Kriegsdeutungen - Staatsgründungen - Sozialpolitik: Der Helden- und Opferdiskurs in der Tschechoslowakei 1918-1948 9783486719369, 9783486590869

Am Beispiel der Tschechoslowakei untersucht Natali Stegmann den Zusammenhang von Krieg, Staatsgründung und Staatsbürgers

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German Pages 304 Year 2009

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Kriegsdeutungen - Staatsgründungen - Sozialpolitik: Der Helden- und Opferdiskurs in der Tschechoslowakei 1918-1948
 9783486719369, 9783486590869

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Natali Stegmann Kriegsdeutungen - Staatsgründungen - Sozialpolitik

Natali Stegmann

Kriegsdeutungen Staatsgründungen Sozialpolitik Der Helden- und Opferdiskurs in der Tschechoslowakei 1918-1948

R. Oldenbourg Verlag München 2010

Diese Arbeit ist im Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen, Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" (Tübingen) entstanden und auf seine Veranlassung unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mitteln gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© 2010 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf, München Umschlagbild: „Durch eigene Kraft". Die Heimkehr des Kriegers © Sammlung Rudolf Jaworski, Kiel Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (chlorfrei gebleicht) Satz: Gerbert-Satz, Grasbrunn b. München Druck: Memminger MedienCentrum, Memmingen Bindung: Buchbinderei Klotz, Jettingen-Scheppach ISBN 978-3-486-59086-9

Inhalt Vorwort

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Einleitung Fragestellung und Methodik Gleichheitspostulat und soziale Ungleichheit Forschungsstand Quellenlage Gliederung 1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen 1.1 Der Staat als Deutungsinstanz 1.2 Weltkrieg und nationalstaatliche Konsolidierung 1.3 Die staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei 1.3.1 Revolution 1.3.2 Staatsbegriff 1.3.3 28. Oktober 1.3.4 Verfassung 1.3.5 Tschechoslowakismus 2. Nach dem Ersten Weltkrieg 2.1 Heldenbilder 2.1.1 Die „Zurückkehrenden" 2.1.2 Der Legionär als Vorbild? 2.2 Vorbilder - Opferbilder: Einschreibungen in den sozialpolitischen Institutionalisierungsprozess 2.2.1 Das Ministerium für Sozialfürsorge 2.2.2 Jugendfürsorge 2.2.3 Das Sozialversicherungswesen: Der Arbeiter als Vorbild 2.2.4 Die Kriegsgeschädigtengesetzgebung: Staatliche Verteilungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen 2.2.5 Kriegsgeschädigtenorganisationen: Institutionalisierung und Ideale 2.3 Opferrepräsentationen 2.3.1 Opferkategorien 2.3.2 Körper(re)präsentationen 2.4 Die Konkurrenz um Ressourcen 2.4.1 Der Streit um die Zuteilung von Lizenzen 2.4.2 Der Streit um Anstellung im Staatsdienst 2.4.3 Andere Formen der Erwerbsförderung von Invaliden

9 10 21 26 32 35 ....

39 39 41 45 45 47 50 55 59 63 63 63 66 81 81 85 87 92 98 117 118 127 134 139 153 159

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Inhalt

3. Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren 3.1 Sozialpolitische Rahmenbedingungen 3.2 Orientierungen der Kriegsgeschädigtenvereinigungen 3.3 Zwischenbilanz: Hierarchisierungsmuster im Spannungsfeld von Helden- und Opferbildern 4. Internationaler Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Zwischenkriegszeit 5. Nach dem Zweiten Weltkrieg 5.1 Kriegsdeutungen im Lichte des Münchner Abkommens und der Ereignisse während des Zweiten Weltkrieges 5.1.1 Das Münchner Abkommen als Ereignis der tschechoslowakischen, der internationalen und der deutschen Geschichte 5.1.2 Benes und die staatsrechtliche Kontinuität 5.2 Die Jahre 1944/45 bis 1948 5.3 Zweierlei Kontinuitäten: Bürger, Bevölkerung und Volk als Objekt der Politik der Exil- und der Protektoratsregierung 5.3.1 Rechtliche Kontinuitäten 5.3.2 Protektoratsgeschichte 5.3.3 Das Kaschauer Programm 5.3.4 Der Volksbegriff: Bodenreform und bevölkerungspolitischer Diskurs 5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder 5.4.1 Legionäre 5.4.2 Partisanen und Widerstandskämpfer 5.4.3 Das alte Opfermuster und seine Überschreibungen: Kriegsopfer nach dem Zweiten Weltkrieg 5.5 Volksdemokratische Hierarchisierung: Die Verfassung vom Mai 1948 5.6 „Freiheitskämpfer" im Stalinismus: Svaz bojovnikù za svobodu

