Das Kriegsende in Sachsen 1945 [1 ed.] 9783428553617, 9783428153619

Der Sammelband vereint sechs Beiträge, die sich mit Aspekten des Kriegsendes 1945 in Sachsen auseinandersetzen. Hierzu z

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German Pages 116 Year 2018

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Das Kriegsende in Sachsen 1945 [1 ed.]
 9783428553617, 9783428153619

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CHEMNITZER EUROPASTUDIEN

Band 20

Das Kriegsende in Sachsen 1945 Herausgegeben von Hendrik Thoß Mario H. Müller

Duncker & Humblot · Berlin

Hendrik Thoß / Mario H. Müller (Hrsg.)

Das Kriegsende in Sachsen 1945

Chemnitzer Europastudien Herausgegeben von Frank-Lothar Kroll und Matthias Niedobitek

Band 20

Das Kriegsende in Sachsen 1945 Herausgegeben von Hendrik Thoß Mario H. Müller

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle Inhaber von Bildrechten ermittelt werden. Rechteinhaber, die nicht berücksichtigt wurden, werden gebeten, sich beim Herausgeber zu melden. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten. © 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3 w+p GmbH, Ochsenfurt-Hohestadt Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany

ISSN 1860-9813 ISBN 978-3-428-15361-9 (Print) ISBN 978-3-428-55361-7 (E-Book) ISBN 978-3-428-85361-8 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 7. bzw. 8. Mai 1945 ging mit der doppelten Kapitulation von Reims und Berlin-Karlshorst der zerstörerischste militärische Konflikt zu Ende, der bis dahin auf europäischem Boden ausgetragen worden war. Sachsen war als Teil des Deutschen Reiches von den militärischen Entwicklungen bis zur Einstellungen der Kampfhandlungen in besonderem Maße berührt. Es gehörte zu jenen Territorien Deutschlands, die – nach den Verheerungen des alliierten Bombenkrieges – nunmehr von zwei Seiten von einer Bodenoffensive betroffen waren. Denn während von Westen bzw. Südwesten US-Militär vorrückte, drangen von Osten bzw. Nordosten sowjetische und polnische Verbände in Sachsen ein. Hieraus resultierte nicht allein eine völlig unterschiedliche Kriegführung – zögerlicher Widerstand des deutschen Militärs gegen die US-Amerikaner im Westen, entschlossener Widerstand gegen die vordringende Rote Armee und ihre polnischen Verbündeten im Osten. Diese Entwicklung zog auch für die von den Kampfhandlungen betroffene Zivilbevölkerung eine vielschichtige Erfahrung nach sich, die sich – wenigstens in West- und Mittelsachsen – in der Einrichtung zweier Besatzungsregime, eines vorläufigen amerikanischen und in der Folge eines dauerhaften sowjetischen manifestierte. Der Gang der Ereignisse im Frühjahr 1945 ist auf lokaler bzw. regionaler Ebene inzwischen auch für Sachsen gut beschrieben, wobei freilich ein deutliches Gewicht auf der lokalgeschichtlichen Perspektive liegt. Wesentliche sich mit diesem Prozess verknüpfende Entwicklungsstränge werden in dem vorliegenden Band näher betrachtet. Hendrik Thoß setzt sich im ersten Beitrag mit völkerrechtlichen, politischen, wirtschaftlichen sowie erinnerungskulturellen Fragen im Zusammenhang mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges auseinander, der Sachsen als Teil der Sowjetischen Okkupationszone von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in die des Sowjetdiktators Stalin und seiner deutschen Satrapen führte. Dem folgt ein Beitrag von Dirk Reitz, der operationsgeschichtliche Aspekte des Kriegsendes in Sachsen 1945 diskutiert. Er verweist darauf, dass Sachsen am Rande der operativen Schwerpunkte der Roten Armee lag und tatsächlich eher besetzt als erobert wurde. Aus militärischer Sicht und im Hinblick auf die resultierenden Verwüstungen und zivilen Todesopfer erwiesen sich auch für Sachsen die angloamerikanischen Luftangriffe als entscheidender Faktor, den deutschen Widerstand zu brechen und damit den Sieg der Alliierten zu ermöglichen. Mario H. Müller setzt sich im Anschluss mit der Frage auseinander, inwieweit sich die territoriale Besetzung Sachsens 1945 durch alliierte Streitkräfte mit dem seit den 1980er Jahren auch in der Bundesrepublik gebrauchten Begriff „Befreiung“ in Verbindung bringen lässt, und kommt dabei zu dem Schluss, dass dieser Topos allenfalls für jene Gebiete Sachsens anwendbar scheint, die von US-Militär besetzt wurden, nicht jedoch für das von der Roten

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Vorwort

Armee besetzte Mittel- und Ostsachsen und ebenso wenig für das temporär unbesetzt gebliebene Gebiet im Westerzgebirge. Im folgenden Beitrag nimmt Uwe Fiedler im Rahmen einer Detailstudie Aspekte der gegen die Stadt Chemnitz gerichteten alliierten Luftkriegführung in den Blick und wendet sich dabei im Besonderen dem Schicksal jener Chemnitzer Kinder zu, die im Kriegsverlauf Opfer dieser Luftangriffe wurden. Gerd Naumann richtet sein Augenmerk auf das Kriegsende im Vogtland. Der Verfasser zeichnet hier mit Verweis auf zahlreiche Einzelschicksale die Abläufe im April / Mai 1945 sowohl auf ländlich-regionaler als auch – unter Bezugnahme auf Plauen, Oelsnitz i.V. und weitere Orte – auf kommunaler Ebene nach und verdeutlicht dabei einmal mehr die gravierenden Unterschiede zum Kriegsende im von den Sowjets besetzten Mittel- und Ostsachsen. Uta Bretschneider widmet sich in besonderer Weise dem Schicksal der deutschen Vertriebenen, die in Sachsen nun nochmals vom Krieg eingeholt wurden und von denen ein Teil hier eine neue Heimat fand. Die Eingliederung in diese neue Heimat vollzog sich aufgrund der übergeordneten politischen Entwicklungen jedoch in gänzlich anderer Weise, als dies in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands bzw. der Bundesrepublik der Fall war. Die Herausgeber danken dem Sächsischen Staatsministerium des Innern, namentlich Herrn Dr. Jens Baumann für die Förderung des dem Band zugrunde liegenden Kolloquiums. Dank gilt zugleich auch den Herausgebern der Reihe ,Chemnitzer Europastudien‘, Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll und Prof. Dr. Matthias Niedobitek, beide TU Chemnitz, sowie Dr. Florian Simon und Frau Heike Frank vom Verlag Duncker & Humblot Berlin, die das Erscheinen des Bandes im Rahmen der Reihe ermöglicht haben. Chemnitz im Januar 2018

Hendrik Thoß und Mario H. Müller

Inhaltsverzeichnis Hendrik Thoß Das Kriegsende in Sachsen 1945. Militärische Gewalt @ Vertreibung @ Neubeginn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dirk Reitz Sachsen als nachrangiger Kriegsschauplatz im Jahre 1945 unter operationsgeschichtlichen Gesichtspunkten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Mario H. Müller Die territoriale Besetzung Sachsens 1945. Ein Akt der Befreiung? . . . . . . . . . .

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Uwe Fiedler Luftkriegsopfer Kind – eine Chemnitzer Fallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Gerd Naumann Finale fern der Metropolen. Plauen und das Vogtland am Ende des Zweiten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Uta Bretschneider Zufallsheimat Sachsen. Ankunft und Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Die Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Das Kriegsende in Sachsen 1945 Militärische Gewalt @ Vertreibung @ Neubeginn Von Hendrik Thoß „In jener endlosen Nacht, während Oberst Gerineldo Márquez sich seine toten Nachmittage in Amarantas Nähstube in Erinnerung rief, kratzte Oberst Aureliano Buendia stundenlang an der harten Schale seiner Einsamkeit, ohne sie indes knacken zu können. Seine einzigen glücklichen Augenblicke seit dem fernen Nachmittag, an dem sein Vater ihn mitnahm, um das Eis kennenzulernen, hatte er in der Goldschmiedewerkstatt verbracht, wo seine Zeit beim Herstellen von goldenen Fischchen vergangen war. Er hatte zweiunddreißig Kriege anstiften, hatte sämtliche Pakte mit dem Tod verletzen und sich wie ein Schwein auf dem Misthaufen des Ruhms wälzen müssen, um mit fast vierzig Jahren Verspätung die Vorrechte der Einfachheit zu entdecken. Bei Tagesanbruch, entnervt vom Wachen, erschien er eine Stunde vor der Erschießung in der Blockkammer. ,Der Spaß ist vorbei, Gevatter‘, sagte er zu Oberst Gerineldo Márquez. ,Gehen wir, bevor die Mücken dich vollends totschießen.‘ Oberst Gerineldo Márquez konnte nicht die Verachtung zurückdrängen, die ihm diese Haltung einflößte. ,Nein, Aureliano‘, erwiderte er. ,Es ist besser tot zu sein, als dich zu einem Krumsäbel verwandelt zu sehen.‘ ,Das wirst du nicht‘, sagte Oberst Aureliano Buendia. ,Zieh die Stiefel an und hilf mir, diesen Scheißkrieg zu beenden.‘ Als er das sagte, ahnte er nicht, daß es leichter war, einen Krieg zu beginnen, als ihn zu beenden.“1

Anfang Mai 1945 fand mit der doppelten Kapitulation von Reims und BerlinKarlshorst der zerstörerischste militärische Konflikt sein formales Ende, der bis dahin auf europäischem Boden ausgetragen worden war. Zeitgleich mit der Niederwerfung der nationalsozialistischen Herrschaft über Deutschland wie über weite Teile Europas verfolgte die Siegermacht Sowjetunion die Ausdehnung ihres Einflussbereichs in der Mitte Europas, der in Bezug auf die damit verbundene Expansion der kommunistischen Ideologie auch inhaltlich eine Vergleichbarkeit mit dem frühneuzeitlichen Cuius regio, eius religio nahelegen mochte2. Eine unmittelbare Folge dieser Konzeption lag in einer Systemtransformation, die sich nicht allein auf den von den Sowjets besetzten Teil Deutschlands beschränkte. Vielmehr waren sämtliche in diesem Raum befindliche Staaten von dieser Entwicklung betroffen, unabhängig von

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Gabriel Garcia Márquez, Hundert Jahre Einsamkeit. Roman, 2. Aufl., Berlin (DDR), 1986, 168 f. 2 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt/M. 1991, 92 – 114.

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ihrer Stellung zum nationalsozialistischen Deutschland bzw. zur Sowjetunion im Mächtegefüge der Vorkriegs- bzw. der Zeit des Zweiten Weltkrieges3. Sachsen war als Teil des Deutschen Reiches von den militärischen Entwicklungen bis zur Einstellungen der Kampfhandlungen am 7./8. Mai 1945 in besonderem Maße berührt. Gehörte es doch zu jenen Territorien in der Mitte Deutschlands, die – nach den Verheerungen des alliierten Bombenkrieges – nunmehr von zwei Seiten von einer Bodenoffensive betroffen waren. Während von Westen bzw. Südwesten USMilitär vorrückte, drangen von Osten bzw. Nordosten sowjetische und polnische Verbände in Sachsen ein4. Die sich mit diesem Prozess verknüpfenden Entwicklungsstränge sollen im Folgenden aus verschiedenen Perspektiven näher betrachtet werden. Hier gilt es, zunächst die sich mit Sachsen verbindenden Absprachen der Alliierten in den Blick zu nehmen, die sich bereits frühzeitig nach Bildung der Anti-Hitler-Koalition damit zu beschäftigen begonnen hatten, wie mit dem besiegten Deutschland – und damit auch mit Sachsen – zu verfahren sein würde. Militärischen Konflikten wohnt ebenso wie den sie beendenden Friedensschlüssen und der folgenden Nachkriegsordnung eine kulturelle Dimension inne, die etwa aus der Anerkennung der – in diesem Fall – „totalen“ Niederlage, der Auseinandersetzung mit den „in deutschem Namen“ begangenen Verbrechen und natürlich mit der endgültigen Entwertung der NS-Weltanschauung und des Kultes um Adolf Hitler resultierte. Hiermit verbinden sich auf das engste die politische wie die ökonomisch-soziale Dimension des Kriegsendes 1945. Vollzog sich doch mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht auch ein komplexer Prozess der De-Militarisierung bzw. Demobilisierung und der Herstellung des Friedens, von dem auch das Feld des Politischen wie der Wirtschaft betroffen waren, die den Weg aus der „totalen Mobilisierung“ der Rüstungswirtschaft zurück in die zivile Produktion finden musste. Wie nicht zuletzt die bis heute ungebrochene Omnipräsenz des Themenfeldes Zweiter Weltkrieg und Nationalsozialismus in den unterschiedlichsten Medien verdeutlicht, wohnt dieser Zeit scheinbar eine besondere erinnerungskulturelle Dimension inne, durch die das Erlebte und Erfahrene dieser Zeit von Generation zu Generation weitergetragen werden. Nicht selten erfolgt dabei eine nationenspezifische geschichtspolitische Aufladung, die weit über die Frontstellungen des Zweiten Weltkrieges hinaus weist.

3 Einschlägig dazu Milovan Djilas, Gespräche mit Stalin. Frankfurt/M. 1962, 146. Vgl. weiterhin Oleg Chlewnjuk, Stalin. Eine Biografie, München 2015, 386; Simon Sebag Montefiore, Stalin. Am Hof des Roten Zaren, Frankfurt/M. 2006, 550 ff.; Curt Gasteyger, Europa zwischen Spaltung und Einigung 1945 bis 1993. Darstellung und Dokumentation, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1994, insbes. 41 – 46. In zeitlich weiter gefasstem Rahmen: Mike Schmeitzner/Clemens Vollnhals/Francesca Weil (Hrsg.), Von Stalingrad zur SBZ. Sachsen 1943 bis 1949 (= Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Bd. 60), Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, Dresden 2016. 4 Vgl. Manfred Zeidler, Endkampf in Sachsen. Die militärischen Operationen auf dem Territorium des Freistaats im April und Mai 1945, in: Schmeitzner/Vollnhals/Weil (Hrsg.), Von Stalingrad (wie Anm. 3), 175 – 186, hier auch weiterführende Literatur. Vgl. dazu auch den Beitrag von Dirk Reitz in diesem Band.

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I. Bündnispolitische und völkerrechtliche Aspekte Bereits mit Bildung der Anti-Hitler-Koalition im Juni 1941 begannen sich die verbündeten Mächte, die „Großen Drei“ USA, UdSSR und Großbritannien intensiv auch mit Fragen zu beschäftigen, wie die Zukunft Deutschlands nach dem Sieg der Alliierten aussehen sollte. Dass sich Form und Inhalt des Umgangs mit Deutschland nach diesem militärischen Sieg nicht an den Regelungen der Pariser Vorortverträge orientieren konnten, mit denen der Erste Weltkrieg formal sein Ende gefunden hatte, darin herrschte zwischen den Verbündeten Einigkeit. Davon abgesehen existierten jedoch insbesondere in den USA und in Großbritannien verschiedene Denkansätze, die sich mit Institutionen verbanden, die vorrangig mit strategischen Fragen und solchen der Diplomatie befasst waren. Dies betraf etwa das britische Foreign Office oder das US State Department. Dazu traten darüber hinaus französische Planspiele, die sich an der in London befindlichen Exilregierung sowie unter Gruppierungen der Résistance festmachen lassen5. Im Falle der Sowjetunion verbanden sich die außen- bzw. deutschlandpolitischen Vorstellungen und Planungen mit den Interessen Josef Stalins (1878 – 1953), wobei ihm das Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten spezifische Ausarbeitungen lieferte. Bereits Mitte Juli 1941, also nur wenige Wochen nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, hatten sich Winston Churchill (1874 – 1965) und Stalin auf ein gemeinschaftliches Vorgehen gegen Deutschland verständigt, das beide Vertragspartner unter anderem auch dazu verpflichtete, keinen Separatfrieden mit Deutschland auszuhandeln und die europäische Nachkriegsordnung gemeinschaftlich zu gestalten. Daneben kam es seit August 1941 zwischen Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt (1882 – 1945) zu präziseren Absprachen hinsichtlich der Kriegsziele, die wiederum auf Kriegsziel-Entwürfen des britischen Kabinetts aus dem Jahr 1940 bzw. den „Vier Freiheiten“ Roosevelts basierten, die der Präsident am 6. Januar 1941 in einer an den Kongress gerichteten Botschaft formuliert hatte6. Für Stalin gestaltete sich diese bald als „Atlantikcharta“ bezeichnete britisch-amerikanische Vereinbarung als schwerlich akzeptabel, stellte sie doch die von der UdSSR bis zum deutschen Angriff am 22. Juni 1941 in Osteuropa vorgenommenen territorialen Annexionen infrage, so etwa die gewaltsame Einverleibung der baltischen Staaten, Bessarabiens und der Nordbukowina. Wohl stimmte der sowjetische Botschafter in London Ivan M. Majskij (1884 – 1974) der Atlantikcharta am 24. September 1941 formal zu. Er verband diese Zustimmung jedoch zu5

Vgl. detailliert Wilfried Loth, Die Deutschen als Objekte der alliierten Siegermächte. I. Die deutsche Frage und der Wandel des internationalen Systems, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 10/2, Der Zusammenbruch des Deutschen Reichs 1945, Die Folgen des Zweiten Weltkrieges, hrsg. i. A. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes v. Rolf-Dieter Müller, München 2008, 201@378, hier 202 ff. 6 Vgl. dazu umfänglich Theodore A. Wilson, The First Summit. Roosevelt and Churchill at Placentia Bay 1941, London 1970. Die Vier Freiheiten: Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung, Freiheit der Religion, Freiheit von Furcht, Freiheit von Not. Daneben betonte Roosevelt die Forderung der USA hinsichtlich der Freiheit des Handels und des freien Zugangs zu Rohstoffen. Hier bestand demnach ein bedeutender Gegensatz zu den wirtschaftspolitischen Präferenzen Großbritanniens.

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gleich mit einer Erklärung, die diese praktisch weitgehend relativierte7. Territoriale Aspekte, Deutschland betreffend, wurden Ende 1941 von Churchill und Stalin erstmalig im Kontext bilateraler Gespräche thematisiert. Der Sowjetdiktator ergriff damit zu einem Zeitpunkt die diplomatische Initiative, in dem sich das Scheitern des gegen Moskau gerichteten deutschen Angriffs der Heeresgruppe Mitte abzeichnete8. Stalins Angebot an die Briten stellte hinfort die Grundlage aller zwischen den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges geführten territorialen Debatten um die mittel- bzw. osteuropäische Nachkriegsordnung dar. Im Hinblick auf die territoriale Frage in Osteuropa betonte Stalin die Rolle des Status quo, d. h. also den Verbleib aller bis zum 22. Juni 1941 erworbenen Gebiete bei der Sowjetunion, zuzüglich ostpolnischer Territorien sowie von Teilen Ostpreußens und Finnlands. Polen sollte für die Verluste im Osten mit deutschem Land abgefunden werden9. Erste konkretere Konzeptionen zur Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen, die generellen Aufgaben sowie die Formen der Zusammenarbeit der alliierten Besatzungskräfte wurden ab Januar 1944 im Rahmen von Gesprächen der European Advisory Commission (EAC) thematisiert. Die Verhandlungen der Alliierten zur Ausgestaltung der Besatzungszonen wurden einerseits von britisch-amerikanischen Befürchtungen überschattet, die Rote Armee könne im Verlauf des Jahres Tatsachen schaffen und ganz Deutschland im Alleingang erobern und besetzen. Zum anderen nahm Stalin nach der Invasion der Westalliierten in der Normandie mit Beunruhigung zur Kenntnis, dass die deutschen Truppen seinen Verbündeten wesentlich geringeren Widerstand entgegenzusetzen schienen als der Roten Armee. Daher kam es im November 1944 zwischen den Delegationen zu einer Einigung über die Grenzen der drei Besatzungszonen, denen Churchill, Roosevelt und Stalin am 5. Dezember 1944 bzw. am 2. und 6. Februar 1945 zustimmten10. In diesen Konzeptionen spielte das nun in Gänze zu sowjetischem Besatzungsgebiet gehörige Sachsen insofern eine Rolle, als es eines von mehreren Objekten alliierter, insbesondere sowjetischer Planspiele darstellte, die um mögliche Varianten des weiteren Umgangs mit Deutschland kreisten und in deren Mittelpunkt die Verkleinerung und Vereinzelung Preußens stand. Tatsächlich stellte die Sicht der Alliierten auf Preußen bzw. auf „das Preußentum“ eine geradezu einzigartige Symbiose durchweg negativ konnotierter Sinnzuschrei7 Vgl. Lloyd C. Gardner, Spheres of Influence. The Partition of Europe from Munich to Yalta, London 1993, 103. 8 Vgl. Der Krieg gegen die Sowjetunion bis zur Jahreswende 1941/42. Die Operationsführung, mit Beiträgen von Ernst Klink und Horst Boog, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 4, Der Angriff auf die Sowjetunion, hrsg. i. A. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes v. Horst Boog/Jürgen Förster/Joachim Hoffmann/Ernst Klink/RolfDieter Müller/Gerd. R. Ueberschär, Stuttgart 1983, 451 – 712. 9 Vgl. Dokumente zur Deutschlandpolitik, Reihe I: Vom 3. September 1939 bis 8. Mai 1945, Bd. I: 3. September 1939 bis 31. Dezember 1941 – Britische Deutschlandpolitik. Hrsg. vom Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen, begr. v. Ernst Deuerlein, bearb. von Rainer Blasius, Frankfurt/M. 1984, 592 – 597. 10 Zu den Verhandlungen über die Besatzungszonen in Deutschland vgl. Loth, Die Deutschen (wie Anm. 5), 263 – 270.

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bungen aus östlicher, also russischer, aber durchaus auch aus polnischer, wie aus westlicher, also aus französischer wie britisch-amerikanischer Perspektive dar11. Die logische Folge dieser Muster konnte daher einzig die Zerschlagung Preußens kraft des Gesetzes Nr. 46 des Alliierten Kontrollrates vom 25. Februar 1947 sein12. Bei seinen Bemühungen wusste sich Stalin eins mit General Charles de Gaulle (1890 – 1970), dem überdies bedeutende territoriale Annexionen zugunsten Frankreichs an Rhein, Ruhr und Saar vorschwebten13. Während jedoch de Gaulle in seiner Argumentation explizit auf seiner Sicht in der deutschen Geschichte wurzelnde und auch weiterhin gegebene Divergenzen zwischen Preußen einerseits und den südbzw. mitteldeutschen Staaten andererseits Bezug nahm, zu denen eben auch der sächsisch-preußische Gegensatz gehörte, dessen sich Frankreich in der Geschichte nicht selten zu bedienen wusste14, lassen sich derartige Zusammenhänge aus der sowjetischen Deutschlandpolitik des Jahres 1945 nicht erschließen. Abgesehen von territorialen Fragen standen nach dem Sieg über Deutschland und der Etablierung eines Besatzungsregimes auch für Sachsen Demontagen, Entnahmen aus der laufenden Produktion sowie die Verbringung deutscher Arbeitskräfte in die UdSSR zum Wiederaufbau der kriegszerstörten Landstriche zur Disposition. Nur zu rasch wurde den Amerikanern nach dem 8. Mai 1945 klar, dass sich Stalin nicht in die von den USA definierte Nachkriegsordnung des europäischen und globalen Mächtesystems einordnen würde. Diese Erkenntnis resultierte aus dem Umstand, dass sich Stalin – wenigstens äußerlich – von dem beiden Atombombenabwürfen der Amerikaner über Hiroshima und Nagasaki am 6. bzw. 9. August 1945 unbeeindruckt gezeigt hatte und dass er keinerlei Anstrengungen unternahm, die von den Amerikanern und Briten geforderte Einführung demokratischer Strukturen in den von der Roten Armee eroberten und besetzen Ländern Ostmittel- bzw. Südosteuropas zu betreiben15. Ein weiteres deutliches Indiz für die von dem Sowjetdiktator und seinen Helfershelfern verfolgte Politik stellte der Weiterbetrieb in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) gelegener früherer nationalsozialistischer Lager dar, in denen – 11 Exemplarisch für diese Sicht scheint die im Rahmen eines Dinner-Gesprächs während der Konferenz von Teheran am 29. November 1943 von Stalin gegenüber Churchill formulierte Forderung, „50.000, vielleicht sogar 100.000 deutsche Offiziere zu liquidieren“. Zit. nach Loth, Die Deutschen (wie Anm. 5), 262. 12 Das Gesetz ist abgedruckt bei Ernst Rudolf Huber (Hrsg.), Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit. Bd. 2, Deutsche Verfassungsdokumente der Gegenwart (1919 – 1951), Tübingen 1951, 648. 13 Vgl. Loth, Die Deutschen (wie Anm. 5), 234 – 245 bzw. 366 – 375. 14 So etwa 1807 im Rahmen des französisch-preußischen Friedens von Tilsit und des Beitritts Sachsens als Königreich zum Rheinbund 1806. 15 Vgl. Anm. 3. Stalin selbst war aufgrund der Berichte des sowjetischen Agenten Klaus Fuchs seit 1942 über die Fortschritte des US-Atombombenprogramms im Bilde und hatte seinerseits mit Nachdruck veranlasst, die sowjetischen Forschungen zu forcieren. Vgl. Andreas Heinemann-Grüder, Die erste sowjetische Atombombe. Münster 1992; David Holloway, Stalin and the Bomb. The Soviet Union and Atomic Energy, 1939 – 1956, New Haven/ London 1994; Rainer Karlsch, Uran für Moskau. Die Wismut – Eine populäre Geschichte, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2007, 31 – 46, 231 – 233.

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wie etwa in Buchenwald, Oranienburg oder Torgau – nunmehr auch vermeintliche und tatsächliche Gegner der stalinistischen Ordnung eingekerkert wurden16. Wohl hatten sich Briten und Amerikaner sehr zum Ärger de Gaulles schließlich darauf verständigen können, Pläne zur Aufteilung Deutschlands ad acta zu legen und die Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 dazu genutzt, mit Stalin diverse Kompromisse zum weiteren Umgang mit Deutschland auf den Feldern von Verwaltung, Politik und Wirtschaft auszuhandeln. Da jedoch die im Nachgang der Potsdamer Konferenz als vierte Besatzungsmacht etablierten Franzosen unmittelbar im Alliierten Kontrollrat eine recht eigenwillige Obstruktionspolitik betrieben, erlahmte in der Jahreswende 1945/46 sowohl bei den Amerikanern als auch bei den Sowjets jegliches Interesse, weiterhin gemeinschaftlich an einer tragfähigen europäischen Friedensordnung zu arbeiten17. Wenngleich Stalin zu diesem Zeitpunkt noch nicht davon abrücken mochte, auf dem Wege einer gemeinschaftlichen Steuerung der inneren Entwicklung Deutschlands auch auf die westlichen Zonen Einfluss nehmen zu können, schuf er für die SBZ hinsichtlich innenpolitischer Zusammenhänge doch rasch Tatsachen. Mit dem Befehl Nr. 2 der Sowjetischen Militäradministration für Deutschland (SMAD) wurden am 10. Juni 1945 demokratische Parteien zugelassen18. Dabei hatten die schon Ende April aus der UdSSR in Deutschland angekommenen und aus geschulten kommunistischen Kadern bestehenden FunktionärsGruppen Ackermann, Sobottka und Ulbricht ihre Tätigkeit zur politischen Umgestaltung Deutschlands aufgenommen19 und damit zugleich die Weichen in Richtung einer politischen Entwicklung der SBZ gestellt, die der der UdSSR entsprach. Bereits im Rahmen der Konferenz von Casablanca im Januar 1943 hatten sich die Alliierten darauf verständigt, den Krieg gegen Deutschland so lange fortzuführen, bis dieses zur bedingungslosen Kapitulation (unconditional surrender) bereit sei20. Eine seither insbesondere unter Völkerrechtlern viel diskutierte Frage zielt auf die Nachwirkungen dieser Forderung und aus den dann am 7. und 8. Mai 1945 tatsächlich er16 Vgl. Jan von Flocken/Michael Klonovsky, Stalins Lager in Deutschland 1945 – 1950. Dokumentation/ Zeitzeugenberichte, Berlin 1991; Peter Reif-Spirek/Bodo Ritscher (Hrsg.), Speziallager in der SBZ, Berlin 1999; Eva Ochs, „Heute kann ich das ja sagen“. Lagererfahrungen von Insassen sowjetischer Speziallager in der SBZ/DDR, Köln 2006; Bettina Greiner, Verdränger Terror. Geschichte und Wahrnehmung sowjetischer Speziallager in Deutschland, Hamburg 2010. 17 Zur Potsdamer Konferenz vgl. Heiner Timmermann (Hrsg.), Potsdam 1945. Konzept, Taktik, Irrtum? Berlin 1997. Zum Alliierten Kontrollrat vgl. Gunther Mai, Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945 – 1948. Alliierte Einheit – deutsche Teilung? (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte Bd. 36). München 1995. 18 Vgl. Jan Foitzik, Inventar der Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945 – 1949 (= Texte und Materialien zur Zeitgeschichte 8). München u. a. 1994. 19 Vgl. Andreas Malycha, Die Geschichte der SED. Von der Gründung bis zum Mauerbau 1961, in: Andreas Herbst/Gerd-Rüdiger Stephan/Jürgen Winkler (Hrsg.), Die SED. Geschichte-Organisation-Politik, Ein Handbuch, Berlin 1997, 1 – 55, insbes. 5 – 10. 20 Vgl. aktuell Norbert F. Pötzl, Casablanca 1943. Das geheime Treffen, der Film und die Wende des Krieges, München 2017.

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folgten förmlichen Kapitulationen von Reims und Berlin-Karlshorst im Hinblick auf die Weiterexistenz des Deutschen Reiches ab. Diese Dokumente behandelten einzig militärische Fragen hinsichtlich der Einstellung der Kampfhandlungen und der Bereitschaft des deutschen Militärs, sich im Anschluss den von den alliierten Militärbefehlshabern erteilten Weisungen zu fügen. Weitere, auch (völker-) rechtliche Aspekte waren hingegen nicht vereinbart und nachdem die Alliierten am 23. Mai 1945 die formell nach dem 7./8. Mai weiter amtierende geschäftsführende Reichsregierung unter Karl Dönitz (1891 – 1980) abgesetzt hatten und diese am selben Tag im „Sonderbereich Mürwik“ durch britisches Militär verhaftet wurde, gab es keine deutsche Zentralregierung mehr21. Sowohl in der Berliner Erklärung der Alliierten vom 5. Juni 1945 als auch in den aus dem Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 resultierenden Verfügungen ging hervor, dass die Alliierten nicht beabsichtigten, deutsche (Völker-) Rechtspositionen bzw. Personen anzuerkennen, die diese Positionen ihnen gegenüber in Verhandlungen vertreten würden22. Damit befand sich das Vorgehen der Alliierten im Widerspruch zur Haager Landkriegsordnung, die das Besatzungsrecht erheblichen Beschränkungen unterwarf. Allerdings war die Haager Landkriegsordnung bereits während des deutschen Krieges gegen die Sowjetunion von beiden Seiten nicht beachtet worden. Zudem waren die Alliierten nicht bereit, sich von den in der Haager Landkriegsordnung verankerten Einschränkungen davon abhalten zu lassen, eine umfassende Neuordnung Deutschlands nach ihren Vorstellungen vorzunehmen. Zur Auflösung dieses offenkundigen rechtlichen Dilemmas konnten die Alliierten auch nicht auf die von dem in die USA emigrierten renommierten österreichischen Juristen und Rechtstheoretiker Hans Kelsen (1881 – 1973) entwickelte „Reine Rechtslehre“ zurückgreifen23. Kelsen ging in diesem Modell davon aus, dass ein Staat einzig auf das Basis dreier Strukturelemente existieren könne: er müsse über ein eigenes Territorium, über ein Staatsvolk sowie über eine funktionsfähige Regierung verfügen. Sei eine dieser drei Komponenten nicht vorhanden, verliere ein Staatswesen seine Eigenschaft als Völkerrechtssubjekt. Eben dies sei mit der Verhaftung der Regierung Dönitz geschehen und damit entfalle für die Alliierten zugleich die Notwendigkeit, sich an die Vorgaben der Haager Landkriegsordnung zu binden24. Zugleich konnten und wollten sich die Alliierten nicht auf die bis zu den Pariser Vor21 Vgl. Jörg Hillmann, Die ,Reichsregierung‘ in Flensburg. In: Kriegsende 1945 in Deutschland. Im Auftrag des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. v. Jörg Hillmann und John Zimmermann, München 2002, 35 – 65, hier auch weiterführende Literatur. 22 Die Berliner Erklärung der Alliierten vom 5. Juni 1945 ist abgedruckt im Amtsblatt des Alliierten Kontrollrates in Deutschland, Ergänzungsblatt Nr. 1, 7, in: Dietrich Rauschning (Hrsg.), Rechtsstellung Deutschlands – Völkerrechtliche Verträge und andere rechtsgestaltende Akte, 2. Aufl., Berlin 1989, 15 ff. 23 Vgl. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik, Leipzig/Wien 1934; 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl., Wien 1960. 24 Vgl. Hans Kelsen, The International Legal Status of Germany to Be Established Immediately upon Termination of the War. In: American Journal of International Law 38 (1944), 689 – 694.

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ortverträgen zur Beendigung des Ersten Weltkrieges geübte Praxis berufen, dass die militärische Niederringung eines Staates dem siegreichen Staat das Recht gebe, sich Gebiete des besiegten Staates einzuverleiben. Hätte dies doch für die Siegermächte unabsehbare Rechtsfolgen nach sich ziehen können, die sich etwa mit der Frage verbanden, ob Deutschland für den Krieg haftbar gemacht werden könne. In Widerspruch zu Kelsen formulierte der wie dieser aus Österreich stammende und nach Großbritannien ausgewanderte Jurist und Völkerrechtler Hersch Lauterpacht (1897 – 1960) die These, dass das besiegte Deutschland nicht untergegangen war, dass es von den Alliierten jedoch als Rechtssubjekt suspendiert worden sei25. In der neutralen Schweiz war man bereits im Mai 1945 zu der Auffassung gelangt, dass Deutschland als Staat ungeachtet der alliierten Besetzung weiter existiere, da sich Deutschland nach dem alliierten Sieg über das deutsche Militär (debellatio) im Zustand einer Besatzung (occupatio bellica) befinde, von den Alliierten jedoch nicht annektiert, das heißt aufgeteilt und damit von der europäischen Landkarte getilgt werden sollte. Daraus folge, dass die Alliierten die deutschen Souveränitätsrechte bis zu dem Zeitpunkt treuhänderisch verwalteten, bis eine Entscheidung über die weitere Entwicklung in und mit Deutschland getroffen werden könne26. Völkerrechtler wie Erich Kaufmann (1880 – 1972) und Georges Sauser-Hall (1884 – 1966) entwickelten hieraus das Modell der Treuhänderschaft, mit dem sich das Handeln der Alliierten weithin rechtlich in Einklang bringen ließ. Offen blieben freilich die mit dem Konzept einer Treuhänderschaft unvereinbaren Eingriffe in das deutsche Staatsgebiet, etwa die Abtrennung der „Ostgebiete“, sowie die Vertreibung von 15 Millionen Deutschen aus ihren angestammten Siedlungsgebieten. Weitere in diesem Zusammenhang von der Völkerrechtslehre entwickelte Modelle gingen – wie die Dismembrationstheorie – entweder vom Erlöschen des Deutschen Reiches infolge der praktisch 1949 erfolgten deutschen Teilung aus, oder verfolgten – wie die Staatskern- bzw. die Schrumpfstaatstheorie – eine gegenteilige Auffassung, die vom Fortbestand des Deutschen Reiches ausging27. Das Treuhänderschaftsmodell endete – wenigstens formal – für die Bundesrepublik Deutschland mit dem Vertrag über die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den Drei Mächten (Deutschlandvertrag) vom 26. Mai 1952, in denen die USA, Großbritannien und Frankreich der Bundesrepublik einerseits „die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und äußeren Angelegenheiten“ zusprachen, andererseits jedoch weiterhin ihre alliierten „Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland“ betonten. Im Gegenzug agierten die UdSSR und die 1949 aus der SBZ hervorgegangene DDR in vergleichbarer Weise. Mit dem „Vertrag über die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubli25

Vgl. Hersch Lauterpacht, International Law, Volume I., 6. Aufl., Cambridge 1974, 520. Vgl. Erich Kaufmann, Deutschlands Rechtslage unter der Besatzung. Stuttgart 1948. 27 Vgl. dazu die umfängliche juristische Debatte zum Grundlagenvertrag zwischen der BRD und der DDR in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 34/4 (1974), 765 – 771. 26

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ken“ vom 20. September 1955 sollten auch hier die aus der Besatzungszeit stammenden Befehle und Anordnungen der SMAD bzw. SMK, aber auch die zwischen 1945 und 1948 formulierten alliierten Kontrollratsbeschlüsse für das Territorium der DDR außer Kraft gesetzt werden. In beiden Fällen wurde in den Vertragsdokumenten explizit auf die friedensvertraglichen Regeln Deutschland betreffend verwiesen. Bereits kurze Zeit vorher – am 14. Mai 1955 – hatten sich die Staaten des sozialistischen Lagers in Europa, einschließlich Albaniens, unter der Führung der UdSSR in Warschau im „Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigem Beistand“ zu einem Militärbündnis zusammengeschlossen und damit gleichsam auf die bereits 1949 erfolgte Gründung der NATO reagiert. Die Frage des völkerrechtlichen Status quo Deutschlands nach 1945 wurde 1973 in der Bundesrepublik Gegenstand einer höchstrichterlichen Untersuchung, nachdem die CDU/CSU-Fraktion im Bundestag ihre Vorbehalte gegen den „Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik“ (Grundlagenvertrag) vorgebracht hatte und dieser im Bundesrat mit den Stimmen der CDU/CSU-regierten Länder, die in der Länderkammer über eine Stimmenmehrheit verfügten, abgelehnt worden war28. Die Bayerische Staatsregierung strengte daraufhin ein Normenkontrollverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht an. Die Bundesrichter entschieden am 31. Juli 1973, dass der Grundlagenvertrag mit dem Grundgesetz vereinbar sei, da er die Verfassungsorgane der Bundesrepublik auch weiterhin an das Wiedervereinigungsgebot binde29. Überdies sei weiterhin von der Fortexistenz des Deutschen Reiches auszugehen. „Mit der Errichtung der Bundesrepublik Deutschland wurde nicht ein neuer westdeutscher Staat gegründet, sondern ein Teil Deutschlands neu organisiert. Die Bundesrepublik Deutschland ist also nicht ,Rechtsnachfolger‘ des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ,Deutsches Reich‘, – in bezug auf seine räumliche Ausdehnung allerdings ,teilidentisch‘, so daß insoweit die Identität keine Ausschließlichkeit beansprucht. Die Bundesrepublik umfaßt also, was ihr Staatsvolk und ihr Staatsgebiet anlangt, nicht das ganze Deutschland, unbeschadet dessen, daß sie ein einheitliches Staatsvolk des Völkerrechtssubjekts ,Deutschland‘ (Deutsches Reich), zu dem die eigene Bevölkerung als untrennbarer Teil gehört, und ein einheitliches Staatsgebiet ,Deutschland‘ (Deutsches Reich), zu dem ihr eigenes Staatsgebiet als ebenfalls nicht abtrennbarer Teil gehört, anerkennt.“30 Zeitlich parallel vollzog sich 1973 der Beitritt der beiden deutschen Staaten zu den Vereinten Nationen. Gleichwohl änderten sowohl der deutsch-deutsche Grundlagenvertrag als auch die UNO-Mitgliedschaft nichts am unveränderten Fortbestehen der 28

Das Vertragswerk ist abgedruckt in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 8. November 1972, Nr. 155, 1842 – 1844. 29 Vgl. Urteil und Kommentar in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Bd. 34/4 (1974), 741 – 745. 30 Ebd., 765.

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alliierten Rechte. Erst der durch die Friedliche Revolution in der DDR möglich gewordene Prozess der deutschen Wiedervereinigung 1989/90 verlieh Fragen des Rechts der alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkrieges, insbesondere auf eine friedensvertragliche Regelung mit Deutschland, neue Aktualität. Aus dem „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands“ (Einigungsvertrag) vom 31. August 1990 und dem damit verbundenen Beitritt der Länder der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes folgte im Sinne des Fortbestandsmodells des Deutschen Reiches, dass die Bundesrepublik mit einem Staatsgebiet, einem Staatsvolk und einer Staatsgewalt im völkerrechtlichen Sinne identisch mit dem Deutschen Reich geworden ist. Im Kontext der deutschen Wiedervereinigung und der Rolle der Siegermächte des Zweiten Weltkrieges kam es auch zu einer Wiederbelebung der Frage nach der Souveränität dieses deutschen Staates. Der „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ (Zwei-plus-Vier-Vertrag) vom 12. September 1990 führt dazu im Artikel 7 aus: „(1) Die Französische Republik, das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und die Vereinigten Staaten von Amerika beenden hiermit ihre Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes. Als Ergebnis werden die entsprechenden, damit zusammenhängenden vierseitigen Vereinbarungen, Beschlüsse und Praktiken beendet und alle entsprechenden Einrichtungen der Vier Mächte aufgelöst. (2) Das vereinte Deutschland hat demgemäß volle Souveränität über seine inneren und äußeren Angelegenheiten.“31

Der Zwei-plus-vier-Vertrag wurde in der Folge rasch Gegenstand zahlreicher völkerrechtlicher Untersuchungen und Analysen. Explizit wurde hier auf den Umstand verwiesen, dass es sich bei dem Vertragswerk nicht „nur“ um einen Friedensvertrag zwischen den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges und Deutschland handele, sondern vielmehr um ein Dokument, das eine abschließende Klärung hinsichtlich sämtlicher sich aus dem Zweiten Weltkrieg ergebender Forderungen Dritter, etwa der 65 Kriegsgegner Deutschlands, an dieses herbeiführen sollte32. Wie die Beispiele Griechenlands und – aktuell Polens – zeigen, sind jedoch nicht alle diese Staaten bereit, sich den Ausführungen des Zwei-plus-vier-Vertrages anzuschließen33. Während bis 1994 vertragsgemäß die auf dem Territorium der DDR bzw. der Fünf Neuen Länder, und damit auch in Sachsen, stationierten sowjetischen bzw. GUS-Truppen abzogen, war solches seitens der Westalliierten in der alten Bundesrepublik nicht vorge31

Vgl. BGBl. II 1990, 1317 ff. Vgl. Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 5., Die geschichtlichen Grundlagen des deutschen Staatsrechts. Die Verfassungsentwicklung vom Alten Deutschen Reich zur wiedervereinigten Bundesrepublik Deutschland, München 2000, § 135, insbes. 2027, 2044 ff. 33 Vgl. exemplarisch http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-08/zweiter-welt krieg-polen-fordert-reparationszahlungen-aus-deutschland-pis-jaroslaw-kaczynski. 32

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sehen34. Für diese militärischen Kräfte der USA, Großbritanniens, Frankreichs sowie der NATO-Mitgliedsstaaten Niederlande und Belgien bestand lediglich ein Stationierungsverbot in den Neuen Ländern. Insbesondere die USA unterhalten auf dem Territorium der alten Bundesrepublik nach wie vor zahlreiche Militärbasen mit ca. 35.000 Soldaten. Die Ramstein Air-Base dient dabei als Relaisstation für die unter der Obama-Administration erheblich ausgeweitete globale Kriegführung der USA mit Hilfe von Kampfdrohnen35. Gegenwärtig verfügen die USA über Militärbasen in den früheren Mitgliedsstaaten des Warschauer Vertrages Bulgarien, Rumänien und Ungarn. Sie sind darüber hinaus temporär auch im Baltikum und in Polen sowie im Kosovo militärisch präsent. II. Politische Aspekte Die mit der Berliner Erklärung der Alliierten vom 5. Juni 1945 verbundene offizielle Übernahme der Regierungsgewalt auf dem Gebiet des Deutschen Reiches mündete für das von der Roten Armee besetzte bzw. für die UdSSR als Besatzungszone vorgesehene Gebiet am 9. Juni in der Gründung der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) als Josef Stalin direkt unterstellter Militärregierung. Damit ging zugleich auch für die bislang von US-Streitkräften besetzten Gebiete Mitteldeutschlands verbundene „amerikanische Zeit“ zu Ende, und die Hoffnung, von einer Besetzung durch die Rote Armee verschont zu bleiben. Das Amt des Obersten Chefs dieser Behörde übten bis 1949 die Oberkommandierenden der in der SBZ stationierten sowjetischen Streitkräfte aus. Die Verwaltungsstrukturen der SMAD verliefen bis auf lokale bzw. kommunale Ebene und schlossen diverse Fach- und Spezialabteilungen ein. Über die zugleich in der SBZ operierenden Einheiten und Strukturen des sowjetischen Geheimdienstes NKWD besaß die SMAD keine Weisungsbefugnis. Rasch folgten Weisungen zur Gründung „antifaschistischer Parteien und Gewerkschaften“36, zur Installation deutscher Verwaltungsstrukturen auf provinzieller und Länderebene37 sowie „Deutscher Zentralverwaltungen“38 für die SBZ. 34 Vgl. dazu instruktiv Josef Foschepoth, Überwachtes Deutschland. Post- und Telefonüberwachung in der alten Bundesrepublik, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2013, 36 ff. 35 Vgl. exemplarisch „Immer fließen die Daten über Ramstein“. In: Süddeutsche Zeitung vom 4. April 2014. 36 „Befehl Nr. 2 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland betreffend die Erlaubnis zur Bildung und Tätigkeit aller antifaschistischen Parteien und Gewerkschaften“ vom 10. Juni 1945. 37 Befehl Nr. 5 betreffend die Organisierung eines normalen Lebens in den Provinzen und Ländern vom 9. Juli 1945 bzw. Befehl Nr. 7 betreffend die Schaffung von Verwaltungsbezirken. 38 Befehl Nr. 17 betreffend die Einsetzung von deutschen Zentralverwaltungen in der sowjetischen Besatzungszone vom 27. Juli 1945.

