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German Pages 306 Year 2022
Alexander Lederer Die Narrativität der Musik im Film
Cultural Studies | Band 57
Die Reihe wird herausgegeben von Rainer Winter.
Alexander Lederer (Dr. phil.), geb. 1991, lebt als freischaffender Wissenschaftler und Komponist in Kärnten, Österreich. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf Film- und Medienmusik und ist verknüpft mit seinem eigenen musikalischen Schaffen.
Alexander Lederer
Die Narrativität der Musik im Film Audiovisuelles Erzählen als performatives Ereignis
Die Publikation wurde durch einen Druckkostenzuschuss der Österreichischen Forschungsgemeinschaft unterstützt.
Mit einem herzlichen Danke an alle, die mich auf meinem Weg begleiten!
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:// dnb.d-nb.de abrufbar. © 2022 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Lektorat: Christine Lederer-Trattnig Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-6392-1 PDF-ISBN 978-3-8394-6392-5 https://doi.org/10.14361/9783839463925 Buchreihen-ISSN: 2702-8291 Buchreihen-eISSN: 2702-8305 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge Vorspann...................................................................................... 11 1 Hinführende Gedanken.................................................................... 11 2 Leitfaden zum Forschungsprojekt ......................................................... 13 Zum Einstieg in die Film Music Studies ....................................................... 19 3 Begriffliche Grundlagen ................................................................... 19 4 Vom Gestern ins Heute................................................................... 30 5 Musik im Film als (eigenständiges) Funktionselement ..................................... 43 Zur Verortung innerhalb der Filmtheorie(n).................................................. 6 Überblick zur Theorie des Films .......................................................... 7 Neoformalismus ......................................................................... 8 (Film-)Narratologie ...................................................................... 9 Film-Phänomenologie.................................................................... 10 »Filmosophische« Ergänzungen zur Theorie des Films ...................................
55 55 66 73 87 90
Filmerzählung als performatives Ereignis ....................................................97 11 Im Spannungsfeld von Filmverstehen und Filmerleben .....................................97 12 Bezugspunkte zur Medien- und Kommunikationswissenschaft ............................ 99 13 Theaterwissenschaften und Filmanalyse – ein Blick über den Tellerrand...................106 14 Aufführungsanalytische Werkzeuge in der Filmanalyse ................................... 113 15 Darlegung des methodischen Vorgehens ................................................. 118 16 Reflexion der Forschungstätigkeit........................................................126
Filmische Fallbeispiele Dunkirk (2017)............................................................................... 133 17 Allgemeines zum Film und der Musik .................................................... 133
18 19
Musikalische Muster in »Dunkirk« (und anderen Filmen von Nolan) ........................136 Feinanalyse .............................................................................138
Es (2017) .....................................................................................145 20 Allgemeines zum Film und der Musik .....................................................145 21 Arbeitsprozesse des Komponisten .......................................................148 22 Feinanalyse .............................................................................149 La La Land (2017) ............................................................................159 23 Allgemeines zum Film und der Musik .....................................................159 24 Zum Produktionsprozess und der Arbeitsweise (beim Musical) ............................162 25 Feinanalyse .............................................................................163 Fifty Shades of Grey (2015) .................................................................. 171 26 Allgemeines zum Film und der Musik ..................................................... 171 27 Zur Arbeit des Komponisten und dessen konzeptuellen Überlegungen .....................173 28 Feinanalyse ............................................................................. 174 Mord im Orient Express (2017) ............................................................... 179 29 Allgemeines zum Film und der Musik ..................................................... 179 30 Ein besonderes Verhältnis zwischen Komponist und Regisseur ............................183 31 Feinanalyse .............................................................................184 Arrival (2016) ................................................................................189 32 Allgemeines zum Film und der Musik .....................................................189 33 Die menschliche Stimme als zentrales Instrument ........................................192 34 Rahmenbedingungen im Produktionsprozess .............................................193 35 Feinanalyse .............................................................................194 Hangover (2009) .............................................................................201 36 Allgemeines zum Film und der Musik .....................................................201 37 Konzeptuelle Bezüge der Musik zum Handlungsort ....................................... 204 38 Feinanalyse ............................................................................ 204 Fluch der Karibik (2003) ..................................................................... 211 39 Allgemeines zum Film und der Musik ..................................................... 211 40 Die (nachgelagerte) Rolle der Musik im Entstehungsprozess............................... 214 41 Feinanalyse ............................................................................. 215 Django Unchained (2012).................................................................... 223 42 Allgemeines zum Film und der Musik .................................................... 223 43 Ein »Musiknerd« und sein konzeptueller Genre-Mix ...................................... 226 44 Feinanalyse ............................................................................ 228
Der seltsame Fall des Benjamin Button (2009) ............................................. 235 45 Allgemeines zum Film und der Musik .................................................... 235 46 Die Rolle der Musik jenseits von Sprache ................................................ 238 47 Feinanalyse ............................................................................ 240 Der Hobbit: Eine unerwartete Reise (2012) ................................................. 245 48 Allgemeines zum Film und der Musik .................................................... 245 49 Die Musik als emotionaler Kontrapunkt .................................................. 248 50 Feinanalyse ............................................................................ 250 Ocean’s Eleven (2001) ....................................................................... 257 51 Allgemeines zum Film und der Musik .................................................... 257 52 Die Musik als »integral part«............................................................ 260 53 Feinanalyse ............................................................................. 261
Erkenntnisse und Ausblicke Einordnung der Forschungsergebnisse ...................................................... 271 54 Funktionstendenzen und »Mehrwerte« – ein etwas anderer Systematisierungsversuch .... 271 55 Abspann ............................................................................... 277 Credits ...................................................................................... 283 56 Literaturverzeichnis .................................................................... 283 57 Internetquellen (Recherche zum Film) ................................................... 292 58 Abbildungsverzeichnis .................................................................. 303 59 Filmverzeichnis......................................................................... 303
Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge
Vorspann
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Hinführende Gedanken »Es ist fürwahr ein mißlicher [sic!] Umstand, daß [sic!] Musikhörer nicht eigentlich die Musik, sondern die ausgelösten Assoziationen und Empfindungen wahrnehmen und registrieren, also nicht das, was klingt, sondern das was in ihnen widerklingt.« (Dibelius 1998: 223)
Mit Aussagen wie dieser hat der aus Los Angeles stammende Komponist John Cage zur Mitte des 20. Jahrhunderts für viel Aufmerksamkeit in der Musikwelt gesorgt und die intellektuell geprägte Avantgarde Europas, die sich unter Einfluss des Serialismus einer strengen Vororganisation des musikalischen Materials verschrieben hat, damit gehörig ins Schwitzen gebracht. Was bleibt von einem Stück, wenn die letzte akustische Schwingung verhallt? Geht es in der Musik am Ende vielleicht gar nicht so sehr um den Klang? Mit ganz ähnlichen Fragen ist auch das Medium Film bis heute konfrontiert. Was nehmen wir im Kino oder daheim auf der Couch tatsächlich wahr? Richten sich die audiovisuellen Reize in erster Linie an unser sinnlich-körperliches Erfahren oder an das kognitive Verstehen? Könnten Dialog und Bild in Wahrheit deutlich weniger wichtig sein, als wir vielfach anzunehmen glauben? Geht es letztlich überhaupt nicht um den Film selbst, sondern um das, was er mit uns macht und in uns auslöst? Filmtheorie, Filmanalyse und auch die »Film Music Studies« müssen sich mit all diesen Aspekten direkt oder indirekt auseinandersetzen, wodurch die Tür zum fachlichen Diskurs automatisch weit aufgestoßen wird. Unabhängig davon eröffnet die Beobachtung von Cage aber ein interessantes Gedankenspiel. Sein Befund über die Musik ist auch als Wesensbeschreibung aller Kunstformen zu lesen, deren Wert nicht im Kunstwerk selbst, sondern in dessen Wirkung liegt. Im Hinblick auf den Film hätte diese Sicht weitreichende Auswirkungen, weil damit das subjektive Filmerleben zum zentralen Anknüpfungspunkt werden müsste. Das wiederum würde auch ein neues Licht auf
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Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge
das Phänomen der filmischen Musikeinsätze werfen. Der »missliche Umstand« könnte sich also letztlich als Grundpfeiler eines etwas anderen Erkenntnishorizonts entpuppen und gleichzeitig das Verbindungsstück zwischen Musik und Film sein. Vor diesem gedanklichen Hintergrund findet der nachfolgende Annäherungsversuch an die »Film Music Studies« statt. Das Forschungsfeld ist seit jeher mit einem gewissen Spannungsverhältnis konfrontiert, das sich in vielen kleinen Momenten offenbart. Bei zufälligen Alltagskonversationen zum Thema wird die Bedeutung der Musik zumeist sehr hoch eingeschätzt. Es gibt kaum Menschen, die nicht einzelne Motive oder Stücke mit einem bestimmten Film oder einer Serie verbinden. Hinzu kommt die Präsenz filmmusikalischer Elemente als Klingelton oder ausgekoppelter Soundtrack, deren Rezeption und Aneignung oft mit persönlichen Erfahrungen verknüpft ist. In genau dem Zusammenhang gilt die Beobachtung von Cage, weil es dabei vor allem um Assoziationen oder Erinnerungen geht, die nicht unmittelbar an den Film selbst oder dessen Inhalt gebunden zu sein scheinen. Aus solchen Wahrnehmungen ergibt sich auf den ersten Blick eine starke Betonung der musikalischen Dimension. Ihre vielschichtigen Auswirkungen auf das filmische Erleben oder die narrative Sinngebung können davon jedoch nicht abgeleitet werden. Dieser Umstand führt zur Kehrseite der Medaille. Die Musik nimmt als Gestaltungselement im Produktionsprozess meistens eine zeitlich nachgelagerte Rolle ein und tritt daher deutlich später hinzu. Sie ist dann mit einer auditiven Dominanz der Sprache konfrontiert und muss sich in vielen Situationen den Logiken der Bildebene fügen. Im wissenschaftlichen Diskurs hat deshalb lange Zeit eine Unterordnungsthese dominiert, auf deren Basis vor allem die Vorstellung von untermalenden, unterstreichenden und verdoppelnden Funktionen entwickelt wurde. Sie prägt die Debatte indirekt bis heute. Gleichzeitig gibt es schon sehr früh ein deutliches Bewusstsein um die Leistungsfähigkeit der filmischen Musikeinsätze und eine historisch gewachsene Kritik an der weit verbreiteten (Hollywood-)Praxis, die Musik als dem Bild dienendes Element hierarchisiert. Innerhalb dieser Dynamiken müssen sich die »Film Music Studies« positionieren. Alle vorgebrachten Überlegungen bilden jeweils nur eine Facette des komplexen Phänomens ab und machen deshalb eine Zusammenschau erforderlich. Wissenschaftliche Reflexionen dürfen nicht dazu neigen, die Potentiale der Musik zu überschätzen oder die Logiken der Produktionsprozesse zu ignorieren. Andererseits hat die Konzentration auf musikalische Fähigkeiten zur Emotionalisierung und Verstärkung dazu geführt, dass viele Funktionsweisen im Detail noch immer unbekannt sind und die Forschungsposition oft deutlich von der Alltagswahrnehmung abweicht. Die Ursachen für die skizzierte Diskrepanz haben auch mit den theoretischen Vorannahmen zu tun. Es gibt nach wie vor eine analytische Tendenz zum »filmischen Text«, die sich auf die Auseinandersetzung mit Musik im Film weitestgehend übertragen hat. Ob ihrer semantischen Unschärfe ist diese dadurch automatisch in einer geschwächten Position. Insofern könnte ein Perspektivenwechsel vertiefende Einblicke ermöglichen. An der Stelle kommt die einleitende Beobachtung von John Cage wieder ins Spiel. Sie lädt bereits im Ansatz zu einem anderen Denken ein. Mit dem Blick auf ein »Widerklingen« des Films in uns werden das subjektive Erleben und die Erinnerung an das eigene Aufeinandertreffen mit dem audiovisuellen Gesamtkunstwerk zum zentralen Anknüpfungspunkt. Jedes Interesse an Vorstrukturiertheit oder »textuellen« Strategien entsteht erst im zweiten
Vorspann
Schritt. Die vorliegende Arbeit versucht einen dementsprechenden Zugang zu entwickeln und den »Film Music Studies« dadurch eine neue Tür zu öffnen.
2 2.1
Leitfaden zum Forschungsprojekt Ausgangspunkt
Von diesem Gedanken ausgehend fällt der Blick auf die Funktionalität von Musik im narrativen Film. Deren Dokumentation ist ein großes Betätigungsfeld geworden, aus dem in den letzten Jahrzehnten eine Unmenge neuer Erkenntnisse hervorging. Dennoch gibt es auch dort blinde Flecken. Sie entstehen vor allem im Umfeld der Unterordnungstendenz, denn »narrative Funktionen, die über eine bloße Verstärkung des visuell Kommunizierten hinausgehen, sind noch kaum erforscht.« (Krohn/Tieber 2011: 146) Daran hat sich bis zuletzt wenig geändert. Durch die teils eng gefassten Kategorisierungsversuche werden viele Facetten und Dynamiken jenseits von körperlich-sinnlicher Emotionalisierung, reiner Verdoppelung oder dramaturgisch-strukturellen Einsätzen nicht abgebildet. Der Blick auf den eigenständigen Beitrag musikalischer Elemente zur audiovisuellen Narration bleibt damit verstellt. Um den »mannigfaltigen Funktionen in den Bereichen Narration, Text, Affektstruktur« (ebd.: 144) auf die Spur zu kommen, bedarf es deshalb einer deutlich größeren Nuanciertheit in der Debatte und eines theoretisch-analytischen Perspektivenwechsels. Beide Ansprüche sind treibende Kräfte für die vorliegende Auseinandersetzung. Erstens gilt es die vielschichtigen Graubereiche zwischen den Funktionskategorien zu erkunden und dadurch neue Formen des Mitwirkens am filmischen Erzählen offenzulegen. Damit verbunden muss eine theoretische Ausrichtung sein, die es erlaubt, Musik als Teil der narrativen Sinngebung zu verstehen. Zu alldem kommt zweitens, dass es in den »Film Music Studies« kaum analytische Werkzeuge und Strategien gibt, mit denen diese Dynamiken und Effekte empirisch abgebildet werden können. Auch das ist ein Grund für die geringere Erforschung der Bereiche Eigenständigkeit und Narrativität. Insofern entsteht an dieser Stelle die Lücke für einen eigenständigen methodischen Ansatz, der das anfangs thematisierte Filmerleben zum Anknüpfungspunkt macht und seine Aufmerksamkeit davon ausgehend auf den gesamten Prozess des audiovisuellen Erzählens (von der Produktion über den »Text« bis hin zur Rezeption) richtet. Für die »Film Music Studies« könnte das ein wesentlicher Schritt sein, um sich von den mikrostrukturellen, segmentalen Sequenzanalysen und theoretischen Reflexionen zumindest teilweise zu lösen. Die Entwicklung einer dementsprechenden Methode ist neben dem inhaltlichen Interesse an der eigenständigen Funktionalität von Musik im Film und ihren spezifischen Leistungspotentialen für das Medium damit die zweite, große Zielsetzung des hier angestrebten Forschungsprojekts.
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Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge
2.2
Forschungsinteresse und leitende Fragestellungen
In diesem Sinne begibt sich die hier vorliegende Arbeit auf die empirische Suche nach Erzählsituationen, in denen Musik einen über die reine Verstärkung oder Verdoppelung anderer Erzählinstanzen hinausgehenden Beitrag zur audiovisuellen Narration leistet. Dabei gilt es vor allem ihr Mitwirken an der narrativen Sinngebung und den kohärenzbildenden Verstehensprozessen in den Blick zu nehmen und daraus auf das Ausmaß der Eigenständigkeit als Teilaspekt des vielschichtigen Gesamtkunstwerkes zu schließen. Mit dieser leitenden Fragestellung sind zwei vertiefende Interessen verbunden. Einerseits geht es um die grundsätzliche Herausarbeitung der Leistungs- und Wirkungsbereiche von Musik im Film. Worin liegt ihre Ausdrucksfähigkeit? Welche Potentiale als Vermittlungsinstanz können identifiziert werden? In welchen Kontexten der Narration nimmt sie wichtige Rollen ein? Was können Musikeinsätze zum filmischen Erzählen beitragen? Dynamiken einer eigenständigen Funktionalität sind eng an diese Aspekte geknüpft. Auch die bisherige Forschung gibt dahingehend bereits facettenreiche Einblicke. Im gegebenen Rahmen werden die vorangestellten Fragen jedoch unter methodischer Berücksichtigung des subjektiven Filmerlebens beleuchtet. Daraus ergibt sich ein anderer Erkenntnishorizont. Das zweite, vertiefende Interesse betrifft die Dimension etwaiger »Mehrwerte«. Was kann Musik in die filmische Narration einbringen, das ohne sie überhaupt nicht oder nur in völlig anderer Form möglich wäre? Welche Vorteile bietet sie im Verhältnis zu anderen Erzählinstanzen? In welchen Zusammenhängen tauchen solche Dynamiken auf? An dieser Stelle gilt es vor dem Hintergrund der als eigenständig identifizierten Musikeinsätze und mit Blick auf die herausgearbeiteten Funktionalitäten ein grundsätzliches Bewusstsein um die spezifische Leistungsfähigkeit musikalischer Elemente des audiovisuellen Erzählens zu entwickeln.
2.3 Forschungsgegenstand Der Forschungsgegenstand, an den all diese Fragen gerichtet werden, sind populäre, kommerziell erfolgreiche Hollywood-Filme des 21. Jahrhunderts. Sie gelten als weltweit dominierende Erscheinungsform des narrativen (Kino-)Films und waren deshalb lange Zeit im Blickfeld der »Film Music Studies«. Zuletzt kam es aufgrund verschiedenster Entwicklungen jedoch zu einer zunehmenden Abkehr davon, wodurch der Zeithorizont nach dem Entstehungsjahr 2000 verhältnismäßig unterrepräsentiert ist. Insofern stellt sich die vorliegende Arbeit im vollen Bewusstsein gegen diesen Trend innerhalb des Forschungsfeldes und strebt eine Auseinandersetzung mit dem »musikalischen Zeitgeist« aktueller Hollywood-Produktionen an. Das hat aber auch inhaltliche Gründe. Gerade dieses Umfeld ist seit jeher mit dem Vorwurf konfrontiert, Musik als nachrangiges, dienendes Element zu betrachten, das fast ausschließlich als emotionalisierende Instanz jenseits narrativer Potentiale eingesetzt wird. Die Unterordnungsthese kommt hier also ganz besonders stark zur Geltung. Obwohl diese Sekundärfunktion im kommerziellen Film tatsächlich besonders verortet zu sein scheint, wie Martin Zenck (2012: 68) neben vielen anderen sehr treffend festgestellt hat, sind es seiner Ansicht nach oftmals genau jene Beispiele, die durch ihre starke Emotionalisierung einen äußerst substanziellen
Vorspann
Musikeinsatz aufweisen. Insofern sind sie ein Spiegel des einleitend skizzierten Spannungsbogens und können als solcher zum sinnvollen Anknüpfungspunkt hinsichtlich einer Neubewertung der musikalischen Funktionalität werden. Um einen vielfältigen Ausschnitt des modernen Hollywood-Kinos zeigen zu können, gilt es möglichst unterschiedliche Filme in der Forschung zu berücksichtigen und dadurch verschiedenste Erzählstrukturen abzubilden. Dahingehend liegt eine Orientierung an den diversen Genres nahe. Zu deren Konventionen gehören unter anderem Parallelen im Hinblick auf die jeweilige Erzählform (vgl. Stiglegger 2017: 139). Insofern könnte daraus ein buntes Bild dahingehend entstehen. Die Schwierigkeit dabei ist, dass Genregrenzen oft anhand ökonomischer Prinzipien der Filmindustrie gezogen wurden (vgl. Wulff 2014: o.S.) und als solches »diffuse (…) Kategorien« (ebd.) sind, die »am unmittelbarsten mit dem populären Verständnis vom Film verbunden« (Stiglegger 2009: o.S.) zu sein scheinen. Außerdem entstanden in den letzten Jahrzehnten immer mehr Hybride und Subgenres, wodurch die Filmtheorie einer Kategorisierung mittlerweile sehr skeptisch gegenübersteht (vgl. ebd. 2017: 140). Dennoch können laut Marcus Stiglegger (vgl. 2009: o.S. und 2017: 142f) sogenannte »Meta-Genres« als übergeordnete Tendenzen identifiziert werden. Die vorliegende Auswahl greift darauf zurück und legt dem Forschungsprojekt insgesamt 12 Fallbeispiele in den Bereichen Horror, Sci-Fi- und Fantasyfilm, Gangster- und Detektivfilm, Liebesfilm, Komödie, Kriegsfilm, Abenteuerfilm, Erotikfilm und Musical zugrunde. In dem Zusammenhang gilt es abschließend festzuhalten, dass daraus keine vergleichende Genre-Analyse entstehen soll. Die genannten Kategorien dienen lediglich als Anhaltspunkt, um ein vielschichtiges Bild der Erzählformen im Umfeld von Hollywood-Produktionen zeichnen zu können. Ein Kriterium in Bezug auf die Popularität und Reichweite der auszuwählenden Filme kann die Datenbank von »Box Office Mojo« sein. Das Subunternehmen von Amazon sammelt weltweit Einspielergebnisse und Verkaufszahlen und erstellt daraus Überblicksstatistiken. Unter anderem gibt es eine Aufstellung der 1.000 kommerziell erfolgreichsten Filme aller Zeiten (siehe dazu https://www.boxofficemojo.com/alltime/world /). Zu jedem der 12 »Meta-Genres« wurde aus dieser Liste ein Beispiel ausgewählt. Zum bereits genannten zeitlichen Horizont nach dem Entstehungsjahr 2000 kommen mehrere zusätzliche Entscheidungskriterien. Einerseits wurde eine Mischung aus Bekanntem, Vertrautem und Neuem angestrebt, um im Hinblick auf das subjektive Filmerleben auch dahingehend eine gewisse Erfahrungsbandbreite zu erzielen. Damit verbunden war zweitens die Bedingung, dass zumindest ein Jahr vor Beginn des Forschungsprojektes kein »Kontakt« mit dem Film in irgendeiner Form stattfand. Neben der Rezeption des Fallbeispiels selbst zählen dazu auch Fortsetzungen oder die Beschäftigung mit sonstigen Aspekten (Soundtrack, Medientexte usw.). Hinzu kommt drittens die Frage der Verantwortlichkeit in den Bereichen Musik und Regie. Überschneidungen hinsichtlich der Filmschaffenden wurden ganz bewusst vermieden. Insofern ist die Studie immer mit anderen Regieführenden und Komponierenden konfrontiert. Auch daraus ergibt sich eine Vielfältigkeit. Im Zusammenspiel aller skizzierten Überlegungen und Bedingungen ist die Auswahl schlussendlich auf folgende 12 Filme gefallen: • •
»Dunkirk« (2017; Christopher Nolan): Kriegsfilm »Es« (2017; Andres Muschietti): Horrorfilm
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Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge
• • • • • • • • • •
»La La Land« (2016; Damien Chazelle): Musicalfilm »Fifty Shades of Grey« (2015; Sam Tayler-Johnson): Erotikfilm »Mord im Orientexpress« (2017; Kenneth Brannagh): Detektivfilm »Arrival« (2016; Denis Villeneuve): Sci-Fi-Film »Hangover« (2009; Todd Phillips): Komödie »Fluch der Karibik« (2003; Gore Verbinski): Abenteuerfilm »Django Unchained« (2012; Quentin Tarantino): Western »Der seltsame Fall des Benjamin Button« (2008; David Fincher): Liebesfilm »Der Hobbit – Eine unerwartete Reise« (2012; Peter Jackson): Fantasyfilm »Ocean’s Eleven« (2001; Steven Soderbergh): Gangsterfilm
Die empirische Suche nach Momenten musikalischer Eigenständigkeit und deren spezifischer Leistungspotentiale als filmische Erzählinstanz findet anhand dieser Beispiele des Hollywood-Kinos nach 2000 statt. Sie dienen der vorliegenden Arbeit als voneinander unabhängige Fallstudien und bilden damit einen Rahmen für den zu untersuchenden Forschungsgegenstand.
2.4
Überblick zum Vorgehen
Mit den Zielsetzungen, leitenden Fragestellungen und Fallbeispielen im Gepäck fällt nun ein Blick auf das weitere Vorgehen. Dabei entsteht ein Leitfaden, der als Wegweiser durch das gesamte Projekt dienen kann. Im ersten Theorie-Kapitel findet die Orientierung innerhalb der »Film Music Studies« statt. Dabei werden zunächst wichtige Begrifflichkeiten und bekannte Analysekategorien besprochen, um in weiterer Folge einen Eindruck des Betätigungsfeldes und seiner Strömungen zu gewinnen. Die bereits einleitend angedeuteten Forschungslücken treten dadurch automatisch zutage. Im Anschluss daran findet eine Diskussion der filmtheoretischen Überlegungen statt, denen der zweite Abschnitt gewidmet ist. Unter Einbeziehung verschiedener Positionen (Formalismus, Phänomenologie, Philosophie) wird versucht, ein filmnarratologisches Modell zu konzeptualisieren, das die Filmerzählung als performatives Ereignis begreift, in dem sich »Publikumsgröße« und Film als intentional »denkende« Akteure gegenüberstehen. Verstehensprozesse und narrative Sinngebung sind dann nicht mehr nur auf den kognitiven Bereich zu reduzieren, sondern auch eine emotionale und körperlichsinnliche Frage. Das wirft ein neues Licht auf die Rolle der Musik als filmisches Ausdrucksmittel. Darauf aufbauend entsteht im dritten Theorie-Kapitel eine eigenständige empirisch-methodische Strategie. Vor dem Hintergrund der performativen Dynamiken im Umfeld des audiovisuellen Erzählens werden damit einhergehende Ansprüche und Zielsetzungen an ein analytisches Werkzeug formuliert und Ansätze der Medienund Kommunikationswissenschaften beleuchtet, die in eine ähnliche Richtung denken. Danach richtet sich der Blick auf theaterwissenschaftliche Konzepte der Performance Studies. Von dort werden mit dem »Performative Writing« und einer interpretativen Analysetrias zwei Werkzeuge aufgegriffen und für die Filmanalyse anwendbar gemacht. An der Stelle wird das subjektive Filmerleben zur eigentlichen Materialgrundlage. Eine Auseinandersetzung mit den »textuellen Strategien« findet erst im zweiten Schritt statt. Hinzu kommt die analytische Berücksichtigung des Produktionsprozesses, um
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der filmischen Intentionalität auch von dieser Seite zu begegnen. Das Ergebnis ist ein zweistufiges Verfahren, an dessen Beginn eine assoziative Protokollierung der eigenen Involviertheit in die Rezeption steht. Basierend darauf werden in einer zweiten Phase bestimmte Momente hinsichtlich der musikalischen Beschaffenheit und deren Beitrag zur audiovisuellen Erzählstruktur feinanalytisch diskutiert. Der vorgelegte Ansatz nimmt damit alle Teildynamiken des filmischen Erzählens (Rezeption, »Text«, Produktion) in den Blick und löst sich von den zumeist segmentalen, theoretischen Funktionalitätsdiskursen der »Film Music Studies«. Insgesamt entsteht dadurch eine innovative filmanalytische Herangehensweise, die im Umfeld der neueren US-amerikanischen Sozialforschung zu verorten ist. Die entwickelten Werkzeuge und Strategien werden dann anhand der 12 Fallbeispiele erprobt, reflektiert und praktisch umgesetzt. Der empirische Teil besteht aus den Diskussionen der einzelnen Fallstudien. Sie beinhalten neben einer Recherche zum jeweiligen Film die forschungsrelevanten Textbausteine aus dem rund 1.200 Seiten umfassenden Gesamtkorpus (Protokolle zum Filmerleben + Feinanalysen), der im Verlauf dieses Projekts generiert wurde und bei Interesse im Archiv des Verfassers einzusehen ist. Dabei fällt der Blick auf jene filmischen Momente und Erzählsituationen, in denen Musik – ob ihres über die reine Verstärkung hinausgehenden Beitrags zur audiovisuellen Narration – als eigenständiges Element in Erscheinung tritt. Die feinanalytisch diskutierten Ausschnitte sind als Sequenzen ausgewiesen und mit einem Zahlencode samt Zeitangabe versehen. Im Sinne einer qualitätssichernden Nachvollziehbarkeit wird dadurch ihre schnelle und einfache Zuordnung bei einer etwaigen Einsicht in die zugrundeliegenden Materialquellen ermöglicht. Alle Fallstudien können völlig unabhängig voneinander herangezogen werden und erlauben daher ein interessensorientiertes Querlesen. Im Schlussabschnitt findet die Einordnung aller Erkenntnisse statt, die in einem zusammenfassenden Systematisierungsversuch mündet. Dieser strebt eine Nuancierung der Debatte an und stellt sich gegen striktes Kategoriendenken. Die anhand der 12 Fallbeispiele empirisch nachgewiesenen Leistungsfähigkeiten der Musik im Film werden deshalb als Funktionstendenzen beschrieben, an denen unterschiedliche Phänomene und Dynamiken beteiligt sein können und die dadurch eine gewisse Offenheit gegenüber anderen Systematiken oder Wirkungsbereichen haben. In der Metasicht auf alle gewonnenen Einsichten werden ganz am Ende jene »Mehrwerte« identifiziert, die musikalische Elemente im Verhältnis zu anderen Erzählinstanzen einbringen können. An der Stelle erreicht die Funktionalitätsdebatte ihren wahren Kern. Sie eröffnet Einsichten in die vielschichtigen Potentiale der Musik als sinngebender und kohärenzbildender Baustein des audiovisuellen Erzählens. Auf genau diesen Punkt bewegt sich die vorliegende Arbeit zu und versucht am Weg dorthin eine adäquate methodische Strategie für die eigene Reise zu entwickeln.
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Zum Einstieg in die Film Music Studies
Die »Film Music Studies« sind ein verhältnismäßig junges Betätigungsfeld, das sich in den letzten Jahrzehnten stetig weiterentwickelt und ausdifferenziert hat. Obwohl Musik insbesondere auch schon in der Ära des sogenannten »Stummfilms« eine große Rolle gespielt hat und dementsprechend oft theoretisch thematisiert wurde, können die Anfänge einer intensiveren, wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema insgesamt wohl auf die Nachkriegszeit zwischen den späten 1940er-Jahren und der ersten Hälfte der 1960er-Jahre festgelegt werden. Heute ist die Forschung in dem Bereich durch eine Vielzahl von Ansätzen interdisziplinär geprägt. Ob der Komplexität des Forschungsgegenstandes kommen die Konzepte und Überlegungen aus den verschiedensten Richtungen. Innerhalb dieses Raumes gilt es sich zu orientieren und eigene Position zu beziehen. Der erste Abschnitt gliedert sich zu diesem Zweck in drei Teile. Zunächst findet die Diskussion einiger zentraler Begrifflichkeiten der »Film Music Studies« statt, die von grundlegender Bedeutung sind oder im Hinblick auf die gegebenen Fragestellungen relevant erscheinen. Sie bilden einen sprachlichen Rahmen für die gesamte Auseinandersetzung. Im nächsten Schritt geht es um die historischen Zusammenhänge. Aus den Anfängen heraus werden aktuelle Traditionen und Strömungen sowie die damit einhergehenden Analysemethoden und Perspektiven besprochen. Drittens rücken die bisherigen Erkenntnisse zur Rolle der musikalischen Dimension im Film ins Zentrum. Dabei werden Konzepte zu Funktionalität, Wirkung und Bedeutungsproduktion von Musik – vor allem rund um das klassische Hollywood-Kino – berücksichtigt. Am Ende soll von diesen drei Orientierungspunkten aus ein Gesamteindruck des Forschungsfeldes entstehen, der auch sichtbar macht, wo die hier anzustrebende Herangehensweise im weiteren Verlauf ansetzen möchte.
3 Begriffliche Grundlagen Um einen begrifflich-definitorischen Ausgangspunkt zu schaffen und allen Lesenden einen gleichwertigen Einstieg in die »Film Music Studies« zu ermöglichen, bietet es sich an, den Blick auf drei größere Diskursfelder zu werfen. Die zu gewinnenden Ein-
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Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge
sichten können dann als roter Faden durch die Debatte dienen. Einerseits geht es um die Abgrenzung des Forschungsgegenstandes als zu untersuchendes Phänomen. Hier gilt es die Bezeichnung »Filmmusik« näher unter die Lupe zu nehmen. Zweitens fällt ein Blick auf die wichtigsten Verfahren, Techniken und Erscheinungsformen, bevor in einem dritten Schritt das Verhältnis zwischen Musik und Filmwelt als eine der zentralen Analysekategorien dargelegt wird und sich dadurch ein erstes Fenster zur vorliegenden Arbeit öffnet.
