandes genutzt werden kann. An dieser Stelle scheint allerdings erneut jenes Problem auf, das bereits im Kontext der Ausführungen zur Aufführungsanalyse genannt worden ist: das Problem der Versprachlichung.48 Insbesondere die Phänomenologie sieht den Urgrund der Erkenntnis und Sinnproduktion nicht allein in der Überführung der Wahrnehmung in eine andere Form wie etwa der sprachlichen Beschreibung, sondern in der Anschauung als der Erscheinung des Gegenstandes für ein Subjekt. Die Anschauung im Moment der Wahrnehmung ist allerdings durch ihre Versprachlichung nicht mehr fassbar. Dieses Problem hatte Waldenfels im Blick, nach dessen Responsivitätstheorie das Pathos selbst für den Wahrnehmenden und aus der Antwort darauf nicht mehr eindeutig hervorgeht, weil es durch die und in der Antwort bereits als etwas Bestimmtes wahrgenommen worden ist. So ist zwar der Anspruch beschreibbar, an den die Response anknüpft, das Pathos aber bleibt wegen der Diastase zwischen Pathos und Response letztlich immer verborgen. An dieser Stelle zeigt sich auch, wie wenig der phänomenologische Zugang im Kern an einem abschließbaren Verstehensprozess interessiert sein kann. Zugleich zeigt sich aber, dass er dadurch für die Unabschließbarkeit dieses Prozesses geradezu offen ist, weil schon das Wahrgenommene immer mit der Unverfügbarkeit des wahrgenommenen Gegenstandes verbunden ist. Das Problem der Versprachlichung ergänzt damit lediglich die phänomenologische Auffassung, dass das Wesen eines Gegenstandes nur aus der begrenzten Perspektive des Wahrnehmenden beschreibbar ist. Daraus resultiert, dass der Modus der Beschreibung selbst in den Blick geraten muss, denn sie muss zum Ziel haben, den Anspruch des Gegenstandes so angemessen wie möglich wiederzugeben. Das heißt jedoch gerade nicht, diese Beschreibung unmittelbar im Sinne einer Anbindung an erworbene Wissensbestände vorzunehmen, sondern bereits bei der Beschreibung zu bedenken, ob ein verwendeter Begriff sprachlich adäquat ausdrückt, wie der Gegenstand dem Wahrnehmenden erschienen ist und welchen Sinn dem Gegenstand gegeben wurde. Beschreiben lernen bedeutet somit vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs, bei der Bewertung der Angemessenheit jeder Fixierung des Wahrgenommenen nicht unhinterfragt auf vorhandene wissenschaftliche Kategorien, Konstrukte und Konzepte zurückzugreifen, sondern diese an der Beobachtung auszurichten und an ihr zu überprüfen. So richtet sich der Blick nicht von dem gesicherten Fundament wissenschaftlicher Erkenntnis aus auf die Gegenstände der Wahrnehmung, sondern umgekehrt von den Gegenständen in ihrem Erscheinen auf die Begriffe, mit denen diese Gegenstände beschrieben werden können. 48 Vgl. dazu 4.3.3.
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Die Erfahrung der Grenzen von Beschreibung und das Nachdenken über adäquate Begriffe wiederum kann als ein Grundmoment der Begegnung mit Kunstformen wie der Theateraufführung gelten, die sich bereits aufgrund ihrer performativen Hervorbringung und ihrer Transitorik einer Fixierung entzieht. So weist auch die Beschreibung der Theateraufführung in zwei Richtungen: Einerseits steht das Wesen der Aufführung selbst im Mittelpunkt, andererseits zeigt sich insbesondere in der durch die Sprache zum Ausdruck kommenden Perspektivität der Beschreibung ein Grundzug jeglicher Beschreibung, der unabhängig vom konkret beschriebenen Gegenstand ist. Die vor dem Hintergrund des phänomenologischen Zugangs vorgenommene Beschreibung der Gegenstände nimmt diese Beschreibung nicht aus der Dritten-Person-Perspektive vor, sondern verbindet sich mit der begriffs- und erfahrungsgebundenen Perspektivität, um diese schließlich bewusst zu machen und einzuklammern. Beschreiben lernen als Ziel eines phänomenologischen Zugangs bedeutet also über das Lernen einer Technik hinaus das Einnehmen einer Haltung auch der Beschreibung gegenüber. Diese Haltung gliedert sich in das phänomenologische Grundvorhaben ein, die Wissenschaft in der Lebens- und Erfahrungswelt der Subjekte zu verorten, um so Erkenntnis in der Wahrnehmung zu fundieren, und lässt sich mit dem Schlagwort der Kritik zusammenfassen, die damit als weiteres Ziel gelten kann, das sich vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs verfolgen lässt. Kritisieren lernen Das Ziel, anhand des Umgangs mit der Theateraufführung im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs Kritik üben zu lernen, ist eng mit den übrigen Zielen verknüpft. Denn in der Kritik sind die Bedingungen der Wahrnehmung und die zur Beschreibung verwendeten Begriffe nicht lediglich aufzuführen, sondern darüber hinaus zu prüfen. Diese Forderung geht nicht zuletzt auf die Methode der Phänomenologischen Epoché zurück, nach der die umgebende, in natürlicher Einstellung wahrgenommene Lebenswelt der Ideen und Vorurteile eingeklammert wird. Die Aufführung fordert mit dem Bedeutungsüberschuss der in ihr verwendeten Zeichen, ihrer spezifischen Medialität und der aus ihrer performativen Hervorbringung resultierenden Materialität in besonderer Weise dazu heraus, jene Bedingungen in den Blick zu nehmen, von denen die Wahrnehmung beeinflusst ist. Denn die leibliche Ko-Präsenz, aufgrund derer die Wahrnehmung des einzelnen Zuschauers in einer Aufführung immer auch mit dem Kollektiv der Zuschauer in Verbindung steht, macht erfahrbar, dass diese Wahrnehmung von allen zugleich Anwesenden mit beeinflusst wird. Unter der Bedingung dieser Beeinflussung, die in der Theateraufführung leiblich wahrgenommen und als markanter Moment auffällig werden kann, kann
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mit Schülern über Konsequenzen nachgedacht werden, die sich daraus für die Deutung und die methodologische Herangehensweise an die Interpretation im Allgemeinen und von solchen Kunstformen im Speziellen ergeben, die sich als Aufführung realisieren. Erst durch die Bewusstwerdung der Voraussetzungen der Wahrnehmung und schließlich auch durch die Analyse des Wahrgenommenen kann die phänomenologische Forderung nach der Reflexion der Implikationen erfüllt werden, die mit der Wahl einer bestimmten Theorie, einer bestimmten Begrifflichkeit, eines bestimmten Zugangs und einer bestimmten Methode eingelöst werden sollen. Darunter fällt auch die Reflexion und Kritik des phänomenologischen Zugangs selbst, weshalb das, was die Schüler betreiben, der von Merleau-Ponty geforderten Phänomenologie der Phänomenologie gleichkommen kann. Nicht die Kritik der Deutungen Anderer ist das primäre Ziel eines solchen Vorgehens, sondern vielmehr zuerst die Kritik der eigenen Deutung und ihrer Voraussetzungen. Über den Bezug zur Theateraufführung hinaus kann dieses Vorgehen auch auf die Wahrnehmung und Deutung anderer Gegenstände des Deutschunterrichts übertragen werden. Denn die phänomenologische Kritik richtet sich in ihrem Grundsatz gegen die Sicherheiten und Theoriegebäude, mit denen Lehrer sowie Schüler im Umgang mit den Gegenständen des Unterrichts konfrontiert sind. Sie klammert sie ein, ohne sie zu verneinen, sie stellt sie unter einen grundsätzlichen Vorbehalt, ohne ihre Gültigkeit anzuzweifeln, sie übt eine Haltung ein, ohne andere Formen des Erkenntnisgewinns auszuschließen. Zu guter Letzt würde die phänomenologische Kritik immer auch sich selbst als Methode hinterfragen. Was Schüler auf diese Weise in der Auseinandersetzung mit der Aufführung erwerben können, ist nicht nur ein in der Wahrnehmung und Erfahrung fundiertes Wissen über das Theater, sondern darüber hinaus die Einnahme jener Haltung, die sie diese Art des Erkenntnisgewinns auch im Umgang mit anderen Gegenständen des Deutschunterrichts einsetzen können lässt, um auch diese Gegenstände wahrnehmen zu lernen. Analysieren lernen – Bedingungen der Analyse wahrnehmen Ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung legt einen bestimmten Begriff von dem zugrunde, was diese Analyse erbringen kann und soll. Aus theaterwissenschaftlicher Perspektive werden zur Analyse von Aufführungen als die beiden methodischen Ansätze der aufführungsanalytische und der theaterhistoriografische Ansatz verfolgt, aus denen sich die beiden grundlegenden Arbeitsfelder der Theaterwissenschaft ableiten lassen.49 Während die Theaterhistoriografie im theaterdidaktischen Kontext vor dem Hintergrund des Ziels, die Thea49 Vgl. FISCHER-LICHTE: Theaterwissenschaft, S. 71.
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teraufführung als eigenständige Kunstform wahrnehmen zu können, zweitrangig ist, spielt der Aspekt der Aufführungsanalyse im didaktischen Kontext eine größere Rolle. Ihn gilt es daher aus phänomenologischer Perspektive didaktisch zu konturieren. Wie die Analyse anderer Gegenstände auch, so ist die Aufführungsanalyse von der konkreten Fragestellung und der Zielsetzung abhängig, aus der sich dann methodische Schritte ergeben, die zu einer Analyse hinzugezogen werden. Die spezifische Medialität und Materialität der Gegenstände beeinflussen nun allerdings die Bedingungen, unter denen die Analyse durchgeführt werden kann, und sie bestimmen schließlich auch die konkrete Methodik der Analyse. In der Theateraufführung stellt dabei »der Analysierende ein Element des Prozesses [dar], den es zu analysieren gilt«50. Er wird, wenn er »an einem Punkt im Verlauf der Aufführung innehalten will, um über spezifische Vorgänge, die ihn besonders fasziniert oder irritiert haben, nachzudenken und auf diese Weise mit der Analyse zu beginnen, […] nachfolgende Geschehnisse, die vielleicht ein ganz neues Licht auf diese Vorgänge werfen und den Zuschauer in eine ganz andere Stimmung versetzen – und insofern für seine Analyse von großer Bedeutung sein mögen – verpassen«51. Die Analyse der Theateraufführung rekurriert also auf die subjektive Wahrnehmung, ist aber – anders als die Analyse anderer Gegenstände, die sich nicht als Aufführung vollziehen – partiell. Sie kann »erst einsetzen, wenn die Aufführung vorbei ist«52, die daher der sinnlichen Wahrnehmung des Analysierenden entzogen bleibt. Eine Analyse der Theateraufführung zu erlernen bedeutet also, Schülern vor Augen zu führen, dass und wie Bedeutung in der sinnlichen Wahrnehmung entsteht. An dieser Stelle deckt sich die Grundbedingung, unter der die Aufführungsanalyse steht, mit dem, was im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs reflektiert wird. Dessen Kern besteht im leiblichen In-der-Welt-sein der Wahrnehmenden und mithin in der Annahme, dass jede Wahrnehmung an eine bestimmte Situation gebunden ist. Schüler sowie Lehrer nehmen die Aufführung im Moment, in dem sie an ihr teilnehmen, aus ihrer spezifischen subjektiven Perspektive heraus wahr, zugleich sind sie dabei aber immer auch schon von ihren je eigenen Vorurteilen und ihrer Beziehung zur Umwelt bestimmt, die sie umgibt. Dies beeinflusst sowohl die Analyseperspektive als auch die Intentionalität bzw. Responsivität der Wahrnehmung insofern, als schon die im Vorhinein vorhandenen Urteile und Einstellungen den Raum festlegen und begrenzen kön-
50 Ebd., S. 72. 51 Ebd., S. 72f. 52 Ebd., S. 73.
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nen, in dessen Rahmen Gegenstände wie die Theateraufführung den Wahrnehmenden erscheinen können. Die Thematisierung des Wahrnehmungsprozesses kann also bereits vor dem eigentlichen Aufführungsbesuch stattfinden, um die Grundbedingungen von Analyse zu verdeutlichen. Dabei wären zum Beispiel die Reaktionen und Vorannahmen der Schüler aufzugreifen, die schon dadurch hervorgerufen werden können, dass ein Theaterbesuch überhaupt angedacht wird. So kann sich zeigen, dass bereits hier eine intentionale Verbindung zwischen den Wahrnehmenden und dem Wahrzunehmenden eingegangen wird, eine Verbindung also, in der auf das Pathos geantwortet wird, das in diesem Fall der Aufführungsbesuch als Idee oder Vorhaben darstellt. Durch die Thematisierung der Gründe für eine bestimmte Antwort – zum Beispiel das Unwohlsein wegen des erstmaligen Theaterbesuches, die Vorfreude auf ein Theaterstück, das als Film schon bekannt ist, die Angst davor, am Abend des Theaterbesuches nicht richtig gekleidet zu sein – lässt bereits eine vorläufige Definition des Aufführungsbegriffes zu, den die Schüler haben. Sie führt zugleich auch zu einer Bewusstwerdung jener Vorannahmen, die auch die Analyse beeinflussen können. Damit können im Rahmen eines theaterdidaktischen Modells wie dem hier konzipierten, in dem die Theateraufführung im Mittelpunkt steht, bereits vor dem Aufführungsbesuch Bedingungen der Analyse aufgeklärt werden. Wenn sich nun aber die Theateraufführung im Moment ihrer performativen Hervorbringung verflüchtigt und partiell ist, weil nicht alles wahrgenommen werden kann, was wahrnehmbar wäre, dann ist diese mediale Besonderheit als Eigenschaft des Mediums Theateraufführung im Kontext der Analysebemühungen als eine weitere Bedingung der Analyse herauszustellen. Dies kann im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs gerade dadurch geschehen, dass dieser von den Wahrnehmungen der Schüler ausgeht, welche die einzigen verfügbaren Quellen der Aufführungsanalyse darstellen. Die partielle Auswahl, die dabei im Nachhinein getroffen wird, ist kein Argument gegen die Möglichkeit der Aufführungsanalyse. Fischer-Lichte führt dazu an, dass »wir im Prozess der Wahrnehmung immer eine Auswahl [treffen] – wir nehmen das wahr, was für uns in irgendeiner Weise bedeutungsvoll ist – sei es, weil es ein starkes Gefühl auslöst oder weil es unsere Einbildungskraft in Bewegung setzt, sei es, weil es einen Erkenntnisprozess anstößt.«53 Das bedeutet für einen phänomenologischen Zugang insgesamt, dass das, worauf keine Antwort des Wahrnehmenden ergeht, weil es ihm nicht auffällig geworden ist, in dessen Aufführungsanalyse auch nicht eingehen kann. Was er nicht wahrgenommen hat, von dem erging an den Wahrnehmenden auch kein Anspruch. Welche Ansprüche hätten ergehen können, wä53 Ebd.