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Nachdem infolge des Zusammenbruchs bzw. der (Selbst-)Auflösung staatlicher deutscher Verwaltungsstrukturen auf lokaler, regionaler und Gau-/Länderebene zunächst eine lokal bzw. regionale höchst unterschiedlich verlaufende Übernahme von Amtsbefugnissen und -aufgaben durch „Antifaschisten“39 zur Wiederaufnahme der Verwaltungsarbeit beigetragen hatte, gerieten diese in aller Regel improvisiert „von unten“ ausgebildeten Strukturen rasch in den Fokus der sowjetischen Besatzungsmacht bzw. der Funktionäre der von der KPD aus Moskau entsandten „Initiativgruppen“ Ackermann, Sobottka und Ulbricht40. Diese suchten von Beginn an den Einfluss und die Amtsbefugnisse der lokalen Antifa-Gruppen so weit als möglich zu begrenzen und relevante Posten in den örtlichen Verwaltungen mit zuverlässigen KPD-Genossen zu besetzen. Ausnahmen bildeten hier freilich zunächst Städte und Regionen, die sich an der „Grenze“ zu noch von den Westalliierten besetzten Gebieten Sachsens bzw. Mitteldeutschlands befanden41. Hier wurde – wie Jeanette Michelmann betont – „das Organisationsmodell des ,Blocks der antifaschistisch-demokratischen Parteien‘ in der Provinz [erprobt], bevor ein entsprechender zentraler Block in Berlin gegründet“ wurde42. In der Folge wurden Antifa-Akteure Schritt für Schritt in die von den Initiativgruppen in enger Kooperation mit der Besatzungsmacht neu geschaffenen Verwaltungsstrukturen integriert. Der insbesondere in Sachsen aktiven Initiativgruppe um Anton Ackermann (1905 – 1973) gehörten weiterhin Hermann Matern (1893 – 1971), Fred Oelßner (1903 – 1977), Kurt Fischer (1900 – 1950), Heinrich Greif (1907 – 1946), Peter Florin (1921 – 2014) und einige weitere kommunistische Kader an.

39 Die sich in den betreffenden Tagen und Stunden vollziehenden Ereignisse sind auch für Sachsen auf lokaler Ebene gut aufgearbeitet. Vgl. exemplarisch Gerhard Steinecke, Drei Tage im April. Kriegsende in Leipzig, Leipzig 2005; Noch mal davongekommen. Alltag in der Region Chemnitz-Rochlitz-Zwickau 1939 – 1949, hrsg. v. Heimatverein Niederfrohna e.V. und Geschichtsverein Penig e.V., Red. Andreas Eichler; Chemnitzer Militärgeschichte. Mit einer Chronik der Kriegsereignisse 1945, Mitteilungen des Chemnitzer Geschichtsvereins, NF XVI, hrsg. v. Chemnitzer Geschichtsverein e.V., Chemnitz 2009. Aus operativer Sicht: Wolfgang Fleischer, Das Kriegsende in Sachsen 1945. Eine Dokumentation der Ereignisse in den letzten Wochen des Krieges, Wölfersheim-Berstadt 2004. Zu dieser Frage umfassend: Schmeitzner/ Vollnhals/Weil (Hrsg.), Von Stalingrad (wie Anm. 3), insbes. die Beiträge von Abschnitt II. Besatzungsmacht und neue Herrschaft. 40 Vgl. hierzu umfassend Jeanette Michelmann, Aktivisten der ersten Stunde. Die Antifa in der Sowjetischen Besatzungszone, Köln u. a. 2002 sowie Mike Schmeitzner/Stefan Donth, Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD – SED in Sachsen 1945 – 1952, Köln u. a. 2002; Stefan Donth, Die Rolle der sowjetischen Besatzungsmacht bei der Errichtung des kommunistischen Machtapparats in Sachsen 1945 bis 1952. In: Schmeitzner/Vollnhals/Weil (Hrsg.), Von Stalingrad (wie Anm. 3), 223 – 238. 41 Exemplarisch hierfür stehen Chemnitz und Magdeburg, wo sich jeweils vorübergehend Stadtteile in US- bzw. sowjetischer Besatzung und Verwaltung befanden. In den zunächst von den US-Streitkräften besetzten Territorien der SBZ blieben offene politische Aktivitäten untersagt. Die durch die NS-Zeit in der Illegalität geschulte KPD ließ sich hiervon freilich kaum beeindrucken. 42 Michelmann, Aktivisten (wie Anm. 40), 361.

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Die mit dem SMAD-Befehl Nr. 2 möglich gewordene Neugründung „antifaschistisch-demokratischer“ Parteien wurde rasch in die Tat umgesetzt. Im Juni und Juli 1945 erhielten die KPD, die SPD, die CDU und die LDP von den Sowjets ihre Lizenz. Diese vier Parteien kamen am 14. Juli 1945 überein, einen Block der antifaschistischdemokratischen Parteien“ ins Leben zu rufen, um – so konnte es scheinen – gemeinsam am Aufbau eines neuen demokratischen Deutschlands mitzuarbeiten. Eine Geschäftsordnung wurde am 27. Juli 1945 verabschiedet. Der Gründung dieses antifaschistisch-demokratischen Blocks auf der Ebene der SBZ folgte im August, bzw. im Falle Brandenburgs im November 1945, die Gründung entsprechender Strukturen auch auf Länderebene. Jedoch traten zwischen den Beteiligten bereits in der zweiten Jahreshälfte 1945 zahlreiche Probleme und Meinungsverschiedenheiten bei der gemeinsamen Arbeit zutage, die einerseits aus den in aller Regel unterschiedlichen Positionen der Parteien, andererseits aus einer vom NKWD durchgeführten großen Verhaftungswelle resultierten, die auch tausende Mitglieder der SPD, der CDU und der LDP betraf43. Hermann Matern wurde auf Beschluss der KPD-Führung am 12. Juni 1945 als Politischer Sekretär der KPD-Bezirksleitung Sachsen eingesetzt. Die sächsische SPD gründete sich im Rahmen einer Versammlung in Dresden am 26. Juni 1945 neu. Bereits am 9. Juni war Otto Buchwitz (1879 – 1964) von einem SPD-Landesausschuss zum Vorsitzenden des SPD-Landesvorstandes gewählt worden. Neben den traditionellen Arbeiterparteien entstanden in Sachsen nun rasch auch bürgerliche Parteien, so am 2. Juli in Dresden durch Hermann Kastner (1886 – 1957), Johannes Dieckmann (1893 – 1969) u. a. die Demokratische Partei Deutschlands, die kurz darauf in der LDP aufging. Am 21. Juli 1945 folgte schließlich in Dresden die Gründung der Christlich-Sozialen Volkspartei durch Hugo Hickmann (1877 – 1955), Friedrich Koring, Otto Freitag (1888 – 1963) u. a., die im August der CDU beitrat44. Noch vor der kompletten Inbesitznahme Sachsens durch die Sowjets hatten sich bereits in den verschiedenen Landesteilen Verwaltungsstrukturen ausgebildet, waren Bürgermeister, Land- und Kreisräte von den beiden Okkupationsmächten UdSSR und USA eingesetzt worden. Parallel entstand eine Namensliste für den Aufbau der sächsischen Landesverwaltung. Diese nahm am 4. Juli 1945 ihre Tätigkeit auf und wurde von dem SPD-Politiker Rudolf Friedrichs (1892 – 1947) als Präsident und dem KPD-Funktionär Kurt Fischer als 1. Vizepräsident geführt45. Im Herbst 1945 traten die Konfliktlinien zwischen den im Block verbundenen Parteien, insbesondere zwischen der KPD und den bürgerlichen Parteien CDU und LDP, offen zutage. Auslöser waren unterschiedliche Positionen hinsichtlich 43 Vgl. Erhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949 – 1989. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 1997, 41 – 46. 44 Vgl. ebd. 45 Vgl. „Einer von beiden muß so bald wie möglich entfernt werden.“ Der Tod des sächsischen Ministerpräsidenten Rudolf Friedrichs vor dem Hintergrund des Konfliktes mit Innenminister Kurt Fischer 1947. Eine Expertise des Hannah-Arendt-Instituts im Auftrag der Sächsischen Staatskanzlei, hrsg. v. Michael Richter/Mike Schmeitzner, Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, Dresden 1999.

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der Oder-Neiße-Linie als deutsch-polnischer Grenze, in der Demontagepolitik sowie bei der Bodenreformfrage. Die Haltung dieser Parteien blieb für ihre Vorsitzenden nicht ohne Folgen. Auf Druck der SMAD wurden sowohl der LDP-Vorsitzende Waldemar Koch (1880 – 1963) als auch die CDU-Vorsitzenden Andreas Hermes (1878 – 1964) und Walther Schreiber (1884 – 1958) zum Rücktritt gezwungen und verließen daraufhin die SBZ. Diese Entwicklung setzte sich auch in der Folgezeit fort und führte dazu, dass auf lokaler und regionaler Ebene zahlreiche Funktionsträger von CDU und LDP ihre Heimat verlassen mussten, um der Verhaftung durch den NKWD zu entgehen46. Zunächst behielt die Führung der Ost-SPD um Otto Grotewohl (1894 – 1964) ihre bereits bei der Neugründung im Juni 1945 formulierte Forderung nach dem Zusammenschluss mit der KPD „auf dem Boden der organisatorischen Einheit der deutschen Arbeiterklasse“ bei47. Hatten die Kommunisten wie die Sowjetische Besatzungsmacht den Offerten der Sozialdemokraten anfangs distanziert gegenübergestanden, änderte sich dies in dem Maße, in dem sie erkannten, dass es der KPD keinesfalls im Alleingang gelingen würde, bei einer Wahl unter demokratischen, fairen Bedingungen die Stimmenmehrheit auf sich vereinigen zu können. Ausschlaggebend waren hier die unter dem Druck von SMAD und KPD gegen Jahresende 1945 zunehmend skeptischere Haltung der Spitze der SPD in der SBZ48 und die für Stalin und seine deutschen Satrapen ernüchternden Ergebnisse bei den Nationalratswahlen in Österreich am 25. November 1945, bei der die Sozialdemokratische Partei Österreichs 44,6 Prozent der Stimmen erringen konnte, die Kommunisten hingegen nur 5,4 Prozent49. In der Forschung herrscht heute weitgehende Einigkeit darüber, dass es insbesondere der über die SMAD ausgeübte Druck aus Moskau auf die Ost-SPD gewesen ist, der diese schließlich dazu bewog, sich am 21. und 22. April 1946 auf eine Vereinigung mit der KPD einzulassen, aus der die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) hervorging50. 46 Vgl. Mike Schmeitzner, Die Kommunistische Partei will nicht Oppositionspartei, sie will Staatspartei sein. Die KPD/SED im System der SBZ/DDR (1944 – 50), in: Andreas Hilger/ Mike Schmeitzner/Clemens Vollnhals (Hrsg.), Sowjetisierung oder Neutralität? Optionen sowjetischer Besatzungspolitik in Deutschland und Österreich 1945 – 1955, Göttingen 2006, 271 – 312, hier 301 ff. 47 Zit. nach Gerhard Keiderling, Scheinpluralismus und Blockparteien. Die KPD und die Gründung der Parteien in Berlin 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 45, (I/1997), 257 – 296, hier 276. 48 Die SPD verfügte zu dieser Zeit in der SBZ und in Groß-Berlin über mehr als 695.000 Mitglieder, die KPD über 624.000. Vgl. Martin Broszat/Gerhard Braas/Hermann Weber, SBZ-Handbuch. München 1993, 480. 49 Die Ergebnisse dieser Wahl online: http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_wahlen/nationalrat/ NRW_1945.aspx. 50 Vgl. exemplarisch Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945 – 1955. 5. Aufl., Göttingen 1991, 139; Klaus Schröder, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, München 1998, 33 – 39; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Bd. 2. Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, 4. Aufl., München 2002, 125; Ilko-

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Dieser Zusammenschluss vollzog sich auch in Sachsen, wenngleich es Otto Buchwitz schwer fiel, sich gegen den Widerstand in Teilen des SPD-Landesvorstandes durchzusetzen. Der Zusammenschluss von sächsischer KPD und SPD zur SED erfolgte am 7. April 1946. Otto Buchwitz und der vormalige KPD-Funktionär Wilhelm Koenen (1886 – 1963) wurden Parteivorsitzende. Dem Zusammengehen schloss sich unmittelbar eine erste „Säuberungswelle“ an, in deren Rahmen zahlreiche frühere SPD-Mitglieder systematisch ausgeschaltet, inhaftiert und deportiert bzw. zur Flucht in die westlichen Besatzungszonen Deutschlands gedrängt wurden51. War es den Kommunisten unter tätiger Mithilfe so manches SPD-Funktionärs gelungen, die „Einheitsfront der Arbeiterklasse“ herzustellen, so schien es zu diesem Zeitpunkt noch alles andere als sicher, ob diese „Einheitspartei“ bei freien Wahlen die absolute Mehrheit der Stimmen erringen bzw. stärkste Partei werden würde. Dies zeigte sich, als in der Folge der Gemeinde- und Kommunalwahlen am 1. September 1946 in einigen sächsischen Städten CDU- bzw. LDP-Politiker das Bürgermeisteramt begleiteten. Aus diesem Ergebnis zogen die SED und ihre sowjetischen Förderer unmissverständliche Schlüsse. Vor den bereits im Oktober 1946 anstehenden Landtagswahlen wurde die Kandidatenaufstellung der bürgerlichen Parteien massiv behindert. Im Ergebnis der Stimmabgabe entfielen 49,1 Prozent der abgegebenen Stimmen auf die SED, 24,7 auf die LDP und 23,3 auf die CDU. Darüber hinaus erhielt die Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe (VdgB) 1,7 Prozent und der Kulturbund (KB) 0,7 Prozent. Ohne eine Fünf-Prozent-Hürde zogen auch diese mit der SED verbündeten Organisationen in den sächsischen Landtag ein und bescherten der „Einheitspartei“ die absolute Mehrheit der Landtagssitze. Dieser erste sächsische Landtag konstituierte sich am 22. November 1946. Otto Buchwitz wurde zum Landtagspräsidenten gewählt, erster Ministerpräsident wurde der bisherige Präsident der sächsischen Landesverwaltung, Rudolf Friedrichs, beide SED. Die 1950 folgende zweite und zugleich auch bis 1990 letzte Wahl zu einem sächsischen Landtag erfolgte auf der Basis einer Einheitsliste der Blockparteien, durch die dem Wähler tatsächlich keine Wahl blieb. Bemerkenswert an diesem Prozess war dabei auch, dass die Wahl dieses Parlaments zustande gekommen war, ohne dass überhaupt eine Verfassung existierte. Erst ab Mitte Dezember fanden im sächsischen Landtag Beratungen über eine Verfassung des Landes statt, die am 28. Februar 1947 in zweiter Lesung einstimmig beschlossen wurde und am 15. März 1947 mit ihrer Verkündung in Kraft trat52.

Sascha Kowalczuk, Die 101 wichtigsten Fragen. DDR, München 2009, 14; Helga Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Von der Revolution 1848 bis ins 21. Jahrhundert, Berlin 2007, 137. 51 So etwa die früheren SPD-Funktionäre Karl Franke, Karl Rudolf und Arno Wend oder der Gewerkschafter Hermann Meise. Zur „Säuberung“ vgl. Stefan Donth/ Mike Schmeitzner (Hrsg.), Die Partei der Diktaturdurchsetzung. KPD/SED in Sachsen 1945 – 1952, Köln u. a. 2002. 52 Die Verfassung ist einzusehen unter http://www.verfassungen.de/de/sac/sachsen47.htm.

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Mit der „gesäuberten“ SED und den „auf Linie“ gebrachten Block-Parteien CDU und LDP, der 1948 gegründeten National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) und der im selben Jahr entstandenen Demokratischen Bauernpartei Deutschlands (DBD) sowie den SED-nahen „Massenorganisationen“ verfügte die nunmehr KPD-dominierte SED fortan – auch in Sachsen bzw. ab 1952 in den drei sächsischen Bezirken der DDR – über ein scheinplurales Parteiensystem, eine „Camouflage“53, die an ihrer bereits zu diesem Zeitpunkt errungenen unstrittigen Vormachtstellung bis 1989 nichts änderte. III. Ökonomische Fragen Die ökonomische Lage Sachsens wurde wie in den anderen Gebieten der SBZ auch von Beginn durch verschiedene Faktoren beeinflusst, die dem Wiederaufbau der kriegszerstörten Industrien und ein Anknüpfen an die im deutschlandweiten Vergleich traditionell leistungsstarke sächsische Wirtschaft der Vorkriegszeit entgegenstanden. Hierzu zählten etwa die Demontagepraxis der sowjetischen Besatzungsmacht und die Flucht einer Vielzahl von Leistungsträgern aus der Region vor der Roten Armee, dem NKWD bzw. – in der Folgezeit – vor jenen Zumutungen, die aus den aus der Sowjetunion importierten staats- bzw. planwirtschaftlichen Strukturen resultierten. Ein besonderes Kapitel der sächsischen Wirtschaftsgeschichte bildete die den Erfordernissen des sowjetischen Atombombenprogramms geschuldete Entstehung des Uranbergbaus im Erzgebirge. Sachsen hatte als traditionsreiche deutsche Wirtschafts- bzw. Industrieregion in der Weimarer Republik eine schwere Zeit durchleben müssen und schien insbesondere aufgrund der Grenzlage zur Tschechoslowakei und zu Polen im Hinblick auf die ab 1936 forcierte Aufrüstung und die damit verbundene Vergrößerung der spezifischen Produktionskapazitäten benachteiligt. Galt doch schon seit den 1920er Jahren das von der Reichswehr postulierte „Innerdeutschland-Paradigma“, das den Ausbau der Rüstungsindustrie auch für diese deutsche Grenzregion ausschloss54. Dies änderte sich erst grundlegend nach der Eingliederung des Sudentenlandes 1938, der Zerschlagung der Tschechoslowakei und nach dem mit dem Sieg der Deutschen Wehrmacht 1939 über Polen verbundenen Ausbruch des Zweiten Weltkrieges55. Der weitere Kriegsverlauf zog die schrittweise Anpassung der sächsischen Unternehmen an die Erfordernisse der Produktion von Rüstungsgütern nach sich. Die Intensivierung 53

Schröder, SED-Staat (wie Anm. 50), 33. Vgl. Lutz Budraß, Flugzeugindustrie und Luftrüstung in Deutschland 1918 – 1945. Düsseldorf 1998, 347. 55 Zur wirtschaftlichen Entwicklung Sachsens in der Zeit zwischen 1933 und 1945 vgl. im Überblick: Ulrich Hess, Sachsens Industrie in der Zeit des Nationalsozialismus. Ausgangspunkte, struktureller Wandel, Bilanz, in: Werner Bramke/Ulrich Heß (Hrsg.), Wirtschaft und Gesellschaft in Sachsen im 20. Jahrhundert, Leipzig 1998, 53 – 88; Rainer Karlsch/Michael Schäfer, Wirtschaftsgeschichte Sachsens im Industriezeitalter. Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, Leipzig 2006, 195 – 226. 54

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des alliierten Luftkrieges gegen das Deutsche Reich, die zunächst vor allem die westlichen und nördlichen Gebiete traf, führte in bedeutendem Umfang zur Verlagerung von kriegsrelevanten Industriezweigen, so etwa der Berliner Elektroindustrie. Zugleich nahmen immer mehr sächsische Betriebe Rüstungsaufträge an und stellten ihre Produktion entsprechend um. Der „totale Krieg“ führte überdies auch zum zwangsweisen Einsatz von Arbeitskräften aus Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagern sowie von Zwangs- und Vertragsarbeitern aus Ost- bzw. West- und Südwesteuropa56. Diese Entwicklung blieb den Alliierten nicht verborgen und nach der Landung in der Normandie war es dem britischen Bomber Command und der USAAF möglich, weiter im Osten gelegene Teile Deutschlands zu erreichen. Sachsen geriet ab Mitte 1944 verstärkt in den Focus der alliierten Planer des strategischen Bombenkrieges und war von nun an bis zum Kriegsende nahezu durchgängig alliierten Luftangriffen ausgesetzt. Den Angriffen folgten Bodenoffensiven, die zur zeitweiligen Besetzung von Teilen Sachsens durch Verbände der US Armee führten. Hatten einige Vorstände größerer sächsischer Unternehmen bereits auf eigene Faust begonnen, Technologie und Fachkräfte in die mutmaßlich von den Amerikanern zu besetzenden Gebiete Deutschlands zu verbringen, verstärkten diese nach ihrem Eintreffen diesen Transfer von Ressourcen, Technologien und Personal nochmals in beträchtlichem Maße57. Dieses Vorgehen nahm unter sowjetischer Besatzung eine in der Geschichte bis dahin ungekannte Dimension an. Bereits während des Krieges hatten zwischen den Alliierten Gespräche stattgefunden, die Form und Umfänge deutscher Entschädigungen für die angerichteten Zerstörungen zum Inhalt hatten. Diese im Einzelnen noch aufzuschlüsselnden Forderungen sollten aus dem deutschen Auslandsvermögen, aus Demontagen sowie, später, aus der laufenden Produktion entnommen werden. Zugleich zielte die gegen den deutschen Kriegsgegner gerichtete alliierte Wirtschaftspolitik darauf ab, die deutsche Rüstungsindustrie und die ihr nahestehenden Wirtschaftszweige zu zerschlagen, um Deutschland eine Wiederaufrüstung dauerhaft unmöglich zu machen. Zudem war vorgesehen, dass die Sieger auch deutsche Spezialisten als Arbeitskräfte für ihre Zwecke einsetzen und dazu in ihre Heimatländer bringen konnten. Im Potsdamer Abkommen hatten sich die USA, Großbritannien und die UdSSR darauf geeinigt, Reparationen jeweils aus der eigenen Zone zu entnehmen. Jedoch wurde der Sowjetunion aufgrund der besonderen kriegsbedingten Zerstörungen das Recht zugestanden, auch aus den anderen Besatzungszonen Deutschlands Reparationsleistungen zu beanspruchen58. Wenn auch die Westalliierten aufgrund der sich seit Ende 1945 verstärkenden interalliierten Differenzen den Sowjets ab Mai 1946 keine 56 Vgl. exemplarisch für die Chemnitzer Auto Union: Martin Kukowski/Rudolf Boch, Kriegswirtschaft und Arbeitseinsatz bei der Auto Union AG Chemnitz im Zweiten Weltkrieg. Stuttgart 2014. 57 Vgl. John Gimbel, Science, Technology and Reparations. Exploitation and Plunder in Postwar Germany, Stanford 1990. 58 Die Einzelheiten sind geregelt in Abschnitt IV. des Abkommens. Vgl. http://www.docu mentarchiv.de/in/1945/potsdamer-abkommen.html.

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Leistungen mehr aus ihren Zonen zuleiteten, standen Stalin in der SBZ dennoch zahlreiche Demontage- und Beschlagnahmemöglichkeiten offen. Derartige Wegnahmen von Lebensmitteln und Viehbeständen zum Unterhalt der sowjetischen Okkupationstruppen hatten unmittelbar mit der Besetzung des Landes begonnen und wurden in der Folge unvermindert fortgesetzt. Die auf den Potsdamer Beschlüssen folgende Demontagepraxis stellte hingegen eine völlig neue Qualität dar. Nunmehr wurden auf Weisung der sowjetischen Militärbefehlshaber intakt gebliebene Industrieanlagen demontiert und in die UdSSR verbracht. Dies betraf weit mehr als 2.000 Betriebe, etwa 1.000 davon in Sachsen. Betroffen war aber auch die Schieneninfrastruktur – bis März 1947 wurden in der SBZ nahezu 12.000 Kilometer Schienen demontiert und als Reparationsleistung in die Sowjetunion geliefert59. Neben Gleisanlagen wurden auch große Teile des Fahrzeugparks sowie die Reichsbahnausbesserungswerke in die Sowjetunion verbracht. Etwa 2.800 Lokomotiven, rund 128.000 Güter- und nahezu 13.000 Reisezugwaggons gingen der Deutschen Reichsbahn auf diesem Weg verloren60. Von kaum zu überschätzender Bedeutung war der Transfer von Technologien, Innovationen und von Fachkräften für die UdSSR aus dem Bereich der deutschen Rüstungsforschung. Die Auswertung, Übernahme und Adaption deutscher Entwicklungen, etwa in den Sektoren Luftfahrt, Triebwerkbau und Raketentechnik, aber auch – wie im Fall der Demontage von Carl Zeiss Jena – in der Optoelektronik, ermöglichten einen „technologischen Sprung der sowjetischen Rüstungswirtschaft nach 1945“ 61 und legten den Grundstein für die Fähigkeit der UdSSR, sich im globalen Rüstungswettlauf mit den USA überhaupt messen zu können. Insgesamt 635 sächsische Unternehmen wurden 1946 auf der Basis des Befehls Nr. 167 der SMAD in Sowjetische Aktiengesellschaften (SAG) umgewandelt. Diese Betriebe befanden sich wie auch die in anderen Teilen der SBZ umgewandelten Unternehmen formal im Besitz des Ministerrates der UdSSR und wurden von der SMAD verwaltet. In Sachsen waren insbesondere Firmen aus den Bereichen des Maschinen- und Fahrzeugbaus betroffen, in Mecklenburg-Vorpommern hingegen bspw. Werften. Mit diesem Schritt verlagerten die sowjetischen Besatzer ihre Reparationspolitik auf die Entnahme aus der laufenden Produktion. Bis 1953 betrug diese Ent59 Vgl. Winfrid Halder, „Verhängnisvolle Wirkungen und empfindliche Lähmungen im Wirtschaftsablauf“. Zur Einschätzung von Ausmaß und Folgen der Demontagen im sächsischen Wirtschaftsressort 1945 – 1947, in: Rainer Karlsch/Jochen Laufer (Hrsg.), Sowjetische Demontagen in Deutschland 1944 – 1949. Hintergründe, Ziele und Wirkungen, (= Zeitgeschichtliche Forschungen 17), Berlin 2002, 447 – 471, hier 470. 60 Vgl. Rüdiger Kühr, Die Folgen der Demontagen bei der Deutschen Reichsbahn (DR). In: Karlsch/Laufer (Hrsg.), Sowjetische Demontagen (wie Anm. 59), 473 – 506, hier 477, Tabelle 3. 61 Hierzu instruktiv Burghard Ciesla/Christoph Mick/Matthias Uhl, Rüstungsgesellschaft und Technologietransfer (1945 – 1958). Flugzeug- und Raketenentwicklung im Military-Industrial-Academic Complex der UdSSR, in: Karlsch/Laufer (Hrsg.), Sowjetische Demontagen (wie Anm. 59), 187 – 225, hier 223.

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nahme im Durchschnitt 22 Prozent des Bruttosozialprodukts der SBZ62. Als die Reparationsleistungen der SBZ/DDR für die UdSSR 1953 beendet wurden, hatten die Ostdeutschen und damit auch die Sachsen eine der im 20. Jahrhundert höchsten Reparationslasten getragen, Lasten, die sich jedoch für die weitere ökonomische Entwicklung der DDR als verhängnisvoll erweisen sollten63. Aus sowjetischer Sicht nahm sich die Entwicklung äußerst ambivalent aus. Dem unstrittigen Gewinn, den die sowjetische Rüstungsindustrie aus der SBZ bzw. aus den dort bei Kriegsende vorhandenen Ressourcen ziehen konnte, stand ein für den Zivilsektor vernachlässigbarer Nutzeffekt gegenüber. Dieser resultierte aus dem auch auf diesem Feld insgesamt ineffizienten Vorgehen der Besatzer, das eine Nutzung der demontierten Güter häufig in der Sowjetunion ausschloss, aber auch aus dem Bedarf der UdSSR, deren Größe und Aufnahmefähigkeit weit über der aus der SBZ gelieferten Menge an Industriegütern lag. Zugleich hatte die Demontage zur Folge, dass sich die SBZ aus ökonomischer Sicht von Beginn an gegenüber den westlichen Besatzungszonen im Nachteil befand und dass große Teile der Arbeiterschaft in der SBZ, deren Produktionsmittel und damit zugleich auch deren Arbeitsplatz nach Osten versandt wurden, den neuen kommunistischen Machthabern skeptisch, distanziert gegenüber standen. Für die Sowjetunion wie für die übrigen Staaten Europas, die Opfer des deutschen Expansionsstrebens geworden waren, ergab sich aus der aktuellen Konstellation letztlich nur ein einziger nennenswerter Vorteil: Deutschland war als (Militär-) Macht Geschichte. IV. Formen der Erinnerungskultur Der Begriff Erinnerungskultur beschreibt sämtliche individuellen, privaten, öffentlichen und kollektiven Formen des Erinnerns an ein bestimmtes Segment der Vergangenheit. Der Begriff als solcher ist in der Geschichts- bzw. den Kulturwissenschaften recht neu, er wird erst seit den 1990er Jahren gebraucht. Gleichwohl wurden die theoretischen Grundlagen bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts geprägt, wobei insbesondere die Arbeiten des 1945 im KZ Buchenwald ermordeten französischen Soziologen Maurice Halbwachs (1877 – 1945) von Bedeutung waren. Er war es, der den Begriff „kollektives Gedächtnis“ prägte. Der deutsche Kulturwissenschaftler Aby Warburg (1866 – 1929) führte im gleichen Zeitraum den Begriff „Erinnerungsgemeinschaft“ in die wissenschaftliche Diskussion ein. In den 1980er bzw. 1990er Jahren entwickelten der Historiker Pierre Nora (*1931) sowie die Kulturwissenschaftler Jan (*1938) und Aleida Assmann (*1947) die Begriffe „Erinnerungsort“ und „kulturelles Gedächtnis“. Erinnerungskultur ist innerhalb der Strukturen größerer Kollektive wie etwa einzelner Nationen nicht allein auf dem Gebiet der Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg in hohem Maße he62 Vgl. Siegfried Wenzel, Was war die DDR wert? Und wo ist dieser Wert geblieben? Erg. u. akt. Aufl., Berlin 2015, 84 – 90. 63 Vgl. ebd. Die SBZ/DDR leistete 97 – 98 Prozent der gesamten deutschen Reparationen.

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terogen. In der kollektiven Wahrnehmung dominieren weithin die Topoi „Opfer“ bzw. „Held“, „wir (alle) gegen die Deutschen“, der Sieg über Deutschland (nicht nur gegen den Nationalsozialismus) wurde nicht allein in der UdSSR zu dem zentralen Mythos des kollektiven wie des individuellen Geschichtsbildes, während etwa in anderen ostmitteleuropäischen Staaten diese „Opferrolle“ nach 1945 nahtlos weiter fortgeschrieben wurde und erst 1989 endete. Im Mittelpunkt der deutschen Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg steht die Anerkenntnis der Schuld an Krieg und Holocaust. Dieser Sicht wird nicht allein durch zahlreiche Gedenkstätten, Museen und anderer Erinnerungsorte Rechnung getragen, sie ist zugleich ein Kernbestandteil der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland64. Neben der ungebrochenen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Themenfeldern Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg waren und sind diese Elemente häufig auch Gegenstand der künstlerischen65 Rezeption wie der politischen Debatte66. In Sachsen67 verknüpft sich die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg insbesondere mit dem Gedenken an die Opfer des alliierten Luftkrieges, an das Aufeinandertreffen sowjetischer und amerikanischer Soldaten an der Elbe sowie mit dem Schicksal der Heimatvertriebenen aus dem deutschen Osten. Daneben ragt in Sachsen aus der Vielzahl regionaler Besonderheiten die Teile des Westerzgebirges betreffende besatzungslose Zeit im Mai und Juni 1945 heraus, die durch Stefan Heyms (1913 – 2001) erstmals 1984 in der alten Bundesrepublik erschienenen Roman „Schwarzenberg“ eine überregionale Bekanntheit erlangte68. Spielten die Opfer der Bombenangriffe auf sächsische Städte und Gemeinden vor 1990 allenfalls im Zusammenhang mit dem von der SED ideologisch-propagandistisch ausgetragenen Kampf gegen die „imperialistische USA“ eine Rolle, gestaltet sich das Bild seither differenzierter69. Insbesondere regionale und lokale Forschungen haben dazu beigetragen, das Bild vom Luftkrieg zu schärfen und die hieraus re64 Vgl. https://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/der-zweite-weltkrieg/199392/ein fuehrung. 65 Vgl. dazu die insbesondere in Polen äußerst kritische Aufnahme des ZDF-Mehrteilers „Unsere Mütter, unsere Väter“ aus dem Jahr 2013. 66 Vgl. dazu exemplarisch die erregte Debatte um die Rede des AfD-Politikers Björn Höcke in Dresden am 17. Januar 2017, die Reaktionen des Bundesverteidigungsministeriums auf „NS-Devotionalien“ in Bundeswehrkasernen sowie die immer wiederkehrenden Debatten um die Namen von Bundeswehrliegenschaften bzw. die Entfernung eines Fotos von Helmut Schmidt in Luftwaffenuniform aus der Bundeswehruniversität in Hamburg im Mai 2017. 67 Die Zeit des Kriegsendes 1945 kann aus lokaler und regionaler Sicht heute für Sachsen als durchaus gut erforscht gelten, wenngleich eine alle Perspektiven zusammenfassende, große Untersuchung nach wie vor aussteht. Diese sollte, neben den in diesem Beitrag bzw. in dem vorliegenden Band angerissenen Aspekten nicht zuletzt auch mentalitäts- und alltagsgeschichtliche Fragestellungen in den Blick nehmen. 68 Vgl. Stefan Heym, Schwarzenberg. München 1984. 69 Vgl. für die Sicht der DDR auf diesen Teil der Geschichte des Zweiten Weltkrieges exemplarisch Olaf Gröhler, Geschichte des Luftkriegs 1910 bis 1980. Berlin (DDR), 1981.

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sultierenden Zerstörungen und Opfer in den Kontext des von Deutschland entfachten Zweiten Weltkrieges einzuordnen70. Die vielerorts alljährlich durchgeführten Gedenkveranstaltungen dienen somit vor allem zur Mahnung an deutsche Schuld und an die Sinnlosigkeit der hier gebrachten Opfer in einem längst verlorenen Krieg. In diesem Zusammenhang ist auch auf die öffentliche Auseinandersetzung um die Bombardierung Dresdens in der Zeit vom 13. bis 15. Februar 1945 und die damit verbundene gleichermaßen emotional wie ideologisch geführte Debatte zu verweisen. Die hier von diversen Akteuren postulierten Haltungen oszillieren im Spannungsfeld zwischen Begriffen wie „Völkermord“ und „Bomben-Holocaust“ einerseits, und Aussagen wie „Bomber-Harris do it again“ andererseits71. Das später zum „Elbe Day“ erklärte Aufeinandertreffen amerikanischer und sowjetischer Soldaten am 25. April 1945 bei Torgau zählt zu den bekanntesten Ereignissen der unmittelbaren Endphase des Zweiten Weltkrieges. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Fotos stehen in ihrer Bedeutung für die kollektive Erinnerung an den Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland, an das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa und für die Hoffnung auf Frieden, den Bildern vom Sturm sowjetischer Soldaten auf das Berliner Reichstagsgebäude in nichts nach. Weniger bekannt ist indes, dass das erste Aufeinandertreffen am selben Tag in Strehla stattfand, als eine US-Patrouille die Elbe überquert hatte und auf Rotarmisten getroffen war. Dass die Torgau-Fotos erst am 26. April 1945 entstanden, war dem Umstand geschuldet, dass das östliche Elbufer an dieser Stelle am 25. April noch mit den Leichen getöteter deutscher Zivilisten übersät war, die die Amerikaner nicht über die Elbe gelassen hatten und die von aufschließenden Sowjetsoldaten mit Artilleriefeuer umgebracht worden waren. Der „Elbe-Day“ ist, freilich unter Ausklammerung dieser Ereignisse, heute ein fester Bestandteil der touristischen Marketingstrategie der Stadt Torgau72. Neben jenen Zusammenhängen, die sich unmittelbar mit Geschehnissen des Zweiten Weltkrieges in Sachsen verbinden, wird in Sachsen seit 2014 der Opfer von Flucht, Vertreibung und Zwangsumsiedlung gedacht. Der im selben Jahr erst70

Vgl. Lothar Fritze/Thomas Widera (Hrsg.), Alliierter Bombenkrieg. Das Beispiel Dresden, Göttingen 2005; Rolf-Dieter Müller/Nicole Schönherr/Thomas Widera (Hrsg.), Die Zerstörung Dresdens am 13./15. Februar 1945. Gutachten und Ergebnisse der Dresdner Historikerkommission zur Ermittlung der Opferzahlen, Göttingen 2010; Uwe Fiedler, Bomben auf Chemnitz. Die Stadt im Spiegel von Luftbildern der Westalliierten, 2., unv. Aufl., Chemnitz 2006; Gerd Naumann, Plauen im Bombenkrieg 1944/45. 2. Aufl., Plauen 2011; Leipzig im Bombenhagel. Angriffsziel „Haddock“. Zu den Auswirkungen der alliierten Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg auf die Stadt Leipzig, hrsg. v. Birgit Horn i.a. des Stadtarchivs Leipzig, Leipzig 1998. 71 Vgl. zum Luftkrieg über sächsischem Territorium den Beitrag von Uwe Fiedler in diesem Band. 72 Vgl. Uwe Niedersen, Das Leichenfeld von Lorenzkirch. In: Ders. (Hrsg.), Soldaten an der Elbe. US-Armee, Rote Armee, Wehrmacht und Zivilisten am Ende des Zweiten Weltkrieges, Dresden 2008, 183 – 195; http://www.torgau.eu/p/dl1.asp?liste=305&tmpl_typ=Lis te&lp=2000&L=3&area=100.

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mals begangene Gedenktag ist jeweils auf den zweiten Sonntag im September datiert73. Während es den Vertriebenen, die in den westlichen Besatzungszonen bzw. in der alten Bundesrepublik eine neue Heimat fanden, von Anfang an möglich war, sich landsmannschaftlich zu organisieren und ihre Traditionen bzw. die Erinnerung an ihre Heimat zu pflegen, war dies in der SBZ bzw. der DDR nicht denkbar. Eine Veränderung trat erst mit der Friedlichen Revolution 1989 und mit dem Beitritt der fünf Neuen Länder zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 ein74. Auf Bundesebene existiert seit 2009 mit der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung eine Institution, deren Zielsetzung darin besteht, „im Geiste der Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im historischen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und ihren Folgen wachzuhalten“75. Daneben pflegen die im Bund der Vertriebenen zusammengefassten Landsmannschaften als deutschlandweite Dachorganisationen die Traditionen sowie die Erinnerung an ihre Heimat. Über die Gründe, die im Mai 1945 dazu führten, dass nach der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht Teile des Westerzgebirges weder von US- noch von Truppen der Roten Armee direkt besetzt wurden, liegt bis heute jenseits zahlreicher Spekulationen keine Klarheit vor. Wie in weiten Teilen der SBZ, gründeten sich in dem Gebiet „antifaschistische Aktionsausschüsse“, die sich um die Aufrechterhaltung von „Ordnung und Sicherheit“ bemühten und die Versorgung der Einwohner mit Lebensmitteln sicherzustellen suchten. Offensichtlich fanden aus diesen Kreisen sowohl an US-Militärpersonal wie an Angehörige der Roten Armee herangetragene Aufforderungen, nun auch dieses Territorium zu besetzten und die damit verbundenen Verpflichtungen für die deutsche Zivilbevölkerung zu übernehmen, kein Gehör. Im Zuge der Mitte Juni 1945 schrittweise erfolgenden Besetzung durch Kräfte der Roten Armee wurden die „Aktionsausschüsse“ aufgelöst. Eine größere Resonanz fand dieses Ereignis im Zuge der Veröffentlichung des Romans „Schwarzenberg“ von Stefan Heym im Bertelsmann-Verlag. Der ebenso renommierte wie der SEDSpitze unbequeme DDR-Schriftsteller nutzte die Ereignisse des Jahres 1945 als Vorlage für den Roman und entwickelte daraus seine Vorstellungen eines utopischen, basisdemokratischen Sozialismusmodells. Die durch ihn geschaffene „Republik Schwarzenberg“ entwickelte seit 1990 eine Eigendynamik, in der Heyms Konstruktionen in Teilen Eingang in die kollektive Erinnerungskultur der Region fanden76. 73

Vgl. https://www.revosax.sachsen.de/vorschrift/14094-Proklamation-Gedenktag-fuerdie-Opfer-von-Flucht. 74 Vgl. dazu den Beitrag von Uta Bretschneider in diesem Band. 75 Vgl. http://www.sfvv.de/de/stiftung. 76 Vgl. Lenore Lobeck, Schwarzenberg. In: Matthias Donath/André Thieme (Hrsg.), Sächsische Mythen. Menschen – Orte – Ereignisse, Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Leipzig 2011, 301 – 310; Justus H. Ulbricht, Vom „Niemandsland“ zur „Freien Republik Schwarzenberg“. In: Sächsische Heimatblätter 59 (2013), Heft 3, 182 – 187; Gareth Pritchard, Niemandsland. Das unbesetzte Territorium im Westerzgebirge April bis Juli 1945, in: Schmeitzner/Vollnhals/Weil (Hrsg.), Von Stalingrad (wie Anm. 3), 205 – 222. Der Verfasser verweist einführend auch auf einschlägige, seit den 1950er Jahren vorgelegte Arbeiten von

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Wesentlich anders als in der Bundesrepublik Deutschland gestaltet sich dagegen heute die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg und an die deutsche Besatzung in jenen Ländern, die ab 1939 Opfer der deutschen Aggressionspolitik geworden waren. Zudem vollzieht sich unter aktuellen politischen Einflüssen derzeit in einigen Ländern, wie etwa in Polen, auch ein Wandel in der Gedenkkultur und der Geschichtspolitik im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg77. Die Veränderungen kulminieren in diesem Fall sichtbar in der öffentlich geführten Debatte um das neue Museum zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Danzig78. Bei der Umsetzung der Ausstellungskonzeption fand neben der polnischen Perspektive auch die anderer ostmitteleuropäischer Staaten, etwa die der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen Berücksichtigung. Polen wie die baltischen Staaten wurden nicht allein zu Opfern des deutschen Expansionsstrebens und der deutschen Vernichtungspolitik während des Zweiten Weltkrieges. Dem in Polen agierenden Widerstand gegen diese Terrorpolitik war letztlich kein Erfolg beschieden, der Warschauer Aufstand 1944 wurde zu dem Symbol für die in der polnischen Selbstwahrnehmung gepflegte Sicht, Opfer fremder Mächte zu sein79. Deutlich stärker als vor 1990 trat zudem auch auf dem Feld der nationalen polnischen Erinnerung eine kritisch-distanzierte, ja teils feindliche Haltung gegenüber Russland zutage, die nicht allein auf die Zeit des Zweiten Weltkrieges und die sich anschließenden Jahre bis zur „Wende“ beschränkt blieb. Stalins Sowjetunion schien und scheint aus polnischer Sicht nicht viel von Hitlers Deutschland zu unterscheiden80. Davon konnte und kann aus sowjetischer/russischer Sicht freilich keine Rede sein. Im heutigen Russland folgt die Deutung des „Großen Vaterländischen Krieges“ in erstaunlicher Kontinuität der der UdSSR81. Die unveränderte Omnipräsenz dieses Teils der russischen Geschichte jenseits offizieller geschichtspolitischer Einflussnahmeversuche oder der Bemühungen der russischen Geschichtswissenschaft wurde 2012 mit der Entstehung der Initiative „Unsterbliches Regiment“ [2Vbb]VacDDR-Historikern. Vgl. hierzu auch Kap. IV. des Beitrages von Mario H. Müller in diesem Band. 77 Die Veränderungen fanden ihren sichtbaren Ausdruck in den Mitte 2017 vom polnischen Parlament gegen die Bundesrepublik Deutschland erhobenen Reparationsforderungen. Das Gutachten des wissenschaftlichen Dienstes des Parlaments zu dieser Frage ist einzusehen unter: http://www.sejm.gov.pl/media8.nsf/files/KKOI-AR4BP5/%24File/1455 %20-%2017 % 20DE.pdf. 78 Das Museum wurde am 23. März 2017 eröffnet. Vgl. http://www.muzeum1939.pl/. 79 Vgl. Adam Krzemin´ski/Damien Thiriet, Warschauer Aufstand. Ruinen der Festung, in: Hans Henning Hahn/Robert Traba (Hrsg.), Deutsch-Polnische Erinnerungsorte. Bd. 2, Geteilt/ Gemeinsam, Paderborn u. a. 2014, 661 – 696. 80 Vgl. Edmund Dmitrów, Russland. Bezugspunkt für Deutsche und Polen, in: ebd., 57 – 80. 81 Dies findet sinnfällig Ausdruck in der Gestaltung des 1995 eröffneten „Museums des Sieges“ in Moskau. Vgl. http://victorymuseum.ru/ Nicht zuletzt im aktuellen innenpolitischen Kontext der Russischen Föderation bemerkenswert war die hier im Mai 2017 gezeigte Sonderausstellung „Segen auf den Sieg. Die russische orthodoxe Kirche in den Jahren des großen Vaterländischen Krieges“.