3.1
»Musik im Film« statt »Filmmusik« – Begriff und Perspektive
In diesem Sinne steht am Beginn der Auseinandersetzung die essentielle Frage, womit sich »Film Music Studies« überhaupt beschäftigen. Eine völlig klare und einfache Antwort darauf gibt es nur auf den ersten Blick. Für Malte Korff (2000: 67) in Reclams »Kleines Wörterbuch für Musik« ist »Filmmusik« beispielsweise eine »Form von anspruchsvoller, filmuntermalender und -begleitender Musik«. Die Formulierung wirft gleich mehrere Aspekte auf, die für eine wissenschaftliche und analytische Betrachtung entschieden zu hinterfragen sind. Ein – wie auch immer festgelegter – musikalischer Qualitätsanspruch kann und sollte grundsätzlich kein Kriterium in dem Zusammenhang sein. Der Beschreibungsversuch entsteht aber aus einem Umfeld heraus, das die Tätigkeit und Leistung der beteiligten Musikschaffenden ins Zentrum rücken möchte. Hinzu kommt zweitens der Verweis auf den Untermalungs- und Begleitcharakter. Die Musik wird dadurch bereits sprachlich in eine nachgelagerte und vor allem nachrangige Position gedrängt beziehungsweise auf ganz bestimmte Funktionen reduziert. Eine andere Definition des Forschungsgegenstandes »Filmmusik« ist im alltäglichen Sprechen über Filme zu finden. Hier richtet sich die Aufmerksamkeit zumeist auf musikalische Momente, die über einen Film Einzug in die individuelle, manchmal persönliche Erinnerung gefunden haben. Das können bekannte Motive, bestimmte Lieder oder ein spezifischer Musikeinsatz sein. In dem Kontext spielen dann oft der Soundtrack und davon ausgekoppelte Stücke eine große Rolle. Dadurch eröffnet sich wieder eine neue Dimension, in der die Musik als mit dem Film verknüpftes, aber eigenständiges Medienprodukt existiert. Auch das kann eine Facette der »Film Music Studies« sein. Die beiden Beispiele zeigen in ihrer Unterschiedlichkeit, wie vielschichtig dieser scheinbar klar abzugrenzende Forschungsgegenstand ist und inwieweit sich das begriffliche Grundverständnis auf die jeweilige Perspektive auswirkt. Mit dem Bewusstsein vor Augen findet die nachfolgende Diskussion statt. Unabhängig von einer spezifischen Begrifflichkeit und damit verbundenen Implikationen geht es im ersten Schritt um die Verortung und Positionierung innerhalb des audiovisuellen Mediums Film. Die Musik ist dort »Teil des Soundtracks« (Tieber 2017: 2). Mit dem Terminus ist also nicht das ausgekoppelte Musikprodukt als CD oder Download gemeint, sondern die Tonspur beziehungsweise »der akustische Aspekt des Films« (ebd.). Neumeyer (2015: 3) stellt dahingehend fest: »[T]he sound track is the film’s audio system«. Diese definitorische Feinheit erfährt im Umfeld der »Film Music Studies« weitestgehende Anerkennung und wird dementsprechend fortgeführt. Die angesprochene auditive Ebene besteht im Detail aus den Komponenten »speech, music and sound effects« (Buhler/ Neumeyer/Buhler 2010: 1) – also »Dialog, Geräusch (Sound Effects) und eben Musik« (Tieber
Zum Einstieg in die Film Music Studies
2017: 2). Forschungsgegenstand ist demnach jener Teilaspekt des Soundtracks, dem die musikalischen Elemente zugeordnet werden können. Im Wissen, dass insbesondere die Differenzierung zwischen Musik und Soundeffekten zunehmend schwieriger wird und beide Bereiche im modernen Film teilweise ineinander fließen, hat diese grundsätzliche Kategorisierung nach wie vor ihre Gültigkeit und wird auch im Rahmen der vorliegenden Arbeit übernommen. Das Forschungsinteresse richtet sich in der Folge auf sämtliche Erscheinungsformen von Musik als Komponente des Films. Diese erweiterte Vorstellung umfasst den Einsatz bereits bestehender Titel ebenso wie im Rahmen der Produktion komponierte Scores oder ein durch handelnde Akteure beispielsweise gepfiffenes Lied. Gleichzeitig ist »Musik als ausgekoppeltes Kulturindustrieprodukt« nicht unmittelbarer »Bestandteil des Films« (Kloppenburg: 2017: 429) und damit kein Analysegegenstand. Die Einbindung in den audiovisuellen Gesamtkontext eines Filmerlebens wird vor diesem Hintergrund stehend zum entscheidenden Kriterium. Innerhalb einer so zu verstehenden »Filmmusik« gibt es keinerlei Rangordnung. Die unterschiedlichen musikalischen Klangereignisse (Song-Performance, Orchestereinsatz, Soloinstrument, längeres Stück, kurzer Einwurf usw.) werden unabhängig von ihrem Umfang, der Qualität oder ihrem Zustandekommen im Produktionsprozess gleichwertig behandelt. Dementsprechend greift die vorliegende Arbeit in weiterer Folge auf die Bezeichnung »Musik im Film« (Tieber 2017: 1) zurück. Die etwas offenere Formulierung nimmt die unterschiedlichen Facetten der musikalischen Dimension bewusst mit herein und hebt – im Gegensatz zur »FILMmusik« – schon auf sprachlicher Ebene jede Hierarchisierungstendenz auf. Mit dem Begriff geht deshalb eine grundsätzlich rangordnungsfreie Vorstellung von Musik als Bestandteil des audiovisuellen Gesamtkunstwerkes einher. Ähnliche Vorstellungen finden sich in den filmästhetischen Überlegungen von Zofia Lissa, die ab 1965 maßgeblichen Einfluss hatte. Tarek Krohn (2008a: 186) schreibt im Hinblick darauf: »Nach Lissas (…) Sichtwiese, entfaltet der Film seine Wirkung als synthetische Kunst, in der die einzelnen Elemente der Geschlossenheit des Films zu dienen haben. Die einzelnen Elemente (…) sollten dabei allerdings gleichberechtigt nebeneinander stehen.« Diesem Kerngedanken folgt die vorliegende Arbeit. Eine dementsprechende theoretische Herangehensweise möchte die gegebenen Beziehungen, Netzwerke und Kräfteverhältnisse aber keineswegs verleugnen. In der Praxis tritt die Musik oft erst spät im Produktionsprozess auf. Hinzu kommt, dass in der Filmrezeption ein erheblicher Teil der musikalischen Dimension gar nicht bewusst wahrgenommen wird oder im Gesamtkontext verschwindet. Genau diese Umstände machen den Forschungsgegenstand insgesamt zu einem schwer fassbaren und manchmal kaum einzuordnenden Phänomen. Nicht zuletzt deshalb spricht Neumeyer (2015: 3) vom »Vococentric Cinema« – also dem stimmzentrierten Kino. Er hebt mit dem Begriff die Sprache als zentrales Gestaltungselement hervor, dass auch innerhalb der akustischen Ebene eine hierarchisch übergeordnete Position einnimmt. In seinem Buch heißt es dazu konkret: »[T]he sound track is constructed – the overriding priority in the classical system being narrative clarity, not acoustic fidelity – and it is hierarchical, with the voice (speech, dialogue) at the top, music and sound effects below.« (Ebd.) Sprachliche Kommunikation und visuelle Reize nehmen im Hinblick auf die narrative Eindeutigkeit insgesamt mehr Raum ein. Dieses Bewusstsein um die tendenzielle Rolle der Musik im Film ist grundlegend für jede Auseinandersetzung damit. Es darf aber nicht zur Annahme führen, dass die
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Hierarchien und Verhältnisse ständig gleich bleiben. Der Film ist als dynamisches Gebilde zu verstehen und deshalb kommt es immer wieder zu Verschiebungen und Positionswechseln. Amy Herzog (2010) spielt in ihrem Konzept der »musical moments« beispielsweise explizit mit dem Gedanken. Sie schreibt: »There are many instances, however, when this hierarchy is in-verted and music serves as the dominant force in the work, creating a musical moment.« (Ebd.: 6) Herzog selbst identifiziert vor allem im »popular song« des Musicals eine solche Möglichkeit zur hierarchischen Umkehrung. Die prinzipielle Vorstellung eines Augenblicks, in dem die Musik eigenständig hervortritt, kann aber theoretisch auch auf andere filmische Momente umgelegt werden. Insofern existiert das zuvor skizzierte Prinzip einer grundsätzlichen Gleichberechtigung aller Elemente im audiovisuellen Gesamtkunstwerk parallel zur analytisch zentralen Frage nach Kräfteverhältnissen und Dynamiken. Beide Aspekte spielen in der Gegenstandsbeschreibung von »Musik im Film« als Forschungsobjekt eine wichtige Rolle. Nachdem der perspektivisch-definitorische Rahmen abgesteckt ist, gilt es abschließend auf eine Bezeichnung einzugehen, die im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand immer wieder auftaucht. In vielen Beiträgen und Diskussionen ist nämlich von funktionaler Musik die Rede. Der Begriff hat eine starke Bindung an das übergeordnete Phänomen Medien und Musik, das in der digitalisierten, medialisierten Welt des 21. Jahrhunderts zunehmend mehr Raum einnimmt. Während Musik vor nicht einmal 100 Jahren den alltäglichen Ablauf kaum geprägt hat, ist sie heute ständig verfügbar und in nahezu alle Bereiche des menschlichen Lebens vorgedrungen (vgl. Schramm/Spangardt/Ruth 2017: 1–5). Ein erheblicher Teil davon existiert nicht als autonomes, ästhetisches Kunstwerk, sondern als zielgerichteter Baustein in einem bestimmten Setting. Dazu gehören beispielsweise Kennung im Radio-, Fernseh- und Onlinebereich, Werbe-Jingles oder diverse Ruf- und Signalklänge. All das fällt in die Kategorie funktionale Musik, deren »Form und Beschaffenheit (…) durch den Zweck bestimmt« ist, »dem sie dienstbar gemacht werden soll« (de la Motte-Haber 2017: 4). Auch die Musik im Film wird deshalb dementsprechend eingeordnet (Schramm/Spangardt/Ruth 2017: 41), weil sie – wie alle anderen Elemente – der »Filmhandlung oder Filmerzählung« (Kloppenburg 2017: 432) als übergeordnete Instanz sozusagen zuarbeitet. Insofern gibt es eine naheliegende Wechselbeziehung zwischen »Film Music Studies« und anderen Formen der Medienmusikanalyse. Beide beschäftigen sich im weitesten Sinne mit den Funktionsweisen von Musik im jeweiligen medialen Kontext. Diese Funktionalität wiederum ergibt sich laut Kloppenburg (vgl. ebd.) während der Rezeption beziehungsweise im direkten Filmerleben. Sinn und Bedeutung sind also streng an den Film gebunden. Das ist das wesentlichste Kennzeichen funktionaler Musik und so verhält sich auch der Forschungsgegenstand. Unabhängig davon, ob auf bereits bestehende Stücke zurückgegriffen wird oder eine eigenständige Komposition entsteht, liegt »Musik im Film« vor, wenn diese Bestandteil des audiovisuellen Gesamtkunstwerkes ist. Dabei erfüllt sie bestimmte Funktionen und ist daher als funktionale Musik zu verstehen. Gemeinsam mit der bereits skizzierten Annahme, dass der Film »eine synthetische Kunst« ist, die »Ausdruckselemente aus verschiedenen Einzelkünsten und -handwerken« zusammenführt, kommen Tieber und Wulff (2010: 155) zum dementsprechenden Schluss: »Filmmusik ist nie absolute Musik, sie hat immer konkrete Aufgaben.« Damit verbunden ist die perspektivische Implikation, dass die »Film Music Studies« Gesamtkontext und Filmerleben im
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Blick haben müssen und sich nicht auf die Musik als Einzelaspekt beschränken dürfen. Die hier skizzierte Vorstellung des Forschungsgegenstandes basiert auf dieser Prämisse. Der Begriff »Musik im Film« versucht das gesamte musikalische Geschehen zu fassen, das unmittelbar bei der Rezeption als Bestandteil der auditiven Dimension in Erscheinung tritt. Dabei entsteht das Bewusstsein um unterschiedliche Kräfteverhältnissen und Dynamiken, innerhalb derer die Musik bestimmte Funktionen für das audiovisuelle Medium übernimmt. Diesen Prozessen gilt es sich analytisch anzunähern.
3.2 Verfahren und Techniken Zentrale Beschreibungskategorien der »Film Music Studies« sind die kompositorischen Verfahren, anhand derer auf die konzeptuelle Umsetzung des jeweiligen Musikeinsatzes geschlossen werden kann. Grundsätzlich gibt es im Produktionsprozess die Möglichkeit, entweder auf bereits bestehende Musik zurückzugreifen oder neue Musik speziell für den einzelnen Film zu komponieren. Die hier zu besprechenden Aspekte beziehen sich in erster Linie auf bestimmte Kompositionstechniken und beschreiben damit die Entstehung neuer musikalischer Elemente. Damit verbunden sind aber immer dramaturgische, ästhetische und narrative Überlegungen, deren Funktionalität auch auf den Einsatz von Musik, die unabhängig vom Film entstanden ist, übertragen werden kann. Die Verfahren stellen also insgesamt wichtige Begrifflichkeiten für die Analyse zur Verfügung. Zweitens bilden sie den Ausgangspunkt vieler einflussreicher Diskussionen und Studien. Die nachfolgende Auseinandersetzung verläuft entlang dieser beiden Linien und versucht so neben dem definitorischen Rahmen auch Einblicke in die damit einhergehenden Diskurse und Perspektiven zu geben. Grob ist zwischen Underscoring, Mood-Technik und Motivtechnik zu unterscheiden, die in der Praxis vielfach als Mischformen vorkommen (vgl. Kloppenburg 2017: 430). Alle drei sind in ihrer Entstehung historisch eng mit bekannten Komponisten für den Film wie Steiner, Korngold oder Newman verknüpft, spielen umsetzungstechnisch aber bis heute eine große Rolle (vgl. Buhler/Neumeyer/Buhler 2010: 17). Sie treten zumeist in Überschneidungen und Überlappungen auf, weil die Musik zwischen differenzierten Ausdrucksdynamiken und unterschiedlichen Positionierungen im Gesamtkontext wechselt. Das erste Verfahren, auf das es einen genaueren Blick zu werfen gilt, ist das sogenannte Underscoring. Bei dieser Technik geht es vor allem darum, »die Strukturen der Musik in motorische Parallelität zu Bewegung oder in ausdrucksmäßige Entsprechung von dargestellten Gefühlen« (Kloppenburg 2017 430) zu setzen. Die Dimension der Musik ist strukturell und inhaltlich also ganz eng an die Darstellungen und Effekte anderer filmischer Ebenen gebunden. Dahinter verbirgt sich das Prinzip der »musikalischen Deskription« (vgl. Schramm/Spangardt/Ruth 2017: 45). Diese Bezeichnung taucht vor allem in der deutschsprachigen Literatur auf und findet dort weitestgehend gleichwertige Anwendung. Im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit spielt sie allerdings keine unmittelbare Rolle. Die kurze Einführung zeigt aber insgesamt bereits einen wichtigen perspektivischen und konzeptuellen Aspekt auf. Mit Underscoring ist tendenziell die Untermalung, Unterstreichung und Verstärkung durch Musik gemeint. Sie entwickelt in dem Kontext dadurch keine eigenständige Ausdruckskraft, sondern tritt ergänzend und verdoppelnd hinzu. Zentraler Orientierungspunkt ist die (emotionale und/oder moto-
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rische) »Bewegung« auf Ebene des Bildes beziehungsweise der Dialoge. Für Kathlyn Kalinak (vgl. 2010: 62) ist das Verfahren deshalb vor allem ein Ergebnis jener Konventionen im Hollywood-Kino, die auf dem Prinzip »use of background music« basieren. Exemplarisch nennt die Autorin in dem Zusammenhang die Musik während eines Figurendialogs, die strukturell und hierarchisch ganz automatisch zur »subordination of music to speech« (ebd.) führt. An diesem Punkt ist das Phänomen des »vococentric cinema« deutlich zu beobachten. Dementsprechend gilt das weit verbreitet »dialogue underscoring« (Buhler/Neumeyer/Deemer vgl. 2010: 3) als Beispiel für eine Verflechtungsdynamik mit der Film-Sprache, die für die musikalische Dimension eine untergeordnete Untermalungsfunktion mit sich bringt. Schon die Bezeichnung deutet laut Tieber (vgl. 2017: 10) eine derartige Rangordnung an. Das Bewusstsein um diese Tendenz ist in der Auseinandersetzung mit solchen Musikeinsätzen von großer Bedeutung. Eine andere Analysekategorie in dem Umfeld kann die Frage nach dem Grad beziehungsweise nach der Ausprägung dieser Parallelität sein. Die »Film Music Studies« beschäftigen sich im Sinne des audiovisuellen Gesamtkunstwerkes deshalb mit sogenannten Synchronisationspunkten, um die gegenseitigen Erwartungshaltungen und Dynamiken zwischen Bild und Ton sichtbar zu machen (vgl. Tieber 2017: 9). Das Phänomen der Synchronisation spielt vor allem in den theoretischen Arbeiten von Michel Chion (1994) eine zentrale Rolle. Er führt den Begriff »point of synchronization« (oder auch »synch point«) ein und beschreibt damit filmische Momente, in denen »sound event« und »visual event« im vollkommenen Einklang zueinander auftreten (vgl. ebd.: 58). Die Annahme ist insgesamt aber eine eher theoretische, weil hundertprozentige Synchronität in der Praxis kaum existiert. Laut Tieber (vgl. 2017: 9) kann der Begriff deshalb »die Verbindung von Bild und Ton nur sehr ungenau« (ebd.) beschreiben. In dem Zusammenhang sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass Chion (1994: 65) selbst den »all-or-nothing way« ganz explizit ausschließt. Für ihn gibt es unterschiedliche Abstufungen auf der Skala von »losen« bis »engen« Beziehungen (vgl. ebd.: 64f). Zusätzlich dazu benennt er mithilfe der eigenständigen Wortkreation »synchresis« (bestehend aus synchronism und synthesis) das kognitive Phänomen eines spontanen, automatischen »Zusammendenkens« visueller und auditiver Reize, die zeitgleich stattfinden (vgl. ebd.: 63f). Chions Konzept versucht damit auch den dahinterstehenden Prozess des gegenseitigen Annäherns und Angleichens bei der Rezeption audiovisueller Medien zu fassen. Seine Arbeit ist für die »Film Music Studies« daher insgesamt von großer Bedeutung. Obwohl die Ausführungen zu »synch points« nicht unmittelbar auf Musik bezogen sind, sondern den auditiven Raum als Ganzes im Blick haben, hat eine Übertragung stattgefunden. Neumeyer (vgl. 2015: 51–54) orientiert sich in seinem vierstufigen Analyseverfahren beispielsweise wesentlich an den skizzierten Begrifflichkeiten. Auf die Methode wird etwas später noch näher eingegangen. An dieser Stelle geht es im nächsten Schritt jedoch um die Frage nach den spezifischen Erscheinungsformen von Underscoring. Ein Beispiel für besonders ausgeprägte Synchronität zwischen Musik und Bild ist das sogenannte »Mickey-Mousing«, das historisch mit dem 1933 erschienenen Film »King Kong« in Verbindung gebracht wird, für den der Österreicher Max Steiner die Musik schrieb und so seinen Karrieredurchbruch schaffte (vgl. Kreuzer 2003: 63f). Er gilt deshalb als Pionier dieser Technik, die auf möglichst perfekte Angleichung setzt und deshalb jede »Regung« des Films musikalische
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nachzeichnet. Dementsprechende Musikeinsätze gibt es vor allem in den frühen WaltDisney-Animationsfilmen, auf die auch der (durchaus bewusst abwertend gemeinte) Begriff zurückgeht (vgl. Kaczmarek/zu Hünningen 2012: o.S.). Das Verfahren ist eine ins Extrem ausgereizte Form des Underscorings und wird heute vielfach als »übertrieben und klischeehaft empfunden« (Kloppenburg 2017: 430), weil eine zu enge Bindung der Musik an die Bewegungsdynamik des Bildes im Regelfall einen komischen Effekt hat (vgl. Tieber 2017: 9). Synchronitäten auf diesem hohen Niveau sind aber dennoch keine Seltenheit. Auch zeitgenössische Filme setzen in bestimmten Situationen auf stark ausgeprägtes Underscoring. Die Kompositionstechnik spielt beispielsweise im Umfeld von Verfolgungsjagden nach wie vor eine große Rolle. Peter Moorman (2018) zeigt in seiner Analyse dieser filmischen »Standardsituation« (ebd.: 2), dass die musikalische Gestaltung in solchen Momenten – zusätzlich zur Anpassung an die genrespezifischen Anforderungen (Spannung und Angst im Horror, parodistische Heiterkeit in der Komödie usw.) – vor allem mit der Bewegung im filmischen Raum oder der Schnittfrequenz korrespondiert (vgl. ebd. 7–12). Insofern bleibt die Analysekategorie bestehen. In der Weiterentwicklung von kompositorischen Verfahren zur Untermalung, Verstärkung und Unterstreichung wurde es immer wichtiger, »die Charakterzüge der Protagonisten« und »die psychologische Stimmigkeit der Dialoge« darzustellen, wodurch eine »Psychologisierung des Films« stattfand und die« Filmmusik in ihrer dramaturgisch-narrativen Wichtigkeit gestärkt wurde.« (Kreuzer 2003: 75f) Aus dieser Anforderung heraus entwickelte sich ausgehend von Alfred Newman die sogenannte »mood technique« (vgl. ebd. 76). Die Musik vollzieht dabei nicht mehr »jede einzelne Regung des Bildgeschehens mit, sondern transportiert passend zu einer Handlungsabfolge einen in sich stimmigen musikalischen Gehalt« (Kloppenburg 2017: 431). Statt Synchronisationspunkte auf Ebene der »Bewegung« zu entwickeln, verschiebt sich die musikalische Perspektive in Richtung einer übergeordneten Atmosphäre. In dem Zusammenhang kann zwischen zwei grundlegenden Anwendungsmustern unterschieden werden. Auf der einen Seite gibt es expressive Musik, anhand derer die Stimmung der beteiligten Figuren vermittelt wird, auf der anderen Seite steht die sensorische Musik, die auf Unmittelbarkeit der körperlichen Erfahrung durch das Publikum abzielt (vgl. Schramm/Spangardt/Ruht 2017: 48). Auch dieser Differenzierungsversuch ist keineswegs absolut zu verstehen. Die Dynamiken überschneiden sich und treten zumeist in Mischformen auf. Sinnliche Wahrnehmung und Körperlichkeit sind in der Praxis oft schwer ausschließlich einer der beteiligten Kräfte (Film oder Publikum) zuzuordnen. An diesem Punkt setzen die filmphänomenologischen Überlegungen an, deren Position im filmtheoretischen Kosmos zu einem späteren Zeitpunkt näher diskutiert wird. Der kurze Querverweis an dieser Stelle soll lediglich zeigen, inwieweit die Auseinandersetzung mit kompositionstechnischen Verfahren immer auch perspektivische Fragestellungen mit sich bringt. Abseits davon offenbart die Mood-Technik, ob ihrer geringeren Bindung an die Bewegungsmuster und Dynamiken der anderen Filmelemente, im Vergleich zum Underscoring neue Ausdrucksmöglichkeiten, die über eine reine Verstärkung hinausgehen können. »Während die deskriptive Technik sichtbare Vorgänge tonmalerisch nachzeichnet und dadurch verdoppelt, vermittelt die Mood-Technik einen Gefühlsausdruck, eine nicht sichtbare Befindlichkeit, einen Affekt.« (Schramm/Spangardt/Ruth 2017: 47). Es entsteht also ein potentieller Raum für die Eigenständigkeit von Musik, indem diese von sich aus Bedeutung
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hinzufügt. Insofern ist als Unterkategorie des Verfahrens auf die Kontrapunkttechnik zu verweisen, bei der die musikalischen Elemente kontrastierend oder kommentierend eingreifen (vgl. ebd.). Im Hinblick auf die vorliegenden Fragestellungen ist ein Bewusstsein um diese Analysekategorie der »Film Music Studies« von besonderer Bedeutung. Eine dritte, weit verbreitete Form des Komponierens für den Film ist die Leitmotivtechnik. Dabei werden bestimmten »Personen, Handlungselementen oder Landschaften prägnante musikalische Gestalten zugeordnet« (Kloppenburg 2017: 431). Gemeint ist die kompositorische Arbeit mit Motiven und motivischen Bausteinen. Sie rücken als strukturelle Bezugspunkte ins Zentrum. Dem Verfahren wird im Hinblick auf seine Ausdrucksmöglichkeiten großes Potential attestiert, weil durch die Verknüpfungen und gedanklichen Verbindungen im zeitlichen Verlauf Bedeutungen entstehen können (vgl. Tieber 2017: 7), die dann »regelrecht abgerufen werden, auch wenn das Bezeichnete in der aktuellen Szene nicht im Bild ist« (Kloppenburg 2017: 432). Eine Besonderheit der Technik ist nämlich, dass sie zusätzlich zu den »vertikalen Beziehungen« zwischen Bild und Ton im jeweiligen Moment auch »horizontale« Zusammenhänge auf der Zeitachse herstellen kann (vgl. Schramm/Spangardt/Ruth 2017: 49f). Buhler und Neumeyer (2010: 17) argumentieren in eine ganz ähnliche Richtung: »The use of themes for narrative reference shows that music can provide new information under certain circumstances.« Dabei nennen sie emotionale Genauigkeit oder die Fähigkeit zur Organisation und Beeinflussung von Zeit als wichtigste Leistungen der Musik im Film (vgl. ebd.). Der Einsatz von Motiven, die an unterschiedlichen Stellen im Film auftauchen und dort auf andere Momente, Gefühlszustände oder Orte verweisen, beruht auf genau diesen beiden Phänomenen. Vor diesem Hintergrund wird die Leitmotivtechnik aufseiten der musikwissenschaftlich geprägten Ansätze auch im Hinblick auf strukturelle und kompositorische Parallelen zum musikalischen Ausdruck der Spätromantik und Richard Wagner diskutiert. Christoph Henzel (siehe 2004: 97–108) beispielsweise analysiert die motivische Arbeit von Max Steiner in »Casablanca« und Howard Shore zur »Herr der Ringe«-Trilogie. Er zeigt dabei, dass die Leitmotive in diesen Filmen Erinnerungen oder verborgene Gedanken und Gefühle transportieren und in ihrer melodischen Entwicklung teilweise eng miteinander verknüpft sind (vgl. ebd.). Obwohl Henzel musikstrukturalistisch zum Schluss kommt, dass »von einer Adaption von Wagners (…) Leitmotivtechnik keine Rede sein kann« (ebd.: 114), identifiziert er insbesondere im »Herr der Ringe« eine dramaturgische Ergänzung durch die leitmotivische Musik, die seiner Ansicht nach weit über eine reine Verdoppelung der visuellen Ebene hinausgeht (vgl. ebd.: 104). Seine Erkenntnisse und Beobachtungen zeigen also, dass über die grundsätzlich erweiterten Ausdrucksmöglichkeiten der Leitmotivtechnik innerhalb der »Film Music Studies« ein relativ breiter Konsens herrscht. Die Studie macht aber auch sichtbar, dass die Verwendung des Begriffes seit Jahrzehnten »häufig und heftig diskutiert« (Tieber 2017: 7) wird. Mervyn Cooke (vgl. 2010: 290f oder 88) merkt im »Hollywood Film Music Reader« an, dass die Motivtechnik für den Film vor allem ein praxisorientiertes Werkzeug zum Arbeiten unter hohem zeitlichen Druck geworden ist und ihr symbolisches Ausdruckspotential dadurch in der Regel nicht ausgeschöpft wird. Motivische Elemente werden daher »zumeist in einer vereinfachten Form eingesetzt« (Tieber 2017: 7) und in ihrer Anzahl stark reduziert, um vom Publikum besser mitverfolgt werden zu können (vgl. Schramm/Spangardt/Ruth 2017:
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50). Historisch taucht diese Kritik an den Hollywood-Praktiken bereits bei Adorno und Eisler auf (siehe dazu Krohn 2008b). Für Cooke (2010: 291) macht sie das im Gesamtkontext zu »musikalischen Lakaien« (ebd. 291). Vom eigenständigen Ausdruckspotential bleibt an dieser Stelle der Debatte also wenig übrig. Der an Komplexität und Vielschichtigkeit deutlich eingeschränkte Einsatz von Motiven unterscheidet das Verfahren von der gleichnamigen Kompositionspraktik im klassischen Musikbereich. Unabhängig von diesen Diskussionen ist die Leitmotivtechnik aber eine zentrale Beschreibungskategorie.
3.3 Das Verhältnis der Musik zur Erzählwelt Neben den Kompositionsverfahren gibt es ein zweites großes Diskursfeld, das fast jede Auseinandersetzung mit Musik im Film betrifft und für die Orientierung innerhalb der »Film Music Studies« deshalb von großer Bedeutung ist. Die Frage des Verhältnisses zwischen den musikalischen Elementen und der Erzählwelt beziehungsweise der Erzählung ist laut Tieber (2017: 7) sogar »von fundamentaler Bedeutung in jeder Analyse«. Im Umfeld dieser Debatte gibt es eine Vielzahl ähnlicher, sich teils überschneidender Begrifflichkeiten, die aber alle in einem Ansinnen vereint sind. Es geht ihnen um die Positionierung des Musikeinsatzes und die Beschreibung der Beziehung zum erzählten Geschehen. Ausgangspunkt ist die grundlegende Dichotomie zwischen »diegetisch« und »nicht-diegetisch«. Buhler, Neumeyer und Deemer (2010: 66) schreiben dazu: »At its most basic level, diegetic sound refers to everything that can be heard by characters in the film. Nondiegetic sound, by contrast, cannot be heard by the characters.« Historisch gesehen ist die Debatte um diese Analysekategorie relativ spät entstanden. Der wichtigste Impuls kommt dann von Claudia Gorman (1987), die in ihrem einflussreichen Werk »Unheard Melodies« erstmals mit dem Konzept der Diegese arbeitet und sich dabei an Etienne Souriau und Gerard Genette orientiert. Sie übernimmt die narratologische Idee zur Benennung der fiktionalen Erzählwelt (siehe Kapitel »Film-Narratologie«) und entwickelt so die Vorstellung einer »diegetischen Musik«, die als »music that (apparently) issues from a source within the narrative« (ebd.: 22) definiert ist. Gorbman legt damit den Grundstein für die zentrale Frage, ob sich ein musikalisches Element »nun in- oder außerhalb der filmischen Diegese befindet« (Tieber 2017: 8). Ihre Herangehensweise hat das Forschungsfeld in den letzten Jahrzehnten wesentlich geprägt und wurde zum wichtigsten Anknüpfungspunkt für viele narratologische Auseinandersetzungen mit Musik im Film. Aktuell wird der Diskurs beispielsweise von Guido Heldt (2013) intensiv weitergeführt. In seinem Buch »Music and Levels of Narration in Film« systematisiert er die unterschiedlichen Erscheinungsformen und Dynamiken der Beziehung zwischen Musik und Erzählung. Unabhängig von dieser theoretischen Entwicklungsgeschichte gibt es die grobe Unterscheidung zwischen »Begleitmusik, die ausschließlich für die Rezipienten erklingt«, und »Musikdarbietungen innerhalb der Filmhandlung« (Kloppenburg 2017: 432) in der Praxis aber natürlich schon viel länger. Die Begriffe »score« und »source-music« gehen darauf zurück (vgl. ebd. sowie Tieber 2017: 8) und siedeln sich grundsätzlich um die gleiche Fragestellung an. Auch sie hinterfragen die Positionierung der Musikeinsätze im Verhältnis zur Erzählwelt. Heute ist »score« in der Regel eine Bezeichnung für jene »Musik,
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die eigens für den Film komponiert« (Amann 2014: o.S.) wurde. Die Bedeutung hat sich also deutlich verschoben. Eine weitestgehende Parallelität gibt es nach wie vor zwischen »diegetischer Musik« und »source music«. Beide Termini fallen laut »Lexikon der Filmbegriffe« in die übergeordnete auditive Kategorie »Filmton, der von Objekten oder Akteuren in der erzählten Welt erzeugt wird« und »für die Akteure der Diegese selbst hörbar« (Wulff 2012a: o.S.) ist. Insofern gibt es (vor allem aus dem praxisnahen Umfeld der Filmmusikschaffenden) Stimmen, die gegen das narratologische Konzept der Diegese als Beschreibungskategorie argumentieren (siehe dazu Heldt 2013: 20). Nichtsdestotrotz tauchen die ursprünglichen Begriffe in der theoretischen Debatte heute kaum mehr auf. Auch die vorliegende Arbeit greift nicht unmittelbar darauf zurück, wenngleich die Auseinandersetzung damit einige wichtige Aspekte sichtbar macht. Die grobe Unterscheidung in »Begleitmusik« (score music) und Musik als Teil der Filmhandlung (source music) hat nämlich durchaus weitreichende theoretische Auswirkungen. Einerseits wird die analytische Perspektive auf die Sichtweise des Publikums reduziert und damit auf die Frage verengt, ob ein Element »nur« von den Rezipientinnen und Rezipienten oder auch von den handelnden Figuren zu hören ist, beziehungsweise »ob die Quelle der Musik nun im Bild ist (on) oder nicht (off)« (Tieber 2017: 7f). Diese auf den ersten Blick logische Differenzierung stößt relativ schnell an ihre Grenzen, wenn es um die musikalischen Gedanken einer Person innerhalb der Erzählwelt geht. Hinzu kommt zweitens, dass die beiden Kategorien von Vornherein eine gewisse Hierarchisierung suggerieren. Die »score music« wird tendenziell als begleitendes, hinzutretendes Element eingeordnet, während die »source music« durch ihre physikalisch-räumliche Nähe zur Erzählung (on-screen) stärkere Bindung an die Handlung zu haben scheint. Eine dementsprechende Annahme greift jedoch zu kurz und kann die vielschichtigen Dynamiken zwischen Musik und Erzählwelt nicht ausreichend abbilden. All das hat dazu geführt, dass die Begriffe in der theoretischen Entwicklung zunehmend ausdifferenziert wurden. Gorbman (1987) spricht bereits von »at least three levels of narration« (ebd.: 22) und kommt zum Schluss, dass es zusätzlich zur diegetischen Musik und deren Gegenstück einer »nicht-diegetischen« auch »meta-diegetische« Musikeinsätze im Film gibt. Als beispielhafte Situation nennt sie die Erinnerung einer Figur an eine frühere Begebenheit, auf die durch eine Melodie musikalisch verwiesen wird (vgl. ebd.: 22f). Dazu schreibt sie: »In a certain sense, we may hear it as both nondiegetic – for its lack of a narrative force – and metadiegetic – since (…) we are privileged to read his musical thoughts.« (Ebd.: 23) Die grobe Unterscheidung im Hinblick auf die Quelle der Musik löst sich dadurch etwas auf. Zur grundlegenden Differenzierung on-screen/off-screen beziehungsweise Teil der Diegese/außerhalb der Diegese kommt eine dritte Ebene hinzu, die sich sozusagen zwischen diesen beiden Polen bewegt. Buhler, Neumeyer und Deemer (vgl. 2010: 65–91) beschäftigen sich in »Hearing the Movies« intensiv mit den Facetten diegetischer und nicht-diegetischer Musik sowie dem konzeptuell verwandten Interaktionsverhältnis von Offscreen- und Onscreen-Sound. Die zentrale Erkenntnis ihrer Beobachtung ist, dass die musikalische Dimension problemlos und schnell vom einen Level in das andere wechseln kann. Ähnliche Gedanken verfolgt Robert Stilwell (2007), wenn er den »fantastical gap« (ebd.: 187) im Raum zwischen den Kategorien diegetisch und nichtdiegetisch identifiziert. Auch ihm geht es keineswegs um die Auflösung der Begrifflichkeiten, sondern darum, die ständigen Prozesse der Grenzüberschreitung sichtbar
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zu machen und auf den »transformative space« (ebd.: 200) als Ergebnis dieser Übertritte zu verweisen. Dabei zieht er Parallelen zu ähnlichen Dynamiken wie jener zwischen Objektivität und Subjektivität oder Empathie und Antipathie (vgl. ebd.: 189–197). Ein zentraler Gedanke seiner Arbeit ist, dass es keine fixen Positionen gibt und stattdessen konstante Bewegung zwischen den jeweiligen Achsen stattfindet. Mit einer solchen perspektivischen Überlegung, vor deren Hintergrund sich die strikte Unterteilung in diegetisch und nicht-diegetisch auflöst, tritt auch Ben Winters (2010) an die Frage heran. Er plädiert jedoch für ein deutlich erweitertes Verständnis von Erzählwelt, in dem sämtliche Elemente des filmischen Raumes verortet werden können. Kerngedanke seiner Arbeit ist die Vorstellung, dass die Musik das Produkt eines allumfassenden »narrative space« ist (vgl. ebd.: 227). Dadurch argumentiert Winters grundsätzlich gegen die Analysekategorie »nicht-diegetisch«. Auf seinen Ansatz wird im Kapitel zur Filmtheorie noch näher eingegangen. Auch ohne inhaltliche Vertiefung zeigen die angeführten Beispiele aber, dass die Diskussion um das Verhältnis von Musik und Diegese nach wie vor intensiv geführt wird und ausgehend von Gorbman sehr unterschiedliche Richtungen eingeschlagen hat. Die von ihr konzeptualisierten Begrifflichkeiten sind nach wie vor gültig und wichtige Anhaltspunkte bei der narratologischen Auseinandersetzung mit Musik im Film. Auf diese zentrale Stellung verweist auch Heldt (2013: 48), wenn er die »boundary between diegetic and nondiegetic music« als »main attractor for film music narratology« bezeichnet. Im Bewusstsein um die Vielschichtigkeit der Debatte versucht seine bereits einleitend erwähnte Arbeit »Music and Levels of Narration in Film« von musikwissenschaftlicher Seite kommend die Schlüsselkonzepte einer »film music narratology« systematisch zu kontextualisieren und als Analysewerkzeuge anwendbar zu machen. Auf diesem Wege diskutiert er eine Vielzahl narrativer Konstellationen zwischen Diegese und Musik. Im Hinblick auf nicht-diegetische Elemente zeigt er beispielsweise deren Funktion als kommentierende oder aus der Erzählwelt entstehende Stimme (vgl. ebd.: 64ff), thematisiert die Möglichkeit, dass Musikeinsätze auf psychologischer Ebene von einzelnen Figuren »gesteuert« werden (vgl. ebd.: 67f), und führt die ergänzende Kategorie »would-be-diegetic music« (ebd.: 68) ein, die ihrerseits trotz fehlender Quelle innerhalb der Diegese als ein Teil davon wahrgenommen wird. Aufseiten diegetischer Musik spielen seinen Ausführungen folgend zwei Begriffe eine wichtige Rolle. Die Erscheinungsform als »diegetic commentary« umfasst zunächst »music located in the diegesis, but used to comment on the story from a perspective that is not itself locatable in the diegesis« (ebd.: 84). Der Pop-Song, der auf einem Konzert erklingt und gleichzeitig inhaltlichen Bezug zum dargestellten Ereignis aufweist, wäre ein Beispiel hierfür. Demgegenüber steht mit dem sogenannten »source scoring« ein Bewusstsein um diegetische Elemente, die nicht kommentierend eingreifen, sondern schlichtweg auf Folgerichtigkeit und Kongruenz ausgelegt sind (vgl. ebd.: 85f). Vom Prinzip her handelt es sich also gewissermaßen um eine Form von »diegetischem Underscoring«. Alle hier angesprochenen Konstellationen verdeutlichen die Komplexität und Vielschichtigkeit des Verhältnisses zwischen Diegese und Musik. Hinzu kommt, dass sich Heldt im Hinblick auf die meta-diegetische Kategorie intensiv mit »representation of subjectivity through music in film« (ebd.: 124) beschäftigt. Er stellt dafür die narratologische Idee der Fokalisierung – also der Frage nach Wahrnehmungsperspektiven in einer Erzählsituation – zur Diskussion
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Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge
(vgl. ebd.: 119–133) und versucht so eine erweiterte Vorstellung dieses Aspekts zu entwickeln. Die Arbeit von Heldt ist ein Beispiel für die aktuelle Auseinandersetzung mit »film music narratology«, die in der Nachfolge von Gorbman entstanden ist. Die theoretische Debatte hat sich in dem Bereich also mittlerweile auf ein solides Fundament gestellt.
4 Vom Gestern ins Heute Mit den zentralen Begrifflichkeiten und Beschreibungskategorien vor Augen beginnt im nächsten Schritt eine Reise durch das Forschungsfeld, bei der Historie und Zeitgeist Hand in Hand gehen. Von den Anfängen einer theoretischen Beschäftigung mit Musik im Film ausgehend, soll ein Blick auf die daraus entstandenen Traditionen und Strömungen geworfen werden, bevor die heute vorliegenden Analysemethoden in den Fokus rücken. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich die Konturen der »Film Music Studies« und ihres aktuellen Erkenntnisstandes, von dem die vorliegende Arbeit auszugehen hat, immer deutlicher ab.