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re wiederum im intersubjektiven Austausch thematisierbar. Im Kontext des Ziels, Analyse zu lernen und deren Bedingungen wahrzunehmen, wäre allerdings darauf einzugehen, dass das, was auffällig und wahrgenommen wurde, bereits mit einer subjektiv gegebenen Bedeutung verbunden ist. Dass sich bei der Rekonstruktion der Wahrnehmung das Gedächtnis als unzuverlässig erweist, weil es »nicht wie ein Speicher [funktioniert], der getreu das Vergangene aufbewahrt, sondern […] je nach Situation und Kontext das Vergangene neu und anders [konstruiert]«, ist ebenso eine Voraussetzung gerade der Analyse eines Gegenstandes, der sich verflüchtigt, wie die Tatsache, dass das Gedächtnis manche Erinnerungen erst gar nicht ermöglicht. 54 Diese Unzuverlässigkeit der Erinnerung an die eigene Wahrnehmung lässt sich als Bedingung der Analyse von Theateraufführungen auch im schulischen Kontext vermitteln und der Analyse anderer Gegenstände und deren Bedingungen gegenüberstellen. Dabei wird früher oder später das Wahrgenommene versprachlicht werden müssen, um mitgeteilt werden zu können. Das Problem dabei ist jedoch, dass sich »nichtsprachliche Vorstellungen, Bilder, Fantasien und Erinnerungen – zum Beispiel an Klänge, Gerüche, gleißendes Licht – oder auch Befindlichkeiten, Empfindungen, Gefühle, die sich körperlich artikulieren und als diese spezifischen körperlichen Artikulationen bewusst werden, häufig nur sehr schwer in Sprache ›übersetzen‹« lassen.55 Insbesondere vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs ergibt sich daraus ein Problem. »Denn den Zeichen der Sprache eignet immer eine gewisse Abstraktheit, auch wenn sie sich auf konkrete Dinge wie individuelle Körper, Klänge, Gerüche, Licht beziehen. Diese als konkrete Erscheinungen wahrgenommenen Phänomene werden daher ihres besonderen phänomenalen Seins, als das sie in der Wahrnehmung in Erscheinung treten, allein schon dadurch beraubt, dass der Analytiker es nachträglich auf den Begriff zu bringen sucht. Auch der genauesten sprachlichen Beschreibung wird es nicht gelingen, diesem je besonderen phänomenalen Sein Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Sie wird lediglich imstande sein, bei dem, der sie liest oder hört, Imaginationen in Gang zu setzen, die von dem Wahrgenommenen, das beschrieben wird, in kaum vorstellbarer Weise abweichen können. […] Jede gute Analyse arbeitet daran, die ihr von der Sprache gesetzten Grenzen zu überschreiten, ohne dass ihr dies jemals tatsächlich gelingen könnte. Denn die Sprache verfügt als ein je besonderes Medium über eine nur ihr eigene Materialität und als ein je besonderes Zeichensystem über nur ihr eigene spezifische Regeln. […] Jede sprachliche Beschreibung ebenso wie jede Deutung trägt zur Produktion eines Textes bei, die eigenen Regeln gehorcht, sich im Prozess seiner Herstellung verselbstständigt und sich so möglicherweise 54 Vgl. ebd., S. 74. 55 Vgl. ebd., S. 79.
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von ihrem Ausgangspunkt, der Erinnerung an das während der Aufführung Wahrgenommene, immer weiter entfernt. Der Prozess der Analyse mündet in einem bzw. vollzieht sich als Produktion eines eigenständigen Text(es). Dies stellt eine weitere scheinbar paradoxe Bedingung dar, der bei der Aufführungsanalyse gebührend Rechnung getragen werden muss.«56
Im Rahmen der Modellierung eines phänomenologischen Zugangs ist dieser Umstand in zweierlei Hinsicht zu berücksichtigen: einerseits im Hinblick auf die Grenze von sprachlicher Verfasstheit als Bedingung von Analyseprozessen, andererseits im Hinblick auf methodische Aspekte dieses Modells, indem zum Beispiel nach Wegen gesucht wird, die Versprachlichung so lange wie möglich hinauszuzögern oder Alternativen bereitzustellen, mit denen die nicht-sprachliche Wahrnehmung ausgedrückt und in den intersubjektiven Austausch eingebracht werden kann. Wahrnehmung, Erinnerung und Versprachlichung zeigen sich als die grundsätzlichen Bedingungen, unter denen die Analyse einer Theateraufführung steht. Diese Bedingungsfaktoren jeder Wahrnehmung und jeder Analyse kann ein phänomenologischer Zugang transparent und bewusst machen und damit einen Beitrag zum Erlernen von Analyse leisten. Im intersubjektiven Austausch auch andere Analyseergebnisse auf ihre Bedingungen hin zu befragen und zu vergleichen kann dann dabei helfen, die Relevanz eines Erklärungsansatzes für das wahrgenommene Phänomen zu untersuchen und zu bewerten. Wenn dieses Verständnis die Grundlage eines phänomenologischen Zugangs im didaktischen Kontext darstellt, dann zeigt sich, dass eine vollständige Rekonstruktion der Aufführung aufgrund der verschiedenen Perspektiven nicht möglich sein wird. Nicht zuletzt aus diesem Grund liegt bislang in der Didaktik ein ausgearbeitetes Konzept zur phänomenologischen Aufführungsanalyse nicht vor, das bei den markanten Momenten einer Aufführung ansetzt und die Analyse der wahrgenommenen markanten Momente an den Gegenstand rückbindet. Während in diesem Abschnitt der Aspekt der Wahrnehmung im Vordergrund stand, wird es im nächsten Abschnitt darum gehen, über eine Zielperspektive nachzudenken, die mit der Ereignishaftigkeit der Aufführung verbunden ist. Mit dem Ereignis-Potenzial der Theateraufführung umgehen Sowohl in den Ausführungen zur Theatertheorie als auch im Zusammenhang mit der Erörterung der Responsivitätstheorie wurde die Ereignishaftigkeit bzw. der Widerfahrnischarakter der Erfahrung in Aufführungen herausgestellt. So wurde im theaterwissenschaftlichen Kontext die zentrale Rolle des Ereignishaften für die Erfahrungen in Aufführungen immer wieder umschrieben. Lehmann etwa 56 Ebd., S. 79f.
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geht von einer »Blitzartigkeit« aus, in der sich das Neue und Ansprechende in einer Theateraufführung vollzieht.57 Diese Blitzartigkeit, in der das Ereignishafte dem Wahrnehmenden widerfährt, weist hin auf ein Auseinanderbrechen von Signifikant und Signifikat, weil die Herstellung dieser Einheit im Moment des Ereignisses, also in dem, was nach Waldenfels einen Riss darstellt, verunmöglicht ist: »Nicht mehr die Strukturen, die Dauer, die Repräsentation, der Sinn – nicht mehr das eminent sinn- und bedeutungshaltige literarische Werk also – paradigmatisch wird vielmehr das Ereignis, das Punktuelle, der Augenblick einer Szene, die Aufmerksamkeit.«58
Das Ereignis wird in seiner plötzlichen Erscheinung damit zu einem »Ausdruck und Zeichen von Diskontinuität und Nichtidentischem«59. Die »Bedingung der Plötzlichkeit« ist es, die »den zeitlichen Modus gegenüber Diskursen der Kontinuität«60 vorgibt. Erfahrungen mit Kunstwerken ist nun diese Plötzlichkeit in einer besonderen Weise eigen, die im Anschluss an Seel als das Ereignis-Potenzial der Kunst definiert worden ist. Das Ereignis-Potenzial wiederum intersubjektiv begreiflich zu machen hilft, es als das Wesensmerkmal gerade von Kunstwerken wie der Theateraufführung auch Schülern vor Augen zu führen. Dabei kann vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs das aufgegriffen werden, was Bohrer in Bezug auf literarische Texte vorschlägt: »1. Man wird zunächst den theorieunfähigen Teil des ästhetischen Wahrnehmungsprozesses weder ausklammern noch unterschlagen, sondern im Gegenteil thematisieren müssen, so daß seine kognitiven Elemente erkennbar werden. 2. Man wird sodann nach solchem theoriefähigem Kontext suchen müssen, der den ästhetischen Wahrnehmungsakt mit Daten ausstattet, ohne seine Spontaneität nachwirkend doch noch aufzuheben.«61
Wenn in diesem Sinne bei Bohrer die Wahrnehmung des Ereignis-Potenzials in der Kunst als ein ästhetischer Wahrnehmungsakt qualifiziert wird, dann lässt sich diese Wahrnehmung als Ziel eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung aufnehmen. So hatte etwa auch Paule Ästhetische Bildung und ge57 Vgl. LEHMANN: »Das Erhabene ist das Unheimliche«, S. 751. 58 Ebd., S. 761. 59 BOHRER: Plötzlichkeit, S. 7. 60 BOHRER: Das absolute Präsens, S. 41. Hervorhebung im Original. 61 BOHRER: Plötzlichkeit, S. 30.
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lingende kulturelle Sozialisation als eines der theaterdidaktischen Aufgabenfelder gesehen, dabei aber vor allem die Befähigung zur genussvollen Rezeption und die Bewältigung von Herausforderungen im Blick gehabt. Durch die kognitive wie affektive Auseinandersetzung mit der Kunstform Theater und die Reflexion eigener Wahrnehmung und schließlich durch das Ermöglichen von Erfahrungen, die Paule als ästhetische kennzeichnet, sucht sie dieses Ziel zu erreichen. Folgt man Bönnighausens Definition ästhetischer Erfahrung, wonach in der Konfrontation und Interaktion mit dem Kunstwerk die Wahrnehmung deautomatisiert stattfindet, weil sie auf Widerfahrnissen gründet, dann lässt sich der Umgang mit dem Ereignis-Potenzial der Theateraufführung in den Kontext ästhetischer Bildung einbinden. Weil der phänomenologische Zugang zum Theater aber von diesen Widerfahrnissen seinen Ausgang nimmt, lässt sich mit ihm das Ziel ästhetischer Bildung in besonderer Weise verfolgen. Denn der Spielraum, den die Theateraufführung für Erfahrungen öffnet, die man ästhetische nennen kann, wird mittels dieses Zugangs erschlossen und in der wechselseitigen Bedingung von subjektiver, sinnlicher Wahrnehmung und dem Gegenstand in seiner Erscheinung methodisch erschlossen. Die Theaterdidaktik mit Zielen der ästhetischen Bildung zu verbinden, ist also möglich, wenn das Widerfahrnis der Begegnung zwischen dem Gegenstand der Wahrnehmung und dem Wahrnehmenden als ästhetische Erfahrung qualifiziert wird. Die Erkenntnisse, die aus dieser Erfahrung resultieren, sind im Falle der Theateraufführung die Erkenntnis des Wesens der Theateraufführung einerseits und des eigenen Wahrnehmungsprozesses andererseits. In der Bewusstwerdung der Plötzlichkeit, der Ereignishaftigkeit oder des Widerfahrnischarakters wird es möglich, das »Defizit durchweg aller germanistischer bzw. literaturwissenschaftlicher Wertungsvorschläge« zu beseitigen, »die ästhetisch relevante Reaktion letztlich doch als einen analytisch-prozessierenden, reflexiven Akt gegenüber einem objektiv gegebenen Kunstwerk zu beschreiben, so sehr man auch die hermeneutische Situation dabei bedenken mag.«62 Der Theaterdidaktik wäre damit die Gelegenheit gegeben, sich auch aktuellen Positionen der Ästhetik anzunähern, nach denen die ästhetische Erfahrung Modellcharakter besitzt und der Umgang mit ihr schon in der Schule eingeübt werden sollte: »Die Omnipräsenz der Medien und damit die grundsätzliche mediale Vermitteltheit der Welt hat dazu geführt, dass wir immer weniger in der Lage sind, zwischen Fiktionen und Realität zu unterscheiden. Inzwischen haben wir es nicht mehr mit der ›einen, wirklichen‹ Realität zu tun, sondern stattdessen mit einer Fülle verschiedener Wirklichkeiten. Genau diesen Umgang mit unterschiedlichen, auch widersprüchlichen Wirklichkeiten vermag uns 62 Ebd., S. 31.
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die Kunst zu lehren: Wenn wir uns auf ästhetische Phänomene einlassen, lernen wir, mit Pluralität, Heterogenität, Differenzen und Widersprüchen umzugehen. In ästhetischen Erfahrungen wird uns bewusst, dass die Wirklichkeiten, in denen wir leben, in gewisser Weise nur ›Bilder mit Rahmen‹ sind, die jederzeit durch andere ›Bilder‹ mit anderen ›Rahmen‹ ersetzt werden können.«63
Dies kann noch in einer zweiten Weise ergänzt werden. Denn ästhetische Erfahrungen sind, insbesondere wenn man sie vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs aufgreift, »in der Sinnlichkeit der Wahrnehmung verankert, drängen aber zur reflexiven Verarbeitung, ohne dabei den Bezug zur Körperlichkeit zu verlieren.«64 Mit dem Ereignis-Potenzial der Theateraufführung und den Erfahrungen, die darin ermöglicht werden, umzugehen, bedeutet also, »zu vielfältigen Wechselspielen angeregt« zu werden, die sich »zwischen Sinnlichkeit und Reflexion, zwischen Emotionalität und Vernunft, zwischen Bewusstem und Unbewusstem, zwischen Materialität und Zeichencharakter, zwischen Sagbarem und Unsagbarem« und »zwischen Bestimmtem und Unbestimmtem« bewegen.65 In dieser Hinsicht steht ein phänomenologischer Zugang im theaterdidaktischen Kontext letztlich immer auch im Dienste der Veranschaulichung der menschlichen Erfahrung, wenn die »grundsätzliche Offenheit, die diese Wechselspiele ausmacht«, als »modellhaft für menschliches Erfahren, Erleben und Erkennen überhaupt« angesehen wird.66 Durch einen phänomenologischen Zugang wird es möglich, eine Haltung einzuklammern, welche die Begegnung zwischen Subjekt und Theateraufführung auf einen analytisch-prozessierenden, reflexiven Akt begrenzt. Die in der detaillierten Auseinandersetzung mit der Erfahrung und dem Gegenstand identifizierten Brüche und Irritationen bilden Ausgangspunkte, die ein phänomenologischer Zugang zu erschließen vermag. Die subjektiv erfahrene Ereignishaftigkeit und die materielle Beschaffenheit als Auslöser erfahrener Irritation sind dessen Zentrum und geraten so auch in das Zentrum des Unterrichts. Während die mit der Wahrnehmung der Theateraufführung als Kunstform verbundenen Ziele bereits die Seite der subjektiven Wahrnehmung ausdifferenziert haben, ist dies im Falle der Materialität noch nicht geschehen und aus diesem Grund im Folgenden nachzuholen.