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^lZ `_\[] in der sibirischen Stadt Tomsk manifest82. Seither gedenken jeweils am 9. Mai hunderttausende Russen ihrer im Krieg gefallenen bzw. inzwischen verstorbenen Angeho¨rigen. Auch hier sieht man diese Ma¨nner und Frauen jedoch als Befreier, nicht allein der von den Deutschen besetzten Gebiete der Sowjetunion, sondern ganz Osteuropas vom „Hitlerfaschismus“. Auf umso gro¨ßere Ablehnung sto¨ßt daher insbesondere die aus den baltischen Staaten seit 1991 immer wieder deutlich vorgetragene Sicht auf die Rolle der Sowjetunion und der Roten Armee bei der „Befreiung“ des Baltikums 1944 und die sich anschließende zwangsweise Integration der drei Staaten in die UdSSR83. Die Kontinuita¨t in der Erinnerung bzw. die Indienstnahme dieses spezifischen Teils der sowjetischen Geschichte zum Zweck der Traditionsbildung sowie als Element eines postsowjetischen „nation-building-Prozesses“ in Russland tritt heute auch und gerade im Bereich der Streitkra¨fte der Russischen Fo¨deration zutage, etwa in der Weiterverwendung der Rot-Stern-Kokarde bei den Luftstreitkra¨ften Russlands bzw. – in modifiziertem Design – beim Heer. Der Sieg der Roten Armee u¨ber Deutschland dient dabei nach wie vor als Kontrastfolie zum Krieg in Afghanistan 1979 – 1989 bzw. zum Ersten Tschetschenienkrieg 1994 – 1996. Daneben ist auch die bis 1994 dauernde Pra¨senz sowjetischer/russischer Besatzungstruppen in der SBZ, der DDR und der Bundesrepublik lebendig. Sichtbar wird dieser Teil der sowjetischen bzw. postsowjetischen Geschichte heute vor allem in zahlreichen Internetplattformen, auf denen sich Angeho¨rige der Gruppe der Sowjetischen Streitkra¨fte in Deutschland (GSSD) u¨ber ihre Dienstzeit in der DDR austauschen und Informationen u¨ber ihre Garnisonsstandorte und deren Entwicklung bis in die heutige Zeit miteinander teilen84. In ganz eigener Weise wird seit Mitte 2015 für jedermann das Ende des „Großen Vaterländischen Krieges“ erlebbar, wenn „Freizeit-Rotarmisten“ im Rahmen von Reenactments in einem „Freizeitpark“ in der Nähe von Moskau einen nachgebauten Reichstag „stürmen“85. Das heute in aller Welt weit verbreitete spielerische Nachstellen eines historischen Ereignisses geht im Kern zurück auf die theoretischen Erwägungen des britischen Philosophen und Historikers Robin George Collingwood (1889 – 1943), der die Sicht vertrat, durch das Nachinszenieren geschichtlicher Geschehnisse mehr über die Beweggründe der historischen Akteure herausfinden zu

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Vgl. http://moypolk.ru/. Vgl. Igor J. Polianski, Die kleineren Übel im großen Krieg. Der 60. Jahrestag des Sieges, Das Fest des historischen Friedens und der Krieg der Geschichtsbilder zwischen Baltikum und Russland, in: Zeitgeschichte-online, Mai 2005, http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/diekleineren-uebel-im-grossen-krieg. 84 Vgl. exemplarisch für die Garnison Karl-Marx-Stadt: http://nazadvgsvg.ru/viewforum. php?id=146. 85 Vgl. etwa http://www.mdr.de/nachrichten/vermischtes/reichstag-kulisse-bei-moskau-erst uermt-100.html sowie https://www.stern.de/reise/europa/warum-bauen-die-russen-den-berlinerreichstag-nach-7340392.html Die Internetseite des „Park Patriot“: https://patriotp.ru/. 83

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können86. Insbesondere in den USA und Großbritannien wird Reenactment heute allerdings vornehmlich auf die Nachstellung militärischer Kampfhandlungen reduziert, teils betrieben von kommerziell interessierten Gruppen, die im Rahmen größerer Veranstaltungen vor Publikum auftreten87. Allerdings handelt es sich bei derartigen Inszenierungen keineswegs um ein Phänomen der Moderne. Vielmehr lassen sich derartige Praktiken bereits in der Antike nachweisen. Im Deutschen Reich kam die Nachstellung historischer Ereignisse insbesondere während der Herrschaftszeit Kaiser Wilhelms II. (1859 – 1941) in Mode, der selbst ein großes Interesse für die Geschichte „seines“ Hauses Hohenzollern hegte und dabei im Rahmen von Festen regelmäßig in historische Kostüme schlüpfte. Bestehen heute bei den während des Zweiten Weltkrieges in einer Koalition verbundenen Nationen bzw. ihren Nachfolgestaaten wie bei den Ländern, deren Territorien von deutschen Truppen besetzt waren, auch hinsichtlich dieser Facetten der modernen Erinnerungskultur deutliche Unterschiede, so eint sie doch der Umstand, dass die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg weitgehend im nationalen Rahmen verhaftet bleibt und überdies kaum je selbstkritische Sichten reflektiert werden. So gilt im öffentlichen französischen Diskurs nach wie vor de Gaulles Diktum, dass es in Frankreich zwischen 1940 und 1944 keine systematische Kollaboration mit den Deutschen, allenfalls nur einige wenige Verräter gegeben habe, ebenso wie es in der aktuellen russischen wie US-amerikanischen Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg undenkbar scheint, auch andere als die Bilder von Rotarmisten bzw. GI’s in generöser „Befreierpose“ zu zeichnen88. Bereits 2007 haben Jörg Echternkamp und Stefan Martens im einführenden Beitrag des von ihnen herausgegebenen Sammelbandes „Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung“ auf die vielfältigen Schwierigkeiten hingewiesen, mit denen sich Historiker konfrontiert sehen, die die Geschichte des Zweiten Weltkrieges jenseits des tradierten nationalstaatlichen Referenzrahmens in europäischer Perspektive zeichnen 86 Vgl. Giuseppina D’Oro, Collingwood and the Metaphysics of Experience (= Routledge Studies in Twentieth-Century Philosophy Bd. 13). London u. a. 2002; William H. Dray, History as Re-enactment. R. G. Collingwood’s Idea of History, Oxford u. a. 1995. 87 Vgl. Albrecht Steinecke, Kulturtourismus. Marktstrukturen, Fallstudien, Perspektiven, München 2007. 88 Exemplarisch für die ungezählten Verbrechen, die die vorrückende Roten Armee an der deutschen Zivilbevölkerung beging, stehen die Massaker von Nemmersdorf und KönigsbergMetgethen, die – leider – bis heute auch von einigen deutschen Historikern bagatellisiert und relativiert werden. Ähnliches gilt für das Handeln von Soldaten der französischen wie der USStreitkräfte. Vgl. Volker Koop, Besetzt. Sowjetische Besatzungspolitik in Deutschland, Berlin 2008, insbes. 115 – 135, sowie ders., Besetzt. Französische Besatzungspolitik in Deutschland, Berlin 2005, insbes. 32 – 47; Miriam Gebhardt, Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkrieges, 4. Aufl., München 2015, hier auch weiterführende Literatur. Hubertus Knabe, Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland, Berlin 2005. Unter völliger Ausklammerung der o.g. Sachverhalte: Sergej Kudrjasov, Erinnerung und Erforschung des Krieges. Sowjetische und russische Erfahrung, in: Der Zweite Weltkrieg in Europa. Erfahrung und Erinnerung, hrsg. v. Jörg Echternkamp/Stefan Martens, Paderborn u. a. 2007, 113 – 141.

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wollen89. Tatsächlich scheint heute, 2018, eine gemeinschaftliche europäische Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg mehr denn je fraglich, wenn selbst eine einst als Grundkonsens in die Debatte eingebrachte Sicht wie die Anerkenntnis des Leidens und der Opferstatus von Zivilisten im Krieg nur mit Einschränkungen, etwa mit Bezug auf die Deutschen, geteilt wird. V. Zusammenfassung Sachsen war 1945 in besonderer Weise vom Ende des Zweiten Weltkrieges betroffen. Hier kam es zum Zusammentreffen amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte, das im April 1945 das Ende des Krieges und die deutsche Niederlage abbildete. Hier wurden deutscherseits realiter zwei verschiedene Kriege geführt, eine allenfalls hinhaltende Kriegführung gegen US-Streitkräfte einerseits, andererseits entschiedener Widerstand mit den zur Verfügung stehenden Mitteln, auch unter Aufbietung der Reste von „Eliteeinheiten“ wie der Division Brandenburg, gegen die vorrückende Rote Armee und ihre polnischen Verbündeten. Hier kulminierte das Zerstörungswerk der angloamerikanischen Luftstreitkräfte gegen Städte, etwa Dresden, Chemnitz oder Plauen, das noch in den letzten Wochen des Krieges zehntausende tote Zivilisten und eine vollflächig zerstörte Infrastruktur zur Folge hatte. Zu diesem Zeitpunkt stand bereits fest, dass Sachsen Teil der von den Sowjets besetzten Zone Deutschlands werden und die Verantwortung für das weitere Schicksal des Landes damit in den Händen Stalins liegen würde. Seinen westalliierten Partnern dürfte dabei klar gewesen sein, dass dies zur „Sowjetisierung“ dieses Teils Deutschlands und zur Expansion des Kommunismus bis in die Mitte Europas führen musste. Eine Änderung dieser Konstellation ergab sich erst infolge der sich mit Michael Gorbatschow (*1931) verbindenden sowjetischen Reformära seit Mitte der 1980er Jahre, die indes auch den Zerfall der UdSSR und die Integration der vormals mit der UdSSR verbündeten Staaten Ostmitteleuropas sowie des Baltikums in die Strukturen von EU und NATO zur Folge hatte. Stalin konnte sich 1945 auch in Sachsen auf „seine“ deutschen Genossen verlassen, die federführend für die Umwandlung der in Neugründung begriffenen staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen in der SBZ nach sowjetischem Vorbild sorgten, aus der 1949 mit der DDR ein treuer Verbündeter der Sowjetunion werden würde. Dass sich dieser Neustart aus den Trümmern des Krieges indes schwieriger gestaltete als vorauszusehen, war auch dem Umstand geschuldet, dass die sowjetische Besatzungsmacht im Industrieland Sachsen in großem Stil Demontagen vornahm und Technologietransfer praktizierte, der in der gesamten SBZ an die Substanz ging und der die deutschen Kommunisten zugleich vor veritable Erklärungsnöte hinsichtlich des von ihnen postulierten Bildes von der UdSSR, von Stalin oder vom 89 Vgl. Jörg Echternkamp/Stefan Martens (Hrsg.), Der Weltkrieg als Wegmarke? Die Bedeutung des Zweiten Weltkriegs für eine europäische Zeitgeschichte, in: Dies., Der Zweite Weltkrieg (wie Anm. 88), 1 – 33.

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Kommunismus stellte. Zudem entstand mit der S(D)AG Wismut auf sächsischem und auf thüringischem Territorium ein Unternehmen, das sich insbesondere für die Anfangszeit des sowjetischen Atombombenprogramms als unverzichtbar erwies. Diese wie weitere Aspekte der Geschichte des Zweiten Weltkrieges, so die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten Europas, fanden Eingang in die regionale wie lokale sächsische Erinnerungskultur, die sich freilich erst nach dem Beitritt der fünf Neuen Länder zur Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 in all ihren Ausprägungen entfalten konnte. Sie vollzieht sich durchaus facettenreich und kontrovers, etwa in der aktuellen Auseinandersetzung um die alliierten Luftangriffe auf Dresden im Februar 1945 und unterscheidet sich dabei wesentlich von der in jenen Ländern, die zu den deutschen Kriegsgegnern zählten bzw. von NS-Deutschland besetzt waren. Hier scheinen jenseits des gemeinschaftlich errungenen Sieges über „die Deutschen“ unverändert national-patriotische Stereotype präsent, die zudem heute vermehrt von aktuellen geostrategischen Konfrontationsmustern befeuert werden.

Sachsen als nachrangiger Kriegsschauplatz im Jahre 1945 unter operationsgeschichtlichen Gesichtspunkten1 Von Dirk Reitz, Kassel Die Operationsgeschichte galt dereinst als die Königsdisziplin der traditionellen Kriegsgeschichte, während sich die modernere und rezente Militärgeschichte zahlreiche andere Themenfelder erschloss, bis zu zeitgeistigen Strömungen, wie „Gender“-Fragen im Kontext des Militärischen. Es soll hier indes nicht um gamaschenknopfzählende Kleinteiligkeit mit Lagekarten, Prinzipskizzen, Truppeneinteilungen oder dergleichen gehen, sondern vielmehr um den Versuch, die Rahmenbedingungen des Kriegsendes in Mitteleuropa und mithin in Sachsen zu umreißen. Weitere Details entnehme man dem Beitrag von Mario H. Müller im selben Band2. Kriegs- oder Militärgeschichte unterfällt in viele Teilbereiche und hier soll es um das Feld der Operationsgeschichte gehen, die angesiedelt ist zwischen der Taktik, das heißt der Führung des Gefechts als solchem, und der Strategie, also der Frage nach dem Ziel der Operationen, die sehr eng verwoben ist mit letztlich politischen Fragestellungen3. Um hier keiner unzutreffenden Erwartungshaltung Vorschub zu leisten: schöpferisch-kunstvolle Operationen, wie die „Rochade von Thorn“ (1914), den „Sichelschnitt“ (1940) oder die Operation „Zitadelle“ (1943) sucht man in dieser Phase des endenden Krieges in Sachsen vergebens.

1 Der vorliegende Text basiert auf dem Mitschnitt eines in freier Rede aus Anlass der Tagung „Kriegsende in Sachsen“ im Juli 2015 im Schloßbergmuseum zu Chemnitz gehaltenen Vortrags, dessen Bandmitschnitt meine Sekretärin, Frau Zschornack, in bewährter Manier dankenswerter Weise verschriftlichte. Der Duktus der Mündlichkeit ist in dem Maße „geglättet“, wie es das Leseverständnis erfordert. Der Inhalt ist mit einigen Ergänzungen versehen, die zur Verständlichkeit der schriftlichen Fassung unerlässlich sind. 2 Vgl. dazu den Beitrag von Mario H. Müller, Die territoriale Besetzung Sachsens 1945. Ein Akt der Befreiung? im vorliegenden Band. 3 Clausewitz unterscheidet im Kriege zwischen „Mittel“, „Ziel“ und „Zweck“ des Krieges. Während das Ziel, das mit der strategisch-operativen Ebene gleichgesetzt werden kann, immer instrumentell bleibt, ist der Zweck des Kriegs ein ausschließlich politischer, oder sollte zumindest ein solcher sein. In diesem Sinne ist Krieg die Fortsetzung des politischen Verkehrs unter Einmischung anderer Mittel. Dass sich der Zweite Weltkrieg unter dem Feldherrn Hitler, in dessen Endphase völlig vom Politischen gelöst hatte, ist evident. Neuere Studien hierzu: Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang NS-Deutschland 1944/45, München 2014 oder Wolfram Pyta, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr, eine Herrschaftsanalyse, München 2015.

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Vorweg einige Bemerkungen zur Literatur4. Bisher fehlt eine größere, wissenschaftlich fundierte Monographie zum Kriegsende in Sachsen. Der Verfasser nutzte in der Vorbereitung dieses Beitrags primär das Standardwerk zum Thema, Band 10/1 aus dem Reihenwerk des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“. Erwähnt sei zudem Ian Kershaws Darstellung von 2013 „Das Ende – Kampf bis zum Untergang“. Diese beleuchtet u. a. den teils disparaten motivatorischen Hintergrund von Wehrmacht, Bevölkerung und Führung, vor dem erklärlich wird, warum dieser Krieg tatsächlich bis zur Neige ausgekostet und bis zu einer Niederlage durchgefochten wurde, deren Totalität ihresgleichen sucht5. Im militärischen Denken spielen das Gelände und dessen Möglichkeiten meist eine größere Rolle, als die dort vorhandene Bevölkerung. Das Thema der Evakuierungen mithin also ein die Zivilbevölkerung betreffendes Sujet, ist z. B. im Jahre 2014 in einer Publikation an der Universität des Saarlandes Gegenstand einer Untersuchung geworden, doch hat dies Seltenheitswert6. Generell handelt es sich hierbei um ein eher unterbelichtetes Forschungsfeld. Aber gerade für die Endphase des Zweiten Weltkriegs auf Reichsgebiet hätte dies eine gründlichere Betrachtung verdient. I. Der Zusammenbruch der militärischen Verteidigung Der Beginn des Unterliegens und der Zusammenbruch der militärischen Verteidigung des Reiches oder darüber hinaus, die Frage wann und ggf. wo der Kulminationspunkt des Krieges zu verorten ist – Kulminationspunkt durchaus im Sinne Clau4 Roland Förster, Die Niederlage der Wehrmacht: Das Ende des „Dritten Reiches“, in: Roland Förster (Hrsg.), Seelower Höhen 1945. [MGFA Vorträge zur Militärgeschichte, Bd. 17], Hamburg/Berlin 1994, 1 – 14; Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang NS-Deutschland 1944/45. München 2014; Bernhard Kröner, Der starke Mann im Heimatkriegsgebiet. Generaloberst Friedrich Fromm – eine Biographie, Paderborn 2005; Fabian Lemmes/Johannes Grossmann et al. (Hrsg.), Evakuierungen im Europa der Weltkriege – Les évacuations dans l’Europe des guerres mondiales – Evacuations in World War Europe, Berlin 2014; Manfred Messerschmidt, Die Wehrmachtjustiz 1933 – 1945, Paderborn 2005; RolfDieter Müller (Hrsg.), Der Zusammenbruch des Deutschen Reiches. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg Bd. 10 / Erster Halbband – Die militärische Niederwerfung der Wehrmacht 1945, hrsg. im Auftrag des MGFA (Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg 10 Bde.), München 2008; Richard Overy, Der Bombenkrieg – Europa 1939 – 1945, Paderborn 2015; Wolfram Pyta, Hitler – Der Künstler als Politiker und Feldherr, eine Herrschaftsanalyse, Berlin 2015; Matthias Rogg, Sachsen: Gedenkstunde am Volkstrauertag im Sächsischen Landtag, in: „Die Gemeinschaft der Demokraten ist stärker als die Internationale des Hasses“ (= Volksbund Forum Bd. 18), Kassel 2015, 163 – 180; Atlanten: BSV-Atlas, Karten ex: Richard Lakowski, Seelow 1945. In: Militärgeschichtliches Forschungsamt der Bundeswehr (Hrsg.), Militärgeschichtliche Exkursionsführer Band 1, Berlin 31996. 5 Vgl. Müller (Hrsg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (wie Anm. 4); Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang NS-Deutschland 1944/45, München 2014. 6 Vgl. Fabian Lemmes/Johannes Grossmann/Nicholas Williams u. a. (Hrsg.), Evakuierungen im Europa der Weltkriege – Les évacuations dans l’Europe des guerres mondiales – Evacuations in World War Europe, Berlin 2014.

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sewitzens als das Zurückschlagen des Pendels – erörtert die Fachwelt seit 1945 wiederkehrend. Es können mit gutem Grunde verschiedene Zeitpunkte angeführt werden. Das Stocken der Deutschen Offensive vor Moskau (Dez. 1941), oder die Niederlage von Stalingrad (Feb. 1943) als ein zweifellos symbolträchtiges Ereignis, das nicht nur als Synonym für monströse Verluste steht, sondern von dem an der Machtbereich Hitler-Deutschlands kontinuierlich schrumpfte. Man könnte indes anders argumentieren und den Generalobersten Ludwig Beck (1880 – 1944), weiland Chef des Generalstabes, aus dem Jahre 1938 als Kronzeugen zitieren. Dieser prognostizierte aus der Vorahnung des Kommenden eine deutsche Niederlage: „Ein großrahmiger Krieg in Mitteleuropa mit einer Zweifrontenstellung ist durch das Deutsche Reich in der Mittellage als Erfahrungswert aus dem Ersten Weltkrieg heraus nicht zu gewinnen“. Der Verfasser sieht den Kulminationspunkt nicht erst vor Moskau im Dezember, sondern bereits im August 1941, als Hitler den raumgreifend-erfolgreichen Vorstoß der Panzerkräfte der Heeresgruppe Mitte auf Moskau anhielt, um deren vermeintlich bedrohte Flanken zu sichern und damit der Roten Armee eine erste konsolidierende Atempause vergönnte. Die blitzkrieghafte Dynamik des Ostfeldzugs war damit gebrochen7. Eine – gar wertende – Aussage über einen anderen Ausgang des Russlandfeldzugs oder des Krieges in toto, soll hiermit allerdings nicht getroffen werden8. Und als die Operationen der Wehrmacht im Spätjahr 1941 erst im Schlamm steckenblieben, um dann im Dezember vor Moskau schließlich im Eis des russischen Winters einzufrieren, konnte dem militärisch geschulten Blick nicht entgehen, dass nicht nur der Nimbus des Feldherrn Hitler, der seit dem Sieg über Frankreich heller strahlte, als jemals, sondern auch der Siegergestus der Deutschen Wehrmacht gebrochen war. Alle Erfolge des Jahres 1942 bis zur Eroberung der Krim und des Kaukasus konnten darüber nicht hinwegtäuschen: es war misslungen, die Sowjetunion in einem Feldzug niederzuringen, so dass die Dimension des Raums und die Ressourcen des Gegners immer nachhaltiger und nachteiliger zur Niederlage der Deutschen Wehrmacht beitragen mussten. Damit ist die globale Dimension des Kriegs unter Einbeziehung der USA und deren Wirtschaftskraft noch gar nicht berücksichtigt; diesen hatte Hitler ebenfalls im Dezember 1941 den Krieg erklärt. 7 Vgl. hierzu Pyta, Hitler (wie Anm. 3), 363 ff. Abwendung von der Ebene der zeitzentrierten Dynamik, hin zu einem dem Raumgewinn und dem Halten des Raumes um jeden Preis gehorchenden Paradigma, das insbesondere in der Endphase des Krieges – Stichwort: Festungen – seine ganze geistlose, den Prinzipen der operativen Gefechtsführung des deutschen Generalstabs zuwiderlaufende Wirkung entfaltete. 8 Die Frage der generellen Einordnung des Krieges gegen die Sowjetunion soll hier nicht vertiefend behandelt werden, daher zwei Verweise zum Forschungsstand und dessen Entwicklung seit 20 Jahren. Bernhard Kröner, Militär, Staat und Gesellschaft im 20. Jahrhundert (1890 – 1990) (= Enzyklopädie deutscher Geschichte 87), s. u.a. 78. Zit.: „Kriegführung darstellte, die, zumal im Osten und Südosten, als rasseideologischer Vernichtungskrieg angelegt […]“ war. Bei Benz heißt es 1997 noch differenzierend: „Militärischer Feldzug und rasseideologischer Vernichtungskrieg liefen parallel […]“. Wolfgang Benz et al., Enzyklopädie des Nationalsozialismus, Stuttgart 1997, 643.

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Spätestens mit der zwanzig Schreibmaschinenseiten umfassenden Denkschrift des Generalobersten Friedrich Fromm (1888 – 1945), des Oberbefehlshabers des Ersatzheeres, vom 29. September 1942, über die personelle Ersatzlage des deutschen Heeres und die fehlenden Möglichkeiten, die Verluste des Ostfeldzugs auszugleichen, wurde die Aussichtslosigkeit der Lage aktenkundig dem Kriegsherrn Hitler vorgetragen9. Inhalt und Duktus der Denkschrift zwangen in der schonungslosen Klarheit der Beurteilung der Gesamtkriegslage zu einem Schluss: dieser Krieg ist verloren. Belege, dass dies dem Diktator noch einmal so unmissverständlich vor Augen geführt worden sein könnte, sind unbekannt. Griff die Wehrmacht 1941 die Sowjetunion mit drei panzerstarken Heeresgruppen (HGrp) an, so reichten die Auffrischungen nach den Verlusten des Winters 1941/42 nur noch aus, um 1942 mit einer Heeresgruppe, der HGrp Süd, offensiv vorzugehen. Der Blick auf deren offene Flanken und überdehnte Verbindungslinien zeigt allerdings selbst dem militärisch Minderversierten, dass hier ein Hazardspiel zu beobachten ist, das zu einer folgenreichen Niederlage führen musste. Im dritten Jahr des Ostfeldzugs, 1943, schließlich blieben nur noch Kräfte für räumlich begrenzte Operationen: die Panzerschlacht von Kursk, genannt „Operation Zitadelle“, steht hierfür, sie brachte aber erwartungsgemäß keine verwertbaren Erfolge, sondern verschlang nur unersetzliche Ressourcen an ausgebildetem Personal und hochwertigem, modernem Material. 1943 erfolgte mit der Führerweisung Nr. 51 vom 3. November 1943 in der deutschen Gesamtkriegsführung die unerwartete Schwerpunktverlagerung: vom ostwärtigen Kriegsschauplatz auf den westlichen, zunächst auf Italien, später auf Frankreich, wo Hitler die nächste amphibische Operation erwartete. Dass nun die Verteidigung Westeuropas vorrangig zu betreiben und dieser alle verfügbaren Kräfte zuzuführen seien, ist, mit allen Konsequenzen für die Kriegsführung gegen die Sowjetunion, erklärungsbedürftig. Indes muss der Historiker eine solche einstweilen schuldig bleiben, sieht man davon ab, dass der deutsche Kriegsherr wohl wähnte, sich dem rasse-ideologischen Feind im Osten dann wieder zuwenden zu können, wenn er eine Landung im Westen pariert habe. Ebenfalls im Spätjahr 1943 setzte eine zweite Phase der Ideologisierung der Kriegführung auf deutscher Seite ein, es begann die zersetzende Durchdringung der deutschen Armee mit „Politkommissaren“, den sogenannten NSFO, den Nationalsozialistischen Führungsoffizieren, die das sowjetische Vorbild nicht verleugnen können. Schon 1941 war mit dem Kommissar-Befehl deutlich geworden, welche neue Qualität dieser Krieg haben sollte. Nachfolgend soll die Lageentwicklung bis 1944 von Ost, über Süd nach West geographisch (aber nicht streng chronologisch) skizziert werden. Es begann mit der Vernichtung der 6. Armee in Stalingrad im Spätjahr 1942/1943, die zumindest als zäsurhafter Wendepunkt der Bevölkerung das Ende des Siegeslaufs vergegenwärtigte. Die Sondermeldungen und Siegesfanfaren verstummten, der Reichrundfunk spielte tage9 Zu Fromm und dessen Denkschrift vgl. Kröner, Fromm (wie Anm. 4), 457 ff. Der Auftrag an Fromms unterstellten Bereich lautete zu belegen, „daß es nicht mehr möglich sei, zu einem militärischen Erfolg in diesem Kriege zu kommen“ 458, und „Fromm trug seinen Text im Stehen vor. Er wurde ,mit eisigem Schweigen‘ angehört.“ 463.

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lang getragene Musik. Das Regime zelebrierte erstmals den Untergang einer ganzen deutschen Armee von ca. 250.000 bis 300.000 Mann, andere folgten. Der Blick richtet sich dann meist auf die weiteren großen Ereignisse, wie den Zusammenbruch der Heeresgruppe Mitte im Zuge der Operation „Bagration“ im Juni 1944. Dem geht voran im Juli 1943 der letzte Versuch der Deutschen Wehrmacht, angriffsweise vorzugehen. Das Unternehmen „Zitadelle“, die Panzerschlacht im Kursker Bogen und im August 1944 – um damit noch an der Ostfront zu bleiben – der Zusammenbruch der Heeresgruppe Süd, fast noch katastrophaler als die vorangegangenen Ereignisse, was die Zahl der Gefallenen und Gefangenen, die Verluste an Boden und Operationsfreiheit betraf. Die Front rückte bedenklich an die Reichsgrenzen heran. Griechenland ging im Oktober 1944 verloren, Rumänien wechselte im August 1944 das Bündnis, so dass die Wehrmacht plötzlich auf den Karpatenbogen als Verteidigungslinie im Osten zurückfiel. Die deutschen Truppen räumten Rumänien in einem Zuge vom Sereth bis zum Karpatenkamm. Gleichzeitig suchte der ungarische Reichsverweser, Admiral Miklós von Horthy (1868 – 1957), nach Wegen, das Bündnis mit Deutschland zum Wohle Ungarns zu verlassen. Inzwischen war Italien vom Bündnispartner zum unsicheren Kantonisten mutiert, und nachdem Briten und Amerikaner Sizilien genommen hatten, gelang ihnen der Sprung aufs Festland bei Nettuno und das kontinuierliche Aufrollen der deutschen Italien-Front in nördlicher Richtung. Im Juni 1944 erfolgte schließlich der entscheidende Sturm auf die Festung Europa in der Normandie. Die vom sowjetischen Diktator, Josef Stalin (1878 – 1953), geforderte zweite Front zur Entlastung seiner schwer ringenden Truppen war errichtet. Wenngleich ohne operationsgeschichtliche Relevanz, so muss dennoch der 20. Juli 1944 als Tag der Ehrenrettung wesentlicher Teile des Deutschen Offizierskorps genannt werden. Diese unternahmen den Versuch, dem Tyrannen, Adolf Hitler, in den Arm zu fallen, nicht zuletzt um die absehbar verheerenden Folgen des Krieges auf Reichsgebiet von Deutschland abzuwenden. Zwar führten die verlustreichen Niederlagen, insbesondere im Osten, nicht unmittelbar zum Zusammenbrechen der Front. Dies jedoch weniger, weil die Wehrmacht im Stande gewesen wäre die Stöße aufzufangen, als vielmehr, weil das sowjetische Angriffsverfahren bzw. die Nachrückfähigkeit der Sowjetarmee hier an ihre Grenzen stieß. Und vom 20. Juli 1944 geht in weiterer Hinsicht ein Paradigmenwechsel aus. Die Wehrmacht war von Stund’ an nicht mehr Solitär, nicht mehr die dritte Säule des Nationalsozialistischen Staates, sondern das Regime beargwöhnte nun die eigene Armee als Hort verschwörerisch-NS-feindlicher Umtriebe. Den Oberbefehlshaber des Ersatzheeres, Generaloberst Fromm, ersetzte Hitler durch seinen Getreuen Heinrich Himmler (1900 – 1945)10. Selbst die Verteidigung innerhalb des Reichsgebietes 10

Zu Fromm vgl. Kröner, Fromm (wie Anm. 4). Die Einordnung Fromms ist durch die Stauffenberg-Apologetik verschattet, denn als Oberbefehlshaber des Ersatzheeres mit eigenen Staatsstreichplänen blieb ihm am Abend des 20. Juli 1944 kaum eine andere Lösung, als seinen Chef des Stabes, den Obersten Stauffenberg, und dessen Mitverschworene füsilieren zu lassen. Dies nicht nur, um – wie unterstellt – seinen eigenen Kopf zu retten, sondern um die

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ging vom Ersatzheer auf den Reichsführer-SS, einen militärischen Dilettanten, über. Der nationalsozialistische Gruß ersetzte in der Deutschen Wehrmacht ab dem 21. Juli 1944 die militärischen Grußformen, und mit den NSFOs11 hielten „NS-Polit-Kommissare“ Einzug in die Armee. Es entstanden neue Gliederungsformen, wie zum Beispiel die Volksgrenadierdivisionen. Diese wiesen bereits über den noch immer erwartenden Endsieg hinaus, nach dem die preußisch geprägte Deutsche Wehrmacht durch eine nationalsozialistische „Volksarmee“ hätte ersetzt werden sollen, gesäubert vom ,reaktionären‘ Geist der alten Eliten des Offizierskorps. Die Aufgabe des Raumes bedingte u. a. den Verlust der zur Kriegführung unverzichtbaren Rohstoff- und Fertigungsressourcen in den besetzten Ländern Europas, die seit 1940 der Kriegswirtschaft des Deutschen Reich eine Basis geliefert hatten. Dass Stahl für die Kriegführung erforderlich ist, wie aus Belgien und Nordfrankreich bezogen, bzw. dessen Grundlage Erz aus Schweden kommend, ist evident. Aber auch der Verlust der Quellen für Chrom, Wolfram, Mangan, Bauxit, Nickel und vor allem von Erdöl für die Sicherstellung von Beweglichkeit und Transport, engten die Kriegsführungsfähigkeit des Deutschen Reiches zunehmend ein. Insbesondere die Metalle Chrom, Wolfram und Mangan sind für die Härtung von Stählen, für die Herstellung von Munition, für die Produktion von Geschützrohren und dergleichen von essentieller Wichtigkeit, deren Mangel minderte kontinuierlich die Qualität der deutschen Rüstungsgüter. Das operative Geschehen und die Lageentwicklung im Jahre 1945 sei hier von Ost nach West durchdekliniert. Während im Februar 1945 auf der Krim im Liwadija-Palast Nikolaus II. die Jalta-Konferenz der zukünftigen Sieger tagte, war das Reichsgebiet bereits Kriegsschauplatz. Im Kurlandkessel blieb eine ganze Heeresgruppe im Baltikum eingeschlossen, ohne dass der Ausbruch befohlen oder die Evakuierung eingeleitet worden wäre. Am 12. Januar 1945 begann die Rote Armee mit ihrer Weichsel-Oder-Operation. Aus dem Weichselbogen angreifend, gelang es den sowjetischen Truppen binnen 14 Tagen, gegen nur verzögernden Widerstand der Wehrmacht, bis auf die Oderlinie vorzustoßen und damit ostwärts auf 60 Kilometer an die Reichshauptstadt heranzurücken. Das Überwinden der Oder, als letzem wesentlichen Gewässerhindernis vorwärts der deutschen Hauptstadt, und der Stoß auf Berlin waren damit eingeleitet. Die Bildung von Brückenköpfen bei Küstrin schon im Februar und der nachfolgende verlustreich-blutige Angriff Marschall Schukows und der I. Belorussischen Front12 über die Seelower-Höhen vom 16. bis 19. April 1945 führte dann innerhalb weniger Tage zur Einschließung der Reichshauptstadt Berlin (25. April), die am 2. Mai fiel.

Handlungsfähigkeit des Ersatzheeres im Hinblick auf die Übernahme der vollziehenden Gewalt zu erhalten – ein Trugschluss, wie sich rasch zeigte. 11 NSFO = Nationalsozialistischer Führungsoffizier. 12 Der russ. Begriff „Front“ entspricht in der deutschen militärischen Terminologie einer Heeresgruppe.

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Unbeschadet der Notwendigkeit, die Reichsverteidigung zu forcieren, ließ Hitler im Osten 1945 noch einmal angreifen. Letzte Reserven fochten und fielen, um die ungarischen Ölfelder zu halten. Die Fiktion einer „Alpenfestung“ motivierte nicht nur die deutschen Verteidiger, sondern stellte zugleich die west-alliierten Angreifer vor eine ungewisse Lage. Man fürchtete, südlich Münchens in den Bayerischen und Tiroler Alpen auf ein wehrhaftes Reduit vom Zuschnitt der Schweizer Landesverteidigung zu stoßen, das indes nur ein Trugbild blieb. Am 2. Mai 1945 erfolgte die bedingungslose Teilkapitulation der Heeresgruppe in Italien, nachdem dort die Front über die Stationen Sizilien, Nettuno und Anzio, Monte-Cassino und Rom, immer weiter gen Norden gerückt war. Doch zuvor, im Spätjahr 1944/45, griff die Wehrmacht, alle vorhandenen Offensivkräfte zusammenfassend, mit der Ardennenoffensive im Dezember und Januar 1944/45 letztmalig im Westen raumgreifend an. Die Geländegewinne der ersten Tage blieben Pyrrhus-Siege, denn mit einsetzendem Flugwetter zerschlugen die alliierten Luftstreitkräfte die deutschen Angriffsverbände rasch und gründlich. Die Ardennen-Offensive ist vergleichbar mit der MichaelOperation Erich Ludendorffs (1865 – 1937) im Jahre 1918! Ein Verzweiflungsakt, der zwar bewies, dass das Deutsche Reich noch punktuell angriffsfähig war, vielmehr aber aufzeigte, dass die Agonie des Reiches nun mehr oder minder bevorstand. Der Vergleich zum Jahre 1918 könnte intensiver erfolgen und weiter führen, denn selbst ein Besessener wie Generalquartiermeister Erich Ludendorff realisierte im September 1918, dass es genug sei, dass eine politische Lösung herbeigeführt werden müsse, diesen Krieg zu endigen, um größeren Schaden von Volk und Reich abzuwenden. Aber eine politische Lösung lag außerhalb der Vorstellungen eines Diktators, der inzwischen zur wagneresken Inszenierung des eigenen Untergangs ansetzte. Die Verluste, die das Deutsche Reich und dessen Bevölkerung erlitten, schnellten demgemäß in der zweiten Hälfte des Jahres 1944 und insbesondere in den ersten Monaten 1945 in astronomische Höhen, wie die Zahlen belegen. Zwischen dem 6. Juni 1944 und dem 8. Mai 1945 traten Verluste ein, wie in den fünf Jahren des Krieges zuvor in Summa nicht. Inbegriffen sind hier u. a. die 600.000 zivilen Luftkriegstoten im Zuge des strategischen Bombenkrieges der Alliierten. Unbezifferbar sind indes die Verluste an Kulturgütern, von Infrastruktur und Industrieanlagen und immaterieller Güter wie über Jahrhunderte gewachsener Siedlungsgemeinschaften etc., die in Mitteleuropa in der Endphase des Krieges zerstört und vernichtet wurden. Flucht und Vertreibung und die Gefechtshandlungen auf Reichsgebiet forderten noch weitere Verluste, wovon die Kämpfe in Ostsachsen und der Lausitz oder im Hürtgenwald in Westdeutschland einen drastischen Eindruck vermitteln, von den Zerstörungen in den Ostprovinzen – Ostpreußen, Pommern, Schlesien – gar nicht zu reden. Und wenn nach dem hypothetischen Nutzen eines erfolgreichen Verlaufs des Staatsstreichs und versuchten Tyrannenmords vom 20. Juli 1944 gefragt wird, so läge er zumindest hier: jene horrenden Schäden und Hekatomben von Toten verhindert zu haben.

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Abb. 1: Deutsche Verluste im Zweiten Weltkrieg

II. Der Krieg auf Reichsgebiet Zum Krieg auf Reichsgebiet selbst, das bis in das Spätjahr 1944 von aktiven Kampfhandlungen verschont blieb: Der militärische Blick nimmt die Zivilbevölkerung oftmals nur in geringem Maße oder gar nicht wahr13. Wenn man in die heutigen Vorschriften der Bundeswehr blickt, dann findet Zivilbevölkerung dergestalt statt, dass zum Beispiel der Militärpolizei (Feldjägertruppe) die Aufgabe der Lenkung von Flüchtlingsbewegungen zugewiesen wird14. Wohin aber diese Bewegungen zu lenken sind, bleibt vage. Und aus welchen Gründen oder unter welchen Gesichtspunkten, nach welchen Kriterien frühzeitig, nachhaltig und schonend evakuiert wird oder werden sollte, und vor allem wohin, erwies sich bis zu den WINTEX/ CIMEX-Übungen der Kalten-Kriegs-Periode, wie sie bis 1989 stattfanden, als heikel. Ähnliches gilt für den Zweiten Weltkrieg, wobei erneut zwischen ostwärtigem und westlichem Kriegsschauplatz unterschieden werden muss, wie sich dies allein aus der Perzeption des Gegners und dessen erwarteten Verhaltens gegenüber der Bevölkerung ergab. Von russischen, und mehr noch von sowjetischen Truppen war, eingedenk der Erfahrungen von 1914 und der blutigen Bürgerkriegsgräuel, Schlimmes zu fürchten. 13 In den meisten militärisch/kriegsgeschichtlichen Abhandlungen seit Thukydides taucht die Zivilbevölkerung/die Nicht-Kombattanten bestenfalls als Objekt, als feindselig oder kooperativ oder als Opfer auf, sofern es sich um die eigenen Leute handelt, die erwähnt werden, um das Verhalten des Gegners zu geißeln. 14 Der Verf. denkt hier maßgeblich an die Vorschriften der Militärpolizei/FJgTr (der er selbst entstammt) zur Lenkung von Fluchtbewegungen und zur Evakuierung, vgl. HDV 360/ 200 in der bis in die 90er Jahre des 20. Jhs. gültigen Fassung.