4.1
Die Anfänge
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass eine theoretische Tradition zur Musik im Film verhältnismäßig spät entstanden ist, obwohl auf ästhetischer Ebene musikalische Elemente bereits früh Teil des Mediums waren. Die (bewusste und unbewusste) Geringschätzung durch die Theorie zum Film über so viele Jahrzehnte hinweg hat zweifelsfrei auch mit dem spezifischen Musikeinsatz im sogenannten Stummfilm zu tun. Dort dominierte das Prinzip der musikalischen Hermeneutik, die davon ausgeht, dass Musikstücke nach »außermusikalischen« Bedeutungen kategorisiert und assoziativ entschlüsselt werden können (vgl. Tieber 2017: 5). In der Umsetzung dieser semantischen Vorstellung, die bekanntlich unmittelbar während der Filmvorführungen live stattfand, hat das oft zu einer sehr klischeehaften Gestaltung geführt. Ab den späten 1920er-Jahren sind zu diesem Zweck sogar Handbücher herausgegeben worden, die dann auch großen Einfluss auf die frühe Komposition für den Tonfilm hatten (siehe dazu Fuchs 2016). Der Trend zur Standardisierung hat zur Folge, dass der Musik eine untergeordnete, der Bildebene im Sinne des Underscorings nachgelagerte Rolle zugesprochen wurde. Die durchaus bewegte »Geschichte der Filmmusik« ist bereits in einer Vielzahl von Beiträgen dargelegt worden (siehe beispielsweise Cooke 2010, Kalinak 2010 oder Kreuzer 2003) und soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit, die ihren Fokus auf Hollywood-Filme nach 2000 legt, deshalb bewusst keinen größeren Raum einnehmen. Der Exkurs erscheint an dieser Stelle aber im Hinblick auf die historischen Anfänge der »Film Music Studies« relevant. In den 1930er-Jahren formierte sich nämlich »the first wave of film music criticism« (Kalinak 2010: 16), die – beeinflusst von den sowjetischen Filmemachern und Theoretikern Sergej Eisenstein, Vsevolod Pudovkin und Gregori Alexandrov (siehe Abschnitt zur Filmtheorie) – zunehmend gegen die angesprochene Unterordnungstendenz des musikalischen Tons aufgetreten ist (vgl. ebd.). Aus diesem Umfeld heraus entstand etwas mehr als zehn Jahre später die bis heute einflussreiche Schrift »Kom-
Zum Einstieg in die Film Music Studies
position für den Film« (Originaltitel »Composing for the Film«) von Theodor Adorno und Hanns Eisler (1969). Der 1947 erstmals in New York erschienene Text (vgl. Krohn 2008: 191) gilt als »groundbreaking« (Kalinak 2010: 17) und markiert den Beginn einer eigenständigen Theorie zur Musik im Film. Die beiden Autoren legen darin ihre »Vision (…) einer emanzipierten Filmmusik« dar, die »den Film als autonomes Kunstwerk ergänzt und (…) nicht bloß zum manipulativen Beiwerk degradiert« (Krohn/Tieber 2011: 145) wird. Als adäquates Mittel für die Umsetzung dieses Anspruchs wird die Neue Musik ins Zentrum gestellt, die durch Auflösung von Tonalität und klassischen Ausdrucksformen die als klischeehaft empfundenen Elemente einer spätromantisch geprägten Komposition für den Film ersetzen sollen (vgl. Krohn 2008: 192). Ihre auf diesem Wege formulierte, »fundamentale Kritik an der filmmusikalischen Praxis des kommerziellen Tonfilms der vierziger Jahre (…) bleibt bis heute aktuell« (Krohn/Tieber 2011: 145), weil die dahinterstehenden Forderungen und Bedenken im Kern nach wie vor eingebracht werden können. Ein erster Blick auf die Anfänge der »Film Music Studies« offenbart also zwei Dynamiken. Einerseits hat sich die Filmtheorie lange Zeit nicht wirklich intensiv mit der Musik als Teilaspekt beschäftigt, weil ihr eine filmästhetische Nebenrolle zugeschrieben wurde. Gleichzeitig entstand aber etwas später gerade im Nahbereich der aufkommenden Kritik an eben diesem System ein neues, eigenständiges Diskursfeld. Eine zweite Stimme, die in ähnlicher Weise mit den Ursprüngen verbunden wird, ist Zofia Lissa. Ihr Buch »Ästhetik der Filmmusik« (1965) gilt als das »einflussreichste Werk zur Filmmusikanalyse« (Krohn/Tieber 2011: 145). Lissa entwirft darin eine umfangreiche Theorie zur Musik im Film und ermöglicht damit erstmals die konkrete, systematische Beschreibung des Phänomens. Die Arbeit muss deshalb als Grundlage vieler heute existierender Systematisierungs- und Beschreibungsversuche betrachtet werden. Für ihre Herangehensweise sind zwei Überlegungen prägend. Erstens wird der Film als »synthetische Kunstform« verstanden, die als Einheit erst im Zusammenwirken unterschiedlicher Elemente (Bild, Dialog, Musik usw.) entsteht und auf diesem Wege ein sogenanntes »Gesamtkunstwerk« bildet (vgl. Krohn 2008: 186f). Damit verbunden ist zweitens die Vorstellung von Musik als »Teilaspekt des Gesamtkunstwerkes Film, der im Verlauf seiner Geschichte eine fortwährende Emanzipation von der visuellen Ebene erfahren habe und dabei in wachsendem Maße eigene Mittel entwickele« (Krohn/Tieber 2011: 145). Im Zentrum des Ansatzes steht also das Bewusstsein um eine übergeordnete Gesamtheit als Resultat des Ineinandergreifens auditiver und visueller Elemente, die ihrerseits grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander existieren. Weil die Musik dadurch nicht mehr für sich steht, verliert sie ihre Autonomie als zentrales Objekt und muss stattdessen als eigenständige Kunstform verstanden werden, deren Gesetze sich von jenen der autonomen Musik unterscheiden (vgl. Krohn 2008: 187f). Diese grundlegenden theoretischen Erkenntnisse bringen auch einen methodischen Perspektivenwechsel mit sich. Fragen zu den unterschiedlichen Dynamiken, Verhältnissen und Funktionsweisen müssen nicht mehr »durch musikwissenschaftliche Analysen der Filmmusiken, sondern durch die Analyse der Zuordnung der auditiven zur visuellen Schicht« (ebd.: 186). beantwortet werden. Insgesamt entwickelt Lissa so ein regelrechtes Bündel von Paradigmen und Prinzipien, die in den »Film Music Studies« bis heute ihre Gültigkeit haben. Auch die vorliegende Arbeit knüpft im Kern daran an.
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Zusätzlich dazu hat die Autorin im Rahmen ihres Schaffens eine Vielzahl von Beschreibungskategorien eingeführt, die das Forschungsfeld wesentlich beeinflusst haben. Bereits einige Jahrzehnte vor »Ästhetik der Filmmusik« unterteilt Lissa die visuelle und auditive Schicht des Films in vier sogenannte »Sphären« – aufseiten des Tons sind das Musik, Geräusch, Rede und Stille (vgl. Krohn 2008: 198f). Allein dieses Beispiel zeigt ihren großen Einfluss, denn die einleitend skizzierten »Soundtrack«-Bestandteile sind heute im Verhältnis zu Lissas Vorstellung der auditiven Dimension eigentlich eine Verkürzung, weil das Gestaltungselement der Lautlosigkeit ausgeklammert wird. Beim Rest der Kategorisierung fand hingegen eine weitestgehende Übernahme statt. Ähnliches gilt im Umfeld der Funktionen. Lissa hat sich diesem Thema durch ihre Beschäftigung mit den Verhältnissen und Dynamiken sehr intensiv gewidmet und systematisch verschiedenste Funktionsweisen herausgearbeitet. Nach ihr entstand laut Tieber (2017: 3) dahingehend »eine regelrechte Kategorisierungswut«. Auf die heutige Dimension dieser Debatte wird etwas später noch näher eingegangen. Lissa verweist in ihrer Auseinandersetzung mit dem Phänomen Musik und Bild unter anderem auf die illustrativen Funktionen, die mit der Synchronität im Bewegungsrhythmus spielen (vgl. Krohn 2008: 190f), indem eine »Übertragung der Struktur einer visuellen Erscheinung auf das Klangmaterial« (ebd.: 190) stattfindet. Im weitesten Sinne geht es also um den Einsatz von Underscoring und Mickey-Mousing. Lissa findet mit ihren Funktionsbeobachtungen so auch Anschluss an die Diskussion der Verfahren und Techniken. Ein anderer Aspekt ihrer Analyse ist die räumliche Dimension. Auf dieser Ebene hat Lissa die Erzeugung eines Raumgefühls als zentrale Aufgabe der Musik identifiziert (vgl. ebd.: 192). Parallel dazu hat sie systematisch gezeigt, dass musikalische Elemente unterschiedliche Formen der Zeit repräsentieren können und so zwischen den Zeitlinien vermitteln (vgl. ebd.: 193). Beide genannten Dynamiken wurden später durch andere Arbeiten lediglich ergänzt und ausdifferenziert, behielten aber bis heute ihre grundsätzliche Gültigkeit. Auch das veranschaulicht den weitereichenden Einfluss des Ansatzes. Darüber hinaus vertritt Lissa die These, dass aus dem vielfältigen Zusammenspiel von Musik und Film eine Ausdruckskraft entsteht, zu der beide Künste allein nicht fähig wären (vgl. ebd.: 194). In dieser Hinsicht denkt sie durchaus ähnlich wie Adorno/Eisler (vgl. Krohn/Tieber 2011: 145) und traut der Musik damit eine insgesamt stärkere Rolle im filmästhetischen System zu. Lissa agiert in dem Zusammenhang jedoch deutlich pragmatischer und berücksichtigt die Gesetzmäßigkeiten und Aufgaben funktionaler Musik im kommerziellen Film. Einen ganz ähnliche Richtung schlägt die bereits angesprochene Arbeit von Gorbman (1987) ein. Ihr Buch »Unheard Melodies« zählt im Sinne einer zeitlichen Einordnung zweifelsfrei nicht zu den frühen theoretischen Beiträgen, nimmt als Meilenstein retrospektiv aber eine ganz zentrale Position ein und markiert damit den Beginn einer »modernen« Theorie zur Musik im Film. Es soll an dieser Stelle deshalb einen dritten Orientierungspunkt im Hinblick auf die Wurzeln der heutigen »Film Music Studies« bieten. Der historisch relevante Zeitraum streckt sich damit von Adorno/Eisler im Nachkriegsjahr 1947 über Lissa, deren Standardwerk 1965 veröffentlicht wurde, bis in die 1980er-Jahre. Der große Einfluss von »Unheard Melodies« auf die narratologischen Auseinandersetzungen ist bereits rund um die Frage der Diegese angedeutet geworden. Die Auswirkungen ihrer Arbeit gehen aber weit über diesen Teilaspekt hinaus. Gorbman
Zum Einstieg in die Film Music Studies
(vgl. 1987: 70–98) beschreibt unter anderem die ästhetischen Gestaltungsprinzipien der Musik im klassischen Hollywood-Kino, das sie als »dominant (…) narrative cinema« (ebd.: 70) bezeichnet. Vor dem Hintergrund ihrer dahingehenden Beobachtungen ordnet sie die Kritik am kommerziellen System von Adorno und Eisler, die stattdessen eine progressive und emanzipatorische Kompositionsweise für den Film fordern, explizit als praxisfern ein (vgl. ebd.: 108f). Gorbman plädiert stattdessen konsequent für den Ansatz, Musik im Film mit eigenständigen Kriterien zu analysieren, die sich von jenen der autonomen Musik unterscheiden. Außerdem soll ihre Funktionalität immer im Zusammenspiel mit anderen filmischen Elementen betrachtet werden. An der Stelle zeigt sich die Verbindung zu Lissas Ansatz. Von diesem Paradigma ausgehend entsteht ein Interesse am Prozess der Bedeutungsproduktion. Gorbman (vgl. ebd.: 12f) identifiziert in der Hinsicht drei musikalische Codes (pure musical, cultural musical und cinematic musical), durch die auf unterschiedlichen Ebenen »meaning« konstruiert und repräsentiert werden kann. In der Analyse sind das bis heute wichtige Beschreibungskategorien (siehe Tieber 2017: 4f). Vor allem entwickelte sich in dem gedanklichen Umfeld aber ein völlig neues Bewusstsein um die Rolle der Musik als Element des filmischen Erzählens. Gorbman (1980: 203) schreibt dazu bereits in einem früheren Text: »[T]he connotative values which music carries, via extratextual cultural determinations and also through textual repetition and variation, in conjunction with the rest of the film’s sound-track and visuals, largely determine atmosphere, shading, expression, mood.« In der Folge spricht sie deshalb von »music as a narrational force in film« (ebd. 1987: 162). Gorbman hat die »Film Music Studies« in all diesen Bereichen ganz wesentlich beeinflusst und geprägt. Durch sie kam es zu einer zunehmenden »Konzentration auf das klassische Hollywood-Kino« (Krohn/Tieber 2011: 146) und einer intensiven Beschäftigung mit den narrativen Funktionen. Ihre Arbeit hat aber auch für viel Kritik und eine durchaus vielschichtige Rezeption gesorgt. Die bereits im Titel »Unheard Melodies« angedeutete These eines unbewussten Hörens, die sich rund um Gorbmans Ausführungen zu den Gestaltungsprinzipien im kommerziellen Film deutlich manifestiert, hat innerhalb des Forschungsfeldes Irritation ausgelöst, weil sie von einer Unterordnungstendenz der Musik ausgeht. Buhler, Flinn und Neumeyer (2010: I) schreiben beispielsweise: »Claudia Gorbman has reminded us that narratological study of film music inevitable leads to the conclusion that, in classical sound films at least, music is subordinated to narrative«. Das hier vorgebrachte Argument ist zwar faktisch richtig, muss aber von einer zweiten Seite beleuchtet werden. In der Einleitung zu »Unheard Melodies« heißt es dazu ganz konkret: »Music is subordinated to the narratives’s demand.« (Gorbman 1987: 2). Gorbman spricht nicht von einer Hierarchie der filmischen Elemente, innerhalb derer die Musik eine nachgelagerte Rolle einnimmt, sondern geht von der neoformalistisch geprägten Annahme aus, dass grundsätzlich alle Bestandteile dem Zweck der Narration als höchste Instanz dienen (siehe dazu Kapitel 7). Insofern ist die dahingehende Kritik etwas zu differenzieren. Im Rahmen dieses theoretischen Verständnisses können die musikalischen Elemente nämlich unter anderem Bedeutungen vermitteln, wesentliche Informationen zur Stimmung und Atmosphäre liefern oder die dramaturgische Erzählstruktur beeinflussen. Tieber und Krohn (2011: 147) erteilen dem Einwand daher einer relativ deutliche Absage: »Angesichts dieser mannigfachen narrativen Funktionen lässt sich wohl kaum von einer untergeordneten Rolle der Musik sprechen.« Unabhängig von der grundsätzlichen Einschränkung, dass eine narratologi-
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sche Auseinandersetzung »nicht das gesamte Spektrum der Funktion von Musik und Sound im Film« (ebd.) abbilden kann, zeigt sich in dem Zusammenhang also die Wirksamkeit von Gorbmans Zugang, über den ein weitläufiges und erkenntnisreiches Betätigungsfeld für die moderne »Film Music Studies« erschlossen wurde.
4.2
Aktuelle Strömungen und Traditionen
Das Standardwerk »Unheard Melodies« war inhaltlich bereits einige Jahre vorher beinahe vollständig entwickelt und entspringt historisch deshalb dem Umfeld der »Yale French Studies«. Das bis heute existierende, renommierte US-amerikanische Journal widmete seine 60. Ausgabe im Jahr 1980 dem Thema »Cinema/Sound«. Die Zielsetzung der Publikation gibt Gast-Herausgeber Rick Altman (1980: 3) in der Einleitung aus und verweist dabei auf die auch zu dieser Zeit nach wie vor dominante Geringschätzung der Musik im filmtheoretischen Diskurs: »More than half a century after the coming of sound, film criticism and theory still remain resolutely image-bound. (…) With each new visually oriented analysis, with each new image-inspired theory, ilm study’s exclusive image orientation gains ground. The role o this issue of Yale French Studies is thus remedial; by concentration attention on a neglected area it will perhaps suggest new directions and possibilities for a more integrated approach to the entire film experience.« Anhand des Kontextes lässt sich also schon auf die Bedeutung dieses Moments für die »Film Music Studies« schließen. Das Betätigungsfeld erhält eine große Bühne und damit gesteigerte Aufmerksamkeit – vor allem im englischsprachigen Raum. Die Schriftensammlung markiert daher den Ausgangspunkt der aktuellen Forschung. Gorbmans Beitrag mit dem Titel »Narrative Film Music« ist ein Teil davon und steht dort an der Seite von einflussreichen Persönlichkeiten wie Christian Metz, Dudley Andrew, Kristin Thompson oder David Bordwell. Der Text bildet die spätere Grundlage für »Unheard Melodies«. Insofern erklärt sich die historisch wichtige Stelle, an der dieses Standardwerk steht. Mit Kathryn Kalinak gibt es aber noch eine zweite Stimme, die eine von den »Yale French Studies« ausgehende Strömung in weiterer Folge repräsentiert und ganz ähnliche Thesen wie Gorbman vertritt. »Settling the Score« (1992) ist ein Buch, das sich ebenfalls mit den Funktionsweisen von Musik im klassischen Hollywood-Score beschäftigt und dabei den Ansatz einer Unterordnungstendenz im Verhältnis zum Prozess der Narration vertritt. Kalinak (vgl. 1992: 29f) geht konzeptuell von einer »Interpendenz« zwischen visuellen und musikalischen Elementen aus. Die beiden Ebenen sind bei ihr daher engstens miteinander verknüpft und beeinflussen sich gegenseitig. In diesem Sinne setzt Kalinak (ebd.: 30) die Überlegungen zur Musik als »narrational force« unmittelbar fort: »Narrative is not constructed by visual means alone. By this I mean that music works as part of the process that transmits narrative information to the spectator, that it functions as a narrative agent.« Auch hier bezieht sich die angesprochene Unterordnungsdynamik also lediglich darauf, dass alle Bestandteile des Films der Narration dienen. Im Hinblick auf die Hierarchie zwischen Bild und Musik vertritt Kalinak (ebd.) nämlich ein Modell »in which music and image share shaping perception«. Insofern plädiert sie für eine
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neue Terminologie beim Beschreiben dieser Verhältnisse: »Language that suggests music reinforces, emphasizes, contradicts, or alters the image falls into this trap.« (Ebd.) An der Stelle zeichnet sich die theoretische Grundausrichtung besonders deutlich ab. »Settling the Score« wurde damit zum vermutlich einflussreichsten Werk in der Nachfolge von »Unheard Melodies«. Eine zweite, große Strömung der englischsprachigen »Film Music Studies« entsteht im Umfeld der University of Texas. James Buhler, David Neumeyer und Rob Deemer legen mit »Hearing the Movies« (2010) einen eigenständigen und systematischen Ansatz vor, der als »texanische Schule der Filmmusikforschung« (Krohn/Tieber 2010: 148) bezeichnet werden kann. Konzeptuelles Kernanliegen ist es, die Musik nicht als isolierten Bestandteil, sondern als in das Filmerleben integriertes Element zu betrachten (vgl. Buhler/Neumeyer/Deemer 2010: xxii + xxiii). Sie sprechen in dem Zusammenhang von »musicality of the sound track as a whole« (ebd. xxiii) und entwickeln so ein weitgefasstes Bewusstsein um die Wirksamkeit von Verhältnissen in alle Richtungen. Die Analyse bringt dadurch »music into the context of sound, and sound into the context of the whole film« (ebd.: xxiii), anstatt sich auf die reine Bild-Musik-Beziehung zu konzentrieren. Diese Erweiterung setzt den eingeschlagenen Weg einer Abkehr von musikwissenschaftlichen Methoden konsequent fort. Die Arbeit ist aber auch deshalb zu einem einflussreichen Beitrag der aktuellen Forschung geworden, weil sie sich ganz konkret an Studierende und Interessierte über den spezifischen Fachbereich hinaus richtet. Die Autoren schreiben dahingehend: »By the end of the book, then, you should have reached the stage where you can not only watch but also listen to historical and contemporary fi lms and write productively about them in terms of sound and music.« (Ebd.: xxiii) In diesem Sinne beschäftigen sie sich – vor allem im ersten Teil des Standardwerkes – mit einer Vielzahl von Begrifflichkeiten und Beschreibungskategorien. »Hearing the Movies« diskutiert die einzelnen Komponenten der auditiven Ebene (vgl. ebd.: 11–20), verweist auf die wichtigsten musikstrukturalistischen Bausteine, um die angesprochene »musicality« fassen zu können (vgl. ebd.: 34–64), berücksichtigt die narratologischen Ideen zur Diegese (vgl. ebd. 65–91) und stellt intensive Überlegungen zum analytischen Schreibprozess über die auditive Dimension des Film an (vgl. ebd.: 114–128 und 234–244). Außerdem ist der Ansatz durch ein großes Interesse an der »interdependence of technology and aesthetics throughout the course of film history« (ebd.: xxiii) geprägt, um die sich der dritte Teil des Buches dreht. Die »Texanische Schule« – zu der auch Caryl Flinn als Mitherausgeberin des Vorgängerwerkes »Music and Sound« (2000) gezählt werden muss – richtet ihren Fokus damit ganz bewusst auch auf andere Aspekte der Funktionalität, ohne die narrativen Dynamiken dabei unberücksichtigt zu lassen. Mit »Meaning and Interpretation of Music in Cinema« gibt es aber noch einen zweiten, einflussreichen Beitrag aus diesem Umfeld. Das Buch entstand in einer Zusammenarbeit von Buhler und Neumeyer, der als Hauptautor agiert, und verlieh beiden eine wichtige Stimme innerhalb der »Film Music Studies«. Einerseits wird darin eine konkrete Analysemethode in vier Schritten entwickelt (vgl. Neumeyer 2015: 51–54). Auf dieses spezifische Werkzeug wird etwas später noch näher einzugehen sein. Zusätzlich dazu beschäftigt sich Neumeyer (vgl. ebd.: 3ff und 11ff) mit der Hierarchie innerhalb der auditiven Ebene und trifft im Hinblick auf die Dominanz der Sprache seinen bereits angesprochenen Befund zum »vococentric cinema«. Ein anderer zentraler Aspekt sind
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die im Rahmen der Analyse herausgearbeiteten Erkenntnisse zum Verhältnis zwischen Offscreen/Onscreen und diegetischem/nicht-diegetischem Sound (vgl. ebd.: 79ff). Der Autor schlüsselt dabei die Komplexität der narrativen Ebenen innerhalb einer Matrix auf und ergänzt sie um die »axis of psychological realism«. Jenseits dieser Linie – also im Bereich des psychologischen Inneren und der subjektiven Figurenwahrnehmung – gilt die Musik demnach als »particularly powerful« (ebd.: 79). Im Hinblick auf die Funktionsweise ist das eine wichtige Beobachtung und stellt eine perspektivische Erweiterung dar. Zusätzlich dazu weist die »Texanischen Schule« nicht-englischsprachige Einflüsse auf. Neumeyer und Buhler beziehen sich nämlich intensiv auf Thesen und Konzepte von Michel Chion. Einerseits spielen dessen bereits skizzierte Überlegungen zur Synchronität eine große Rolle im Analysemodell. Zweitens wird immer wieder mit der Vorstellungen eines »akustischen Seins« beziehungsweise einer »akustischen Präsenz« gearbeitet. Chion (vgl. 1999: 21) hat in dem Zusammenhang den Begriff »acousmetre« eingeführt und veranschaulicht das damit bezeichnete Phänomen anhand einer Stimme, die über das Telefon zu hören ist. Diese Idee einer ausschließlich auditiv repräsentierten Einheit wurde von den »Film Music Studies« übernommen und taucht als konzeptuelle Beschreibungskategorie in vielen Analysemodellen auf. Neumeyer (vgl. 2015: 81–84) greift im Rahmen seiner Ausführungen zur »axis of psychological realism« mehrfach darauf zurück. Obwohl die Ansätze von Chion einen beinahe eigenständigen Strang der Auseinandersetzung darstellen und besonders vielschichtig rezipiert wurden, kann an der Stelle also auf diesen theoretischen Diskurs verwiesen werden. Alle skizzierten Strömungen sind aus einem musik- und filmwissenschaftlich geprägten Umfeld heraus entstanden. Parallel dazu hat sich im letzten Jahrzehnt aber ein Zugang entwickelt, der aus einer ganz anderen Richtung kommt. Amy Herzog (2010) beschäftigt sich in ihrem Buch »Dreams of the Difference. Songs of the Same« mit filmischen Momenten, in denen die Hierarchie zwischen Bild und Musik umgekehrt wird und sie als dominierende Kraft in Erscheinung tritt. Sie nennt diese Dynamiken dann »musical moments« (vgl. ebd.: 6f). Die Autorin begründet ihre Analyse auf der Philosophie von Gilles Deleuze. Dem folgend betrachtet Herzog (2010: 24) Filme unter anderem als »mobile Assemblagen«. Sie schreibt dazu: »Rather than conceiving of each component as a concrete building block, it allows for shifting and multiple conglomerations of elements that are themselves dynamic and mobile. A film cannot be distilled to an analyzable structure that orginates from outside itself. Instead, each film image is contingent, particular, and evolving.« Die Arbeit ist also um neue Beschreibungskategorien und Analysekonzepte bemüht und findet diesen im philosophischen Diskurs. Denselben Weg geht Gregg Redner (2011) in seinem Buch »Deleuze and Film Music«. Im Sinne des französischen Denkers versteht er Philosophie als offenes »toolkit (…) to solve conceptual problems« (ebd.: 20) und versucht mit diesen Werkzeugen einen neuen methodologischen Ansatz zu entwickeln. Redner analysiert die Interaktion von Bild und Musik in sechs Fallbeispiele und greift dabei auf deleuze’sche Überlegungen zum nomadischen Subjekt oder zum Refrain zurück. Auch Iakovos Steinhauer (2018) liefert einen ähnlichen Ansatz. Er beschreibt grundsätzliche Aspekte der Relation zwischen Musik und Film ebenfalls anhand der Dynamiken von Territorialisierung und Deterritorialisierung (vgl. ebd.: 107–193). Beide leiten sich aus dem Ritornell/Refrain-Konzept ab. Deleuze und Guattari (vgl. 1987: 333f) erklären das
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angesprochene Phänomen in »A Thousand Plateaus« sehr eindrücklich mit der berühmt gewordenen Metapher des Kindes in der Dunkelheit, das aus Angst ein Lied vor sich hinsingt und damit einen inneren Ort der Ruhe und Stabilität schafft, diesen schutzbietenden »Raum« in einem zweiten Schritt dann auf andere Bereiche überträgt, um auch dort sicheres »Territorium« zu finden, und von dort ausgehend schlussendlich wieder Fluchtpunkte nach außen sucht. Steinhauer (2018: 112) überträgt diese philosophische Idee auf seine Analyse und stellt beispielsweise folgende Beobachtung an: »Die Erschaffung von Anfangsimpulsen einer (musikalischen) Ordnung im filmischen »Chaos« wäre ein erster Bereich, wo die Wirkung der Tonkunst auf die Organisation der visuellen Welt des Films kenntlich wird.« Der Autor erklärt sich die Funktion der Musik einer Einleitungssequenz also damit, dass diese im chaotischen Moment des Beginns einen stabilisierenden, territorialen Ruhepunkt darstellt – ähnlich dem Lied, das das Kind zur eigenen Beruhigung in der Dunkelheit summt. Ohne sich in den komplexen Gedanken von Deleuze und Guattari zu verlieren, zeigt das Beispiel die Stoßrichtung dieser Strömung innerhalb der »Film Music Studies«. Die klassischen Beschreibungsmodelle und Analysekategorien werden durch Gedanken und Konzepte aus dem Umfeld der Philosophie angereichert und bieten so neue Erklärungsgrundlagen. Die drei bisher genannten Zugänge können durchaus als grobe Wegweiser durch die letzten Jahrzehnte verstanden werden. Sie zeichnen die Weiterentwicklung des von Gorbman eingeschlagenen Weges nach, der sich im Hinblick auf das vielfältige Interesse an unterschiedlichen Funktionsweisen zunehmend ausdifferenziert hat. Dabei ist perspektivisch das Bewusstsein um die Interaktionen und Relationen zwischen Musik und den anderen filmischen Elementen beziehungsweise dem Film als Ganzes immer wichtiger geworden. Alle drei Ansätze sind in dieser Sache vereint. Hinzu kommt in einem letzten Schritt, dass den offenen Fragen heute teilweise mit konzeptuellen Ideen begegnet wird, die nicht aus dem unmittelbar angrenzenden, theoretischen Nahbereich entlehnt sind. Daraus entsteht beispielsweise der Rückgriff auf die Philosophie. Die vorliegende Arbeit knüpft mit ihren inhaltlichen Fragestellungen und mit der eigenen Ausrichtung an diesem Gesamtbild an. Sie hat ein ausgeprägtes Interesse am komplexen Phänomen der musikalischen Funktionalität im Hollywood-Film, ist mit Gorbman oder Kalinak in der grundsätzlichen Annahme vereint, dass alle Bausteine des (narrativen) Films im Verhältnis zur Narration betrachtet werden müssen, schätzt die praxisorientierte Herangehensweise der »Texanischen Schule«, die durch ihr erweitertes Kontextbewusstsein neben den narratologischen auch andere Aspekte beleuchten kann, und ist offen für die Möglichkeiten und Potentiale nicht-filmtheoretischer Erklärungsmodelle. Insofern bilden die drei skizzierten Positionen den großen gedanklichen Rahmen. Ihnen wurde an dieser Stelle dementsprechend mehr Platz eingeräumt, um auf diesem Wege auch einen allgemeinen Überblick zum Forschungsfeld geben zu können. Neben diesen ausgewählten Knotenpunkten gibt es aber natürlich noch eine Vielzahl an kleineren, ebenso einflussreichen Impulsen. Als Gegenbewegung zur Fokussierung auf den klassischen Hollywood-Score sind in den letzten Jahren zwei dominante Forschungsstränge entstanden. Einerseits gibt es ein zunehmendes Interesse an der Musik in lokalen oder auch nicht-westlichen Filmen. Ein aktueller Beitrag in dem Bereich kommt beispielsweise von Phil Powrie (2017), dessen Buch »Music in Contempora-
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ry French Cinema – The Crystal-Song« einen analytischen Blick auf das zeitgenössische französische Kino wirft und dabei ebenfalls mit theoretischen Konzepten der Philosophie von Deleuze arbeitet. Im Hinblick auf ein sogenanntes »World Cinema« (Krohn/ Tieber 2011: 152), das über die Grenzen von Europa und den USA hinausblickt, gibt es neuere Abhandlungen zum populären indischen Kino des 20. Jahrhunderts (Booth 2008) oder einen umfangreichen Sammelband von Mark Slobin (2008), in dem Länder wie Brasilien, Mexiko oder Indonesien einzeln betrachtet und schlussendlich mit der Musiktradition des westlichen Films verglichen werden. Die zweite Alternative zur Dominanz von Hollywood ist die historische Auseinandersetzung mit der StummfilmÄra. Neben Fuchs (2010), die sich mit der im »Allgemeinen Handbuch der Film-Musik« vertretenen Praxis der 1920er-Jahren beschäftigt, zeigt sich die Aktualität dieses Diskursfeldes auch im »Oxford Handbook of Film Music Studies« (Neumeyer 2010). Unter dem Schlagwort »Historical Issues« setzen sich Michael Pasani, Julie Brown oder Nathan Platte (alle 2010) aus unterschiedlichen Richtungen kommend dort intensiv mit der Materie auseinander. Eine ebenfalls große Tradition innerhalb der »Film Music Studies« haben Forschungen, die sich mit Wirkung, Wahrnehmung und rezeptiven Effekten auseinandersetzen. Ein überwiegender Teil dieser Arbeiten entsteht im nahen oder erweiterten Umfeld der Psychologie und arbeitet mit dementsprechenden Methoden. Hans M. Kepplinger (2011) setzt sich in seinem Beitrag zum »Einfluss von Musik auf die Interpretation von Filmhandlungen« anhand einer experimentbasierten Studie mit der durch Musik beeinflussten Wahrnehmung des Films auseinander. Er legt der Forschung unter anderem Lern- und Emotionstheorien zugrunde. Einen explizit kognitivistisch geprägten Ansatz vertritt Annabel Cohen (2014), die mit dem Congruence-Associationist-Model (C-A-M) arbeitet. Sie kann dadurch zeigen, wie Musik als ein Informationsbaustein funktioniert und bestimmte Teile davon unbewusst wahrgenommen oder eben ignoriert werden. Dagmar Unz, Frank Schwab und Jelka Mönch (2008) beschäftigen sich mit den Auswirkungen der Musik auf das emotionale Erleben eines Films und fundieren ihre Versuche auf emotionspsychologischen Überlegungen. Benjamin Nagari (2016) wiederum entwirft eine psychoanalytische Perspektive und greift dabei vor allem auf Carl Gustav Jung zurück. Der kurze Überblick deutet in komprimierter Form die Vielfalt der Zugänge an. Die einflussreichste Stimme in dem Bereich kommt aber von Claudia Bullerjahn (2001). An der komplexen Schnittstelle von Musikwissenschaft, Filmtheorie und Psychologie gelegen, ist ihr zentrales Buch »Grundlagen der Wirkung von Filmmusik« eine empirisch fundierte Auseinandersetzung mit den Funktionsweisen und Wahrnehmungseffekten. Es zählt heute zu den modernen Standardwerken. Abschließend soll an dieser Stelle eine letzte Traditionslinie im Umfeld der deutschsprachigen Forschung zur Musik im Film sichtbar gemacht werden. Dahingehend gibt es zwei zentrale Knotenpunkte. Erstens hat die »Kieler Gesellschaft für Filmmusikforschung« das Feld mit Symposien und dem Online-Journal »Kieler Beiträge zur Filmmusikforschung« seit 2006 wesentlich mitgeprägt. Die bisher letzte Ausgabe stammt aus dem Jahr 2019 und beschäftigt sich unter dem Titel »Musikpraxis im Film« mit filmischen Momenten, in denen handelnde Figuren selbst aktiv musizieren. Im Lauf der Zeit ist ein umfangreicher Fundus an Artikeln und Rezensionen entstanden. Die Gesellschaft ist in ihrer Ausrichtung von einer Nähe zur Praxis (Komponierenden, Produk-
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tionsteam usw.) geprägt, um auf die Entstehungsprozesse einzugehen und nicht nur den Film-Text allein zu betrachten, und hat sich insbesondere dem lokalen Kino der deutschsprachigen Länder (auch zur NS-Zeit), dem Dokumentarfilm und dem Kunstfilm zugewandt (vgl. Krohn/Tieber 2011: 153f). Dabei wurden auch immer wieder gewisse Alleinstellungsmerkmale hinsichtlich dieser Teilbereiche entwickelt. In dem Umfeld sind Werke wie »The Sound of Silent Films« von Tieber und Anna Windisch (2014) oder der mittlerweile vierte Band einer von Heldt, Krohn, Peter Moormann und Willem Strank (2019) herausgegebenen Reihe mit dem Titel »FilmMusik« entstanden. Einige dieser Namen führen ganz unmittelbar zum zweiten Orientierungspunkt innerhalb des deutschen Sprachraumes. Moormann hat zuletzt gemeinsam mit Frank Hentschel (2019) ein umfangreiches Sammelwerk herausgegeben, in dem aktuelle Beiträge aus den verschiedensten Richtungen aufeinandertreffen. Die Auswahl hat durchaus repräsentativen Charakter und setzt inhaltlich die bereits skizzierte Stoßrichtung fort. Tom Schneller (2019) dokumentiert systematisch technische Verfahren. Hansjörg Kohli (2019) wiederum benennt die zentralen Akteure und Einflussfaktoren in der Produktion. Beide sind demnach wesentlich vom Interesse am Prozess geleitet, das sich im Kieler Kreis entwickelt hat. Hinzu kommen historische Perspektiven von Anno Mungen oder Martin Marks (beide 2019). Sie beschäftigen sich mit multimedialen Künsten im 19. Jahrhundert beziehungsweise der Rekonstruktion von Stummfilm-Musik. Auch das ist ein Forschungsaspekt, der in dem Umfeld immer sehr präsent ist. Ergänzt wird das Gesamtbild durch narratologische Beobachtungen von Heldt und Ausführungen zu Psychologie und Wirkung von Bullerjahn (beide 2019). Beide sind in ihren Bereichen einflussreiche Stimmen und ein Zeichen für die konzeptuelle Breite der deutschsprachigen Forschungstradition. Damit sind die wesentlichen Knotenpunkte innerhalb der modernen »Film Music Studies« abgesteckt. Die Auseinandersetzung stellt keinen Vollständigkeitsanspruch, sondern dient vor allem als orientierender Wegweiser. Es wurde ganz deutlich sichtbar, dass sich die Ansätze und Zugänge im Hinblick auf die konzeptuellen, theoretischen und methodischen Aspekte immer wieder teilweise stark überschneiden. Eine eindeutige Abgrenzung, wie sie hier zunächst bewusst vollzogen wurde, ist deshalb grundsätzlich unmöglich und auch inhaltlich wenig sinnvoll. Die größten Potentiale ergeben sich gerade an den Schnittstellen und in der gegenseitigen Bereicherung. Vertiefende Erkenntnisse über das komplexe Phänomen der Musik im Film sind letztlich nur im ideologiebefreiten, interdisziplinären Zusammenspiel möglich. Das noch junge Betätigungsfeld hat sich insofern mit jedem Schritt stets als Ganzes weiterentwickelt. Das Denken in einzelnen Strömungen konnte an dieser Stelle aber dennoch dazu beitragen, die unterschiedlich wirksam werdenden Kräfte sichtbar zu machen und so einen Gesamtüberblick zum aktuellen Forschungsstand zu gewinnen. All diese Spannungsverhältnisse, Dynamiken und Diskurse wirken auf die eigenen Fragestellungen und Herangehensweisen ein.