63 BRANDSTÄTTER: »Ästhetische Erfahrung«, S. 179. 64 Ebd., S. 180. 65 Vgl. ebd. 66 Vgl. ebd.
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Die Materialität der Theateraufführung identifizieren Das Ziel, die Materialität der Theateraufführung identifizieren zu lernen, geht aus einer Analyse des wahrgenommenen Aufführungsereignisses hervor, die sich ihrer Bedingungen bewusst ist. Dabei hatte bereits Bönnighausen den Zusammenhang zwischen Ereignishaftigkeit und Materialität hergestellt und diese Pole in den Kontext eines phänomenologischen Zugangs gestellt. Sie forderte, dass Schülern zum Nachvollzug von Literarizität als einem Wesensmerkmal von Literatur im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs der Zusammenhang zwischen der subjektiv erfahrenen Ereignishaftigkeit des Kunstwerks und der materiellen Beschaffenheit als Auslöser der Erfahrungen aufgezeigt werde. Weil die Phänomenologie den Bewusstseinsprozess immer von diesen beiden Polen her beeinflusst sieht, muss es ein Ziel des phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung sein, von der Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung und der Ereignishaftigkeit ausgehend etwas über die Materialität der Aufführung und ihren Einfluss auf die Wahrnehmung und Sinngebung herauszufinden. Dabei ist es die Aufführung, die wahrgenommenen werden kann, während die Inszenierung als der Aufführung zugrunde liegendes Konzept nicht wahrgenommen, sondern lediglich über das Wahrgenommene oder mediale Zeugnisse rekonstruierbar ist. Einerseits kann also vom Drama ausgehend der Zusammenhang zwischen dem Text und seiner szenischen Realisation untersucht werden, andererseits kann von der Theateraufführung ausgehend der Weg zurück zu einem Text führen, welcher der Aufführung als Partitur gedient haben mag. Ausgangspunkt der in dieser Arbeit vertretenen Theaterdidaktik ist nicht dieser Weg vom oder zum Text, sondern die Wahrnehmung dessen, was über die Theateraufführung herausgefunden werden kann. Die Inszenierung oder gar die Verbindung zwischen Aufführung, Inszenierung und Drama zu thematisieren, wäre vor dem Hintergrund des phänomenologischen Zugangs dann möglich, wenn das Wesen der Aufführung und ihrer Eigenschaften mit den Schülern aus der Wahrnehmung heraus abgeleitet und intersubjektiv ausgehandelt worden ist. Weil nun die skizzierten materiellen Aspekte der Theateraufführung in zeitgenössischem Theater in besonderer Weise aufgegriffen und exponiert werden, kann es sinnvoll sein, mit Paule zu fordern, Schüler vor allem mit dem zeitgenössischen Theater zu konfrontieren. In Bezug auf die ihm zugrunde liegende Materialität stellt das zeitgenössische Theater auch einen Ermöglichungsraum mit einem Ereignis- und Erfahrungs-Potenzial bereit, das in besonderer Weise geeignet sein kann, diese Materialität wahrzunehmen. Da es aber in einem phänomenologischen Zugang zur Theateraufführung zunächst darum geht, den Zusammenhang zwischen Wahrnehmung, Ereignis und Materialität in einer sehr grundsätzlichen, dabei aber auf ein konkretes Aufführungsereignis bezogenen
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Weise zu berücksichtigen, ist der Besuch zeitgenössischer Aufführungen nicht zwangsläufig notwendig. Mit der Wahrnehmung der Theateraufführung, dem Umgang mit ihrem EreignisPotenzial und der Identifikation ihrer Materialität sind nun also jene Ziele benannt, die mit einem phänomenologischen Zugang zur Theateraufführung im Kontext der Theaterdidaktik verfolgt werden können. Wie dies auch in methodischer Hinsicht geschehen kann und in welchem Verhältnis die methodische Umsetzung zur phänomenologischen Theorie steht, wird im folgenden Abschnitt erläutert. Er stellt damit Möglichkeiten bereit, die Phänomenologie als Haltung im Unterricht anzubahnen, und erkundet darüber hinaus, inwiefern diese Haltung im Kontext der Theaterdidaktik und des Unterrichts zur Analyse der Aufführung nutzbar gemacht werden kann.
4.3 METHODISCHE ASPEKTE Die in diesem Abschnitt aufgeführten methodischen Aspekte konkretisieren die Ziele, die sich im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs verfolgen lassen. Dabei orientieren sie sich einerseits an der Phänomenologischen Epoché, andererseits werden jedoch nicht alle Reduktionen aufgenommen werden müssen. So lässt sich die Phänomenologische Epoché in vier Schritte unterteilen, die methodisch ausgestaltet werden können: die Feststellung und Fixierung der natürlichen Einstellung, die phänomenologische Reduktion der natürlichen Einstellung durch Einklammerung, die eidetische Reduktion oder Variation und schließlich die transzendentale Reduktion. Keine direkte methodische Entsprechung findet in den Überlegungen dieses Abschnittes die phänomenologische Reduktion, weil eine vollständige Einklammerung aller Vorurteile nicht zuletzt wegen des leiblichen In-der-Welt-seins als problematisch gelten kann. Jegliche Vorannahmen und Vorurteile einzuklammern, wie es Husserl gefordert hatte, ist nicht Ziel des hier skizzierten Modelles, da die Einklammerung der natürlichen Einstellung allmählich und im Rahmen verschiedener Methoden stattfindet und als begleitender Prozess zu denken ist, den Schüler durchlaufen, nicht aber als konkreter methodischer Schritt. Vielmehr ist es das Ziel, im Laufe des Umgangs mit der Fixierung der eigenen Wahrnehmung für jene Bedingungen sensibilisiert zu werden, die zu eben dieser Wahrnehmung geführt haben, um so eine größtmögliche Einklammerung der natürlichen Einstellung zu erreichen. Dazu ist es im didaktischen Kontext nötig, Voraussetzungen für einen phänomenologischen Zugang zu schaffen, welche die Phänomenologische Epoché im philosophischen
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Kontext nicht schaffen muss. Auf Möglichkeiten dieser Voraussetzung wird daher im Folgenden ebenso eingegangen wie auf Möglichkeiten der Wahrnehmung, der Fixierung, des Gesprächs und der Reflexion. Dabei ist die Methodik insgesamt von den Ansprüchen abhängig, welche die Theateraufführung an die Schüler gestellt hat. Weil diese Ansprüche sehr individuell ausfallen können, wird auch im Hinblick auf die möglichen Methoden zu ihrer Bearbeitung im Unterricht ein hohes Maß an Flexibilität vorausgesetzt werden müssen, was aber in den folgenden Ausführungen nur angedeutet werden kann. Aus diesem Grund werden die verschiedenen methodischen Möglichkeiten hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Intentionen ausführlich erörtert, um auch eine von den Vorschlägen abweichende methodische Variation einzuschließen. 4.3.1 Möglichkeiten der Sensibilisierung Einen phänomenologischen Zugang mit Schülern einzuüben, kann bereits vor dem Besuch einer Theateraufführung erfolgen, wenn ernst genommen wird, dass es sich dabei um eine Haltung den Gegenständen der Wahrnehmung gegenüber handelt. Diese Haltung unterscheidet sich infolge einer Einklammerung des Bemühens um Verstehen von anderen Zugängen, mit denen die Schüler im Unterrichtsalltag konfrontiert sind, und bedarf nicht zuletzt daher der Einübung. Dabei lässt sich die Rolle, die der sinnlichen Wahrnehmung in all ihren Dimensionen – der kognitiv-intellektuellen, der affektiv-emotionalen und der körperlichen – zukommt, grundsätzlich im Umgang mit allen Gegenstanden, auch nichtkünstlerischen, berücksichtigen. In einer ersten Phase könnten Schüler dabei im Vorfeld des Aufführungsbesuches überhaupt erst einmal für die Vielfalt der Möglichkeiten sinnlicher Wahrnehmung und den Zusammenhang von Erscheinung und Bedeutung sensibilisiert werden. Denkbar wäre etwa, Schüler in einem Raum ihres alltäglichen Umfeldes für eine begrenzte Zeit den sehr offenen Auftrag zu erteilen, diesen Raum auf sich wirken zu lassen und die verschiedenen Eindrücke so detailliert wie möglich zu beschreiben. Wichtig wäre dabei, dass der Raum, in dem beobachtet wird, möglichst viele verschiedene sinnliche Wahrnehmungsmöglichkeiten eröffnet, zum Beispiel die Schulmensa, der Schulhof während der Pause oder eine belebte Innenstadt. Um die sinnliche Wahrnehmung nicht vorab bereits auf das Sehen zu begrenzen, wäre vom Begriff der Beobachtung Abstand zu nehmen und deutlich zu machen, dass sämtliche Sinneseindrücke aufgegriffen werden sollen, die im betreffenden Raum möglich sind. Die verschiedenen Wahrnehmungen – Bewegungen der Mitschüler oder Passanten, Gerüche und Geräusche – ließen sich im Anschluss an ihre Beschreibung sammeln und vergleichen, um mit den Schülern
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gemeinsam zu überlegen, wie sie den spezifischen Raum konstituieren, in dem beobachtet wurde. Gerade anhand von Beispielen der Wahrnehmung bestimmter Gerüche oder Geräusche und der Erfahrung, andere Dinge nicht wahrgenommen zu haben, könnten gemeinsame und voneinander abweichende Bedeutungen thematisiert werden, die mit der entsprechenden Wahrnehmung verbunden werden können, um damit die Subjektivität der Wahrnehmung im selben Wahrnehmungsraum zu verdeutlichen. Auch die veränderte Haltung dem Raum gegenüber und die Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung mit und ohne einen bestimmten Fokus könnte aufgegriffen werden. Darüber hinaus lassen die Ergebnisse der Beschreibung eines Raumes, in dem sich die Schüler alltäglich bewegen, noch eine weitere Perspektive zu: So wäre es möglich, mit den Schülern die Ergebnisse ihrer Verschriftlichung mit der Wahrnehmung im Moment der Beobachtung zu vergleichen und auf diese Weise zu sammeln, welche Aspekte der Wahrnehmung durch ihre Überführung in sprachliche Form nicht oder nur schwer wiedergegeben werden können. Bereits an dieser Stelle kann man mit ihnen darüber in einen Austausch geraten, ob es mediale Transformationen der Wahrnehmung gibt, welche diese in adäquaterer Weise abbilden oder ob sich sogar Kriterien finden lassen, die eine Beschreibung von Wahrnehmung erfüllen muss, um als adäquate Wiedergabe gelten zu können. Andererseits aber kann hier auch als grundsätzliche Bedingung von Analyse bewusst gemacht werden, dass sich die Beschreibung dem Wahrgenommenen oft nur annähert, häufig aber die Wahrnehmung nicht umfassend beschreiben kann. Roth-Lange trägt darüber hinaus weitere Methoden zur vorbereitenden Einstimmung durch Sensibilisierung zusammen, um den »gravierenden Fehler« zu vermeiden, »durch ausführliche Beschäftigung mit den Besonderheiten der Inszenierung oder gar dem Inhalt des Stücks« dem folgenden Aufführungsbesuch das Überraschende, Neue und Unerwartete zu nehmen. 67 Auch er plädiert für eine Annäherung an die Theateraufführung über »Wahrnehmungsqualitäten statt über Bedeutungen« und für eine Sensibilisierung für sinnliche Qualitäten, möglicherweise bereits schon fokussiert auf die konkret besuchte Theateraufführung.68 In dieser ersten Phase geht es also ausdrücklich erst einmal um die Sensibilisierung für die folgenden Schritte der Auseinandersetzung mit der Theateraufführung im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs. Diese Auseinandersetzung beruht im Wesentlichen auf zwei Säulen: der sinnlichen Wahrnehmung einerseits und deren Fixierung in sprachlicher oder anderer medialer Form ande67 Vgl. ROTH-LANGE: »›Man sieht immer, wie alles gemacht wird‹«, S. 56. 68 Vgl. ebd., S. 57.
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rerseits. Das Ziel der Sensibilisierung ist also in einem ersten Schritt die »Öffnung des Blicks, die daraus resultiert, dass man sich einem komplexen Ereignis ohne Arbeitsauftrag, ohne Ausgangsfrage und ohne vorgegebenen Fokus nähert.«69 Schüler sollen sensibilisiert werden für die Möglichkeiten sinnlicher Wahrnehmung und die Haltung, diese Wahrnehmung als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen ernst zu nehmen. Gefordert ist dabei »eine Art ›freischwebende Aufmerksamkeit‹, eine Unvoreingenommenheit und geduldige Zugewandtheit, die man der Aufführung [bzw. auch anderen geeigneten Gegenständen oder Räumen, P.K.] zubilligt, ganz gleich wie fremd, provokant oder abweisend sie einem entgegentritt«.70 Auch hier ließe sich bereits darüber nachdenken, ein Erinnerungsprotokoll anfertigen zu lassen oder eine andere Methode aus den Möglichkeiten der Fixierung anzuwenden, um die Schüler auch mit diesen für sie neuen Methoden vertraut zu machen. Dabei sind es in dieser ersten Phase der Sensibilisierung vor allen Dingen drei der oben genannten Ziele, die verfolgt bzw. angebahnt werden können: Beobachten lernen, Beschreiben lernen und Analysieren lernen. Insgesamt ist diese Phase der Sensibilisierung jedoch im Vorfeld des phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung zu verorten. 4.3.2 Möglichkeiten der Wahrnehmung von Aufführungen Durch die Vorbereitung methodischer Möglichkeiten der Sensibilisierung ist die Wahrnehmung der Theateraufführung ebenfalls nicht unbedingt durch spezifische Beobachtungsaufträge zu begleiten, weil das Ziel der Wahrnehmung zunächst darin besteht, dass Schüler sich in der Theateraufführung durch deren Ereignis-Potenzial ansprechen lassen können, ohne einen spezifischen Beobachtungsaspekt zu fokussieren. Zwei Möglichkeiten der Wahrnehmung über den einmaligen Besuch einer Aufführung hinaus werden in diesem Abschnitt diskutiert: der mehrmalige Aufführungsbesuch und der Einsatz von Videoaufzeichnungen. Mehrmaliger Aufführungsbesuch Bereits im Kontext der Zielsetzungen des theaterdidaktischen Modells wurde darauf hingewiesen, dass in der Wahrnehmung zugleich auch selektiert wird und diese Selektion wiederum auf die phänomenologische Überzeugung zurückgeführt werden kann, dass es ein Anspruch des Gegenstandes ist, der die Wahrnehmung beeinflusst. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht wiederum wird im Fall 69 WARSTAT: »Didaktische Potenziale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 63. 70 Vgl. ebd.