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Welchen Wert die Führung und vor allem Adolf Hitler letzten Endes dem Überleben der Zivilbevölkerung zumaßen, erhellt aus dem berühmten „Nero-Befehl“ vom 19. März 1945, in dem Hitler anwies, dass alle wesentlichen infrastrukturellen, die Daseinsvorsorge der Bevölkerung sichernden bzw. dem Gegner evtl. nützlichen Einrichtungen zu zerstören seien15. Nach dem 20. Juli 1944 strukturierte Hitler die Reichsverteidigung mit stark veränderten Zuständigkeiten neu, indem statt des Ersatzheeres, das heißt der stellvertretenden Generalkommandos, die Gauleiter der NSDAP in ihrer Eigenschaft als Reichsverteidigungskommissare die Organisation der Reichsverteidigung, und damit Teile der vollziehenden Gewalt, übernahmen16. Die Gauleiterschaft behinderte die Gefechtsführung, statt die militärisch Verantwortlichen zu unterstützen, und die Hankes (Breslau), Kochs (Königsberg) und Mutschmanns (Dresden) und andere „Goldfasanen“ sicherten lieber ihr persönliches – bisweilen unredlich erworbenes – Eigentum und ergriffen beim Nahen des Feindes das Hasenpanier, statt ihre Pflicht zu tun. Die tatsächlichen Maßnahmen, wie die Anlage von Panzergräben im Gelände und Panzersperren aus verkeilten Trambahnwägen o. ä. in den Städten, blieben militärisch nutzlos. Im Gegenteil: sie provozierten Gefechtshandlungen in den Städten, die das Leid der Zivilbevölkerung mehrten. Die Aufbietung des „Volkssturms“ zur Heimatverteidigung unterfällt – neben der rechtlichen Einordnung, die hier nicht erfolgen soll – zumindest moralisch einem vernichtenden Urteil. Zu propagieren, Jünglinge und Greise könnten mit behelfsmäßigen Kampfmitteln und Waffen retten, was kampferprobten Soldaten mit militärischer Ausrüstung misslang, ist an frivoler Verantwortungslosigkeit unübertroffen. Kompetenzwirrwarr und -streitigkeiten waren damit bereits vorgezeichnet. Großzügige Evakuierungen unterblieben, und waren ohnehin nicht vorgesehen. Angesichts des „Unwerts“ der Deutschen, die sich, so Hitler, dem stärkeren Ostvolk als unterlegen erwiesen hatten, gedachte dieser seinem Volke nur noch den kollektiven Tod zu. Die Wahrnehmung des Geschehens unterscheidet sich hier deutlich nach Ost und West. Im Westen wurde sowohl 1940 als auch bei den rückwärts gerichteten Bewegungen des Jahres 1945 weitestgehend gemäß den Bestimmungen der Haager Landkriegsordnung gehandelt. Das Kriegsvölkerrecht blieb Maßstab17. Dies schlug sich 15 Vgl. Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof. Nürnberg 14. Nov. 1945 bis 1. Okt. 1946, Bd. XLI – Dokument Speer-27. Die auf den römischen Kaiser Nero abstellende Bezeichnung entstammt der Literatur der Nachkriegszeit. 16 Deren militärische Fachmannschaft tendierte oft gegen Null, doch übertraf deren fanatischer Durchhaltewille jedes militärisch zu rechtfertigende Maß. Namen wie Koch (Ostpreußen), Hanke (Niederschlesien) bieten hier anschauliche Beispiele. Wie oft, wenn Zivilisten auf militärischem Felde dilettieren, waren die Ergebnisse insbesondere für die Zivilbevölkerung vernichtend. 17 Die gegenwärtig weit verbreitete Neigung, das historisches Kriegsgeschehen an der Elle eines rezenten Wertekanons zu messen, führt in die Irre. Es ist stets der kriegs- und völkerrechtliche Rahmen der Periode anzulegen. Alleine die begriffliche Wandlung zeigt indes die Tendenz zur moralisierenden Betrachtung. Was einst als ius in bello galt, mutierte zum Völ-

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selbst in der Befehlssprache nieder, im Westen ist zumeist vom Gegner die Rede, während auf dem ostwärtigen Kriegsschauplatz bolschewistische, asiatische Horden oder ähnliche Formulierungen zur Charakterisierung des „Feindes“ vorherrschen, wobei selbst dieser relativierend zu betrachten ist, der „iustis hostis“ in der Grotiusschen Diktion des 17. Jahrhunderts ist nicht der zu vernichtende Klassen- und Rassenfeind der Epoche der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts. Planmäßige Evakuierungen fanden im Bereich der westlichen Reichsverteidigung, also insbesondere westlich des Rheins, 1939/40 statt, d. h. um auf diese im Zuge der Kampfhandlungen nicht Rücksicht nehmen zu müssen. Man stellte sich auf einen französischen Angriff ein und wollte diesem die Zivilbevölkerung entziehen. Im Osten ab dem Herbst 1944 und insbesondere vom Jahresbeginn 1945 an fanden Evakuierungsmaßnahmen bestenfalls halbherzig statt. Doch in jedem Falle zu spät, und der buchstäblich „überrollte Treck“, als zermalmte Masse aus Menschenund Pferdeleibern mag hier das Schreckensszenario illustrieren18. Auf Abbildungen kann verzichtet werden, denn die Motive sind epochenubiquitär und die apokalyptischen Reiter Albrecht Dürers reichten ohnehin, dem Geschehen eine überzeitliche Bildhaftigkeit zu verleihen: Vernichtung, Tod und Leiden von Mensch und Tier. Die vormalige Kulturlandschaft blieb völlig verheert und unwirtlich zurück, ähnlich wie jener große Teil des französischen Staatsgebiets, der im Ersten Weltkrieg zum Schlachtfeld geworden war und vielfach noch zum Beginn des Zweiten Weltkriegs die Narben der Verwüstung trug19. Anders im Osten. Der Aufruf Ilja Ehrenburgs (1891 – 1967) „Tötet die Deutschen“ ist exemplarisch. Zitat: „Soldaten der Roten Armee! Tötet! Tötet! Kein Deutscher ist unschuldig, weder die Lebenden nach die Ungeborenen. Folgt dem Aufruf des Genossen Stalin und tötet die faschistischen Bestien in der Höhle. Gewaltsam brecht den Rassenstolz der deutschen Frau. Nehmt sie euch in gerechter Revanche.“20 kerrecht, dem heute noch das bezeichnende Adjektiv „humanitär“ vorangestellt wird. Insbesondere die Phänomene/Rechtsinstrumente der Desertion und der Repressalie sind heute kaum mehr „mit den Augen der Zeit“ zu vermitteln. Weiterhin muss festgehalten werden, dass die Sowjetunion die Genfer Konventionen der zwanziger Jahre, u. a. hinsichtlich des Roten Kreuzes, nicht ratifiziert hatte, so dass der ostwärtige Kriegsschauplatz von daher als unter Kriegsvölkerrechtsaspekten rechtsfreier Raum einzustufen ist. 18 Unbeschreibliche Szenen spielten sich unter schweren und schwersten Luftangriffen und Artilleriebeschuss in den Häfen von Pillau, Gdingen [seinerzeit Gotenhafen, poln. Gdyna], Danzig und Swinemünde ab, wo jene, die es bis dorthin geschafft hatten, erkennen mussten, dass nicht ausreichend Schiffsraum verfügbar war. Sehr eindringlich sind hier die Schilderungen des Truppenarztes Peter Bamm, in seinem autobiographischen Roman – Peter Bamm, Die unsichtbare Flagge. München 1952. 19 Ein Aspekt übrigens, der in der deutschen Nachbetrachtung zum Ersten Weltkrieg zu selten hinreichend gewürdigt wird, gerade im Zuge der Reparationsdebatte nach dem Frieden von Versailles dürfte man hier, bei aller Leidenschaft im Kampf gegen den „vergifteten“ Friedensschluss, die Verheerungen französischen Staatsgebiets nicht geringschätzen. 20 Vgl. Manfred Zeidler, Die Rote Armee auf deutschem Boden, in: MGFA Bd. 10/1 (wie Anm. 4), 686 ff. Der Fall Ilja Ehrenburg. Ehrenburgs Aufruf kann kontrapunktisch zum hitlerschen Kommissarbefehl von 1941 betrachtet werden. Als Beleg für ein planhaftes Verhalten

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Man rekurriere auf das Jahr 1914, als erstmals zaristisch-russische Truppen im nördlichen Ostpreußen eine Spur der Verwüstung hinterließen, ohne dass das Element der Revanche des jahrelangen Vormarsches durch eigenes verwüstetes Land erklärend hätte herangezogen werden können, denn zuvor hatte kein deutscher Soldat russischen Boden betreten. Es ist hier auf die moralische Verfassung der russischen Truppe abzustellen, in der es grundsätzlich zu disziplinären Problemen, auch solchen mit der Manneszucht, kam. Hinzu gesellten sich die völlige Enthemmung durch Alkohol und die Verrohung der Truppe durch vier Jahre Krieg im eigenen Land, wie der ohnehin eher geringe Stellenwert, der Menschenleben generell in der Sowjetunion beigemessen wurde21. In anderen Beiträgen dieses Bandes findet das Thema der Vergewaltigungen einen breiteren Raum, hier sei nur darauf verwiesen, dass jede Armee – und dies ist mehr als ein Topos, sondern höchst physisch zu nehmen – seit Alters her eine enorme Schleppe menschlichen Erbgutes hinterlässt. Kriegsgeschichtliche Beispiele zeugen hiervon en masse: man denke an den „Mongolenfleck“ in Nordfrankreich. Bezeichnend ist hier das Verhalten französischer Kolonialtruppen z. B. in Südwestdeutschland 1945, aber auch bei deren Vormarsch in Italien 1943 ff. Die für mitteleuropäische Verhältnisse seit dem Dreißigjährigen Krieg ungewohnten Grausamkeiten der Roten Armee besitzen einen besonderen örtlichen Bezugspunkt: das ostpreußische Nemmersdorf, das sowjetische Truppen im Oktober 1944 nahmen und besetzten22. Dabei kam es zu erheblichen Verlusten unter der ortsansässigen Zivilbevölkerung, enormen Schändungen der weiblichen Bewohner von jungen Mädchen bis zu Greisinnen, die deutscherseits propagandistisch ausgenutzt und dargeboten wurden. Nicht zuletzt, um die Motivation der Truppe zu steigern, aber zudem die Angst vor dem sowjetischen Gegner zu erhöhen, und damit den „fanatischen“ Durchhalte- und Siegeswillen zu beflügeln. Ein letztes Aufgebot bildet schließlich der Deutsche Volkssturm. Die Semantik von „Volk“ und „Sturm“ erinnert nicht von ungefähr an das Jahr 1813 und die siegreich beendeten Befreiungskriege – Nun, Volk steh’ auf und Sturm brich’ los – was eben kein Ausspruch Joseph Goebbels (1897 – 1945) ist, sondern auf Theodor Körner (1791 – 1813) zurückreicht23. Bereits jenseits des Kriegsvölkerrechts taugt auch dieser nur begrenzt, denn dessen Umsetzung hing von der Haltung örtlicher militärischer Führer ab. 21 Überhaupt lohnt ein Blick auf die Verrohung der russisch-sowjetischen Gesellschaft, wie sie mit dem Ersten Weltkrieg einsetzte, sich über Revolution und Bürgerkrieg zu ungeahnter Brutalität steigernd und in das System des GULAG als systemische Normalität der Herrschaftspraxis mündend. Innerhalb der Roten Armee mögen hierfür die „Säuberungen“ der Jahre 1937/38 und die Schauprozesse gegen hohe und höchste Militärs – u. a. Marschall Tuchatschewski – stehen. Zu den Verrohungen des Bürgerkriegs u. a. Orlando Figes, Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 – 1924, Berlin 2011. 22 „Hass [erfu¨ llt uns], seit wir gesehen haben, wie in dem von uns su¨ dlich von Gumbinnen wieder eroberten Gebiet die Bolschewiken gehaust haben, es kann kein anderes Ziel geben als durchzuhalten und unsere Heimat zu schu¨ tzen.“ Generaloberst Reinhard an seine Frau nach dem Besuch in Nemmersdorf, zit. n. Kershaw, Ende (wie Anm. 3), 141. 23 Vgl. Theodor Körner, 1813 (1791 – 1813) Das Volk steht auf, der Sturm bricht los. / Wer legt noch die Hände feig in den Schoß? / Pfui über Dich Buben hinter dem Ofen, / Unter den Schranzen und unter den Zofen! […].

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am 25. September 1944 befahl Hitler die Aufstellung des Volkssturms aus Jünglingen und Greisen24. Daneben steht die Erklärung zahlreicher nicht befestigter Orte im Osten Deutschlands zu „Festungen“25. Der fanatisch geführte Kampf um Breslau – hier ist der Name des niederschlesischen Gauleiters Karl Hanke (1903 – 1945) zu nennen – oder die verzweifelte Verteidigung der ostpreußischen Hauptstadt, Königsberg, die dann in eine dreitägigen Plünderung der Sowjets mündete – mögen hierfür stehen. Seit der Plünderung Magdeburgs durch Tillys Truppen – anno 1631 – hatte Mitteleuropa gleiches nicht mehr gesehen. Neben dem Volkssturm, in seiner völligen militärischen Ineffizienz, tritt das Wirken und Wüten der Standgerichte in den Fokus der Betrachtung jener letzten Kriegsmonate und der Kämpfe auf Reichsgebiet. Wobei nicht unmittelbar auf die Wehrmachtsjustiz abgestellt werden darf, denn die Standgerichtsbarkeit der Truppe ist als ,Behelfsjustiz‘ außerhalb der ordentlichen Wehrmachtsgerichtsbarkeit im engeren Sinne angesiedelt26. Wobei selbst reguläre Kriegsgerichte, der Fall des späteren baden-württembergischen Ministerpräsidenten Filbinger spricht Bände, noch bis in die letzten Kriegstage hin nach dem Militärstrafgesetzbuch Todesurteile verhängten und vollstrecken ließen27. Das Füsilieren von Deserteuren ist zwar in den Militärstraf-

24 Fu¨ hrer-Erlass v. 25. 09. 1944 „Dem uns bekannten totalen Vernichtungswillen unserer ju¨ disch-internationalen Feinde setzen wir den totalen Einsatz aller deutschen Menschen entgegen. […] Ich befehle: 1. Es ist in den Gauen des Großdeutschen Reiches aus allen waffenfähigen Männern im Alter von 16 bis 60 Jahren der deutsche Volkssturm zu bilden. Er wird den Heimatboden mit allen Waffen und Mitteln verteidigen, soweit sie dafu¨ r geeignet erscheinen.“ zit. nach: Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933 – 1945, hrsg u. komm. v. Walther Hofer, Frankfurt/M. 21957, 252 f. Ergänzend hierzu folgten Bestimmungen über die Ausrüstung und schließlich das Strafrecht des Deutschen Volkssturms mit der Konsequenz, dass alle deutschen Männer vom 16. bis 60. Lebensjahr de facto unter „Kriegsrecht“ standen. 25 Fortifikatorisch verfügten Städte, wie Breslau oder Königsberg, zwar über Wehranlagen aus dem 19. Jahrhundert, doch waren diese für eine zeitgemäße Verteidigung in keiner Weise geeignete, abgesehen von der Frage, was mit der Zivilbevölkerung geschehen solle. Doch darf die moralische Wirkung des Begriffs „Festung“ nicht völlig unterschätzt werden, zumal mit Filmen, wie „Kolberg“, das heroische Durchhalten publikumswirksam inszeniert und vorbildlich präsentiert wurde. 26 Maßgeblich zu diesem Thema Manfred Messerschmidt, Wehrmachtjustiz 1933 – 1945. Paderborn 2005. 27 Hans Karl Filbinger (1913 – 2007), von 1966 bis 1978 baden-württembergischer Ministerpräsident, diente als Marinerichter in Norwegen und verantwortete mehrere Todesurteile und Exekutionen, die mit dem MStGB (Militärstrafgesetzbuch) völlig in Einklang standen, ohne als besonderes NS-Unrecht qualifizierbar zu sein. Es darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Verschärfung der militärstrafrechtlichen Bestimmungen mit der KSSVO (Kriegssonderstrafrechtsverordnung) von 1942 die Grundlage für eine höchst rigide Anwendung der Todesstrafe bot, wie zudem die zivile Strafjustiz durch die Einführung von Auffangtatbeständen, wie der ,Wehrkraftzersetzung‘, die Schwelle für Todesurteile herabsetzte. Die Zahlen sprechen für sich: während im Ersten Weltkrieg von deutschen Militärgerichten 150 Todesurteile verhängt und davon 48 vollstreckt wurden, waren es im Zweiten Weltkrieg mehr als 30.000 bei einer beachtlichen Dunkelziffer für die letzten Kriegsmonate.

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gesetzbüchern aller europäischen Armeen (teils bis in die Gegenwart) verankert28. Die unglaublichen Exzesse der z. T. ,fliegenden‘ Standgerichte, deren Wüten noch in den letzten Kriegsmonaten Tausende den Kopf kostete, sind singulär. Es ist dies vielmehr eine jener toxischen Ausblühungen des Machtmissbrauchs der Nationalsozialisten und ihrer fanatisierten Gefolgschaft, die, wie z. B. Feldmarschall Ferdinand Schörner (1892 – 1973), nicht begreifen wollten, dass dieser Krieg verloren war. Der Reichsverteidigungskommissar des Gaus Berlin und mithin der Reichshauptstadt, Joseph Goebbels (1897 – 1945), erkannte zwar, dass alles verloren war, ließ aber nicht von seinem obsessiven Durchhaltewillen ab29. Weitbekannt ist eine Photographie, die Goebbels bei der Auszeichnung eines Sechzehnjährigen mit dem Eisernen Kreuz im schlesischen Lauban zeigt (Abb. 2)30.

Abb. 2: Joseph Goebbels mit HJ

28 Obgleich z. B. in Großbritannien die Todesstrafe in den 1960er Jahren abgeschafft wurde, blieb sie im Militärstrafrecht bis 1998 bestehen. 29 „Wir geben in Berlin Befehle, die unten praktisch überhaupt nicht mehr ankommen, geschweige denn, dass sie durchgeführt werden können. Ich sehe darin die Gefahr eines außerordentlichen Autoritätsschwunds.“ Joseph Goebbels, Tagebuch, 28. März 1945, zit. n. Kershaw, Ende (wie Anm. 3), 407. 30 ADN-ZB/Archiv 9. 3. 1945 II. Weltkrieg 1939 – 45 Deutsch-Sowjetische Front: Reichspropagandaminister Goebbels begrüßt in Lauban (Niederschlesien) den mit dem EK II ausgezeichneten sechzehnjährigen Willi Hübner, März 1945.

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Diese Bilder sprechen für sich. Und dass Erscheinungen wie die Gauleiter, oder gar der Reichsführer SS, Heinrich Himmler (1900 – 1945), dann sogar zum Heeresgruppenbefehlshaber avancierend und militärisch völlig überfordert, prätentiös und selbstsüchtig die Kampfführung nachteilig beeinflussten, ist ein wesentlicher Teilaspekt der letzten Kriegsphase. III. Sachsen als operativ nachrangiger Raum zwischen dem Stoß auf Berlin und den Operationen südlich des böhmischen Raums Um damit auf Sachsen als Operationsgebiet zu kommen, soll erneut die Ausgangslage des Januar 1945 skizziert werden. Der Schwerpunkt liegt dabei auf dem Osten. Es ist die Erste Weißrussische Front unter Marschall Schukow und die erste Ukrainische Front unter Marschall Konjew, auf die es hier ankommt. Jene beiden Heerführer, die von Stalin unter der Prämisse des divide et impera vorangetrieben wurden, um den Siegeslorbeer, den Preis der Einnahme von Berlin zu erringen. Beide entsprachen dem Kalkül des Kreml-Diktators, indem sie rücksichtslos und ohne Schonung der eigenen personellen und materiellen Ressourcen zum Angriff auf Berlin ansetzen31. Dabei erlitten Schukows Truppen, insbesondere beim Durchbruch ostwärts der Seelower-Höhen, horrende Verluste, diese hätten vermieden werden können, sofern Schukow zur Umfassung bei frontaler Bindung angesetzt hätte, stattdessen wählte er den Angriff an der stärksten Stelle der deutschen Verteidigung. Die Abb. 332 zeigt den sächsischen Raum, geographisch durch die Gebirgskämme des Riesengebirges und des Erzgebirges abgeschirmt vom Stoßkeil der 2. und 4. Ukrainischen Front im Böhmischen mit Operationsziel Prag. Weiter südlich gehen sowjetische Kräfte auf Wien vor. Sachsen lag damit vor allem südlich der Angriffsachse der 1. Ukrainischen Front, also Konjews, der rittlings der Oder in westlicher Richtung angreifend, mit seinem nördlichen Nachbarn, Schukow, um den Berliner Siegespreis wetteiferte. Entsprechend kam es bis in den frühen Mai hinein zumindest im sächsischen Kernland, in Mittelsachsen, zu keinen wesentlichen Gefechtshandlungen. 1. Zweierlei Kriegsende Es sind in Sachsen grob drei Zonen unterscheidbar. Die westliche Zone, wo USTruppen angriffen. Die Wehrmacht verzögert hier bestenfalls halbherzig oder jedenfalls nur so intensiv, wie es erforderlich war, um den Vorwürfen militärstrafrechtlich relevanten Unterlassens zu entgehen und nicht vor ein deutsches Standgericht zu geraten. In der ostwärtigen Zone fanden deutlich intensivere Kämpfe statt, wo u. a. pol31 Allerdings gehörte der personalschonende Ansatz von Kräften ohnehin nicht zum Grundbestand sowjetischer militärischer Führungskunst. 32 Karte ex: Christian Hartmann, Unternehmen Barbarossa. München 2012, 106.

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Abb. 3: Frontverlauf 1945

nische Großverbände, nämlich die 2. Polnische Armee, eingesetzt waren. Hier sind die Gefechte um Bautzen in der Zeit vom 19. bis 24. April zu nennen. Trotz relativ geringer Kampfkraft der Reste der Deutschen Wehrmacht gelang es hier, den polnischen Truppen deutliche Abwehrerfolge abzuringen. Das heißt, der Gefechtswert der dort eingesetzten deutschen Kräfte kann noch immer als hoch gelten.

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Mittelsachsen – die mittlere Zone – wurde erst nach dem Abschluss der BerlinOperation, also am 2. Mai 1945 zum Kriegsschauplatz, nachdem die nunmehr umgruppierten und nach dem Fall Berlins freigesetzten sowjetischen Kräfte etwa ab dem 5. Mai, weniger kämpfend als ungehemmt vorgehend, gen Sachsen eindrangen, und die ihnen gesetzten Ziele gewannen, ohne sie nehmen zu müssen. Die Schnelligkeit des Vormarschs spricht dafür, dass deutsche Truppen keinen ernsthaften Widerstand mehr leisteten. Es fielen: Dresden am 8. Mai 1945 gleichermaßen Pirna und Chemnitz. Zeitgleich gewannen zwischen dem 7. und 9. Mai sowjetische Truppen die Erzgebirgskämme, um von hier Prag zu erreichen. Die Verluste blieben, gemessen an der Monatsrate der deutschen Verluste in der Endphase des Krieges von 300.000 bis 400.000 Mann moderat. Es fielen in Sachsen etwa 8.000 Deutsche und 20.000 Sowjets, was als statistischer Beleg für die Aussage „Nebenkriegsschauplatz“ herangezogen werden kann. Es kam mithin im Frühjahr 1945 für das Erleben des Kriegsendes sehr darauf an, wo sich ein Zeitgenosse zu diesem Zeitpunkt befand. Für jene, die sich im amerikanisch besetzten Gebiet aufhielten, verlief das Kriegsende daher eher glimpflich, und bei der Übergabe Westsachsens durch die Amerikaner an die Sowjets blieben Plünderungen, Massaker und Vergewaltigungen aus, die in Ostsachsen zu verzeichnen waren. Von den Schändungen zeugen diskret die anonymen Kindergräber aus den ersten Monaten des Jahres 1946, als manche Frau sich der fremden Leibesfrucht entledigte. Unter den Massakern ist jenes von Niederkaina am 22. April 1945 zu nennen, wo sowjetische Truppen 195 Volkssturmmänner in eine Scheune sperrten und diese dort verbrannten33. Deutsche Truppen wiederum massakrierten sowjetisches Lazarettpersonal und Verwundete in Bautzen. Charakteristisch für die „Zusammenbruchsgesellschaft“ (Kleßmann) ist ein umfassender Fatalismus, der in dem Motto „Genießt den Krieg, der Friede wird fürchterlich“ fassbar ist. Der durch nichts mehr rational zu begründende Glaube an den Führer und an Wunderwaffen kontrastiert mit einer Vielzahl individueller und kollektiver Suizide. Partei-Funktionäre richteten sich und die Ihren, wie der Leipziger Oberbürgermeister, Alfred Freyberg (1892 – 1918.4.45), der Tochter, Ehefrau und sich selbst in seinem Leipziger Büro tötete. Bekannt ist das Zeugnis der Magda Goebbels (1901 – 1. 5. 1945), die ein Leben ohne den Führer und den Nationalsozialismus für unwert hielt, und ihre Kinder eigenhändig vergiftete. Und mancher Parteifunktionär oder Offizier überließ seiner Ehefrau beim letzten Heimaturlaub eine Waffe, um sie davor zu bewahren, in die Hände des Feindes zu fallen. 2. Die Einnahme der Ortschaft Schwepnitz bei Königsbrück – ein Beispiel Das Geschehen bei der Einnahme der meisten sächsischen Orte ist vergleichbar. Pars pro toto sei hier der Kampf um Schwepnitz geschildert. Die Ortschronik der 33

Die Toten ruhen heute auf dem St. Michaelis-Friedhof in Bautzen.

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Gemeinde Schwepnitz schildert sehr eindringlich das Erleben des Kriegsendes in der sächsischen Provinz. Als im April 1945 die Front von Osten an Schwepnitz heranrückte, konnte die Unruhe in der Bevölkerung durch die NS-Autoritäten nur mühsam unter Kontrolle gehalten werden. Es wuchs die Sorge um Leben und Besitz und die Frage nach einer evtl. Evakuierung kam auf. Was in den Kriegstagebüchern der Großverbände nur Verzögerung und Gegenstoß genannt wird, bekommt in der Ortschronik eine deutlichere Farbe, Namen und Gesicht – Schicksale einzelner Bürger und eines ganzen Dorfes scheinen auf, das in den letzten Apriltagen des Jahres 1945 zweimal den Besitzer wechselte: Deutsche – Sowjets – Deutsche und schließlich dauerhaft die Sowjets. Die Leidensgeschichte der Zivilbevölkerung zwischen verteidigenden Truppen und angreifendem Gegner, zwischen Brand, Vergewaltigung und Massaker, wird an diesem Fallbeispiel greifbar34. 34 Am 10. 11. 2016 trug die Bürgermeisterin der Gemeinde Schwepnitz (Nähe Königsbrück/ Sachsen), Frau Elke Roethig, anlässlich der feierlichen Einweihung der Gedenkstätte für die Toten des Zweiten Weltkriegs auf dem ev. Gemeindefriedhof den folgenden, vom Verf. leicht gekürzten Text vor. Dieser ist nach der Schwepnitzer Ortschronik verfasst, wie sie bei der Gemeindeverwaltung Schwepnitz (Archiv) vorliegt. Der Verf., der als Vertreter des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge an der Gedenkfeier teilnahm, dankt Frau Roethig sehr herzlich für den bewegenden und erhellenden Vortrag und dessen Überlassung für die vorliegende Publikation. […] Ich möchte Ihnen an dieser Stelle ein paar Auszüge aus der Geschichte von Schwepnitz schildern, um zu verstehen, warum wir hier stehen und es dieses Grab gibt. Am 19. April 1945 näherte sich die Front unserem Heimatort [Schwepnitz], Kamenz und Hoyerswerda waren bereits überrollt. In den Abendstunden war, wie bereits erwähnt, das Grollen der Geschütze im Osten zu hören, und als es finster wurde sahen die entsetzten Einwohner die Granateinschläge wie Wetterleuchten. Zu diesem Zeitpunkt wurden von den deutschen Truppen die Einwohner von Schwepnitz zur Flucht aufgerufen. Die Sirene in den Abendstunden gab das seit langem befürchtete Kommando. Ein großer Teil unserer Einwohner reihte sich in die Trecks ein und versuchte, sich vor den heranrückenden Truppen zu retten. Ja, zu retten. Am 20. April kam der endgültige Befehl zur Räumung. Die noch verfügbaren Fahrzeuge wurden mit den wichtigsten Habseligkeiten beladen – was sind Habseligkeiten – kann man es heute noch einschätzen? Pferde und Ochsenfuhrwerke wurden angespannt, und auch Handwagen und Fahrräder dienten als Fluchtmittel. Der für den eingezogenen Bürgermeister Ulrich amtierende Bürgermeister Georg Böhme schickte einen Treck mit Schwangeren, Frauen und Greisen in einem LKW, gelenkt von Vinzenz Scheil und einer Zugmaschine auf die Flucht. Übrigens der Bürgermeister Georg Böhme, verschleppt in das NKWD-Lager Tost und gestorben, christlich bestattet vom Pfarrer Labus in Tost/Schlesien 1946. Es ging über Steinbach, Kreis Großenhain, wo am nächsten Tag das erste Schwepnitzer Fluchtkind geboren wurde, in Richtung Südwesten. Einen Tag später wurde in Kesselsdorf das zweite Kind geboren. Der Treck zog am 27. April nach Halsbrücke, von wo es am 06. Mai weiterging. Über Thalheim und Dorf Chemnitz erreichte man schließlich am 19. Mai Thierfeld bei Zwickau. Erst am 09. Juni machten sich die meisten dieses Trecks wieder auf den Rückweg, und sie trafen am 10. Juni 1945 wieder in Schwepnitz ein. Ein zweiter Treck zog am 20. April über Radeburg-Meißen-Roßwein nach Nossen. Andere zogen bis Berggieshübel und Gottleuba, sogar bis in die Tschechei und die letzten kamen nur bis Cosel, Zeisholz oder Sella. Wieder andere versteckten sich in den Kellern oder wo sie meinten, sicher zu sein. Am Abend des 20. April 45 begann der Kampf um den Ort. Die Rote Armee mit ihren Verbündeten erreichte Schwepnitz. Die ersten kamen über den Ochsenberg und die Kamenzer Straße, als erstes stand das Haus des Lehrers Büttner auf der Kamenzer Straße in Flammen. Die Front rückte dann

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über den alten Sportplatz zum Molkereiberg vor, wo Domschkens Scheune brannte. Das Dorf wurde besetzt. Die in den Wochen zuvor unter Zwang vom Volkssturm errichteten Panzersperren an der Hoyerswerdaer Straße und Kamenzer Straße sowie Brackenweg hatten sich als völlig sinnlos erwiesen. Die Kampfhandlungen forderten viele Opfer, vor allem unter den deutschen Soldaten und der Zivilbevölkerung. 41 Militärangehörige aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands und den ehemals eroberten Gebieten musste ihr Leben lassen. Die Zivilbevölkerung erlitt merkliche Verluste. Ich möchte an dieser Stelle an ein besonders grausames Massaker erinnern, das in der Nacht vom 20. zum 21. April im Keller des Hauses Dresdner Str. 6, früher Drogerie Tamm, heute Physiotherapiezentrum der Westlausitz, angerichtet wurde. Die einrückenden Truppen hatten offensichtlich alle männlichen Zivilisten, die greifbar waren, in diesen Keller zusammengetrieben und durch die Kellerfenster mit Maschinenpistolen erschossen. 7 verloren auf diese schreckliche Art und Weise ihr Leben. Der Älteste war Ernst Schulz aus der Schulstraße mit 72 Jahren; der Jüngste Kurt Fenzel mit knapp 43 Jahren. Weiter kamen in diesem Keller um: Reinhold Kühne, Hüttenstraße, Heinrich Walter Hofmann, Am Gattertor, Friedrich Otto Richter, Hinter den Höfen, Max Erwin Hennersdorf, Pfarrgasse, Friedrich Albert Schütze, Hüttenstraße. Nur einer blieb am Leben, Fritz Kubisch. Er verharrte unter den Toten, bis ihn am nächsten Tage die Rettung gelang und er sich tagelang in der Hütte verstecken konnte. Am nächsten Tage fand man Wilhelm Kostrewa und Max Simmang erschossen auf. Noch am Tage zuvor war Richard Kubisch von der Siedlung, der geglaubt hatte in seiner Uniform des Deutschen Roten Kreuzes passierte ihm nichts, erschossen worden. Und unweit kamen die beiden halbwüchsigen Jungen, Meinert und Balzer, durch eine Handgranate ums Leben. Mit der Einnahme von Schwepnitz schien der Krieg zu Ende. Die Opfer wurden begraben. Die Sieger richteten im Hause Dresdner Str. 2 (heute Haus Julia) ihre Kommandantur ein. Jedoch die deutsche Wehrmacht sammelte sich nochmals zu Sturm. Das war offensichtlich der Roten Armee und den Verbündeten nicht unbekannt geblieben und sie trieben in den letzten Apriltagen noch alle verbliebenen Einwohner der Gemeinde aus dem Ort. Die Meisten in Richtung Cosel, Sella und Zeisholz und verharrten dort in ihren Notunterkünften. Es folgte dann die „Entsetzung“ von Schwepnitz durch SS-Verbände. Es waren nochmals verheerende Kämpfe, die zu großen Schäden und zu großen Verlusten führten. Am 1. und 2. Mai 1945 fielen in Schwepnitz 10 deutsche Soldaten. Der Tod aller 23 am heutigen sowjetischen Ehrenmal Genannten ist ebenfalls an diesen Tagen verzeichnet. Die letzte Kampfeswelle überrollte unsere Gemeinde am 8./9. Mai. An dem Tage, als Deutschland in Berlin die Kapitulation bereits unterzeichnet hatte, forderte der Krieg in Schwepnitz noch einmal 41 Opfer. Die Besatzungstruppen, die zuvor jahrelang das Leid ansehen mussten, das die Deutschen über ihre Heimat und in vielen Fällen über ihre nächsten Angehörigen gebracht hatten, konnten ihren Zorn und ihre Rachegefühle nicht bezähmen. So kam es in den folgenden Wochen und Monaten zu vielen Plünderungen, Vergewaltigungen, Diebstählen usw. Die neue Macht war noch nicht konsolidiert, so folgte am 13. Juni 1945 eine Verhaftungswelle in Schwepnitz. Abgeholt wurden damals die Einwohner Loogk, Knobloch, Wagner, Fiedler, Böhme, Zeiler Thiel, Porstmann, Kloß, Wolf, Schnippa, Herkner, Weiße und Messerschmidt. 10 von ihnen sahen ihre Heimat nie wieder. Über die Stationen Kamenz und Bautzen sind sie in Tost/Schlesien bis Dezember 1945 verstorben. […] Viele Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere der deutschen Wehrmacht und ihrer Gliederungen mussten während der Kämpfe in den April- und Maitagen 1945 in Schwepnitz ihr Leben lassen. Mindestens 22 Zivilisten aus Schwepnitz kamen zu Tode. Bedanken möchte ich mich, dass ich das heute vorgetragene nachlesen durfte in den Chroniken von Schwepnitz und besonders bedanken möchte ich mich bei Hildegrad Rößler als Zeitzeugin. Frau Rößler ist verstorben.

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IV. Fazit Heute ist es en vogue, Gewalt und Krieg mit dem Adjektiv „sinnlos“ zu versehen. Dies hieße jedoch das Wesen des Krieges zu verkennen, denn Gewalt und Krieg gehorchen immer ihrer eigenen Ratio, die sich der moralisierenden Sinnfrage entzieht, und die zumindest auf der Seite der aktiv Handelnden wirkmächtig ist, da sie im Einsatz des Kriegs-Instruments einen Vorteil erblicken. Das heute vielfach bemühte Täter-Opfer-Paradigma greift ebenfalls zu kurz und wird weder dem wissenschaftlichen Bedürfnis differenzierender Betrachtung, noch dem Wesen des Menschen (homo homini lupus est) und des Krieges als agonalem Geschehen gerecht. Krieg ist die Fortsetzung der Politik unter Einmischung anderer Mittel, wie Clausewitz doziert, und alleine der politische Charakter mag sinnstiftend sein, obgleich dies mehr ernüchtert als befriedigt. Aber seit spätestens 1943 fand Politik in der Führung des Deutschen Reiches nicht mehr statt. Das finale Element des kollektiven Suizids eines mitteleuropäischen Kulturvolkes, das Hineinführen in eine inszenierte Götterdämmerung geriet hier zur Leitmotiv des Regimes. Zusammengefasst: Sachsen lag am Rande der wesentlichen Gefechtshandlungen gegen die sowjetischen Truppen. Eine Ausnahme bildet hierbei der ostsächsischschlesische Raum, wo insbesondere um Görlitz und Bautzen heftige Kämpfe tobten, deren Intensität an die voraufgegangenen Gefechte in Schlesien allerdings nicht mehr heranreichte. Jedoch litt Sachsen 1944/45 oder genauer gesagt: die sächsische Zivilbevölkerung unter den strategischen Luftangriffen der Westalliierten und später zudem der sowjetrussischen Bomberflotten. Die schweren Luftangriffe auf Chemnitz, Leipzig und vor allem der Luftangriff auf Dresden vom 13. Februar 1945 legen hiervon beredt Zeugnis ab. Vertreter der politischen Rechten fabulieren gerne von alliierten Kriegsverbrechen im Hinblick auf eben diesen Luftkrieg. Letzteres ist mehrheitlich zu bestreiten.35 Meines Erachtens ist der Begriff des „Kriegs[…] Vorgelesen von Elke Röthig zur Einweihung des Denkmals für die gefallenen Soldaten am 10. 11. 2016. 35 Hier sei auf die exzellente Studie von Richard Overy [Richard Overy, Der Bombenkrieg. Europa 1939 – 1945, Berlin 2014] verwiesen, in der die Geschichte des Luftkriegs gleichermaßen wissenschaftlich, wie leidenschaftslos entfaltet wird. Die Vorstellung, dass der Gegner aus der Luft, und möglicherweise sogar unter geringeren eigen Verlusten, niedergerungen werden könne, entbehrt nicht der Faszination, erwies sich aber bisher immer als trügerisch. In der Vorstellung des totalen Krieges Ludendorffscher Prägung figurierte die gegnerische Zivilbevölkerung bereits als wehrwirtschaftlicher Faktor und deren Moral und Durchhaltefähigkeit, zumal in der rüstungstechnischen Produktion, stellen einen wesentlichen Beitrag zur Kriegsführungsfähigkeit einer Macht dar. Schon in den frühen Schriften zum Thema in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, postulierten Theoretiker, wie insbesondere der Italiener Giulio Douhet, die Notwendigkeit, eben dieses Potential des Gegners anzugreifen. Ob es sich im Nachhinein als zweckmäßig erwies, große Teile der Rüstungsproduktion für den Bau von Langstreckenbombern einzusetzen und vor allem hochqualifiziertes Personal in großer Zahl in den Luftwaffen zu binden, das evtl. bei den Bodentruppen besser eingesetzt gewesen wäre, bleibt Spekulation. Während sich der strategische Bombenkrieg gegen die Verkehrsinfrastruktur als besonders erfolgreich erwies, zeitigten die Angriffe gegen Industrieziele ebenfalls

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verbrechens“ heute viel zu weit gefasst, denn das Erringen des Sieges à tout prix liegt in der Natur des Krieges. Gemeine Verbrechen jedoch werden innerhalb des Krieges sehr häufig begangen und sind nicht zuletzt von der Militärjustiz aufs Strengste zu ahnden, dass die deutsche Militärjustiz und vor allem die Standgerichte zum Kriegsende hin exzessiv henkten, merkte ich bereits missbilligend an. West- und Mittelsachsen blieben von schweren Gefechtshandlungen verschont. Sie wurden nicht erobert, sondern letzten Endes nur besetzt. Demgemäß sind die Vorgänge in Sachsen nur begrenzt mit denen in Schlesien, Ostpreußen, Pommern vergleichbar, wo intensive Kampfhandlungen die Bevölkerung in Mitleidenschaft zogen und zu erheblichen personellen Verlusten und Zerstörungen der Infrastruktur beitrugen. Selbst in Brandenburg hinterließ der Krieg tiefste Spuren, von denen die Kämpfe um den Kessel von Halbe zeugen. Mit der Kapitulation und Niederlage der Deutschen Wehrmacht und des Deutschen Reiches am 8./9. Mai 1945 war Sachsen zwar von der unmittelbaren Geißel des Krieges befreit. Doch andere Schrecken folgten bis 1989.

ihre Wirkung, zumal beim Angriff auf Schlüssel- und Engpassbetriebe, wie z. B. die Hydrierwerke (Treibstoff) oder die Kugellagerproduktion (Schweinfurt). Die Angriffe auf zivile Ziele blieben indes in ihren Auswirkungen auf die Stabilität des Regimes und dessen Kriegführungsfähigkeit wirkungslos. Nicht verkannt werden darf allerdings der legitimatorische Effekt auf der britischen Seite, um der eigenen, schwer geprüften Zivilbevölkerung zumindest das Gefühl der Revanche zu geben. Das letzte Argument im Hinblick auf Dresden, dass der Angriff zu dieser Zeit nicht mehr notwendig gewesen sei, verkennt die militärische Logik, die nicht zuletzt darin bestand, Ziele planmäßig zu bekämpfen, und Dresden war – darin liegt die bitter-prosaische Erkenntnis – ganz einfach ,an der Reihe‘.

Die territoriale Besetzung Sachsens 1945 Ein Akt der Befreiung? Von Mario H. Müller, Chemnitz Am 8. beziehungsweise 9. Mai 19451 endete der Zweite Weltkrieg in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte. In den vergangenen 70 Jahren wurden diesem Tag durch Politiker, Historiker, Journalisten und Publizisten unterschiedliche Titulierungen gegeben und verschiedene Bezeichnungen zugeschrieben. Je nach politischer Ausrichtung, gesellschaftlicher Motivation oder den Modalitäten nationaler Vergangenheitsbewältigung wird dieses historische Ereignis als großer Erfolg gefeiert oder als Symbol des Leids angesehen2. In Russland beispielsweise wird der 9. Mai als „Tag des Sieges“3 begangen, wohingegen sich in der deutschen Erinnerungskultur weitgehend die Formulierung der „Befreiung“ durchgesetzt hat4. Diese positiv konnotierte Begrifflichkeit ist durch die Rede des da1

Nachdem am 4. Mai 1945 die deutschen Streitkräfte in den Niederlanden, Nordwestdeutschland und Dänemark kapitulierten, unterzeichnete Generaloberst Jodl drei Tage später, am 7. Mai 1945 in Reims, eine erste umfassende Kapitulationserklärung. Demzufolge sollten alle Kampfhandlungen am 8. Mai um 23:01 Uhr eingestellt werden. An jenem Tag wurde eine zweite Kapitulationsurkunde in Berlin-Karlshorst von den Generalen Friedeburg, Keitel und Stumpf im Namen des Oberkommandos der Wehrmacht unterschrieben. Da zu diesem Zeitpunkt im Deutschen Reich die Sommerzeit galt, erfolgte das Ende des Zweiten Weltkrieges in Europa de facto erst am 9. Mai 1945 um 0:01 Uhr. Vgl. dazu Rainer Schröder, Die Kapitulation – Wirkung und Nachwirkung aus völkerrechtlicher Sicht. In: Rainer Schröder (Hrsg.), 8. Mai 1945 – Befreiung oder Kapitulation? Berlin 1997, 21 – 44, hier 22 f. 2 Vgl. dazu mit weiterführender Literatur Stefan Troebst, Das Jahr 1945 als europäischer Erinnerungsort. In: Matthias Weber/Burkhard Olschowsky/Ivan A. Petransky´ u. a. (Hrsg.), Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven, München 2011, 287 – 298. 3 Vgl. dazu beispielsweise Klaus Dort/Birgit Hoffmann (Hrsg.), Kleines Lexikon der Sowjetstreitkräfte. Berlin (Ost) 1987, 283 Sp. 2., sowie speziell zur Bedeutung dieses Tages Joachim A. Hösler, Der „Große Vaterländische Krieg“ in der postsowjetischen Historiographie. In: Lars Karl/Igor J. Polianski (Hrsg.), Geschichtspolitik und Erinnerungskultur im neuen Russland. Göttingen 2009, 237 – 248, hier 242. 4 Je nach Themenbezug und Sichtweise wird die Betitelung „Befreiung“ in der Publizistik noch mit weiteren Zusätzen ergänzt. Beispielswiese mit dem Topos der „Niederlage“ (Hans Maier, Niederlage und Befreiung/Défaite et libération. Bonn 1996), mit der neutraleren Bezeichnung der „Kapitulation“ (Fritz Petrick (Hrsg.), Kapitulation und Befreiung. Das Ende des II. Weltkriegs in Europa, Münster 1997) oder mit der positiven Prägung des „Neubeginns“ (Bernhard Weißel [Red.], Befreiung und Neubeginn. Zur Stellung des 8. Mai 1945 in der deutschen Geschichte, Berlin (Ost) 1968).

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maligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker vom 8. Mai 1985 bei der Gedenkveranstaltung „zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa“ salonfähig gemacht worden. Weizsäcker konstatierte damals: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“5 30 Jahre nach dieser bedeutsamen Ansprache – im Jahr 2015 – war die Rot-RotGrüne Regierung des Freistaates Thüringen darum bemüht, den „Tag der Befreiung“ als gesetzlichen „Feiertag“ oder „Gedenktag“ zu installieren6. Widerspruch kam aus den Reihen der Oppositionsparteien CDU und AfD7. Hingegen folgten die Parteigenossen von SPD und Linkspartei in anderen Bundesländern dem thüringischen Vorbild. So erklärte beispielsweise die stellvertretende Vorsitzende und Sprecherin für Erinnerungskultur der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag, Hanka Kliese, dass ein solcher Gedenktag auch für den Freistaat Sachsen nicht abwegig sei8. Die historische Wirklichkeit der Geschehnisse im Jahr 1945 in Sachsen tritt bei diesem politischen Diskurs jedoch in den Hintergrund. Es gibt keine wissenschaftlich fundierten Studien, die belegen, dass die sächsische Bevölkerung die alliierten Truppen als „Befreier“ wahrgenommen hat. Deshalb wird im Folgenden am Fallbeispiel Sachsens die Problematik des Begriffs „Befreiung“ diskutiert, wobei gleichzeitig erörtert werden soll, ob diese Bezeichnung aus historischer Perspektive weiterhin vertretbar ist9. Sachsen wurde vor allem deshalb als Beispiel ausgewählt, weil hier 1945 5 Bundespra¨ sident Richard von Weizsa¨ cker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 8. Mai 1985 in Bonn, online unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Ri c h a r d - v o n - We i z s a e c k e r / R e d e n / 1 9 8 5 / 0 5 / 1 9 8 5 0 5 0 8 _ R e d e . h t m l ; j s e s s i o n i d = 25027E6506B605 A95C60308E8B472B1D.2_cid388 (27. 12. 2015). 6 Dies berichteten einstimmig mehrere lokale und überregionale Zeitungen – vgl. beispielsweise „Streit im Thüringer Landtag um den 8. Mai als Gedenktag an die Befreiung“. In: Ostthüringer Zeitung, 28. 5. 2015 online unter: http://www.otz.de/web/zgt/politik/detail/-/spe cific/Streit-im-Thueringer-Landtag-um-den-8-Mai-als-Gedenktag-an-die-Befreiung1712664227; „Thüringen feiert den Tag der Befreiung“. In: Neues Deutschland, 08. 05. 2015 online unter: http://www.neues-deutschland.de/artikel/970487.thueringen-feiert-den-tag-der-be freiung.html, sowie die Medieninformation des thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow unter: http://www.thueringen.de/th1/tsk/aktuell/mi/84182/. 7 CDU-Fraktionschef Mike Mohring entgegnete dem Antrag, dass der 8. Mai 1945 „für einen großen Teil Deutschlands und halb Europa eben nicht Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit [bedeutete], sondern es folgten Unfreiheit und Unterdrückung in einer anderen, kommunistischen Diktatur“. In: „Tag der Befreiung: Mohring lehnt 8. Mai als staatlichen Gedenktag ab“, Thüringische Landeszeitung, 8. 5. 2015 online unter: http://www.tlz.de/web/ zgt/politik/detail/-/specific/Tag-der-Befreiung-Mohring-lehnt-8-Mai-als-staatlichen-Gedenktagab-422914605. 8 Stellungnahme Hanka Kliese zum „Tag der Befreiung“ am 8. Mai 2015 auf der Website der SPD-Fraktion Sachsens: http://www.spd-sachsen.de/kliese-zum-tag-der-befreiung-erinne rung-an-krieg-und-diktatur-wachhalten/. 9 Allgemein zum Begriff „Befreiung“ im Bezug auf die von der Roten Armee besetzten deutschen Gebiete vgl. Silke Satjukow, Befreiung? Die Ostdeutschen und 1945, Berlin/Leipzig 2009.