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4.3 Analysemethoden Im Nahbereich aller theoretischen Knotenpunkte haben sich über die Jahrzehnte verschiedenste Analyseverfahren etabliert. Einige dieser methodischen Ansätzen wurden in der bisherigen Auseinandersetzung bereits angedeutet oder sind zumindest als kurze Blitzlichter sichtbar geworden, andere kommen an dieser Stelle ergänzend hinzu. Im nachfolgenden Schritt geht es vor allem darum, um ein Gefühl für ihre jeweiligen Potentiale, Leistungen und Perspektiven zu bekommen. Außerdem gilt es in dem Rahmen nachdrücklich auf aktuelle Weiterentwicklungstendenzen in dieser Frage hinzuweisen und dadurch einen Bogen zur vorliegenden Arbeit zu spannen. Eine Möglichkeit zur Analyse von Musik im Film ist die grafische Darstellung. Das Verfahren hat historisch eine besonders große Tradition, weil es eng mit dem Namen Eisenstein und dessen Konzept der Montage (siehe Kapitel zur Filmtheorie) verknüpft ist. Es bietet sich deshalb an, diesen Zugang chronologisch in die erste Reihe zu stellen. Aktuell ist Rick Altman (2014) eine einflussreiche Stimme in dem Bereich. Er hat in den letzten Jahren – in Kooperation mit Studierenden – verschiedene Versuche zur visuellen Repräsentation der auditiven Ebene unternommen und skizziert seine Erfahrungen und Beobachtungen dahingehend im »Oxford Handbook of Film Music Studies«. Ohne auf die konkrete Anwendung der Werkzeuge im Detail einzugehen, lohnt sich ein Blick auf die Motive und Zielsetzungen dieser Methode. Altman (vgl. ebd.: 82) erkennt darin einerseits eine Möglichkeit zur Annäherung an das komplexe Phänomen Filmsound, mit der sprachliche Limitationen im Analyseprozesse teilweise überwunden werden können. Zweitens soll die grafische Darstellungsweise dazu beitragen, den Rezeptionsprozess gewissermaßen zu entschleunigen, weil sie eine intensive, detaillierte und mehrfache Auseinandersetzung mit jeder einzelnen Szene voraussetzt (vgl. ebd.: 85). Beide hier angesprochenen Aspekte zählen zu den essentiellen Fragen, die sich im Umfeld des Forschungsgegenstandes ergeben. Jeder methodische Zugang muss sich mit der Darstellbarkeit von Musik im Film auf der einen Seite und mit der Fassbarkeit des Filmerlebens andererseits beschäftigen. Der Diskurs darüber ist bis heute in vollem Gang. Ansätze zur visuellen Repräsentation stellen dementsprechend Gegenkonzepte zur sprachbasierten Analyse dar und haben den großen Vorteil, dass sie Korrespondenzen, Verhältnisse und chronologische Abläufe zwischen der Musik und den anderen filmischen Elementen besonders gut abbilden können. Gleichzeitig schlägt die Methode einen Weg ein, auf dem die Interaktion der Forschenden mit dem Film eine kreative Prägung erfährt. Dennoch ist klar, dass auch eine grafische Darstellungsweise – ebenso wie das »Medium« der Sprache – bestimmte Limitationen im Hinblick auf die Abbildbarkeit mit sich bringt. Der Bereich könnte in den nächsten Jahren aber auf einer technischen Ebene noch stark weiterentwickelt werden, indem computer-basierte Analyseinstrumente entstehen (vgl. Tieber 2017: 12). Es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit und ob die moderne Forschung diesen Weg in Zukunft fortsetzt. Eine Analysemethode, die im Kontrast dazu auf Schreiben und Beschreiben setzt und zurzeit intensiv rezipiert wird, ist jene aus dem Umfeld der »Texanischen Schule«. Neumeyer (2015) legt die empirische Herangehensweise in seinem zentralen Buch »Meaning and Interpretation of Music in Cinema« dar. Er bezieht sich dabei wesentlich auf Chion (1994) und übernimmt als Ausgangspunkt dessen Prämisse, »Bild und Ton getrennt
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wahrzunehmen« (Tieber 2017: 12). Darauf aufbauend entwickelt er vier Analyseschritte. Die erste Phase ist das sogenannte »Itemizing«. Neumeyer (2015: 51) schreibt dazu: »Itemizing the sound track elements, as the verb suggests, is intended to be pure description: what is present and when. The result is an inventory, a list similar in detail to a shot list.« Es geht also zunächst ausschließlich um eine Ordnung der auditiven Ebene. Sie soll möglichst genau in ihre einzelnen Bestandteile kategorisiert werden. In dem Zusammenhang spielen die Elemente des Soundtracks als Beschreibungseinheit eine zentrale Rolle. Der damit eng verknüpfte, zweite Schritt ist das »Characterizing«. Strukturelle Beobachtungen wie »sound quality and consistency« oder »interaction and balance of sound elements« (ebd.) rücken ins Zentrum. Dadurch kommt es zur analytischen Vertiefung des reinen Beschreibens. In der Phase wird verstärkt mit musikalischen Begrifflichkeiten gearbeitet, die Buhler, Neumeyer und Deemer (vgl. 2010: 34–64) im Hinblick auf die »Musicality of the Sound Track« diskutieren. Dabei zeigt sich die musikwissenschaftliche Prägung des Ansatzes, der – auch im Bewusstseins um die Unterschiede zur autonomen Musik – analytische Aspekte wie Form und Struktur nicht unberücksichtigt lässt. Im zweiten Teil des Verfahrens verlagert sich das Interesse dann auf Interaktion der auditiven Ebene mit anderen Elementen des Films. Die Suche nach Synchronitäten beginnt. Neumeyer (vgl. 2015: 51f) nennt den dritten Schritt deshalb »Locate synch points« und verweist dabei auf das sogenannte »audiovisual phrasing«. Der Begriff wurde ebenfalls von Chion (1994: 190) eingeführt, um die »primary synch points that are crucial for meaning and dynamics« von der Gesamtheit an Momenten mit geringerer Synchronität zu unterscheiden. Wenn es um die genauen Bedingungen geht, bleibt die Beschreibung allerdings sehr vage, weshalb die Analysekategorie interpretativ weit gedehnt werden kann. Außerdem überschneidet sich diese Frage teilweise mit dem vierten Schritt. Bei »Compare sound and image« gilt es die Ebenen vergleichend zusammenzuführen und Gemeinsamkeiten oder Gegensätze herauszuarbeiten (vgl. Neumeyer 2015: 52). Dabei erfolgt ein neuerlicher Rückgriff auf Chions (vgl. 1994: 192) Überlegungen zu »negative sounds« und »negative images« auf. Dieser beschreibt damit Bilder oder Töne, die nicht konkret vorhanden sind, aber durch die jeweils anderen Elemente indirekt hervorgerufen werden. Ein Beispiel dafür wäre das Leitmotiv eines Ortes, auf den musikalisch verwiesen wird, ohne die physischen Räumlichkeiten bildlich zu zeigen. Das Modell der »Texanischen Schule« korrespondiert also in vielen Details mit dem analytischen Zugang von Chion. Das Verfahren berücksichtigt in der interpretativen Phase die Interaktion zwischen den einzelnen Elementen, gibt der musikalischen Dimension als Einzelbestandteil aber deutlich mehr Raum, indem diese als Beschreibungskategorie vorangestellt wird. Mit dem Zugang hat sich die Methode als praxisorientierte Handlungsanleitung für die systematische Auseinandersetzung mit Musik im Film etabliert, obwohl es einige Schwachstellen gibt. Die Dynamiken der audiovisuellen Rezeptionssituation spielen beispielsweise erst relativ spät im Prozess eine Rolle. Außerdem wird eine eher technisch-deskriptive und dementsprechend theoretische Grundhaltung eingenommen. Viele Funktionstendenzen und Wirkungsweisen bleiben damit unentdeckt. Beide bisher skizzierten Analysemethoden sind insgesamt sehr textzentriert und konzeptuell vor allem von musik- und filmtheoretischen Begrifflichkeiten geleitet. Den »Film Music Studies« stehen mittlerweile aber auch Ansätze zur Verfügung, bei denen ganz andere Einflüsse geltend gemacht werden. In dem Zusammenhang sind einerseits
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die umfangreichen psychologiebasierten Studien zu nennen, die sich anhand von Experimenten und mithilfe von kognitions- oder emotionspsychologischen Überlegungen mit Wahrnehmungseffekten beschäftigt haben und dadurch in den letzten Jahrzehnten wertvolle Erkenntnisse gewinnen konnten. Auch das ist ein empirisches Verfahren zur Analyse von Musik im Film, das nicht unerwähnt bleiben darf. Aktuelle Beispiele hierfür wurden bereits bei der vorangestellten Skizzierung der Forschungstraditionen angeführt. Ähnliches gilt zweitens für jene Ansätze, die sich dem Untersuchungsgegenstand über die Philosophie nähern möchten. Der Versuch, das komplexe Phänomen der filmischen Musikeinsätze mit philosophischen Beobachtungen (insbesondere von Deleuze) zu erklären, hat sich zu einer völlig eigenständigen analytischen Herangehensweise entwickelt. Dementsprechende Arbeiten wurden ebenfalls bereits genannt. Ihr größtes Potential liegt höchstwahrscheinlich darin, dass sie eine Loslösung von den »klassischen« Begrifflichkeiten, Kategorien und Perspektiven vorantreiben. Den »Film Music Studies« gelingt dadurch ein großer Schritt in Richtung Interdisziplinarität und die teilweise Auflösung des traditionellen Spannungsverhältnisses zwischen Musik- und Filmtheorie. Insofern kann dieser Bereich für jede Analyse wertvolle, erweiternde Gedankenanstöße liefern. Drittens taucht in den letzten Jahren eine methodische Tendenz auf, die sich ganz explizit vom Text als Analysegegenstand abwendet und in Richtung Prozessorientiertheit denkt. Das zunehmende Interesse an historischen und technischen Verfahren (beispielsweise im Umfeld der Kieler Beiträge) oder die Auseinandersetzung mit den rezeptiven Effekten (rund um die psychologischen Studien) sind Ausdrucksformen dieser Bewegung, bilden aber jeweils nur eine Seite der Dynamik ab. In ihrem Montage/AVBeitrage »Pragmatische Filmmusikforschung« plädieren Tieber und Wulff (2010: 159) für »eine stärkere Konzentration auf das Prozesshafte (…), in der Produktion, Vorführung und Rezeption ins Zentrum der Analyse rücken.« Diese Forderung bringt eine fundamentale Erweiterung der Perspektive mit sich. Die Forschung stellt nun den Anspruch, die Gesamtheit des filmischen Erlebens und ihres Entstehens in den Blick zu nehmen. Das hat insbesondere auch Auswirkungen auf die Positionierung der Publikumsgröße im Analyseverfahren. Die Autoren schreiben dahingehend: »Welche Leistungen Filmmusiken (…) erbringen können, wie sie eingespannt sind in Strategien der Zuschauerlenkung, wie sie (oft verborgene) Subtexte artikulieren, bedarf einer radikalen Öffnung der meist statischen Gegenüberstellung von (realisiertem) Film und Zuschauer.« (Ebd.: 160) Die Loslösung vom Text führt also dazu, dass die Rezeption zum integrierten Faktor wird. Als Folge davon entsteht der theoretische Ansatz, den Film als lebendiges Ereignis – vergleichbar mit einer Performance im Theaterbereich – zu betrachten. Das Filmerleben wird zur zentralen empirischen Bezugsgröße. Dementsprechend verweisen Tieber und Wulff (vgl. ebd.: 163) in ihrem Artikel auf das Potential theaterwissenschaftlicher Überlegungen im Sinne der Aufführungsanalyse. Das vielschichtige Phänomen der Musik im Film könnte demnach mit ähnlichen methodischen Strategien beleuchtet werden. An dieser Stelle öffnet sich ein völlig neues, interdisziplinäres Betätigungsfeld, das bisher kaum konkret betreten wurde. Die vorliegende Arbeit möchte genau dort ansetzen und ein eigenständiges Konzept entwickeln, das in diesen Bereich vordringen und ein solches Analysewerkzeug zur Verfügung stellen kann.
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Musik im Film als (eigenständiges) Funktionselement
Neben der methodischen Zielsetzung steht inhaltlich die Suche nach einer Eigenständigkeit von Musik als Teil des filmischen Erzählens im Zentrum. Damit verbunden ist eine Reihe von begleitenden Aspekten und Fragestellungen. Einerseits geht es ganz grundsätzlich um die Funktionalität der musikalischen Elemente im audiovisuellen Medium Film. Auf der anderen Seite muss zusätzlich dazu ein Bewusstsein um die semantischen Potentiale entwickelt werden, die sich im Umfeld der unterschiedlichen Funktionsweisen ergeben. In allerletzter Konsequenz ist die Auseinandersetzung mit Eigenständigkeit nämlich immer eine Frage nach dem »Mehrwert« von Musik, die nicht nur mit strukturellen und dramaturgischen Leistungen, sondern auch mit Ausdrucksfähigkeit und Bedeutungskonstruktion zu tun hat. Zu all diesen Facetten gibt es im Umfeld der »Film Music Studies« bereits umfangreiche Erkenntnisse. Auf eine Auswahl dementsprechender Arbeiten gilt es im letzten Teil dieses Abschnitts einen vertiefenden Blick zu werfen. Am Ende öffnet sich dadurch die Tür zur vorliegenden Arbeit.
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Zur Funktionalität der Musik im narrativen Film
Bei der Auseinandersetzung mit Funktionalität von Musik im narrativen Film müssen vorab zwei wesentliche Aspekte sichtbar gemacht werden. Einerseits korreliert die Frage nach Funktionsweisen ganz stark mit jener nach der Wirkung. Diesen Umstand berücksichtigt Bullerjahn (vgl. 2019: 185), wenn sie von »intendierter Wirkung« spricht und damit die von den Filmschaffenden vorab genau festgelegte Aufgabe von Musikeinsätzen beschreibt, deren Effekt aufseiten der Rezeption aber grundsätzlich offen bleibt und keineswegs unmittelbar so auftreten muss. Der Begriff ist sich der unterschiedlichen Dynamiken an dieser Schnittstelle bewusst und deshalb konzeptuell äußerst wertvoll. Die Beschäftigung mit den Aufgaben/Funktionen kann nur unter Mitberücksichtigung von Intention und Rezeption gelingen, weil die einzelnen Teilphänomene eng ineinander greifen. Die Notwendigkeit eines prozessorientierten Denkens wird hier besonders deutlich sichtbar. Auch wenn eine Arbeit nicht als emotions- oder wahrnehmungspsychologische Rezeptionsstudie angelegt ist, muss sie sich also für rezeptive Effekte interessieren und gleichzeitig die strategische Struktur des filmischen »Textes« im Blick haben, um der Funktionalität analytisch auf die Spur zu kommen. Im Sinne dieser Prämisse sollte es keine ideologisch motivierten Berührungsängste zwischen Funktion und Wirkung geben. Die jeweiligen Beobachtungen befruchten sich gegenseitig. Ein zweiter Aspekt, der am Beginn in Erinnerung gerufen werden muss, ist die Dimension und Ausdehnung dieses Betätigungsfeldes. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine Fülle von Arbeiten mit der Thematik beschäftigt und eine mehr oder weniger unüberschaubare Landschaft entstehen lassen. Die Ergebnisse dieser »Kategorisierungswut« (Tieber 2017: 3) in vollem Umfang und ausdifferenziert darzustellen, ist unmöglich und auch wenig sinnvoll. Stattdessen soll der Fokus auf einige einflussreiche Perspektiven gerichtet werden, die als Überblicksmodelle dienen können. In der Auseinandersetzung wird am Ende auch ersichtlich, inwiefern die vorliegende Arbeit trotz der bereits vorhandenen, inhaltlichen Dichte einen eigenständigen Beitrag zur Debatte leisten kann.
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Grundlegende Erkenntnisse zur Funktionalität von Musik im narrativen Film des Hollywood-Systems stammen – wie im Abschnitt zu den historischen Ursprüngen bereits angedeutet – von Lissa (1965) und Gorbman (1987). Beide Autorinnen stellen Beobachtungen an, die bis heute Gültigkeit haben und abgewandelt oder ausdifferenziert in vielen Modellen wiederzufinden sind. Im Rahmen der kompositorischen Gestaltungsprinzipien identifiziert Gorbman Musik beispielsweise als »signifier of emotion« (ebd.: 79) und erläutert das Prinzip des »narrative cueings«, im Rahmen dessen Musikeinsätze eine ordnende Funktion übernehmen, weil sie Anfang und Ende eines Films markieren, in die Atmosphäre einführen (vgl. ebd.: 82), Ort und Zeit charakterisieren (vgl. ebd.: 83) oder in den »subjective point-of-view« einführen und damit die Wahrnehmung des Handlungsgeschehens beeinflussen (vgl. ebd.: 84). Hinzu kommt, dass sie sich intensiv mit der Vermittlung zwischen den Ebenen der Narration beziehungsweise zwischen Publikum und Film auseinandersetzt. Die Musik überbrückt demnach »thresholds of belief« (ebd.: 6) – also »Glaubwürdigkeitsschwellen« – und stellt identifikatorische und körperliche »Bindungen« her (vgl. ebd. 63–69). Viele dieser Überlegungen finden sich auch in Lissas »Ästhetik der Filmmusik« wieder und haben die Debatte insgesamt geprägt. Auf beide Arbeiten wird an dieser Stelle ganz bewusst nicht noch einmal vertiefend eingegangen, weil fast alle Erkenntnisse daraus in die neueren Modelle eingeflossen sind. Stattdessen soll ein Blick auf die letzten zwei Jahrzehnte geworfen werden, um die Perspektive in Richtung des aktuellen Diskurses zu verschieben. Der wohl einflussreichste Beitrag nach 2000 kommt in dieser Hinsicht von Bullerjahn (2001). Sie legte den Grundstein für die heute gängige Kategorisierung der Funktionalität von Musik im Film. Wichtigster Baustein ist vor allem die grundsätzliche Unterscheidung in Metafunktionen und Funktionen im engeren Sinne (vgl. ebd.: 64ff). Erstere beruhen auf eher praxisorientierten Intentionen, die nicht unmittelbar mit der Filmerzählung selbst zu tun haben. Dementsprechende Überlegungen können beispielsweise »rezeptionspsychologisch (etwa die Neutralisierung bzw. Maskierung von akustischen Störfaktoren in der Stummfilmzeit) oder ökonomisch (etwa die Platzierung von Popsongs oder bekannten klassischen Ausschnitten im Film zur nachträglichen Vermarktung)« (Schneider 2012: 257) sein. Musikeinsätze dieser Art scheinen auf den ersten Blick von der Narration getrennt werden zu können. Tatsächlich betrifft das aber nur ihre intendierte Wirkung, also die strategische Motivation ihrer Positionierung in und rund um das mediale Gesamtereignis. Dennoch können Interpretation und Bedeutungskonstruktion beim Filmerleben selbst davon beeinflusst sein. Diese Dynamik sollte nicht unberücksichtigt bleiben. Hinzu kommen zweitens die bereits erwähnten Funktionsweisen im engeren Sinne, die sich aus den konkreten Notwendigkeiten des filmischen Vermittlungsprozesses ergeben. In diese Kategorie gehören »dramaturgische Funktionen (Musik verdeutlicht Charaktere und deren Psyche), epische Funktionen (Musik verdeutlicht Handlung und Filmzeit), strukturelle Funktionen (Verdeckung oder Betonung des Schnitts und der Montage) und persuasive Funktionen (Musik betont emotionale Aussage)« (Schneider 2012: 257). Bullerjahn liefert so eine – auf dieser Ebene – vierteilige Systematik, mit der viele andere in ihrer Nachfolge versucht haben, die komplexen und vielschichtigen Musikeinsätze im Umfeld des filmischen Erzählens zu ordnen. Die Bereiche sind insgesamt relativ weit gefasst. Bei den dramaturgischen Funktionen geht es um die Verbindung zum gegenwärtigen, dramatischen Handlungsrahmen (vgl. Unz/Schwab/Mönch 2008: 181). Ein wesent-
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licher Teil davon ist der Einsatz von Musik als atmosphärisches Werkzeug. »Stimmungen sollen abgebildet bzw. der Ausdruck der jeweils wechselnden Szenen soll verstärkt werden.« (Ebd.) Ein anderer Aspekt dahingehend betrifft die psychologische Wahrnehmungsdimension. »Die Musik dient der Verdeutlichung seelischer Vorgänge und der Symbolisierung von Empfindungen und Leidenschaften.« (Ebd.) Im Hinblick auf die kompositorischen Verfahren fällt also vor allem die Mood-Technik exemplarisch in diese Kategorie. Perspektivisch werden die musikalischen Elemente in dem Kontext eher als hinzutretend oder verdoppelnd betrachtet. Demgegenüber steht zweitens die epische oder narrative Funktionsebene. Darunter fallen die Manipulation von Erzählzeit und Erzähltempo, Hilfen zur Interpretation des dargestellten Geschehens und die Vermittlung von grundlegenden Informationen zu historischen, geografischen und gesellschaftlichen Bedingungen der Erzählung (vgl.: ebd.). An diesem Punkt wird der Musik etwas mehr Eigenständigkeit zugetraut. Ihre Aufgaben sind nicht mehr unmittelbar an einen Verstärkungseffekt gebunden, sondern tauchen im Nahbereich narrativer Aspekt wie Erzählzeit oder Darstellung der Erzählwelt auf. Gleichzeitig werden die Unschärfen der Systematik hier sichtbar. Es stellt sich die Frage, warum Atmosphäre, Stimmung und der psychologische Zustand einer Figur derart streng von den orts- oder milieugebunden Bedingungen der Erzählwelt getrennt werden. Derartige Überlappungen tauchen immer wieder auf. Die dritte Erscheinungsform der strukturellen Funktionen siedelt sich nämlich um »Verdeckung oder Betonung von Schnitten sowie Akzentuierungen von Einzeleinstellungen und Bewegungen« (ebd.: 182) an. Es geht demnach um eine Manipulation von Raum und Bewegungsfluss, vergleichbar mit jener der Erzählzeit als zweite Achse der raumzeitlichen Dimensionalität. Beide Dynamiken könnten demnach in einer Kategorie gefasst werden. Weitere Schnittmengen ergeben sich mit Blick auf die persuasiven Funktionen. Ihr Kernprinzip ist die »emotionale Wirkung der Filmmusik« (ebd.), vor deren Hintergrund Emotionen nicht nur abgebildet, sondern überhaupt erst erzeugt werden können. Auf dieser Ebene wird eine unbewusste Beeinflussung des Interpretationsprozesses oder die körperlich-affektive Einbeziehung des Publikums möglich. Das Modell beschreibt damit einen ganz wesentlichen Aspekt im Hinblick auf »Mehrwert« und Eigenständigkeit der Musik. Dennoch fällt die strikte Abgrenzung zu den narrativen und dramaturgischen Funktionsweisen schwer. Wenn beispielsweise der innere Stresszustand der handelnden Figur in einer bestimmten Situation über musikalische Gesten ausgedrückt wird, dann kann dieser Musikeinsatz innerhalb der vorgestellten Systematik gleich mehrfach verortet werden (persuasiv, narrativ und dramaturgisch). Das Sichtbarmachen der Unregelmäßigkeiten ist aber keineswegs als unmittelbare, auf Dekonstruktion ausgelegt Kritik zu verstehen. Bullerjahns Modell hat seine praktische Anwendbarkeit mehrfach bewiesen und ist ein zentraler Orientierungspunkt zur Bestimmung von Funktionalität. Es kann eine große Anzahl der unterschiedlichen Dynamiken und Verhältnisse sinnvoll abbilden und beschreiben. Zusätzlich dazu gilt es aber ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass in der Frage nicht immer mit klaren Unterteilungen und strengen Grenzziehungen argumentiert werden kann. Diese Beobachtung betrifft andere Systematiken in gleichem Maße. Kloppenburg (vgl. 2017: 434) unterscheidet beispielsweise zwischen syntaktischen Funktionen, die auf das strukturelle Verstehen und Funktionieren ausgelegt sind, expressiven Funktionen, deren Ziel die emotionale und affektive Intensivierung der Wahrnehmung ist, und dra-
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maturgischen Funktionen, durch die Wahrnehmungen von handelnden Figuren, ergänzende Kommentare zum dargestellten Geschehen oder Charakterisierungen von Personen und Stimmungen eingebracht werden. Sein Kategorisierungsversuch entsteht an der Schnittstelle von mehreren, teilweise älteren Ansätzen (vor allem aus den 1980erund 1990er-Jahren). Er fasst deren Einzelbeobachtungen in die soeben skizzierte, dreiteilige Klassifikation zusammen. Dadurch gelingt ihm die Überwindung einiger Unschärfen. Er vereint Aspekt wie die Dehnung und Manipulation des Raum-Zeit-Gefüges, die Überbrückung von Einstellungswechseln oder die Verklammerung von Sequenzen und Handlungssträngen im Umfeld der syntaktischen Funktionen (vgl. ebd.: 434–445). Zur expressiven Funktionalität zählt er sämtliche Musikeinsätze, die erstens »unspezifische, affektive Erregung bewirken«, zweitens »Gefühle ausdrücken« oder drittens zur »Intensivierung des Situationserlebens beitragen« (ebd.: 446). Kloppenburg bewegt sich im Hinblick auf die kompositorischen Verfahren hier im Bereich der Mood-Technik oder des Underscorings und thematisiert Facetten, die bei Bullerjahn in der dramaturgischen und persuasiven Kategorie zu finden sind. Auch er versucht also eine übergeordnete Sichtweise zu entwickeln. Hinzu kommt seine Vorstellung der dramaturgischen Funktionen, die im Gegensatz zu den expressiven nicht ergänzt und intensiviert, sondern ihre spezifische Bedeutung erst durch den Gesamtzusammenhang herstellt (vgl. ebd.: 448ff). Dazu zählen musikalische Effekte wie Kommentierung, Kontrapunktierung oder Charakterisierung anhand eines Leitmotivs. Insgesamt ist diese Klassifikation daher übersichtlicher, klarer und noch ein Stück anwendungsorientierter. Dennoch tauchen bei der strikten Grenzziehung einige Fragen und Unschärfen auf. Die grundlegende Unterscheidung in Musik, die beim Erklingen selbst einen intensivierenden Effekt hat, und musikalischen Elementen, die im Verhältnis zur Handlung betrachtet werden, ist nicht ganz unproblematisch. Sie legt bereits im Ansatz eine Klassifizierung hinsichtlich Unterordnungstendenz oder Eigenständigkeit nahe. Hinzu kommt, dass es immer Überschneidungen gibt. Musikeinsätze, anhand derer innere Gefühle einer Figur ausgedrückt werden, können Kommentierung der dargestellten Handlung und emotionale Intensivierung zugleich sein. Außerdem haben sie das Potential, die Dehnung von Zeit und Raum in Form einer Erinnerung strukturell zu legitimieren. Das einfache Beispiel verdeutlicht die Vielschichtigkeit der Frage. Ähnlich wie Bullerjahns Modell sollte also auch diese Systematik nur ein Orientierungspunkt und keine starre konzeptuelle Größe sein. Einen völlig anderen Zugang zur Thematik wählt Neumeyer (2015) als Vertreter der »Texanischen Schule«. Er fasst die Funktionalität der auditiven Dimension analytisch in fünf Gegensatzpaaren zusammen. Als übergeordnete Instanz fungiert die »Balance der narrativen Ebenen« (Tieber 2017: 3), die sich aus dem Spannungsverhältnis von »clarity« und »acoustic fidelity« (Neumeyer 2015: 64) ergibt. Die Musik kann durch die jeweilige Gewichtung dieser Kräfte eine möglichst nahe Reproduktion der akustischen Umwelt im Film sein oder eine bewusst ambivalente Rolle einnehmen. Diese ästhetische Grundsatzentscheidung prägt und beeinflusst die anderen vier Dynamiken. Weitere Kategorien sind »Foreground/Background«, »Diegetic/Nondiegetic«, »Synchronization/Counterpoint« und »Empathy/Anempathy« (ebd.: 63). Sie alle beschreiben unterschiedliche Facetten des Bild-Ton-Verhältnisses. Genau das ist die wesentliche Leistung des Modells. Das systematische Beschreiben der Funktionalität erfolgt mit konstantem Blick auf den Gesamt-
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zusammenhang. Außerdem erscheint der Ansatz deutlich offener und flexibler, weil er in seiner Einfachheit komplexe Kombinationen ermöglicht, anstatt fixe Strukturen vorzugeben. Tieber (2017: 3) kommt zu einem ähnlichen Schluss: »Diese Reduzierung der Funktionen auf mögliche Gegensatzpaare erscheint analytisch brauchbarer als ein umfangreicher Katalog an Funktionen, aus dem die Analyse dann nur die Richtige herauszufinden hat.« Insofern können die »five binaries« eine wertvolle und vielversprechende Ergänzung sein, die bestimmten Schwächen der zuvor skizzierten Kategorisierungsversuche entgegenwirkt. Dennoch bleiben auch hier einige Unschärfen. Die Eindeutigkeit des DiegeseKonzepts und seiner oft unberücksichtigten Facetten im »fantastischen« Zwischenraum wurde an dieser Stelle bereits ansatzweise hinterfragt. Ähnliches gilt für alle anderen Gegensatzpaare. Sie stehen sich als Extrempositionen gegenüber und neigen deshalb dazu, die manchmal lange Wegstrecke in der Mitte auszublenden. In der Praxis bewegt sich der Musikeinsatz aber genau dort. In dieser Hinsicht ist Neumeyers Kategorisierungsversuch perspektivisch ebenfalls stark eingeschränkt und kann viele Aspekte der Funktionalität musikalischer Elemente im Film nicht vollständig sichtbar machen. Genau das verbindet ihn mit den anderen hier skizzierten Modellen und zeigt letztlich, dass in diesem Betätigungsfeld der »Film Music Studies« noch immer neue Wege zu erkunden sind. Eine Arbeit, die das tun möchte, kann die reichhaltigen Erkenntnisse auf dem Gebiet im Blick haben und diese gleichzeitig ohne Berührungsängste aus anderen (theoretischen und methodischen) Perspektiven beleuchten. Dadurch werden spezifische Teilaspekte, Dynamiken und Verhältnisse sichtbar, die zur Annäherung an die komplexen Funktionstendenzen von Musik im narrativen Film beitragen. An diese Überlegung knüpft die vorliegende Studie inhaltlich an.
5.2
Zu den semantischen Potentialen der Musikeinsätze
Im engen Zusammenhang mit Funktionalität von Musik im Film steht die Grundsatzfrage nach deren Ausdrucksfähigkeit. Vor allem wenn es um Musikeinsätze geht, die jenseits struktureller oder unterstreichender Aufgabenbereiche zu verorten sind, gilt es sich auch mit diesem Teilphänomen auseinanderzusetzen. Im nächsten Schritt soll deshalb auf einige Beobachtungen und Erkenntnisse dahingehend verwiesen werden. Am Beginn der Debatte ist aber eine wesentliche Bedingung konsequent in Erinnerung zu rufen. Musikalische Elemente im Film stehen nicht für sich alleine, sondern immer im Kontext des audiovisuellen »Gesamtkunstwerkes«. Das nachfolgende Zitat aus einem Text »Zur Funktionalität/Dysfunktionalität und Autonomie von Musik im Film« fasst das Bewusstsein um diese Dynamik, das im historischen Verlauf entstanden ist, sehr treffend zusammen: »So wird oft Folgendes übersehen: einmal verändert sich eine (…) Musik, wenn sie in das andere optische Medium (…) einfließt, zum anderen wird auch das visuelle Bewegungsbild durch die (…) Musik selbst verwandelt. Es tritt also mit der Musik nie nur einfach etwas zeitlich Späteres und Sekundäres zu einem Früheren und Grundlegenderen (…) hinzu, sondern es findet eine wechselseitige Verwandlung statt.« (Zenck 2012: 67)
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Eine dementsprechende Perspektive hat mehrfache Auswirkungen. Einerseits darf auch die Suche nach semantischen Potentialen und Prozessen der Bedeutungskonstruktion vor diesem Hintergrund nicht dazu neigen, musikalische Elemente isoliert zu betrachten. Diese Prämisse muss ein ständiger Begleiter in sämtlichen Fragen der Funktionalität sein, wird aber besonders wirksam, wenn es um die noch komplexere Frage der Ausdrucksfähigkeit geht. Logische Folge davon ist, dass die Musik als funktionaler Teil eines audiovisuellen Beziehungsgeflechtes an sich gleichberechtigt und vor allem gleichrangig sein muss. Durch das dynamische »Bedingungsverhältnis zwischen den Funktionen der jeweiligen Medien« (Bild, Dialog, Musik usw.) kann keines der Elemente »nur einen Unter- und Hintergrund darstellen.« (Zenck 2012: 68) An diesem Punkt verändert sich der Blickwinkel in der Debatte grundlegend. Es geht nicht mehr um die Frage, ob ein Baustein vor- oder nachgelagert ist, sondern darum, welchen Beitrag er im Gesamtkontext leistet. Gorbman (1987: 16) ruft dahingehend in Erinnerung: »Any music will do (something), but the temporal coincidence of music and scene creates different effects according to the dynamics and structur of the music.« In diesem gedanklichen Umfeld ist für sie beispielsweise auch die Unterscheidung in parallel geführte oder kontrapunktische Musik diskussionswürdig, weil dadurch die Frage aufgeworfen wird, ob Informationen und Bedeutungen aus unterschiedlichen Kanälen überhaupt gleich sein können (vgl. ebd.: 15). Ohne auf diese spezifische Überlegung näher einzugehen, deutet auch dieses Beispiel die Problematik eines Denkens in streng abgegrenzten Kategorien an. Stattdessen ist die komplexe und vielschichtige Frage nach musikalischer Funktionalität im narrativen Film letztlich immer auch eine Auseinandersetzung mit »Bedeutungen, die für das Verständnis und die Rezeption (…) entscheidend sein können« (Tieber 2017: 4). Die beiden Ebenen (semantisch und funktional) können also nicht voneinander getrennt werden. Insofern ist ein Blick auf die Debatte zur Bedeutungsproduktion an dieser Stelle inhaltlich naheliegend. Eine konzeptuelle Basis in dem Bereich schafft Gorbman (1980: 203), die Musik grundsätzlich als »non-verbal and non-denotative« betrachtet. Das Medium hat demnach keine der Sprache ähnliche, konkrete Bezeichnungstendenz. Stattdessen fällt ihr analytischer Blick auf »connotative values«, mit denen vor allem »atmosphere, shading, expression, mood« (ebd.) repräsentiert und vermittelt werden kann. An der Stelle zeigt sich Gorbmans sprachwissenschaftliche Herkunft deutlich. Trotz des starken Bewusstseins um Verhältnismäßigkeiten und Beziehungsdynamiken im audiovisuellen Gesamtkontext ist die Auseinandersetzung mit semantischen Potentialen und der Bedeutungskonstruktion indirekt immer an die generelle Ausdrucksfähigkeit von Musik geknüpft. Bei der Diskussion dieser Frage geht es sehr oft um Verwandtschaftsbeziehungen und Ähnlichkeiten zur Sprache. Zu diesem Thema gibt es einen aufschlussreichen Beitrag von Oliver Krämer (2009). Er skizziert zunächst eine äußerliche Nähe, die sich dadurch zeigt, dass einerseits beide »klangbasierte, sukzessive Ausdrucksformen in der Zeit« sind und auf der anderen Seite Parallelen im »sprachähnlichen Duktus der Musik« auftauchen, wenn bei musikstrukturalistischen Analysen beispielsweise von »Melodiephrase«, »Vordersatz« und »Nachsatz« oder »Klangrede« und »Tondichtung« die Rede ist (ebd.: 244). Im Hinblick auf die vertiefende innere Ebene der Bedeutungsproduktion erinnert aber auch er an das Problem »der inhärenten semantischen Unschärfe« (ebd.: 245) von Musik im Vergleich zur Sprache. Hinsichtlich dieser grundlegenden Erkenntnis erfährt Gorbmans
Zum Einstieg in die Film Music Studies
Beobachtung also eine Bestätigung. Die These hinsichtlich der nicht-denotativen Eigenschaften ist weit verbreitet und allgemein anerkannt. Dennoch geht Krämer einen gedanklichen Schritt weiter, indem er drei Formen des musikalischen Mitteilens identifiziert. Erstens stellt die Tonmalerei Bedeutungszusammenhänge her, indem durch musikalische Gesten bestimmte Klangeindrücke nachgeahmt werden (vgl. Krämer 2009: 245). Ein Beispiel hierfür wäre der Einsatz eines Glockenspiels als Verweis auf das Kirchturmläuten. »Die tonmalerische Nachahmung realer akustischer Eindrücke bleibt allerdings ein begrenzter Sonderfall musikalischer Mitteilung« (ebd.). Im Umfeld des Films geht verfahrenstechnisch vor allem das »mickey mousing« in diese Richtung. Eine zweite Erscheinungsform ist die sogenannte Tonsymbolik. Hier wird durch festgelegte Klangformen auf außermusikalische Inhalte verwiesen (vgl. ebd.). Krämer (ebd.) schreibt dahingehend: »Anders als bei der Tonmalerei geht es bei dieser Form der Referenz aber nicht um Nachahmung, sondern um symbolische Verkörperung.« Wiederkehrende Leitmotive, ein bestimmter, mehrfach auftauchender Intervall oder der wiederholte Einsatz eines spezifischen Instruments sind dieser Kategorie zuzuordnen. Sie werden im Verlauf des Films mit Bedeutungen verknüpft, die dann abrufbar sind. In dem Zusammenhang ist die Musik der Sprache am nächsten, weil »das Klangvokabular in seiner Bedeutung ähnlich wie das Wort durch den ständig gleichen Verwendungszusammenhang konventionalisiert wird« (ebd.: 245f). Der Autor macht aber auch auf die Einschränkungen aufmerksam und verweist ganz bewusst darauf, dass »die Auslegung solcher symbolischer Sinngehalte abhängig von dezidiertem Kontextwissen« (ebd.: 246) sei. Hinzu kommt, dass die Bedeutungen – im Unterschied zur Sprache – eben erst hergestellt werden müssen und in der Regel nicht konkret vorhanden sind. Die Ausdrucksfähigkeit entsteht also im spezifischen Kontext des jeweiligen Films (ausgenommen Filmreihen oder Querverweise zu anderen Filmen). Martin Zenck (2012) nennt deshalb die »Wiederholung« von Leitmotiven als dahingehend zentralen Baustein. Er setzt den Begriff ganz bewusst unter Anführungszeichen, um zu verdeutlichen, dass es hierbei nicht um wortwörtliche Repetition oder identische Versetzung geht, sondern eher um das Überlagern und Verknüpfen voneinander entfernter Aspekte, um mit musikalischen Elementen klanglich auf frühere oder spätere Ereignisse zu verweisen, wenn Bild und Musik gewissermaßen auseinandertreten (vgl. ebd.: 68f). Mit diesen semantischen Potentialen ist die Tonsymbolik im Nahbereich der Leitmotiv-Technik eine insgesamt weit verbreitete Facette der Ausdrucksfähigkeit. Als »wichtigste Art des musikalischen Mitteilens« nennt Krämer (2009: 246) aber die »Gefühlsschilderung«, weil Musik »in enger Verbindung mit der Psyche des Menschen« stehe und sich »direkt auf die emotionale Befindlichkeit« auswirken können. Er verdeutlicht diese Dynamik, indem er festhält, dass musikalische Eigenschaften wie Tempo, Lautstärke oder Dissonanzgrad auch dann einen unmittelbaren Einfluss haben, wenn es um »Neue Musik« geht, die traditionelle Ausdrucksformen vermeidet (vgl. ebd.: 246f). Dahinter steht die hypothetische Annahme, dass es eine (emotional-affektive) Bedeutungsebene jenseits von historischen, stilistischen oder genrespezifischen Hörgewohnheiten gibt. Inwieweit diese Beobachtung zutrifft und ob solche Bedeutungszusammenhänge ausschließlich konnotative Werte sind oder auch Bezeichnungscharakter haben, kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geklärt werden. Die Diskussion ist in dem Bereich semiotisch-sprachwissenschaftlich geprägt und führt deshalb insgesamt in eine
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andere Richtung. Dennoch sollte es keine Berührungsängste mit den daraus zu gewinnenden Erkenntnissen geben. Zusätzlich dazu beruht das einflussreichste Modell zum Thema Bedeutungsproduktion, das den »Film Music Studies« zur Verfügung steht, auf ähnlichen Überlegungen. Gorbman (vgl. 1987: 13 und 1980: 185) trifft die grundlegende Unterscheidung zwischen »pure musical codes«, die sich rein auf die Musik an sich beziehen, »cultural musical codes«, die kulturell mit einer bestimmten Musik verbunden sind, und »cinematic musical codes«, die aus dem Film heraus entstehen. Ihrer Differenzierung liegt damit ein sprachwissenschaftliches Konzept zugrunde. Sie schreibt dahingehend in der Einleitung von »Unheard Melodies«: »I began in a structuralist-semiotic spirit to seek means of considering how music can signify in the narrative film. It became clear that the semiological notion of codes is crucial to the study of how film music means.« (1987: 2). Einige Punkte ihres Modells stimmen deshalb mit dem vorangestellten Kategorisierungsversuch zum musikalischen Mitteilen überein. Insgesamt liegt ihr Interesse aber mehr auf den unterschiedlichen konnotativen Dynamiken. Zunächst entstehen die »pure musical codes« aus der »musical structure itself« (ebd.: 13). Bei Krämer ist das der große Bereich rund um die Gefühlsschilderung, in dem er allgemeingültige und selbstreferentielle Bedeutungen verortet. Die Forschung hat in dem Zusammenhang unter anderem auf die Idee der musikalischen Hermeneutik zurückgegriffen (siehe dazu Tieber 2017: 5f). Insgesamt ist das Vorhandensein »reiner musikalischer Codes« aber äußerst umstritten, weshalb die Kategorie eine eher untergeordnete Rolle spielt. Anders verhält es sich mit den »cinematic musical codes«, die auf einer »specific formal relationship to coexistent elements in the film« (Gorbman 1987: 13) beruhen. In dem Bereich geht es um Bedeutungen, die sich aus Wiederholungen und Verbindungen über historische Zeiträume, Genres und filmische Situationen hinweg entwickeln (vgl. Tieber 2017: 4). Es gibt demnach ein gewachsenes Repertoire an musikalischen Gesten und Konventionen, das sich in der kompositorischen Praxis und im filmgeschichtlichen Verlauf durchgesetzt hat. Beispiele hierfür wären sanfte Streicher als Liebesmotiv oder Hörner und Flöten in Verbindung mit idyllischen Naturschauplätzen. Einen Einblick in die umfangreiche Forschung zu »Genrespezifika der Filmmusik« gibt Moormann (2018) im »Handbuch Filmgenre«. Auf einer ähnlichen konnotativen Dynamik basieren die »cultural musical codes«. Auch sie entstehen entlang historischer Prozesse und Entwicklungen, haben aber einen kulturellen und keinen filmischen Ursprung. Tieber (2017: 4) schreibt dahingehend: »Wichtig bei den kulturellen Bedeutungen ist, dass sie prä-filmisch konstruiert wurden und sich der Film als aktuellstes Medium dieser Konnotationen nur bedient, sie aber nicht begründet hat.« In diese Kategorie könnten beispielsweise gregorianische Gesangselemente fallen, die auf einen sakralen Kontext oder eine mittelalterliche Umgebung verweisen. Gorbmans Modell entwickelt also ein starkes Bewusstsein um die Bedeutungsgeschichte von musikalischen Klängen im Umfeld eines Films. Sie ergänzt die vorangestellten Beobachtungen zur Ausdrucksfähigkeit und den Mitteilungspotentialen von Musik damit um eine wichtige Dimension. Mit den Sound Studies gibt es jenseits der »Film Music Studies« sogar eine eigenständige Betätigungsfeld, das sich mit kulturellen, im zeitlichen Verlauf entstandenen Bedeutungen unserer klanglichen Umgebungen und Umwelten beschäftigt (siehe dazu Morat 2010). Im Rahmen der methodischen Ausführungen dieser Arbeit wird darauf noch einmal etwas näher eingegangen. Unabhängig davon kann das grundsätzliche Bewusstsein um
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solche Dynamiken der Bedeutungskonstruktion analytisch-interpretativ einen wertvollen Beitrag leisten. Eine zusätzliche Überlegung bringt Anselm Kreuzer (2003) in die Debatte ein. Er verweist darauf, dass historisch gewachsene, musikalische Strukturen und Codes nicht immer sinnvolle Erklärungsversuche sind, weil sie die Betrachtung zu sehr in die Retrospektive verlagern (vgl. ebd.: 126). Der Zugang könne die Neuschaffung von Klischees im filmischen Kontext lediglich als reine Beliebigkeit fassen und verschließe sich vor einer möglichen direkten Wirkung von Musik (vgl. ebd.: 129). Daraus schlussfolgert er: »Die (…) geteilte Annahme einer ausgeprägten Bedeutungsgeschichte von musikalischen Strukturen rechtfertigt vor diesem Hintergrund nicht eine allein von ihnen ausgehende Analyse.« (Ebd.: 128) In der Folge arbeitet Kreuzer beim Sichtbarmachen semantischer Zusammenhänge ergänzend zu den Codes vor allem auch mit assoziativen und interpretativen Elementen. Für ihn sind »subjektive Einschätzungen (…) von großem Wert« (ebd.: 126). Er betrachtet die »affektiv-emotionale Rezeption« als »notwendige Grundlage für das kognitive (rationale) Verständnis« (ebd.: 209) und hat deshalb »Bild, Dialog, Geräusch und Musik als Einheit« und Einzelbestandteile »einer ganzheitlichen Wahrnehmung« (ebd.: 133) im Blick. »[D]as subjektive Aufzeigen von semantischen oder emotionalen Bedeutungsinhalte musikalischer Figuren im Kontext eines Films« (ebd.: 132) wird so zur zentralen Prämisse. Der Ansatz bereichert die Diskussion damit um eine wesentliche Facette. Die Rezeption und das subjektive Filmerleben werden im Sinne einer Prozesshaftigkeit und parallel zum Bewusstsein um das audiovisuelle Gesamtkunstwerk Teil der Bedeutungsproduktion. Dadurch erweitert sich die Perspektive auch in dieser Frage deutlich. Zweitens denkt die Auseinandersetzung mit semantischen Dynamiken nicht mehr in abgegrenzten Kategorien und Erscheinungsformen, sondern ist offen für die Komplexität des Phänomens. Zusammenfassend setzen die skizzierten Modelle also drei teils sehr unterschiedliche Impulse und Schwerpunkte. Bei Krämer ging es um die Spezifika der Ausdrucksfähigkeit von Musik. Gorbman wiederum stellt jenseits der »pure musical codes« die Bedeutungsgeschichte filmmusikalischer Klänge ins Zentrum, während Kreuzer gerade in der dahingehenden Verengung eine Einschränkung erkennt und die semantischen Potentiale als Ergebnis der subjektiven, emotional-affektiven Wahrnehmung betrachtet. Dadurch wurde sichtbar, dass der Diskurs um Bedeutungsproduktion nicht auf einen einzelnen Teilaspekt reduziert werden kann, sondern in mehrere Richtungen offen bleiben muss, weil es dementsprechend viele Einflussfaktoren gibt. Wulff (2013: 1) stellt im Hinblick darauf fest: »Es geht sicher nicht nur um affektive Färbungen, sondern um Bedeutungen, die im selbst als assoziative Koppelungen hervorgebracht worden sind, und um Werte, die Musik aufgrund ihrer sozialen Gebrauchswerte mitbringt.« Insofern können alle vorangestellten Beobachtungen einen Erkenntnisbeitrag leisten. Die Vorzeichen sind insgesamt also ähnlich wie bei der Funktionalitätsdebatte. Eine Annäherung an die semantischen Potentiale der Musik im Film ist letztlich nur über mehrere Zugänge und ohne Berührungsängste möglich. Sie kann sich nicht auf streng abgegrenzte Kategorien verlassen, um das komplexe Phänomen vollständig abzubilden. Die vorliegende Arbeit setzt gedanklich deshalb bei Kreuzer an, ohne die (sprachwissenschaftlich geprägten) Überlegungen zu Ausdrucksformen oder Codes vollständig zu verwerfen. Sie können bei der Beschreibung bestimmter Dynamiken wertvolle Dienste leisten, aber eben nicht das
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gesamte Spektrum abbilden. Auch in der Hinsicht sind nach wie vor neue Wege zu erschließen.