163 163 168 174

181 193 193

193 207 211 218 219 224 228 231 237 238 242 250 259 ... 263

Schlussfolgerungen

273

Bibliographischer Anhang Quellen Archivalien Gedruckte Quellen Sekundärliteratur

279 279 279 279 282

Register Personenregister Sachregister

301 301 302

Vorwort Dieses Buch ist eine teils gekürzte und teils ergänzte Fassung meiner Habilitationsschrift. Diese entstand am Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen unter der akademischen Betreuung von Dietrich Beyrau und wurde 2007 von der Philosophischen Fakultät derselben Universität angenommen. Meine Forschungen förderte die Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit einer so genannten Eigenen Stelle; in der Endphase konnte ich mit dem Tübinger Sonderforschungsbereich 437 „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit" zusammenarbeiten. Die Mittel für den Druck der Arbeit stammen ebenfalls aus diesen Quellen; einen Zuschuss erhielt ich zudem aus dem Anreizsystem zur Förderung der Gleichstellung der Universität Regensburg, an der ich jetzt tätig bin. Für die finanzielle Unterstützung des Vorhabens möchte ich mich bei den genannten Institutionen herzlich bedanken. Es ist mir leider unmöglich, in der gebotenen Kürze allen Personen zu danken, die durch ihre Unterstützung zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Wenn ich zudem darstellen sollte, was meine Habilitationsphase für meine Familie bedeutet hat, müsste ich ein neues und ganz anderes Buch schreiben - das durchaus nicht nur von Mühe, Fleiß und Entbehrungen berichten würde, aber doch von einer manchmal schweren Zeit. Ich hoffe, dass ich meinem Dank, meiner Erleichterung und meiner Zuneigung in persönlichen Gesprächen die richtige Form gegeben habe. Deshalb verzichte ich bewusst darauf, an dieser Stelle einzelne Personen besonders hervorzuheben. Regensburg, im Juni 2009 Natali Stegmann

Das Lied von der Moldau Am Grunde der Moldau wandern die Steine. Es liegen drei Kaiser begraben zu Prag. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Es wechseln die Zeiten. Die riesigen Pläne Der Mächtigen kommen am Ende zum Halt. Und gehn sie einher auch wie blutige Hähne Es wechseln die Zeiten, da hilft kein Gewalt. Am Grunde der Moldau wandern die Steine. Es liegen drei Kaiser begraben zu Prag. Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine. Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag. Aus: Bertolt Brecht, Schweyk im zweiten