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eine besondere Lage entstand, denn im Unterschied zu vielen anderen Gebieten des Deutschen Reichs bildeten sich im Mai 1945 in Sachsen drei verschiedene Zonen: Ein durch US-Streitkräfte besetztes Westsachsen, ein durch die Rote Armee erobertes östliches Gebiet, und dazwischenliegend ein unbesetztes Territorium, das später fälschlicherweise als „Freie Republik Schwarzenberg“ bezeichnet wurde. Um sich dem Befreiungsbegriff zu nähern, soll zunächst in einem ersten Schritt (I) die Problematik dieser Bezeichnung im Allgemeinen untersucht werden, bevor in einem zweiten Kapitel (II) die Besetzung Westsachsens unter besonderer Berücksichtigung der Eroberung der Stadt Leipzig sowie das Zusammentreffen der alliierten Verbände bei Torgau und Strehla dargestellt werden. Sodann wird im dritten Abschnitt (III) das Vorgehen der Sowjetstreitkräfte nachskizziert. Die Eroberung Dresdens und die von deutscher wie sowjetischer Seite mit äußerster Brutalität geführten Kämpfe um Bautzen stehen dabei im Vordergrund. Viertens (IV) wird der Mythos der „Freien Republik Schwarzenberg“ genauer beleuchtet. Dabei kann deutlich gemacht werden, dass diese „Republik“ lediglich eine Erfindung weniger deutscher Publizisten gewesen ist.

I. Der Begriff „Befreiung“ ist im deutschen Sprachgebrauch ein positiv konnotiertes Wort, das umschrieben wird mit „Erlösung“ oder „Errettung“ von etwas Negativem, „Freiwerden von Unterdrückung“10 oder „Erleichterung“ und „Verbesserung“ der Situation eines Individuums oder einer Gruppe respektive als eine „Aktion zur Erlangung der Freiheit“11. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass es 1945 – vor allem für das deutsche Volk – eine „Befreiung“ vom diktatorischen NS-Regime gegeben hat, das für millionenfachen Mord verantwortlich war. Allgemein auf das Kriegsende in Europa bezogen muss jedoch differenziert werden zwischen jenen Personengruppen, die den Einmarsch der alliierten Truppen mit den dazugehörigen Begleitumständen als etwas Vorteilhaftes ansahen und erlebten, und jenen, die dadurch Nachteile oder Repressalien zu erleiden hatten. Zunächst sollen die westeuropäischen Länder Niederlande und Frankreich als Beispiele dienen. Die überwiegende Mehrheit der dort lebenden Bevölkerung begrüßte die westalliierten Verbände als „Befreier“, da es ihnen gelang, die nationalsozialistischen Besatzer zu vertreiben, Unrecht zu beseitigen, die persönliche Freiheit des Einzelnen zu garantieren und die Souveränität der Staaten wiederherzustellen. Für eine kleine Gruppe von Personen, nämlich diejenigen, die sich im privaten Bereich mit dem nationalsozialistischen Regime arrangiert oder darüber hinaus als Kollaborateure auf politischer oder gesellschaftlicher Ebene die NS-Besatzer unter10

Vgl. Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. In zehn Bänden. Bd. 2: Bedr – Eink. 3., völlig neu überarbeit. und erweit. Aufl., Mannheim 1999, 487. 11 Vgl. Ruth Klappenbach/Wolfgang Steinitz (Hrsg.), Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Bd. 1: A – deutsch. 9., bearb. Aufl., Berlin 1978, 460 f.

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stützt hatten12, war es hingegen kein Akt der „Befreiung“, da sie fortan einer brutalen Verfolgung durch ihre Landsleute ausgesetzt waren13. Noch fragwürdiger erscheint diesbezüglich die Eroberung der osteuropäischen Länder durch die Rote Armee. Exemplarisch gilt dies etwa für Polen14. Die polnische Bevölkerung litt wie kaum eine andere unter der nationalsozialistischen und bolschewistischen Expansionspolitik des 20. Jahrhunderts. Im „Geheimen Zusatzprotokoll“ des „Deutsch-Sowjetischen Nichtangriffsvertrages“ war am 24. August 1939 die gewaltsame Teilung Polens zwischen den Nationalsozialisten und den Bolschewisten vereinbart worden15. Beide Streitkräfte überfielen ohne vorherige Kriegserklärung die Republik Polen und teilten das Land unter sich auf. Durch beide Seiten wurden unvergleichbare Verbrechen an der Zivilbevölkerung verübt – deutsche Truppen begingen den alles überschattenden Genozid an den polnischen Juden16, sowjetische Einheiten ermordeten gezielt die Mehrheit der polnischen Intellektuellen („Inteligencja“) und der höheren Militäradministration und versuchten, die Sowjetisierung des okkupierten Gebiets voranzutreiben17. Nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion, dem gescheiterten Ost12 Vgl. als Überblick für Frankreich Reinhold Brender, Kollaboration in Frankreich im Zweiten Weltkrieg. Marcel Déat und das Rassemblement national populaire, München 1992; sowie für die Niederlande Gerhard Hirschfeld, Fremdherrschaft und Kollaboration. Die Niederlande unter deutscher Besatzung 1940 – 1945, Stuttgart 1984. 13 Im Zuge dieser persönlichen Racheaktionen, „politischen Säuberungen“ oder offiziellen staatlichen Strafverfahren wurden in Frankreich über 11.000 Menschen getötet oder hingerichtet. Vgl. als kurzen Abriss für Frankreich Herny Rousso, L’Épuration. Die politische Säuberung in Frankreich, in: Klaus-Dietmar Henke/Hans Woller (Hrsg.), Politische Säuberung in Europa. Die Abrechnung mit Faschismus und Kollaboration nach dem Zweiten Weltkrieg, München 1991, 192 – 240, bes. 235; sowie für die Niederlande Peter Romijn/Gerhard Hirschfeld, Die Ahndung der Kollaboration in den Niederlanden. In: Ebd., 281 – 310. 14 Vgl. Eva Kreis, Die Westverschiebung Polens. In: Riccardo Altieri/Frank Jacob (Hrsg.), Spielball der Mächte. Beiträge zur polnischen Geschichte, Bonn 2014, 300 – 314. 15 Vgl. dazu sehr umfangreich und unter verschiedenen Perspektiven betrachtend die Beiträge in Anna Kaminsky/Dietmar Müller/Stefan Troebst, Der Hitler-Stalin Pakt 1939 in den Erinnerungskulturen der Europäer. Göttingen 2011. 16 Vgl. die ältere Studie von Martin Broszat, Nationalsozialistische Polenpolitik 1939 – 1945. Frankfurt am Main 1965; aus diplomatisch-militärischer Sichtweise Janusz Piekałkiewicz, Polenfeldzug. Hitler und Stalin zerschlagen die Polnische Republik. Augsburg 1998; sowie Jochen Böhler, Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen 1939, Frankfurt am Main 2006; zuletzt speziell zum Genozid an den Juden Wolfgang Curilla, Der Judenmord in Polen und die deutsche Ordnungspolizei 1939 – 1945. Paderborn 2011. 17 Das Ziel der sowjetischen Staatsorgane war die Integration des besetzten polnischen Gebietes in die UdSSR. Um dies zu erreichen wurde die polnische Sprache aus dem öffentlichen Leben verbannt, polnischsprachige oder jüdische Presse verboten und ein Großteil der polnischen Intelligenz verfolgt, inhaftiert oder deportiert. (Vgl. dazu Wanda Krystyna Roman, Die sowjetische Okkupation der polnischen Ostgebiete 1939 bis 1941. In: Bernhard Chiari (Hrsg.), Die polnische Heimatarmee: Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg, München 2003, 87 – 109.) Der sowjetische Terror kulminierte schließlich in der massenhaften Tötung polnischer Offiziere, dem über 22.000 Personen zum Opfer fielen. Das sogenannte Massaker von Katyn wurde zum Symbol des sowjetischen Vernichtungsterrors. Vgl. Victor Zaslavsky, Klassensäuberung. Das Massaker von Katyn, aus dem Italieni-

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feldzug und dem damit verbundenen Vorrücken der Roten Armee in Richtung Mitteleuropa wurde die polnische Bevölkerung zwar von der nationalsozialistischen Unterdrückung befreit, sah sich aber zugleich der stalinistischen Machtpolitik ausgeliefert und wurde bald mit einer neuen, diesmal einer kommunistischen Diktatur im eigenen Land konfrontiert18. Diese beiden Beispiele machen deutlich, dass eine allgemeingültige Verwendung des Begriffs „Befreiung“ schon für jene Länder problematisch ist, die Opfer der nationalsozialistischen Expansionspolitik waren. Gleicherweise fraglich ist die Anwendung dieser Bezeichnung auf das Deutsche Reich und dessen Bevölkerung. Auf der einen Seite muss mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass Adolf Hitler sich nicht an die Macht putschte, sondern dass es der Wille eines großen Teils des deutschen Volkes war, der ihn in den Sattel hob – gemessen an den demokratisch zustande gekommenen Wahlergebnissen der Jahre 1932 und 193319. Auch wenn nicht alle Ziele Adolf Hitlers von seinen Wählern mitgetragen wurden, so folgte doch eine Vielzahl der Deutschen ihrem „Führer“ bereitwillig in den Zweiten Weltkrieg20. Aus falsch verstandenem Pflichtgefühl und im Glauben an einen nichtigen Treueeid21 schen von Rita Seuß, Bonn 2008; neuerdings Thomas Urban, Katyn 1940. Geschichte eines Verbrechens, München 2015. 18 Vgl. dazu Andrzej Paczkowski, Polen, der „Erbfeind“. In: Stéphane Courtois (Hrsg.), Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror, aus dem Französischen Irmel Arnsperger, Bertold Galli und Enrico Heinemann u. a. 2. Aufl., München/Zürich 1998, 397 – 429. 19 Vgl. mit weiterführender Literatur Hendrik Thoß, Demokratie ohne Demokraten? Die Innenpolitik der Weimarer Republik, Berlin 2008, bes. 124 – 179; explizit zu dem Wahlverhalten der verschiedenen Sozialschichten Jürgen W. Falter, Die Wahlen des Jahres 1932/33 und der Aufstieg der totalitären Parteien. In: Everhard Holtmann (Hrsg.), Die Weimarer Republik. Bd. 3: Das Ende der Demokratie 1929 – 1933, München 1995, 271 – 314. 20 Allerdings blieb damals ein ähnlicher Begeisterungssturm wie 1914 aus. Zur Relativierung des „Augusterlebnisses“ vgl. Thomas Flemming/Bernd Ulrich, Heimatfront. Zwischen Kriegsbegeisterung und Hungersnot – wie die Deutschen den Ersten Weltkrieg erlebten, München 2014, bes. 29 – 33; sowie Jeffrey Verhey, Der Geist von 1914 und die Erfindung der Volksgemeinschaft. Hamburger 2000. 21 Vgl. dazu den an mehreren Attentatsversuchen auf Hitler beteiligten Widerstandskämpfer Fabian von Schlabrendorff, der nach 1945 mit Nachdruck dafür eintrat, dass die Hitlergegner nicht als Hoch- oder Landesverräter diffamiert wurden. Im Bezug auf den Bruch des Fahneneides verwies er dabei auf die Worte Friedrich des Großen: „Das Volk ist von seiner durch den Eid geleisteten Treuepflicht enthoben, wenn der Herrscher seine oberste Pflicht, für das Wohl des Volkes zu sorgen, verletzt hat.“ (Vgl. Fabian von Schlabrendorff, Sie alle tragen Schuld. In: Wolfgang Göbel (Hrsg.), Der 20. Juli 1944. Reden zu einem Tag der deutschen Geschichte, Berlin 1984, 70 – 75, hier 73; sowie ders., Preußentum und Widerstand. In: Hermann Kunst (Hrsg.), „Für Freiheit und Recht“. Eugen Gerstenmaier zum 60. Geburtstag, Stuttgart 1966, 115 – 129) Im Bezug auf den vorgeworfenen Landesverrat erwidert Schlabrendorff, dass dies nicht zutreffe, da die Widerstandskämpfer mit ihren Handeln dem deutschen Vaterland nicht schaden, sondern im Gegenteil es vor Unheil und Zerstörung bewahren wollten. Vgl. z. B. ders., Der 20. Juli 1944 in nüchternem Rückblick. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. Juli 1974, S. 5; sowie ders./Hans Jürgen von Kleist-Retzow, Landesverrat? In: Rudolf Pechel (Hrsg.), Deutsche Rundschau, Nr. 10, Oktober 1958, 927 – 932.

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leisteten die deutschen Soldaten selbst Anfang 1945 noch Widerstand gegen einen überlegenen Gegner – zu einem Zeitpunkt, als die militärische Lage bereits völlig aussichtslos war. Mit der bedingungslosen Kapitulation am 8. Mai 1945 wurde die deutsche Niederlage allseits offenbar, Millionen deutscher Soldaten gerieten in alliierte Kriegsgefangenschaft. Viele von ihnen starben vor allem in den sowjetischen Lagern unter den dort herrschenden Bedingungen22. Auf der anderen Seite gab es eine relativ kleine deutsche Minderheit, die von Beginn an vor Hitler und dem Nationalsozialismus gewarnt hatte. Nach der Machtübernahme formierten sich Widerstandskämpfer in verschiedenen Gruppen, die allesamt das Ziel hatten, Hitler zu stürzen und das deutsche Volk vor einem sich anbahnenden Krieg zu bewahren. Sie verband der gemeinsame Wille, die nationalsozialistischen Verbrechen zu beenden, die Täter zur Verantwortung zu ziehen und den Rechtsstaat wiederherzustellen23. Mit dem Einmarsch der alliierten Truppen erfüllte sich jedoch nur ein kleiner Teil dieser Hoffnungen. Zwar wurden weitere NS-Morde verhindert und die Täter zumindest teilweise zur Rechenschaft gezogen, doch zugleich wurde aus Sicht der konservativ-patriotischen Widerstandskämpfer das deutsche Vaterland territorial zerstückelt und seiner Souveränität beraubt24. Zudem wurden durch die Rote Armee Millionen von Deutschen aus ihren Heimatgebieten vertrieben25, hunderttausende deutsche Frauen und Mädchen vergewaltigt und zehntausende Zivilis22 Allein in den sogenannten sowjetischen Speziallagern in Deutschland starben von 1945 bis 1950 mehr als 42.000 Personen. Die Opferzahl der in die Sowjetunion deportierten deutschen Kriegsgefangenen liegt bei weit über einer Million. Vgl. zunächst für Deutschland Natalja Jeske, Versorgung, Krankheit, Tod in den Speziallagern. In: Sergej Mironenko/Lutz Niethammer/Alexander von Plato u. a. (Hrsg.), Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945 bis 1950. Bd. 1. Berlin 1998, 189 – 223, hier bes. 192 f.; überblicksartig zu den deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion Albrecht Lehmann, Gefangenschaft und Heimkehr. Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, München 1986; detailliert Kurt Bährens, Deutsche in Straflagern und Gefängnissen der Sowjetunion. 2 Bde. München 1965; zuletzt Andreas Hilger/Ute Schmidt/Günther Wagenlehner (Hrsg.), Sowjetische Militärtribunale. Die Verurteilung deutscher Kriegsgefangener 1941 – 1953, Köln/Weimar/Wien 2001. 23 Vgl. immer noch grundlegend Peter Hoffmann, Widerstand, Staatsstreich, Attentat. Der Kampf der Opposition gegen Hitler, 4., neubearb. und erg. Ausg., München 1985; sowie Joachim Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli, Berlin 1994. Explizit sich mit den Europakonzeptionen der konservativen Widerstandskämpfer beschäftigend vgl. Frank-Lothar Kroll, Europavorstellungen und europäische Neuordnungspläne im deutschen Widerstand. In: Ders. (Hrsg.), Totalitäre Profile. Zur Ideologie des Nationalsozialismus und zum Widerstandspotenzial seiner Gegner, Berlin 2017. 24 Vgl. Wolfgang Benz, Potsdam 1945. Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im VierZonen-Deutschland. 2. Aufl., München 1992; sowie Matthias Uhl, Die Teilung Deutschlands. Niederlage, Ost-West-Spaltung und Wiederaufbau 1945 – 1949, Berlin 2009. 25 Vgl. dazu R. M. Douglas, „Ordnungsgemässe Überführung“. Die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Richter, 3., durchges. und akt. Aufl., München 2012; Wolfgang Benz (Hrsg.), Die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten. Ursachen, Ergebnisse, Folgen, Frankfurt a. M. 1995; zuletzt Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945 – 1956, Zürich 1998.

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ten und Kriegsgefangene ermordet26. Eine pauschalisierende Verwendung des Begriffs „Befreiung“ verbietet sich angesichts der Verbrechen der Roten Armee in Deutschland allgemein und in Sachsen im Besonderen. II. Zu Beginn des Jahres 1945 war das Deutsche Reich militärisch bereits geschlagen. Im März erreichten die Westalliierten den Rhein und drangen rasch – nur punktuell auf starken Widerstand treffend – nach Mitteldeutschland vor. Auf der anderen Seite stieß die Rote Armee Anfang Januar 1945 bis an die Flüsse Oder und Neiße. Die sowjetischen Streitkräfte kamen jedoch aufgrund von Umgruppierungen, die durch die hohen Verluste der vorangegangenen Kämpfe nötig geworden waren, und infolge des unvermindert heftigen deutschen Widerstandes vergleichsweise langsamer voran27. Am 31. März 1945 gab der Oberbefehlshaber der westalliierten Streitkräfte in Europa, General Dwight D. Eisenhower, das anvisierte Ziel Berlin auf. Die Gründe hierfür lagen in der Erkenntnis, dass man den sowjetischen Truppen nicht zuvorkommen könne. Zudem hatten die amerikanischen Befehlshaber großen Respekt vor der sogenannten deutschen „Alpenfestung“28, deren militärischen Kampfwert sie überschätzten. Die Angst vor möglichen Partisanentätigkeiten durch den „Werwolf“29 26 Schätzungen zufolge wurden in dem von der Roten Armee eroberten deutschen Gebiet mehr als 600.000 Frauen vergewaltigt. Für die SBZ ergibt das eine Quote von 7,5 Prozent der dort lebenden weiblichen Bevölkerung. Des Weiteren kamen auf der Flucht vor den sowjetischen Truppen und durch Vertreibung rund 1.640.000 Personen ums Leben. Weitere 580.000 starben bei der Deportation in die Sowjetunion. Vgl. dazu die Graphik in Barbara Johr, Die Ereignisse in Zahlen. In: Dies./Heike Sander (Hrsg.), BeFreier und Befreite. Krieg, Vergewaltigung, Kinder, 2. Aufl., München 1992, 46 – 73, hier bes. 60; die unterschiedlichen Schätzungen der Vergewaltigungsopfer werden ausführlich aufgelistet bei Ingo von Münch, „Frau, komm!“. Die Massenvergewaltigungen deutscher Frauen und Mädchen 1944/45, Graz 2009, bes. 41 – 50. 27 Vgl. dazu umfassend Rolf-Dieter Müller/Gerd R. Ueberschär, Kriegsende 1945. Die Zerstörung des Deutschen Reiches, Frankfurt a. M. 1994, bes. 57 – 79; sowie grundlegend Ian Kershaw, Das Ende. Kampf bis in den Untergang, NS-Deutschland 1944/45, Berlin 2011, 353 – 406. 28 Vgl. speziell im Bezug auf die Besetzung des Gebiets durch amerikanische Truppen Hellmut Schöner (Hrsg.), Die verhinderte Alpenfestung. Das Ende des Zweiten Weltkrieges im Raum Berchtesgaden – Bad Reichenhall – Salzburg, Berchtesgaden 1996; mit der Frage nach der militärischen Bedeutung der „Alpenfestung“ explizit auseinandersetzend Roland Kaltenegger, Operation Alpenfestung. Mythos und Wirklichkeit, München 2000. 29 Darunter ist eine nationalsozialistische Freischärler- bzw. Untergrundbewegung zu verstehen, die im September 1944 von Reichsführer-SS Heinrich Himmler gegründet wurde. Sie sollten mit partisanenartigen Kampfmethoden durch Attentate, Sabotageakte und Hinterhalte die alliierten Verbände schwächen. Vgl. dazu überblickartig Georg Etscheit, Der deutsche „Werwolf“ 1944/45. In: Herfried Münkler (Hrsg.), Der Partisan. Theorie, Strategie, Gestalt, Opladen 1990, 148 – 165; älter, jedoch sehr detailreich Arno Rose, Werwolf 1944 – 1945.

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spielte bei der Entscheidung ebenso eine Rolle wie die Hoffnung, kurz vor Ende des Krieges die eigenen Verluste möglichst zu minimieren30. So ist es den Westalliierten gelungen, das Leben der eigenen Soldaten zu schützen. Die Rote Armee hingegen verlor allein bei der Einnahme der deutschen Hauptstadt 100.000 Soldaten und über 800 Panzer31. Aus diesen Gründen wurde Leipzig als neues Hauptangriffsziel der Amerikaner ausgegeben. Die Stadt zählte zu jener Zeit mit rund 700.000 Einwohnern zu den größten des Deutschen Reiches und war mit 221 Rüstungsbetrieben ein bedeutendes Industrie- und Wirtschaftszentrum32. Generalmajor Hans von Ziegesar (seit Januar 1943 Kommandant von Leipzig), der im Frühjahr 1945 zum Kampfkommandanten der Stadt ernannt worden war, hielt eine Verteidigung mit den ihm zur Verfügung stehenden Kräften für sinnlos33, sodass er am 10. April 1945 von Oberst Hans von Poncet abgelöst wurde, der bereit gewesen war, den Kampf unter allen Umständen aufzunehmen. Wie aussichtslos dieser Widerstand war, wurde deutlich, als die Stadt bereits sieben Tage später, am 17. April 1945, von amerikanischen Truppen eingeschlossen und innerhalb von 48 Stunden nahezu vollkommen besetzt war34. Die deutschen Verbände leisteten gegenüber den amerikanischen Einheiten nur an wenigen Stellen Widerstand. Lediglich zentrale Gebäude wie der Leipziger Hauptbahnhof, das Neue Rathaus oder das Völkerschlachtdenkmal wurden zu Bollwerken ausgebaut und verteidigt. Nach zwei Tagen, am 19. April, war Leipzig bis auf das Völkerschlachtdenkmal, in dem sich der Stadtkommandant Poncet mit letzten Kräften verschanzt hatte, vollständig in alliierter Hand. Die sinnlos gewordene Verteidigung

Stuttgart 1980; sowie als neuere Studie Volker Koop, Himmlers letztes Aufgebot. Die NSOrganisation „Werwolf“, Köln/Weimar/Wien 2008. 30 Dieter und Sven Kürschner, Das Kriegsende in Leipzig und Nordwestsachsen. In: Dietmar Kunz (Hrsg.), Kriegsschauplatz Sachsen 1945. Daten, Fakten, Hintergründe, Altenburg 1995, 30 – 51, hier bes. 30. 31 Die sowjetischen Verluste der ganzen Operation – den Vorstoß von der Oder nach Berlin und die Eroberung der umliegenden Gebiete – werden bei Karl Bahn mit rund 300.000 Soldaten (Getötete, Verwundete oder Vermisste) angegeben. Die Gesamtverluste bei der Schlacht um Berlin belaufen sich daher auf über eine halbe Million. Vgl. dazu Karl Bahn, Berlin 1945. Die letzte Schlacht des Dritten Reichs, Klagenfurt 2003, 167; ähnliche Zahlen sind zu finden bei Tony le Tissier, Der Kampf um Berlin 1945. Von den Seelower Höhen zur Reichskanzlei, Berlin/Frankfurt/M. 1995, 295 f. 32 Vgl. Kürschner, Kriegsende in Leipzig (wie Anm. 30), 30. 33 Generalmajor Ziegesar unterstanden lediglich 1.000 Soldaten, darunter 500 unausgebildete Rekruten, sowie 2.250 Volksturmmänner. Hinzu kamen 400 Mann Revierpolizei, unter der Befehlsgewalt von Generalmajor der Polizei Wilhelm von Grolmann, sowie 3.000 Personen, die nicht an der Waffe ausgebildet waren. Vgl. dazu Günther W. Gellermann, Die Armee Wenck – Hitlers letzte Hoffnung. Aufstellung, Einsatz und Ende der 12. Deutschen Armee im Frühjahr 1945, Koblenz 1984, 69 f. 34 Vgl. dazu überblicksartig Jürgen Möller, Das Kriegsende in Mitteldeutschland 1945. Chronik der amerikanischen Besetzung von Thüringen und Teilen Sachsens und SachsenAnhalts vom 30. März – 8. Mai 1945, 2. Aufl., Nürnberg 2015, hier bes. 17 f., 45 f., 48.

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Leipzigs gegenüber der amerikanischen Übermacht kostete 200 deutsche und 20 amerikanische Soldaten das Leben35. Die westalliierten Verbände waren bestrebt, in den besetzten Regionen einen funktionsfähigen Verwaltungsapparat aufzubauen, der für Sicherheit und Ordnung sorgen sollte. Die Versorgung der Zivilbevölkerung stand dabei an oberster Stelle. Jedoch wurden keine langfristigen Maßnahmen geplant oder gar umfangreiche Organisationsstrukturen aufgebaut, da durch die Beschlüsse der Konferenz von Jalta vom 4. bis 11. Februar 1945 klar war, dass man sich auf einem Territorium befand, welches der Sowjetunion zufallen würde36. Am 21. Juni 1945 wurde Eisenhowers Befehl bekannt, dass sich die westalliierten Truppen – beginnend mit dem 1. Juli – aus den sächsischen Gebieten zurückziehen sollten. Einen Tag später – am 2. Juli 1945 – zogen die ersten Verbände der Roten Armee in Leipzig ein37. Im Vergleich zu den von der Roten Armee eroberten Gebieten, wie beispielsweise Ostsachsen, sind im Bereich Leipzig und Westsachsen keine alliierten Verbrechen bekannt. Auf deutscher Seite hingegen wurden hunderte KZ-Insassen des Buchenwalder Außenlagers Leipzig-Thekla durch SS-Einheiten kurz vor ihrer Befreiung ermordet. Diese Gräueltat ging als „Massaker von Abtnauendorf“ in die Geschichte ein38. SS-Soldaten sperrten 304 kranke und invalide Häftlinge, die nicht „evakuiert“ werden konnten, in eine Baracke, die danach mit Panzerfäusten und Maschinenpistolen beschossen und angezündet wurde. Einer der wenigen Überlebenden, Ryszard Jackowski, schilderte später das Verbrechen so: „Wir konnten durch die Ritzen genau das Aufleuchten der Geschosse sehen. Es ist uns klar geworden, dass das

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Kürschner, Kriegsende in Leipzig (wie Anm. 30), 41. Das Hauptziel der neu installierten amerikanischen Besatzungskontrolle war Sicherheit und Ordnung herzustellen. Dafür wurde eine Reihe von Maßnahmen getroffen, die vor allem der Zerschlagung der nationalsozialistischen Militärstrukturen galt. So wurde beispielsweise eine Sperrstunde von 20:00 bis 7:00 Uhr verhängt, sämtliche militärischen Gegenstände wie Uniformen, Waffen, Orden oder Hakenkreuzfahnen beschlagnahmt, die gesamte männliche Bevölkerung registriert, die Suche nach Soldaten und ehemaligen Parteifunktionären der NSDAP vorangetrieben und Militärkommandanturen in Städten oder größeren Ortschaften installiert. Vgl. dazu im vorliegenden Zusammenhang Jürgen Möller, Kriegsschauplatz Leipziger Südraum 1945. Der Vorstoß des V. US Corps im April 1945 zur Weißen Elster, die Kampfhandlungen im Leipziger Südraum, die letzten Kriegstage an Mulde und Elbe und die amerikanische Besatzungszeit im Leipziger Südraum, 2. überarb. Aufl., Bad Langensalza 2010, 267 – 284. 37 Vgl. dazu detailliert Klaus-Dietmar Henke, Die amerikanische Besetzung Deutschlands. München 1995, bes. 714 – 742. 38 Das Außenlager Leipzig-Thekla umfasste drei Standorte, die in den Leipziger Stadtteilen Thekla, Heiterblick und Abtnaundorf angesiedelt waren. Die Insassen wurden zur Zwangsarbeit im nahegelegenen Erla-Maschinenwerk eingesetzt, wo sie vor allem die Endmontage von Tragflächenteilen, Leiteinrichtungen und Fahrwerkaufhängungen vollziehen mussten. Vgl. Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Der Ort des Terrors: Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Band 3: Sachsenhausen, Buchenwald, München 2006, 502 – 505. 36

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Lager jetzt endgültig liquidiert wird und wir vernichtet werden sollen.“39 Nachdem die SS-Einheiten abzogen waren, trieb ein Trupp von 35 Werkschutzleuten und Feuerwehrmännern die noch lebenden Häftlinge in eine Baracke. Als bekannt wurde, dass einige Gefangene überlebten, kehrten erneut SS-Soldaten ins Lager zurück, um diese zu ermorden40. Nachdem Leipzig besetzt war, eroberten amerikanische Verbände zügig die restlichen westsächsischen Gebiete. Nur vereinzelt gab es Widerstand durch die Deutsche Wehrmacht, durch Volkssturmabteilungen oder versprengte Hitlerjungen41. Am 25. April 1945 trafen zum ersten Mal amerikanische und sowjetische Truppen auf deutschem Boden bei Torgau aufeinander. Zuvor hatten deutsche Pioniereinheiten die Elbbrücken gesprengt. Zeitgleich hatten die dort stationierten Wehrmachtseinheiten den Ort geräumt und die Zivilbevölkerung evakuiert, sodass sich nur noch wenige Personen dort aufhielten42. Bereits einen Tag zuvor, am 24. April, begann eine amerikanische Patrouille von Trebsen aus, das Gebiet in Richtung Elbe aufzuklären. Dieser Einheit folgte einen Tag später aus Wurzen eine zweite Gruppe, beide sollten Kontakt zu den von Osten her vorrückenden sowjetischen Streitkräften herstellen und berichten, ob diese, wie abgesprochen, an der Elbe haltmachen würden. Beim Zusammentreffen in Torgau kletterten Soldaten beider Armeen über die Überreste der zerstörten Elbbrücke43. Durch eine nachgestellte Aufnahme tags darauf, am 26. April, die der amerikanische Fotograf Allen Jackson machte, wurde dieses Ereignis weltberühmt. Die Fotografie wurde bereits zwei Tage später auf der Titelseite der „New York Times“ veröffentlicht und dadurch zum Symbol der siegreichen alliierten Truppen in Europa44. Dieses Bild von lächelnden und freudigen alliierten Soldaten verklärt jedoch die tatsächliche Situation vor Ort. Für beide Armeen war diese Zusammenkunft zwar ein glückliches Ereignis, das den jahrelang andauernden Kampf gegen Hitler siegreich beendete. Zugleich jedoch brachte das Vorrücken der Roten Armee für die sächsische 39 Zitiert nach Karl-Heinz Rother/Jelena Rother, Die Erla-Werke GmbH und das Massaker von Abtnaundorf. Leipzig 2013, 44. 40 Vgl. ebd., 46. 41 Es entwickelten sich aber auch kleinere Panzergefechte, die den Rückzug der deutschen Truppen über den Erzgebirgskamm decken sollten. So beispielsweise am 16. April 1945 auf der Straße zwischen Lengenfeld und Weißensand, bei dem drei amerikanische leichte Panzer vom Typ „Stuart“ von zwei deutschen Jagdpanzern IV abgeschossen wurden. Vgl. dazu Wolfgang Fleischer, Das Kriegsende in Sachen 1945. Eine Dokumentation der Ereignisse in den letzten Wochen des Krieges, Eggolsheim 2004, 52 – 55. 42 Vgl. dazu Karl-Heinz Lange, April 1945 in Torgau. Versuch einer Gesamtdarstellung der Vorgänge in Torgau an der Elbe vom 10. April 1945 bis 6. Mai 1945, 3. Aufl., Torgau 2005, 13 ff. 43 Vgl. den Erinnerungsbericht von Bill Robertson: Ungefähr über der Elbmitte glitten der russische Soldat und ich jeder auf einer Seite eines riesigen „V“ hinunter, das durch den verborgenen Träger gebildet wurde. In: Yanks treffen Rote. Begegnung an der Elbe. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Karl Heinz Berger, Berlin 1990, 58 – 70. 44 Vgl. Karl-Heinz Lange, April 1945 in Torgau (wie Anm. 42), 44 – 47.

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Zivilbevölkerung eine Zeit des Grauens und des Leids. So berichtete der amerikanische Soldat Joe Polowsky, der Teil der von Trebsen aus vorrückenden Patrouille war, über die Geschehnisse bei Torgau Folgendes: „Als wir hinaufkletterten, kamen drei russische Soldaten zum Ufer. Warum nur drei? Auf der Landstraße vor uns sahen wir viele Russen. Fünfzig Yards nach rechts und links war das Gelände mit Leichen buchstäblich bedeckt – Frauen, alte Männer, Kinder. Ich erinnere mich noch heute an ein kleines Mädchen, das mit der Hand eine Puppe umklammert hielt – gerade vor mir. Es kann nicht älter als fünf, sechs Jahre gewesen sein. Und mit der anderen Hand klammerte es sich an seine Mutter. Die Toten lagen aufgestapelt wie Klafterholz am Ufer.“45 Es handelte sich hierbei um deutsche Zivilisten, die vor der Roten Armee über die Elbe zu den amerikanischen Verbänden hatten fliehen wollen. Berichten zufolge sollen die Flüchtenden durch konzentriertes sowjetisches Artilleriefeuer getroffen beziehungsweise durch die Brückensprengung der deutschen Pioniereinheiten getötet worden sein46. Der Augenzeuge Polowsky hingegen zeigte sich davon überzeugt, dass es ein „Massaker von Rotarmisten [gewesen sei], die einen der vielen nach Westen strebenden Flüchtlingstrecks buchstäblich überrollt“ hätten47. Solche Gewaltexzesse sind aus den von den Westalliierten eroberten sächsischen Gebieten nicht bekannt48, wenngleich die Royal Air Force (RAF) und die United States Air Force (USAF) die meisten deutschen Städte durch das „morale bombing“ in Schutt und Asche legten49. Der Einmarsch der amerikanischen Truppen wurde von vielen Deut45

Zitiert aus dem Bericht von Joseph Polowsky: Wir schworen, nie zu vergessen. Abgedruckt in: Yanks treffen Rote (wie Anm. 43), 18 – 25, hier 21; sowie in Fleischer, Kriegsende (wie Anm. 41), 32; weitere zahlreiche Berichte von Joseph Polowsky sind abgedruckt in Günter Schöne (Hrsg.), Brücke zwischen den Welten. Die Begegnung an der Elbe und ihre Folgen, Berlin 1997. 46 Vgl. den kurzen Artikel von Steffen Könau, Katjuscha in Kreinitz. In: MZ-Magazin. 70 Jahre Ende Zweiter Weltkrieg, 16 f. 47 Zitiert nach Fleischer, Kriegsende (wie Anm. 41), 32. 48 Jedoch sind sexuelle Übergriffe von westalliierten Verbänden im Allgemeinen belegbar. Das lange Zeit vorherrschende Bild, dass die sowjetischen Truppen die Vergewaltiger und die amerikanischen Einheiten die Befreier waren, wird relativiert durch die Studie von Miriam Gebhardt, Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs, München 2015; vgl. dazu außerdem die aktuellen Arbeiten von Svenja Eichhorn/Philipp Kuwert, Das Geheimnis unserer Großmütter: Eine empirische Studie über sexualisierte Kriegsgewalt um 1945, Gießen 2011; sowie Regina Mühlhauser, Vergewaltigungen in Deutschland 1945. Nationaler Opferdiskurs und individuelles Erinnern betroffener Frauen, in: Klaus Naumann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland. Hamburg 2001, 384 – 408. 49 Es sind neben Hamburg und Berlin vor allem sächsische Städte, die zum Symbol der britischen und US-amerikanischen Luftangriffe wurden und überwiegend die Zivilbevölkerung trafen: Dresden (25.000 – 40.000 Tote), Leipzig (ca. 6.000 Tote), Chemnitz (ca. 4.000 Tote) und Plauen (ca. 2.400 Tote) – Vgl. dazu allgemein Björn Schumacher, Die Zerstörung deutscher Städte im Luftkrieg. „Morale Bombing“ im Visier von Völkerrecht, Moral und Erinnerungskultur, Graz 2008; speziell zu Dresden und der Diskussion über die Höhe der Opferzahlen Götz Bergander, Dresden im Luftkrieg. Vorgeschichte – Zerstörung – Folgen, Köln/Weimar/Wien 1994, bes. 210 – 231; sowie aktueller Frederick Taylor, Dresden, Diens-

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schen sogar begrüßt, da die berechtigte Angst vor Racheaktionen der Roten Armee allgegenwärtig war, die für den von deutschen Einheiten entfachten „rassenbiologischen Vernichtungskrieg“50 gegen die Sowjetunion Vergeltung üben wollten51. III. Am 16. April 1945 – nahezu zeitgleich mit dem westalliierten Angriff auf Leipzig – begann die Großoffensive der Roten Armee in Ostsachsen52. Die Kampfkraft und die Moral der Verteidiger waren, im Vergleich zu den in Westsachsen operierenden deutschen Verbänden, ungebrochen. Im Raum um Bautzen und Dresden kämpften die Reste deutscher Elitedivisionen – das Panzerkorps „Großdeutschland“, dietag, 13. Februar 1945. Militärische Logik oder blanker Terror? Aus dem Englischen übertragen von Friedrich Griese, München 2004, 479 – 485; zu Leipzig Mark Lehmstedt (Hrsg.), Leipzig brennt. Der Untergang des alten Leipzig am 4. Dezember 1943 in Fotografien und Berichten, Leipzig 2003, bes. 264; zu Chemnitz Uwe Fiedler, Bomben auf Chemnitz – die Stadt im Spiegel alliierter Luftaufnahmen. Chemnitz 2005; sowie zu Plauen Gerd Naumann, Plauen im Bombenkrieg 1944/1945, Plauen 2011, bes. 140. 50 Zitiert aus Andreas Hillgruber, Der Ostkrieg und die Judenvernichtung. In: Gerd R. Ueberschär/Wolfram Wette (Hrsg.), Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion. „Unternehmen Barbarossa“ 1941, Frankfurt/M. 1991, 185 – 206, hier bes. 191. 51 Neben dem Genozid an den Juden sei hier exemplarisch der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen angeführt, dem schätzungsweise 3,3 Millionen Soldaten der Roten Armee zum Opfer fielen; die von Hitler angeordneten Massentötungen von sowjetischen Politkommissaren durch Wehrmacht und SS-Einheiten; die massenhaften sexuellen Übergriffe von deutschen Truppen gegenüber der sowjetischen Zivilbevölkerung; die rücksichtslose Partisanenbekämpfung und Ermordung von Nichtkombattanten, sowie die geplante Tötung durch Aushungerung der Bevölkerung („Backe-Plan“), wobei allein durch die Blockade Leningrads mehr als eine Millionen Zivilisten zu Tode kamen. Vgl. allgemein Wolfram Wette, Die Wehrmacht. Feindbilder, Vernichtungskrieg, Legende. 2. Aufl., Frankfurt/M. 2002; Babette Quinkert (Hrsg.), Deutsche Besatzung in der Sowjetunion 1941 – 1944. Vernichtungskrieg, Reaktion, Erinnerung, Paderborn 2014; Catherine Merridale, Iwans Krieg. Die Rote Armee 1939 bis 1945, Frankfurt/M. 2006; zur Ermordung sowjetischer Kriegsgefangener Christian Streit, Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941 – 1945, Bonn 1997, bes. 10 ff., sowie ders., Die sowjetischen Kriegsgefangenen in der Hand der Wehrmacht. In: Walter Manoschek (Hrsg.), Die Wehrmacht im Rassenkrieg. Wien 1996, S. 74 – 89; speziell zum sogenannten Kommissarbefehl Felix Römer, Der Kommissarbefehl. Wehrmacht und NS-Verbrechen an der Ostfront 1941/42, Paderborn 2008; zu den sexuellen Übergriffen Birgit Beck, Wehrmacht und sexuelle Gewalt. Sexualverbrechen vor deutschen Militärgerichten 1939 – 1945, Paderborn/München/Wien/Zürich 2004, 69 – 90; zur Partisanenbekämpfung Timm C. Richter, Die Wehrmacht und der Partisanenkrieg in den besetzten Gebieten der Sowjetunion. In: Rolf-Dieter Mu¨ ller/Hans-Erich Volkmann (Hrsg.), Die Wehrmacht. Mythos und Realität, München 1999, 837 – 857; zuletzt zur Tötung durch Hunger Timothy Snyder, Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin, München 2011, bes. 169 – 199, sowie Jörg Ganzenmüller, Das belagerte Leningrad 1941 – 1944. Die Stadt in den Strategien von Angreifern und Verteidigern, Paderborn/München/Wien/Zürich 2005. 52 Für das ostsächsische Gebiet wird der Angriff der Roten Armee detailliert für jeden einzelnen Kampftag dargestellt bei Wolfgang Marschner, Die Russen kommen! Zum Kriegsgeschehen in Sachsen und Nordböhmen im April/Mai 1945, Dresden 1995.

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sem untergliedert die Panzergrenadier-Division „Brandenburg“ und die Fallschirmpanzerdivision „Hermann Göring“, sowie Teile der 10. SS-Panzerdivision „Frundsberg“53. Am 19. April drangen sowjetischen Verbände gegen zähen deutschen Widerstand in Bautzen ein. Erste sowjetische Panzerspitzen erreichten in schnellem Vorstoß die Dresdner Heide, mussten sich aber aufgrund des deutschen Gegenstoßes am 22. April wieder zurückziehen. Starke deutsche Panzerverbände, darunter die 20. Panzerdivision, traten am 23. April an, um die eingeschlossene Stadt Bautzen zu entsetzen. Im zähen Häuserkampf, der auf beiden Seiten mit äußerster Härte geführt wurde und viele Opfer kostete, gelang es, Bautzen innerhalb von drei Tagen zurückzuerobern und die dort verschanzten deutschen Truppen zu befreien. Diese Aktion war zugleich der letzte erfolgreiche Gegenstoß deutscher Verbände im Zweiten Weltkrieg. Die Stadt wurde bis zum 7. Mai von Wehrmachtsverbänden gehalten und dann kampflos an die Rote Armee übergeben54. Die Intensität der Kämpfe lässt sich am eindrucksvollsten an den Zahlen der Verluste ablesen. In der Schlacht in und um Bautzen fielen jeweils auf Seiten der deutschen und sowjetischen Truppen über 6.500 Soldaten. Die 2. polnische Armee, die den sowjetischen Kräften unterstellt war, hatte fast 5.000 Opfer zu beklagen – sie verlor damit 22 Prozent ihrer Soldaten und 57 Prozent ihrer Panzerwaffe55. Darüber hinaus wurden ein Drittel der Wohnhäuser, ein Großteil der wirtschaftlichen Infrastruktur sowie alle 17 Brücken von Bautzen im Zuge der Kampfhandlungen zerstört oder schwer beschädigt56. All das zeigt, mit welcher Verbissenheit sich die deutschen Verbände gegen die vorrückende Rote Armee zur Wehr setzten. Angst auf deutscher Seite vor möglichen Racheaktionen der Roten Armee und den damit verbundenen Verbrechen gegenüber den deutschen Soldaten und der dort ansässigen Zivilbevölkerung war wohl der Hauptgrund für die zähe Abwehrbereitschaft gegenüber den sowjetischen Truppen. Ein vergleichsweise glücklicheres Schicksal ereilte – zumindest in dieser Hinsicht – die Bevölkerung der Stadt Dresden. Die Hauptstadt des Gaus Sachsen sollte gleichfalls als „Festung“ gegen die anrückende Rote Armee dienen. Bereits ab Januar und verstärkt ab April 1945 wurden Schanzarbeiten und der Bau von Verteidigungsanlagen vorangetrieben. Kilometerlange Panzer- und Schützengräben wurden ausgehoben, Minenfelder angelegt und lokal eingebaute Panzertürme installiert. Rund 20.000 Mann – darunter viele schlecht ausgebildete Volkssturmmänner und nur unzureichend bewaff53 Vgl. dazu die tabellarische Übersicht in Andreas Kowanda, Atlas zur Geschichte und Landeskunde von Sachsen. Beiheft zur Karte D IV 6. Kriegshandlungen und Besetzung 1945, Dresden/Leipzig 1998, 11; ergänzend dazu die ältere Studie von Max Pilop, Die Befreiung der Lausitz. Militärhistorischer Abriß der Kämpfe im Jahr 1945. 2., durchges. Aufl., Bautzen 1986. 54 Vgl. als ältere Studie Jan Cyzˇ-Ziesche, Die Kämpfe um die Befreiung der Lausitz während der großen Schlacht um Berlin 1945. Bautzen 1975, 49 – 77; sowie sehr detailreich Pilop, Die Befreiung der Lausitz (Anm. 53). 55 Vgl. Eberhard Berndt, Spurensuche. Bd. 5: Die Kämpfe um Weißenberg und Bautzen im April 1945. Wölfersheim-Berstadt 1999, 47. 56 Vgl. Eberhard Berndt, Bautzen im April 1945. Dem 45. Jahrestag des Sieges und der Befreiung vom Hitlerfaschismus gewidmet, Bautzen 1990, 55 – 57.