5.3 Zum »Mehrwert« der musikalischen Dimension Die Auseinandersetzung mit Funktionalität und in vertiefender Weise mit den Prozessen der Bedeutungsproduktion begibt sich – konsequent zu Ende gedacht – immer auf die Suche nach dem »Mehrwert« der musikalischen Dimension als Teil des narrativen Films. Die konzeptuelle Bezeichnung (an dieser Stelle bewusst übersetzt und unter Anführungszeichen gestellt) taucht in Zusammenhang mit der Synchronität und dem »audiovisual phrasing« auf. Chion (1994: 5) schreibt dazu: »By added value I mean the expressive and informative value with which a sound enriches a given image so a to create the definite expression«. Im analytischen Bewusstsein um die Verhältnismäßigkeit der einzelnen audiovisuellen Elemente ergibt sich also ein Interesse an den durch Musik hinzugefügten und in ihrem Umfeld konstruierten Bedeutungen. Daraus entsteht eine starke, theoretische Gegenposition zur »(eminently incorrect) impression that sound is unnecessary, that sound merely duplicates a meaning which in reality it brings about, either all on its own or by discrepancies between it and the image.« (Ebd.) Insofern geht von dem Begriff eine perspektivische Orientierung aus, die zur zentralen Prämisse der »Film Music Studies« wurde. Tieber (2017: 2) stellt dahingehend fest: »Es ist eine der wesentlichen Aufgaben der Analyse von Filmmusik, diesem Mehrwert auf die Spur zu kommen.« Die Frage nach der Eigenständigkeit von Musikeinsätzen ist eng daran geknüpft und ergibt sich in dem Umfeld mehr oder weniger automatisch. Welchen (spezifischen) Beitrag zur Bedeutungsproduktion und zum Verständnis der Erzählung leistet Musik im narrativen Film? Wo und wie übernimmt sie Aufgaben innerhalb der filmischen Erzählkontexte, die über strukturelle und verstärkende Funktionen hinausgehen? In welchen Situationen treten musikalische Elemente im dynamischen Verhältnis zu anderen Bestandteilen der audiovisuellen Narration hervor und übernehmen zentrale Rollen? All das sind Facetten der Suche nach dem »Mehrwert«. Die Fülle an Arbeiten, die sich im letzten Jahrzehnt direkt und indirekt mit solchen oder ähnlichen Teilaspekten des komplexen Phänomens beschäftigt haben, ist kaum vollständig zu überblicken. Insofern sollen an der Stelle ausschnitthaft einige Tendenzen skizziert werden. Herzog (2010) beispielsweise kann mit dem bereits diskutierten »musical moment« auf eine Umkehrung der Bild-Ton-Hierarchie verweisen und dadurch Musik als »dominant force in the work« (ebd.: 6) identifizieren. Im Umfeld ihrer philosophisch orientierten Analyse wird so eine Form des Hervortretens von Musik als zentrales Gestaltungselement sichtbar. Das an die Performance von Musical-Songs geknüpfte Konzept beschreibt jedoch ein exzesshaftes Heraustreten und Unterbrechen der Narration. Wulff (2010: 5) stellt dahingehend fest: »Immer tritt die Erzählung in diesen Szenen zurück, gibt Raum für einen neuen, eher dem Attraktionellen als dem Narrativen zugehörigen Modus.« In erster Linie geht es also um eine theoretische Reflexion von Momenten der Differenzerfahrung. Ähnliches gilt für die angesprochenen Beobachtungen zum Ritornell/Refrain und der (De-)Territorialisierung von Steinhauer (2018). »Mehrwert« und Eigenständigkeit sind aber auch eng mit Fragen nach der Erzählstruktur und den narrativen Potentialen von Musik verknüpft. In diese Dynamiken und
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Prozesse konnten die narratologischen Studien zuletzt wertvolle Einblicke geben. Insbesondere die Arbeiten von Heldt (2019 und 2013) sind in dem Zusammenhang zu nennen. Er versucht ganz konkret, »den Platz von Musik im Rahmen von Spezifika filmischen Erzählens« (2019: 143) zu bestimmen und sucht dabei nach dem spezifischen Beitrag, den musikalische Elemente zur Narration leisten können. Die aufschlussreichen Konzepte zu diegetischer Monstration, nicht-diegetischer Erzählstimme oder Fokalisierung sind seiner eigenen Einschätzung nach aber vor allem als »großmaßstäblicher Überblick« zu verstehen, der die Forderung nach »Ausfüllung, Differenzierung und Einschränkung« (ebd.: 134) mit sich bringt. Einen Vertiefungsversuch zum Thema »Filmmusik und Finalisierung von Texten« unternimmt beispielsweise Wulff (2013). Er stellt Beobachtungen an, in denen Musik als Bedeutungsimpuls an den Schlüssen narrativer Filme beteiligt ist und damit referentiell sogar über die Erzählung hinaus wirkt, indem sie moralische Positionen stabilisiert oder abstrahierend auf bestimmte Momente zurückverweist. Daraus ergibt sich für ihn eine interessante Schlussfolgerung: »Filmmusik kann Filmgeschichten nicht nur begleiten und sie mit einem affektiven und formalen akustischen Mantel einhüllen, sondern sie kann im Diskurs der Filme den diegetischen Raum der Erzählung erweitern, sie kann reflexive Prozesse anstoßen und moralische Implikationen vorbereiten. Damit gerät sie in einen textsemantisch höchst zentralen Funktionskreis hinein«. (Ebd.: 16) Wulffs Erkenntnisse gehen also in Richtung eigenständiger Potentiale von Musik als Teil der filmischen Narration. Ebenfalls auf die Suche nach solchen Phänomenen begibt sich der von Lindsay Coleman und Joakim Tillman (2017) herausgegebene Sammelband »Contemporary Film Music« (Untertitel »Investigating Cinema Narratives and Composition«). Die Herangehensweise an die narratologischen Fragen ist aber eine völlig andere. In dem Buch kommen Filmmusikschaffende durch Interviews selbst zu Wort und ergänzen die theoretischen Analysen ihrer jeweiligen Arbeit. Dadurch rücken kompositorische und verfahrenstechnische Überlegungen rund um den Produktionsprozess ins Zentrum. Dieser Perspektivenwechsel ermöglicht eine praxisorientierte Sicht auf den »Mehrwert« der musikalischen Dimension. Die Forschung hat sich in dem Bereich zuletzt stark entwickelt (siehe auch Kieler Beiträge) und liefert dahingehend mittlerweile wertvolle Einblicke und Erkenntnisse. Zusätzlich zu den narratologischen Studien konnte die »Texanische Schule« zeigen, dass sie mit ihren Analysen in der Lage ist, eine Vielzahl der Funktionstendenzen und Facetten herauszuarbeiten. In »Hearing the Movies« machen Buhler, Neumeyer und Deemer (2010) unterschiedlichste Verhältnisse, Dynamiken und Potentiale sichtbar. Sie haben auch die inhaltliche Debatte damit wesentlich bereichert. Rund um die Matrix der narrativen Ebenen und die daraus entstehenden »axis of psychological realism« identifiziert Neumeyer (2015: 80f) außerdem einen filmischen Erzählraum, in dem die musikalischen Elemente besonders einflussreich und wirkmächtig sind, wenn es beispielsweise um das »psychologische Innere« oder die Darstellung von Erinnerungen geht. Das Konzept lässt dadurch teilweise Rückschlüsse auf die Eigenständigkeit, vor allem aber auf den »Mehrwert« der musikalischen Dimension zu. Auch aus dieser Richtung kommen also Antworten auf die eingangs gestellten Fragen. Alle dahingehenden Forschungsleistungen sind ohne Zweifel anzuerkennen. Abseits der inhaltlichen Ausrichtung gibt es aber noch einen Aspekt, der all diese Ansätze in ihrer interdisziplinären Vielfältigkeit (philosophisch, narratologisch, musik-
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wissenschaftlich) miteinander verbindet. Tieber und Wulff (2010) stellen in ihrem Text »Pragmatische Filmmusikforschung« fest, dass es in den »Film Music Studies« eine massive Tendenz hin zu den Mikrostrukturen gibt. Sie schreiben im Hinblick darauf: »Die meisten vorliegenden Analysen sind segmental orientiert, beziehen sich auf einzelne Sequenzen und Szenen, die als in sich geschlossene dramatische Einheiten behandelt werden.« (Ebd.: 156) Dieser Trend ist bei allen vorangestellten Zugängen erkennbar und hat weitreichende Auswirkungen auf die gesamte Forschung gehabt. Es wird bis heute fast durchgängig so gearbeitet, dass konzeptuelle Ideen und Gedanken in exemplarischer Form entweder auf bestimmte Filmausschnitte übertragen oder aus eben diesen abgeleitet werden. Die Auseinandersetzungen mit Funktionalität und Bedeutungsproduktion sind als Folge davon vor allem theoretische Reflexionen ausgewählter Teilaspekte. Empirisch fundierte Belege zu den dadurch gewonnenen Erkenntnissen, die sowohl die Makrostruktur des Films, vor allem aber auch jene des gesamten filmischen Prozesses – von der Produktion über den »Text« bis hin zur Rezeption – im Blick haben, sind absolute Mangelware. Gleiches gilt für die methodischen Werkzeuge, mit denen eine Annäherung an dieses komplexe Phänomen überhaupt stattfinden kann. An diesem Punkt setzt die vorliegende Arbeit an. Sie möchte den »Film Music Studies« ein systematisches und filmtheoretisch begründetes Analyseverfahren zur Verfügung stellen, das eine dahingehende Tür öffnet und den Weg in diese Richtung aufbereitet. Parallel dazu ist davon auszugehen, dass im Zuge der praktischen Anwendung auch inhaltlich neue oder zumindest vertiefende Facetten der Funktionalität jenseits bekannter Kategorisierungsmodelle sichtbar werden.
Zur Verortung innerhalb der Filmtheorie(n)
Dadurch, dass die vorliegende Arbeit ihren Fokus auch auf die Entwicklung eines methodischen Werkzeuges zur Analyse von Musik im Film legt, gilt die folgende Prämisse aus der Einleitung zu Jens Bonnemanns (2019: 3) Überblicksdarstellung »Filmtheorie« für sie in besonderem Maße: »Sobald der Filmwissenschaftler forscht und der Filmkritiker wertet, nehmen beide Maßstäbe in Anspruch, welche es ohne ein zumindest implizites theoretisches Verständnis nicht geben würde.« Die Auseinandersetzung mit theoretischen Perspektiven und die Orientierung innerhalb dieses reichhaltigen Feldes sind aus zweierlei Gründen unabdingbar. Einerseits entsteht dadurch eine nachvollziehbare, konzeptuelle Sprache, die auf geteilten Annahmen oder kontroversiellen Positionen beruht. Zweitens wird im Zuge dessen der eigene Standpunkt klar und deutlich sichtbar. Dementsprechend ist dieser Abschnitt strukturiert. Er unternimmt zunächst den ambitionierten Versuch, sich einen Überblick zur Theorie des Films zu verschaffen, und geht dann in einem zweiten Schritt vertiefend auf jene Ansätze ein, die im Hinblick auf die vorliegenden Fragestellungen relevant sind. Entlang dieser gedanklichen Linie gibt es auch strategische Unterschiede im Literaturumgang. Während bei der Gesamtschau ganz bewusst auf neuere Sekundärquellen zurückgegriffen wird, die das »klassische Repertoire« nach heutigem Wissensstand kontextualisieren, verschiebt sich diese Gewichtung im Verlauf der Abhandlung immer weiter in Richtung Primärliteratur.
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Überblick zur Theorie des Films
Das Ansinnen, auf einigen wenigen Seiten einen Gesamteindruck von diesem weiten Forschungsfeld vermitteln zu können, muss ohne Frage als äußerst kühn bezeichnet werden. Thomas Elsaesser und Malte Hagener (2017: 9) stellen im Hinblick darauf sehr treffend fest, dass es die Filmtheorie »beinahe so lange wie das Medium selbst« gibt. Ihre dahingehende Beobachtung trifft aber nicht nur auf das Alter der Disziplin zu. Die Theorie zum und über den Film hat sich auch in ähnlicher Weise und vergleichbar mit der Genre-Vielfalt des Mediums selbst zunehmend ausdifferenziert. Denkansätze aus allen Richtungen stellen unterschiedlichste Perspektiven zur Verfügung, die gleichzeitig oft eng ineinander verschränkt sind. Insofern ist von einem zirkulären Verlauf auszuge-
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hen, weil jede Position als implizite oder explizite Antwort auf eine andere zu lesen ist und parallel dazu Fragen aufwirft, die unter Umständen durch zuvor verworfene Zugänge gelöst werden können (vgl. ebd.: 15). Unabhängig vom jeweiligen Systematisierungsverfahren müssen sich Sammelwerke und Handbücher vor diesem Hintergrund beinahe unisono eingestehen, zumindest teilweise unvollständig zu bleiben. Andererseits lassen aber genau solche Umstände Raum für neue Formen der Überblicksdarstellung. Die vorliegende Auseinandersetzung orientiert sich deshalb an drei zentralen Fragestellungen, von denen die Filmtheorie bis heute geprägt und vorangetrieben wird. Anhand dessen ist es möglich, die wesentlichen Strömungen und Perspektiven sichtbar zu machen. Von dieser quasi-historischen Herangehensweise aus folgt dann ein Blick auf den aktuellen Diskurs der letzten Jahre. Während die Anfänge der Filmtheorie von zwei kontrastierenden Standpunkten (Konstruktivismus und Realismus) gekennzeichnet sind, geht es heute vor allem um die Abwägung des Spannungsverhältnisses »[Z]wischen Erfahrung und Zeichen« (Hagener 2012: 247). In diesem gedanklichen Raum gilt es letztlich auch die vorliegende Arbeit zu positionieren.
6.1
Die großen Fragen (und Antworten darauf)
Jene drei Fragen, die an dieser Stelle als Orientierungspunkte und rote Fäden dienen, lauten: • • •
Wie verhält sich der Film zur Realität? Was ist die spezifische Seinsweise des Mediums und wie funktioniert es? Wie gestaltet sich das Verhältnis zum »Zuschauer«(-Körper)?
Jeder theoretische Ansatz sucht in irgendeiner Form Antworten auf diese Aspekte. Parallel dazu haben bestimmte Traditionen oder Strömungen ein tiefergreifendes Interesse im jeweiligen Zusammenhang entwickelt. Entlang dieser Diskursfelder kann deshalb ein kaleidoskopartiger und gleichzeitig doch systematisch angelegter Querschnitt einer Reise durch den bunten Kosmos der Filmtheorie entstehen.
6.1.1 Wie verhält sich der Film zur Realität? Besonders in deren Anfängen war die Frage nach dem Verhältnis zur Realität die entscheidende Bezugsgröße. Elsaesser und Hagener (vgl. 2017: 25f) verweisen dahingehend auf die Metaphern zum Kino als Fenster oder Rahmen, die traditionellerweise mit den beiden großen Strömungen Realismus und Konstruktivismus korrespondieren. Diese historisch gewachsene Dichotomie innerhalb der Filmtheorie wirkt bis heute nach. Einerseits gibt es die intensive Auseinandersetzung von zwei einflussreichen Positionen auch aktuell in Form der Aushandlung zwischen dem kognitivistisch geprägten Formalismus und der Phänomenologie. Andererseits ist die Beschäftigung mit dem Realitätsbezug gerade durch die technologischen Möglichkeiten des Mediums wieder unmittelbar ins Zentrum gerückt. Nicht zuletzt deshalb werden viele »Klassiker« der frühen Filmtheorie nach wie vor stark rezipiert.
Zur Verortung innerhalb der Filmtheorie(n)
Die bekanntesten Vertreter des metaphorischen Fensters im Realismus sind André Bazin und Siegfried Kracauer. Für sie liegt das Wesen des Films in »dessen Möglichkeit zur Aufzeichnung und Wiedergabe der Realität und fürs bloße menschliche Auge nicht wahrnehmbarer Phänomene und Momente.« (Elsaesser/Hagener 2017: 26) Kracauers theoretisches Gesamtwerk ist vor dem Hintergrund der Entstehungszeit des Mediums zu sehen. Zunächst als Attraktion mit Dokumentarcharakter im späten 19. Jahrhundert eingeführt, entstand daraus schon sehr bald der (narrative) Spielfilm. Anhand dieser Entwicklungsdynamik erkannte Kracauer eine realistische und eine formgebende Tendenz (vgl. Bonnemann 2019: 143). Die Beobachtung wurde für ihn zur Beantwortungsgrundlage der damals entscheidenden Frage nach jenen Aspekten, die den Film als Kunstform einzigartig machen und ihn dahingehend legitimieren. Die Antwort darauf fasst Bonnemann (ebd.: 140) sehr treffend zusammen: »Für Siegfried Kracauer ist der Realitätsbezug ohne jeden Zweifel der Originalmodus fotografischer und filmischer Bilderfahrung, denn das fotografische Medium, dessen Nachzögling der Film ist, soll sich von allen anderen künstlerischen Medien wie Musik, Theater und Literatur dadurch unterscheiden, dass es unverstellte Realität wiedergeben kann.« Mit dem Realismus dieser Zeit ist also ein Qualitätsanspruch verbunden, der sich aus dem angenommenen Alleinstellungsmerkmal des Mediums ableitet. Eine Folge davon ist die besonders strikte Grenzziehung zum Theater, dem eben eher formgebende Tendenzen zugeschrieben werden. »Während im Theaterstück jedes Element der dramatischen Handlung dienlich sein soll, wendet sich der Film (…) den zufälligen Erscheinungen zu, die sich keinem übergeordneten Sinnzusammenhang unterwerfen lassen.« (Ebd.: 142) Diese ideologische Grundannahme verbindet Kracauer in hohem Maße mit einem anderen großen, realistischen Filmtheoretiker. André Bazin hat sich sein Lebenswerk dem italienischen Neo-Realismus gewidmet. Er prägte die Sichtweise, dass der Film strukturell mit der menschlichen Wahrnehmung verwandt ist und sich deshalb als Ausdruck der alltäglichen Erfahrungswelt eignet (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 41). Wichtig für ihn ist die Frage nach dem Motiv einer Kunstform. Während andere Theoretiker der Zeit ausschließlich von einer ästhetischen Motivation (vor allem in der Malerei) ausgehen, führt Bazin eine zusätzliche psychologische Dimension ein, deren Ziel es ist, Teile der Realität festzuhalten (vgl. Bonnemann 2019: 114). Daraus entsteht seine Vorstellung einer besonderen Seinsweise des Films. Dessen technische Möglichkeiten rücken nämlich die schöpferische Subjektivität in den Hintergrund und erlauben es, dem abgebildeten Objekt einen eigenen »Abdruck« zu hinterlassen (vgl. ebd.: 117). Insofern entspringt der Realismus bei Bazin einem Fortschrittsgedanken gegenüber den klassischen, bildenden Künsten. In dem Zusammenhang verweist er auch auf das Potential des Mediums, Zeit und Bewegung darzustellen (vgl. ebd.). Dieses grundsätzliche Verständnis von Film entsteht vor einem politischen Hintergrund, nachdem dieser kurz davor von diktatorischen und faschistischen Systemen in ganz Europa instrumentalisiert wurde (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 40f, vgl. Pischl 2017: 6). Bazin spielte nicht zuletzt deshalb in der Theorie nach 1945 eine große Rolle und erhält auch in den letzten Jahren – vor dem Hintergrund der Digitalisierung und in Zeiten von »Fake News« – wieder mehr Anerkennung. Insbesondere die Diskussion um den Verlust der Indexikalität – also der physikalisch-kausalen Verbindung zwischen Zeichen und repräsentiertem Objekt – durch die digitalen Film-Technologien findet vor diesem Hintergrund statt (siehe Pischl 2017: 8–17 o. Morsch 2017: 3ff).
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Außerdem hat Gilles Deleuze zentrale Gedanken von Bazin aufgegriffen (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 48) und damit das Wesen des Kinos bei der Darstellung von Zeit und Bewegung beschrieben. Unmittelbarer Kontrapunkt zum Film als realistisches Fenster ist das metaphorische Konzept des Rahmens. Dahingehend ist vor allem Rudolf Arnheim eine der prägendsten Figuren. Für ihn ergibt sich die besondere Seinsweise des Mediums gerade aus der Distanz zwischen »Realitätseindruck und Abstand zur Alltagswahrnehmung« (Elsaesser/Hagener 2017: 32). Arnheim hat also ein völlig anderes Verständnis von filmischer Kunstfertigkeit. Er geht nahezu gegenteilig davon aus, dass der Film »eine ganz eigene Welt und Wirklichkeit erzeugt« (ebd.). Für ihn erscheinen »nach diesem ganz anderen Maßstab (…) Filmbilder umso schlechter, je realistischer sie sind.« (Bonnemann 2019: 82) Seine Sicht ist insgesamt äußerst dystopisch, weil er im zunehmenden (technischen) Realitätsanspruch letztlich das Ende der Filmkunst erkennt (vgl. ebd.: 82f). Unabhängig davon gilt Arnheim aber als wichtigster Vertreter der formalistischen Filmtheorie, die von einer »Konstruiertheit der filmischen Welt« (Elsaesser/Hagener 2017: 31) ausgeht. In diesem gedanklichen Umfeld entwickelt Sergej Eisenstein beinahe zur gleichen Zeit den Begriff der Montage und damit eines der wichtigsten Konzepte des vom Formalismus beeinflussten Konstruktivismus. Die Montage ist Eisensteins Annahmen folgend »die zentrale Darstellungsweise des Films« (Bonnemann 2019: 58). Die Filmschaffenden erzeugen Bedeutung durch die »Auswahl und Anordnung der Einheiten« (Elsaesser/ Hagener 2017: 36). Gemeint sind vor allem Einstellungen und Bildausschnitte, die in einer ganz spezifischen Weise montiert werden. Dieses Grundprinzip prägte die Vorstellung zur Funktionsweise des Films. Eisenstein geht – vor allem am Beginn seines Gesamtwerkes – von einem behavioristischen Reiz-Reaktion-Schema aus, indem bestimmte Gestaltungselement vorherzusehende Effekte beim Publikum erzeugen (vgl. Hagener/Kammerer 2016: 4). Daraus entsteht einerseits sein künstlerischer Anspruch, der sich an eben dieser Montage-Technik orientiert, und zweitens seine Antwort auf den Wirklichkeitsbezug des Films. Ihm geht es nicht um die »mimetische Nachbildung der Realität, sondern um eine konstruktivistische Gestaltung einer Zuschauererfahrung« (Elsaesser/ Hagener 2017: 37). Eisenstein setzt damit ebenfalls auf den Grundsatz einer »Erschaffung der Welt« (ebd.: 45) und repräsentiert so gemeinsam mit Arnheim die Gegenposition zur realistischen Strömung in der (klassischen) Filmtheorie. Heute verläuft die Debatte rund um das Verhältnis des Films zur Realität entlang anderer Linien. Einerseits hat sich die ideologisch besetzte Frage mit dem (Neo-)Formalismus zuletzt etwas aufgelöst. Für David Bordwell – als wichtigstes Stimme dahingehend – ist grundsätzlich alles der zu erzählenden Geschichte untergeordnet. Er geht daher von einer »pragmatischen« Sicht der Filmschaffenden aus, die sich nicht für realistische oder konstruktivistische Paradigmen entscheiden, sondern vor allem im Dienst der Erzählung agieren (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 45f). Daraus entsteht das umfassende Interesse am narrativen Film. Außerdem entwickelte sich mit dem technologischen Fortschritt bei der Bildbearbeitung das weitgehende Bewusstsein um eine Medienrealität, die Jean Baudrillards Zuspitzung folgend letztlich zu einem »Verschwinden des Realen« führt (vgl. Bonnemann 2019: 138). Tendenziell hat sich in dem Zusammenhang also eine konstruktivistische Perspektive durchgesetzt.
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Gleichzeitig basiert die Hinwendung der Filmtheorie zur Rezeption vielfach auf realistischen Annahmen. Die kognitivistischen Ansätze unterscheiden bei der Untersuchung von Informationsverarbeitungsprozessen nicht unmittelbar zwischen filmischen und alltäglichen Situationen. Die konsequent zu Ende gedachte Haltung dahingehend wäre, dass das Kino »kein Sonderfall der Wahrnehmung mit eigenen Regeln« (Elsaesser/Hagener 2017: 210) ist. Dieser Zugang passt auch zu dem, was Bonnemann (2019: 140) als »konstitutives Moment unserer Rezeptionshaltung gegenüber Fotografie und Filmen« bezeichnet. Das Medium wird nach wie vor auf seine Qualitäten zur Wiedergabe von Wirklichkeit geprüft. Dieses Phänomen lässt sich insbesondere auch in den Alltagsdiskussionen über Filme oder Serien beobachten. Trotz unseres Wissens über die Möglichkeiten zur Bildmanipulation ist der Realitätsbezug im Sinne Kracauers zumeist der »Originalmodus« (vgl. ebd.), an dem wir unsere subjektive Erfahrung messen. Auch die phänomenologische Herangehensweise, die »eine strukturelle Parallele zwischen der menschlichen Wahrnehmung und der Wahrnehmung des Films« (Zechner 2016: 5) zieht und das kognitive Verstehen um eine »körperliche Komponente« (Elsaesser/Hagener 2017: 148) erweitert, weist dadurch letztlich realistische Züge auf. Die Filmtheorie ist also bis heute indirekt von beiden Paradigmen durchzogen. Alle dargelegten Positionen müssen sich aber nicht zwingend widersprechen, sondern können im Sinne eines zirkulären Verständnisses Antworten auf unterschiedliche Fragen geben. Auf Produktionsseite ist unbestritten, dass der Film eigenen Gesetzmäßigkeiten und Logiken folgt und damit neue Realität(en) erschafft. Gleichzeitig entstehen diese filmischen Welten und ihre Bedeutung nicht im luftleeren Raum, sondern orientieren sich an der menschlichen Wahrnehmung als »Originalmodus«. Jede Filmanalyse bewegt sich ständig zwischen diesen beiden Kräften.