Weltkrieg

Einleitung Bertolt Brecht beendete die Arbeit an seinem Theaterstück „Schweyk im zweiten Weltkrieg" 1944. Die Figur des Schweyk (oder Schwejk, tschechisch Svejk) lieh er sich aus dem bekannten Roman von Jaroslav Hasek „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" 1 und versetzte sie vom Ersten in den Zweiten Weltkrieg. „Das Lied von der Moldau" singen die Protagonisten der brechtschen Interpretation in der Mitte des Stückes in der Prager Kneipe „Zum Kelch", nachdem ein Gast von der Gestapo mitgenommen wurde, und auch am Ende des Stückes, als Hitler vor Stalingrad im Dialog mit Schweyk in eine Art Veitstanz verfällt, weil er in keine Richtung mehr gehen kann. Das Stück wurde 1956 in Warschau uraufgeführt. 2 Der Tscheche Svejk ist ein Prototyp der untergehenden Habsburgermonarchie. Ihn in den Zweiten Weltkrieg zu versetzen ist wie ein Spiel mit der Zeit. Wenn auf der Bühne hinter einer Figur die historischen Kulissen verschoben und die Mitspieler vertauscht werden, stellt dies die Sehgewohnheiten in Frage und verweist darauf, wie sehr Protagonist und Kulisse, Figur und Kontext miteinander korrespondieren. Das Spiel mit der Zeit spiegelt sich aber nicht nur in der Handlung des genannten Theaterstückes. Im „Lied von der Moldau" erscheint der Wechsel der Zeiten selbst als Antrieb der Geschichte. Der Text spricht die Zuversicht oder auch den trotzigen Glauben aus, dass die Zeit, indem sie vergeht, die nationalsozialistische Herrschaft mit sich nehmen werde wie die Steine, die am Grunde der Moldau wandern: unweigerlich. Dieser Wechsel der Zeit, das Verschieben der historischen Kulissen ist auch ein wichtiges Motiv tschechischer Geschichtsadaption. Wie in der Figur des Svejk drückt sich ebenso in der Ergebenheit gegenüber den Zeitläufen ein manchmal geradezu heiterer Fatalismus aus. Die Wechsel der Zeiten waren im 20. wie auch schon im 19. Jahrhundert zugleich die Wegmarken in der deutsch-tschechischen beziehungsweise deutsch-tschechoslowakischen Geschichte. Die Geschichte Deutschlands und der Tschechoslowakei waren aufs Engste miteinander verknüpft. Dies führte jedoch nur in wenigen Fällen zu gemeinsamen, sondern in aller Regel zu dichotomen Wahrnehmungen. Eine Koordinate dieser Dichotomie spricht das zitierte Lied an, wenn es beteuert: „Das Große bleibt groß nicht und klein nicht das Kleine". Für das „Kleine" können hier die böhmischen Länder stehen oder das Volk. Das „Große" symbolisiert nicht nur Deutschland oder den Nationalsozialismus, sondern auch die Macht; das „Kleine" die Ohnmacht. Weder Macht noch Ohnmacht sind konstant an bestimmte Personen oder Personengruppen gebunden. Ihr Übergang vom einen zum anderen ist Gegenstand der Geschichtsschreibung und des zitierten Liedes. 1

Jaroslav Hasek, Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk, Berlin (Ost)/Weimar 1982; tschechischer Titel: Osudy dobrého vojáka Svejka za svêtové války. Bertolt Brecht, Schweyk im zweiten Weltkrieg. Frankfurt a.M. 1965, 2.

2

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Einleitung

Die dichotomen Sichtweisen auf das Geschehen der Weltkriege in der Tschechoslowakei verstellen jedoch allzu leicht den Blick auf einige zentrale Zusammenhänge. Obwohl es entschieden nicht meine Absicht war, eine Arbeit über die deutsch-tschechischen Konflikte in der tschechoslowakischen Zwischenkriegsrepublik zu schreiben, nimmt diese Thematik im Folgenden viel Raum ein. Denn ich wurde bei der Auswahl und Lektüre der Quellen immer wieder darauf gestoßen. Wie Brecht in seinem Gedicht möchte ich in meiner Arbeit die historischen Kulissen verschieben und so zu einer vertiefenden Analyse der genannten Dichotomien beitragen.

Fragestellung und Methodik Die „Tschechoslowakei" war in beiden Weltkriegen im strengen Sinne weder Kriegsschauplatz noch -partei. Der Satz, Osteuropa sei das „Schlachtfeld der Diktatoren" 3 (Hitlers und Stalins) gewesen, trifft also im wörtlichen Sinn weder für die tschechischen Länder noch für die Slowakei zu. Daher bemüht sich die vorliegende Arbeit zu klären, wie die Weltkriege für die Tschechoslowakei trotzdem staatspolitische Bedeutung erlangten. Wenn wir von Norbert Elias' viel zitiertem Diktum ausgehen, dass „Nationalstaaten [ . . . ] in Kriegen und für Kriege geboren" 4 seien, so stellt sich die Frage, wie sich dieser Zusammenhang im Falle der Tschechoslowakei genau darstellt: Inwiefern war der Erste Weltkrieg hier ein „Staatsbildungskrieg" 5 ? Besitzt dieser Begriff im vorliegenden Fall auch für den Zweiten Weltkrieg Erklärungswert? Mit dem Blick auf die Geschichte beider Weltkriege interessiert dabei nicht nur der geläufigere Teil von Elias' Aussage, Nationalstaaten seien in Kriegen geboren, sondern auch die Feststellung, sie seien für Kriege geboren. Dies verweist auf die „Zwiespältigkeit der Nationalstaaten als Überlebenseinheit und Vernichtungsinstanz", auf die Tatsache nämlich, dass der Staat einerseits seine Bürger vor Gewalt schützen soll, dass andererseits aber die Nationalstaaten einander bedrohen. Es geht letztlich also um den Zusammenhang von staatlicher Binnenstruktur und internationaler Politik. 6 Dies wird im Folgenden mit Blick auf die Verzahnung von Erstem und Zweitem Weltkrieg zu beleuchten sein. Die übergeordneten Fragen der Arbeit lauten, wie und von wem Krieg und Nation bei der Gründung der Tschechoslowakei 1918/19 und der staatlichen 3