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der Aufführungsanalyse methodisch versucht, diese Selektion insofern verallgemeinerbar zu machen, als sie sich bei einem erneuten Aufführungsbesuch wiederholen sollte. So stellt für die theaterwissenschaftliche Aufführungsanalyse der mehrmalige Besuch derselben Inszenierung – die Aufführung ist ja selbst unwiederholbar – eine »besonders aussichtsreiche Strategie« im Umgang mit der Unzulänglichkeit der Wahrnehmung dar, gerade auch den Versuch der Rekonstruktion dieser Inszenierung durch den Selektionscharakter zu durchkreuzen. 71 Was hinsichtlich der Möglichkeit zur Rekonstruktion einer Inszenierung unbestreitbar sinnvoll wäre, lässt sich im theaterdidaktischen Kontext jedoch hinterfragen. Diese Skepsis wird über die rein praktische Überlegung hinaus, dass den allermeisten Schulen ein mehrmaliger Theaterbesuch wegen der räumlichen Entfernung zu den Theatern und der logistischen und finanziellen Herausforderungen nahezu unmöglich sein wird, daraus gespeist, dass es gerade die Unverfügbarkeit und Unwiederholbarkeit ist, welche die Theateraufführung kennzeichnen. Schülern einen Umgang mit der Theateraufführung als Kunstform zu ermöglichen, würde bedeuten, gerade auch die Tatsache ernst zu nehmen, dass sie sich kein zweites Mal in derselben Weise wiederholen lässt. Ein weiterer Aufführungsbesuch müsste dann also – insbesondere vor dem Hintergrund der Phänomenologie – eigenständig untersucht werden, denn er würde als Ergebnis bei den Schülern neue Erfahrungen hervorbringen können. Die veränderte Wahrnehmung beruht dann wesentlich darauf, dass viele in der Inszenierung angelegte Elemente bereits bekannt sind und daher ein anderer Anspruch an die Schüler gestellt wird als zuvor. Der Anspruch, der mit einem zweiten Besuch verbunden ist, wird daher die Schüler möglicherweise eher überfordern, als dass sie daraus neue Erkenntnisse über das Wesen einer konkreten Theateraufführung gewinnen. Sinnvoll wäre hingegen ein mehrmaliger Aufführungsbesuch dann, wenn bestimmte Aspekte der Wahrnehmung in Aufführungssituationen noch einmal verifiziert oder falsifiziert werden sollen. In diesem Fall wäre den Schülern transparent zu machen, dass der weitere Aufführungsbesuch mit einem für alle verbindlichen Fokus versehen ist. Auf diese Weise nähern sich die Schüler einer bewussten Wahrnehmung schrittweise an, die sie jedoch auch an anderen Gegenständen des Deutschunterrichts erproben und unter Berücksichtigung der spezifischen Materialität dieser Gegenstände einüben können. Verwendung von Videoaufzeichnungen Um die fehlende Möglichkeit zu mehreren Aufführungsbesuchen ausgleichen zu können, wäre es möglich, Videoaufzeichnungen zu nutzen. Eine Theaterdidaktik jedoch, welche die Wahrnehmung der Theateraufführung in ihren Mittelpunkt 71 Vgl. FISCHER-LICHTE: Theaterwissenschaft, S. 75.
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stellt und diese über einen phänomenologischen Zugang zu erschließen sucht, kann auf die Aufzeichnung als Ersatz für den Aufführungsbesuch nicht zurückgreifen, weil diese es weder ermöglicht, die spezifische Medialität noch die identifizierte Materialität der Aufführung wiederzugeben. So kommt die Aufzeichnung vor dem Hintergrund eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung nur dann in Frage, wenn sie selbst als Perspektive auf die Aufführung oder im Anschluss an die Reflexion der Wahrnehmung als Hilfsmittel zur näheren Beschreibung der Wahrnehmung in einer bestimmten Situation der Aufführung eingebracht wird, die auf diese Weise noch einmal vor Augen geführt werden soll. So kann die Videoaufzeichnung dort Dienste leisten, wo es nötig wird, sich »auf einzelne Details zu konzentrieren wie bestimmte Bewegungen sowie die Art, die Intensität und das Tempo ihres Vollzuges […] vor allem, da ein mehrmaliges Abspielen der Sequenz möglich ist«72. Voraussetzung dafür ist, dass es sich bei der Aufzeichnung um jene der besuchten Aufführung handelt, da ansonsten möglicherweise einiges von dem, was Wahrgenommen wurde, in der Aufzeichnung nicht vorhanden ist – etwa das Verhalten des Publikums oder der irritierende Texthänger eines Schauspielers, der ihn als phänomenalen Leib erscheinen ließ. Einige der in der Inszenierung angelegten Ansprüche der Aufführung können auf diese Weise rekonstruiert und vertieft werden und so zu einem späteren Zeitpunkt der Auseinandersetzung mit der Aufführung erweisen, ob eine bestimmte Wahrnehmung auf ein Detail der Inszenierung zurückgeht oder durch den Gegenstand nicht gestützt wird. Gerade vor dem Hintergrund des dieser Arbeit zugrunde liegenden Aufführungsbegriffes und der Grundsätze der Phänomenologie ist der Einsatz von Aufzeichnungen insgesamt jedoch kritisch zu sehen. So weist auch Fischer-Lichte darauf hin, dass eine Aufzeichnung bei allen Vorteilen, die mit ihrem Einsatz einhergehen, »nutzlos oder gar kontraproduktiv« sein kann, wie sie »kaum je imstande [ist], der räumlichen Erinnerung nachzuhelfen«.73 »Ganz im Gegenteil – wer räumliche Dimensionen und Konstellationen nicht mehr zu erinnern weiß, wird in der Regel durch eine Videoaufzeichnung eher noch stärker verunsichert oder gar in die Irre geführt. Zwar vermag sie beobachtbare Reaktionen der Zuschauer – wie Lachen, angeekelten Gesichtsausdruck, Sich-mit-offenem-Mund-nach-vornNeigen, Die-Füße-im-Rhythmus-der-Musik-Bewegen, Nervös-mit-den-Fingern-Spielen, Aufspringen etc. – durchaus festzuhalten, was allerdings bei Fernsehaufzeichnungen fast nie geschieht. Was der Zuschauer jedoch leiblich erspürt hat, wird er wohl kaum bei der 72 Ebd., S. 76. 73 Vgl. ebd., S. 77.
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Videoaufzeichnung spüren. So ist der Videoaufzeichnung die durch Licht, Laute, Gerüche etc. im Theaterraum entstehende Atmosphäre nicht zugänglich.«74
Je nach Art der Aufzeichnung besteht die Gefahr, dass diese die Erinnerung an die Wahrnehmung der Aufführung durch ihre eigene spezifische Perspektive und den Fokus auf das Geschehen auf der Bühne derart dominiert, dass andere Wahrnehmungen, etwa des Geschehens im Zuschauerraum, verdrängt werden. Dies kann zum Beispiel dann der Fall sein, wenn in der Aufzeichnung Dinge gesehen werden können, die den Zuschauern nicht zugänglich gewesen sind, etwa »wenn sie [die Aufzeichnung, P.K.] bestimmte Dinge ausblendet, die sich im Hintergrund abspielen, auf die der Zuschauer jedoch aus für ihn sehr guten Gründen seine Wahrnehmung fokussiert hat, oder wenn sie […] bei Dialogen Großaufnahmen der Gesichter bringt, die diese im Schuss-/GegenschussVerfahren zeigen, so dass sowohl die körperliche Haltung der Akteure als auch der räumliche Abstand zwischen ihnen, die für die Zuschauer bedeutungsvoll waren, nicht mehr wahrzunehmen sind«75. Dieses Problem wird insbesondere dort relevant, wo filmische Verfahren zum Einsatz kommen, »die bestimmte Vorgänge für den Zuschauer der Aufzeichnung bzw. des Films pointieren sollen, wie zum Beispiel slow motion«.76 Zudem zeigen die Theatervideos vielfach das Publikum nicht oder nur für kurze Augenblicke.77 Es kann »gerade die Relation, die Interaktion, das Verhältnis, das Zwischen, das für die Aufführung als einer Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern konstitutiv ist«, aus dem Videomaterial nicht erschlossen werden. 78 »Das aus der Filmanalyse vertraute Vorgehen«, so fasst Warstat zusammen, »in aller Ruhe vor dem Bildschirm Szene für Szene zu analysieren, lässt sich auf die Aufführungsanalyse deshalb nicht übertragen«.79 Unter Berücksichtigung der spezifischen Medialität und Materialität mit dem Ereignis-Potenzial der Theateraufführung umzugehen, bedeutet auch, mit ihrer Flüchtigkeit umgehen zu lernen. Es wäre also im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs darauf zu achten, dass nach wie vor die Wahrnehmung der Schüler während der Aufführung thematisiert wird und nicht das Hilfsmittel, das diese Wahrnehmung in Erinnerung rufen
74 Ebd. 75 Ebd., S. 78. 76 Vgl. ebd. Hervorhebung im Original. 77 Vgl. WARSTAT: »Didaktische Potenziale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 57. 78 Vgl. ebd. 79 Vgl. ebd.
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soll.80 Wo es hingegen um theaterhistoriografische Aspekte geht oder die Inszenierung in den Mittelpunkt tritt, kann es sinnvoll sein, auf Aufzeichnungen zurückzugreifen, wenn auch stets auf das Defizit der Auseinandersetzung im Vergleich zur Wahrnehmung in der Theateraufführung hingewiesen werden sollte.81 Insbesondere der Umgang mit Videoaufzeichnungen hängt dabei mit dem grundsätzlichen Problem zusammen, die Wahrnehmung des flüchtigen Aufführungsereignisses fixieren zu müssen, damit sie in den intersubjektiven Austausch eingebracht werden kann. Im Folgenden sollen daher methodische Möglichkeiten der Fixierung genannt werden, die vor dem Hintergrund der Phänomenologie einerseits und der theaterdidaktischen Perspektive andererseits hilfreich erscheinen. 4.3.3 Möglichkeiten der Fixierung Die Fixierung des in der Aufführung Wahrgenommenen hat zum Ziel, die der Transitorik unterworfenen markanten Momente in irgendeiner Form für die weitere Analyse verfügbar zu machen. Dabei müssen sowohl die Fixierung als auch die Analyse unter der Bedingung der spezifischen Medialität und Materialität der Theateraufführung »eigentlich in der Aufführung selbst analysiert werden, in einer Art ›teilnehmender Beobachtung‹, im Hier und Jetzt des Aufeinandertreffens von Akteuren und Zuschauern«82. Damit scheint aber ein methodologisches Grundproblem der Aufführungsanalyse auf: »[I]n der Aufführung selbst kann man keinen schriftlichen Text produzieren, schon gar keinen analytischen. Der analytische, distanzierte Blick ist mit vielen Modellen von ästhetischer Erfahrung gar nicht vereinbar. Setzt man sich mit einem Schreibblock und der festen Absicht des fleißigen Analysierens in die Aufführung, dann läuft man Gefahr, die Theatererfahrung selbst komplett zu verpassen. Von daher sollte man bei Aufführungsbesuchen Zettel und Stift unbedingt zuhause […] lassen. Dann aber wird die Aufführungsanalyse zu einer nachträglichen Auseinandersetzung mit Erinnerungen und zu einem ständigen Hadern mit dem eigenen Erinnerungsvermögen. Aufführungsanalysen werden aus der Nachträglichkeit heraus angefertigt.«83 80 Vgl. FISCHER-LICHTE: Theaterwissenschaft, S. 79. 81 Hier sind die Vorschläge Paules zum Inszenierungsvergleich oder Erlernen des Lesens theatraler Zeichensetzungen anhand des Bühnenbildes zu verorten: vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 272ff. 82 WARSTAT: »Didaktische Potenziale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 57. 83 Ebd.