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nete Hitlerjungen – sollten die Abwehrkämpfe führen57. Zu größeren Kampfhandlungen kam es jedoch nicht, da auf Befehl von Generalfeldmarschall Ferdinand Schörner vom 5. Mai 1945 die Stadt geräumt wurde. Zwei Tage später erreichten die ersten sowjetischen Verbände Dresden, wobei nur vereinzelt zurückgebliebene deutsche Einheiten geringfügigen Widerstand leisteten. Bei den Kämpfen zwischen den deutschen Truppen und der Roten Armee wurde das international geltende Kriegsrecht von beiden Armeen missachtet, die Beteiligten verfielen nicht selten in einen wahren Blutrausch: Der Ermordung von Unschuldigen oder Wehrlosen auf der einen Seite folgten Racheaktionen auf der anderen und umgekehrt. Der Historiker Sönke Neitzel und der Sozialpsychologe Harald Welzer bemühen in ihrem Buch „Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben“ den Begriff des „Referenzrahmens“, der das Handeln der Soldaten nachhaltig beeinflusse. Die Allgegenwärtigkeit von Tod und Sterben, von Töten und Gewalt, die Abwesenheit von Schutz und vermeintlicher Gerechtigkeit stumpfe die Menschen ab. In diesem Kontext handle der Soldat nicht rational. Der militärische Gegner werde entmenschlicht, Gefühle wie Angst, Wut und Hass würden auf ihn projiziert und entlüden sich in unkontrollierbaren Gewaltakten – ebenso wie es in Ostsachsen geschah58. Sinnbilder der deutschen Verbrechen in Ostsachsen waren, beispielsweise, das Massaker von Uhyst an der Spree – hier wurden 102 gefangen genommene sowjetische und polnische Soldaten von deutschen Streitkräften erschossen und in Massengräbern verscharrt –, das Massaker in Zerna – hier wurden über 200 Kriegsgefangene von deutschen Einheiten erschossen –, oder die grauenhafte Ermordung von 200 verwundeten polnischen Soldaten bei Horka (Crostwitz), wo deutsche Truppen einen polnischen Sanitätszug überfielen und weder die Verwundeten verschonten, noch das medizinische Personal am Leben ließen59. Diese Taten müssen – genau wie die Verbrechen der Roten Armee – im Geschehenskontext gesehen werden – ohne sie zu beschönigen oder gar rechtfertigen zu wollen. Die Mordtat auf der einen Seite rief eine ähnliche Reaktion auf der anderen hervor, sodass sich eine Spirale der Gewalt entwickelte60. Eindrucksvoll schilderte dies ein 18-jähriger deutscher Soldat, der im Raum um Bautzen kämpfte: „Wir sahen die ersten erschlagenen Deutschen (alte Männer, Frauen mit zerrissenen Kleidern und Kinder mit zerschmettertem Kopf). Auf dem Holzfußboden eines Zimmers 57

Vgl. dazu Hermann Rahne, „Die Festung Dresden“ von 1945. In: Dietmar Kunz (Hrsg.), Kriegsschauplatz Sachsen 1945 (wie Anm. 30), 8 – 27, hier bes. 8, 14, 20, 25. 58 Vgl. Sönke Neitzel/Harald Welzer, Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben, Bonn 2011, 16 – 46, 66 – 83. 59 Vgl. Theodor Seidel, Kriegsverbrechen in Ostsachsen. Die vergessenen Toten von April/ Mai 1945, Berlin 2001, 35 f. 60 Wer mit dem Morden begann diskutiert für die Gemeinde Crostwitz Lucius Teichmann, Steinchen aus dem Strom. Skizzen aus dem Leben, Berlin 1979, 190 – 194; interessant ist auch die Beschreibung des Einmarsches der Roten Armee und die damit einhergehenden Gräueltaten wie Plünderungen, Brandschatzungen und Vergewaltigung für besagte Gemeinde. Vgl. ebd., 185 – 190, 194 – 198.

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lag ein Heeres-Uffz., mit dem Seitengewehr angenagelt. Wir haben nach diesen Eindrücken keine Gefangenen mehr gemacht, sie aber nur an Ort und Stelle erschossen.“61 Dieses von der Roten Armee begangene Kriegsverbrechen ist nur eines von vielen. Mordtaten vergleichbaren Kalibers ereigneten sich, nahezu zeitgleich, an nicht wenigen umkämpften Orten Ostsachsens62. Theodor Seidel, der persönlich von den Racheaktionen der Roten Armee betroffen war, untersuchte anhand der Sterbebücher der Pfarrgemeinden Ostsachsens die Verbrechen sowjetischer Truppen. Seine Forschungen ergaben, dass es nahezu flächendeckend zu Gewaltaktionen gegen Kriegsgefangene und wehrlose Personen kam. Ausmaß und Umfang der in den Sterbebüchern von den jeweiligen Ortspfarrern verzeichneten Todesumstände belegen eindrucksvoll die Intensität und Brutalität solcher Gewalttaten. Im Pfarrbuch des Ortes See – heute ein Stadtteil von Niesky in der Nähe der deutsch-polnischen Grenze – ist vermerkt: „Erschossen, als er sich der Vergewaltigung seiner Tochter widersetzte.“ Ähnliches verzeichnet das Pfarrbuch im nahegelegenen Kollm: „Mit der Axt in seiner Scheune erschlagen.“63 Im Nachbardorf Groß Radisch lassen sich unter der Rubrik „Todesursachen“ Eintragungen finden, wie: „[…] ermordet nach mehrfacher Vergewaltigung […]“, „[…] erst vergewaltigt, dann erschlagen und übel zugerichtet aufgefunden […]“.64 Das jüngste belegbare Opfer war 1 Jahr und 17 Tage alt – das älteste 90 Jahre65. Durch Theodor Seidels akribische Arbeit ist nachweisbar, dass in Ostsachsen zwischen dem 16. April und dem 9. Mai 1945 716 Zivilpersonen und 442 deutsche Kriegsgefangene (worunter Hitlerjungen und Volkssturmmänner gezählt werden) von polnischen oder sowjetischen Einheiten ermordet wurden. Auf der Gegenseite wurden mindestens 450 Personen von deutschen Verbänden getötet66. Diese Morde waren jedoch nicht die einzige Gräueltat, unter der die deutsche Zivilbevölkerung zu leiden hatte. Es kam immer wieder zu Plünderungen, Brandschatzungen und Vergewaltigungen in dem von der Roten Armee besetzten Teil des Reiches67. Allein in Sachsen wurden von sowjetischen Truppen zehntausende deutscher Frauen sexuell missbraucht. Der Erinnerungsbericht von H. Dittrich schildert in diesem Zu61

Zit. n. Seidel, Kriegsverbrechen (wie Anm. 59), 123. Ein weiteres Beispiel ist die Massentötung von deutschen Kriegsgefangenen (überwiegend Volkssturmmänner und Luftwaffenpersonal), die sich in Weigersdorf nordöstlich von Bautzen ereignete. Die über 100 Gefangenen wurden in einer Scheune zusammengetrieben, mit Handgranaten beworfen und mittels Maschinenpistolen beschossen. Vgl. dazu Eberhard Berndt, Die Kämpfe um Bautzen 18. bis 27. April 1945. In: Kunz (Hrsg.), Kriegsschauplatz Sachsen (wie Anm. 31), 54 – 67, hier 62. 63 Vgl. Seidel, Kriegsverbrechen (wie Anm. 59), 53. 64 Vgl. ebd., 54. 65 Vgl. ebd., 49, 60. 66 Vgl. ebd., 120. Auch bei Wolfgang Fleischer ist die Zahl von über 1.000 Opfern („Kinder, Frauen, Greise und Kriegsgefangene“) in Ostsachsen nachzulesen. Vgl. Fleischer, Das Kriegsende (wie Anm. 41), 6. 67 Vgl. dazu oben Anm. 26. 62

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sammenhang seine Erlebnisse bei der Rückeroberung Bautzens, als deutsche Einheiten dutzende von Frauen aus einer verbarrikadierten Turnhalle befreiten: „Mein Gott, wie sehen diese mißbrauchten, nur notdürftig bekleideten Frauen aus! In fast ununterbrochener Folge waren sie von feindlichen Soldaten vergewaltigt worden. Die Spuren dieser grauenvollen Erlebnisse sind in ihren verschwollenen Gesichtern zu lesen. Ihre geschändeten Körper werden von Weinkrämpfen geschüttelt.“68 Einem ähnlichen Schicksal entgingen die Bewohner des Landkreises Schwarzenberg, da dieser zunächst weder von sowjetischen Truppen noch von amerikanischen Verbänden besetzt worden war. IV. Am 5. Mai 1945 – kurz vor dem Ende des Krieges – trafen sich in Torgau der amerikanische General Omar Nelson Bradley und der sowjetische Marschall Iwan Stepanowitsch Konew. Beide bekräftigten erneut die auf der Konferenz von Jalta getroffenen Beschlüsse, denen zufolge die amerikanischen Truppen bis auf die Linie westlich von Chemnitz, Thum, Geyer, Buchholz und Oberwiesenthal an die sowjetischen Truppen heranrücken sollten69. Dies geschah jedoch nur teilweise, sodass ein Gebiet mit einer Fläche von etwa 1500 Quadratkilometern entstand, das auch nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Streitkräfte unbesetzt bleiben sollte. Dieses Territorium war nahezu deckungsgleich mit dem damaligen, etwa 80 Orte und die kreisfreie Stadt Aue umfassenden Landkreis Schwarzenberg. Nur im Norden ragte der Sektor über den Landkreis hinaus und umschloss zusätzlich die Orte Stollberg und Oelsnitz im Erzgebirge70. Aufgrund des Flüchtlingsstroms in Richtung Westen und der Evakuierung ganzer Dörfer vor der heranrückenden Roten Armee befanden sich dort zu dieser Zeit mehr als eine halbe Million Menschen. Die ungewisse und nervenaufreibende Situation der Zivilbevölkerung und die Unsicherheit darüber, welche der alliierten Armeen einrücken werde und wann dies geschehen könne, beschreibt der promovierte Theologe Christian Löhr wie folgt: „Während spätestens vom 8. 5. 1945 an die Menschen in Schwarzenberg und Umgebung entweder voller Hoffnung oder mit großer Furcht der Dinge harren, die da kommen sollen – von Osten die Russen hoffentlich nicht, von Westen die Amerikaner hoffentlich doch – finden sich angesichts der völlig ungewissen Lage jene Männer und Frauen zusammen, die vorerst einmal am 11. Mai 1945 die Reste der noch bestehenden alten Macht zerschlagen und mit der Organisation des Überlebens beginnen.“71 68

Zit. n. Seidel: Kriegsverbrechen (wie Anm. 59), 29 f. Christian Löhr, Zwischen Traum und Wirklichkeit. Der Landkreis Schwarzenberg im Frühsommer 1945, in: Heimatverein Niederfrohna e.V. (Hrsg.), Enttäuschte Hoffnung. Wiederaufbau kommunaler Selbstverwaltung 1945 – 1949 (2004), 7 – 34, hier 11. 70 Lenore Lobeck, Die Schwarzenberg-Utopie. Geschichte und Legende im „Niemandsland“. 2. Aufl., Leipzig 2004, 21. 71 Zit. aus Löhr, Zwischen Traum und Wirklichkeit (wie Anm. 69), 15. 69

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Am 11. Mai 1945 besetzten 120 Bürger des Landkreises die zentralen Verwaltungsorgane in Schwarzenberg und beseitigten damit die Macht der NSDAP. Unter den Aktivisten waren viele Opfer der NS-Diktatur, wobei die KPD-Anhänger die größte Gruppe bildeten. Sie stellten Tags darauf „Aktionsausschüsse“ zusammen, formierten eine Hilfspolizei, um die allgemeine Ordnung aufrecht zu erhalten, und verhafteten führende NSDAP-Mitglieder. In den anderen kleineren Orten des unbesetzten Gebietes vollzog sich Ähnliches72. Ziel war es die Sicherheitslage zu stabilisieren und die Versorgung der Bevölkerung zu garantieren. Zudem wurden alle Waren des öffentlichen Bedarfs aus Wehrmachtsbeständen beschlagnahmt und die Modalitäten der Lebensmittelverteilung durch Bezugsscheine reguliert – wobei auf eine strenge Rationierung geachtet wurde. Danach kam es zur ersten Kontaktaufnahme mit den amerikanischen und sowjetischen Truppen. Paul Krob, der neu eingesetzte Leiter des Schwarzenberger Polizeiamtes, erbat Hilfeleistungen von den westalliierten Truppen, die jedoch versagt blieben. Daraufhin wurde eine eigene, von den amerikanischen und sowjetischen Administrationen anerkannte Verwaltung mit eigenem Notengeld installiert, eine eigene „Schwarzenberger Zeitung“ publiziert und ein eigener Bezirksausschuss etabliert73. Daneben bildeten sich „Aktionsausschüsse“, um eine lokale Verwaltungsstruktur vor Ort sicherstellen zu können74. In der zweiten Ausgabe der „Schwarzenberger Zeitung“ hieß es dazu: „Der Aktionsausschuß ist jetzt Träger der öffentlichen Gewalt, der Polizei und des verwaltenden Rechts […] Seine Beschlüsse sind auch für den Landrat bindend […] Landrat und Aktionsausschuß sind die Staatsgewalt für den ganzen Bereich ihres Bezirks.“75 Als Landrat übernahm Friedrich Hänichen im Mai 1945, zusammen mit Oskar Schieck als Vorsitzender des Bezirks-Ausschusses, die oberste Leitung des gesamten unbesetzten Gebietes76. Hänichen forderte am 25. Mai 1945 die US-Militärregierung in Auerbach dazu auf, den Landkreis zu besetzen77 – wohl vor allem, um den chaotischen Versorgungszuständen Einhalt zu gebieten und um eine Auslieferung an die Rote Armee zu verhindern. Dieser Forderung wurde jedoch nicht nachgekommen. Im Gegenteil: am 25. Juni 1945 – also circa anderthalb Monate nach Beginn des unbesetzten Zustands – errichteten sowjetische Truppen in Schwarzenberg eine Ortskommandantur. Die örtlichen Aktionsausschüsse wurden bis zum 31. August aufge-

72 Vgl. dazu ausführlich Gareth Pritchard, Niemandsland. A History of Unoccupied Germany. 1944 – 1945. Cambridge 2012, 73 – 94. 73 Vgl. Löhr, Zwischen Traum und Wirklichkeit (wie Anm. 69), 20 – 22. 74 Vgl. dazu speziell die Erinnerungen von Paul Krob, Der Antifaschistische Aktionsausschuß in Schwarzenberg. In: Jochen Czerny, Republik im Niemandsland. Ein Schwarzenberg Lesebuch, Leipzig 1997, 28 – 41. 75 Werner Gross, Die Ersten Schritte. Der Kampf der Antifaschisten in Schwarzenberg während der unbesetzten Zeit Mai/Juni 1945, Berlin (Ost) 1961, 31 f. 76 Vgl. Lobeck, Die Schwarzenberg-Utopie (wie Anm. 70), 160 f., 175 f. 77 Zit. aus Löhr, Zwischen Traum und Wirklichkeit (wie Anm. 69), 13.

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löst, die Selbstverwaltung des Gebiets am 4. Juli mit der Installation einer Kreiskommandantur der Sowjets offiziell beendet78. Die kurze Zeit des unbesetzten Zustands im Landkreis – zwischen dem 8. Mai und dem 4. Juli 1945 – bildete die Grundlage für den rasch aufkommenden und sorgsam gehüteten Mythos von der „Freien Republik Schwarzenberg“. Dabei handelt es sich jedoch um nichts anderes als um eine literarische Fiktion des DDR-Schriftstellers Stefan Heym (1913 – 2001), die von anderen Autoren aufgegriffen und weiterentwickelt wurde. Eine „Freie Republik“ hat es im Landkreis Schwarzenberg nie gegeben79. Was waren die Gründe für die Entstehung dieses Mythos’, der lange Zeit von der DDR-Regierung bedient wurde und gegenwärtig im Landkreis immer noch präsent ist? Zunächst ist danach zu fragen, warum dieses Territorium nicht, wie auf der Konferenz von Jalta geplant, von den amerikanischen Truppen besetzt wurde. Ein Erklärungsversuch besagt, dass es zu einer Verwechslung zwischen der Zwickauer und der Freiberger Mulde durch die amerikanischen Befehlshaber kam. Einer weiteren Behauptung zufolge sollte das Gebiet als „neutrale Zone“ für Raubguttransporte dienen. Zuletzt kam die Vermutung auf, dass dieses Areal bewusst unbesetzt blieb, um den vor der Roten Armee flüchtenden deutschen Truppen einen sicheren Rückzugsort bieten zu können80. Eine endgültige wissenschaftlich fundierte Antwort gibt es bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt jedoch nicht. Die DDR-Propaganda verklärte und heroisierte die Geschehnisse rund um Schwarzenberg. Jene Handvoll von Kommunisten, die am 11. Mai 1945 die Verwaltungen putschartig besetzt hatten, wurden als Helden gefeiert, Schulen und Straßen nach ihnen benannt und Denkmäler für sie errichtet. Auf Befehl der DDR-Regierung wurde ein glorifizierendes Bild gezeichnet, wobei gleichzeitig die negativen Momente der an Hunger leidenden, von Ängsten geplagten, Beschlagnahmungen ausgesetzten, willkürliche Verhaftungen und aufkommende Repressalien ertragenden deutschen Bevölkerung verschwiegen wurden81. Vielmehr propagierten die DDRZeitungen das Märchen von der „uneigennützigen“, „gerechten“ und „demokratischen“ Machtübernahme der Kommunisten. Damit verband sich das Ziel, den als Makel empfundenen Umstand, die „faschistische“ Diktatur nicht aus eigener Kraft besiegt zu haben, am Beispiel Schwarzenbergs wohlfeil aus der Welt zu schaffen82. Eine ähnlich geschönte Auffassung der „Helden von Schwarzenberg“ vertrat der DDR-Apologet Werner Gross in einer 1961 publizierten Diplomarbeit. Darin verur78

Vgl. ebd., 21 f. Vgl. überblicksartig zur Entstehung des Mythos’: Justus H. Ulbricht, Vom „Niemandsland“ zur Freien Republik Schwarzenberg“. Geschichte, Mythos und Erinnerung eines historischen Zufalls, in: Sächsische Heimatblätter, 3/2013, 182 – 187. 80 Vgl. Lobeck, Die Schwarzenberg-Utopie (wie Anm. 70), 21 f. 81 Vgl. ebd., 37, 49 f. 82 Ebd., 25. 79

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teilte er die Bemühungen des damaligen Landrats Hänichen, die Amerikaner zur Besetzung des Landkreises zu bewegen, als „verräterisch“ und „reaktionär“. Er propagierte vielmehr in plumpestem SED-Jargon, dass sich die Männer und Frauen von Schwarzenberg darüber im Klaren gewesen seien, „daß die Rote Armee als Befreier und Freund gekommen war und daß die Freundschaft zur Sowjetunion ein unabdingbarer Bestandteil einer neuen, antifaschistisch-demokratischen Ordnung“ sei83. Diesem Darstellungsmuster folgte auch der 1969 veröffentliche Roman „Aufstand der Totgesagten“ aus der Feder des Karl-Marx-Städter Schriftstellers Johannes Arnold (1928 – 1987)84. In diesem Buch geht es um den Kampf dreier Genossen (die, weil von den Nationalsozialisten verfolgt, als „Totgesagte“ tituliert werden), die in der isolierten und fiktiven Stadt Waldenberg (Synonym für den Landkreis Schwarzenberg) den Aufstand gegen die NS-Machthaber planen und ihn auch vollziehen. Auffällig ist dabei, dass die deutschen Kommunisten dem Einmarsch der Roten Armee zunächst freudig entgegensehen, dann aber feststellen müssen, dass Waldenberg nicht besetzt wird. Sie werden von den Sowjets nicht, wie erhofft, brüderlich begrüßt, sondern bekommen zu spüren, dass sich die Deutschen als Besiegte zu fügen und unterzuordnen haben85. Doch auch die Amerikaner, die aus einem „reichen Land“ kommen, werden negativ dargestellt, da sie Hilfe für die Stadt Waldenberg verweigern86. Somit steht bei Arnold die Kritik an beiden Siegermächten im Vordergrund, wohingegen die Stilisierung der Männer und Frauen von „Waldenberg“ respektive Schwarzenberg zurücktritt. Anders stellt der gebürtige Chemnitzer Schriftsteller Stefan Heym die Geschehnisse in seinem Roman „Schwarzenberg“87 dar, der den Mythos der „Freien Republik“ begründete, da das Buch offensichtlich als „Tatsachenbericht“ missverstanden wurde. In ihm projiziert Heym seine Utopie eines alternativen Sozialismus auf das damalige unbesetzte Gebiet. Dabei kommt es zum Disput zwischen einem Stalinisten und dem Utopisten Max Wolfram, der von einer „Republik Schwarzenberg“ träumt. Der Jude und Antifaschist Wolfram gründet mit weiteren Gleichgesinnten einen Aktionsausschuss, um das Gebiet verwalten zu können und versucht vergeblich, bei den Amerikanern eine Garantie für ein unabhängiges Schwarzenberg auszuhandeln88. Trotzdem entwirft er eine Verfassung, um seinen Traum in die Tat umsetzen zu können89. Doch diese wird nicht akzeptiert – die „Republik Schwarzenberg“ hat keine Zukunft90. 83

Gross, Die Ersten Schritte (wie Anm. 75), 86. Johannes Arnold, „Aufstand der Totgesagten“. Halle/S. 1969. 85 Als überblicksartigen, kommentierten Abriss vgl. Lenka Adámková, „… schrecklich fremd, dennoch anziehend“. (Sˇ kvorecky´). Zum Bild der Rotarmisten in ausgewählten Texten der tschechischen und (ost)deutschen Literatur nach 1945, Frankfurt a. M. 2011, 165 – 170. 86 Arnold, „Aufstand der Totgesagten“ (wie Anm. 84), 341 ff. 87 Stefan Heym, Schwarzenberg. München/Wien 1984; Erstausgabe in der DDR 1990. 88 Vgl. Adámková, „… schrecklich fremd, dennoch anziehend“ (wie Anm. 85), 202 f. 89 Stefan Heym, Schwarzenberg. Berlin 1990, 123 – 134. 84

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1995 nahm der „Kunstverein Schwarzenberg“ diese Darstellung indes wieder auf und führte den Mythos durch die Erfindung einer selbstinszenierten Vergangenheit fort – beispielsweise durch die nachgestellte Verhaftung des ehemaligen Bürgermeisters Ernst Rietsch, durch die Installation eines Lehrpfades „Auf den Spuren der freien Republik“ oder durch ein Straßenfest, das zu Ehren der „Freien Republik“ im Jahr 2010 veranstaltet wurde91. Die Romanwelt von Stefan Heym wurde von den Akteuren des „Kunstvereins“ als Realität ausgegeben und mit einer derartigen Dynamik versehen, dass sogar die Universität Bayreuth der Mär von der „Freien Republik“ zum Opfer fiel. Auf ihrer Internetseite warb die Universität 1995 für Schwarzenberg mit folgendem Zitat: „In Schwarzenberg […] bildet sich am 11. Mai die erste Demokratie auf deutschen Boden nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Freie Republik Schwarzenberg.“92 All das widerspricht jedoch der historischen Realität. Es waren mutige Männer und Frauen, die in einem waghalsigen Einsatz am Ende des Zweiten Weltkrieges – im Stich gelassen von den amerikanischen und den sowjetischen Streitkräften – die letzten verbliebenen NS-Akteure verhafteten, um der NS-Diktatur ein Ende zu setzen und dem Chaos entgegenzuwirken. Fazit Mit der Besetzung des Deutschen Reiches durch westalliierte und sowjetische Truppen wurden die NS-Diktatur und der durch sie entfesselte Zweite Weltkrieg in Europa beendet. Damit wurde die deutsche Bevölkerung von einem Regime befreit, das nicht nur das eigene Volk, sondern den ganzen Kontinent in eine Katastrophe unvergleichlichen Ausmaßes getrieben hatte und unter dessen Führung millionenfacher Mord begangen wurde. Hubertus Knabe resümiert dazu treffend: „Dem gemeinsamen Sieg der Alliierten im Mai 1945 war es zu verdanken, dass das nationalsozialistische Terrorregime in Deutschland zerschlagen wurde. Der Krieg und die Diktatur Hitlers fanden ein Ende.“93 Indes: „Für den Osten des Landes bedeutete das Kriegsende gleichwohl keine Befreiung.“94 Die Gründe für die Berechtigung dieser Sichtweise wurden im vorangegangenen aufgeführt: „Erschießungen von Zivilisten, Massenvergewaltigungen, Deportationen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion, Plünderungen und sinnlose Zerstörungen begleiteten den Einmarsch der Roten Armee 1945 in Ostdeutschland.“95 So differenziert sich die Besetzung des Deutschen 90

Vgl. Adámková, „… schrecklich fremd, dennoch anziehend“ (wie Anm. 85), 204 f. Informationen hierzu sind unter der Homepage der Künstlervereinigung zu finden: http://www.freie-republik-schwarzenberg.de/page.php?p=1. 92 Vgl. Lobeck, Die Schwarzenberg-Utopie (wie Anm. 70), 31. 93 Zit. aus Hubertus Knabe, Tag der Befreiung? Das Kriegsende in Ostdeutschland, Berlin 2005, 350. 94 Ebd. 95 Heinrich Schwendemann, Der deutsche Zusammenbruch im Osten 1944/45. In: BerndA. Rusinek, Kriegsende 1945. Verbrechen, Katastrophen, Befreiung in nationaler und internationaler Perspektive, Göttingen 2004, 125 – 152, hier bes. 135. 91

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Reiches durch die verschiedenen alliierten Streitkräfte gestaltete, so unterschiedlich vollzog sich auch die Okkupation Sachsens. Die amerikanischen Truppen wurden, zumindest von einem Großteil der deutschen Bevölkerung, als „Befreier“ begrüßt, da durch sie das nationalsozialistische Terrorregime beseitigt, der Krieg beendet und überhaupt die Besetzung von Westen her als kleineres Übel gegenüber dem Einmarsch der Roten Armee angesehen wurde. Im Osten hingegen gerieten die dort kämpfenden Soldaten in einen sich gegenseitig steigernden Blutrausch, der dazu führte, dass Gefangene, Verwundete und Zivilisten in großer Zahl ermordet wurden. Diese Verbrechen wurden von beiden Seiten in gleichem Maße begangen. In Westsachsen dagegen sind solche Mordtaten – von wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht überliefert. Das Territorium um Schwarzenberg wiederum wurde von keiner der beiden Streitkräfte „befreit“. Aus ungeklärten Gründen rückten die amerikanischen Verbände nicht auf die zuvor mit den Sowjets vereinbarte Linie vor. Die NS-Akteure wurden hier von Teilen der deutschen Bevölkerung gestürzt, die eine temporäre Selbstverwaltung errichteten. Der Begriff der „Befreiung“ trifft mithin lediglich auf das westsächsische, von amerikanischen Truppen besetzte Gebiet zu. Eine pauschalisierende Verwendung des Begriffs scheint im Blick auf die in Ostsachsen flächendeckend verübten Gewaltverbrechen der Roten Armee nicht geeignet. Auf das Territorium um Schwarzenberg sollte dieser Wortlaut ebenfalls nicht angewandt werden, da ihm die historische Wirklichkeit widerspricht.

Luftkriegsopfer Kind – eine Chemnitzer Fallstudie Von Uwe Fiedler, Chemnitz Im Frühjahr 1944 wurde der Familie K. in Rabenstein bei Chemnitz ein Kind geboren. Wäre die Biografie des Jungen „normal“ verlaufen, hätte er sechs Jahre später die Schule, danach vielleicht in Chemnitz das Gymnasium besucht. Vielleicht wäre er ein tüchtiger Maschinenbauer geworden, um sich später an der Technischen Hochschule immatrikulieren zu lassen. Er würde als Ingenieur oder Dozent das einstmalige Weltniveau des Industriestandortes Chemnitz sichern geholfen haben. Er hätte eine Familie gegründet, ein Haus gebaut, alle Hochs und Tiefs eines normalen Lebens mitgemacht und könnte sich heute als rüstiger Rentner seines wohlverdienten Ruhestandes erfreuen, auf Familie und Hobbies konzentrieren und alles in allem auf ein beruflich und privat erfülltes Leben zurückblicken. Doch das Kind der Familie K. hatte nie eine Chance, eine Biografie, wie eben fiktiv skizziert, entfalten zu können, denn am 12. Mai 1944, wenige Wochen nach seiner Geburt, wurde in Chemnitz, in den umliegenden Gemeinden und Ortschaften Luftalarm ausgelöst1. Kurze Zeit später war das Motorengeräusch anfliegender Bombenflugzeuge zu hören. Es handelte sich um elf fliegende Festungen, B17-Bomber der 3rd Bombing Division innerhalb der 8th USAF, die sich im Rahmen der gegen die deutsche Ölindustrie gerichteten alliierten „oil offensive“ von Nordosten her dem „opportunity target“ Chemnitz näherten. Über dem „release point“ angekommen, verließen auf den Befehl „bombs away“ des Squadron Leaders hin 26ts Sprengbomben die Bombenschächte der „Fliegenden Festungen“. Die Bomben fielen auf „unidentified targets“ in Chemnitz, Siegmar, Schönau und Rabenstein, sie rissen Straßen auf und zerstörten Häuser2. Und sie forderten ein – ein einziges! – Todesopfer. Der Säugling der Familie K., dessen Leben gerade erst begonnen hatte und der somit vollkommen unschuldig war an allem, was Ursache war für das Fallen der Bomben, wurde im Hause seiner Eltern in Rabenstein durch die Detonation einer Sprengbombe getötet. Das Kind der Familie K. war das erste Opfer des alliierten Luftkrieges über dem „Target Chemnitz“3. Das ist besonders tragisch, der Tod von Kindern jedoch würde künftig auch in Chemnitz nichts Besonderes bleiben. 1

Stadtarchiv Chemnitz (im Folgenden StA): Gemeinde Rabenstein, 631, Bl. 1 ff. Vgl. Roger Freeman, The Mighty Eight War Diary. London u. a. o. J., 242 f.; Kit C. Carter/Robert Mueller, The Army Air Forces in World War II. Combat Chronology 1941 – 45 o.O. (HQ USAF), 1973, 340. 3 StA: Gemeinde Rabenstein, 631, Bl. 2, 18. 2

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Alexander G., mit knapp 16 Jahren im Chemnitzer Volkssturm und fast selbst noch ein Kind, berichtete nach dem Krieg von seinen Erlebnissen nach dem AirForce-Raid vom 2. März 1945: „Im Januar 45 erhielt ich den Bescheid, dass ich […] zur „Volkssturm-Ausbildung“ einrücken musste […] Wir bekamen den Befehl, uns an Katastropheneinsätzen zu beteiligen […] wir mussten in den Stadtteil Bernsdorf. Diesmal war es ein grauenhafter Einsatz. Das Kinderheim in Bernsdorf wurde bei einem überraschenden Tagesangriff voll getroffen. Wir mussten aus den Trümmern die Leichen bergen. Es war fürchterlich. Ein kleines Mädchen, vielleicht fünf Jahre alt, hielt in ihren verkrampften Händen noch eine kleine Stoffpuppe […] Ich kann mich noch erinnern, dass wir am späten Nachmittag etwas Warmes zu essen bekamen. Und wie makaber! Wir schlürften hungrig unsere warme Mahlzeit und im Nachbarraum, in dem die toten Kinder aufgebahrt lagen, schrien und jammerten die Mütter. Sie wurden nach dem fürchterlichen Angriff von ihren Arbeitsplätzen, zumeist in der Rüstungsindustrie, zum Kinderheim gebracht.“4

Soweit Alexander G.’s Bericht, der noch um den Fakt zu ergänzen wäre, dass im Bernsdorfer Kinderheim 33 Kinder infolge des Angriffes starben5. Auch andere Kinder wurden als Augenzeugen mit dem Tod konfrontiert. Hochbetagt, und vielleicht aufgrund nachhaltiger Traumatisierung erstmalig in ihrem Leben berichteten innerhalb der letzten 20 Jahre Chemnitzer Zeitzeugen: „Ich werde den Anblick der verstümmelten Leichen nie vergessen […]“. „Die Gasmaske meines Bruders ließ sich infolge der Hitze nicht mehr vom Gesicht lösen“.6 „Eine alte Frau schob einen Kinderwagen laut singend vor sich her. Obenauf lag ein totes Kleinkind […]“. „Wir gingen zum Friedhof. Rechts und links des Weges lagen die Toten. Ich [ein Mädchen von sieben Jahren, d.Verf.] sah Hände und Beine, und ich sah irgendetwas in Stofffetzen liegen“.7

Dass Kinder im Krieg Opfer werden, ist nichts ungewöhnliches, im Gegenteil. Es ist Normalität, und – wenn auch nicht offen ausgesprochen – integraler Bestandteil strategischer militärischer Planungen, und das bis in die Gegenwart. Um diese These plausibel zu machen und zu verstehen, muss man die „normale“, moralbezogene Logik ziviler Argumentation verlassen und statt ihrer der Logik militärischen Denkens folgen. Dazu ist es erforderlich, die Genese des Phänomens Luftkrieg (wahlweise auch anderer strategische Militärkonzepte der Gegenwart) etwas genauer zu untersuchen. Wir werden dabei nur scheinbar den Gegenstand „Kinder im Krieg“ verlassen. Wie also kam es dazu, dass militärische Handlungen gegen Zivilisten – Männer, Frauen, gerade auch Kinder – im Hinterland des Gegners nicht nur eine Facette, 4

47.

Karin Fahnert/Gert Richter (Hrsg.), Chemnitzer Erinnerungen (Teil II). Chemnitz 1996,

5 Gabriele Viertel/Uwe Fiedler/Gert Richter (Hrsg), Chemnitzer Erinnerungen (Teil III). Chemnitz 1995, 47. 6 Fahnert/Richter, Erinnerungen (wie Anm. 4), 120. 7 Ebd., 128.

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sondern strategiebestimmendes Charakteristikum militärischer Konzepte der Neuzeit wurden? Krieg ist in der Geschichte niemals eine lediglich auf das Militär begrenzte Angelegenheit gewesen. Egal ob in der Antike, im Mittelalter, in der Neuzeit: Militärische Aktionen waren immer und überall intentional gegen die Zivilbevölkerung auf der Gegenseite gerichtet. Die Chevauchées des Hundertjährigen Krieges, die Strafexpeditionen napoleonischer Truppen gegen spanische Dörfer oder General Shermans Marsch durchs Shenandoah-Tal dienten nur einem Zweck, nämlich die für die Kriegsführung notwendige wirtschaftliche Basis des Gegners nachhaltig zu schwächen. Auch reine Terrormaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung waren von jeher ein probates Mittel der psychologischen Kriegsführung; sie geben darüber hinaus – durchaus relevant für unseren Gegenstand – ein interessantes Psychogramm hinsichtlich der Mentalität militärischer Eliten, gleich, ob es sich dabei um die Ausrottung der Bevölkerung von Limoges durch den „Schwarzen Prinzen“, das Massaker an der Bevölkerung von Gera im Sächsischen Bruderkrieg oder die Wallensteinsche „Diversion mit Sengen und Brennen“ handelte, während der „die Säuglinge in die brennenden Markersdorfer Höfe“ geworfen wurden8. Warum macht man das? Man ist fähig dazu, man hat die Macht und die Mittel und ist in der Lage, die Moral des Gegners zu untergraben – der den Kombattanten vorauseilende Schrecken ist eine ausgesprochen mächtige Waffe, wie sich auch gegenwärtig hinsichtlich der Vorgänge im Nahen Osten erneut beweist. Es war vor allem aber der Erste Weltkrieg, der offenbar werden ließ, dass tradierte und propagierte, im allgemeinen Verständnis des Phänomens „Krieg“ fest verwurzelte Begriffspaare wie „Front und Hinterland“ oder „Soldat und Zivilist“ völlig obsolet waren. Vor dem Hintergrund der Materialschlachten trat die Verflechtung von kämpfender Front und dem produzierenden Hinterland nun ganz offen zu Tage. Die Rüstungsindustrien der hochentwickelten gegnerischen Industrienationen pumpten stakkatoartig state-of-the-art-Kriegsgerät, Munition, Ausrüstung, Fourage in die festgefahrenen Fronten, an denen selbst eine Entscheidung des Krieges nicht möglich schien, hinein. Der Schlüssel zum Erfolg lag also offensichtlich nicht mehr bei den Fronttruppen, sondern auf einem ganz anderen Schlachtfeld. In durchaus folgerichtiger Höherbewertung dieses nun allgemein bewusst gewordenen Zusammenhanges zwischen kämpfender Front und produzierendem Hinterland entwickelten die kriegführenden Parteien in der Folgezeit Konzepte, die eine Entscheidung an den Fronten durch die Ausschaltung der „Heimat“, in der nicht nur produziert wurde, sondern wo der kämpfende Soldat seine Familie, seine Frau und seine Kinder in Sicherheit zu wissen glaubte, herbei zwingen wollten. Bedingt durch den technischen Fortschritt, der mit dem Krieg einherging, stand nunmehr mit der neuen Waffe Luftfahrzeug und den neuen, effizienten Kampfstoffen wie Dynamit

8 Uwe Fiedler (Hrsg), Der Kelch der bittersten Leiden. Chemnitz im Zeitalter von Wallenstein und Gryphius, Chemnitz 2008, 8 ff.

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und Giftgas erstmalig in der Geschichte ein Instrumentarium bereit, mit dem sich derartige Konzepte realisieren ließen. Schon 1914 gingen England, Russland, Frankreich, Italien, Österreich-Ungarn und Deutschland dazu über, das Hinterland des Gegners zu bombardieren. Obwohl man sowohl auf Seiten des Dreibundes wie auch der Entente cordiale zunächst vorrangig wehrwirtschaftlich bedeutende Objekte im gegnerischen Hinterland mit Luftschiffen oder Flugzeugen angriff, fasste die deutsche Fliegertruppe, bedingt durch einen gewissen technologischen Fortschritt, bald auch noch ein zweites Ziel auf, nämlich durch fortschreitende Gefährdung ziviler Ziele die Moral der Bevölkerung des Gegners zu untergraben. Angriffe mit diesem Ziel erfolgten erstmalig am 20. Januar 1915 gegen Yarmouth; sie erreichten im Juni 1915 London, das nun systematisch durch Zeppeline, wenig später durch die deutschen R- und Gotha-Flugzeuge bombardiert wurde. Auf dem Höhepunkt dieser Angriffe wurden an einem Tag fast 700 Zivilisten getötet, darunter auch über fünfzig Kinder einer Londoner Schule. Die Angriffe lösten eine schwere Krise der Regierung Lloyd George aus, womit das Ziel derartiger Angriffe auf die öffentliche Moral erreicht zu sein schien9. Nach dem Krieg wurden die Wirkungen dieser scheinbar neuen Form der Kriegführung eingehend untersucht, Politiker und Militärs nahezu aller kriegführenden Mächte kamen zu dem Schluss, dass genau in dieser, von schlagkräftigen Luftflotten getragenen Strategie der Schlüssel zum Sieg in künftigen Waffengängen liegen werde. Die besonderen Protagonisten dieser Auffassung waren fatalerweise vorrangig jene Politiker, die das Grauen der Materialschlachten in Flandern, an der Somme oder in den Masuren selbst am eigenen Leibe erfahren hatten und die aus ihrer individuellen Erlebenssicht durchaus ehrlich und ernsthaft davon überzeugt waren, dass derartige neue Formen des Krieges schneller, billiger und vor allem opferärmer, und damit letztlich „humaner“ seien. Hugh Trenchard (1873 – 1956) und Jan Smuts (1870 – 1950) legten in Großbritannien die Grundlagen zu dem, was schlussendlich auch zu den Luftkriegstoten in Chemnitz führen sollte, kein zweiter aber brachte das neue Konzept so auf den Punkt wie der italienische Luftwaffengeneral Giulio Douhet (1869 – 1930). In seinem 1921 erschienenen Buch „Il Domini Dell‘Aria“ legt er seine neuen Auffassungen dar: „Unausgesetzte Zerstörungsaktionen gegen die verwundbaren Siedlungsgebiete werden den materiellen und moralischen Widerstand des feindlichen Landes brechen können und damit den Krieg praktisch beenden […]. Man stelle sich nur einmal vor, was in einer Großstadt vor sich geht, deren Zentrum im Umkreis von rund 250 Metern durch eine 20-Tonnen-Last von Luftzerstörungsmaterial verheert wird! Einschlag auf Einschlag! Brände, Explosionen, einstürzende Häuserfronten. Darüber wälzt sich das Giftgas. Die Feuersbrünste greifen um sich, immer heller lodern die Brände, während das Gas seinen furchtbaren Weg zieht […] Ein vollständiger Zerfall des Staatsapparates ist unvermeidlich und der Augenblick nicht mehr fern, da die Bevölkerung scheinbar schutzlos den Angriffen der feindlichen Luftflotten preisgegeben […] die Einstellung des 9

Vgl. Noble Frankland, Die Bomberoffensive. Rastatt 1984, 9 f.

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Kampfes um jeden Preis fordern wird, vielleicht noch, bevor ihre Armee überhaupt zum Aufmarsch kommt.“10

Der Douhetismus leitete einen vollständigen Paradigmenwechsel ein: Die Funktion des Topos „Stadt“ verkehrt sich im 20. Jahrhundert in ihr Gegenteil. Wurden Städte einst gegründet, um ihre Bewohner innerhalb der Mauer zu schützen, werden sie jetzt – und damit ihre Bewohner, Männer, Frauen, Alte, Junge, und nicht zuletzt: Kinder – zum wichtigsten Zielpunkt auf den strategischen Planungskarten des Militärs, und sie bleiben dies bis heute, denn strategische atomare, chemische und biologische Massenvernichtungswaffen und die in ihnen implizierten Abschreckungskomponenten sind dezidiert nicht auf die Kombattanten potentieller Kriegsgegner gerichtet. In den 1920er und 1930er Jahren hatten sich in internationalem Maßstab Auffassungen wie der Douhetismus durchgesetzt. Es gab nur wenige Ausnahmen, wie etwa die USA oder das Deutsche Reich. In den USA, die in jenen Jahren vorrangig an Konzepten der Territorialverteidigung orientiert waren, wurden „bekennende Douhetisten“ wie William „Billy“ Mitchell (1879 – 1936) noch mit Schimpf und Schande aus der Army ausgestoßen. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten gab es zwar mit Göring, Jeschonnek und Walter Wever im Reich eine einflussreiche „Douhetisten“-Fraktion, jedoch wendete sich nach Wevers Unfalltod das Blatt zugunsten der von Hitler dezidiert bevorzugten Blitzkriegskonzepte. In Großbritannien hingegen war die dem Douhetismus vergleichbare sog. Trenchard-Doktrin bereits Ende der 1920er Jahre zur regierungsamtlichen Auffassung geworden. Premier Stanley Baldwin (1867 – 1947), seinerseits bekennender Pazifist, erklärte, dass der Bomber immer durchkomme und Angriff die beste Verteidigung sei. 1936 wurde, nachdem man Hitlers Aufrüstungsprogramm mit Misstrauen beobachtet und nun vor allem die deutsche Luftwaffe für ebenso stark befunden hatte wie die Royal Air Force, das Bomber Command als Instrument zur Durchsetzung der Trenchard-Doktrin ins Leben gerufen. Die Erfahrungen der ersten Kriegsmonate, der Zusammenbruch Polens, die Niederlage Frankreichs und darin eingebettet das Debakel von Dünkirchen, bestärkten die Briten im Festhalten an der Trenchard-Doktrin. Noch nach dem Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion galt als Eckpfeiler der alliierten Nationen das Dogma: „The United Nations have two instruments at their disposal for hammering Germany: The Red Army and the Royal Air Force.“11 Der Wert, den man der RAF beimaß, erklärt sich aus zwei Aspekten: zum einen sah man auf der Insel – das hatte Dünkirchen gezeigt – die „bombing policy“ als alternativlos an, und das Bewusstsein der Verletzung der „splendid isolation“ – nicht zuletzt das halbherzige Invasionstheater von Dieppe sollte das der Öffentlichkeit schmackhaft machen, was nach den „blitz experiences“ während der „Battle of Britain“ auch mühelos gelang. Zweitens konnte Großbritannien mit der Bomberof10

Giulio Douhet, Luftherrschaft, Berlin o. J. (1935), 49. Public Record Office (im Folgenden PRO) London, Air 20/3718 Air Ministry to RAF Delegation in Washington. 11

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fensive gegen Deutschland seinen Verbünden außerdem ziemlich eindrucksvoll demonstrieren, dass man nicht wie etwa Frankreich vor dem scheinbar übermächtigen Gegner kapituliert habe. Und hatte man – trotz der Erfahrungen der „Battle of Britain“ – noch zu Beginn der Offensive gegen das Reich Bedenken, was den uneingeschränkten, gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Luftkrieg gegen Hitlerdeutschland anbelangte, so änderte sich dies bald aus einem komplexen Bündel unterschiedlicher Motive und Gegebenheiten. Orientierte man zu Beginn des Luftkrieges gegen Deutschland zunächst mit einer gewissen Schwerpunktsetzung auf weitgehend militärisch determinierte Ziele wie Verkehrseinrichtungen, Schlüsselindustrien oder die Treibstoffproduktion, so verlagerten sich ab Februar 1942 die Schwerpunkte12. Die geringe Eindringtiefe der RAF, die durchaus effizienten Abwehrmaßnahmen der Luftwaffe, mangelndes Zielwissen und Zielfindungsprobleme ließen „precission raids“ gegen Reichsgebiet mehr als fragwürdig erscheinen, hatten die britischen Piloten Anfangs doch Mühe, ein Ziel von der Größe einer Stadt überhaupt zu finden: die Piloten, die im August 1940 versehentlich die Stadt Chemnitz bombardierten, waren überzeugt, ihren Kampfauftrag gegen Jena ausgeführt zu haben13. Sir Arthur Harris (1892 – 1984), der am 22. Februar 1942 Chef des BC wurde, zog daraus Konsequenzen und setzte sein Ziel, nunmehr die Ballungszentren des Reiches großflächig zu bombardieren, nahezu obsessiv um. Das Bomber Command wurde somit zur direkt auf die Zivilbevölkerung gerichteten Waffe, die Untergrabung von Moral und Durchhaltewillen oberstes Anliegen des angestrebten „indiscriminate bombing“. Bereits nach dem „Blitz“, während dem bis Dezember 1940 14.000 britische Zivilisten ihr Leben verloren, versprach Churchill dem Empire, aus Deutschland eine Wüste machen zu wollen. Zwar behielt man durchaus militärische und wirtschaftliche Aspekte im Fokus, aber Harris und natürlich auch Premier Winston Churchill (1874 – 1965), beide geprägt durch die „trench experiences“ im Ersten Weltkrieg, waren der festen Überzeugung, dass der Feinmechaniker einer Rüstungsfabrik in dem Moment keine Präzision mehr leisten könne, in dem er seine Frau und seine Kinder im Feuersturm wisse. Diese gewissermaßen Doppelstrategie findet ihren Niederschlag in zwei zielführenden Maßnahmen: Einmal im sog. „Bomber’s Baedecker“, einer an der ökonomischen Bedeutung der Städte im Reichsgebiet orientierten Handreichung des Ministry of economic warfare an das Bomber Command14. Zweitens entstehen um die Jahresmitte 1942 auf der Grundlage militärischer und nachrichtendienstlicher Aufklärung zu allen potentiellen Einzel-Targets sogenannte „zone map information sheets“, die zur Grundlage für die Planung künf-

12 PRO London, Air 8/424 „25 Towns suitable for heavy attacs“; PRO London, ebd., „Minute sheet“ vom 5. 4. 1942 „[…] we should make a list of about 25 towns in Germany suitable for Coventration“. 13 Vgl. Martin Middlebrook/Chris Everitt, The Bomber Command War Diaries. An operational reference book 1939 – 1945, Leicester 1996. 74. 14 PRO London, Air 14/1206.