Dietrich Beyrau, Schlachtfeld der Diktatoren. Osteuropa im Schatten von Hitler und Stalin. Göttingen 2000. Norbert Elias, Geschichte der Individuen. Frankfurt a.M. 1987, 277; vgl. auch: Dieter Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: N P L 4 0 , 1 9 9 5 , H. 2 , 1 9 0 - 2 3 6 , hier 195. 5 Der Begriff geht auf Johannes Burkhardt zurück, vgl. Dieter Langewiesche, Zum Wandel von Krieg und Kriegslegitimation in der Neuzeit, in: Journal of Modern European History 2, 2004, H. 1, 5 - 2 7 , hier 14,18. 6 Elias, Geschichte der Individuen, 277f., Zitat 278. 4

Fragestellung und Methodik

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Konsolidierung von 1944/45 konkret verbunden wurden und w a s daraus j e w e i l s folgte. M e i n e A u s g a n g s h y p o t h e s e lautet, dass „die Tschechoslowakei" durch die spezifischen Kriegsdeutungen schließlich symbolpolitisch doch z u m Kriegsteilnehmer gemacht wurde. Der dabei verwendete Arbeitsbegriff „Kriegsdeutungen" operiert mit der A n n a h m e , dass den Kriegen ex post quasi nationalstaatlicher Sinn verliehen wurde, der sich als D e u t u n g im institutionellen Konsolidierungsprozess einschrieb und dort politisches Handeln prägte. 7 Mit d e m Fokus auf den Weltkriegsdeutungen soll s o die Kontinuität t s c h e c h o s l o w a kischer Politik in e i n e m diachronen Vergleich der N a c h k r i e g s z e i t e n analysiert werden. Mit der Wahl des Zeitabschnittes werden zugleich die Umbrüche von 1938/39 und 1944/45 in einen übergreifenden Interpretationsrahmen eingeordnet. D e n Verzahnungen von Erster Republik und zweiter N a c h k r i e g s z e i t gilt dabei besondere Aufmerksamkeit. D e n in der anti- und postsozialistischen Forschung vorherrschenden Tendenzen, die Jahre 1944/45 bis 1948 vor allem aus einer auf die Sowjetisierung ausgerichteten Perspektive zu betrachten und die Erste Republik hiervon sauber zu trennen, wird damit widersprochen.

Die

neuere Zeitgeschichte schließt z u d e m die Jahre vor d e m Zweiten Weltkrieg zunehmend aus ihrer Betrachtung aus. D i e s trägt trotz der A b w e n d u n g von den Fragestellungen des Kalten Krieges zu einer künstlichen A b k o p p l u n g

der

Z w i s c h e n k r i e g s z e i t bei und versperrt die Sicht auf das Nebeneinander von Kontinuität und Bruch in der zweiten N a c h k r i e g s z e i t . 8 D i e s y m b o l i s c h e n Repräsentationen des Krieges artikulierten sich vorrangig in Helden- und Opferbildern. D i e s e Bilder verbanden Vergangenheit (den Krieg)