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Da die Problematik, die mit der Versprachlichung der Wahrnehmung grundsätzlich einhergeht, bereits erörtert wurde, ist im Kontext der Fixierung auch nach methodischen Möglichkeiten über die Versprachlichung hinaus zu suchen. Zunächst aber wird als methodische Möglichkeit der Versprachlichung das Erinnerungsprotokoll vorgestellt, das sowohl im theaterwissenschaftlichen als auch im theaterdidaktischen Kontext rezipiert wird. Versprachlichung der Wahrnehmung: das Erinnerungsprotokoll Das Erinnerungsprotokoll wird vor allem in der Theaterwissenschaft als methodischer Weg vorgeschlagen, die flüchtige Wahrnehmung während der Aufführung für die weitere Auseinandersetzung verfügbar zu machen.84 Es hat sich darin als »Ausgangs-, Dreh- und Angelpunkt jeder Aufführungsanalyse« durchgesetzt, weil es sich einer »methodologischen Zwickmühle« zu entziehen ermöglicht, die darin besteht, dass der Rückgriff auf Videoaufzeichnungen zum Zweck der Analyse den eigenen Aufführungsbesuch nicht zu ersetzen vermag.85 Nach Warstat lässt sich das Erinnerungsprotokoll in methodischer Hinsicht folgendermaßen beschreiben und in den schulischen Kontext übertragen:86 Die Erstellung eines Erinnerungsprotokolls stellt ein Verfahren dar, bei dem die Schüler im Anschluss an die Theateraufführung in einer nicht festgelegten Form aufschreiben, was ihnen in Erinnerung geblieben ist. Dabei wird keine Themenstellung festgelegt und kein konkreter Fokus vorgegeben, damit die Auseinandersetzung mit der Aufführung später von den im Erinnerungsprotokoll fixierten Aufführungserfahrungen her motiviert ist. Warstat macht in diesem Zusammenhang einen wesentlichen Grund dafür, dass »vielen potenziellen Theatergängern ihr Verhältnis zum Theater frühzeitig« getrübt wird, darin aus, dass »Kinder und Jugendliche, Schüler/innen oder auch Studierende mit hehren Interpretationsabsichten, Bildungsansprüchen und Ehrfurchtsappellen ins Theater geschickt werden«.87 Dagegen setzt er auf die korrigierende Wirkung der Erinnerung, die das persönlich Bedeutsame von den unwichtigen Momenten der Aufführung trennt, und auf die nachhaltige Wirkung der Wahrnehmung eines Widerfahrnisses in der Aufführung. Damit geht einher, dass in einem Erinnerungsprotokoll auch nur das 84 Vgl. theaterwissenschaftlich auch: FISCHER-LICHTE: Theaterwissenschaft, S. 75f.; WARSTAT: »Didaktische Potenziale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«. Eine Einbettung in die Theaterdidaktik betreibt auch PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 269ff. 85 Vgl. WARSTAT: »Didaktische Potenziale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 56f. 86 Zum Folgenden vgl. ebd., S. 58ff. 87 Vgl. ebd., S. 58.
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notiert wird, was persönlich bedeutsam geworden ist, von dem also ein bestimmter Anspruch an den Wahrnehmenden ausgegangen ist. Um diese Fixierung im Unterricht weiter nutzen und aufgreifen zu können, muss das Wahrgenommene so präzise und umfassend wie möglich beschrieben werden. Die dazu nötige Sprache ist eine »sorgfältige und wahrheitsliebende Beschreibungssprache« in dem Sinne, »dass man sich über seine ureigenen Interessen als Aufführungsteilnehmer Rechenschaft ablegt«.88 »Wenn man den ganzen Abend gedanklich vorwiegend mit der Halbglatze des Hauptdarstellers beschäftigt war, dann ist es wichtig, diese körperliche Eigenheit auch angemessen ausführlich im Erinnerungsprotokoll zu thematisieren. Wenn man außer einer markanten Raumgestaltung fast nichts von einer Aufführung präzise erinnern kann, dann könnte das ein Anlass sein, eine differenzierte Beschreibung des Bühnenbildes anzufertigen. Wenn man der Ausstrahlung der Hauptdarstellerin erlegen ist, dann bietet es sich an, die Spielweise dieser Schauspielerin und deren komplexe Wandlungen für den gesamten Verlauf des Abends nachzuverfolgen. Denn anhand einer solchen genauen Beschreibung (die übrigens zum Schwierigsten zählt, was man in der Aufführungsanalyse versuchen kann) lässt sich mehr darüber herausfinden, worin die eigene Faszination für die Darstellerin begründet ist.«89
Das Verfassen eines Erinnerungsprotokolls hat nicht zum Ziel, »eine Geschichte nachzuerzählen, Regieeinfälle zu destillieren oder die Dramaturgie darzustellen«, sondern »die Thematisierung der augenblickshaften Erinnerung«.90 Dabei sind diese Erinnerungen ein Fundament für die Schüler, von dem aus sie die ihnen bedeutsam gewordenen markanten Momente in den Unterricht einbringen können. Fixiert werden soll die Dramaturgie der eigenen Erfahrung mit ihren Brüchen und Peripetien. Ob der Anspruch dabei im Bereich des inhaltlichen Nachvollzuges liegt oder im Bereich der Medialität und Materialität, entscheidet der Schüler. Sinn und Zweck der genauen Beschreibung in einer möglicherweise auch naiven Sprache wäre jedoch, die Verbindung zwischen der Wahrnehmung und dem Gegenstand aufzuzeigen, die für den weiteren Unterricht die Gelegenheit bietet, Verbindungen hinzuzufügen, die von den Schülern selbst nicht wahrgenommen wurden. Einige Aspekte sind dazu zu berücksichtigen: Es ist darauf zu achten, dass die Protokolle nicht allzu sehr und einseitig auf das eigene Gefühl und Befinden in der erinnerten Situation fokussieren. Zwar ist jede protokollierte Erinnerung 88 Vgl. ebd. 89 Ebd., S. 58f. 90 Vgl. ROSELT: »Kreatives Zuschauen«, S. 49.
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notwendig zunächst auch eine subjektive und muss als solche aufgenommen werden, das Ziel des phänomenologischen Zugangs im theaterdidaktischen Kontext ist aber, die eigene Wahrnehmung zur Analyse des Gegenstandes nutzen zu können, und dies verlangt, dass ein gegenstandsbezogener Text entsteht. Warstat weist aus diesem Grund mehrfach darauf hin, dass »Erinnerungsprotokolle keine Theaterrezensionen sind« und daher ein »Geschmacksurteil im Grunde das Letzte ist, was von einem Erinnerungsprotokoll zu erwarten wäre«.91 Mit der Enthaltung eines Geschmacksurteiles, das ja selbst von zahlreichen Vorerfahrungen, Vorwissen und Prägungen beeinflusst ist, kann der Schritt in Richtung eines Austausches im Gespräch unterstützt werden, weil der Wahrnehmungsprozess nicht durch ein Geschmacksurteil beendet, sondern durch eine Beschreibung der Wahrnehmung so lange offen gehalten wird wie möglich. Aus diesem Grund ist die Protokollierung dann auch nicht als reine Sammlung von Eindrücken und Schlaglichtern auf das Wahrgenommene anzulegen, sondern als Reflexion der eigenen Wahrnehmung. Erst unter diesen Bedingungen können sogar wertende Feststellungen in den Protokollen einen Zugang zur Analyse der Aufführung und insbesondere ihrer materiellen Aspekte bilden: »Während sich Langeweile zum Beispiel zunächst einmal leicht feststellen lässt, kann man lange und ergiebig darüber nachdenken, ab wann genau sich das Gefühl der Langeweile in der konkreten Aufführung eigentlich eingestellt hat oder welcher konkrete Mangel dieser Langeweile zugrunde lag. Überhaupt ist Langeweile ein hervorragender Anlass, die Zeitstruktur einer Aufführung sorgfältig herauszuarbeiten, denn der Begriff der Langeweile verweist auf eine Dauer, ein Kontinuum, eine im Einzelfall nicht leicht zu bestimmende zeitliche Form. Ähnlich kompliziert wird es, wenn man anfängt, die eigenen Ekelgefühle unter die Lupe zu nehmen. Ekel hat ja nur zu einem gewissen Teil mit dem Wahrgenommenen, zu einem mindestens eben so [sic!] großen Teil aber mit eigenen Körpererfahrungen, Verletzungen und Idiosynkrasien zu tun. Manch einer wird, bevor er sich diesem vertrackten Feld zuwendet, in seinem Erinnerungsprotokoll lieber doch Räume und Lichtverhältnisse beschreiben.«92
Der Nutzen des Erinnerungsprotokolls im schulischen Kontext lässt sich durch die Beobachtung untermauern, dass die Protokolle »oft erstaunliche Übereinstimmungen« aufweisen, die allein schon den Schülern zeigen können, »dass Aufführungserfahrungen eben doch nicht ›rein subjektiv‹ sind, dass sich die Art ihrer Wahrnehmung doch nicht allein an den Dispositiven des Betrachters ent91 Vgl. WARSTAT: »Didaktische Potenziale und Erfordernisse der Aufführungsanalyse«, S. 59f. 92 Ebd., S. 60. Hervorhebung im Original.
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scheidet«.93 Damit kann bereits dieser Vergleich die von der Phänomenologie geteilte Erkenntnis herbeiführen, dass subjektive Wahrnehmung eines Gegenstandes wie der Theateraufführung von einem intersubjektiv vermittelbaren Anspruch ausgeht, der zwar selbst noch keine endgültige Sicherheit über das Wesen der Aufführung herbeiführen, der aber »Ausgangspunkt für Reflexionen und Analysen« sein kann.94 Die Fixierung der eigenen Wahrnehmung mithilfe der Methode des Erinnerungsprotokolls erfüllt ihre Bestimmung also nicht schon im entstehenden Produkt, sondern im weiteren Umgang mit dem Fixierten, in dem es reflektiert und perspektiviert wird. Das Grundproblem, das mit der Erstellung der Erinnerungsprotokolle einhergeht und auf das auch schon im Zuge der Überlegungen zu den Möglichkeiten der Sensibilisierung hingewiesen wurde, ist jenes der Transformation von Wahrnehmung und Erfahrung in die Form eines sprachlich gebundenen Textes. Die Transformation steht in der Gefahr, der Wahrnehmung ihre Ereignishaftigkeit zu nehmen, indem diese »notwendig verformt und sogar verstellt wird«, obwohl diese Texte gleichfalls eine der wenigen Möglichkeiten darstellen, sich auch im Nachhinein noch mit der Wahrnehmung des Ereignishaften und des Widerfahrnisses beschäftigen zu können.95 Warstat hält es daher für den wesentlichen Sinn des Einsatzes von Erinnerungsprotokollen, »das konflikthafte Verhältnis zwischen Text und Ereignis für die Schülerinnen und Schüler erfahrbar zu machen«96. Im Gesamt eines phänomenologischen Zugangs zur Theateraufführung wäre es also möglich, an dieser Stelle in der Phase der Fixierung mit den Schülern über die Bedingungen der Analyse ins Gespräch zu kommen und zugleich über das Verhältnis von Erscheinung und Darstellung zu sprechen, weil auch die sprachliche Darstellung beeinflusst, was als Erscheinung kommuniziert werden kann. Um das Erinnerungsprotokoll im Sinne der benannten theaterdidaktischen Ziele anzuwenden, bedarf es einiger Übung und gerade zu Beginn möglicherweise auch einer eingreifenden Korrektur durch die Lehrkraft. Diese Korrektur entspricht jedoch nicht der Passung zwischen den fixierten Erfahrungen und dem Aufführungsereignis im Sinne einer Ausrichtung des Fixierten an dem, was die Lehrkraft selbst oder andere Schüler wahrgenommen haben, sondern vielmehr einer Korrektur in methodischer Hinsicht: Ob eine Wahrnehmung so präzise und so ausführlich wie möglich beschrieben wurde, ob sowohl die Subjekt- als auch die Gegenstandsseite bei der Beschreibung berücksichtigt wurden oder ob nicht 93 Vgl. ebd., S. 61. 94 Vgl. ebd. 95 Vgl. ebd., S. 63. 96 Ebd.
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vielmehr nur oberflächlich lediglich der Verlauf der Aufführung rekonstruiert wurde, wären solche methodischen Fragen, deren Reflexion die Lehrkraft anstoßen kann. Darüber hinaus werden insbesondere jüngere Schüler, die mit der Methode noch nicht vertraut sind, bei der Suche nach einer eigenen und geeigneten Sprache für die Fixierung ihrer Wahrnehmung unterstützt werden müssen, weil sie sich von jener Sprache unterscheidet und unterscheiden muss, die von den Schülern zur formalen oder inhaltlichen Analyse im Unterricht normalerweise verlangt wird. Dies wird von den Lehrkräften die Bereitschaft verlangen, sich auch auf individuelle Produkte einzulassen, damit ein Erinnerungsprotokoll auch der individuellen Wahrnehmung der Schüler Raum geben kann. Bevor auf den Aspekt näher eingegangen wird, wie die Ergebnisse der Phase der Fixierung im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs weiter genutzt werden können, sind zunächst die Möglichkeiten der Fixierung zu erweitern, um auch solche Wahrnehmung fixieren und nutzbar machen zu können, die sich in sprachlicher Form nicht adäquat fixieren lässt. Fixierung jenseits der Versprachlichung Zwei Gründe sprechen dafür, das Methodenrepertoire auf Möglichkeiten der Fixierung über die Verschriftlichung hinaus auszuweiten: Ein erster Grund ist in den bereits erläuterten Nachteilen der sprachlichen Fixierung im Hinblick auf das Aufführungsereignis und dessen medialer und materieller Spezifika zu sehen. Schüler müssten mit sprachlichen Begriffen möglicherweise eine Erfahrung fixieren, deren Irritation sich der sprachlichen Beschreibung geradezu entzieht. Der Kern eines Widerfahrnisses, den eigenen Sprach- und Denkhorizont zu überschreiten und damit neu zu orientieren, ist sprachlich oft nicht aussagbar. Damit geht aber ein zweiter Grund einher, der von der Responsivitätstheorie herrührt. So wurde gesagt, dass das Pathos als es selbst nicht beschreibbar ist, sondern nur über die Antwort erschlossen werden kann, die erst den Anspruch identifiziert, auf den geantwortet wird. Angemessen ist eine Antwort auf das Wahrgenommene aber vielleicht gerade dann, wenn sie sich an das Pathos annähert und sich von dem Zwang löst, es begrifflich zu fixieren. Da es bei der Fixierung noch nicht um die Reflexion der Wahrnehmung geht, kann grundsätzlich jede mediale Transformation dazu geeignet sein, die Grundlage für eine weitere Auseinandersetzung zu bilden. Voraussetzung dafür ist allein, dass die gewählte Transformation aus Sicht des Wahrnehmenden jene ist, welche die eigene Wahrnehmung am genauesten beschreibt. Unabhängig davon, welche konkrete mediale Transformation gewählt wird, ist diese derselben Bedingung unterworfen wie das Erinnerungsprotokoll. Erst das Gespräch als Möglichkeit intersubjektiven Austauschs wird die
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Transformation auf Aussagen über den Gegenstand hin zuspitzen und somit einen eigenen Reflexionsprozess anstoßen. Andere Formen medialer Transformation – ein gemaltes Bild, eine Fotocollage, eine eigene gespielte Szene, ein Video oder eine Klanginstallation – erweitern damit nicht nur die Möglichkeiten der Fixierung, sondern zugleich auch die Einsatzmöglichkeiten des phänomenologischen Zugangs. Bereits Grundschulkindern ist es möglich, die für sie markanten Momente in Form von Bildern festzuhalten, wenn die sprachlichen Fähigkeiten noch nicht für ein Erinnerungsprotokoll ausreichen. Anregungen zur Fixierung über das Erinnerungsprotokoll hinaus sollten also von der Lehrkraft bereitgestellt und angeleitet werden, um alle Schüler mit ihrer individuellen Wahrnehmung und den Ideen der Fixierung in den Unterricht einbeziehen zu können. So weist etwa Roth-Lange nach, inwiefern eine zeichnerische Fixierung das anschließende Gespräch über Theateraufführungen zu strukturieren helfen kann.97 Freie Gestaltungsverfahren im Unterricht zur Fixierung der Wahrnehmung einzusetzen, erfüllt die Funktion einer Fundierung und einer Gedankenstütze für die weitere Auseinandersetzung. Denn auch Roth-Lange weist mit der aktuellen Kinderzeichnungsforschung darauf hin, dass erst die sprachliche Beschreibung der Produkte das subjektive Sinnverständnis der Schüler und deren Wahrnehmung zu erschließen hilft.98 Am Ende liegt ein Produkt vor, das diese Beschreibung ermöglicht. Die Beschreibung selbst aber findet im intersubjektiven Austausch statt, für den sich als methodische Möglichkeit im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs ein Gespräch eignet, das im folgenden Abschnitt hinsichtlich seiner Bedingungen und Anforderungen beschrieben wird. 4.3.4 Möglichkeit des Gesprächs Die Fixierung des Wahrgenommenen hat den Zweck, die Schüler das beschreiben zu lassen, was ihnen subjektiv bedeutsam geworden ist. Es ist nun aber darüber hinaus zu leisten, die Ergebnisse der medialen Transformationen ihrer Wahrnehmung zu reflektieren und für die Auseinandersetzung mit der Theateraufführung nutzbar zu machen. Damit die Individualität der Wahrnehmung während der Theateraufführung allen Schülern bewusst wird, bietet es sich an, hierzu die Methode des Gesprächs zu wählen, das in der Gruppe stattfindet und den Schülern die Möglichkeit zur Äußerung bietet. Zugleich soll es diese Methode aber auch dem Lehrer erlauben, das Gesagte durch Impulse zusammenzuführen