6.1.2 Wie funktioniert das Medium Film? Ein zweiter Fragenkomplex, mit dem sich die Filmtheorie intensiv beschäftigt hat, ist die Auseinandersetzung mit den spezifischen Funktionsweisen des Mediums. Die skizzierte Debatte zwischen Realismus und Konstruktivismus in der Frühphase des Films, die nach Einzigartigkeit und Kunstfähigkeit im Vergleich zu anderen Kulturtechniken sucht, ist eine Facette davon. Bereits dort taucht in Form von Eisensteins Überlegungen zur Montage aber auch ein großes Interesse an den filmtechnischen Verfahren auf. Beide Aspekte sind zu Beginn daher ineinander verwoben. Außerdem zeigt sich an dem Beispiel die »große Nähe zwischen Theorie und Praxis« (Hagener/Kammerer 2016: 2), weil die meisten Denker zugleich auch Filmschaffende, Drehbuchautoren oder Kritiker waren. In diesem Kontext entstehen die Gedanken von Béla Bálazs. Er widmet sein Werk vor allem der Großaufnahme als »ästhetische Ausdrucksmöglichkeit, die von keinem anderen künstlerischen Medium beansprucht werden kann« (Bonnemann 2019: 36). Damit verknüpft ist seine ideologische Annahme, dass die zuvor visuelle Kommunikation des Menschen mit dem Buchdruck verschriftlicht wurde und durch das Kino nun wieder zu einer Ursprünglichkeit zurückfinden könnte (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 78). Bálazs rückt deshalb die Geste als zentrales Merkmal ins Zentrum (vgl. ebd.) und geht von einer »Physiognomie der Welt« (Bonnemann 2019: 45) insgesamt aus. Obwohl er also allen Objekten diese grundsätzliche Ausdrucksfähigkeit zugesteht, spielt für ihn das menschliche Ge-
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sicht in Verbindung mit dem Verfahren der Großaufnahme eine besondere Rolle. Er erkennt »im nuancierten Mienenspiel eines Schauspielers das eigentliche Terrain und die Vollendung der Filmkunst« (ebd.: 37). Damit versucht auch er das neue Medium vor allem vom Theater abzugrenzen, dem er eine »Hörbarkeit« unterstellt, weil dort das gesprochene Wort als wichtigstes Ausdrucksmittel dient, während der damalige Stummfilm auf »Sichtbarkeit« in Form einer Gebärdensprache setzt (vgl. ebd.: 37f). Die Arbeit von Bálazs ist heute durchaus vielschichtig wirksam. Er war einerseits der wichtigste Bezugspunkt für alle okularzentrischen Ansätze, die sich am menschlichen Blick und dem Prozess des Sehens orientiert haben. Gleichzeitig nimmt er mit seinem Interesse an der Geste aller Dinge aber Teile der mimetisch-phänomenologischen Diskussion, die sich in den letzten Jahren mit dem Bewusstsein um Sinnlichkeit und Körper gegen das rein visuelle Paradigma formiert hat, vorweg. Auch daran zeigt sich das historisch gewachsene und konstante Spannungsverhältnis innerhalb der Disziplin. Das zweite Beispiel für eine Auseinandersetzung mit den filmischen Verfahren ist die Zeitlupe. Mit ihr haben sich vor dem Hintergrund der Realismus-Debatte unterschiedliche Persönlichkeiten von Walter Benjamin über Arnheim, bis hin zu Jean Epstein, Kracauer und Bazin intensiv beschäftigt (vgl. Hagener/Kammerer 2016: 9ff). Sie alle argumentieren im Sinne ihrer jeweiligen theoretischen Position und bewerten die Technik dahingehend. Das Phänomen einer geänderten Zeiterfahrung wirft aber auch ganz grundsätzliche Fragen zu Bewusstsein oder Wahrnehmung auf und führt daher indirekt zu einem anderen zentralen Vertreter der frühen Filmtheorie. Hugo Münsterberg hat sich selbst nie mit der Zeitlupe beschäftigt, entwickelt im Verlauf seines Wirkens aber ein zunehmendes Interesse an den spezifisch filmischen Werkzeugen. Für ihn liegt das Alleinstellungsmerkmals des Films nämlich im Potential zur »Nachahmung des menschlichen Bewusstseins mit seinen unterschiedlichen Vermögen« (Bonnemann 2019: 21). Ähnlich wie Bálazs hat auch er sich daher unter anderem mit der Großaufnahme beschäftigt. Münsterberg definiert sie als gedanklichen Akt der Aufmerksamkeitskonzentration, indem ein Detail in den Fokus der Wahrnehmung rückt und alles andere ausgeblendet wird (vgl. ebd.: 22). Statt des mimetischen Ausdrucks rückt für ihn aber der Kameraeinsatz als Gestaltungselement ins Zentrum (vgl. ebd.: 23f). Außerdem theoretisiert er die Rückblende. Sie entspricht seiner These folgend dem geistigen Prozess der Erinnerung (vgl. ebd.: 22f). Dementsprechend wäre die zuvor angesprochene Zeitlupe nicht auf ihren Realitätsbezug hin zu untersuchen, sondern auf ihre Entsprechung im menschlichen Bewusstsein. Münsterberg ist damit ein Vorläufer der kognitivistischen Ansätze. Er spielt heute aber auch in den philosophischen Überlegungen zum »Kino als Geist« eine zentrale Rolle (siehe Elsaesser/Hagener 2017: 192f). Der Blick auf seine Arbeit zeigt exemplarisch, dass mit dem Interesse an filmtechnischen Verfahren immer auch andere perspektivische Fragen einhergehen. Die dritte und einflussreichste Theoretisierung einer Gestaltungsweise des Films ist aber das Konzept der Montage, das bereits im Zusammenhang mit dem Konstruktivismus thematisiert wurde und eng mit dem Namen Eisenstein einhergeht. Für ihn gilt als oberstes Organisationsprinzip auf formaler und inhaltlicher Ebene, dass der »Bildzusammenhang vor der einzelnen Einstellung« (Bonnemann 2019: 60) steht. Ebenfalls zur Reihe der russischen Montagetheoretiker gehören Lev Kuleshov, Vsevolod Pudovkin oder Dziga Vertov. Sie alle verbindet die Vorstellung, »dass der Zuschauer zwei direkt auf-
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einanderfolgende Einstellungen gedanklich zu verbinden sucht und daraus etwas Drittes entsteht« (Hagener/Kammerer 2016: 3). Das Verfahren des Filmschnitts – also der bewussten Anordnung und Organisation einzelner Einstellungen im Sinne eines großen Ganzen – ist damit ins Zentrum der analytischen Auseinandersetzung gerückt. Etwas später hat der französische Strukturalismus vor allem über Christan Metz den Begriff erweitert und die Möglichkeit eröffnet, dass auch längere Einstellungen in sich gesehen als Form der Montage gelten können (vgl. ebd.: 7f). Metz dient an dieser Stelle auch als Verbindungsstück zu einer weiteren Facette der Frage nach den spezifischen Funktionsweisen des Films. In den letzten Jahrzehnten sind dahingehend nämlich vor allem narratologische Herangehensweisen ins Zentrum gerückt, die sämtliche Verfahren, Techniken und Gestaltungsprinzipien in erster Linie am jeweiligen Beitrag zur Erzählung messen. Der zuvor angedeutete (Post-)Strukturalismus spielt als Gegenposition zum (Neo-)Formalismus in dieser Debatte eine entscheidende Rolle. Elsaesser und Hagener (2017: 59) fassen die daraus entstehende Dichotomie mit folgenden Worten zusammen: »Der neoformalistischen und kognitiven Narrationstheorie geht es vor allem um eine streng rationale und logische Informationsverarbeitung, während die poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Ansätze die Instabilität von Bedeutung ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit rücken.« Der Diskurs siedelt sich also um die Frage an, wie der Film Bedeutung oder Information vermittelt und damit eine Erzählung vorantreibt. Beide Modelle finden darauf jeweils unterschiedliche Antworten. Der Poststrukturalismus geht Hand in Hand mit den semiotischen Ansätzen zum Film. Historischer Ausgangspunkt dafür ist zunächst die zunehmende Verschiebung des Interesses vom Werk zum Text in den 1960er-Jahren (vgl. Nessel 2019: 2). Insbesondere über Metz fließen in dieser Zeit Überlegungen von Roland Barthes (vgl. Bonnemann 2019: 177) oder Ferdinand de Saussures (vgl. ebd.: 180f oder Kessler 2014: 106f) in die Filmtheorie ein. Daraus entwickelt sich letztlich die poststrukturalistische Prämisse, dass der »Text niemals ein einheitliches und nach innen und außen klar abgrenzbares Phänomen« (Elsaesser/Hagener 2017: 63) ist, sondern seine Bedeutung immer als instabil betrachtet werden muss (vgl. ebd.: 62). In dem Umfeld setzt sich Metz mit dem Begriff der »Filmsprache« auseinander. Obwohl er grundlegende Unterschiede zur Verbalsprache herausarbeitet (vgl. Kessler 2014: 109f), geht er von einer gewissen »Sprachlichkeit« aus und erkennt in der Linguistik ein teilweise auf den Film anwendbares Analysewerkzeug (vgl. ebd.: 111). Mit dem von dort entlehnten Konzept der Denotation – also der »wörtlichen« Bedeutung eines Zeichens – geht es ihm vor allem darum, »eine Bedeutungsschicht, die unmittelbar mit dem Einsatz bestimmter kinematographischer Verfahren verbunden ist und die somit die eigentliche filmische Sprachlichkeit ausmacht« (ebd.) zu untersuchen. Metz gilt damit als wichtigster Vertreter der Filmsemiotik. In dieser Tradition entsteht ein großes Interesse an textuellen Analysen des Films, die sich am literaturwissenschaftlichen »close reading« orientieren (vgl. Nessel 2019: 10). Ein zweites Modell im Hinblick auf die Frage, wie der Film Bedeutung erzeugt und so eine Geschichte vermitteln kann, ist der Neoformalismus. Er gilt vielfach als unmittelbare Antwort auf den »hoch abstrahierten Begriffsapparat von Metz« (Kirsten 2016: 2) und hat sich vor allem als praxisnahe Analysemethode etabliert. Die wichtigsten Stimmen in dem Umfeld sind David Bordwell und Kristin Thompson. Ihre zentrale Annahme
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ist, dass der Film aus sogenannten »cues« – also audiovisuellen Hinweisen – besteht, über die das Publikum Bedeutung konstruiert (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 59ff). Insofern interessiert sich eine neoformalistische Herangehensweise für die Beschreibung der filmischen Verfahren und ihre narrativen Funktionsweisen. Eine zentrale Rolle dabei spielt das Konzept der Motivierung. Jeder Einsatz eines filmischen Gestaltungselement ist entweder kompositionell, realistisch, transtextuell oder künstlerisch motiviert (vgl. Bonnemann 2019: 249–252). Unter dem Sammelbegriff einer »historischen Poetik« geht es außerdem um die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Stilen, die sich als Erzählmuster und Konventionen im zeitlichen Verlauf entwickelt haben (siehe dazu Hartmann/Wulff 2014: 203–209). Der Neoformalismus gilt im Zusammenspiel all dieser Aspekte als wichtiger Orientierungspunkt für die Analyse des narrativen Films und hat aufseiten der theoretischen Debatte vor allem auch »der Entwicklung der Filmnarratologie entscheidende Impulse« (ebd.: 194) gegeben. Hinsichtlich der Rezeption liegt dem Modell ein kognitivistisches Verständnis zugrunde. Elsaesser und Hagener (2017: 59) verweisen auf die »streng rationale und logische Informationsverarbeitung«. Aufbauend darauf entsteht – neben der Hinwendung zum filmischen Verfahren – ein ausgeprägtes Interesse am Verstehensprozess. Bordwell und Thompson weisen dem Publikum dahingehend eine aktive Rolle zu, indem dieses die angebotenen »cues« des Films »nach Kategorien ordnet, die auf sein Vorwissen zurückgehen, provisorische Schlüsse zieht und Hypothesen darüber aufstellt, welchen Verlauf die Handlung wohl als Nächstes nehmen wird«, um sich schließlich »den narrativen, chronologischen und räumlichen Zusammenhang des Films zu erschließen« (Bonnemann 2019: 254). Die Bezugnahme auf den Kognitivismus richtet sich mit Blick auf den historischen Kontext also vor allem gegen das Zuschauermodell der psychoanalytischen Ansätze. Damit öffnet sich die Tür zum dritten, großen Fragenkomplex im filmtheoretischen Kosmos.
6.1.3 Wie gestaltet sich das Verhältnis zum »Zuschauer«(-Körper)? Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Film und Publikum ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr ins Zentrum gerückt. Obwohl sich bereits Eisenstein in seinem Spätwerk etwas vom Behaviorismus distanziert hat und mit der sogenannten intellektuellen Montage auf die gedankliche Leistung des Publikums verweist (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 39), sind die historischen Anfänge der Disziplin doch von einem eher passiven Zuschauerverständnis geprägt. Insofern entwickelt sich das vertiefende Interesse an der Frage erst deutlich später. In der Folge kristallisieren sich drei übergeordnete Zugänge heraus, anhand derer die unterschiedlichen Modelle grob kategorisiert werden können. Eine große Strömung der Debatte ist im Umfeld der Psychoanalyse zu verorten. Die beiden Disziplinen stehen relativ früh im gegenseitigen Austausch. Einerseits wird versucht, »komplexe psychoanalytische Konzepte auf filmanalytische Schemata verkürzt« anzuwenden, andererseits werden »umgekehrt Filme zur Projektionsfläche solcher Konzepte« gemacht (Kappelhoff 2014: 130). Großen Einfluss dahingehend hatte Jean-Louis Baudry, der mit seiner »Apparatus-Theorie« einen vielbeachteten und ebenso stark kritisierten Beitrag zur »Situierung des Zuschauerkörpers gegenüber dem Film« (Elsaesser/Hagener 2017: 88) geleistet hat. Mit der Annahme eines »kinematografischen Apparats« interessiert er
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sich für die »technisch-räumliche Anordnung der Filmrezeption« (Kappelhoff 2014: 131), die »den Zuschauer praktisch in einen Trancezustand, in dem er kaum noch zwischen der Projektion und seiner eigenen Situation unterscheiden kann« (Elsaesser/Hagener 2017: 88), versetzt. Der Ansatz geht also gewissermaßen vom Überwältigen und Einnehmen des Publikums aus und ist daher auch eng an eine politisch ausgerichtete Ideologiekritik geknüpft. Psychoanalytische Bezugspunkte von Baudry sind vor allem die Traumdeutung von Sigmund Freund, der den analog verwendeten Begriff des »psychischen Apparats« geprägt hat (vgl. Rall 2019: 6), und Jacques Lacans entwicklungstheoretisches Konzept des »Spiegelstadiums« (vgl. Kappelhoff 2014: 136ff). Mit all diesen Elementen hat auch Metz gearbeitet, der in seinem Spätwerk einen einflussreichen Beitrag zur »ApparatusTheorie« geleistet hat. Unter anderem überträgt er Freuds »primärer Identifikation« auf die Filmrezeption (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 86) und prägt damit die grundlegende psychoanalytische Vorstellung vom Kino als »primäre Wahrnehmungsaktivität (…), welche der des Träumens gleicht« und deshalb »unterhalb der sprachlichen Organisation des Bewußtseins [sic!]« (Kappelhof 2014: 152) anzusiedeln ist. Im unmittelbaren Umfeld der psychoanalytischen Ansätzen ist auch die frühe feministische Filmtheorie entstanden. Diese formiert sich zunehmend als Kritik am »Apparatus« und wird in erster Linie durch Laura Mulvey vertreten. Ihre zentrale Annahme ist, »dass das Kino vor allem über eine Anordnung von Blicken strukturiert ist« (Elsaesser/ Hagener 2017: 118). Insofern fragt sie nach der »Einschreibung und Funktion von Geschlechtlichkeit« (ebd.: 117) im kinematografischen Apparat. Mulvey kommt in ihren Analysen zum radikalen Schluss, dass insbesondere die Filmsprache des Hollywood-Kinos von Geschlechterdifferenzen und Geschlechterherrschaft durchzogen ist (vgl. Klippel 2016: 4). Problematisch ist für sie nicht unbedingt die weibliche Codierung (von Körperlichkeit und Sexualität oder die Dynamik des Gesehenwerdens) selbst, sondern vor allem die Tatsache, dass die Frau zum Signifikanten für das männliche Unterbewusste und damit zum Schauplatz für Bewältigungsstrategien wird (vgl. ebd.: 4f). Wichtig für diese Perspektive ist der Begriff »suture«. Die Bezeichnung geht auf das chirurgische Zunähen einer Wunde zurück und verweist auf das filmtheoretische »Einnähen« des Publikums in die Erzählung (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 113). Durch die Verfahren des klassischen Kinos wird dem männlich konzipierten Zuschauer fast durchgängig die Rolle des wahrnehmbaren Bewusstseins zugewiesen (vgl. Koppelhof 2014: 140). Arbeiten, die dem psychoanalytischen Ansatz von Mulvey gefolgt sind, haben deshalb die Erzählstruktur im Hinblick auf diesen Aspekt untersucht. Teresa de Lauretis beispielsweise macht die filmische Narration für die patriarchale Bildstruktur und die daraus abgeleitete Zuschauerposition verantwortlich (vgl. Klippel 2014: 174). Gleichzeitig relativiert sich die Dominanz der Psychoanalyse in der feministischen Filmtheorie an genau dieser Stelle. Judith Mayne identifiziert in der zweiten Hälfe der 1980er-Jahre nämlich auch weibliche Erzählperspektiven im frühen Kino und eröffnet damit die Hinwendung zur filmhistorisch geprägten Forschung (vgl. ebd.). Letztlich kommt es in dem Umfeld also zu einer Abkehr von psychoanalytischen Ansätzen. Unabhängig davon gibt es heute eine starke Tradition der Psychoanalyse rund um den Film. Insbesondere Slavoj Žižek ist in dem Zusammenhang zu nennen. Er kritisiert die verkürzte Aneignung psychoanalytischer Konzepte jedoch vehement (vgl. Rall 2019: 13) und wählt einen ganz anderen Weg, indem er Theorien von Lacan anhand populär-
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kultureller Filme erklärt (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 131). Für Žižek erlaubt das Kino einen Einblick in die »dialektische Struktur der menschlichen Psyche und ihres Begehrens« (Rall 2019: 14). Vor diesem Hintergrund beschäftigt er sich unter anderem mit dem Phänomen der »unmöglichen Subjektivität«, das er als Bruchstelle der klassischen Narration begreift und aus der er das sogenannte Blickregime ableitet (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 132f). Nicht zuordenbaren Subjektpositionen attestiert er in der Folge »einen geisterhaften und frei im Raum beweglichen Blick, der die hierarchischen und eindeutig strukturierten Beziehungen von Subjekt und Objekt verkehrt und auflöst.« (Ebd.: 133) Auch das ist eine Form der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Publikum und Film, die sich im filmhistorischen Verlauf entwickelt hat. Die größte Kritik an den psychoanalytischen und ideologiekritischen Ansätzen kommt – wie bereits zuvor angedeutet – vom Kognitivismus, den die neoformalistische Strömung einfordert. Dadurch werden Rationalität und Informationsverarbeitung zu den zentralen Kategorien rund um die Rezeption. Die Herangehensweise interessiert sich in der Folge für zwei Prozesse. Einerseits geht es um das Filmverstehen, also um »den mentalen Nachvollzug der Bestandteile und Strukturen der Diegese sowie der sich entfaltenden Geschichte« (Kirsten 2016: 8). Zweitens wird die Ebene der Interpretation als »zuschauerseitige Produktion von Bedeutung« (ebd.) berücksichtigt. Daraus leitet sich das grundlegende Verständnis eines aktiven und bewussten Publikums ab. »Von bewußten [sic!], rationalen Operationen eines denkenden Ichs ausgehend, fragt die kognitive Theorie, was der Zuschauer mit dem Film macht, um ihn zu verstehen, bzw. wie der Film strukturiert ist, damit er verstanden werden kann.« (Hartmann/Wulff 2014: 204) Genau hier verläuft die Trennlinie zum Poststrukturalismus, der in seiner Bezugnahme auf Psychoanalyse und Ideologiekritik die Filmrezeption als passiven und unbewussten Vorgang versteht (vgl. Bonnemann 2019: 253f). Die kognitivistischen Ansätze verorten das Verhältnis zwischen Publikum und Film also auf Ebene des Gehirns oder Geistes. Diese grundsätzliche Idee ist mit Blick auf die Historie keineswegs neu. Eisensteins intellektuelle Montageform sieht in der filmischen Gestaltung eine Entsprechung zum konzeptuellen Denken und Münsterberg vertritt bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts die These, dass die Techniken des Kinos geistige Prozesse nachahmen (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 192). Aufseiten der philosophischen Perspektiven ist Deleuze, der mit seinem Rückgriff auf Henri Bergson die filmischen Bewegungs-Bilder auf »Ebene eines diffusen Materiestroms« (Bonnemann 2019: 213) verortet, im weitesten Sinne diesem Paradigma zuzuordnen. Gleichzeitig gibt es neurowissenschaftliche Überlegungen zur Filmrezeption, die sich am Phänomen der Spiegelneuronen orientieren. Diese sind dafür verantwortlich, dass das Beobachten einer Handlung bei anderen die exakt gleiche Gehirnaktivität hervorruft wie im eigenen Tun (vgl. Elsaesser/Hagener 2017: 98f). Daraus lässt sich auf eine Verschaltung von Körper und Geist im Rezeptionsprozess schließen. Dieser theoretische Gedanke führt zur dritten großen Strömung, die sich mit dem Verhältnis zwischen Publikum und Film beschäftigt hat. Die phänomenologischen Ansätze, die vor allem durch Vivian Sobchack geprägt und beeinflusst wurden, rücken das leiblich-sinnliche Wahrnehmen ins Zentrum. Sie sind daher als unmittelbare Kritik an den okularzentrischen und kognitivistischen Theorien zu lesen. Bonnemann (2019: 282) markiert die grundlegende Differenz im Zuschauermodell mit folgenden Worten:
Zur Verortung innerhalb der Filmtheorie(n)
»Während Bordwell und Thompson (…) an ein rationales Subjekt des Filmverstehens denken, hebt Sobchack das leibliche Subjekt der Filmwahrnehmung hervor.« Die Filmrezeption wird damit zur gesamtkörperlichen Erfahrung und geht über das reine Sehen und davon ausgelösten gedanklichen Prozesse hinaus. Eine phänomenologische Herangehensweise versucht sich, »dem körperlichen Sinn, welcher in der Filmwissenschaft lange ausgeklammert wurde« (Zechner 2016: 9) anzunähern. Die Frage nach der Entstehung von Bedeutung verschiebt sich damit von der Logik einer Narration zur »Leiblichkeit«. Drehli Robnik (2014: 248) schreibt dazu: »Konzepte der Körperlichkeit von Filmerfahrung sind Teil einer seit den 90er Jahren verbreiteten theoretischen Skepsis gegenüber der Annahme einer Totalität oder Hegemonie der Erzählung im Prozeß [sic!] filmischer Sinnstiftung«. Daraus entsteht die grundlegende ideologische Differenz zur neoformalistisch und kognitivistisch geprägten Tradition. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal betrifft die Beschreibung des Verhältnisses zum Publikum. Sobchack gesteht dem Film selbst eine eigene Leiblichkeit und Subjektivität zu und spricht daher vom Aufeinandertreffen zweier intentionaler Subjekte (vgl. Zechner 2016: 5f). Dadurch wird von einer wechselseitigen Beziehung ausgegangen. Dem folgend drückt sich eine »Erfahrung (im Film) nur in Form einer (weiteren) Erfahrung (des Filmzuschauers)« aus, wodurch »Film- und Zuschauererfahrung weder heuristisch noch hierarchisch auseinandergehalten« (Elsaesser/Hagener 2017: 150) werden können. Auf einer strukturellen Ebene der Wahrnehmung kommt es daher zu einer völligen Gleichstellung. Filmrezeption wird auf diesem Wege zu einer Form der kommunikativen Begegnung. Die Film-Phänomenologie ist mit diesen Prämissen zur einflussreichsten Strömung neben dem Neoformalismus geworden. Die Dichotomie zwischen den beiden Positionen prägt den aktuellen Diskurs. Insofern schließt sich hier der Kreis dieses Überblicksversuchs in Richtung Gegenwart.
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Zwischen Erfahrung und Zeichen
Jede filmtheoretische Auseinandersetzung muss sich heute in irgendeiner Form innerhalb dieses Spannungsverhältnisses orientieren und positionieren. Hagener (2012: 247) beobachtet in dem Zusammenhang »Konjunkturzyklen von phänomenologischen und formalistisch-semiotischen Ansätzen, die sich in solchen polarisierenden Gegenüberstellungen wie Phänomenologie und Konstruktivismus, Mimesis und Text oder Erfahrung und Zeichen finden.« Ein diametrales Gegenüberstellen und strenges Abgrenzen führt jedoch nicht immer zum Ziel und ist in vielen Fällen gar nicht notwendig. Die unterschiedlichen Perspektiven rücken ihrerseits jeweils andere Aspekte ins Licht, weshalb es mittlerweile auch eine Vielzahl an Arbeiten gibt, bei denen ganz bewusst »die Beziehung von Textualität und Erfahrung« (ebd.: 251) im Zentrum steht. Zwei dementsprechende Stimmen sollen an dieser Stelle exemplarisch vorgestellt werden, um den Diskurs der letzten Jahre unmittelbar aufzugreifen und dem Denken der vorliegenden Arbeit damit eine Anschlussmöglichkeit zu bieten. Franziska Heller (vgl. 2019: 11) modelliert das Konzept des filmischen Erzählens im Sinne der Phänomenologie. Sie »betont (…) die Prozesshaftigkeit filmischer Wahrnehmung und ihrer Abkopplung von rationalen und logischen Ordnungskriterien« und verändert damit die »Positionierung des Zuschauers« in Richtung »eines phänomenologischen Subjektbegriffs« (Scharrer 2012: 167). An diesem Punkt löst sich die alleinige Besetzung der Narratologie
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durch kognitivistisch-formalistische Ansätze auf. Kritik am narratologischen Modell gibt es vor allem hinsichtlich dessen Zentrierung auf die Sprache (vgl. Hagener 2012: 48 u. Scharrer 2012: 167). Heller (2019: 11) unterstreicht ihre dahingehend zentrale Prämisse mit folgenden Worten: »Filmische Narration zu untersuchen, heißt (…) insofern, diese nicht rein kognitiv zu begreifen, sondern den ›Leib‹, den Zuschauerkörper, als sinnlichen und affektiven Resonanzraum (…) zu denken.« Bei der Konzeption widmet sie sich exemplarisch dem Motiv des Wassers, um auf die Struktur der filmischen Wahrnehmung als Prozess des Fließens, der Veränderung und der Bewegung aufmerksam zu machen (vgl. Hagener 2012: 247f). Hellers Arbeit ist ein Beispiel dafür, dass das körperliche Erleben als »eigene Sinndimension (»ursprüngliches« Erkennen) filmischer Erfahrung« berücksichtigt werden kann, wodurch sich die zeichen- und sprachbasierte Vorstellung »filmischen Erzählens als kognitiven, auf Kausallogik bauenden Verstehensprozess« (Heller 2019: 11) erweitert. Auch Thomas Morsch beschäftigt sich in ähnlicher Weise und ebenfalls von der Phänomenologie ausgehend mit dem Körper als Ort der (narrativen) Sinngebung. Im Zusammentreffen »von Kognition und Affekt, von Narration und Spektakel, von Sinn und präsubjektiver Körperlichkeit« betrachtet er die »Spannung zwischen beiden Polen als konstitutiv für das Medium.« (Hagener 2012: 249) Morsch löst damit die ideologischen Gegensätze zwischen Text und Erfahrung auf und berücksichtigt ganz bewusst beide Aspekte gleichermaßen. Insofern stellt er die »konstruierte, antagonistische Stellung von Körper und Intellekt« (Morsch 2010: 61) radikal in Frage. Daraus leitet sich folgende Prämisse ab: »[D]ie leibliche Erfahrung im Kino vollzieht sich nicht auf Kosten der kognitiven oder geistigen Erfahrung, sondern ist mit dieser unauflöslich verschränkt.« (Ebd.) Trotz seiner phänomenologischen Ausrichtung sucht der Ansatz also die Verbindung zwischen textueller Struktur auf der einen Seite und körperlicher Wahrnehmung andererseits. Dieses Ansinnen verbindet die beiden vorgestellten Perspektiven miteinander und in weiterer Folge mit der vorliegenden Arbeit.
7
Neoformalismus
Dementsprechend werden in den nächsten Schritten relevante Positionen aus verschiedensten Richtungen vertiefend beleuchtet und im Hinblick auf die eigene Herangehensweise anwendbar gemacht. Das erste filmtheoretische Koordinatensystem, zu dem es Bezugspunkte gibt, ist der Neoformalismus. Prägende Dynamiken innerhalb des Ansatzes sind die »Hinwendung zum filmästhetischen Material, zu detailgenauen historischen Studien auf breiter empirischer Basis, aber auch eine Berücksichtigung der Verstehensleistung des Filmzuschauers« (Hartmann/Wulff 2014: 192). Über allem steht die Instanz einer filmischen Narration. Diese Prämisse und einige der genannten Teilaspekte wurden bereits überblicksmäßig thematisiert. Das vorliegende Kapitel begibt sich auf eine Spurensuchen nach den einzelnen Elementen.
Zur Verortung innerhalb der Filmtheorie(n)
7.1
Von den Wurzeln im russischen Formalismus
Insbesondere im Hinblick auf (kunst-)theoretische Positionen und methodische Fragen hat sich die neoformalistische Strömung – ihrer Bezeichnung entsprechend – am russischen Formalismus des ausgehenden 20. Jahrhunderts orientiert. Zentraler Orientierungspunkt ist dessen grundsätzliches Kunstverständnis. Dahingehend wird vor allem auf die Differenz »zwischen einer praktischen, alltäglichen und einer spezifisch ästhetischen, nicht praktisch orientierten Wahrnehmung« (Thompson 1995: 28) verwiesen. Kunst ist demnach ein vom restlichen Alltag zu unterscheidender Bereich, der ganz eigene Formen der Erfahrung ermöglicht. Deshalb kann ihr die einzigartige Fähigkeit zugeschrieben werden, »die routiniert und vorbewusst ablaufende Wahrnehmung alltäglicher Vorgänge zu ‘entautomatisieren´« (Kirsten 2016: 4). Kunst erweitert also und bricht mit der automatisierten Routine des menschlichen Alltags. Thompson (1995: 29) erkennt in dieser Interaktion mit künstlerischen Werken deshalb sogar eine »Art mentales Training«, das »unsere Wahrnehmungen und Gedanken erneuert«. Mit dem Formalismus ergibt sich dadurch auf den ersten Blick eine aus heutiger Sicht idealistisch anmutende Vorstellung von Film(Kunst) und Rezeption. Vielfach wurde daraus ein Kunstbegriff abgeleitet, der von der Alltagswelt weitestgehend entkoppelt ist und ausschließlich auf sich selbst verweist. Diese Schlussfolgerung ist jedoch differenziert zu betrachten. Dabei lohnt sich ein Blick auf die mediale Eigenschaft, aus der die Fähigkeit zur mentalen Erneuerung abgeleitet wird. An der Stelle kommt das Konzept der Ostranenie – auf Deutsch als »Verfremdung« übersetzt – ins Spiel. Der Begriff nimmt in der (neo-)formalistischen Tradition eine zentrale Stellung ein. Thompson (1995: 31) verweist damit auf den Prozess der Transformation durch Kunst, bei dem »Material in einen neuen Kontext gestellt und dadurch in ungewohnte formale Muster eingebunden wird«. Die Verfremdungsleistung ist das Gegenstück zum »Aspekt der Automatisierung« und definiert »den grundlegenden Zweck der Kunst in unserem Leben« (ebd.). Durch das Begriffspaar Verfremdung/Automatisierung wird letztlich also kein Modell entworfen, das die Kunst als abgekapseltes System versteht. »Vielmehr ist sie aufgrund ihres Entautomatisierungspotenzials immer an die lebensweltliche Wirklichkeit rückgebunden, weil sie erstens ihr Material aus dieser entlehnt, zweitens auf deren Wahrnehmung (…) rückwirkt.« (Kirsten 2016: 4) Die Kunst reagiert gewissermaßen auf die eigene Umgebung, indem sie bewusst neue Erfahrungsräume anbietet. Dadurch entsteht die Vorstellung eines dynamischen Entwicklungsprozesses ästhetischer Formen, die zunächst verfremden und dann automatisiert werden, um schließlich neue Konventionsbrüche notwendig zu machen. Dieses theoretische Kunstverständnis dient als Fundament für die neoformalistische Filmanalyse. »Der einzelne Film wird dieser Programmatik zufolge primär verhandelt als Auseinandersetzung mit der stilistischen Tradition, die den Hintergrund bildet, vor dem Verfremdung sichtbar wird.« (Hartmann/Wulff 2014: 199) Das Interesse an filmischen Verfahren, Stilen, Form und Konventionen wird mit Bordwell deshalb schlussendlich zu einer »historischen Poetik«. Dabei rückt der Film als »doppelt orientiertes Untersuchungsobjekt« (ebd.: 203) ins Zentrum. Einerseits bildet das einzelne Werk den Ausgangspunkt, indem das jeweils »Spezifische des Films« (ebd.) untersucht wird. Zweitens geht es um das »Herausarbeiten der Konventionen, vor deren Hintergrund ein Werk entsteht.« (Ebd.) Die umfangreichen Studien zur Stilgeschichte entwickeln sich damit aus dem formalistischen Kunstbe-
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Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge
griff heraus. Für die Analysen des Neoformalismus gilt laut Hartmann und Wulff (2014: 193) daher die grundsätzliche Prämisse, dass »formale Charakteristika des Films respektive besonderer filmischer Formen und Stile die Bedingung dafür bilden, (…) wie Filme verstanden werden«. Das ist die gemeinsame Basis, die alle Arbeiten innerhalb der Strömung im Kern miteinander verbindet. Ein zweites Schlüsselkonzept, das eng mit den bisher geschilderten Annahmen verknüpft ist und seine Wurzeln ebenfalls im russischen Formalismus findet, ist der bereits mehrfach aufgetauchte Begriff der Verfahren. Film als Kunst wird demnach durch »die Summe (…) seiner Verfahren« (Kirsten 2016: 4) bestimmt. Die Bezeichnung umfasst damit »jedes einzelne Element oder jede Struktur, die im Kunstwerk eine Rolle spielt« (Thompson 1995: 35). Das können Kamerabewegungen, Montageformen, Kostüme, schauspielerische Gesten oder eben Musikeinsätze sein. Sie alle werden »hinsichtlich ihres Verfremdungspotentials und ihrer Möglichkeit, ein filmisches System aufzubauen,« (ebd.) betrachtet. Dadurch entsteht das grundlegende Interesse an den formalen Strukturen »als Bedingung von Bedeutungsproduktion« (Hartmann/Wulff 1995: 8). Die zunehmende Hinwendung zur Form hat weitreichende Auswirkungen. Wichtigste Bezugsgröße in einer solchen Konstellation ist dann nämlich »das Repräsentationssystem des Films selbst« und »nicht das, was repräsentiert wird« (Hartmann/Wulff 2014: 200). Eine klassische »Form-Inhalt-Distinktion« (ebd.) gibt es damit nicht mehr. Thompson (1995: 32) schreibt dahingehend: »Bedeutung ist nicht das Endresultat eines Kunstwerks, sondern eine seiner formalen Komponenten.« Konkret bedeutet das für die Analyse, dass sämtliche Bedeutungen in einem Film auf stilistische Verfahren zurückgeführt werden können, die sich von Werk zu Werk unterscheiden (vgl. Bonnemann 2019: 247f). An diesem Punkt wird die »Form« als zentraler Grundpfeiler positioniert. Er konstituiert sich aus dem formalistischen Kunstverständnis in Kombination mit dem Begriff des Verfahrens. Darauf aufbauend wird eine Analyse im Hinblick auf zwei Aspekte vorgeschlagen. Einerseits gilt es, die spezifische Funktion eines Verfahrens zu identifizieren. Thompson (1995: 36) betont die Bedeutung dieser Kategorie im Neoformalismus mit folgenden Worten: »Die Funktion ist für das Verständnis der einzigartigen Eigenschaften eines spezifischen Kunstwerks entscheidend: denn während ein und dasselbe Verfahren in vielen Werken auftreten kann, kann seine Funktion dabei doch je verschieden sein.« Mit dem Begriff entsteht insofern ein Bewusstsein für Kontexte und übergeordnete Systeme, innerhalb derer sich ein formales Gestaltungselement bewegt. Zweitens kommt als zentrale Analysekategorie die Motivierung hinzu. Sie verweist auf die »Interaktion zwischen der Werkstruktur und der Aktivität des Zuschauers«, indem sie dazu führt, »uns über die Rechtfertigung des jeweiligen Verfahrens Gedanken zu machen« (ebd.). Es werden insgesamt vier verschiedene Typen identifiziert. Bei der kompositionellen Motivierung geht es vor allem um die »frühzeitige Vergabe von Informationen« (ebd.: 37), die im weiteren Verlauf benötigt werden. Diese sind im jeweiligen Zusammenhang oft nicht unmittelbar plausibel, werden aber auf einen späteren Moment hin gedeutet und letztlich als narrativ motiviert betrachtet (vgl. Kirsten 2016: 5). Zweitens kann ein Verfahren realistisch motiviert sein. Dabei steht der Plausibilitätsgrundsatz im Zentrum. Orientierungspunkte sind deshalb das »Alltagsverständnis des Zuschauers sowie seine Vorstellung von Realität« (Bonnemann 2019: 250). Diese Form ist also ganz besonders vom historischen Kontext und dem stilistischen Wandel abhängig. Die transtextuelle Typ als dritte Ausprägung wurde schließlich von Bordwell
Zur Verortung innerhalb der Filmtheorie(n)
ergänzt (vgl. Kirsten 2016: 5). Er beschreibt damit die »Motivierung von Elementen oder Verfahren, die spezifisch für ein bestimmtes Genre sind« (ebd.). Die Rechtfertigung erfolgt also vor dem Hintergrund von jeweiligen Konventionen und Normen. Das Publikum ist mit diesen weitestgehend vertraut und kann den Einsatz deshalb dementsprechend nachvollziehen. Der vierten und letzten Form schreibt Thompson (1995: 38) eine »übergeordnete Qualität« zu, wenngleich sie nur dann wirklich zutage tritt, »wenn die drei anderen Motivationstypen zurückgehalten werden.« Gemeint ist die künstlerische Motivierung, die dadurch eine ganz eigene Rolle im Analysesystem einnimmt. Die Rechtfertigung eines solchen Verfahrens liegt ausschließlich darin, dass »es schön oder schlichtweg eindrucksvoll aussieht« (Bonnemann 2019: 251). Es werden damit also ästhetische Überlegungen ins Treffen geführt, die letztlich auf allen Ebenen eines Kunstwerkes identifiziert werden können. In die Kategorie fallen aber vor allem Elemente, mit denen keine Auswirkungen auf die narrative Struktur verbunden sind. Gemeinsam mit dem Aspekt der Funktion wurde die Frage nach der Motivierung filmischer Verfahren zum wichtigsten Werkzeug der neoformalistischen Filmanalyse. Es gibt aber noch ein drittes Element, das aus dem Formalismus entlehnt ist. Die Unterscheidung von »fabula« und »sujet« (in weiterer Folge zumeist als »story« und »plot« übersetzt) dient Bordwell und Thompson als Grundlage für das filmnarratologische Modell. Mit dem Begriff der »Fabel« wird »die zeitlich-lineare, chronologische und kausal verknüpfte Kette von Ereignissen und handelnden Figuren bezeichnet.« (Hartmann/Wulff 2014: 199). Sie ist damit die »abstrakte, formale Struktur« (ebd.) des Wissens um Handlungszusammenhänge und Motive einer Geschichte, während »Sujet« im Gegensatz dazu »die Präsentation der Fabelereignisse im zeitlichen Verlauf, ihre Auswahl, Anordnung und Bearbeitung im vorliegenden Erzählkontext« (ebd.) umfasst. Spätestens an diesem Punkt geht es also um die filmischen Verfahren sowie ihre jeweilige Funktion und Motivierung. Die auf den Punkt gebrachte Beschreibung des story/plot-Konzepts von Bonnemann (2019: 262) lautet: »Wie zusammenfassend festgehalten werden kann, ist die Story dasjenige, was erzählt wird, und der Plot die Art und Weise, wie diese Story erzählt wird. Daher kann (…) ein und dieselbe Story in völlig verschiedenen Plots erzählt werden.« Auf einer Seite berücksichtigt das Model damit den Vermittlungsprozess, gleichzeitig spielt die Verstehensleistung des Publikums eine zentrale Rolle. Dadurch gilt das Grundprinzip der »story« als »imaginäres Produkt, das die Zuschauerin mithilfe der cues entwickelt, die der Plot ihr im Verlauf des Films bietet« (ebd.). Die Überlegungen zur Rezeption nehmen an der Stelle rezeptionsästhetische Züge an. Ihre Wurzeln liegen aber im Formalismus.