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tiger Raids der Alliierten werden15. Diese weisen zwar natürlich auch vulnerable Punkte in wirtschaftlicher, verkehrstechnischer, kommunikationsbezogener und militärischer Infrastruktur aus, das Hauptaugenmerk aber liegt, wie am Beispiel des Information Sheets zum Target Chemnitz nachweisbar, auf einem anderen Gebiet. Es kommt im Resumee zu folgendem Schluss: „Chemnitz weist, wie andere deutsche Städte auch, eine ausnehmend hohe Bevölkerungsdichte aus, die der Dominanz von Wohngebieten geschuldet ist. Die Zonen 2a und 1 (Wohnbebauung und City) machen nahezu die Hälfte der bebauten Gebiete von fünf Quadratmeilen aus. Fabriken erstrecken sich direkt in diese Areale hinein und sind den eng besiedelten Wohngebieten der Industriearbeiter dicht benachbart. Aus diesen Gründen ist Chemnitz ein attraktives Ziel für einen schweren Flächenangriff – For these reasons, Chemnitz is an attractive blitz target.“16

Das angestrebte „moral bombing“ bleibt im Verlauf des Krieges Leitparadigma der Alliierten, konkret und detailliert zwischen London, Washington und Moskau abgestimmt. Ihm kommt, mit fortschreitender Dauer des Krieges wachsende Bedeutung zu und wird schließlich zur zentralen Festlegung auf der Casablanca-Konferenz17. Hier verständigen sich die Alliierten auf ein arbeitsteiliges Round-theclock-Bombing mit dem Ziel, die Moral der Bevölkerung bis hin zu einem Punkt zu untergraben, an dem die Fähigkeit, militärischen Widerstand zu leisten nachhaltig geschwächt ist. Die strikte Orientierung auf das moral bombing brachte mit sich, dass Städte wie Chemnitz nur oberflächlich militärisch aufgeklärt und erst verhältnismäßig spät angegriffen wurden. Wie der United States Strategic Bombing Service im Juli/August 1945 konstatiert, hatten die Alliierten keinerlei Ahnung davon, dass die Werke der Auto Union Chemnitz über den Zeitraum nahezu eines Jahres der alleinige (!) Hersteller von Panzermotoren für die Tiger- und Panther-Typen der Wehrmacht waren, deren zielgerichtetes Ausschalten eines derartigen fast klassisch-akademischen industriellen Flaschenhalses die Produktion von über 2.000 Panzern hätte verhindern können18. So kam es, dass Chemnitz erst in der unmittelbaren Phase des Endkampfes – die Planungsstäbe schreiben von „great importance in this stage of war“19 – zum primären Angriffsziel der alliierten Luftwaffen wird: Die acht zwischen 6. Februar und 11. April 1945 im Rahmen der Luftkriegsoperationen über Mitteldeutschland gegen Chemnitz gerichteten Angriffe der 8th USAF sowie des Bomber Commands dienen in erster Linie der Entlastung der alliierten Bodentruppen, der von Westen 15 Air Force Historical Research Center, Maxwell, Arizona, U.S.A., Roll Nr. 25175, Intelligence Target Analyses, file 1207, GH583 (Schloßbergmuseum Chemnitz, Microfilmsammlung, Übersetzung durch den Putor) fol.0441 ff. 16 Ebd., fol.0442 f. 17 Vgl. Mathias Forster, Luftkrieg, in: Christian Zentner/Friedemann Bedürftig, Das Große Lexikon des Zweiten Weltkriegs. München 1993, 349. 18 Vgl. United States Strategic Bombing Survey, Washington D.C.; 1945/47 „Auto Union Chemnitz/Zwickau“. 19 PRO London, Air Ministry Bulletin Nr. 17797, Nr. 9.

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anrückenden Amerikaner sowie der Großoffensive der Roten Armee, die an der Ostfront seit Januar 1945 rollt20. Infrastruktur und Moral sind wiederum die Ziele, von deren Ausschaltung sich die Alliierten eine Forcierung des Kriegsendes erwarten21. Beide Ziele werden erreicht: Die zerstörte Infrastruktur verhindert die Verbindungen der noch weitgehend kampfstarken Wehrmachts- und SS-Einheiten in Sachsen zur gleichfalls noch völlig intakten Heeresgruppe Schörner in Böhmen. Der Wehrmachtsbericht konstatiert für den Großraum Chemnitz nach den Angriffen Kriegsmüdigkeit der Bevölkerung und zunehmend „wehrmachtsfeindliches Verhalten“, das sich sogar im Beschießen deutscher Truppen äußere22. Der Verfall der öffentlichen wie individuellen Moral ist der großflächigen Zerstörung der Stadt, vor allem aber den knapp viertausend Todesopfern in Chemnitz, den Vorstädten und unmittelbar angrenzenden Gemeinden geschuldet23. Zur besonderen Tragik des Luftkriegsgeschehens über Chemnitz wie nahezu aller modernen Kriege gehört nun, dass – verschärft durch den Umstand, dass aus der noch Ende 1944 als nicht akut luftgefährdet eingeschätzten Stadt keine Evakuierungen erfolgten – Kinder als integraler Bestandteil dessen, was in modernen militärstrategischer Planungen „Moral der Zivilbevölkerung“ genannt wird, in besonderem Maße Opfer geworden sind. Der Chemnitzer Historiker Gert Richter hat Mitte der 1990er Jahre 2.652 von insgesamt ca. 3.715 Todesopfern aller Bombenangriffe namentlich erfasst24. Von diesen 2.652 Personen sind 483 Kinder vom Säuglingsalter bis zum 14. Lebensjahr. Das entspricht einem Prozentsatz von 18,2 Prozent. Legt man diesen Prozentsatz linear auf die Differenz zur Gesamtsumme um, muss man von insgesamt ca. 675 Kindern ausgehen, die den Bombenangriffen auf Chemnitz zum Opfer fielen. Diese Zahl beinhaltet noch nicht die Zahl derjenigen Kinder, die während des amerikanischen Artilleriebeschusses ab Mitte April 1945 ums Leben kamen. 675 tote Kinder: Das bedeutet 675 ausgelöschte Biografien, das bedeutet die hochgradige Traumatisierung der Angehörigen und all derer, die mit den jüngsten Opfern der Bombenangriffe konfrontiert wurden. Die getöteten, verletzten und traumatisierten Kinder aber sind somit keine Opfer, die man billigend – man spricht heute leicht von Kollateralschäden – in Kauf genommen werden, sondern sie sind ein immanenter Faktor militärischer Planungen, deren Gegenstand die Demoralisierung der Bevölkerung ist. Lassen wir noch einmal eine Chemnitzer Stimme zu Wort kommen: In der Allgemeinen Zeitung erscheint am 2. März 1945 folgende Todesanzeige: „Meine Gattin, mein einziger Kamerad [Hervorhebung durch den Verf.] […] mein geliebtes

20

Vgl. PRO London, Air 20 / 3361, Schreiben 24 A und 27 A. Vgl. PRO London Air 8 / 1020, Schreiben Arthur Harris an Charles Portal. 22 Karl Czok (Hrsg.), Geschichte Sachsens. Weimar 1989, 521. 23 Vgl. dazu Percy E. Schramm (Hrsg.), Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht 1944 – 45, Teilbd. 2, März-Mai 1945. 24 Gert Richter, Chemnitzer Erinnerungen (Teil I), Chemnitz 22001. 21

Luftkriegsopfer Kind – eine Chemnitzer Fallstudie

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Töchterlein und alle unsere Lieben wurden uns am 14.2. grausam entrissen.“25 Aufgegeben wurde die Todesanzeige von einem aktiven, im Felde stehenden Feldwebel der Deutschen Wehrmacht. Jenseits aller Tragik, die hinter der Annonce steht, muss man die wenigen Worte einmal de dicto lesen, um die Wirkung der Bombenangriffe über ihr unmittelbares Töten und Zerstören zu begreifen: Die getötete Ehefrau war der „einzige Kamerad“, den der Feldwebel der Panzertruppe hatte?! Zentrale Momente seines Soldatseins – Kameradschaft, Volksgemeinschaft – und damit seiner Kampfmoral wurden durch die Luftangriffe in der vermeintlich sicheren Heimat, hiermit schließt sich mein eingangs aufgemachter Bogen, vernichtet. Somit waren auch die Luftangriffe auf Chemnitz, die fast siebenhundert ausgelöschten Kinderbiografien, das unermessliche Leid, dass diese mit sich brachten, das Resultat eines langen, verhängnisvollen Entwicklungsweges hochentwickelter Industriestaaten – einer Fehlentwicklung mit furchtbarer Eigendynamik, die mit dem Indiscriminate Bombing des Zweiten Weltkrieges nicht abgeschlossen sein, sondern über die nukleare Abschreckung und weitere militärische Paradigmen ihre Fortsetzung bis in die Gegenwart finden sollte26.

25

Chemnitzer Allgemeine Zeitung, Ausgabe vom 2. März 1945. Vgl. Eric Markusen/David Kopf, The Holocaust and Strategic Bombing. Genocide and Total War in the Twentieth Century, Boulder 1995. 26

Finale fern der Metropolen Plauen und das Vogtland am Ende des Zweiten Weltkrieges Von Gerd Naumann, Plauen I. Der Preis der Niederlage Die von den Alliierten im Februar 1945 von der Krim aus an die Deutschen gerichtete klare Aufforderung, den hoffnungslosen Widerstand aufzugeben, weil sich sonst der Preis ihrer Niederlage1 weiter erhöhen würde, verhallte wirkungslos, musste unter den gegebenen Umständen wirkungslos verhallen. Obwohl das Dritte Reich für jedermann sichtbar dem Untergang geweiht war und zunehmend in Agonie verfiel, setzten die Deutschen ihren Widerstand fort – unter Zwang bis zur Bedrohung der physischen Existenz, aber auch freiwillig – sei es aus Trotz, aus Verzweiflung oder aus Fanatismus. Der Preis der Niederlage stieg zusehends und wurde für jedermann spürbar: Schon ab Sommer 1944 aber insbesondere im Winter und Frühjahr 1945 verzeichneten die alliierten Streitkräfte zur endgültigen Niederwerfung der Deutschen einen enormen Zustrom an Menschen und Material, der natürlich auch eingesetzt und verbraucht wurde. Dies hatte zur Folge, dass für die alliierten Einsätze in den letzten Monaten des Krieges @ gleich ob am Boden oder in der Luft @ unverhältnismäßiger Kräfteeinsatz kennzeichnend war, natürlich auch, um im Angesicht des nahen Sieges eigene Verluste möglichst gering zu halten. Die Tendenz zu Eskalation und Verstärkung bestimmte insbesondere den von den Alliierten gegen das Reich geführten Krieg aus der Luft: Von den 1,42 Millionen Tonnen Bomben, die insgesamt auf Deutschland fielen, trafen 1,18 Millionen Tonnen im letzten Kriegsjahr, und allein ein Drittel der Tonnage in den letzten vier Monaten ein immer kleiner werdendes, von Deutschen kontrolliertes Gebiet. Immer öfter erlitten nun auch die Menschen in den Städten Sachsens die Wucht und Schwere des modernen Krieges mit allen seinen Schrecken und Leiden. Und, die Zeit für die strategischen Ziele dritter Wahl bzw. der letzten Stunde – wie Plauen @ war angebrochen. Selbst als am Ende der ersten Märzdekade 1945 eine Phase begann, in der die amerikanischen Luftangriffe die eigenen Kriegsanstrengungen nicht mehr wesentlich voranbrachten, weil sich die Wehrmacht ohnehin zusehends in Auflösung befand 1 Vgl. Die Konferenzen von Malta und Jalta, Department of State USA. Dokumente vom 17. Juli 1944 bis 3. Juni 1945, Deutsche Ausgabe, Düsseldorf 1957.

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und der Widerstand am Boden zunehmend sporadischer wurde, blieb der unverhältnismäßige Kräfteeinsatz als Konstante erhalten. Helmut Schnatz stellt in diesem Zusammenhang die Frage, „ob der amerikanischen Luftkriegsführung […] in der Schlussphase des Krieges überhaupt noch ein schlüssiges Konzept zugrunde lag“.2 Dass diese Fragestellung berechtigt ist, belegen u. a. folgende Tatsachen mit einem unmittelbaren Bezug zu Plauen. II. Bombenkrieg gegen Plauen in der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges3 Wehrwirtschaftliche Ziele – wie der namhafte Rüstungshersteller Vomag AG in Plauen – wurden von der USAAF verstärkt in der zweiten März-Hälfte 1945 bombardiert und erheblich zerstört, also zu einem Zeitpunkt, als auf Grund des Kriegsverlaufs klar sein musste, dass diese Attacken weder einen rüstungswirtschaftlichen Effekt, noch einen Einfluss auf die deutschen Kriegsanstrengungen haben würden4. Die 8. USAAF führte im März und Anfang April 1945 mit unverhältnismäßigem Aufwand Luftschläge gegen das nicht verteidigte Plauen, das sich zu dem Zeitpunkt auch nicht in Frontnähe befand. Die Amerikaner selbst unterschieden dabei zwischen „Area Raids“ (Stadtangriffen) und „Plant Raids“ (Industrieangriffen)5, wenngleich die meisten Attacken des Frühjahrs 1945 sowohl dem dicht bebauten Stadtgebiet, als auch Industrieanlagen, als auch Verschiebebahnhöfen galten. Nach ihrem letzten so angelegten Tagangriff am 8. April 1945 auf Plauen rechneten die Amerikaner mit geschätzten 30.000 Toten „in einer zum Großteil zerstörten Stadt“.6 In Wirklichkeit waren seinerzeit 60 Opfer7 zu beklagen. Acht von elf der gegen Plauen geflogenen Bombenangriffe der Amerikaner fanden trotz widrigen Sichtbedingungen und daher zwangsläufig unter Verzicht auf den

2

Bernd Heidenreich/Sönke Neitzel (Hrsg.), Der Bombenkrieg und seine Opfer. Wiesbaden 2004, 37. 3 Vgl. die Gesamtdarstellung von Gerd Naumann, Plauen im Bombenkrieg 1944/45. 1. Auflage, Plauen 2011. Ders., Plauen im Bombenkrieg (September 1944 bis April 1945). In: Der Vogtlandatlas. Regionalatlas zur Natur, Geschichte, Bevölkerung, Wirtschaft, Kultur des Sächsischen Vogtlandes. 3. akt. u. erw. Aufl., Chemnitz 2007. 4 Acht Tage nach dem letzten gegen die Vomag gerichteten Bombenangriff besetzte die US-Armee Plauen. 5 Tank Industry Report, Second Edition January 1947 (The U.S. Strategic Bombing Survey: European Theater of Operations). Quelle: http://www.angelfire.com/super/ussbs/tankrep. html. 6 The US National Archives and Records Administration Washington, DC: U. S. Strategic Bombing Survey. Munitions Division; Motor Vehicle and Tank Branch Plant Report No. 9. Voigtländer Maschinenfabrik A .G. Plauen Germany. Korrigiertes Manuskript, 19. 7 Stadtarchiv Plauen: Polizeiliche Unterlagen der Bombentoten, Verschütteten und Vermissten der Stadt Plauen.

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Einsatz des hoch präzisen Bombenzielgerätes „Bomb target device Norden sight“8 sowie ohne Ergebniskontrolle statt. In all diesen Fällen gelangte das Bodenradarsystems H2X zum Einsatz. Dabei sank die Treffergenauigkeit mit zunehmender Bewölkung dramatisch und erreichte bei vollständiger Bedeckung gerade einmal 0,2 % bezogen auf einen Radius von 300 Meter um ein anvisiertes Ziel9. In Folge dessen gingen Bombenkonzentrationen häufig weitab der eigentlichen Ziele nieder, was in Unkenntnis der Zusammenhänge zu Spekulationen über die Intentionen der Abwürfe führte, die bis in die Gegenwart anhalten. Heute herrscht weitestgehend Konsens, dass das H2X-System zur präzisen Zielfindung nicht taugte, sondern bestenfalls als brauchbares Navigationsinstrument. Plauen bekam auch die praktischen Folgen einer strukturellen Veränderung zu spüren, die sich in der USAAF seit Mitte 1944 vollzog: Die Bombenschützen in den schweren viermotorigen Bombern wurden sukzessive durch so genannte Togglier ersetzt @ Besatzungsmitglieder, die als Bordschütze (Nose-Gunner) fungierten und zugleich als Bombenschütze ohne eigenes Zielgerät. Ihre Aufgabe war es, auf das Kommando des Führungs-Bombers den Bombenabwurf auszulösen. Diese strukturelle Veränderung wirkte sich unmittelbar auf die Taktik der Bombenabwürfe aus, die nun häufig in Schwadron-Formation im Reihenabwurf erfolgten, wodurch sich die amerikanische und die britische Bombardierungspraxis und damit verbunden die Trefferbilder – Teppichen ähnelnd @ immer stärker annäherten. Aus alledem folgt die Vermutung, dass die Luftangriffe in den letzten Wochen vor der deutschen Kapitulation in erblichem Maße auch der Entsorgung riesiger Mengen Abwurfmunition dienten, über die die US-Luftwaffe wie die RAF am Schluss des Krieges verfügten. Für das Bomber Command der Britischen RAF indes existierte bis zuletzt kein konzeptionelles Problem. Mit sturer Präzision löschte es eine große deutsche Stadt nach der anderen aus. Plauen traf es mit aller Wucht in der Nacht vom 10. zum 11. April 1945. III. Plauen, 10. April 1945 Die 156th Squadron RAF, mit der Zielmarkierung über Plauen in der Nacht des 10. April 1945 betraut, benennt in ihrem Operation Record Book die Intension des Angriffs ungeschminkt so, wie sie im Briefing bei den Fronteinheiten ankam: „[…] arase the town of the map.“10 – Die Stadt aus der Landkarte auszuradieren. Liest man hingegen im offiziellen Bericht des Bomber Command über die Nachtoperation 10./11. April 1945, so gewinnt man den Eindruck, es handele sich nicht um ein und denselben Angriff. Dort heißt es: „Plauen: Die Absicht war die Zerstörung der

8 Zielgerät, das der in die USA ausgewanderte holländische Ingenieur Carl Norden (1880 – 1965) ursprünglich für die Verwendung in den Flugzeugen der US Navy entwickelt hatte. 9 Vgl. auch http://www.airpower.at. 10 156th Squadron RAF LOG. http://www.156squadron.com.

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Eisenbahnanlagen und gleichzeitig das Blockieren der Gleise in den Verschiebebahnhöfen im Norden und Süden der Stadt.“11 War die Intension des Angriffs nun Plauen aus der Landkarte zu löschen oder die Zerstörung der Eisenbahnanlagen? Die Antwort fällt nach einem Blick auf die am 10. April 1945 verwendete Abwurfmunition, dem vielfach bewährten BombenMix aus Luftminen (allein davon 248 x 2,0 Tonnen), Spreng- und Brandbomben mit der Bomber-Command-Code-Bezeichnung „Cookie/Plumduff“ (statt „Abnormal“ für Industrieanlagen), und angesichts der damit erzielten Wirkungen, eindeutig aus: Der Angriff galt sicherlich auch den Bahnanlagen, wurde aber primär mit der Absicht des „Dehousing“ und gemäß der „Area Bombing Directive“12 geführt. Er sollte größtmögliche Verwüstungen im dicht bebauten Stadtgebiet herbeiführen und die noch verbliebenen Einwohner terrorisieren. Die Erwartungen an den Angriff wurden zu einem Großteil erfüllt: 51 % des bebauten Stadtgebietes wurden in der Fläche schwerstzerstört @ im Zentrum des Angriffs betrug der Zerstörungsgrad 99 %. Mindestens 890 Menschen fanden bei dem Angriff den Tod. Angesichts der Schwere der Zerstörungen rechneten die Briten allerdings mit 30.000 Toten13. Die am 7. Februar 1945 erfolgte Einstufung Plauens als Hauptbombardierungsziel unter dem Fishcode-Namen „Brisling“ @ zu Deutsch Sprotte @ mündete am 10. April 1945, wie dargestellt, in die Verwüstung der Stadt durch britisches Flächenbombardement. Der scheinbare Automatismus, der die Entwicklung zwischen diesen beiden Daten prägte, wäre möglicherweise an drei Stellen zu durchbrechen gewesen: Zuerst am 2. März 1945, als sich nach einem Briefing die als Gelegenheitsziel eingestufte Sommerfrische Jocketa @ stellvertretend für die Elstertalbrücke und somit für die Schnittstelle von oberer und unterer Bahn @ auf der Zielliste für die strategische Operation 859 der 8. USAAF wiederfindet14. Zwölf B 17 Bomber waren 11 Zusammenfassender Bericht des Bomber Command der Royal Air Force über die Nachtangriffe vom 10./11. April 1945. Quelle: British National Archivs, Kew: Air 14/3795, Intelligence narrative of operations Nos. 981 – 1087, 1945, Jan-June. 12 Die Area Bombing Directive (General Directive No.5 (S.46368/D.C.A.S), „Anweisung zum Flächenbombardement“, wurde am 14. Februar 1942 vom britischen Luftfahrtministerium erlassen. In dieser Anweisung wurde dem neuen Oberkommandierenden des Bomber Command der Royal Air Force, Arthur Harris (1892 – 1984), mitgeteilt, er könne seine Streitkräfte ab sofort ohne jede Beschränkung einsetzen: „You are accordingly authorised to use your forces without restriction […]“. Darüber hinaus wurde Harris informiert, dass die Einsätze auf die Moral der feindlichen Zivilbevölkerung zu konzentrieren seien – insbesondere auf die der Industriearbeiter: „It has been decided that the primary objective of your operations should be focused on the morale of the enemy civil population and in particular the industrial workers“. Der Text ist veröffentlicht unter: https://de.wikipedia.org/wiki/Area_ Bombing_Directive. 13 British National Archivs, Kew: Air 14/3795, Intelligence narrative of operations Nos. 981 – 1087, 1945, Jan-June. 14 th 8 Air Force, 1st Air Division (H), 1st Combat Bombardment Wing (H), 91st Bombardment Group, 322nd Bombardment Squadron (H). The 322nd Squadron Daily Reports 1945 – 91st Bomb Group (H) Period covered: 1 March 1945 to 31 March 1945. Prepared by Samuel Y. Gibbon, Capt. A.C., Sgt. A. F. Gentile. http:// www.91stbombgroup.com.

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dafür vorgesehen, im Falle widriger Bedingungen über den primären bzw. sekundären Zielgebieten die Brücke mit 24,6 Tonnen Bomben zu zerstören. In Hinblick darauf, dass der Nachtangriff des 10. April 1945 mutmaßlich die Zerstörung der Gleisanlagen des Oberen und des Unteren Bahnhofs in Plauen bezweckte und die Verkehrsverbindungen nachhaltig unterbrechen sollte, hätte die Zerstörung der Elstertalbrücke möglicherweise aufhebende Wirkung besessen und den verheerenden Flächenangriff überflüssig gemacht. Der größte Teil der Bomben gelangte am 2. März 1945 über Bahnanlagen der Stadt Chemnitz (Sekundärziel) zum Abwurf. Etliche auf dem Rückflug abgeworfene Bomben, deren Krater heute noch sichtbar sind, schlugen in der Nähe des nur von leichter Flak geschützten Gelegenheitsziels Elstertalbrücke ein, ohne größeren Schaden anzurichten. Der Eisenbahnverkehr war nur für kurze Zeit unterbrochen. Die zweite Chance, von Verwüstung vielleicht verschont zu bleiben, ergab sich auch für Plauen aus der in England geführten Kontroverse über die Wirksamkeit der Flächenangriffe und die dahinter stehenden Motive. Premier Winston Churchill (1874 – 1965) wandte sich am 29. März 1945 in einer Note an die Stabschefs der britischen Streitkräfte mit der Aufforderung, „die Frage des Bombardements deutscher Städte ausschließlich um der Steigerung des Terrors willen, wenngleich unter anderen Vorwänden, zu prüfen“. Am 4. April 1945 sprachen sich die Befehlshaber zwar für die Begrenzung der Flächenbombardements aus, zugleich aber für deren Beibehaltung – explizit gegen zivile Strukturen @ in dieser Phase des Krieges. Die dritte, allerdings extrem geringe und ultimativ letzte Chance für Plauen, dem Inferno eines Flächenangriffs doch noch zu entgehen, war mit der Person eines Agenten des OSS – des militärischen Geheimdienstes der USA – verbunden, der seit dem 8. April 1945 im Gebiet in und um Plauen operierte. Fatalerweise gelang es ihm aber am 9. April 1945 nicht, mit Hilfe seines Handsprechfunkgerätes15 Funkkontakt zu einem Mitarbeiter des Geheimdienstes an Bord eines speziell ausgestatteten Mosquito-Flugzeuges herzustellen, um mitzuteilen, was er am 8. April 1945 gesehen hatte: Eine brennende, kollabierende Stadt Plauen, in der nichts darauf hinwies, dass sie verteidigt werden sollte, fliehende Menschen und einen völlig zerstörten Bahnhof16. Amerikaner und Briten waren über den Zustand der Stadt und ihrer Bahnhöfe auch ohne die Informationen des Agenten vollständig im Bilde, denn beide hatten am 9. April 1945 noch einmal Luftaufklärung über Plauen betrieben: Die Amerikaner, um die Ergebnisse ihres Tagangriffs vom 8. April 1945 zu verifizieren; die 15

Abhörsicheres, im Auftrage des OSS entwickeltes elektronisches Kommunikationsverfahren mit der Bezeichnung „Joan-Eleanor System“, das VHF-Frequenzen nutzte: „An SSTR6 transceiver (,Eleanor‘) carried on an aircraft flying overhead at a prearranged time. A handheld SSTC-502 transceiver (,Joan‘) for use by an agent in the field“. 16 Der Agent – ein Luxemburger @ war beauftragt, die mutmaßliche Verlegung der VWaffen-Erprobung nach Plauen zu verifizieren und etwaige Transporte von V-Waffen zu erkunden und dem OSS zu melden. Darüber hinaus galt das Interesse der Aufklärung möglicher Verteidigungsmaßnahmen, die den Vormarsch der US-Truppen im Raum Hof/Plauen hätten erschweren können.

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Briten, um die Abwehrsituation in der Stadt vor dem beabsichtigten finalen nächtlichen Luftschlag zu prüfen. Bei der Auswertung der Luftbilder konnte ihnen nicht verborgen geblieben sein, dass die Gleisanlagen des Oberen wie des Unteren Bahnhofs bereits schwer getroffen waren. Die Meldung des Agenten – sofern sie überhaupt vom OSS an die Briten weitergegeben worden wäre @ hätte also nur bestätigt, was diese bereits wissen mussten. Trotz der beschriebenen Aufklärungslage auf Seiten der Alliierten waren für Plauen die Würfel dennoch endgültig gefallen. Nur sechs Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner ging die Stadt im Bombenhagel einer Streitmacht von 304 Lancaster-Bombern und 6 Mosquitoes der 1. und 8. Gruppe des Bomber Command der Royal Air Force unter, die auf bewährte Weise von anderen Flugzeugen abgeschirmt und logistisch unterstützt wurde. Zwölf Bomber, neun „Halifax“, zwei „B 17 Flying Fortress“, eine „B 24 Liberator“ sowie ein „Mosquito“Schnellbomber waren für diese Zwecke zusätzlich am Himmel17. Plauen bekam noch im letzten Moment zu spüren, dass sich der Luftkrieg endgültig zum Selbstläufer entwickelt hatte. Es wies nach 14 Bombenangriffen mit 158,87 Tonnen die mit Abstand größte Konzentration von Abwurfmitteln pro km2 und mit rund 76 % auch den insgesamt höchsten Zerstörungsgrad der sächsischen Großstädte auf18. IV. Die militärischen Vorgänge im Vogtland19 Wesentliche Teile des Vogtlandes wurden im Zuge der am 6. April 1945 begonnenen amerikanischen Schlussoffensive aus dem hessisch-thüringischen Grenzgebiet nach Mitteldeutschland von Mitte April bis kurz vor Kriegsende besetzt. Eine zusammenhängende deutsche Frontlinie gab es auch hier nicht mehr. Vereinzelte, teils heftige deutsche Gegenwehr wurde von der gewaltigen Kampfkraft der US-Bodentruppen und den sie wirksam unterstützenden taktischen Lufteinheiten schnell und rigoros gebrochen. Militärische Bedeutung kam diesem letzten deutschen Aufbäumen auch an diesem Abschnitt einer zunehmend bröckelnden Front nicht mehr zu. V. Die Besetzung Plauens am 16. April 1945 Plauen, unverteidigt und voller ausländischer Zwangsarbeiter, wurde am 16. April 1945 von den Amerikanern besetzt. Der Wehrmachtskommandeur, der 17 British National Archivs, Kew: Air 14/3795, Intelligence narrative of operations Nos. 981 – 1087, 1945, Jan–June. 18 Naumann, Plauen im Bombenkrieg (wie Anm. 3), 6. 19 Die Endkämpfe der Deutschen Wehrmacht im Vogtland und im Osterzgebirge werden beschrieben von Rudolf Laser/Joachim Mensdorf, Seventyfive Days Only. 75 Tage US-Besatzung in Plauen, 16. April bis 30. Juni 1945, Plauen, 2000, 19 ff.; Rudolf Laser, Das Ende des Zweiten Weltkrieges 1945 und 75 Tage amerikanische Besatzung im Vogtland. In: Der Vogtlandatlas (wie Anm. 3); Ulrich Koch/Jürgen Möller, Dokumentenausstellung zum Kriegsende im Vogtland sowie Westerzgebirge. Berlin u. a. 2005.

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Abb. 1: Blick von der Jößnitzer Straße zur Paulskirche (Quelle: Sammlung des Vogtlandmuseums Plauen)

durch den „Befh. Thüringen“ als Kampfkommandant eingesetzt worden war, hatte bereits Tage vorher mit den Restgruppen des in Plauen stationierten Gren.Ers.Btl. 31 und des Gren.Ausb.Btl. 414 ostwärts der Weißen Elster Stellungen bezogen. Bevor die ersten Amerikaner in die Stadt eindrangen, passierten Einheiten des westlich von Plauen zurückweichenden LXXXV. AK fluchtartig die Stadt in Richtung Osten. Ihnen schlossen sich die Reste der Garnison Plauen an. Bis zum Mittag hatten die Nachhuten die Stadt verlassen. Eine Fahrzeugkolonne mit zwei Panzern, Fahrzeugen der Standortkommandantur unter Oberstleutnant Englert und der Plauener Feuerwehr, geriet gegen 11.00 Uhr bei Großfriesen in einen Tieffliegerangriff, wobei ein Soldat getötet wurde. Das Personal des Fliegerhorsts Plauen an der Schöpsdrehe hatte bereits am 13. April unter Führung von Hauptmann Schulze Plauen in Richtung Rittersgrün im Erzgebirge verlassen, wo es zum Kriegsende in amerikanische Kriegsgefangenschaft ging. In Plauen erfolgte die Sprengung der Brücke zum Heeresproviantdepot am Essigsteig. Die Sprengung der Fürstenbrücke [Stresemannbrücke] wurde durch „beherzte Bürger“ verhindert. Gegen Mittag standen die ersten amerikanischen Aufklärer mit ihren Jeeps auf der Straße Syrau-Schöpsdrehe. Kurz darauf erschienen auch die ersten Tanks. Eine unverteidigte Straßensperre an der Gaststätte „Echo“ wurde mühelos beseitigt. Dann eröffneten die Tanks das Feuer auf die Stadt. Die Infanteristen des 3./

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Abb. 2: Blick von der Paulskirche zur Jößnitzer, Johann- und Rähnisstraße. Hier betrug der Zerstörungsgrad 99 %. (Quelle: Sammlung des Vogtlandmuseums Plauen)

347 von Major Withers drangen mit Unterstützung von vier Tanks des unterstellen 735th Tank Bn. gegen 14.00 Uhr über die Alte Pausaer Straße und Bahnhofstraße zum Stadtzentrum vor. Ein zweiter Verband fuhr von Haselbrunn über Heidenreich in Richtung Preißelpöhl und dann nach Süden. Am Postplatz machten sie kurz Halt, bevor sie weiter rollen. Der 2nd Platoon Co. L. 347th Inf. Regiment unter Captain Kidd besetzte kampflos die noch immer zur Sprengung vorbereitete Fürstenbrücke [Stresemannbrücke]. Gegen 15.00 Uhr erreichte das Gros der amerikanischen Truppen über die Reichsstraße 282 den Stadtrand. Ohne Halt fuhren die Spitzen des 3rd Bn. vom Stadtzentrum aus über die Fürstenbrücke in Richtung Krankenhaus und dann über die Äußere Reichenbacher Straße weiter nach Kleinfriesen. Gegen 15.30 Uhr passierten die vier Tanks und motorisierte Infanterie in Kleinfriesen die Falkensteiner Straße Richtung Gondelteich-Brücke. Nachdem die Panzer die RAB ChemnitzPlauen überquert hatten, gerieten sie 300 – 400 Meter vor Großfriesen in einen Hinterhalt. Ein Hitlerjunge schoss mit einer Panzerfaust einen Sherman-Panzer ab. In der Zwischenzeit hatte das 2nd Bn. von Schleiz kommend über die Straße Tobertitz-Kloschwitz-Kobitzschwalde und von Schneckengrün her Neundorf und die Plauener Kasernen erreicht, die kampflos besetzt wurden. In der König-Georg-Kaserne, wo sich die Heeres-Standortverwaltung befand, erschoss sich der als Kasernenkommandant eingesetzte Offizier vor dem Eintreffen der Amerikaner. Der in der Kaserne stationierte Volkssturm floh. Die Hindenburg- und Kirchbach-Kaserne standen leer. Le-

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diglich von den Höhen am „Eichhäuschen“ fielen Schüsse. Bis zum Abend waren alle Kräfte des 2. und 3./347 in Plauen und gegen 18.00 Uhr wurde die Stadt als besetzt gemeldet.

Abb. 3: Die stark beschädigte St. Johanniskirche. (Quelle: Sammlung des Vogtlandmuseums Plauen)

VI. Schicksale zwischen Gehorsam und Überlebenswillen Die Gemengelage jener letzten Kriegstage war auch im Vogtland äußerst kompliziert und von kaum jemand zu durchschauen. Von Ort zu Ort herrschten andere Verhältnisse. Dominierte hier Fanatismus, der den eigenen Untergang mit einkalkulierte, setzte sich andernorts Überlebenswille durch. So mancher Kampfkommandant und auch andere Offiziere der Wehrmacht standen in einem unauflöslichen Konflikt zwischen Gehorsam und Überlebenswillen. Drei Beispiele aus der Region sollen dies belegen: Greiz: Der Fall des Hauptmanns Kurt von Westernhagen20 Von Westernhagen war Kompaniechef eines Sprengkommandos, das mit den Resten der 11. Panzer-Division von Gera nach Greiz kam, um die Brücken über die Weiße 20 Vgl. Rudolf Jahn, In memoriam Kurt Udo Hagen Friedrich von Westernhagen. In: Greizer Sonntagspost. Nr. 621, 1987, 68 f.; Marlis Gräfe/Bernhard Post/Andreas Schneider

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Abb. 4: Trümmerberge auf dem Altmarkt (Quelle: Sammlung des Vogtlandmuseums Plauen)

Elster, die Verteidigungslinie war, zu sprengen. Ziel: Der Vormarsch der Amerikaner sollte aufgehalten werden. Eine kleine Gruppe von Greizer Bürgern, bestrebt, die Verteidigung der Stadt zu verhindern, hatte von der geplanten Zerstörung der Elsterbrücken erfahren. Sie suchte von Westernhagen auf und überzeugte ihn von der Sinnlosigkeit der Sprengung. Daraufhin entließ der Offizier am Morgen des 14. April 1945 seine Leute, entfernte die Rangabzeichen von seiner Uniform und machte sich allein zu Fuß Richtung Sachsen auf. Sein Ziel war mutmaßlich Oschatz, wo seine Frau wohnte. Bewohner eines Dorfes in der Nähe von Greiz zeigten den offensichtlichen Deserteur an. Der Leiter der Gestapostelle Weimar nahm von Westernhagen fest und ließ ihn am selben Tag nach kurzer „Urteilsverlesung“ von drei SS-Untersturmführern auf dem Marienplatz in Greiz, damals „Platz der SA“, erschießen. Von Westernhagens Entschluss, die Brücken nicht zu sprengen, blieb ohne Auswirkung, da am 14., 15. und 16. April eine andere Pioniereinheit der Wehrmacht auf Befehl des Militärkommandos „Elsterabschnitt Süd“ (11. Panzer-Division) erst die Eisenbahnbrücke, dann die Stadtbrücken und die flussauf liegende Brücke am Papiermühlenweg sprengte. Panzer der US-Truppen standen zu diesem Zeitpunkt bereits auf der westlichen Zufahrt zu Greiz. Am 17. April besetzten sie die Stadt. Sie hatten die Elster durch eine Furt forciert, sodass sich die Zerstörung der Brücken durch die Wehrmacht als überflüssig erwies. (Hrsg.), Quellen zur Geschichte Thüringens. Die Geheime Staatspolizei im NS-Gau Thüringen 1933 – 1945, 2. Halbbd., Erfurt 2004, 511 ff.

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Oelsnitz i. V.: Der Fall des Oberstleutnant Kurt Hönnicke und des Hauptmann Albert Frotscher Oelsnitz, wo sich nur das Wehrmeldamt befand, sollte nach den Plänen des stellv. XII. AK von Volkssturm, etwa 150 Mann Wehrmacht, Angehörigen der Hitlerjugend und Lehrlingen der Luftwaffe, verteidigt werden. Doch als sich die Amerikaner von Taltitz annäherten, löste sich auf Weisung von Oberstleutnant Hönnicke der Volkssturm auf und die Wehrmacht zog sich auf die Höhen südlich der Stadt zurück. Bürgermeister Risse übergab die Stadt kampflos21. Reichenbach: Der Fall des OB Dr. Otto Scheiber Reichenbach wurde nach vorherigem Artilleriebeschuss am 16. April 1945 kampflos an die Amerikaner übergeben, was in jenen Tagen ein erhebliches Risiko für die Verantwortlichen barg. Die Übergabe erfolgte in persönlicher Verantwortung von OB Dr. Schreiber, der in Begleitung eines Polizeioffiziers mit einem weiß beflaggten Feuerwehrfahrzeug den Amerikanern entgegen fuhr, um die Stadt vor der sicheren Zerstörung zu bewahren. Anlässlich eines runden Jahrestages des Kriegsendes verzichtete Reichenbach @ mit Verweis auf einer besonderen Verstrickung des OB mit dem NS-Regime @ auf die namentliche Nennung von OB Scheiber als Retter der Stadt. Die Nachfahren Schreibers, der im sowjetischen Sonderlager Mühlberg inhaftiert wurde und dort auch 1946 umkam22, und dessen Rehabilitierung in den 1990er Jahren erfolgte, wünschen sich ein durch Forschung begründetes Urteil – gleichgültig, wie es am Ende nach Sichtung der Dokumente aussehen mag. Besetzt und doch nicht besetzt – Dramen fünf vor zwölf Der Vormarsch der 87. und 89. US-ID erfolgte bis zur Linie westlich Kirchberg – Rodewisch – Auerbach – Falkenstein – Werda – und östlich Oelsnitz, eine Linie in hinreichendem Abstand zum als gefährlich geltenden Erzgebirgsvorland, die am 18. April als so genannte „Verteidigungsposition“ erreicht und bis zum 5. Mai gehalten wurde. Die 89. US.-ID sicherte etwa den Frontabschnitt Wilkau-Haßlau bis Lengenfeld mit Anschluss zur 87. US-ID. Von der genannten Linie aus unternahmen amerikanische Einheiten Patrouillenfahrten und betrieben Aufklärung mit gepanzerten Fahrzeugen ins Erzgebirgsvorland. Das plötzliche Auftauchen amerikanischer Truppen verleitete in mehreren Fällen zu der Annahme, die Ortschaften wären nun dauerhaft besetzt. Weiße Tücher wurden in aller Eile herausgehängt. So schnell die Amerikaner erschienen waren, so schnell waren sie auch wieder verschwunden. An ihrer Stelle tauchten bewaffnete deutsche Kräfte auf – immer wieder ist von SS 21

Vgl. Albert Frotscher, Die Ereignisse in Oelsnitz (Vogtl.) am 16. 4. 1945, Nürtingen, am 13. September 1946. Ungedrucktes Manuskript im Besitz der Tochter. 22 Vgl. den Eintrag zu Otto Schreiber in: http://www.lager-muehlberg.de/content/biographi en.html#spezlag_s.

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und von Werwolf die Rede @ die nun ihrerseits Bürgermeister und andere der Feigheit und des Defätismus bezichtigten, auf die Felder trieben und brutal erschlugen. So geschehen in Ortschaften zwischen Kirchberg und Schneeberg. Näheres ist aus Schriften des Erzgebirgsvereins zu erfahren, der zu diesem Thema geforscht und publiziert hat. Die Brandschatzung von Raasdorf am 21. April 1945 Im Vogtland spielte sich in den Tagen nach dem 16. April 1945 ein in der Region und weit darüber hinaus beispielloses, jedoch wenig bekanntes Drama ab: Oelsnitz war amerikanisch besetzt, das kleine, östlich davon gelegene Raasdorf hingegen nicht. Hier begnügten sich die Amerikaner zunächst mit der Einrichtung eines vorgeschobenen Sicherungs- und Kontrollpostens auf der freien Anhöhe zwischen Oelsnitz und Raasdorf, um den gegenüberliegenden Hang, wo in Richtung Schöneck das zusammenhängende Waldgebiet beginnt, aus sicherer Entfernung zu beobachten und die Personenbewegungen nach Oelsnitz zu kontrollieren. Nur mit größter Vorsicht wagte sich die US-Armee in ein solch gefährliches Gelände, in dem sich noch immer deutsche Truppen befanden, über deren Stärke und Bewaffnung sie nicht detailliert informiert waren. „Jeden Abend in der neunten Stunde“, so erinnert sich Walther Herold aus Raasdorf, „gingen die Amerikaner im Dorf auf Patrouille“. 23 Bei einer solchen Patrouille wurden am 20. April 1945 zwei US-Soldaten mutmaßlich von zwei Hitlerjungen, die auf Erkundung geschickt worden waren, am Ortseingang von Raasdorf durch Schüsse getötet. Die regionale Presse nennt das Geschehen noch heute „Meuchelmord“ und „Hinterhalt“. Der damals 16 jährige Vermessungslehrling Martin Schaller informierte noch vor Mitternacht den amerikanischen Posten. Die Toten wurden geborgen und bald erfolgte Artilleriebeschuss in die nahen Wälder. Am Morgen des 21. April 1945 wurde Martin Schaller am Kontrollpunkt festgenommen und nach Schloß Voigtsberg in Oelsnitz zur Vernehmung gebracht. Dort eröffneten ihm die Amerikaner, dass er mit einem Einsatzkommando nach Raasdorf gebracht würde, um den Dorfbewohnern zu erklären, dass sie binnen 15 Minuten ihre Häuser zu verlassen hätten, weil das Dorf als Vergeltungsmaßnahme in Brand gesteckt würde. Bei den ersten Häusern blieb den Bewohnern noch die Zeit, das Allerwichtigste zu retten. Am Ende der Vergeltungsaktion wurden die Häuser gleich angezündet. Die Soldaten warfen Kanister mit Brandbeschleunigern in Häuser, Ställe und Scheunen. Was nun folgte, war ein verstörendes Chaos schreiender, verzweifelter Menschen, brüllender, in den Flammen verendender Tiere. Der Brandschatzung fielen 26 Häuser – also über die Hälfte des Dorfes – zum Opfer, weiterhin 21 Ställe, 19 Scheunen und 25 Schuppen. Eine Verlustliste verzeichnet darüber hinaus 115 Kühe und Ochsen, die im Feuer umkamen, drei Pferde, 300 Hühner und 31 Schweine. Als Schadenssumme wurde seiner23 Vgl. Marco Penzel, Ex-US-Soldat auf Spurensuche im Vogtland. In: Freie Presse, Ausgabe Oberes Vogtland, 22./23. 4. 1995; Siegfried Schaller, Alles im Leben hat seinen Preis. Erinnerungen eines Eisenbahners, Berlin 2011.