97 Vgl. ROTH-LANGE: »›Man sieht immer, wie alles gemacht wird‹«, S. 58ff. 98 Vgl. ebd., S. 60.
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oder zur Systematisierung anzuregen, ohne dass er dabei das Gespräch auf ein Ziel hin lenkt, das sich nicht aus dem Gespräch selbst ergibt. Das Gespräch erfüllt als Methode den Zweck, die subjektive Wahrnehmung als Zugang zum Wesen des Wahrgenommenen ernst zu nehmen und sie im Sinne der eidetischen Variation mit anderen Perspektiven zu verbinden. Dazu unterliegt es bestimmten Bedingungen, die sich auch in einer Konzeption des Literarischen Unterrichtsgespräches finden, das im Umfeld der Pädagogischen Hochschule Heidelberg entwickelt und erforscht worden ist.99 Dieses Modell basiert literaturtheoretisch auf einer Verbindung von hermeneutischen und dekonstruktivistischen Grundzügen und will einen dynamischen und gesprächsförmigen Verstehensprozess ermöglichen. Es ist allerdings anders auszurichten, da es im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs nicht um einen Verstehensprozess in Bezug auf den Gegenstand geht, der bewusst gemacht werden soll, sondern um den Austausch der verschiedenen Perspektiven und damit um das Bewusstwerden der Perspektivität der Wahrnehmung. Indem die eigene Wahrnehmung im Gespräch als eine mögliche Perspektive unter anderen bewusst wird, kann die Reflexion im Anschluss das Gemeinsame und das Unterschiedliche der verschiedenen Wahrnehmungen und Perspektiven herausarbeiten.100 Das grundlegende Ziel bleibt es, die Fixierungen der Schüler in einen Austausch zu bringen, in dem ihre Perspektivität verdeutlicht und zugleich das in der natürlichen Einstellung Wahrgenommene der eidetischen Reduktion unterzogen wird, um daraus Beiträge zur Definition des Wesens der Theateraufführung zu gewinnen. Grundbedingung: Partizipierende Leitung Das im Sinne der eidetischen Variation zu führende Gespräch muss es den Schülern vor dem Hintergrund der Phänomenologie ermöglichen, ihre Perspektive als eine gleichberechtigte in das Gespräch einbringen zu können. Dieses Ziel unterliegt jedoch im Kontext der Schule besonderen Ermöglichungsbedingungen, da hier innerhalb der Gruppe, die das Gespräch führt, ein mehr oder weniger verfestigtes hierarchisches Verhältnis besteht. Sowohl im Schul- als auch im Hochschulkontext kann dabei die Erfahrung gemacht werden, dass das gemeinsame Gespräch gerade dann abbricht und auf Impulse des Leiters gewartet wird, wenn Unklarheiten etwa hinsichtlich der Deutungsoptionen bestehen oder sich Deutungsansätze widersprechen. Schüler sowie Studierende geben in diesen Fällen 99
Vgl. zum Heidelberger Modell des Literarischen Unterrichtsgesprächs STEINBRENNER/MAYER/RANK/HEIZMANN
(Hrsg.): »Seit ein Gespräch wir sind und hören von-
einander«; HÄRLE/STEINBRENNER: Kein endgültiges Wort. 100 Vgl. STEINBRENNER/WIPRÄCHTIGER-GEPPERT: »Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch«.
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häufig die Teilnahme am gemeinsamen Gespräch auf und erwarten eine Bestätigung, Klar- oder Richtigstellung vom Leiter. Wird dieses Hierarchieverhältnis im Gespräch übernommen, das im Kontext des phänomenologischen Zugangs geführt wird, erscheint weder die von den Schülern eingebrachte Wahrnehmung als möglicher Zugang zur Erkenntnis des Gegenstandes noch bildet das Gespräch einen Austausch von gleichberechtigten Perspektiven auf den Gegenstand ab. Wenn aber das Gespräch diesem Ziel dienen soll, dann sind bestimmte grundlegende Ermöglichungsbedingungen zu schaffen, die im Rahmen des Literarischen Unterrichtsgespräches unter den Begriff der Partizipierenden Leitung subsummiert werden. Mit diesem aus der Themenzentrierten Interaktion entnommenen Konzept übernimmt Gerhard Härle für das Literarische Unterrichtsgespräch ein Leitungsmodell, das es »gleichermaßen an der Sache, dem Individuum und dem Gruppenganzen« ausrichtet und darüber hinaus »die fragile Balance von intentional symmetrischen Gesprächen im Rahmen asymmetrischer Bedingungen« wie in denen der Schule aufgreift.101 Für die Leitung des Gespräches sind alle Gruppenmitglieder gleichermaßen verantwortlich, weil mit dem Konzept der partizipierenden Leitung die generative Entfaltung der »Selbstleitung« verbunden ist, zugleich aber »die Unverzichtbarkeit einer definierten und transparenten Leitung betont« wird, »die auch dann, wenn sie von Lernenden übernommen wird, prinzipiell vom Lehrer […] zu verantworten ist«.102 Lernen findet vor diesem Hintergrund in einem Gruppenprozess statt, der eine Balance zwischen unterschiedlichen Faktoren herstellt: »(1) Zwischen den Bedingungen und Bedürfnissen des Einzelnen, wobei jedes Mitglied der Gruppe zu diesen Einzelnen zählt, auch der Leiter bzw. die Leiterin; (2) den Prozessen der Gruppe insgesamt, die auf der Grundlage gruppensoziologischer und –psychologischer Erkenntnisse als Akteur mit einer eigenen Dynamik verstanden wird und zu der ebenfalls die Leiterin/der Leiter als Teil dazugehört; (3) den Erfordernissen der Sache, um derentwillen die Gruppe beisammen ist und an der sie gemeinsam arbeitet und schließlich (4) dem Faktor der Umgebungsbedingungen, der Institution, der Gesellschaft […]. Begünstigt werden kann der dynamische Gesprächsprozess zum einen durch die Setzung von Themen, die der Zusammenarbeit eine Zentrierung geben, zum anderen durch die Leitung, die zu einer TZI-Gruppe immer gehört, und drittens durch eine spezifische Kommunikationskultur, die auch außerhalb der expliziten TZI-Vermittlung breite Anerkennung gefunden hat.«103
101 Vgl. HÄRLE: »Lenken – Steuern – Leiten«, S. 114. 102 Vgl. ebd., S. 114f. Hervorhebung im Original. 103 Ebd., S. 115.
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Von partizipierenden Leitern ist dabei eine Rollenflexibilität verlangt, die sie Teil der gemeinsamen Suchbewegung innerhalb der Gruppe werden lässt und mit der eine »Einstellung zur Lerngruppe und zur Lernsituation« verbunden ist, »in der das ›Gegenüber-Sein‹ in ein ›Miteinander-Sein‹ aufgehoben wird«.104 »Die Bildung des Sitzkreises bedeutet einen sichtbaren, transparenten und spürbaren Wechsel des kommunikativen Rahmens, und es ist wichtig, für seine Installation einige Sorgfalt aufzuwenden. Sein wesentlicher Zweck besteht darin, allen Beteiligten die freie Blickbegegnung miteinander zu ermöglichen, um so auch nonverbale Kommunikationssignale wahrnehmen zu können. Damit wird dem Entstehen einer gewissen Nähe […] eine Chance eingeräumt, allerdings nur, wenn dies auch tatsächlich eine generative Möglichkeit für die konkrete Lerngruppe darstellt, die ihr angemessen ist – aber das ›NichtAngemessen‹ zunächst als ›Noch-Nicht-Angemessen‹ zu betrachten, verändert bereits den Blickwinkel und entwirft statt einer Bedingung ein Ziel, auf das hinzuwirken sich lohnt.«105
Darüber hinaus weisen Steinbrenner und Wiprächtiger-Geppert darauf hin, dass Leiter ein ernsthaftes Interesse an den Wahrnehmungen der Schüler haben und auch bereit dazu sein müssen, ihre eigenen Eindrücke einzubringen. Nur wenn sie den Beiträgen der Schüler auch zutrauen, dass sie etwas zum Erkenntnisprozess beitragen, können sie sich auch um jene Atmosphäre bemühen, in der das eingebracht werden kann, was auffällig geworden ist.106 Der Leiter aber bringt sich mit seinen authentischen Beiträgen ebenfalls mit ein und moderiert damit nicht nur das Gespräch zwischen den Schülern, sondern auch zwischen der Gruppe insgesamt und dem Gegenstand, der wahrgenommen wurde.107 Dabei muss er aufmerksam auf das reagieren, was die Schüler wahrgenommen haben, um den Gesprächsverlauf durch Gesprächsimpulse gestalten zu können. 108 Welche Elemente ihm dabei zur Verfügung stehen, zeigt der folgende Abschnitt. Gesprächsverlauf Wie bereits deutlich geworden ist, stellt der phänomenologische Zugang bestimmte Bedingungen und Anforderungen an ein Gespräch, das der eidetischen Reduktion dienen soll. Neben der Grundbedingung der Partizipierenden Leitung 104 Vgl. ebd., S. 116. 105 Ebd. 106 Vgl. STEINBRENNER/WIPRÄCHTIGER-GEPPERT: »Verstehen und Nicht-Verstehen im Gespräch«, S. 6f. 107 Vgl. ebd., S. 7. 108 Vgl. ebd.
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aber richten sich weitere Anforderungen an die Gestaltung des Gesprächsverlaufes und vor allen Dingen an die Impulse, die vom Leiter gegeben werden. Aus dem Literarischen Unterrichtsgespräch, das in sechs Phasen gegliedert ist, lassen sich dazu Anregungen gewinnen, die auch in das an dieser Stelle zu skizzierende Gespräch übernommen werden können. So soll die Einstiegsphase des Gespräches dazu dienen, den Schülern bewusst zu machen, warum gerade diese Methode gewählt wurde. Vor dem Hintergrund der Phänomenologie ist es wichtig, dass ihnen die Grundbedingung des Gespräches und das Ziel des gemeinsamen Austausches über die Wahrnehmung in der Theateraufführung sowie die damit einhergehenden Gesprächsregeln transparent gemacht werden und bewusst sind.109 Ein erster Impuls, der an die Bekanntmachung der Regeln und Ziele in der Einstiegsphase anknüpft, dient der Eröffnung einer ersten Gesprächsrunde. Er muss so gestaltet sein, dass er sowohl den Schülern als auch dem Leiter einen ersten Beitrag ermöglicht und dabei eine Verbindung zwischen ihnen und dem Gegenstand herstellt. Steinbrenner und Wiprächtiger-Geppert schlagen vor, »die Ihr-Struktur von Fragen und Impulsen zugunsten des ›Wir‹ oder ›Ich‹ zu verändern« und damit sowohl allen Beteiligten zu signalisieren, »dass es um ein gemeinsames Anliegen geht«, als auch zugleich dem Leiter zu ermöglichen, »sich authentisch zu beteiligen«.110 Im Rahmen eines phänomenologischen Zugangs im Kontext der Theaterdidaktik könnte als erster offener Impuls die Frage stehen: Was in der Aufführung hat mich besonders angesprochen oder irritiert? Dieser Impuls bietet zwei Anknüpfungspunkte: einerseits bei der Wahrnehmung einer Irritation und andererseits bei einer Erfahrung des besonderen Angesprochenseins durch die Theateraufführung. Dabei rekurriert bereits dieser kurze Impuls auf die Aufführung als Ereignis, das den Beteiligten widerfährt und zum Beispiel zu einer Umorientierung der Wahrnehmung geführt haben kann. Wenn die Schüler ihre Wahrnehmung vorher bereits fixiert haben, wird es ihnen leichter fallen, auf den ersten Impuls durch die Formulierung einer persönlichen Bezugnahme auf die Aufführung zu antworten. Der Leiter beschließt diese Runde des ersten Impulses mit einer eigenen Antwort und zeigt damit das Ende der Runde und den Beginn einer neuen Phase des Gesprächs an.111 Schon in dieser ersten Runde treten die Schüler in den intersubjektiven Austausch. Zwar ist nicht vorgesehen, dass sie bereits an dieser Stelle auf die Beiträge der Anderen eingehen, dennoch treten aber hier bereits Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Wahrnehmung zu Tage. Es können sich je nach Konstellation und Beiträgen ver109 Vgl. ebd., S. 8. 110 Vgl. ebd. 111 Vgl. ebd.