7.2
Das neoformalistische Plädoyer für den Kognitivismus
An der Schnittstelle zwischen dem Interesse an filmischen Verfahren und stilistischer Form einerseits und der Rezeptionsleistung andererseits bedient sich der Neoformalismus bei einer zweiten wissenschaftlichen Disziplin. Vor allem Bordwell greift auf Ideen und Konzepte der Kognitionspsychologie zurück und entwickelt damit eine kognitivistische Perspektive. Hartmann und Wulff (2014: 205) schränken in dem Zusammenhang aber ein, dass die »Ausarbeitung einer wirklichen kognitiven Theorie des Films eigentlich nicht intendiert ist.« Die meisten Arbeiten, die »Bordwells Plädoyer für den Kognitivismus« gefolgt sind, haben »lediglich gängige Theorien und Forschungsergebnisse aus der Kognitionspsycholo-
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Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge
gie auf die Filmrezeption übertragen« (Kirsten 2016: 10). Der Umgang mit dementsprechenden Elementen ist also insgesamt relativ pragmatisch. Die neoformalistische Tendenz zum Pragmatismus in dieser Hinsicht zeigt sich auch in Bordwells (1992: 22) Antwort auf den Vorwurf, dass eine kognitive Theorie jede Form von Emotionalität im Rezeptionsprozess ausklammert: »Bis zu einem gewissen Punkt ist es eine nützliche methodologische Idealisierung, Emotionen beiseite zu lassen: Im Allgemeinen kann man einen Film verstehen, ohne eine erkennbare emotionale Reaktion darauf zu haben.« Er ist sich der Komplexität dieser Frage demnach bewusst und macht dennoch den reduzierenden Schritt zurück. Die daraus entstehende Prämisse bringt Stephan Lowry (1992: 113) auf den Punkt: »Von bewußten [sic!], rationalen Operationen eines denkenden Ichs ausgehend, fragt die kognitive Theorie, was der Zuschauer mit dem Film macht, um ihn zu verstehen, bzw. wie der Film strukturiert ist, damit er verstanden werden kann.« Aktivität und Rationalität als Teilaspekte eines Verstehensprozesses rücken damit ins Zentrum des Rezeptionsverständnisses. Dahingehend fasst Bonnemann (2019: 254) zusammen: »So gehen Bordwell und Thompson von einem aktiven und rastlos suchenden Zuschauer aus, der das, was er im Film zu sehen bekommt, nach Kategorien ordnet, die auf sein Vorwissen zurückgehen, provisorische Schlüsse zieht und Hypothesen darüber aufstellt, welchen Verlauf die Handlung wohl als Nächstes nehmen wird.« All diese kognitiven Vorgänge und Leistungen, die vom Publikum ausgehen, subsummiert Bordwell (vgl. 1992: 7) unter dem konzeptuellen Begriff des »Kognizierens«, der ein wesentlicher Baustein für das Modell ist. Demgegenüber stehen der Film und seine Form. Dadurch findet die Übermittlung von Hinweisen – den bereits mehrfach angesprochenen »cues« – statt, die den Verarbeitungs- und Verstehensprozess aufseiten der Rezeption anstoßen (vgl. ebd.: 8). An dieser Stelle wird die neoformalistische Auflösung der Form-Inhalt-Distinktion besonders deutlich sichtbar. Demnach können nämlich »nicht nur Handlungsmuster, sondern alle Formelemente – Licht, Ton, Musik, Schnitt etc. – zum Verständnis des Films beitragen.« (Lowry 1992: 115) Die theoretische Konzeption des Verhältnisses zwischen Film und Publikum als dynamisches Wechselspiel von »story« und »plot« hat insofern auch konkrete Auswirkungen auf die Analyse der filmischen Narration. Rund um den Verstehensprozess gibt es aber noch einen zusätzlichen Faktor, den Bordwell über die Kognitionstheorie einführt. Mit dem Begriff Schema verweist er auf den Umstand, dass »den cues mit relevantem Wissen aus unterschiedlichen Bereichen« (Bordwell 1992: 8) begegnet wird. Gemeint ist damit »eine Wissensstruktur, die es dem Rezipienten ermöglicht, über die gegebene Information hinauszudenken« (ebd.). Hypothesenbildung und Schlussfolgerungen in Bezug auf die Handlung erfolgen demnach im Zusammenspiel von cues und Schemata, auf die bei der Rezeption zurückgegriffen wird. Dabei gibt es verschiedene Tendenzen und Anwendungsformen. Das Prototypen-Schemata führt dazu, dass bestimmte Dinge, Orte, Konzepte oder Motive wiedererkannt und eingeordnet werden (Kirsten 2016: 8). Bordwell (vgl. 1985: 34) selbst nennt unter anderem die Vorstellung von »Liebe« oder »Bankraub« als Beispiele für solche Prototypen. Ein zweiter Typus sind die sogenannten »template schemata« (ebd.). Dazu zählen vor allem kanonische Erzählstrukturen, anhand derer die Ereignisse verarbeitet werden (vgl. ebd.: 35). Außerdem diskutiert Bordwell (vgl. ebd.: 36) das »procedural schemate« (im Hinblick auf Motivierung von Verfahren) und das »stylistic schemata« (Verstehen von stilistischen Normen oder Strukturen eines Genres). Das Herausarbeiten unterschiedlicher Schemata ist
Zur Verortung innerhalb der Filmtheorie(n)
zugleich einer der wenigen Aspekte, die im neoformalistischen Rezeptionsmodell der Verstehensleistung abseits einer cue-orientierten Filmanalyse explizit berücksichtigt werden. Ein zweiter wären die Erfahrungshintergründe (in der Alltagswelt, mit anderen Kunstwerken, im praktischen Gebrauch von Filmen), die Thompson (vgl. 1995: 40f) als »backgrounds« in ihrem Grundlagentext »Neoformalistische Filmanalyse« thematisiert. Soziale oder kulturelle Faktoren bleiben jedoch auch dort ausgeklammert. In der Hinsicht gab und gibt es viel Kritik an Bordwell und Thompson (siehe Hartmann/Wulff 2014: 209f oder Kirsten 2016: 11). Darin liegt ein Schwachpunkt des Analysemodells. Ebenfalls kritisiert wurde die Trennung zwischen Rezeption und Interpretation. Der Neoformalismus entwickelt dahingehend nämlich eine Art Stufenmodell. Zunächst stehen »die vom Film geforderten fundamentalen Verstehensleistungen« im Zentrum; erst dann wird die »Stufe der Interpretation« (Bonnemann 2019: 258) erreicht. Die Bedeutungen, die dabei schlussendlich entstehen, werden auf vier Typen reduziert. Erstens spricht Bordwell (vgl. 1989: 8) in »Making Meaning« von der referentielle Bedeutung, die mit konkreten Events, Objekten oder Orten innerhalb der diegetischen Welt verknüpft ist. Hinzu kommen zweitens explizite Bedeutungen, indem der Film auf einer höheren Ebene der Abstraktion formale Strukturen der Diegese explizieren kann (vgl. Thompson 1995: 10). Bis zu diesem Moment spielt die Interpretation bei der Sinnproduktion aber keine unmittelbare Rolle. Erst mit der sogenannten impliziten Bedeutung rücken interpretative Kräfte ins Zentrum. Bordwell (1989: 9) gibt dazu folgendes Beispiel: »The spectator may seek to construct implicit meanings when she cannot find a way to reconcile an anomalous element with a referential or explicit aspect of the work (…). For example, if you posit that the psychiatrist’s final speech in Psycho explicitly draws a line between sanity and madness, you might see the film’s implicit denial ofsuch a demarcation as creating an ironic effect.« Auf einer ähnlichen Dynamik basiert auch die vierte und letzte Erscheinungsform. Statt Referenzen ausschließlich innerhalb des einzelnen Kunstwerkes zu suchen, entwickelt diese jedoch ein Bewusstsein für erweiterte Umgebung. Insofern interpretiert die »symptomatische Bedeutung (…) den Film, um den es geht, als Symptom für die kulturelle Mentalität einer Epoche (…) oder auch für die Persönlichkeit eines Filmemachers« (Bonnemann 2019: 260). Die vorgestellte Kategorisierung der Verstehens- und Interpretationsleistung ist ein wichtiger Bestandteil der neoformalistischen Filmanalyse. Ein Blick darauf verdeutlicht aber auch die Zentrierung des Ansatzes auf formale Gestaltung und historische Formen. Dadurch geht es bei den ersten beiden Typen nach wie vor um die rationale Verarbeitung von cues, während interpretative Prozesse erst dann ins Spiel kommen, wenn keine expliziten oder referentiellen Bedeutungen sichtbar werden. Auch deshalb wird das kognitivistisch geprägte Rezeptionsmodell des Neoformalismus immer wieder als »unterkomplex« (Kirsten 2016: 12) bezeichnet. Die Aktivität des Publikums bleibt im Kern auf eine durch Stimuli in Gang gesetzte Rationalität beschränkt. Zusätzlich dazu ist die »Konzeption des Zuschauers ein ungeklärter Punkt« (Hartmann/Wulff 2014: 204). Bonnemann (2019: 255) schreibt dahingehend: »Abgesehen davon, dass (…) von Aktivität und Rationalität innerhalb der Filmrezeption die Rede ist, wird dennoch an keiner Stelle wirklich deutlich, was genau unter dem Rezipienten (…) eigentlich zu verstehen ist.« Thompson (1995: 48) definiert den »Zuschauer als eine hypothetische Entität fassen, die auf der Basis von automatischen perzeptiven Prozessen und seiner Erfahrung aktiv mit cues in einem Film umgeht. Da durch die Einwirkung historischer Kontexte die Rezeptionsvorgänge intersubjektiv wer-
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Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge
den, kann man Filme analysieren, ohne auf Subjektivität zu rekurrieren.« Vor diesem Hintergrund erfolgt eine relativ strikte Distanzierung von jeglichen subjektiven Perspektiven, vom »idealen Zuschauer«, dem die Annahme einer konstanten Beziehung zum Werk vorgeworfen wird, und auch vom »empirischen Zuschauer«, weil die einzelne Reaktion als zu wenig aussagekräftig gilt (vgl. ebd.: 44f). Die zitierte Beschreibung zeigt jedoch, dass im Anschluss an diese Kritik kein konkreter Gegenvorschlag gebracht wird. Bonnemann (vgl. 2019: 257) schlägt deshalb beispielsweise vor, von einem »impliziten Zuschauer« auszugehen, der im Film selbst angelegt ist. Insgesamt bleibt die Frage aber bis heute unzureichend geklärt.
7.3
Alles eine Frage der Form
Nachdem die Grundpfeiler der neoformalistischen Idee markiert wurden, stellt sich in einem nächsten Schritt die Frage, inwiefern diese filmtheoretische Strömung Einfluss auf die Auseinandersetzung mit Musik als Teil der narrativen Struktur haben kann. Obwohl eine Herangehensweise, die sich empirisch über das Filmerleben nähert, auf den ersten Blick als diametrale Gegenposition zum kognitivistischen Rezeptionsmodell erscheint, dürfen die im Umfeld entstandenen Überlegungen nicht in Bausch und Bogen verworfen werden. Viele Aspekte, die der Neoformalismus beleuchtet und benennt, erweisen sich bei näherer Betrachtung als sinnvolle Grundlagen für eine dementsprechende Filmanalye. Dazu zählt unter anderem das grundlegende Interesse an der Funktionsweise des Mediums, wodurch aus analytischer Sicht die filmischen Verfahren und spezifischen Stile eine zentrale Rolle spielen. Sie werden vor allem im Hinblick auf ihren jeweiligen Beitrag zur – hier bewusst weit gefassten – Wahrnehmung des Films untersucht. Während der Neoformalismus an dieser Stelle das rationale Verstehen im Blick hat, entsteht bei der Hinwendung zum Erleben ein Bewusstsein um die Gleichzeitigkeit von kognitiven und körperlichen Prozessen. Die Rolle des Films selbst bleibt dabei grundsätzlich gleich. In beiden Fällen handelt es sich um eine Frage der Form, durch die das Erzählen vorangetrieben wird. Die Auseinandersetzung mit Musikeinsätzen und deren Auswirkung auf die Narration ist letztlich eine Verfahrensanalyse. Daraus ergibt sich ein zweiter Gedanke. Die Hinwendung zur filmischen Form löst deren strikte Trennung vom Inhalt weitestgehend auf. Das neoformalistische Verständnis vom Film als Summe all seiner Verfahren hat zur Folge, dass bei der Sinngebung jedes Element eine potentiell wichtige Rolle spielt. Diese Prämisse wirkt sich besonders deutlich auf die Analyse von Musik aus. Statt als ausschließlich formgebendes Stilmittel zu gelten, kann diese nun auch im Hinblick auf ihren Beitrag zum Verstehensprozess betrachtet werden. Der Neoformalismus liefert damit indirekt ein Argument zur Positionierung von Musik als Element der Narration. Sie wird in dem Moment zu einem gleichwertigen Teil der formalen Struktur. Ein dritter Anknüpfungspunkt ist die narratologische Unterscheidung von »story« und »plot«. Sie prägt die filmnarratologischen Annahmen. Einerseits entsteht dadurch das Bewusstsein um einen aktiven Rezeptionsprozess. Das Publikum erbringt eine eigenständige Leistung und konstituiert die »story« basierend auf der Wahrnehmung des »plots«. Dieser wiederum besteht aus narrativen cues, welche über die formale Gestal-
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tung platziert werden. In der Folge entwickelt sich daher zweitens ein Interesse an der Rolle, die ein bestimmtes filmisches Verfahren im jeweiligen Narrationskontext erfüllt. Auch das ist letztlich eine Frage der Form und zeigt, dass der neoformalistische Ansatz dahingehend eine wertvolle Grundlage sein kann.
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(Film-)Narratologie
Der Neoformalismus hat den Diskurs der letzten Jahrzehnte vor allem durch seine narratologischen Überlegungen geprägt. Damit eröffnet sich ein zweiter theoretischer Großraum, der für die vorliegende Arbeit ob ihrer Fragestellungen zur narrativen Rolle der Musik relevant ist. Die Narratologie als ursprünglich literaturwissenschaftliche Disziplin ist dadurch, dass ihre Konzepte und Modelle in unterschiedlichsten Bereichen angewendet wurden, für Sandra Heine (2007: 1) sogar zu einer »Art Supertheorie der Humanwissenschaften« geworden. Mit dem »narrative turn« kam es zur »Aufwertung des Erzählens, das nun oft nicht mehr nur als eine spezielle Form der Kunstproduktion verstanden wird, sondern als grundlegendes Verfahren des Menschen« (Ebd.), womit sich ein Erzählbegriff etabliert, der auch für andere Kunstformen oder nicht-fiktionale Kommunikationen wie Alltagserzählungen gelten kann (vgl. ebd.). Davon ausgehend gibt es innerhalb der Filmtheorie schon früh narratologische Ansätze, aus denen im Verlauf ein immer größeres Bezugssystem wird. Federführend dabei war die neoformalistische Strömung. Gleichzeitig hat sich die poststrukturalistische Filmsemiotik grundlegend mit dem Thema beschäftigt. Insofern gilt es einen Blick auf die Anfänge zu werfen, um dann die narratologischen Konzepte zum Film frei von ideologischen Verpflichtungen und im Sinne der hier vorgeschlagenen Herangehensweise anwendbar zu machen.
8.1
Vom literarischen Text zum »narrative turn« im Film
Grundsätzlich gilt es festzuhalten, dass die Begriffe »Narratologie« und »Erzähltheorie« an dieser Stelle ganz bewusst synonym verwendet werden. Obwohl beispielsweise Markus Kuhn (vgl. 2011: 14) darauf hinweist, dass die erstgenannte Bezeichnung eine tendenziell analytische Ausprägung habe, während zweitere eher auf ein theoretisches Interesse schließen lasse, spielt die definitorische Unterscheidung insgesamt kaum eine Rolle. Ungleich schwieriger ist dagegen die Bestimmung des Forschungsgegenstandes. »Die Frage nach der Definition einer Erzählung oder einer Narration (…) ist gekoppelt an die Frage, wie die Narrativität (…) – die spezifische Eigenschaft der Erzählung (…) – zu bestimmen ist; das dazugehörige Adjektiv ist narrativ.« (Ebd.: 47) Eine filmnarratologische Perspektive muss also zunächst nach der Narrativität im Film fragen und klären, was das Medium überhaupt zur Narration macht. Aufbauend darauf kann dann festgestellt werden, inwieweit einzelne Bestandteile narrativ sind. Die klassische Narratologie hat sich als literaturwissenschaftliche Disziplin ursprünglich ausschließlich mit Erzähltexten beschäftigt. Ihre historischen Ursprünge liegen im französischen Strukturalismus der 1960er-Jahre (vgl. Kuhn 2011: 16). Wesentliche Vorarbeit haben der russische Formalismus oder die Studien der sogenannten Chicago School geleistet (siehe dazu Herman 2005: 23–28). Die neoformalistische
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Kontexte, Theorien und (neue) Zugänge
Übernahme des Fabula-Sujet-Konzeptes rund um den Film ist ein Beispiel für diese Verbindungen. Aber auch die strukturalistische Hauptphase mit ihrer teilweise ähnlichen Unterscheidung von »histoire« und »discours« stützt sich neben der Linguistik nach Ferdinand de Saussure grundlegend darauf (vgl. Kuhn 2011: 18). Die wichtigste und einflussreichste Arbeit in diesem Umfeld stammt von Gerard Genette. Er hat zentrale Kategorien der Erzähltheorie geprägt, die bis heute ihre Gültigkeit haben. Genette setzt sich mit der Zeitstruktur von Narrationen auseinander, führt den Begriff der Diegese ein oder etabliert rund um Perspektive und »Point-of-view« die Idee der Fokalisierung (vgl. Fludernik 2005: 39f). Außerdem markiert er den »Wandel von der Histoire- zur Discourse-Narratologie« (Kuhn 2011: 17) und verschiebt damit das primäre Interesse von der Geschichte selbst zum Prozess des Erzählens. All diese Gedanken sind für die klassische Narratologie zu einem analytischen und theoretischen Brennglas geworden und dienen anderen Persönlichkeiten wie Mieke Bal oder Seymour Chatman als Erweiterungsgrundlage. Ausgehend davon gibt es in den Geisteswissenschaften danach die einleitend angesprochene Dynamik eines »narrative turns«. Dadurch weitet sich das Textverständnis grundlegend aus und narratologische Paradigmen werden auf psychologische, ökologische und rechtliche Fragestellungen übertragen (siehe Fludernik 2005: 46f). Im Zuge dessen kommt es außerdem zu einer »Erweiterung der Narratologie in (…) transmedialer Hinsicht« (Kuhn 2011: 20). In diese Kategorie fällt dann auch der Film. Zusätzlich dazu entsteht fast zur gleichen Zeit innerhalb der Narratologie ein Interesse an kognitivistischen Ansätzen, die neben dem reinen Text auch die (gedanklichen) Prozesse der Rezeption zu berücksichtigen versuchen (siehe Fludernik 2005: 48ff). Insofern ist vielfach von einem zweiten Wendepunkt die Rede – dem sogenannten »cognitivist turn«. Das wiederum war der Nährboden für die neoformalistische Filmnarratologie, die sich in genau diesem Punkt gegenüber den werkimmanenten, strukturalistisch-semiotischen Analysen öffnet. Die Erzähltheorie zum Film entsteht also durch eine »gegenseitige Befruchtung unterschiedlicher Ansätze« (Kessler 2014: 120). Alle haben ihre Stärken und können deshalb im konstruktiven Zusammenspiel agieren. Ein Name, der symbolisch den Beginn einer Filmnarratologie markiert, ist Chatman. Er hat Anfang der 1990er-Jahre als einer der ersten Theoretiker für die Erweiterung der Disziplin auf andere Textformen und die Analyse des Films als narrativen Modus plädiert (vgl. Fludernik 2005: 42). Vor allem seine Konzeption des »cinematic narrator« ist zum wichtigen Bezugspunkt geworden. Chatman (vgl. 1990: 133f) schlägt ein weitergefasstes Verständnis der Erzählinstanz vor, die nicht nur sprachlich vermittelt, sondern im Medium Film vor allem auch zeigt und präsentiert. Außerdem löst er sich von der anthropomorphen Zentrierung in dieser Frage und greift auf den Begriff »agent« zurück: »That narrator is not a human being. The nomina agentis here refers to »agent,« and agents need not be human. It is the cinematic narrator that shows the film« (ebd.: 133). Obwohl seine Arbeiten dem strukturalistischen Umfeld zugeordnet werden (vgl. Nowak 2016: 2), bezieht sich Chatman (1990: 130) teilweise sehr konkret auf die narratologischen Überlegungen des Neoformalismus und schreibt dazu: »I go into Bordwell’s excellent theory in such detail because, except for our differences on the cinematic narrator, it is so close to my own. We both want to argue that film does belong in a general narratology; we both
Zur Verortung innerhalb der Filmtheorie(n)
want to argue that films are narrated, and not necessarily by a human voice.« Auch hier zeigt sich die Verwobenheit der Ansätze. Unabhängig davon ist Bordwell aber natürlich eine insgesamt einflussreiche Stimme auf diesem Gebiet. Vor allem seine »Überlegungen zur Zuschaueraktivität bilden ein wichtiges theoretisches Modell zur Beschreibung von Verstehensprozessen in der Filmrezeption« (Kuhn 2011: 34). Grundlegend in dieser Hinsicht ist das Verständnis von filmischer Narration, das auf der bereits angedeuteten Unterscheidung von Fabula und Sujet beziehungsweise »story« und »plot« basiert. Dadurch entsteht ein Bewusstsein um die einzelne Ebenen der narrativen Struktur und die Prozesshaftigkeit des Erzählens im Film. Bordwell (vgl. 1985: 49f) führt aufseiten des Sujets mit dem Stil (»style«) aber noch eine zusätzliche, koexistierende und interagierende Kategorie ein, die sich auf die filmischen Verfahren bezieht. »Der Begriff umfasst (…) technische Elemente der filmischen Gestaltung, während Syuzhet die dramaturgischen Komponenten bezeichnet.« (filmanalyse.at o.J.: o.S.) Es werden damit also letztlich unterschiedliche Phänomene im Erzählvorgang benannt. Beide Aspekte können eine narrative Dimension entwickeln. Damit haben Bordwell und sein neoformalistischer Ansatz die filmnarratologische Debatte der letzten Jahre wesentlich geprägt und in einigen Bereichen sogar dominiert. Den konkreten Versuch, ein umfassendes erzähltheoretisches Modell zum Film zu entwickeln, hat Markus Kuhn (2011) unternommen. Obwohl er seinen »klassisch-narratologischen« Ansatz selbst als »werkimmanent, weitestgehend deskriptiv und anwendungsorientiert« (ebd.: 3) beschreibt und damit tendenziell dem strukturalistischen Paradigma zuzuschreiben ist (vgl. Nowak 2016: 2), zeichnet sich die Arbeit durch eine allgemeine Anwendbarkeit aus, weil sie viele narratologische Prinzipien ganz systematisch im Hinblick auf die Spezifika des audiovisuellen Mediums Film diskutiert. Insofern können daraus wesentliche Erkenntnisse abgeleitet und auf die nachfolgende Betrachtung übertragen werden. An diesem Punkt wird der Anspruch einer gegenseitigen Befruchtung der Ansätze wirksam.
8.2
Säulen eines erzähltheoretischen Modells zum Film
Nachdem das grundsätzliche Betätigungsfeld einer Filmnarratologie abgesteckt und deren Wurzeln sichtbar gemacht wurden, gilt es im nächsten Schritt, die zentralen Konzepte und Begrifflichkeiten, die für eine narrative Analyse relevant sind, vertiefend zu thematisieren. Dadurch soll ein methodisches und vor allem theoretisches Fundament für die narratologische Auseinandersetzung mit Musik im Film geschaffen werden. Einen einzelnen Hauptbezugspunkt gibt es dabei bewusst nicht. Im Sinne der Fragestellungen und des Forschungsgegenstandes fließen Überlegungen und Gedanken aus allen Richtungen ein. Die Diskussion findet in den vier Teilbereichen Erzählbedingung(en), Erzählstruktur, Erzählwelt und Erzählinstanz statt und ist damit systematisch angelegt. Jede Säule steckt einen Teil des Rahmens für das filmnarratologische Modell ab, an dem sich die vorliegende Arbeit in weiterer Folge orientiert.
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8.2.1 Erzählbedingung(en) Die grundlegendste Kategorie für eine narratologische Analyse ist – unabhängig von einem bestimmten Medium oder Kontext – die jeweilige Vorstellung vom Erzählprozess und der Erzählung als theoretisches Konstrukt. Erstens gilt es deshalb zu bestimmen, ab wann der Film beziehungsweise einer seiner spezifischen Bestandteile wie die Musik narrativ ist. Zweitens rückt die Frage ins Zentrum, wie eine Erzählung definiert werden kann. Beide Facetten der Auseinandersetzung sind eng miteinander verschränkt und machen die Formulierung von möglichst konkreten Bedingungen erforderlich. Insofern muss es das Ziel sein, die vielschichtigen Antwortmöglichkeiten in dem Bereich auf eine Essenz zu reduzieren. Aus dem literaturwissenschaftlichen Umfeld heraus ist zunächst vor allem die Abgrenzung der Erzählung von anderen Textsorten ein Ausgangspunkt. Sie dient bist heute als Definitionsgrundlage. Im dahingehend oft zitierten Diagramm von Chatman (vgl. 1990: 115) werden dem narrativen Text unter anderem argumentative und deskriptive Formen gegenübergestellt. Daraus ergibt sich die strikte Unterscheidung von Narration und Deskription, die in der theoretischen Debatte zumeist als Gegensatzpaar fungieren. Im Spannungsverhältnis der beiden Typen wird nämlich eine zentrale Erzählbedingung deutlich sichtbar. »Deskriptive Texte repräsentieren statische Situationen, beschreiben Zustände, zeichnen Bilder und Portraits« (Schmid 2008: 7), während bei einer Erzählung die Zustandsveränderung das wesentliche Merkmal ist. Viele Definitionsversuche sind sich in diesem Punkt einig (siehe u.a. Kuhn 2011: 55–61 oder Schmid 2008: 4). Unabhängig davon ist die Zuordnung der scheinbar oppositionellen Kategorien praktisch aber nicht immer eindeutig möglich. »Wenn ein Text etwa nur die Beschreibung zweier Situationen enthält, kann man ihn genau so gut als deskriptiv wie als narrativ interpretieren.« (Ebd.) Letztlich ist also von einer Hybridität auszugehen, bei der sich beide Dynamiken ergänzen und in einer Prozesshaftigkeit unterschiedliche Dominanzverhältnisse herstellen. Ein narrativer Text enthält immer auch deskriptive Elemente. Umgekehrt kann eine Deskription Narrativität entwickeln. Letztendlich entscheidend ist die jeweilige Interpretation von Zustandsveränderungen, die in vielen Kontexten einen impliziten Charakter haben können. Diese zentrale Erzählbedingung kann also nicht auf einen spezifischen Punkt festgelegt werden und muss dementsprechend weit gefasst sein. Ein zusätzlicher Anhaltspunkt bei der Definition einer Erzählung ist, dass zwischen den veränderten Zuständen eine Verknüpfung stattfindet und dadurch Bedeutung entsteht. Im Hinblick auf das filmische Erzählen unterscheidet Knut Hieckethier (vgl. 1996: 89) daher zwischen dem »Prinzip des Wechsels«, das sich auf die ständige Veränderung und Entwicklung von Bild und Ton als Merkmal der Erzählstruktur bezieht, und dem »Prinzip der Kohärenz«, womit die Notwendigkeit eines Sinnzusammenhangs und einer Beziehung der einzelnen Elemente untereinander betont wird. Daraus ergibt sich ein Beschreibungsversuch, der die Zustandsveränderung zwar implizit enthält, als wichtigste Bedingung aber auf Kohärenz und Bedeutungskontexte verweist. Hieckethier (ebd.: 90) schreibt dazu: »Erzählen bedeutet (…), eine sinnhafte, phantasiegeleitete Organisation von Ausschnitten des Geschehens herzustellen und damit Sinn zu stiften, Anfang und Ende eines Geschehens zu bestimmen und dabei im Anfang immer auch schon das Ende mitzubedenken.« Auf eine ähnliche Definition greift Lothar Mikos (2008: 47) in seiner »Film- und
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Fernsehanalyse« zurück: »Die Narration oder Erzählung besteht in der kausalen Verknüpfung von Situationen, Akteuren und Handlungen zu einer Geschichte.« All diese Beschreibungen rücken Kausalität und Sinnzusammenhang ins Zentrum der Betrachtung. Damit ist eine zweite Erzählbedingung bestimmt. Der Neoformalismus beruft sich auf die genannten Prinzipien. Bordwell und Thompson (2008: 75) betonen drei zentralen Komponenten – Kausalität, Zeit und Ort – einer Narration, wenn sie diese als »chain of events in cause-effect relationship occuring in time and space« beschreiben. Das »Ursache-Wirkung-Prinzip« innerhalb der Ereigniskette wird damit zum wichtigsten Merkmal. Konzeptuell entspricht das den bisher skizzierten Charakteristika (Zustandsveränderung und Sinnzusammenhang). Zusätzlich dazu wird in der Definition auf die für das Medium Film besonders relevanten Dimensionen Zeit (vgl. ebd. 80f) und Raum (vgl. ebd. 82) als konstitutive Bedingung verwiesen. Die Organisation dieser beiden Achsen ist eine Grundvorrausetzung für das Entstehen von Ereignisketten und sinngebender Kohärenz. Zusammenfassend definiert die vorliegende Arbeit eine Erzählung deshalb als raum-zeitlich organisierte Repräsentation mindestens einer Zustandsveränderung, die einen kausalen Sinnzusammenhang aufweist. Mit dem Textbaustein »organisierte Repräsentation« ist die fließende Grenze hin zum Prozess des Erzählens erreicht. Dieser ist am Ende untrennbar mit jedem Definitionsversuch verknüpft. Dadurch ergeben sich in weiterer Folge Fragen nach der jeweiligen Erzählform und einer Vermittlungsinstanz, auf die etwas später noch näher einzugehen sein wird. Grundsätzlich ist dahingehend festzuhalten, dass der hier vorgeschlagene Zugang keine vermittelnde Ebene im Sinne eines »Erzählers« annimmt. Nachdem ein allgemeines Verständnis von Erzählung definiert wurde, geht es im nächsten Schritt darum, festzulegen, wann ein Gesamtwerk (wie der Film) und vor allem auch seine einzelnen Bestandteile (wie die eingesetzte Musik) als narrativ bezeichnet werden können. Dabei dienen die bisher diskutierten Aspekte und Bedingungen als Orientierungspunkt. Grundsätzlich trifft auf fast alle fiktionalen Spiel- und Kinofilme die zuvor entwickelte Definition zu. Insofern gilt nach Mikos (2008: 48): »Filmund Fernsehtexte sind in der Regel Erzählungen.« Dementsprechend können sie als narrativ klassifiziert werden. Eine andere Herangehensweise orientiert sich nicht an der Struktur einer Erzählung selbst, sondern an den verschiedenen Elementen eines Mediums oder Werks. Kuhn (2011: 47) schreibt dazu: »Ein Text/Werk/Artefakt gilt als narrativ, wenn die meisten seiner Segmente/Abschnitte als narrativ gelten können. Ein Segment gilt als narrativ, wenn es die Minimalbedingungen der Narrativität erfüllt.« Der Autor selbst verweist darauf, dass mit dieser Perspektive dem Umstand Rechnung getragen wird, wonach es immer auch deskriptive oder argumentative Anteile gibt. Insofern können die beiden Ansätze kombiniert werden. Einmal geht es darum, ein kulturelles Artefakt oder Medium insgesamt als Erzählung einzuordnen. Beim Diskurs um die Minimalbedingung von Narrativität fällt der Blick jedoch im Detail auf einzelne Bausteine. In der Regel gibt es bei dieser Debatte eine Unterscheidung zwischen Definitionen im engeren und weiter gefassten Sinne. Die meisten davon gehen auf Chatman (vgl. 1990: 114f) zurück, der eine dementsprechende Trennlinie im Hinblick auf das Vorhandensein oder Fehlen einer Erzählinstanz zieht. Die Annahme einer »vermittelnden, nicht anthropomorph zu verstehenden narrativen Instanz« (Kuhn 2011: 55) prägt bis heute
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die laut Schmid (vgl. 2008: 1) klassische Vorstellung von Narrativität im engeren Sinne. Demgegenüber steht das strukturalistische Konzept, für das dieser Umstand nicht mehr konstitutiv ist (vgl. ebd.: 2). Beide Zugänge fragen aber nach dem Aspekt der Zustandsveränderung. Kuhn (2011: 61) formuliert als Minimalbedingung daher: »Es muss mindestes eine Zustandsveränderung in einem gegebenen zeitlichen Intervall dargestellt werden. Der Ausgangszustand vor und der Endzustand nach der Veränderung müssen dabei explizit repräsentiert sein, die Veränderung selbst und ihre Bedingungen nicht.« Das Prinzip entspringt dem zuvor diskutierten Definitionsversuch einer Erzählung und kann als solches ganz unmittelbar auf die Vorstellung von narrativen Elementen übertragen werden. Ähnliches gilt für die zweite Beobachtung in diesem Umfeld. Michael Scheffel (vgl. 2009: 16) zieht die Grenze zwischen Narrativität im engeren und weiteren Sinne nämlich entlang einer etwas anderen Linie. Für ihn spielt dabei die Frage nach einer Vermittlungsinstanz grundsätzlich keine Rolle mehr. Vielmehr wird Erzählen »vergleichsweise weich und mit entsprechend weiter Extension« (ebd.) definiert, indem als Grundvoraussetzung lediglich die Darstellung oder Repräsentation eines Geschehens erforderlich ist. Ein engeres Verständnis ergibt sich dann, wenn »das Minimalkriterium der Darstellung einer zeitlichen Folge von Ereignissen oder Situationen um ein weiteres Kriterium«, nämlich jenes »der Kausalität« (ebd.), ergänzt wird. Im Hinblick auf diesen Beschreibungsversuch kommt Scheffel (2009: 17) zum Schluss, dass es immer »irgendeine Art von Zusammenhang im Sinne einer motivationalen Verkettung der dargestellten Veränderungen« geben muss. Demnach ist die Kohärenz eine weitere Facette der Minimalbedingung einer Erzählung. Vor diesem Hintergrund gilt ein filmisches Element im Rahmen der vorliegenden Arbeit dann als narrativ, wenn dieses eine raum-zeitliche Zustandsveränderung innerhalb kausaler Sinnzusammenhänge darstellt. Die Definition lässt dabei bewusst offen, ob die Kohärenz aus der eigenen Dynamik heraus oder im Verhältnis zu anderen Zustandsveränderungen entsteht. Kuhn (2011: 62) stellt dahingehend fest, dass die Relevanz einer Repräsentation – also deren sinnstiftende Bedeutung im Hinblick auf Narrativität – »nicht absolut bestimmt werden kann, sondern (…) abhängig von verschiedenen werkinternen und -externen Faktoren (zu denen auch historische und genreabhängige ästhetische Faktoren zählen) sowie der Interpretation durch einen Betrachter« ist. Dementsprechend kann Musik im Film auch theoretisch als narratives Element gefasst werden. Phrasen, Melodien, Harmonien, Rhythmen, Tempo und Dynamik sind ebenso wie das Auftreten eines einzelnen Klanges/Tones, der davor und danach von Stille umrahmt ist, raumzeitliche Zustandsveränderungen auf auditiver Ebene. Teilweise ergeben sich daraus bereits eigene musikalische Sinnzusammenhänge, wodurch die Minimalbedingungen von Narrativität grundsätzlich erfüllt werden. Zusätzlich dazu entstehen beim Film ständig Verbindungen zu den anderen audiovisuellen Elementen. Die zentrale Frage nach Kausalität und Sinnzusammenhang ist also prozesshaft und dynamisch zu verstehen. Sie wird zur entscheidenden Kategorie bei einer narratologischen Analyse von Film (und Musik). Das Bewusstsein um diese Dynamik führt im nächsten Schritt zur Auseinandersetzung mit dem Vorgang des filmischen Erzählens, dessen Beschaffenheit ebenfalls zu den narratologischen Grundbedingungen zählt. Das Diagramm der Texttypen von Chatman (vgl. 1996: 114f) kann auch dabei als Orientierungspunkt dienen, weil es die beiden narrativen Kommunikationsmodi »showing« und »telling« differenziert. Die dahingehende Unterscheidung in Mime-
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se und Diegese reicht bis auf Plato zurück (vgl. Herman/Vervaeck 2005: 14). An ihr orientiert sich die Formulierung der grundsätzlichen Bedingungen des filmischen Erzählprozesses im Verhältnis zu anderen Medien. Bei Chatman (vgl. ebd.) ist der Film basierend darauf mit dem (ebenfalls mimetischen) Theater verwandt und vom (diegetischen) Roman abzugrenzen. Schmid (vgl. 2008: 9f) übernimmt diese Einteilung und verbindet sie mit der engen und weiten Definition, wodurch mimetische Texte grundsätzlich ohne eine Erzählinstanz angenommen werden. Insofern wäre der Film keine Erzählung im engeren, klassischen Sinne. Es gilt jedoch zu berücksichtigen, dass die Chatman-Rezeption in diesem Punkt etwas ungenau ist, weil er für alle narrativen Kommunikationsmodi einen vermittelnden »Agenten« annimmt (vgl. Kuhn 2011: 52). Aus diesem Umstand heraus entsteht seine Vorstellung vom »cinematic narrator«, dessen Präsentationstätigkeit zwar primär mimetischen Charakter hat, aber auch diegetisches »telling« sein kann (vgl. Chatman 1996: 133f). Damit eröffnet sich die an dieser Stelle entscheidende Frage nach den zur Verfügung stehenden Erzählstrategien des Films. Mit Bezugnahme auf den neoformalistischen Diskurs zum »Stil« verweist Guido Heldt (2018: 128) zunächst ganz generell auf all jene »Mittel, die ein bestimmtes Medium hat, eine Geschichte zu präsentieren«. In der Regel entsteht daraus dann eine Kombination von Mimese und Diegese. Beispielsweise enthalten Theaterstücke immer Orts- oder Zeitsprünge, die eine übergeordnete »telling«-Instanz implizieren, während Romane zumeist auch direkte Figurenrede oder andere »showing«-Elemente wie Landkarten, Zeichnungen oder Detailbeschreibungen verwenden (vgl. ebd. 130). Eine ähnliche Dynamik gibt es auch beim Film als audiovisuelles Medium. Dieser zeichnet sich durch eine Multi-Kanal-Natur aus, weil die Ton- und Bildebene jeweils noch in multiple Datenströme aufgespalten werden kann (vgl. ebd.: 132). Die dadurch entstehenden Vermittlungsstrategien wie »Schauspiel und Schauspielerführung, Kostüme, Requisiten, Beleuchtung, Kameraeinstellung und -bewegung, Dialog, Geräusch, Musik, Bild- und Tonschnitt« (ebd.: 128) sind aber vor allem Merkmale einer Mimese. Dementsprechend hebt Chatman das »showing« in der Relation hervor. Heldt (ebd.: 130) schreibt dazu ebenfalls: »Im Film funktioniert die Verbindung der beiden Elemente jedoch ein wenig anders. (…) Die unmittelbare Präsens einer primären Erzählerstimme ist möglich, (…) spielt aber quantitativ meist keine Rolle (…). Charakteristisch (…) ist die Organisation mimetischer Bausteine: Von beiden Aspekten des Erzählens, die ich oben unterschieden habe, bleibt im Wesentlichen die des Auswählens und Anordnens von Information übrig«. Der Prozess des filmischen Erzählens zeichnet sich also dadurch aus, dass das »showing« in einer spezifischen Weise organisiert wird und durch diese sinngebende Anordnung implizites »telling« stattfindet. Hieckethier (ebd. 1996: 79) unterscheidet deshalb zwischen dem Zeigen als »grundsätzliche Dimension des Visuellen wie des Auditiven« und dem Erzählen andererseits, das »in seinen Dimensionen der Weltdarstellung und -vermittlung übergreifender« ist, »weil es das Gezeigte in Zusammenhänge stellt« (ebd.: 80). Insofern ist von zwei Tätigkeitsdynamiken auszugehen. Einerseits findet die sogenannten Monstration statt – die raum-zeitlichen Repräsentation einer Zustandsveränderung. Hinzu kommt zweitens die Narration selbst als »sorgsame Organisation mimetischen Materials« (Heldt 2018: 129) im Hinblick auf kausale Sinnzusammenhänge. Demnach bilden die Auswahl dessen, was auditiv und visuell »gezeigt« wird,
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sowie die Anordnung der ausgewählten Elemente in Relation zueinander, den Kern des filmischen Erzählens. Für diese Prozesse interessiert sich eine narratologische Analyse.