7 In dieser Arbeit wird der Begriff Nation entsprechend dem englischen Wortsinn gebraucht. Es soll hiermit - anders als durch den „slawischen" Volksbegriff „národ" eine staatsbürgerliche Nationsauffassung transportiert werden, die die Gemeinschaft der Staatsbürger im Sinn hat. Eine solche Auffassung ist auch dem Begriff der nationalstaatlichen Institutionalisierung zugrunde gelegt. Der so gebrauchte Nationsbegriff zielt auf den Staatsbildungsprozess, vgl.: Dietmar Müller, Staatsbürgerschaft und Minderheitenschutz - „Managing diversity" im östlichen und westlichen Europa. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/type=artikel&id=741&view=print, eingesehen am 13. 6. 2006, 2. Die Frage, welcher Nationsbegriff der Rechtsordnung der Ersten Republik zugrunde lag, ist nicht endgütig geklärt. Das französische Vorbild der Verfassung und das Nachwirken der deutschen Staatsrechtslehre vermittelten divergierende Traditionen. Zwar wurde unter dem „tschechoslowakischen Volk" die Masse der Staatsbürger verstanden, jedoch erfuhr dieser universalistische Ansatz Brechungen durch das Sprachenrecht, vgl. Jaroslav Kucera, Politicky ci prirozeny národ? Κ pojetí národa ν ceskoslovenském právním rádu meziválecného období, in: Cesky casopis historicky 99, 2001, H. 3, 5 4 8 - 5 6 8 . 8 Zur Zeitgeschichte in der tschechischen Republik vgl.: Martin Schulze Wessel, Zeitgeschichtsschreibung in Tschechien. Institutionen, Methoden, Debatten, in: Alexander Nütznadel/Wolfgang Schieder (Hrsg.), Zeitgeschichte als Problem. Nationale Traditionen und Perspektiven der Forschung in Europa. (GG, Sonderheft 20.) Göttingen 2004, 3 0 7 - 3 2 8 , hier 314, 320; vgl. auch: Natali Stegmann, Schnittstellen zwischen Kriegsdeutungen und Nachkriegspolitik: Die „Benes-Dekrete" und das „Kaschauer Programm" im Kontext tschechoslowakischer Staatlichkeit, Sozial.Geschichte.extra 2007, http://www.stiftung-sozialgeschichte.de/?selection=17, eingesehen am 12. 3. 2007.

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Einleitung

und Gegenwart beziehungsweise die Z u k u n f t (die nationalstaatlich verfasste Gemeinschaft). Der Verweis auf die „ H e l d e n " und „Opfer", die Installation der heroischen und märtyrerhaften Vorbilder, diente nach den Kriegen der Sinnstiftung der sich konsolidierenden G e m e i n s c h a f t e n . Als Instanzen dieser Sinnstiftungen agierten über die Herrschaftswechsel hinweg weitgehend intakt gebliebene Institutionen. Die Helden- und Opferbilder veränderten sich j e nach Kontext. Dies gilt es im Folgenden nachzuzeichnen. Mit Blick auf die aus dem Zweiten Weltkrieg gespeisten „Mythen der Nation e n " schreibt Etienne François im Begleitbuch zu der gleichnamigen Ausstellung des Deutschen Historischen M u s e u m s , dass sowohl Helden- als auch Opferbilder der „Konstituierung eines heroischen Bildes des Krieges dienten". 9 Unter Helden versteht er „nachahmenswerte Identifikationsfiguren", „charismatische Gestalten" wie Widerstandskämpfer und Partisanen, als deren positive Eigenschaften Entschlossenheit, Opferbereitschaft, Kühnheit, Standhaftigkeit, Solidaritätssinn und Würde hervorgehoben würden. 1 0 Unter Kriegsopfern werden in der Regel diejenigen verstanden, die im Krieg ihr Leben gelassen haben. Der Hinweis auf die zivilen und unschuldigen O p f e r des Krieges unterstreicht die Brutalität und Grausamkeit der Kriegsführung. Die zivilen O p f e r gelten daher in der nationalen Gedenkkultur als Märtyrer und die Orte ihres Leidens werden „sakralisiert". 1 1 Helden- und Opferbilder haben demnach in der Heroisierung ein g e m e i n s a m e s Motiv. Diese Beobachtung zur Erinnerungskultur (der „Sieger" und ihrer Verbündeten) nach dem Zweiten Weltkrieg lässt sich auch auf die Zeit nach d e m Ersten Weltkrieg übertragen. Mit den „Totenm a l e n " im Blick thematisiert Reinhart Koselleck die Erinnerungskultur z u m Ersten und Zweiten Weltkrieg in einer diachronen Perspektive. Seine A u f m e r k samkeit lenkt er hierbei auf die Produktion von Sinn und die Darstellung von Sinnlosigkeit, und er konstatiert, dass die Denkmalskultur der ersten Nachkriegszeit in einer patriotischen Bildsprache Sinn beschwor, während die künstlerische Verarbeitung des Zweiten Weltkrieges und des Holocaust die Sinnlosigkeit der Opfer in den Vordergrund stellt. Für den vorliegenden Z u s a m m e n h a n g besonders wichtig ist sein Hinweis auf die Vermittlung von Ereignis und Präsentation, also darauf, dass in der künstlerischen Verarbeitung eine Antwort auf den Tod der Opfer zu sehen ist, die in einem abstrakten Verhältnis zum durchlebten Leid des Einzelnen steht. 12