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schiedene Erkenntnisse einstellen, auf die der Leiter später zurückgreifen kann. Wenn sich einige Beiträge der Schüler gleichen, wäre es zum Beispiel möglich, darauf einzugehen, worin angesichts einer subjektiven Wahrnehmung der Grund dafür liegt. Exemplarisch könnte dann vorgeführt werden, dass die Wahrnehmung auf ein bestimmtes Element der Aufführung zurückgeführt werden kann, das von allen in gleicher Weise wahrgenommen wurde. Ähneln sich Beiträge, gehen aber nicht auf dasselbe Element zurück, wäre es ebenfalls möglich, die Bedeutung des Subjektes und seiner individuellen Wahrnehmung aufzugreifen. Zugleich können hier vom Leiter des Gespräches bereits jene Elemente identifiziert und innerlich systematisiert werden, die in der Phase der Reflexion im Anschluss an das Gespräch aufgegriffen werden. Nach der ersten Runde wird im Literarischen Unterrichtsgespräch die Möglichkeit des offenen Gespräches gegeben, »an dem sich jeder beteiligen darf und das Raum lässt für Deutungen und Ideen der Schülerinnen und Schüler, aber auch für ihre Irritationen und ihr Nicht-Verstehen«, sodass hier das Ziel eines möglichst freien Dialogs unter Bezugnahme auf den Gegenstand und auf die eigenen Erfahrungen mit ihm vorherrscht.112 Nach Steinbrenner und WiprächtigerGeppert ist ein guter Gesprächsverlauf in dieser Phase gekennzeichnet durch »Bewegung und Balance« dreier Aspekte: von »freier Entfaltung und zielorientierter Bündelung/Strukturierung der Beiträge«, von »Irritation und Bestätigung der Schülerinnen und Schüler« und von »Leser/Schüler- und Textorientiertheit«.113 Das Ausschlagen des Gespräches in die eine oder andere Richtung der genannten Pole soll der Leiter wahrnehmen und »durch Interventionen und Impulse« in eine Balance bringen, wobei zwei Arten von Impulsen, die gesprächsfördernden und die gesprächsorganisierenden Impulse, unterschieden werden. 114 Gesprächsfördernde Impulse sollen das Gespräch in seinen Inhalten und Themen weiterführen: »Das literarische Gespräch will ein Wechselspiel ermöglichen zwischen assoziativen und häufig auf persönliche Erfahrungen bezogenen Beiträgen und solchen, die sich eher auf den Text und dessen einzelne Elemente und Strukturen beziehen. Wenn das Gespräch hier einseitig wird, ist es Aufgabe der Lehrperson, die jeweils andere Seite einzubringen. Es empfiehlt sich daher, Impulse vorzubereiten, die eher auf den Text und seine genauere Wahrnehmung zielen, und solche, die stärker versuchen, die Erfahrungen der Teilnehmenden einzubeziehen […]. Solche Impulse können z.B. in der Artikulation eines eigenen Leseeindrucks oder im Aufgreifen eines anderen Teilnehmer-Beitrags bestehen. […] Es ist 112 Vgl. ebd. 113 Vgl. ebd. 114 Vgl. ebd.
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wichtig, dass die Lehrperson das Gespräch strukturiert, indem sie verschiedene Aussagen spiegelt, bündelt oder Aussagen der einzelnen Schülerinnen und Schüler miteinander verknüpft, solange die Schülerinnen und Schüler dies noch nicht selbst können.«115
Darüber hinaus kann der Leiter durch gesprächsorganisierende Impulse auf den Gesprächsprozess selbst einwirken, indem er auf den Verlauf und die Einhaltung der zu Beginn vereinbarten Regeln achtet.116 Je jünger und unerfahrener die Gruppe ist, desto mehr wird der Leiter das Führen eines Gespräches über seine Impulse anleiten müssen. Wichtig ist hier vor dem Hintergrund des Zieles der eidetischen Variation, dass der Leiter des Gespräches zwei Aspekte berücksichtigt: erstens sollten ähnliche Wahrnehmungen zusammengeführt werden, zweitens sollte er zum Beispiel durch Nachfrage versuchen, die Schüler zu einem Nachdenken darüber zu bewegen, welches Element der Aufführung eine konkrete Wahrnehmung ausgelöst hat. So kann bereits im Gespräch etwas von der spezifischen Medialität und Materialität der Theateraufführung deutlich und zugleich auch die natürliche Einstellung ein Stück weit eingeklammert werden. Das Gespräch dient in dieser Hauptphase also vor allen Dingen dem Anstoß zu einer Auseinandersetzung mit den Bestandteilen der Theateraufführung und der je eigenen Wahrnehmung. Die Elemente der Aufführung müssen am Ende des Gespräches nicht definiert oder umfassend gesichert sein. Vielmehr liegt dessen Ziel darin, Sinnsuche als einen auf Wahrnehmung beruhenden intersubjektiven Aushandlungsprozess zu verdeutlichen und damit eine phänomenologische Haltung den Gegenständen und der Erkenntnis gegenüber einzunehmen, welche die eigene Wahrnehmung ernst nimmt, diese aber zugleich kritisiert und auf den Gegenstand hin reflektiert. Durch die rechtzeitige Ankündigung weist der Leiter auf das nahende Ende des Gespräches hin, damit es nicht abrupt abgebrochen werden muss. Als »Spiegel« der ersten Runde nach dem Einstiegsimpuls schlagen Steinbrenner und Wiprächtiger-Geppert eine Abschlussrunde vor, in der wichtige Aspekte und Gesprächserfahrungen noch einmal thematisiert werden können.117 Auf diese Weise bildet die Runde nach dem Einstiegsimpuls gemeinsam mit der Abschlussrunde den Rahmen des Gesprächs, wobei nun an dessen Ende ein Resümee, ein Fazit oder eine offene Frage stehen kann. In höheren Klassen wäre es möglich, »das Gespräch im Rückblick zu strukturieren und dabei wichtige Themenstränge zu sammeln oder zusammenzufassen«.118 Analog zur eingangs ge115 Ebd., S. 8f. 116 Vgl. ebd., S. 9. 117 Vgl. ebd. 118 Vgl. ebd.
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nannten Zielsetzung des Gespräches ist an dieser Stelle ein Impuls zu setzen, der es auf das Ziel der Annäherung an die Aufführung hin fokussiert. So wäre folgender Abschlussimpuls möglich: Was habe ich über meine Wahrnehmung der Aufführung gelernt oder was blieb offen? Auch dieser Impuls bleibt auf die Begegnung zwischen Theateraufführung und Subjekt ausgerichtet und bietet die Möglichkeit, diese Wahrnehmung in einem größeren Kontext zu verorten, etwa wenn auch andere Schüler Ähnliches wahrgenommen haben und sich durch das Gespräch eine schärfere Konturierung des Anspruchs ergeben hat, auf den diese Wahrnehmung die Antwort darstellte. Zugleich kann aber auch geäußert werden, wenn die eigene Wahrnehmung im Gespräch nicht genügend oder keinen Raum erhalten hat. Die Abschlussrunde wird schließlich der Raum sein, in dem der Lehrer die Grundlage des weiteren Unterrichtsverlaufes ableiten kann. Beispielsweise kann es sein, dass die Sammlung und eine erste Systematisierung der Redebeiträge prägnante Elemente der Aufführung herausgebildet haben: den Rhythmus, einen bestimmten Schauspielstil, den Einsatz eines bestimmten Requisits oder einer einprägsamen Musik an einer bestimmten Stelle der Aufführung. Es gäbe nun die Möglichkeit im Unterrichtsverlauf anhand weiterer Beispiele auch Zeitlichkeit oder Schauspielstile aus theaterwissenschaftlicher Perspektive zu betrachten oder über den Einsatz und die Wirkung verschiedener Medien nicht nur im Theater zu sprechen. Das Ende der Abschlussrunde markiert zugleich das Ende des Gesprächs. Es muss hier kein Produkt entstanden sein und auch die vorläufige Definition der Aufführung ist an dieser Stelle noch eine, die sich über die Wahrnehmung annähert. Erst in weiteren Schritten und mit weiteren methodischen Elementen kann daraus eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Theateraufführung oder anderen Gegenständen resultieren. Angebahnt ist aber eine Haltung gegenüber den Gegenständen des Unterrichts, die das, was vermittelt wird, in der eigenen Wahrnehmung fundiert und die unterrichtliche Auseinandersetzung aus der Wahrnehmung heraus motiviert. Die Möglichkeiten der Reflexion widmen sich im folgenden Abschnitt den Perspektiven, die sich für den anschließenden Unterricht aus dem Verlauf des Gespräches ergeben. 4.3.5 Möglichkeiten der Reflexion und der weiteren Auseinandersetzung Unter den Möglichkeiten der Reflexion werden jene Perspektiven aufgegriffen, die sich an das Gespräch anschließen und in denen die gewonnenen Erkenntnisse auf die ursprüngliche Wahrnehmung übertragen werden, um daraus die weitere
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Auseinandersetzung zu motivieren. Die Reflexion entspricht damit dem Schritt der transzendentalen Reduktion in der Phänomenologischen Epoché. Aus Sicht der Schüler ist nach dem Gespräch mit vier möglichen Ergebnissen zu rechnen: Es ist möglich, dass sich die Wahrnehmung anderer Schüler auf dasselbe Element der Aufführung zurückführen lässt. Es ist ebenfalls möglich, dass andere Schüler etwas Ähnliches wahrgenommen haben, das aber auf unterschiedliche Elemente zurückgeführt wurde. Der dritte Fall wäre, dass Schüler dasselbe Element als markant erlebten, es aber unterschiedlich wahrgenommen haben. Im vierten Fall wird weder das vom Schüler wahrgenommene Element der Aufführung noch eine bestimmte Wahrnehmung von anderen Schülern ebenfalls genannt. Mit den Möglichkeiten der Reflexion müssen nun die Schüler die Verbindung dieser Ergebnisse mit der Wahrnehmung und der Fokussierung des weiteren Unterrichtsverlaufes auf die Auseinandersetzung mit der Theateraufführung schaffen. Analyse der Wahrnehmung und Systematisierung Die Reflexion der Wahrnehmung durch den Rückbezug der Ergebnisse des Gesprächs auf die eigenen Fixierungen kann dadurch geschehen, dass die Schüler sich erneut mit ihren Fixierungen auseinandersetzen und diese zum Gegenstand der Auseinandersetzung machen. Ziel der Reflexion ist nicht die eigenständig zu leistende transzendentale Reduktion, sondern das Einnehmen einer durch das Gespräch veranlassten distanzierten Haltung gegenüber der eigenen Wahrnehmung, wie sie sich in den Fixierungen zeigt. Da das Gespräch darauf abzielte, die Schüler mit den beiden Aspekten des phänomenologischen Zugangs vertraut zu machen, dem Aspekt der subjektseitigen Wahrnehmung und dem Auslöser dieser Wahrnehmung auf Seiten des Gegenstandes, können diese Ergebnisse nun an das Erinnerungsprotokoll oder eine dementsprechende mediale Transformation der Wahrnehmung herangetragen werden. Zu diesem Zweck wäre es möglich, dass die Schüler ihre Fixierungen im Anschluss an das Gespräch kommentieren und dabei dessen mögliche Ergebnisse als Reflexionshilfe betrachten. Fragen, die im Kommentar berücksichtigt werden, können also sein: Welche Elemente der Aufführung haben meine Mitschüler so wahrgenommen wie ich?, Welche Elemente der Aufführung haben meine Mitschüler anders wahrgenommen als ich?, Welche Elemente der Aufführung, die ich wahrgenommen habe, haben meine Mitschüler nicht wahrgenommen? Mit diesen Fragen im Hintergrund können die Ergebnisse des Gespräches aufgegriffen und zur Reflexion der eigenen Wahrnehmung nutzbar gemacht werden. Indem das Wahrgenommene auf diese Weise bereits systematisiert wor-
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den ist, wurde es auch einer weiteren phänomenologischen Reduktion unterzogen. Diese Ergebnisse können nun erneut im intersubjektiven Austausch systematisiert werden. Ziel der Systematisierung ist es, sowohl die gemeinsam wahrgenommenen Elemente der Theateraufführung näher zu bestimmen als auch jene Elemente zu identifizieren, die nur vereinzelt genannt wurden. Indem die Schüler in Kleingruppen zusammengeführt werden, die sich zum Beispiel aus den identifizierten Elementen oder einer hervorgerufenen Wirkung ergeben können, lassen sich die Elemente bzw. die Gründe für eine bestimmte Irritation oder andersartige Wahrnehmung gemeinsam präzisieren und festhalten. Dabei kann jeder Beitrag für die weitere Auseinandersetzung hilfreich sein: Wenn ein bestimmtes Element häufig wahrgenommen wurde, kann darauf ein Schwerpunkt der Auseinandersetzung gelegt werden. Zugleich ist dies aber auch möglich, wenn ein Element nur selten wahrgenommen wurde, weil die Aufmerksamkeit der Schüler auch darauf gelenkt werden kann. Die Sammlung der Ergebnisse dieser Systematisierung, in der die wahrgenommenen Elemente präzisiert worden sind, zeichnet ein Bild der Aufführung, wie sie sich von der Wahrnehmung her zeigt. Es wird sowohl inhaltliche, semiotische als auch performative Aspekte enthalten, die ebenfalls noch einmal kategorisiert werden können. Von diesem Standpunkt aus, in dem eine konkrete Theateraufführung von der Wahrnehmung her definiert worden ist, ergeben sich die Perspektiven, auf die im weiteren Unterricht eingegangen werden kann. Sie können die Aufführung und ihre Wahrnehmung betreffen, die Inszenierung oder ein zugrunde liegendes Drama. Auseinandersetzung mit der Aufführung und ihrer Wahrnehmung Wenn im weiteren Verlauf des Unterrichts der Fokus auf die Reflexion der konkreten Theateraufführung oder des Aufführungsbegriffes im Allgemeinen gelegt werden soll, dann bietet es sich an, entweder den Aspekt der Medialität zu behandeln, also die Effekte der leiblichen Ko-Präsenz, oder über die Thematisierung der Transitorik auf die spezifische Materialität der Theateraufführung zu sprechen zu kommen. Ausgehend von der vorherigen Fixierung des Wahrgenommenen sind die Schüler bereits mit dem Aspekt der Transitorik vertraut, denn diese hat die Erstellung der Fixierungen erst nötig gemacht. Um die unter dem Aspekt der Reflexion der Aufführung verhandelten Aspekte zu kennzeichnen, bieten sich vor allem jene Wahrnehmungen der Schüler als Ausgangspunkt an, die sich nicht auf die Inszenierung zurückführen lassen: Das Knistern eines Scheinwerfers oder das Husten eines anderen Zuschauers wären dafür ebenso Beispiele wie die Wahrnehmung des phänomenalen Leibes eines Schauspielers. Hier ist der Ort, die Materialität der Theateraufführung an deren Transitorik zu
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binden und zu thematisieren, um die Theateraufführung als eigene Kunstform wahrzunehmen. Dass sie durch Ereignishaftigkeit gekennzeichnet ist und gerade vor diesem Hintergrund ihre spezifische Materialität entfaltet, die nicht in einem Werk konserviert ist, zeichnet die Aufführung aus und kann in der Auseinandersetzung zum Beispiel dadurch verdeutlicht werden, dass die Materialität um die von den Schülern nicht genannten Perspektiven erweitert wird. Es wäre auch möglich, Elemente wie die Stimme, das Sprechtempo oder die Glatze eines Schauspielers aufzugreifen und nach weiteren Elementen zu suchen, die eine ähnliche Wirkung hatten oder haben könnten. Die Gruppierung solcher Elemente kann einen Zugang zum Aspekt der Materialität bilden. Einen Orientierungsrahmen für die analytischen Aspekte kann der Fragenkatalog zur Inszenierungsanalyse nach Pavis bieten, der zwar nicht dazu dient, den Schülern an die Hand gegeben zu werden, der aber dem Lehrer jene Aspekte aufzeigt, die mit der Zeichenhaftigkeit des Theaters zu tun haben und insofern Aspekte der semiotischen Analyse aufgreifen.119 Wichtig ist, dass der phänomenologische Zugriff zur Theateraufführung ihre performative Hervorbringung als deren Kern herausstellt und die Wahrnehmung dieser performativen Hervorbringung nicht letztlich doch in der semiotischen Perspektive aufgehen lässt. Diese Gefahr wäre gegeben, wenn der Fragebogen von Pavis nicht als Anregung, sondern als Kriterienkatalog verwendet wird, dessen Aspekte abgedeckt sein müssen, wenn die Aufführung vollständig beschrieben werden soll. Vielmehr kann genau dieses Vorgehen mit den Schülern thematisiert und möglicherweise verglichen werden, wie der Einsatz eines solchen Fragebogens die Wahrnehmung der Aufführung verändert, welche Aspekte er abdeckt und welche nicht. In diesem Zusammenhang könnte gerade auch der Unterschied zwischen Inszenierung und Aufführung bzw. deren Analyse bewusst gemacht werden. Auseinandersetzung mit der Inszenierung Wo es das Ziel ist, das Wahrgenommene auf Elemente zurückzuführen, die auf eine Planung im Rahmen der Inszenierung zurückgehen, kann von solchen Wahrnehmungen der Schüler ausgegangen werden, die in mehreren Fällen wahrgenommen wurden und nicht der Zufälligkeit unterliegen. Das Bühnenbild oder der Einsatz eines ganz bestimmten Requisits wären Beispiele dafür, dass der Aufführung ein Prozess der Planung und Festlegung vorausgeht, der eine bestimmte Wirkung intendiert. Der Fokus kann hier auf der Frage liegen, ob die Wahrnehmung der Schüler durch ein identifizierbares theatrales Mittel bewusst gelenkt und gesteuert wurde. Die Frage nach der intendierten Wirkung lässt sich 119 Vgl. 2.3.1.