8.2.2 Erzählstruktur Die Auseinandersetzung mit Erzählbedingungen auf diesen unterschiedlichen Ebenen zeigt bereits, dass das Phänomen des Erzählens im Film ein mehrdimensionales und vielschichtiges ist. Deshalb zählt die Annahme verschiedener struktureller Level zum grundlegenden konzeptuellen Konsens innerhalb der Narratologie. Fast alle dahingehenden Modelle basieren auf einer Dichotomie, die – bewusst reduziert zusammengefasst – zwischen einer tiefer liegenden Struktur der Geschichte und einer äußerlich erkennbaren Dimension des Erzählprozesses unterscheidet. Die neoformalistische Distinktion »story« und »plot« entspringt ebenfalls daraus. Deren literaturtheoretische Hintergründe im russischen Formalismus wurden bereits erläutert. Die grundsätzliche Vorstellung von Fabula und Sujet wird heute vielfach auf Boris Tomashevsky zurückgeführt (Pier 2003: 76). Wichtige Vorarbeiten kommen aber auch von andere Autoren wie Viktor Slovsky, Michail Petrovsky oder Lev Vygotsky (vgl. Schmid 2008: 231–242). Im späteren Strukturalismus sind es dann vor allem Todorov (histoire/discours) und Chatman (story/discourse), die das binäre Prinzip geprägt haben (vgl. Pier 2003: 78f). Allein dieser kurze Überblick zeigt bereits die große Vielfalt an Begrifflichkeiten in dieser Frage. Außerdem wurde die Grundstruktur immer wieder als verkürzend empfunden und deshalb mehrfach ausdifferenziert. Parallel zu den genannten Konzepten gibt es deshalb Modelle, welche die Erzählstruktur anhand dreier Schichten betrachten (vgl. Pier 2003: 74). Dazu gehören weit verbreitete Ansätze von Mieke Bal oder Gerard Genette, ebenso wie weniger bekannte Beschreibungsversuche von Jose Angel Garcia Landa oder Karlheinz Stiele (vgl. Schmid 2008: 249f). Auch Luc Herman und Bart Vervaeck (vgl. 2005: 41f; 45) schlagen beispielsweise die Termini »story«, »narrative« und »narration« vor und greifen dabei auf Genette zurück. Demnach ist die »narration« als äußerste Schicht »the concrete and directly visible way in which a story is told.« (ebd: 42). Unterhalb dieser Ebene ist das »narrative« anzusiedeln, mit dem die Präsentationsform von Ereignissen und Figuren einer Geschichte gemeint ist (vgl. ebd.). Der Terminologie von Herman und Vervaeck (vgl. ebd.: 46) folgend umfassen die mittlere und äußere Dimension (narrative und narration) das Sujet. Im Kern geht es also um eine Ausdifferenzierung dessen, was im Rahmen der vorliegenden Arbeit der »plot« ist. Die am tiefsten liegende Struktur ist schließlich die »story«. »On this level, narrative elements are reduced to a chronological series.« (Ebd.: 42) Hier wird der Begriff mehr oder weniger parallel zur neoformalistischen Annahme einer »story« verwendet. Der kurze exemplarische Exkurs verdeutlich, wie eng verwoben die Modelle sind und wie unterschiedlich die einzelnen Bezeichnungen gleichzeitig verwendet werden. Ähnliches gilt auch für alle zusätzlichen Erweiterungsversuche. Schmid hat in den 1980er-Jahren ein Modell mit vier Schichten entwickelt, indem er zwischen Geschehen und Geschichte auf der einen sowie zwischen Erzählung und Präsentation der Erzählung auf der anderen Ebene unterscheidet (vgl. Pier 2003: 84f). Selbst diese Herangehensweise basiert also im Kern auf einer Dichotomie, die lediglich in sich betrachtet
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ausdifferenziert wird. Schmid (2008: 251) selbst schreibt dazu ganz konkret: »Ein solches Modell muss der je zweiwertigen Bedeutung der Begriffe Fabel und Sujet oder histoire und discours Rechnung tragen.« Demnach handelt es sich dabei vor allem um eine erzähltheoretische Verfeinerung der strukturellen Schichten – vergleichbar mit der hier diskutierten Unterscheidung von Monstration und Narration im filmischen Erzählprozess. Die grundsätzliche konzeptuelle Gliederung wird aber beibehalten. Insofern erscheint es für eine filmnarratologische Betrachtung durchaus sinnvoll und ausreichend, im Sinne der neoformalistischen Tradition auf die Fabula-Sujet-Distinktion zurückzugreifen, aus der sich die bereits diskutierte Strukturierung der Erzählstruktur in »story« und »plot« ergibt. Laut Definition von Bordwell und Thompson (vgl. 2008: 76) umfasst die »story« demnach sämtliche Ereignisse der Erzählung (sowohl die explizit präsentierten als auch die vom Publikum davon abgeleiteten) und die erzählte Welt in Form der Diegese. Demgegenüber steht der »plot«, »used to describe everything visibly and audibly present in the film before us« (ebd.). Obwohl auch Bordwell (siehe dazu 1985: 50ff) mit dem »style« grundsätzlich einen dritten Faktor einführt, wodurch er aufseiten des »plots« zwischen ästhetischen Elementen und dramaturgischer Anordnung als miteinander interagierende Größen unterscheidet, handelt es sich bei dem Konzept um eine klare Zweiteilung der Erzählstruktur in eine tiefer legende Ebene (Was wird erzählt?) und eine äußerliche bestimmbare Dimension (Wie wird erzählt?). Bei einer Auseinandersetzung mit der Frage, welchen eigenständigen Beitrag Musik zum Erzählprozess leisten kann, ist diese Differenzierung essentiell. Die narratologische Analyse interessiert sich dann nämlich in erster Linie für den »plot«. Dennoch können die strukturellen Schichten nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Es kommt zu Überlappungen in alle Richtungen. Um bestimmen zu können, wie der Film erzählt, ist es unabdingbar zu wissen, was überhaupt erzählt wird. Gleichzeitig ist die »story« im neoformalistischen Kognitivismus keine bereits vorhandene Struktur, sondern ergibt sich letztlich erst aus der Publikumsaktivität und dessen Verstehensleistung. Mikos (2008: 112) stellt dahingehend fest: »Die Story entspricht dem, was die Zuschauer mit ihrem Wissen, ihren Emotionen und Affekten sowie ihrem praktischen Sinn aus dem Gezeigten machen, um den Film oder die Fernsehsendung zu einem sinnhaften Ganzen zu machen.« Der »plot« ist also ganz unmittelbar am Entstehen der »story« beteiligt. Die Beeinflussung findet aber in beide Richtungen statt, wie folgende Beobachtung von Bordwell/Thompson (2008: 77) zeigt: »In a sense, then, the filmmaker makes a story into plot.« Grundannahmen einer »story« spielen demnach bereits in der »plot«-Entwicklung eine Rolle. All diese Aspekte und Überlegungen fließen gedanklich in die hier anzustrebende Herangehensweise ein.
8.2.3 Erzählwelt Vor diesem Hintergrund fällt der Blick im nächsten Schritt auf eines der zentralen narratologischen Konzepte, das insbesondere auch in Hinblick auf die Musik im Film übernommen wurde. Das Verhältnis eines bestimmten Elements zur »erzählten Welt« gehört zu den wichtigsten Fragen bei der Analyse von Erzählstrukturen. In diesem Zusammenhang taucht in Form der »Diegese« ein bereits bekannter Begriff aus dem Umfeld der narrativen Kommunikationsmodi auf. Eine inhaltliche Parallelität ist aber nicht
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gegeben. Die Überschneidung ergibt sich vielmehr dadurch, dass Platos »diègèsis«, das für die Distinktion zwischen »showing« und »telling« grundlegend ist, in der englischsprachigen Literatur gleich übersetzt wird wie die hier zu diskutierende »Diegese«. Diese begriffliche Unschärfe gilt es ins Bewusstsein zu rücken und sich dementsprechend an folgender Prämisse zu orientieren: »Die Diegese ist die erzählte Welt, deren Vorstellung durch eine Diegesis vermittelt wird« (Fuxjäger 2007: 3). Zusammengefasst geht es auf der einen Seite also um einen spezifischen Aspekt des Erzählprozesses, auf der anderen um eine Bezeichnung für den »Raum, in dem sich die Geschichte abspielt« (Souriau 1997: 144). Nicht zuletzt deshalb, weil es diese »begriffliche Kontamination« (Kessler 2007: 12) gibt, gilt die Diegese als »eines der wohl umstrittensten Konzepte innerhalb der literatur- und filmwissenschaftlichen Narratologie«, das zusätzlich dazu noch »zahlreiche Unschärfen aufweist und in verschiedenen Entwürfen durchaus unterschiedlich definiert wird« (Hartmann 2007: 55). Die genaue Bestimmung dessen, was zur Erzählwelt gehört, ist in der Folge Gegenstand vieler theoretischer Diskussionen geworden (vgl. Kessler 1997: 137f). Unabhängig davon fungiert der Begriff als »accepted term for the fictional world of the story« (Bordwell 1985: 16) und hat damit eine gewisse Allgemeingültigkeit erlangt. Die ursprüngliche Idee stammt sogar aus der »filmologischen Schule« von Étienne Souriau und wurde erst etwas später in die Literaturtheorie übertragen. Kessler (1997: 137) schreibt dazu: »Tatsächlich dürfte es sich hier um einen der wenigen filmtheoretischen Begriffe handeln, der auch von anderen Wissenschaften übernommen worden ist.« Über Metz und Genette fließt die dementsprechende Benennung der Erzählwelt schlussendlich wieder in die moderne Filmnarratologie und die »Film Music Studies« ein. Mit Diegese beschreibt Souriau (1997: 151) grundsätzlich »alles, was man als vom Film dargestellt betrachtet und was zur Wirklichkeit, die er in seiner Bedeutung voraussetzt, gehört.« Insofern fasst Kessler (1997: 137) zusammen: »Der Begriff bezieht sich also auf die imaginäre Welt des Dargestellten als einer Art mentaler Rekonstruktion.« Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass das Konzept auch eng an eine Imaginations- oder der Verstehensleistung gebunden ist. Anton Fuxjäger (2007: 18) schlussfolgert dahingehend: »Der Rezipient muss (…), um die Erzählung verstehen zu können, eine mehr oder weniger detaillierte und möglichst schlüssige raumzeitliche Vorstellung von der erzählten Welt bilden. Und diese erzählte Welt bezeichnet Souriau als »Diegese« und entsprechend alles, was zu ihr gehört, als »diegetisch«.« Der grundsätzliche Rahmen scheint damit klar abgesteckt. Mit dem Begriff wird die Vorstellung des raumzeitlichen Universums, in dem eine Erzählung angesiedelt ist, bezeichnet. Dementsprechend stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis ein bestimmtes Element zu eben dieser Erzählwelt steht (siehe Fuxjäger 2007: 24–27). Die klassische Unterteilung der Musik in diegetische und nicht-diegetische Einsätze basiert auf genau diesem Prinzip. Dahingehend gibt es einen breiten Konsens. Abseits davon treten größere Auffassungsunterschiede im Hinblick auf die konzeptuelle Nähe zur »story« zutage. Wenn die Diegese nämlich das gesamte »raumzeitliche Universum der Erzählung ist, dann müssen die darin vorfallenden Ereignisse oder auch Handlungen ein Teil von ihr sein« (Fuxjäger 2007: 21). Eine dementsprechende Sichtweise stützt sich unter anderem auf Souriaus (1997: 156) explizite Formulierung, wonach mit Diegese »alles, was sich laut der vom Film präsentierten Fiktion ereignet und was sie implizierte, wenn man sie als wahr ansähe«, gemeint ist. Dies würde bedeuten, dass der Begriff auch alle Figuren und ihre Handlungen sowie sämtliche Ereignisse innerhalb der fiktiona-
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len Welt umfasst, wodurch es Überschneidungen mit der »story« gibt. Hinzu kommt, dass die Diegese durch eine Prozesshaftigkeit hervorgebracht wird, weil sie sich über die Verstehens- und Imaginationsleistung als Dynamik der Rezeption erschließt. In diesem Zusammenhang taucht der Begriff »diegetisieren« auf (siehe dazu Hartmann 2017: 55–61 oder Wulff 2007: o.S.). Diese Parallele zur neoformalistischen »story« und hat dazu geführt, dass eine scheinbare Annäherung der Konzepte stattfand. Insofern gilt es an dieser Stelle zwischen Geschichte und Diegese zu differenzieren. Darin liegt letztendlich der Mehrwert für eine narratologische Analyse. Kessler (2007: 11) schreibt dazu: »Diese Unterscheidung ist zweifellos von großer Bedeutung, denn sie erlaubt es, die erzählte Geschichte abzulösen von der erzählten Welt, dem Handlungsraum.« Obwohl eine Reduktion auf die »räumlichen Dimensionen«, welche die sich »in der erzählten Welt (…) ereignenden Handlungen aber ausschließen« (Fuxjäger 2007: 21) vielfach kritisiert wurde, weil sie den zeitlichen Aspekt in Souriaus Konzeption nicht unmittelbar berücksichtigt, konnte sie ihre praktische Anwendbarkeit unter Beweis stellen. Die vorliegende Arbeit übernimmt den Diegese-Begriff daher als Bezeichnung für die fiktionale Welt, innerhalb derer eine Erzählung angesiedelt ist. Diese zeichnet sich aber nicht nur durch räumliche Faktoren wie geografische Schauplätze, Milieus oder Gebäude aus, sondern ist durch eine Vielzahl von Umständen bestimmt, zu denen auch Facetten wie historische Epochen oder Zeitwahrnehmung gehören. Die spezifischen raumzeitlichen Bedingungen der Diegese entstehen laut Wulff (siehe 2007: o.S.) im Zusammenspiel mehrerer Teilschichten. Einerseits existiert sie als »physikalische Welt« (ebd.). Deren Eigenschaften können mit den physikalischen Prinzipien der Wirklichkeit übereinstimmen, müssen das aber nicht. Ein zweiter Aspekt ist die »Wahrnehmungswelt der Figuren« (ebd.). Ihre Sinneseindrücke unterscheiden sich oft radikal von der Alltagswahrnehmung. So ist es im Hinblick auf die Musik beispielsweise möglich, dass eine Figur als Ausdruck der inneren Gefühls- und Gedankenwelt bestimmte Klänge »hört«. Auch diese Dinge sind ein Kennzeichen der jeweiligen Diegese. Außerdem verweist Wulff (ebd.) auf die »Sozialwelt (…), in der jeder handlungsfähige Mensch existiert, denkt, handelt und sich mit anderen verständigt«, und die eng damit verbundenen moralischen Werte und Regeln (vgl. ebd.). Aus der Kombination all dieser Elemente ergibt sich ein bestimmtes Setting, in dem die Erzählung stattfindet. Das ist die Diegese, die neben den Ereignisketten und handelnden Figuren strukturell auf Ebene der »story« zu verorten ist. Damit wird sie zu einer für den Sinnzusammenhang relevanten Größe, wodurch auch Elemente, die bestimmte Aspekt der Erzählwelt deskriptiv darstellen, unter Umständen narrativ sein können, weil sie zur Kohärenzbildung und Kausalität beitragen.
8.2.4 Erzählinstanz(en) Ein anderer großer Fragenkomplex, der die Narratologie seit jeher antreibt und deren Analysen prägt, ist die Suche nach einer vermittelnden, erzählenden Instanz. Das Konzept des »Erzählers« beziehungsweise einer »Erzählstimme« gilt als eines der zentralsten narratologischen Elemente, wobei die daraus entstehende Grundsatzfrage, ob eine Erzählung auch erzählerlos sein kann, davon abhängt, wie die Erzählerstimme definiert wird (vgl. Igl 2016: 1). Die bereits skizzierte Diskussion zu engen und wei-
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ten Definitionen von narrativen Texten verläuft genau entlang dieser Trennlinie und führt im klassischen Verständnis von Narrativität letztlich zur Annahme einer »mehr oder weniger explizit vermittelnden Instanz eines Erzählers« (Schmid 2008: 9). Der »Erzähler« wird dadurch innerhalb des jeweiligen Textes materialisiert und personalisiert (vgl. Igl 2016: 7). Auch Kuhn (2011: 55) greift diese Distinktion grundsätzlich auf, indem er »das Vorhandensein eines vermittelnden Kommunikationssystems bzw. einer vermittelnden, nicht anthropomorph zu verstehenden narrativen Instanz« für narrative Werke im enger gefassten Sinne fordert. Trotz dieser traditionellen Bezugspunkte folgt sein Beschreibungsversuch dem Trend zur Auflösung des personifizierten »Erzählers«. Auf der anderen Seite stehen heute nämlich jene Ansätze, die eine Erzählinstanz eher als abstrakte Größe verstehen (vgl. Igl 2016: 7). Daraus ergibt sich eine perspektive Erweiterung, ohne die Grundidee des Vermittlungsprozesses zu verwerfen. Ein Hauptgrund für diese Entwicklung ist vor allem die Übertragung narratologischer Konzepte auf andere Medien wie eben den Film. Heldt (vgl. 2018: 131) stellt beispielsweise fest, dass es dort im Verhältnis zum Roman anstelle der Erzählerstimme eine »impersonale« Form der Erzählung gibt, weil die Erzählinstanz nicht textuell manifestiert ist, sondern im Hintergrund agiert (vgl. Heldt 2018: 131). Auch Natalie Igl (2016: 18f) erkennt über literarische Werke hinausgehend insbesondere in audiovisuellen Narrationen Strukturen, denen ein personifizierter Erzähler oder die diegetisch klar verortbare Erzählstimme fehlt. Ähnlich wie bei Kuhn führt dieses Bewusstsein aber keineswegs zur völligen Abkehr vom Konzept einer Erzählinstanz. Igl (2016: 7) schreibt dahingehend: »Die textuelle Manifestation der Erzählinstanz als klar konturierte Persona oder verortbare Stimme muss dabei nicht immer notwendigerweise gegeben sein. Als abstraktes diskursives Organisationsprinzip und sprachlich-perspektivische Ebene lässt sich die Erzählinstanz im narrativen Diskurs dennoch stets nachweisen.« Die theoretische Grundannahme, dass viele Erzählstrukturen keinen »Erzähler« im engeren narratologischen Sinne haben, aber dennoch irgendeine Form der vermittelnden Instanz aufweisen, zieht sich deshalb als roter Faden durch die Debatte. Dabei tauchen immer wieder Bezüge zu Chatman (vgl. 1990: 133f) auf, der mit dem »cinematic narrator« von einem nicht-menschlichen »agent« als treibende Kraft im Erzählprozess ausgeht. In Anlehnung daran entwirft Kuhn (2011: 83–87) die Vorstellung einer »filmischen Erzählinstanz«, die er als gemeinsames Produkt zweier werkinterner Vermittlungssysteme (visuelle Erzählinstanz + eine oder mehrere sprachliche Erzählinstanzen) definiert. Das Konzept basiert im Kern auf der Unterscheidung von »showing« und »telling«. Eine zusätzliche Grundlage ist das erzähltheoretische Kommunikationsmodell, wodurch bei der vereinfachten Übertragung auf den Film drei kommunikative Ebenen (reale Kommunikation bei Filmschaffenden und Publikum, erzählerische Vermittlung durch die Instanz des »cinematic narrator« und erzählende Figuren innerhalb der Diegese) entstehen (vgl. ebd.: 84). Schmid (2008: 43) spricht bei seiner Auseinandersetzung mit diesem Modell deshalb von »Autorkommunikation«, »Erzählkommunikation« und »Figurenkommunikation«. Die vorliegende Arbeit orientiert sich bei der Bestimmung einer Erzählinstanz grundsätzlich an all diesen konzeptuellen Ideen, deutet sie aber im Hinblick auf die eigenen Fragestellungen und methodischen Prinzipien teilweise um. Zunächst wird das Kommunikationsmodell deshalb auf seine »beiden für das Erzählwerk konstitutiven Ebenen« (Schmid 2008: 43) reduziert. Dementsprechend dient eine
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Doppelstruktur als Grundlage. »Die Erzählkommunikation (…) ist Teil der fiktiven dargestellten Welt« und als solche »das Objekt der realen Autorenkommunikation« (ebd.: 41). In diesem Sinne kann von zwei kommunizierenden und miteinander interagierenden Dimensionen ausgegangen werden – Publikum und Filmschaffende einerseits und der Film als Erzählung andererseits. Hinzu kommt die neoformalistische Unterscheidung der erzählstrukturellen Schichten »story« und »plot«, die ebenfalls auf einer Prozesshaftigkeit beruht. Die Erzählkommunikation ist vor diesem Hintergrund stehend nicht unbedingt Teil der fiktiven Welt, womit sie zur »story« gehören würde, sondern muss letztlich auf der Ebene des »plots« gesucht werden. Dort findet der Vermittlungsprozess zwischen Filmschaffenden und intendierter »story« beziehungsweise Publikum und erlebter »story« statt. Der »plot« selbst wird damit zur »filmischen Erzählinstanz« in Anlehnung an das Modell von Kuhn. Dem Ansatz weiter folgend entsteht diese wiederum aus einem Zusammenspiel mehrerer partieller Erzählinstanzen. Ob der angesprochenen Unterscheidung in visuelle und sprachliche Aspekte als Parallelität zum »showing« und »telling«, bei der Kuhn (2011: 86) »wegen des Fokus auf die visuellen Aspekte des außersprachlichen Erzählens im Film und die Einfachheit der Formulierung« ganz bewusst auf den Begriff »audiovisuelle Erzählinstanz« (ebd.) verzichtet, gilt es an diesem Punkt aber besonders genau nachzuschärfen. Im Film beschränkt sich das »telling« nicht nur auf das Voice-Over oder Text-Inserts beim Vorspann. In der Diskussion um Mimesis und Diegesis wurde dementsprechend herausgearbeitet, dass das »telling« insbesondere auch durch die sinngebende Anordnung der monstrativen Elemente sichtbar wird. Durch die Annahme dieser ineinandergreifenden Prozesshaftigkeit narrativer Kommunikationsmodi ist die Distinktion von Kuhn nicht weiter zu verfolgen. Stattdessen wird zunächst zwischen auditiven und visuellen Erzählinstanzen unterschieden, denen ihrerseits jeweils eine Vielzahl an Vermittlungsmöglichkeiten zur Verfügung steht. Ob der Dominanz des Dialogs auf auditiver Ebene und dem Vorhandensein von Sprache auf beiden Seiten liegt die Einführung einer dementsprechenden dritten Kategorie nahe. Das Bewusstsein um sprachliche Erzählinstanzen umfasst im hier gegeben Rahmen jedoch die Figurendialoge ebenso wie Voice-Over oder Text-Inserts. Die Unterscheidung verläuft also nicht entlang der Trennlinie »showing« und »telling«, sondern orientiert sich an den grundsätzlichen Ausdrucksmöglichkeiten des Multi-Kanal-Mediums Film. Die Annahme, dass die »filmische Erzählinstanz« in einem Zusammenspiel von auditiven (Musik, Sound, Tonschnitt,…), visuellen (Montage, Kostüme, Belichtung, Schauspiel,…) und sprachlichen Aspekten (Dialoge, Voice-Over, textsprachliche Beschriftungen und Elemente,…) entsteht, berücksichtigt Chatmans (1990: 134) zentrale Vorstellung von der narrativen Instanz im Film als »composite of a large and complex variety of communicating devices.« Innerhalb dieses Systems fungiert der »plot« als Vermittler zwischen »story« und Publikum oder Filmschaffenden und »story«. Die vorliegende Konzeption einer »filmischen Erzählinstanz« verwirft damit die Grundidee einer vermittelnden, narrativen Kraft als Teil der Erzählstruktur nicht, denkt diese aber radikal vom Film ausgehend. Der »impersonale Erzähler«, von dem Heldt (2018: 131) spricht, ist keine von außen hinzutretende Größe, sondern der Film selbst. Er kommuniziert im Rahmen seiner unterschiedlichen Ausdrucksmöglichkeiten und in Form des »plots« als äußerlich wahrnehmbare Manifestation. Vor diesem Hintergrund lösen sich viele zusätzliche Fragen, die von der klassischen Narratologie im Um-
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feld der narrativen Instanzen zu den Themenkomplexen Fokalisierung und Perspektive, implizite Autorenschaft oder »unrelieable narrator« gestellt werden, teilweise auf. Auch deshalb sind all diese Aspekte nicht unmittelbarer Gegenstand des hier skizzierten erzähltheoretischen Modells.
8.3 Filmisches Erzählen als kommunikativer Prozess An der Schnittstelle aller bisherigen Überlegungen und konzeptuellen Gedanken entsteht ein theoretisches Grundverständnis vom Film als Erzählung, an dem sich die vorliegende Arbeit in weiterer Folge orientieren kann. Abbildung 1 stellt das auf diesem Wege entwickelte filmnarratologische Model grafisch zusammengefasst dar.
Abbildung 1: Filmnarratologisches Modell
(eigene Darstellung)
Ausgangspunkt ist die Definition von Erzählung als raum-zeitlich organisierte Repräsentation mindestens einer Zustandsveränderung im kausalen Sinnzusammenhang. Eine dementsprechende Formulierung impliziert bereits die neoformalistische Distinktion von »story« (sinngebend kontextualisierte Zustandsveränderungen) und »plot« (Organisiertheit der Repräsentation). Insofern besteht der Film als Erzählung im Sinne der strukturellen Ebenen aus einer tiefer liegenden »Geschichte«, die ihrerseits sämtliche Ereignisketten, handelnde Figuren und die »Handlungsraumzeit« in Form der Diegese umfasst, und deren äußerlich wahrnehmbare Vermittlung im Erzählprozess. Durch die damit verbundene Annahme, dass eben diese Aspekte der »story« erst über eine Verstehens- und Interpretationsleistung erschlossen werden, fungiert der »plot« letztlich als Manifestation einer »filmischen Erzählinstanz«, die mit Hilfe von auditiven, visuellen und sprachlichen Ausdrucksmitteln im Austausch mit der realen Kommunikationsebene (Filmschaffenden und Publikum) steht und so von sich aus Erzählkommunikation betreibt. Für genau diese Prozesse und Dynamiken – in weiterer Folge als Narration bezeichnet – interessiert sich die vorliegende Arbeit bei der Auseinandersetzung mit Musik als Element der filmischen Erzählstruktur.
Zur Verortung innerhalb der Filmtheorie(n)
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Film-Phänomenologie
Darauf aufbauend gilt es nun, das filmnarratologische Grundmodell, das ob seiner neoformalistischen Ursprünge im Hinblick auf die Rezeption bisher stark von kognitiven Prinzipien geprägt ist, um eine zusätzliche Facette zu erweitern. An dieser Stelle kommen die filmphänomenologischen Ansätze ins Spiel, die den Film als »expression of experience by experience« (Sobchack 1992: 3) betrachten und so die leibliche Erfahrung zur zentralen Größe für die Sinnbildung machen. Obwohl die dahingehenden Konzepte grundsätzlich im Umfeld einer »theoretischen Skepsis« gegenüber »dem Primat narrativen Verstehens« (Robnik 2014: 248) entstanden sind und als solche zumeist Gegenposition zum Neoformalismus beziehen, haben die bereits im Vorfeld angesprochene Zugänge von Heller (2019) und Morsch (2012) gezeigt, dass sich beide Perspektiven durchaus ergänzen können und letztlich von einem Zusammenspiel aus kognitiver und leiblicher Wahrnehmung auszugehen ist. Eine dementsprechende Vorstellung vom Verstehensprozess rund um den Film ist insbesondere im Hinblick auf die Musik als stark emotionalisierendes Element interessant. Vor diesem Hintergrund findet die nachfolgende Auseinandersetzung mit filmphänomenologischen Ideen statt. Sie stellt keinen systematischen Vollständigkeitsanspruch, sondern versteht sich als Annäherungsversuch, um einzelne Aspekte konzeptuell aufzugreifen und auf das hier skizzierte theoretische und analytische Modell anzuwenden.
9.1
Vom Sehen und Gesehenwerden zur Intentionalität des »Leibes«
Eine zentrale Überlegung der Filmphänomenologie betrifft die Definition von Subjektivität im filmischen Prozess. Sobchack (1992) tritt in ihren Studien dahingehend gegen die theoretischen Annahmen vom »act of viewing« (19) als kommunikatives Zeichensystem auf, in dem der Film ausschließlich »as a viewed object« (20) betrachtet wird. Stattdessen geht sie von einer grundsätzlichen Gleichstellung der verschiedenen Kräfte aus und lässt dadurch die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt verschwimmen. Ausgangspunkt für diese Sichtweise ist das Bewusstsein um folgende Dynamik: »Filmmaker, film, and spectator all concretely use the agency of visual, aural, and kinetic experience to express experience – not only to and for themselves, but also to and for others. Each engaged in the visible gesture of viewing, the filmmaker, film, and spectator are all able to commute the »language of being« into the »being of language,« and back again.« (Ebd.: 21) Es handelt sich also um eine »wechselseitige Beziehung von Film und ZuschauerInnen«, die ihrerseits durch die jeweilige »Doppelstruktur von Sehen und Gesehenwerden« (Zechner 2016: 6) geprägt ist. Daraus ergibt sich ein dialogisches Verhältnis zweier »schauender Subjekt«, die parallel dazu auch als »sichtbare Objekte« in der Welt existieren. Sobchack (2992: 23) führt dahingehend aus: »The direct engagement, then, between spectator and film in the film experience (…) is a dialogical and dialectical engagement of two viewing subjects who also exist as visible object (…). Both film and spectator are capable of viewing and of being viewed, both are embodied in the world as the subject of vision and object for vision.« Das ist die gedankliche und konzeptuelle Grundlage für eine filmphänomenologische Herangehensweise. Als mithin weitreichendste Folge davon kann der Umstand betrachtet werden, dass innerhalb dieser Dynamik »dem Film selbst Subjektivität« (Zechner 2016: 5) zukommt. Die
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Filmrezeption wird damit zur Begegnung zweier eigenständiger Subjekte (Film und Publikum) und weist Parallelen zum skizzierten Prozess zwischen realer Kommunikationsebene und Erzählkommunikation im filmnarratologischen Modell auf. Eine strukturelle Hierarchie des Sehens und Gesehenwerdens zwischen Film und Publikum im Sinne der klassischen Subjekt-Objekt-Dichotomie gibt es dadurch nicht mehr. Von zentraler Bedeutung ist aber, dass in diesem Moment dennoch »zwei völlig unterschiedliche Subjekte des Sehens ins Spiel« (Bonnemann 2019: 279) kommen. Bonnemann (ebd.:) differenziert dahingehend: »Sehende sind einmal die Zuschauerinnen, die das filmische Geschehen verfolgen. Gleichzeitig gibt es aber noch ein zweites Subjekt des Sehens – und das ist eben der Film selbst.« Die Filmrezeption wird vor diesem Hintergrund zur »Wahrnehmung einer anderen Wahrnehmung, die sich durch Auswahl ausdrückt« (Zechner 2016: 6). Der Film ist dem phänomenologischen Ansatz folgend also eine bestimmte »Erfahrung von Welt« (ebd.), die ihrerseits wiederum durch das Publikum erfahren wird. Auf beiden Ebenen zeichnet sich dieses Erfahren durch eine Unmittelbarkeit aus. Das führt zu einer anderen konzeptuellen Überschneidung mit dem im filmnarratologischen Modell vorgeschlagenen Verständnis von Narration als Manifestation einer »Filmischen Erzählinstanz«. Auch dort ist das Erzählen als unmittelbarer Kommunikationsprozess zwischen den beiden involvierten Kräften angelegt. Die Wahrnehmung des Films als schauendes Subjekt bezieht sich demnach auf die Diegese sowie die darin stattfindenden Ereignisse und drückt sich durch Auswahl und Anordnung der auditiven, visuellen und sprachlichen Erzählinstanzen aus. Das Publikum begegnet diesem »Sehen« dann als ebenfalls schauendes Subjekt auf Ebene der realen Kommunikation und zieht daraus Rückschlüsse auf die durch den Film erfahrene »story«. Der phänomenologische Subjekt-Begriff verschränkt sich an dieser Stelle mit dem filmnarratologischen Modell. Der Film wird zur Vermittlungsinstanz seiner eigenen Wahrnehmung und der Erzählprozess zum Dialog zweier selbstständiger Subjekte. Mit dieser Definition von Subjektivität gehen in weiterer Folge zwei grundlegende Bedingungen einher. Beide lassen sich bei genauerer Betrachtung aus dem phänomenologischen Verständnis von Film ableiten, das Bonnemann (2019: 292) mit folgenden Worten auf den Punkt bringt: »Der Film entwickelt sich, er bewegt und verhält sich, gleitet langsam und unschlüssig suchend dahin oder jagt mit hektischen Kamerafahrten durch die Räume, die er erkundet. Damit breitet er seine eigene Wahrnehmung und sein eigenes intentionales Leben vor den Augen des Publikums aus«. Zechner (2016: 6) ergänzt diese Zusammenfassung und schärft im Hinblick auf einen Aspekt noch etwas nach: »Die Wahrnehmung des Films nehme ich nicht als die eigene wahr, da sich der eigene Körper vom Filmkörper unterscheidet. Diese Wahrnehmung ist eine andere, ausgeweitete in den technischen Möglichkeiten des Films, die ich über den Dialog mit meiner eigenen Wahrnehmung erfahren kann.« (Zechner 2016: 6) Beide Beschreibungsversuche nehmen damit mehr oder weniger konkreten Bezug darauf, dass dem Film selbst durch die Phänomenologie Intentationalität und »Leiblichkeit« zugeschrieben wird. Sobchack (1992: 57) spricht im Hinblick darauf von einer »structure of consciousness« und bringt in dem Zusammenhang Edmund Husserls grundlegende Beschreibung des »Bewusstseins von etwas« ins Spiel (vgl. ebd.). Sie schreibt dazu: »The condition of being conscious of the world is being a consciouness in it and sharing the materiality that provides consciousness with its objects as well as the grounds for its own subjective being.« (Ebd.: 59) Damit wird das In-der-Welt-Sein zur zentralen Bedingung dahingehend. Die
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Intentionalität des Films offenbart sich durch sein Bewusstsein als »lived-body« (ebd.) und seine Situiertheit in der Welt. Durch die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Dichotomie existiert er gleichzeitig als materialisiertes Objekt und schauendes Subjekt. Dieses Bewusst-Sein in der eigenen Wahrnehmung der Welt macht ihn zu einem intentionalen Akteur. Sobchack (ebd.: 62) schlussfolgert dementsprechend: »[T]he moving picture is experienced semiotically as also intentional and subjective, as presenting a representation of the objective world.« Der zweite Aspekt – die »Leiblichkeit« – ist eng damit verknüpft. In den filmphänomenologischen Ansätzen wird dem Film parallel zum Publikum ein »Leib« zugestanden. Sobchack (vgl. 1992: 59–63) diskutiert in dem Kontext die Dimensionen Zeit und Raum und verweist darauf, dass sich Film und Fotografie im Hinblick auf den Faktor Bewegung unterscheiden. Während das eine Medium fixierte, stillgelegte Bilder vermittelt, ist das andere ein konstant fließender »stream of moving images« (ebd.: 62). Aus dieser »Beweglichkeit des Films« wird eine »körperliche Beweglichkeit« (Zechner 2016: 6) abgeleitet. Der Film bewegt sich eigenständig durch Zeit und Raum. Er wechselt dynamisch zwischen Perspektiven und Ebenen, wählt aus, ordnet an und präsentiert dadurch seine eigene Wahrnehmung. Diese Bewegung macht ihn zum intentionalen »lived-body«. »Dieser Leib, der mir in meinem unmittelbaren Erleben zugänglich ist, unterscheidet sich von meinem Körper, den ich wie ein Ding sehen und betasten kann.« (Bonnemann 2019: 288) Deshalb ist der Film als »Leib« für die Phänomenologie eben »kein Objekt, (…) das gesehen wird, sondern verkörperte Erfahrung, an der ich teilhaben kann« (Zechner 2016: 6). Das Zugestehen einer intentionalen Leiblichkeit wird damit zur Grundlage für die Vorstellung von Filmrezeption als geteilte Wahrnehmung zweier schauender Subjekte im dialogischen Verhältnis.
9.2
Die Sinnlichkeit der Filmerfahrung
Mit der Annahme einer leiblichen Existenz von Film und Publikum rückt die Sinnlichkeit der Filmerfahrung ins Zentrum, wodurch »dem körperlichen Sinn, welcher in der Filmwissenschaft lange ausgeklammert wurde« (Zechner 2016: 9), automatisch mehr Bedeutung zukommt. »Dementsprechend wird (…) der Zuschauer als ein körperlich wahrnehmender und leiblich spürender Organismus aufgefasst, dessen Körperlichkeit als Produktivkraft in die filmischen Prozesse eingebunden ist.« (Morsch 2010: 60) Zechner (2016: 9) ergänzt dahingehend: »In der Teilnahme der Zuschauerin an der verkörperten Wahrnehmung des Films ist immer ihr ganzer Körper mit allen Sinnen gleichzeitig eingebunden, wodurch nach Sobchack die Wahrnehmung eines Films zu einer Erfahrung des Tastens, Schmeckens oder Riechens werden kann.« Daraus ergibt sich die grundlegende perspektivische Änderung, wonach die Filmrezeption nun »weniger intellektualistisch (…) als Wahrnehmung und nicht als Kognition ausgewiesen wird.« (Bonnemann 2019: 289) Für die Auseinandersetzung mit einem Element wie der Musik, das einen starken Emotionalisierungseffekt hat und vor allem auch körperlich wirksam wird, hat das weitereichende Konsequenzen. »Den materiellen Qualitäten des Films, seiner Oberfläche und den niederen Sinnen, vor allem aber dem Haptischen wird eine neue Rolle zugeschrieben. Aufbauend darauf verändert sich nicht nur die Hierarchie der Sinne, sondern auch deren Funktion.« (Zechner 2016: 9) Sinngebung und Verstehen verlagern sich damit in Richtung der verkörperten Wahrnehmung. Das eröffnet den Blick auf »Bedeutungen, die zwar nicht vom Film, sondern von mir ausgehen, aber – anders als das Lösen
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einer Rechenaufgabe oder die von Bordwell beschriebene Konstitution der Story aus dem Plot – dennoch nicht auf der Grundlage bewusster Denkvollzüge stattfinden.« (Bonnemann 2019: 289) Stattdessen entsteht das analytische und theoretische Bewusstsein um ein »tastendes Begreifen (bzw. schmeckendes, riechendes Erfassen filmischer >Atmosphären