Finale fern der Metropolen

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zeit 1,481 Millionen Reichsmark ermittelt. Die Bewohner durften ihr Dorf oder das, was von ihm übrig geblieben war, drei Tage nicht betreten. Raasdorf wurde zur Plünderung für die zahlreichen in Oelsnitz befindlichen ehemaligen Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen freigegeben. „Die hatten alle einfach Hunger“, erinnert sich Günther Renz, „auch das verbrannte Fleisch von den Tieren, die tot im Stall lagen, wurde gegessen“24. Letzte Kämpfe im Vogtland Das noch unbesetzte Gebiet im südlichen Vogtland, in das sich starke deutsche Kräfte, u. a. auch die in den Plauener Kasernen bis zum 14./15. April stationierten Einheiten, zurückgezogen hatten, griffen die Amerikaner am 30. April 1945 von Süden her an und nahmen in der Folge Schönberg, Bad Brambach und Bad Elster ein. Während dieser Kampfhandlungen spielte sich ein weitgehend unbekanntes Drama ab: Familie K. aus Plauen, eine Mutter mit ihren zwei kleinen Töchtern, war schutzsuchend bereits vor dem 10. April 1945 von Plauen zu Verwandten nach Untergettengrün bei Adorf geflohen. Dort holte sie der Krieg ein: Das Vorwerk Untergettengrün war seit dem 16. April von Amerikanern besetzt. Am Abend des 29. April entbrannte ein schwerer, verlustreicher Kampf um das Vorwerk zwischen US-Soldaten und Angehörigen der Wehrmacht, die sich schließlich unter Zurücklassung ihrer Verwundeten zurückzogen. Das Vorwerk brannte vollständig ab, zahlreiche Tiere kamen in den Flammen ums Leben. Frau K. und ihren Töchtern gelang es, aus dem in Flammen stehenden und hart umkämpften Vorwerk zu fliehen. Sie fanden Unterschlupf in den nahe gelegenen Zollhäusern – denen übrigens Erich Ohser – e.o.plauen – entstammt. Am nächsten Morgen fanden sie die stattliche, moderne Anlage des Vorwerkes vollständig zerstört. Am 6. Mai 1945 begann auf der gesamten Frontlinie der letzte große US-Angriff des Zweiten Weltkrieges in Europa. Rodewisch, zuvor von US-Artillerie beschossen, Auerbach, Schöneck und Klingenthal wurden besetzt. Nach mehrtägigen Kämpfen eroberten die Amerikaner Adorf. Diese Verbände stießen dann über Markneukirchen östlich auf böhmisches Gebiet bis zur Eger vor. Am 7. Mai 1945 erging an alle USTruppen der Befehl zur Einstellung der Kämpfe. Selbstjustiz @ Der Tod des NSDAP-Ortsgruppenleiters von Thiergarten, Karl Willy Trillitzsch Nach Aussage seines Sohnes wurde Karl Willy Trillitzsch am 1. Juni 1945 von Amerikanern zu Hause in Thiergarten aufgesucht, um ihm zu eröffnen, dass er per Autotransport zur Vernehmung nach Plauen gebracht würde. Auf der Höhe des Gutheinrichsteiches am Ortsausgang von Thiergarten habe T. zu fliehen versucht und wäre, so die Erklärung gegenüber seiner Ehefrau, auf der Flucht erschossen worden. 24

Ebd.

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Der Tote wies eine Schussverletzung in der Herzgegend auf. Trillitzschs Schicksal teilte zur selben Zeit noch ein zweiter Thiergartener Bürger, der Techniker und NSKK-Gruppenführer Kurt Richter, den der Tod im Teich ereilte25. Die beiden Todesfälle sind bis zum heutigen Tage nicht zweifelsfrei aufgeklärt, wie etwa ein Dutzend weiterer vergleichbare Fälle im Vogtland, wo Selbstjustiz des US-Militärs anzunehmen ist.

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Die Ausführung Kurt Richter betreffend basiert auf einer schriftlichen Mitteilung von Herrn Gregor Haase (Cranzahl), der wiederum Darstellungen von Herrn Günter Sammler, Herrn Klaus Haase (beide Thiergarten) sowie Herrn Gunter Stumpf (Meßbach) zusammengefasst hat. Nach übereinstimmender Aussage der Genannten galten Trillitzsch und Richter als „glühende Nazis“.

Zufallsheimat Sachsen Ankunft und Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg Von Uta Bretschneider Im Jahr 1950 formulierte Johannes Warnke, SED-Politiker und Staatssekretär im Innenministerium der DDR, programmatisch: „Bei uns gibt es keine Flüchtlinge, […] es gibt auch keine Umsiedler oder Neubürger mehr, bei uns gibt es nur noch Bürger der Deutschen Demokratischen Republik.“1 Die Integration von Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen wurde nur fünf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs für erfolgreich abgeschlossen erklärt. Doch das Einleben gestaltete sich als ein langwieriger, vielschichtiger und verwerfungsreicher Prozess, der im Folgenden im Fokus stehen soll. Dabei geht es um die Lebenswelten der Flüchtlinge und Vertriebenen, um staatliche Maßnahmen zur Unterstützung und Eingliederung sowie um individuelle Adaptionsleistungen2. Zahlen/Wege Infolge des Zweiten Weltkriegs verloren insgesamt etwa 14 Millionen Menschen ihre Heimat in den vormals deutschen oder (auch) deutsch besiedelten Gebieten im östlichen Europa. Rund 4,3 Millionen davon gelangten in die Sowjetische Besatzungszone (SBZ), ca. eine Million nach Sachsen. Die Fotografien der Flüchtlingstrecks – winterliche Landschaften, erschöpfte Menschen, Leiterwagen, Gepäck – gehören längst zum Bilderkanon des Kriegsendes. Die Aufnahmen zeigen vor allem Frauen, Kinder und Alte; die Ehemänner, Väter, Brüder und Söhne befanden sich noch in Kriegsgefangenschaft oder waren gefallen. Für die nach Sachsen gelangten

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O. A., Bei uns gibt es keine Umsiedler mehr. In: Neues Deutschland, 25. 04. 1950, 2. Das zugrundeliegende Material wurde überwiegend im Rahmen des 2014 abgeschlossenen Dissertationsprojekts „,Vom Ich zum Wir‘? Flüchtlinge und Vertriebene als Neubauern in der LPG“ erhoben. Das Interviewsample umfasst insgesamt 30 qualitative, lebensgeschichtlich ausgerichtete Interviews mit „Umsiedlern“ und Einheimischen der Geburtsjahrgänge 1921 bis 1956 in Thüringen und Sachsen. Die Personennamen wurden anonymisiert, Interviewaussagen leicht sprachlich geglättet. Uta Bretschneider, „Vom Ich zum Wir“? Flüchtlinge und Vertriebene als Neubauern in der LPG (= Schriften zur Sächsischen Geschichte und Volkskunde 53), Leipzig 2016. 2

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Flüchtlinge und Vertriebenen besagen Schätzungen aus dem Jahr 1947, dass knapp die Hälfte Frauen waren und je etwa ein Viertel Kinder und Männer3. Das Gros der „Umsiedler“, so wurden die Vertriebenen und Flüchtlinge in der SBZ ab Herbst 1945 euphemistisch genannt, gelangte in ländliche Gemeinden. Knapp die Hälfte fand eine erste Unterkunft in Orten mit weniger als 2.000 Einwohnerinnen und Einwohnern4. Denn in den Dörfern bestanden – anders als in den kriegszerstörten Städten – bessere Aussichten auf eine Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse, zum Beispiel die Versorgung mit Nahrung und die Bereitstellung von Unterkünften. Im Mai 1948 stellten die „Umsiedler“ fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung der SBZ. Den größten Flüchtlings- und Vertriebenenanteil wies dabei mit knapp 44 Prozent Mecklenburg auf, Sachsen den geringsten mit ca. 17 Prozent5. Grund für diesen relativ geringen Anteil an der Gesamtbevölkerung war, neben dem Status als Industrieregion und massiven Kriegszerstörungen, die „Umsiedlerpolitik“ der sächsischen Landesverwaltung: Sie verhängte im Sommer 1945 einen Aufnahmestopp und wies sogar einen Großteil der „Umsiedler“ aus6. 1949 bildeten die Flüchtlinge und Vertriebenen aus Schlesien die mit Abstand größte Gruppe (mit über 400.000 Personen), gefolgt von Böhmen mit 109.000 und Ostpreußen mit ca. 80.000 Personen7. In das stark kriegszerstörte Chemnitz gelangten rund 9.000 „Umsiedler“. Bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 260.000 Einwohnerinnen und Einwohnern waren dies 3,5 Prozent. Zum Vergleich: Im Landkreis Chemnitz lag der Anteil bei sieben Prozent8. 3 Vgl. Irina Schwab, Flüchtlinge und Vertriebene in Sachsen 1945 – 1952. Die Rolle der Kreis- und Stadtverwaltungen bei Aufnahme und Integration (=Europäische Hochschulschriften, Reihe 3: Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 927), Frankfurt/M. u. a. 2001, 291. 4 Vgl. Wolfgang Meinicke, Die Bodenreform und die Vertriebenen in der SBZ und in den Anfangsjahren der DDR. In: Manfred Wille/Johannes Hoffmann/Wolfgang Meinicke (Hrsg.), Sie hatten alles verloren. Flüchtlinge und Vertriebene in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, Wiesbaden 1993, 55 – 85, hier 71. 5 Vgl. Manfred Wille, Heimatvertriebene in den ersten Nachkriegsjahren in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands – Anmerkungen zur Statistik, in: Manfred Wille/Karlheinz Lau/Jörg Bernhard Bilke, Die Vertriebenen in Mitteldeutschland (=Deutschlandpolitische Schriftenreihe 10), Bonn 1991, 1 – 8, hier 6. 6 Wolfgang Meinicke, Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone. In: Alexander von Plato/Wolfgang Meinicke, Alte Heimat – neue Zeit. Flüchtlinge, Umgesiedelte, Vertriebene in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR, Berlin 1991, 23 – 81, hier 31 f. 7 Manfred Wille (Hrsg.), 50 Jahre Flucht und Vertreibung: Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Aufnahme und Integration der Vertriebenen in den Gesellschaften der Westzone/Bundesrepublik und der SBZ/DDR, Magdeburg 1997, 34. 8 Zum Vergleich: Der Landkreis Chemnitz hatte insgesamt 173.754 Einwohnerinnen und Einwohner, davon „Umsiedler“: 24.923. Die Stadt Görlitz hatte 100.386 Einwohnerinnen und Einwohner, darunter 35.023 „Umsiedler“ (hier betrug der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen ein Drittel). Die Stadt Dresden zählte 467.792 Einwohnerinnen und Einwohner, dar-

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Oft kamen die Flüchtlinge und Vertriebenen auf Umwegen nach Sachsen, das für sie zur „Zufallsheimat“9 wurde. Sie waren mitunter vor der nahenden Front geflohen und wenig später in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Danach waren sie vertrieben worden und im Treck oder allein in jene Gegenden gekommen, die ihnen eine „neue Heimat“ werden sollten. Nach ihrer Ankunft hatten sie einen zweiwöchigen Aufenthalt in einem Quarantänelager zu durchlaufen. Erst danach wies man ihnen Wohnraum und Lebensmittelkarten zu. Im November 1945 existierten in der SBZ knapp 600 entsprechende Lager mit insgesamt ungefähr 500.000 Plätzen, allein in Sachsen über 10010. In Chemnitz bestanden acht solche Lager, darunter vier Schulen, ein Hotel und eine Spinnerei11. Ankunft/Unterbringung An Gepäck hatten die Flüchtenden oft nur das Nötigste mitgenommen, meist in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr. Zudem bestanden Beschränkungen: Maximal 50 Kilogramm waren pro Person erlaubt. Zum Fluchtgepäck gehörten Kleidung und Decken, Nahrung und Erinnerungsgegenstände. Trotz der Vorgaben, Wertsachen abzugeben, wurden diese versteckt mitgeführt – der Goldschmuck im Büstenhalter eingenäht, die Münzen in eine Schuhsohle eingearbeitet etc. Selten gelang es jedoch, die Habe bis zur Ankunft beisammenzuhalten: Größere Gegenstände wurden bald als sperriger Ballast zurückgelassen. Wertsachen wurden geplündert oder gegen Nahrung eingetauscht. Die Vertriebenen waren somit bei ihrer Ankunft in Sachsen weitgehend besitzlos und in den Augen der Einheimischen vielfach „Habenichtse“. Sie wurden als „Zigeuner“ oder „Polacken“ etikettiert. Damit sprachen ihnen die Alteingesessenen – sei es aus Unwissen, Überforderung oder aus Trotz – auch die Zugehörigkeit zur deutschen Nationalität ab. Auf die traumatische Erfahrung des Verlustes von Heimat, Familienmitgliedern, Besitz und Zukunftsperspektiven folgte somit oft das ebenfalls traumatische Erlebnis, von den eigenen Landsleuten in der SBZ abgelehnt und ausgegrenzt zu werden. Die Beschaffung von Nahrung für die in das Land Strömenden stellte eine der dringlichsten Aufgaben der unmittelbaren Nachkriegszeit dar. Doch die Behörden und Institutionen waren oft überfordert und konnten zunächst wenig zur Verbesseunter 16.977 „Umsiedler“ (3,6 Prozent) und in Leipzig lebten 463.818 Einwohnerinnen und Einwohner, davon waren 74.122 (16 Prozent) Flüchtlinge bzw. Vertriebene. Vgl. Schwab, Flüchtlinge und Vertriebene (wie Anm. 3), 298. 9 Albrecht Lehmann, Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945 – 1990, München 1993, 20. 10 Vgl. Manfred Wille, Die Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler – Möglichkeiten und Grenzen ihres Wirkens (1945 – 1948), in: Wille/Hoffmann/Meinicke (Hrsg.), Sie hatten alles verloren (wie Anm. 4), 27 – 54, hier 40; Manfred Jahn, Auffang- und Quarantänelager 1945/46 in Sachsen. Zeitweilige Stationen vertriebener Sudetendeutscher nach ihrer Ankunft in der Sowjetischen Besatzungszone, in: Sächsische Heimatblätter 39, 1993, 248 – 255, hier 251. 11 Vgl. ebd., 250.

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rung der Situation beitragen, da entsprechende administrative Strukturen erst aufgebaut werden mussten. So blieben die Flüchtlinge und Vertriebenen anfangs weitgehend auf sich allein gestellt bzw. auf die Hilfe der Bevölkerung angewiesen. Zu den Praktiken der Alltagsbewältigung gehörten Betteln, Stehlen und Arbeiten gegen Naturalentlohnung ebenso wie das sogenannte Stoppeln der Reste von den Feldern. Im Tagebuch eines böhmischen Vertriebenen heißt es dazu Ende August 1945: „Mit Hacke und Rucksack bewaffnet, wird jeder Quadratmeter des abgeernteten Feldes auf das gewissenhafteste um[ge]wühlt. Wenn man Glück hat, kann man bei einiger Ausdauer 10 – 20 Kilogramm [Kartoffeln] finden. Auch ich habe gestern den Spaß mitmachen müssen, weil wir überhaupt nichts mehr zu Essen hatten. In ungefähr drei Stunden, hatte ich ungefähr 14 Pfund gefunden, d. h. erarbeitet. Denn als Arbeit, und dazu wirklich mühselig, kann die Nachlese ohne Übertreibung bezeichnet werden.“12 Bis zum Mai 1958 waren die Lebensmittel rationiert. Doch auch eine Lebensmittelkarte stellte keine Garantie dafür dar, satt zu werden13. Im oben zitierten Tagebuch findet sich hierzu folgender Eintrag: „Auf den Lebensmittelmarken steht uns allerhand zu, aber vom Papier kann man nicht leben.“14 Der Hunger blieb für viele „Umsiedler“ auch nach ihrer Ankunft in der SBZ ein quälender Begleiter. Im Nachkriegschaos galt es ebenso, die Versorgung der Neuankommenden mit Wohnraum zu organisieren. Dabei waren die „Umsiedler“ nicht die einzigen, die dringend Unterkünfte benötigten: Ende 1944 hielten sich in Sachsen ca. 479.000 sogenannte Evakuierte auf15. Sie waren aus den kriegszerstörten Städten in ländliche Gebiete gebracht worden und blieben in der Regel bis nach Kriegsende dort. So war zum Teil auch in den Dörfern der SBZ Wohnraum knapp. Konnte auf dem Gebiet der späteren SBZ im Jahr 1939 noch jede Person, die älter als zwölf Jahre war, über durchschnittlich 15 Quadratmeter Wohnfläche verfügen, war es zehn Jahre später nur noch die Hälfte. Im Durchschnitt entfielen dabei auf jede ortsansässige Person zehn und auf jeden „Umsiedler“ nur fünf Quadratmeter16. Der Zustand dieses „Wohnraumes“ der Flüchtlinge war meist unzumutbar: Sie hausten in Gemeinschaftsunterkünften, die notdürftig in Schulen, Gutshäusern oder Gasthöfen eingerichtet worden waren, oder kamen in 12 Tagebuch von A. F. H., Jg. 1910, 1945 mit Ehefrau und zwei Töchtern aus Schönlinde in Nordböhmen geflohen, über Dresden in die Nähe Meiningens gelangt, Zeitraum der Tagebuchaufzeichnungen: 11. 06. 1945 – 04. 01. 1952, Privatbesitz, Reproduktion im Bestand des Hennebergischen Museums Kloster Veßra, 38. 13 Vgl. Archiv des Hennebergischen Museums Kloster Veßra, BI 7 f Nr. 69, Entwurf zum Gesetz über die Abschaffung der Lebensmittelkarten vom 28. 05. 1958. 14 Tagebuch von A. F. H. (wie Anm. 12), 24. 15 Vgl. Manfred Wille (Hrsg.), Die Vertriebenen in der SBZ/DDR. Dokumente, Bd. 1: Ankunft und Aufnahme 1945 (=Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 19/1), Wiesbaden 1996, 327. 16 Vgl. von Plato/Meinicke, Alte Heimat – neue Zeit (wie Anm. 6), 53. Die Angaben der Durchschnittswerte variieren bei anderen Autoren leicht. So geht Michael Schwartz von 4,7 Quadratmetern je „Umsiedler“ im Jahr 1949 aus: Michael Schwartz, Staatsfeind „Umsiedler“. In: Spiegel special 2 (2002), 114 – 118, hier 116.

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Schuppen, Wirtschaftsräumen, auf zugigen Dachböden oder in dunklen Nebengelassen unter. Bis alle „Umsiedler“ in sogenannten Dauerwohnungen untergebracht werden konnten, vergingen Jahre. Die problematischen Wohnverhältnisse trugen zur sozialen Deklassierung der „Umsiedler“ bei: Mit dem traumatischen Akt der Vertreibung verloren sie – im Sinne Pierre Bourdieus – zugleich ihr soziales, ihr ökonomisches sowie ihr „objektiviertes“ kulturelles Kapital. Nur das „inkorporierte Kulturkapital“ (Wissen, Bräuche und Werte) blieb ihnen17. Kontakte/Konflikte Kontakte zwischen Flüchtlingen und Einheimischen ergaben sich etwa beim Wohnen, Arbeiten oder im alltäglichen Leben. Die Gruppen begegneten sich jedoch vielfach im Modus der Fremdheit, nicht selten mündeten diese ersten Zusammentreffen in Konflikte. Vor allem aus dem erzwungenen Zusammenwohnen (ab 1946 waren gemäß dem „Wohnungsgesetz“ des Alliierten Kontrollrates auch zwangsweise Einquartierungen möglich) resultierten viele Streitigkeiten: Gemeinsam genutzte Küchen und Sanitärbereiche waren beispielsweise wiederholt Ausgangspunkt für Kontroversen. Die Zuweisung der Neuankommenden stellte einen empfindlichen Einschnitt in die Privatsphäre beider Parteien dar. Der oben zitierte „Umsiedler“ notierte dazu im Dezember 1945 in sein Tagebuch: „Wir sollen nun hierzulande wieder eine Heimat finden. Aber es wird uns keineswegs leicht gemacht. Die hier ansässigen Menschen bringen uns Vertriebenen, mit einigen Ausnahmefällen, stärkstes Mißtrauen entgegen und lassen uns immer wieder spüren, daß wir für sie nur fremde, unbequeme Eindringlinge sind.“18 Doch trotz aller Konflikte kam es auch zu solidarischen Aktionen: Die Flüchtlinge und Vertriebenen erfuhren durchaus Unterstützung seitens der Alteingesessenen. Diese teilten ihre Lebensmittel, stellten etwa – auch jenseits der offiziellen Sammlungsaktionen – Mobiliar bereit oder verschenkten Küchenutensilien und Kleidungsstücke. Das anfänglich von wechselseitigem Misstrauen geprägte Verhältnis wandelte sich in den meisten Fällen zunächst in Not- und Zweckgemeinschaften. Bisweilen mündeten diese später in Freundschaften. Für die Eltern- und Großelterngeneration gestaltete sich der Aufbau neuer sozialer Kontakte besonders langwierig. Zum Teil erschwerte auch mehrfaches Umziehen, sei es, um bessere Arbeits- oder Versorgungsmöglichkeiten zu erschließen oder in die Nähe von Familienmitgliedern zu gelangen, das Einleben. Am schnellsten orientierten sich die Kinder am neuen Ort und fanden sich im neuen Leben ein. Ihnen kam dabei die Funktion des „Bindegliedes“19 17 Pierre Bourdieu, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Reinhardt Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten (= Soziale Welt; Sonderband 2), Göttingen 1983, 183 – 198. 18 Tagebuch von A. F. H. (wie Anm. 12), 50. 19 So formulierte auch Hans Lukaschek, der unter Konrad Adenauer Bundesminister für Angelegenheiten der Vertriebenen war, in einem Vorwort programmatisch: „Die heilenden Kräfte, die in jeder kindlichen Seele ruhen, machen es uns leicht, diesen Kindern zu helfen und

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zwischen Neuangekommenen und Altansässigen zu. Sie eigneten sich beispielsweise – zum Teil zum Leidwesen ihrer Eltern – recht schnell den sächsischen Dialekt an. Schule und Freizeit boten ihnen den Rahmen, sich mit den Kindern aus der einheimischen Bevölkerung anzufreunden. Allerdings wurden auch die „Umsiedler“-Kinder zunächst vielfach von den Gleichaltrigen ausgegrenzt, was die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bis heute erinnern. Den Mangel ihrer Familien an materiellem Besitz suchten die Kinder indessen durch Fleiß zu kompensieren. Auch für die Erwachsenen war der Topos „arm aber fleißig“ prägend. Hier kam das „unsichtbare Fluchtgepäck“, das „inkorporierte Kulturkapital“, in Form von Wissen, Bildung und Know-how zum Einsatz. Mit ihrer Leistung erarbeiteten sie sich die Wertschätzung der Alteingesessenen: „Die mussten sich“, schätzt ein Zeitzeuge ein, „erst ihr Vertrauen oder ihre Zuversicht oder ihre Anerkennung durch ihrer Hände Arbeit, durch ihren Fleiß, durch ihre Treue, durch ihre Nachbarschaftshilfe erkämpfen“.20 Staatliche Hilfsmaßnahmen/forcierte Assimilation Von Seiten des Staates gab es zahlreiche Hilfsmaßnahmen für die Vertriebenen und Flüchtlinge, die jedoch oft den Status kläglicher Versuche nicht überschritten21. Die „Umsiedler“-Politik in der SBZ (und nach 1949 in der DDR) war in erster Linie eine Assimilationspolitik: Sie zielte auf ein rasches Aufgehen in der sogenannten Aufnahmegesellschaft ab. Diese befand sich dabei mit dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und den „antifaschistisch-demokratischen Umwälzungen“ in einer Phase der tiefgreifenden Transformation: Alle, Alteingesessene wie Neuankommende, hatten somit vielfältige Anpassungsleistungen zu vollbringen. Dabei herrschte gerade für die „Umsiedler“ ein „Zwang zur Zukunft“22. Sie sollten nicht zurückblicken, sondern alle Energien in den Aufbau der neuen, der „sozialistischen Gesellschaft“ stecken. Die 1945 gegründete Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler (ZVU) sollte beispielsweise die Unterbringung und Versorgung der Ankommenden organisieren und die Assimilation voranbringen. Für die Umsetzung vor Ort entstanden auf Kreis- und Gemeindeebene sogenannte Umsiedlerausschüsse, die sich etwa mit der Zuteilung sie zu dem zu machen, was sie sein sollten: Bindeglied zwischen dem Flüchtling und dem Einheimischen und Schrittmacher beim Einleben in der neuen Heimat.“ Elisabeth Pfeil, Flüchtlingskinder in neuer Heimat (= Bedrohte Jugend – drohende Jugend. Heilpädagogische Schriftenreihe 16), Stuttgart 1951, 6. 20 Otto Richter, Jg. 1929, geb. in Thüringen, erlebte die Ankunft der Flüchtlinge und Vertriebenen als Jugendlicher (Interview am 5. November 2011), Zeile 131. 21 Vgl. auch https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/begriffe/umsiedler-sbzddr/ (19. 01. 2016). 22 Michael Schwartz, Umsiedlerpolitik in der Krise? Das Vertriebenenproblem in der Gründungsphase der DDR 1948 – 1950, in: Dierk Hoffmann/Hermann Wentker (Hrsg.), Das letzte Jahr der SBZ. Politische Weichenstellungen und Kontinuitäten im Prozeß der Gründung der DDR, München 2000, 185 – 205, hier 186.

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von Wohnraum und Mobiliar befassten. Über diese Hilfestellungen hinaus sollten diverse Verordnungen und Befehle die „Umsiedler“-Integration fördern. Beispielsweise erließ die Sowjetische Militäradministration Deutschlands im Herbst 1946 den Befehl 304, der die einmalige finanzielle Unterstützung arbeitsunfähiger, alter und besonders bedürftiger Flüchtlinge und Vertriebener vorsah. Erwachsene hatten demnach Anspruch auf eine Einmalzahlung in Höhe von 300, Kinder auf 100 Reichsmark23. In diese Maßnahme flossen insgesamt ca. 110 Millionen Reichsmark, doch ihre Wirkung blieb gering24. Auch die zwischen 1945 und 1948 durchgeführte Bodenreform bot – neben anderen Zielsetzungen25 – Hilfe zur Selbsthilfe für die „Umsiedler“. Großgrundbesitz über 100 Hektar und das Eigentum wirklicher bzw. vermeintlicher Akteure und Profiteure des nationalsozialistischen Systems wurden entschädigungslos enteignet. Land, Gebäude sowie Inventar gingen u. a. an 210.000 Landnehmerinnen und Landnehmer. Die Neubauern, wie sie genannt wurden, erhielten zwischen fünf und zehn Hektar Acker, Wiese und Wald und sollten – neben dem Versorgungsaspekt – den Einfluss von KPD bzw. SED in den Dörfern festigen helfen. Mehr als 91.000 der so entstandenen Neubauernstellen gingen in der SBZ an „Umsiedler“-Familien26. In Sachsen wurden bis 1949 rund 21.000 Neubauernstellen geschaffen. Hier partizipierten ca. 7.500 „Umsiedler“-Familien an der rigorosen Umverteilung27. Für sie stellte die Bodenreform die Chance eines Neubeginns dar. Allerdings blieb die Situation der Bodenreformwirtschaften höchst problematisch: Mangel kennzeichnete den Alltag. Es waren kaum Wohn- und Wirtschaftsgebäude vorhanden, die Ausstattung mit Vieh und landwirtschaftlichem Inventar war äußerst spärlich und es fehlte zudem an Arbeitskräften und finanziellen Ressourcen. Neben den genannten Maßnahmen bot auch die Volkssolidarität als Initiative der Kirchen und Parteien in der Nachkriegszeit vielfältige Hilfen für die „Umsiedler“. Diese umfassten neben dem Sammeln von Geld- und Sachspenden auch die Einrichtung von Heimen, Werkstätten und

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Vgl. Archiv des Hennebergischen Museums Kloster Veßra, BI 7 f Nr. 48, Rundschreiben der Kreiskommission für Neubürger an die Bürgermeister des Kreises Hildburghausen, 29. 04. 1947. 24 Vgl. Paul Merker, Die nächsten Schritte zur Lösung des Umsiedlerproblems, Berlin 1947, 19. 25 Dazu siehe etwa: Jens Schöne, Die Landwirtschaft der DDR 1945 – 1990 (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen), Erfurt 2005, 11 ff. 26 Vgl. Meinicke, Die Bodenreform und die Vertriebenen (wie Anm. 4), 63. 27 Knapp 350.000 Hektar Land kamen zur Enteignung. Vgl. Matthias Kramer, Die Landwirtschaft in der sowjetischen Besatzungszone. Die Entwicklung in den Jahren 1945 – 1955, Textteil (= Bonner Berichte aus Mittel- und Ostdeutschland), hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1957, 18; Michael Schwartz, Vertriebene und „Umsiedlerpolitik“. Integrationskonflikte in den deutschen Nachkriegs-Gesellschaften und die Assimilationsstrategien in der SBZ/DDR 1945 – 1961 (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte 61), München 2004, 652.

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Volksküchen28. Und die Flüchtlinge und Vertriebenen waren unter den Empfängern staatlicher Fürsorge überproportional vertreten. 1947 stellten sie fast 40 Prozent der Unterstützungsempfänger in Sachsen29. Ende 1948 wurde hier unter dem programmatischen Titel „Neue Heimat – Neues Leben“ eine sogenannte Umsiedlerwoche veranstaltet. Damit sollte einerseits die erfolgreiche Eingliederung gefeiert, andererseits eine letzte Spendenaktion durchgeführt werden. Ähnliche Veranstaltungen fanden auch in den anderen Ländern und Provinzen der SBZ statt30. Das offizielle Ende der „Umsiedlerpolitik“ und der staatlichen Hilfen stellte 1950 das „Gesetz über die weitere Verbesserung der Lage der ehemaligen Umsiedler“ dar. Damit hatten die nunmehr als „ehemalige Umsiedler“ Bezeichneten u. a. Anspruch auf zinsgünstige Kredite oder reduzierte Ablieferungsverpflichtungen31. Schon 1953 liefen jedoch die meisten Maßnahmen aus. Das Kapitel ,Umsiedlereingliederung‘ galt damit – nicht einmal zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs – offiziell als abgeschlossen, was mit einer weitgehenden Tabuisierung einherging. Wahrnehmungen/Akzeptanzen Die Tabuisierungsbestrebungen waren weitreichend: Interessenvertretungen, die sich in der Bundesrepublik u. a. zu wichtigen Erinnerungsgemeinschaften entwickelten, waren in der DDR verboten. Zunächst fielen sie unter das sogenannte Koalitionsverbot, das die vier Besatzungsmächte 1945 erlassen hatten. Ende der 1940erJahre wurde dieses Verbot aber für die Bundesrepublik aufgehoben, während es in der DDR fortbestand. Hier regelte zum Beispiel das „Gesetz zum Schutze des Friedens“ von 1950 das strafrechtliche Vorgehen gegen jede Form der Selbstorganisation der „Umsiedler“32. Zudem galten die bundesrepublikanischen Interessenverbände

28 Vgl. Günter Braun, Volkssolidarität. In: Martin Broszat (Hrsg.), SBZ-Handbuch: Staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945 – 1949, München 1993, 793 – 801, hier 793 und 796. 29 Vgl. Stefan Donth, Vertriebene und Flüchtlinge in Sachsen 1945 bis 1952. Die Politik der Sowjetischen Militäradministration und der SED (=Geschichte und Politik in Sachsen 15), Köln u. a. 2000, 350. 30 Vgl. ebd., 297. 31 Ebd., 380. 32 Heike Amos, Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990, München 2009, 257; Michael Schwartz, Vertriebenenproblem und Umsiedlerpolitik in der SBZ/DDR http://www. fes.de/magdeburg/pdf/6_10_14_schwartz.pdf (03. 01. 2016), 2; den Gesetzestext siehe: http:// www.verfassungen.de/de/ddr/friedensgesetz50.htm (03. 01. 2016); Uta Bretschneider, Zwangsmigration und Neubeheimatung. „Umsiedler“ als „Neubauern“ in der SBZ/DDR, in: Rita Garstenauer/Anne Unterwurzacher (Hrsg.), Aufbrechen, Arbeiten, Ankommen. Mobilität und Migration im ländlichen Raum seit 1945 (= Jahrbuch für Geschichte des ländlichen Raumes 2014), Innsbruck 2015, 37 – 52.

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der „Heimatvertriebenen“ in der DDR als „rückwärtsgewandt“ und „revanchistisch“ – Zuschreibungen, die zum Teil durchaus der Realität entsprachen33. Die „Umsiedler“ verschwanden zwar in den 1950er-Jahren aus den offiziellen Statistiken, aber nicht gänzlich aus den Medien der DDR. Der Modus ihrer Darstellung war jedoch klar vorgegeben: Geschildert wurden Geschichten des Gelingens von wirtschaftlicher und sozialer Integration, von beruflichem und privatem Aufstieg. Die Tatsache, dass der oder die Porträtierte „Umsiedlerin“ oder „Umsiedler“ war, unterstrich die Aufbauleistung zusätzlich und vergrößerte damit die ,Erfolgsbilanz‘34. Diese galt es auch zu betonen, denn die Zahl der „Umsiedler“, die in die Bundesrepublik flohen, legte eine andere Lesart nahe: Unter den etwa 2,7 Millionen sogenannten Republikflüchtlingen befanden sich nicht weniger als 900.000 Flüchtlinge und Vertriebene35. Das öffentliche Rede- und Erinnerungsverbot vermochte sich nur teilweise ins Private fortzusetzen. Die „Umsiedler“ sollten zu „Menschen ohne Vergangenheit“36 gemacht werden, sie nutzten aber Formen und Medien des privaten Erinnerns, fanden Nischen oder schufen sich individuelle Handlungs- und Erinnerungsräume. Ein Befragter unterscheidet dementsprechend zwischen dem öffentlichen und innerfamilialen Erzählen: „Also intern, wenn wir zusammen waren, wurde über alles gesprochen. Da gab’s kein Tabu. Aber nach außen, das hat man schon gemerkt, ich möchte sagen, das war wie eine Falle, wie eine Sperre, da war einem der Mund versperrt. Man konnte dann gar nichts sagen. Weil, wenn jemand was gesagt hat, dann gab’s sofort eins drauf. Also wir haben nicht gewagt, nach außen hin viel von der Flucht oder Vertreibung oder so zu sprechen, in keiner Weise. Das, was ich gemacht hab, den Fluchtweg aufzuzeigen, das […] hätte man zu DDR-Zeiten nicht machen können, höchstens 33

1984 erschien in der DDR die Schmähschrift „Kreuzritter in Trachten“ gegen die westdeutschen Zusammenschlüsse der Heimatvertriebenen. Werner Flach/Christa Kouschil, Kreuzritter in Trachten. Organisierter Revanchismus und seine Macher, Leipzig u. a. 1984. 34 Uta Bretschneider „Die Bodenreform wurde auch für sie die Rettung.“ „Umsiedler“ als Neubauern in der zeitgenössischen Presse (1945 – 1960), in: Ira Spieker/Sönke Friedreich (Hrsg.), Fremde – Heimat – Sachsen. Neubauernfamilien in der Nachkriegszeit, Beucha/ Markkleeberg 2014, 369 – 396. 35 Vgl. Schwartz, Vertriebenenproblem und Umsiedlerpolitik (wie Anm. 32), 2; Ders., Kriegsfolgelasten und „Aufbaugesellschaft“. Vertriebene, Bombengeschädigte und Kriegsbeschädigte in den langen fünfziger Jahren der DDR, in: Dierk Hoffmann (Hrsg.), Vor dem Mauerbau. Politik und Gesellschaft in der DDR der fünfziger Jahre (=Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 2003, 165 – 190, hier 184 f.; zu den verschiedenen statistischen Angaben in Bezug auf die Anzahl der Flüchtlinge aus der SBZ/DDR siehe auch: Helge Heidemeyer, Flucht und Zuwanderung aus der SBZ/DDR 1945/1949 – 1961. Die Flüchtlingspolitik der Bundesrepublik Deutschland bis zum Bau der Berliner Mauer (=Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 100), Düsseldorf 1994, 44. 36 Uta Bretschneider, Vortrag: Menschen ohne Vergangenheit? Zum Umgang mit Flucht und Vertreibung in der SBZ/DDR, Tagung „Unsichtbares Gepäck. Zur Bewältigung von Kriegs- und Fluchterfahrungen seit 1945“. Projekt Museum Friedland, 18./19. 09. 2014, Friedland.

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versteckt, intern.“37 Ein solches doppeltes Sprechverhalten ist für viele Lebensbereiche der DDR typisch und wurde schon im Kindesalter eingeübt (Stichwort: „Westfernsehen“). Dieses spezifische Verhalten hatte natürlich u. a. mit den Überwachungsmechanismen des Ministeriums für Staatssicherheit zu tun, in deren Fokus auch die „Umsiedler“ immer wieder gerieten – etwa durch ihre Kontakte zu Verwandten, die in den westlichen Teil Deutschlands gelangt waren oder durch die geheimen Treffen, die sie beispielsweise im Zoo von Leipzig organisierten38. Integrationsebenen/Erinnerungsräume Der Prozess der sogenannten Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen wurde in der DDR – wie dargestellt – bereits ab Anfang der 1950er Jahre als erfolgreich abgeschlossen apostrophiert, doch betrachtet man die einzelnen Ebenen der Integration, ergibt sich ein differenzierteres Bild39. Paul Merker, Mitglied des Zentralkomitees der SED, hatte im Jahr 1947 formuliert: „Die Gesamtheit der Bevölkerung muß mehr als bisher darüber aufgeklärt werden, daß die Umsiedler auf die Dauer keine Last, sondern eine Hilfe sein werden, daß sie Hände und berufliche Qualitäten mitgebracht haben, daß sie mehr und mehr sowohl zum Produzenten als auch zum Kunden werden und dazu beitragen, das Wirtschaftsleben zu fördern, daß die Umsiedler deshalb ein wichtiger Faktor im wirtschaftlichen Neuaufbau Deutschlands sind […].“40 Die Worte Merkers zeigen: Der Arbeitskräftebedarf war enorm und so ging die Integration der „Umsiedler“ in das Arbeits- und Wirtschaftsleben, zumindest oberflächlich betrachtet, relativ schnell voran. Doch die Vertriebenen erfuhren in den meisten Fällen eine berufliche Deklassierung und führten (zunächst) lediglich Hilfsarbeiten aus. Besonders rasch fand zudem eine rechtliche Gleichstellung mit den Alteingesessenen statt. Die „Notbürger“, wie das Zentralorgan der SED, das „Neue Deutschland“, die Flüchtlinge und Vertriebenen 1949 nannte, wurden zumindest vor dem Gesetz innerhalb kurzer Zeit zu „Vollbürgern“41. Eine soziale Integration jedoch bedurfte einer langen Zeitspanne und konzentrierte sich vornehmlich auf die zweite Gene37 Rudolf Peters, Jg. 1940, floh mit seiner Familie im Januar 1945 aus Waldheide, Schlesien (heute S´wie˛ toszyn, Republik Polen). 1950 übernahmen seine Eltern in Sachsen eine Neubauernstelle (Interview am 8. März 2013), Zeile 59. 38 Zu „Umsiedlern“ im Fokus des Ministeriums für Staatssicherheit siehe insbesondere: Heike Amos, Vertriebenenverbände im Fadenkreuz. Aktivitäten der DDR-Staatssicherheit 1949 bis 1989 (=Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte: Sondernummer), München 2011. 39 Zu den Ebenen der Integration siehe auch: Michael von Engelhardt, Die Bewältigung von Flucht und Vertreibung. Zum Verhältnis von Lebensgeschichte, Gesellschaftsgeschichte und biographisch-historischer Identität, in: Rudolf Endres (Hrsg.), Bayerns vierter Stamm, Köln 1998, 215 – 251, hier 231. 40 Merker, Die nächsten Schritte (wie Anm. 24), 11. 41 R. S., Vom Notbürger zum Vollbürger, in: Neues Deutschland, 06.08.1949, 5.

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ration der Flüchtlinge, die 1945 im Kindesalter gewesen waren. Ihre Eltern und Großeltern hofften derweil zum Teil bis an ihr Lebensende, in die „alte Heimat“ zurückkehren zu können. Ein Zeitzeuge differenziert die generationellen Unterschiede: „Von der alten Heimat haben meine Eltern noch, ich glaube, 1960 geträumt.“; „Und was mich betrifft, ich bin ja nun hier aufgewachsen, groß geworden: Und für mich ist es natürlich die Heimat geworden.“42 Eine psychische Integration wurde durch die weitgehende Tabuisierung des Themenkomplexes Flucht und Vertreibung in der Öffentlichkeit massiv erschwert. Auch wenn die Integration mit Worten rasch ihre Umsetzung fand und aus Flüchtlingen und Vertriebenen erst „Umsiedler“, dann „ehemalige Umsiedler“ und schließlich „Neubürger“ wurden: Sie blieben lange Zeit „Notbürger“, „Entwurzelte“. Heute wird die Tabuisierung in der Rückschau dennoch durch die damaligen „Umsiedler“-Kinder eher selten als solche erinnert. Dies liegt vor allem am Alter der Befragten: Das Tabu traf vornehmlich Eltern und Großeltern, während es für die Kinder, die in die „sozialistische Gesellschaft“ hineinwuchsen, zur Normalität wurde. Andererseits wollten die Eltern durch vorenthaltene Details und nicht kommunizierte Erinnerungen die Kinder zum Teil auch schützen: vor Traumatisierung und Belastungen. Bis heute benutzen einige Interviewte den „Umsiedler“-Begriff ganz selbstverständlich: „Umsiedler: Ja, da hab ich kein Problem mit. Wir sind ja ,Umsiedler‘, wir sind ja um-gesiedelt worden, ob wir wollten, oder nich’. Wir hatten ja keine Wahl […]. Zurück gab es nich’ mehr“43. Erst nach dem Ende der DDR wurde ein öffentliches Erinnern möglich. Mit den Umbrüchen infolge der „Friedlichen Revolution“ zeigte sich, dass ein deutlicher Nachholbedarf vorhanden war, was öffentliche und offizielle Formen des Erinnerns anbelangte. Dieser Nachholbedarf in Bezug auf die Erinnerungsarbeit, die über 40 Jahre lang nur im privaten Kreis stattfinden konnte, ist nach wie vor groß, auch mehr als 70 Jahre nach Kriegsende. Das zeigt u. a. der am 20. Juni 2015 erstmals begangene „Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung“, der die Zwangsmigrationen am Ende des Zweiten Weltkriegs in einen überzeitlichen und transnationalen Erinnerungskontext rückt. In seiner Rede anlässlich der zentralen Gedenkfeier in Berlin formulierte der damalige Bundespräsident Joachim Gauck: „Erinnern wir uns daran, welch großen Anteil Flüchtlinge und Vertriebene am erfolgreichen Wiederaufbau Deutschlands hatten. Eben diesen Geist, der den Neuanfang sucht und die Zukunft gestalten will, erkenne ich auch bei vielen Flüchtlingen von heute.“44 42

Rudolf Peters (wie Anm. 37), Zeile 55. Bärbel Lohner, Jg. 1940, wurde mit ihrer Familie aus dem Kreis Landsberg, Brandenburg (heute Gorzów Wielkopolski, Republik Polen) vertrieben. 1948 übernahmen ihre Eltern eine Neubauernstelle in Thüringen und bewirtschafteten sie bis zum erzwungenen Beitritt zur Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft 1960 (Interview am 4. November 2011), Zeile 873. 44 http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2015/06/ 150620-Gedenktag-Flucht-Vertreibung.html (20. 06. 2015). 43

Die Autoren des Bandes Dr. Uta Bretschneider, Historikerin, Volkskundlerin und Direktorin des Hennebergischen Museums Kloster Veßra Uwe Fiedler, Historiker und Leiter des Schloßbergmuseums Chemnitz Mario H. Müller, M. A., Historiker und Doktorand an der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der TU Chemnitz Gerd Naumann, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Vogtlandmuseum Plauen Dr. Dirk Reitz, Historiker und Sonderbeauftragter Erster Weltkrieg des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Kassel Dr. Hendrik Thoß, Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der TU Chemnitz