278 | Wahrnehmung – Ereignis – Materialität
dabei jedoch auf der Grundlage der Wahrnehmung häufig nicht klären und ist daher weniger relevant als die Frage nach dem Bedeutungs-Potenzial, das ein bestimmtes Element in der Aufführung eröffnete. Die Ebene der Inszenierung und eine Sensibilisierung für deren Inszeniertheit kann durch Vergleiche verdeutlicht werden, in denen die identifizierten Elemente zum Beispiel auf Videoaufnahmen verglichen werden.120 Auch Theaterführungen, bei denen die Schüler mit den verschiedenen Berufen und Aufgaben vertraut gemacht werden, können helfen, den Entstehungs- und Planungsprozess zu verdeutlichen, der hinter einer Aufführung steht. Ein phänomenologischer Zugang zur Theateraufführung erweitert sich durch die Reflexionsmöglichkeit der Inszenierung hin zu einem Zugang zum Theater insgesamt, der aber von der Wahrnehmung der Theateraufführung ausgeht. In diesem Sinne kann er die Grundlage einer Theaterdidaktik bilden, welche die Wahrnehmung der Theateraufführung in ihren Mittelpunkt stellt und von dort aus den Unterricht perspektiviert. Natürlich wäre es ebenso möglich, vor dem Besuch einer Theateraufführung an einer Theaterführung teilzunehmen. Soll die Wahrnehmung der Theateraufführung aber im Mittelpunkt stehen, muss das Wissen um die Berufe und deren Aufgaben, den Aufbau einer Guckkastenbühne oder das gelesene Drama diese Wahrnehmung nicht im Vorhinein strukturieren. Auch die Auseinandersetzung mit dem Drama sollte daher aus theaterdidaktischer Perspektive von der Wahrnehmung der Theateraufführung ausgehen, wenn es als dessen möglicher Partitur aufgegriffen werden soll. Bevor allerdings die Verbindung zwischen Drama und Theateraufführung hergestellt wird, wäre es nötig, das Drama selbst als eigene Kunstform ebenso zu würdigen und einem phänomenologischen Zugang zu unterziehen wie die Theateraufführung. Der Vergleich der medialen und materiellen Bedingungen beider Kunstformen und deren Einfluss auf und Beeinflussung durch die Wahrnehmung lassen einen Vergleich dieser Medien zu, der nicht auf die Umsetzung des einen im Medium des anderen abzielt, sondern auf die Veränderungen, denen ein Dramentext in medialer und materieller Hinsicht unterliegt, wenn er zur Partitur einer Aufführung wird.121
120 Vgl. PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 272ff. 121 Vgl. dazu das Beispiel der Strichfassung oder das Lesen und Erstellen von Theaterkritiken bei PAULE: Kultur des Zuschauens, S. 277ff. und 281ff.
5
Resümee
Die Überlegungen der vorliegenden Arbeit hatten zum Ziel, einen phänomenologischen Zugang zur Theateraufführung im theaterdidaktischen Kontext zu modellieren. Theaterdidaktik wurde dazu als von der Dramendidaktik unabhängige Forschungsperspektive herausgearbeitet, die von der Theateraufführung als ihrem Gegenstand ausgeht. Das identifizierte Desiderat, wonach das Spiel mit der Wahrnehmung, das dem Medium Theateraufführung eigen ist, in der theaterdidaktischen Forschung als unterrepräsentiert gelten kann, wurde unter Rückgriff sowohl auf die Theatertheorie als auch die phänomenologischen Konzepte von Husserl, Merleau-Ponty und Waldenfels vor dem Hintergrund des Bedingungsgefüges von Wahrnehmung, Ereignis und Materialität bearbeitet. Daraus resultierte das Modell eines phänomenologischen Zugangs für die Theaterdidaktik, durch das es Schülern ermöglicht wird, die Theateraufführung als eine eigene Kunstform wahrzunehmen und die Wahrnehmung als einen Zugang zur Erkenntnis der Theateraufführung ernst zu nehmen. Methodisch fußt diese Erkenntnis auf der Auseinandersetzung mit der Perspektivität der eigenen Wahrnehmung, die im intersubjektiven Austausch erfahren werden kann. Mit den Säulen des Modells – Wahrnehmung, Ereignis, Materialität und Haltung – wurden Merkmale benannt, die einen phänomenologischen Zugang für die Literatur- und Mediendidaktik insgesamt relevant machen, auch wenn die Übertragung auf andere Gegenstände des Deutschunterrichts an dieser Stelle noch nicht geleistet werden konnte. Die möglichst vorurteilsfreie Wahrnehmung, die das hier konzipierte Modell eines phänomenologischen Zugangs ermöglichen will, ist jedoch eine Voraussetzung des angemessenen Umgangs mit allen Gegenständen des Deutschunterrichts, insbesondere dann, wenn sie sich dem Bereich der Kunst zuordnen lassen. Durch die Einklammerung der Ausrichtung auf das Verstehen öffnet sich der Blick der Wahrnehmenden auf das Erscheinen der Gegenstände hin, auf ihre Wirkungen und ihre mediale und materielle Verfasstheit.
280 | Wahrnehmung – Ereignis – Materialität
Dabei bewegen sich die Überlegungen der vorliegenden Arbeit im Bereich der Konzeption und Modellierung, weil ein phänomenologischer Zugang bislang in der Theaterdidaktik noch nicht ausgearbeitet wurde. In einem weiteren Schritt, der jedoch den Rahmen dieser Arbeit überstiegen hätte, wäre der Zugang auf dem Boden des hier gelegten Fundamentes vor allem in methodischer Hinsicht weiter zu präzisieren und empirisch zu erweisen, ob sich die vorgeschlagenen Ziele mit den angedachten Methoden erreichen lassen und ob daraus nachhaltig die Einnahme der erhofften Haltung begünstigt werden kann. Auch wenn dies zunächst für den begrenzten Bereich der Theaterdidaktik nötig wäre, in deren Kontext die Überlegungen dieser Arbeit eingebettet sind, wäre daran anschließend auch eine Ausweitung des Modells auf andere Gegenstände vorzunehmen. Die Grundzüge, die vom skizzierten Modell auch auf den Umgang mit anderen Gegenständen des Deutschunterrichts übertragbar sind, lassen sich dabei folgendermaßen zusammenfassen: Erstens müssen Schüler, um zunächst gezielt auf eine Wahrnehmung der Gegenstände vorbereitet zu werden, die auf deren Erscheinen und ihr So-sein abzielt, nicht viel über diese Gegenstände wissen. Je weniger sie wissen, desto weniger muss eingeklammert werden. Sie brauchen ebenfalls zunächst keine Anweisungen oder Vorgaben, worauf zu achten ist, wenn sie den Gegenständen so unvoreingenommen wie möglich begegnen sollen. Wichtig ist die Urteilsenthaltung über das, was sie wahrnehmen werden, und dem kann eine vorgängige Lenkung und Festlegung der Schüler entgegenstehen. Zweitens sollte der an die Wahrnehmung eines Gegenstandes anschließende Unterricht zu einem Gespräch über das Wesen des Bewusstseins und die Explikation von Verstehen und Reflexion werden. Über die Phänomenologie als direkter Beschreibung der Wahrnehmung hinaus können die Schüler im intersubjektiven Austausch die Beschreibung ihrer Wahrnehmung reflektieren und erhalten so Erkenntnisse über das Wesen ihrer Sinnkonstruktionen. Drittens sollten Schüler ihre Wahrnehmung genau beschreiben. Dabei mag sich zeigen, dass sie nicht das wahrnehmen, was Lehrpläne, Schulbücher oder Lehrer als das zu vermittelnde erachten, vielleicht verdeutlicht gerade diese Tatsache aber, dass die Gegenstände des Literaturunterrichts sich einem vermittelnden Zugang allzu oft entziehen, weil sie individuelle Ansprüche an ihre Leser, Hörer oder Zuschauer stellen. So fokussiert der phänomenologische Zugang eine Dimension der Wahrnehmung von Kunst überhaupt und verdeutlicht die Verbindung von Seinsgehalt des und Zugangsart zum Wahrgenommenen. Denn es werden insbesondere auch die Irritationen auf semiotischer Ebene zur Sprache kommen müssen, durch die das Wahrgenommene als Ereignis bemerkbar wurde. Die semiotische Analyse gibt vor dem Hintergrund der Bedeutung von gestalteter Materialität für die Wahrnehmung von Kunst, der bewussten Anordnung auch der mit dem wahrnehmba-
Resümee | 281
ren Material einhergehenden Bedeutungen, Auskunft über das Spiel dieser Bedeutungen und damit über das Zusammenspiel von kognitiver, affektiver und körperlicher Dimension der Wahrnehmung. Es geht nicht vorrangig um schlüssige Interpretationen des Wahrgenommenen, sondern um den grundsätzlichen Verweis auf den Zusammenhang von Wahrnehmung, Ereignis und Materialität. Viertens lassen sich an einen phänomenologischen Zugang auch Fragen der Interpretation anschließen. Die Frage nach der Bedeutung des Wahrgenommenen wird jedoch immer im Zusammenhang mit der eigenen Wahrnehmung der Aufführung beantwortet, womit über die kognitive Dimension auch die affektivemotionale und körperliche Dimension der Wahrnehmung gleichberechtigt aufgegriffen wird. Dadurch wird die semiotische und sinnliche Vielschichtigkeit der Wahrnehmung des entsprechenden Gegenstandes berücksichtigt und im Unterricht demonstriert. Nach der Auseinandersetzung mit der spezifischen Medialität und Materialität auch anderer Gegenstände des Literaturunterrichts könnte weitere Forschung also auf der Grundlage der Ergebnisse dieser Arbeit auch zu diesen Gegenständen und ihrer je spezifischen Medialität und Materialität einen phänomenologischen Zugang modellieren. Zudem wäre es möglich, auch noch andere Positionen der Phänomenologie hinzuzuziehen und damit den phänomenologischen Zugang selbst in anderer Weise zu perspektivieren. Wenn im Rahmen weiterer theaterdidaktischer Forschung, die an den in dieser Arbeit modellierten phänomenologischen Zugang anschließt, auch eine noch stärkere Konkretisierung dieses Zugangs von der Wahrnehmung her stattfindet, ist zu hoffen, dass zukünftig solche Irritationen, wie sie zu Beginn dieser Arbeit geschildert wurden, der Vergangenheit angehören: weil Schüler lernen, aus ihrer Wahrnehmung und ihren Vorurteilen Erkenntnisse zu gewinnen und mit ihnen umzugehen und weil Lehrer gelernt haben, die Wahrnehmung der Schüler und ihre Antworten auf die Ansprüche der Gegenstände als Erkenntnismöglichkeit zuzulassen und für den Unterricht nutzbar zu machen.
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Theater- und Tanzwissenschaft Wolfgang Schneider, Anna Eitzeroth (Hg.)
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Andreas Englhart
Das Theater des Anderen Theorie und Mediengeschichte einer existenziellen Gestalt von 1800 bis heute 2017, 502 S., kart. 39,99 € (DE), 978-3-8376-2400-7 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2400-1
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Theater- und Tanzwissenschaft Friedemann Kreuder, Ellen Koban, Hanna Voss (Hg.)
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