9

Etienne François, Meistererzählungen und Dammbrüche. Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zwischen Nationalisierung und Universalisierung, in: Monika Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen 1945 - Arena der Erinnerung, Bd. 1. Mainz 2005, 13-28, hier 16. i° Ebd. » Ebd. 12 Reinhart Koselleck, Die Transformation der politischen Totenmale im 20. Jahrhundert, in: Martin Sabrow/Ralph Jessen/Klaus Große Kracht (Hrsg.), Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945. München 2003, 205-228, 206, 209f.

Fragestellung und Methodik

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Die genannten Autoren haben die Gefallenen und Ermordeten im Sinn. Unter dem Begriff „Kriegsopfer" wurden aber in den fraglichen Nachkriegszeiten auch die „Kriegsgeschädigten" (Invaliden, Witwen und Waisen) subsumiert. Die am Leben gebliebenen Opfer, jene also, die ein Opfer gebracht haben, stehen im Zentrum der vorliegenden Arbeit. Die Auswirkungen der entsprechenden Paradigmen sollen insbesondere mit Blick auf die Sozialpolitik untersucht werden. Die Studie betrachtet Sozialpolitik als eine mit der Anerkennung des Opferstatus befasste und Legitimität stiftende Institution. Der Heldenbegriff bezeichnet dabei die Art, in der rückprojizierte Vorstellungen von einer Teilhabe am Krieg in den Nachkriegszeiten zur Formulierung nationaler Idealvorstellungen genutzt wurden. In diesem Sinne wird der Heldenbegriff auch in Kontexten benutzt, in denen die Quellen nur von vorbildlichen Menschen und Taten sprechen, ohne diese selbst explizit als Heldentaten zu bezeichnen. Das scheint angebracht, da diese Arbeit von der These geleitet wird, dass die implizitierten Vorbilder allgemein in einem semantischen Zusammenhang mit Figuren und Metaphern standen, welche die Opferbilder konstituierten. Die Kriegsgeschädigtenpolitik war nämlich eingebettet in einen Prozess sozialstaatlicher Institutionalisierung und hatte - wie zu zeigen sein wird - eine große legitimationspolitische Bedeutung. Die gefallenen Opfer waren Gegenstand der Trauer, der Erinnerung und der politischen Diskurse. Die Kriegsgeschädigten als anerkannte Kriegsopfer mit einer besonderen Berechtigung auf Sozialfürsorge konnten dagegen aktiv am Leben teilhaben. Ihre körperliche und gesellschaftliche Präsenz schuf Ambivalenzen. Die Untersuchung des Kriegsgeschädigtendiskurses weist daher jenseits starrer Erinnerungsgesten auf den Niederschlag der sich ständig verändernden Repräsentationen des Krieges in den Nachkriegsinstitutionen. Die Kriegsgeschädigten waren trotz ihres Opferstatus aktiv Handelnde. Sie waren oftmals als entstellte und armselige Gestalten im Straßenbild präsent; sie stellten Forderungen; sie formulierten eigene Deutungen. Dennoch können die symbolischen Bilder dieser Opfer ebenso wie die Denkmale, die an die Gefallenen und Ermordeten erinnerten, nicht als eine einfache Darstellung des erlittenen Leides gesehen werden. Als kulturelle Adaptionen mit vielfaltigen Bezügen bedürfen sie vielmehr der Interpretation. 13 Die Heroisierungsmuster erscheinen im Falle der Kriegsgeschädigten längst nicht mehr so ungebrochen wie im Falle der zivilen und militärischen „Märtyrer". Den Status anerkannter Opfer des Krieges teilten die Kriegsgeschädigten nach dem Zweiten Weltkrieg mit unterschiedlich definierten „Opfern des Faschismus". In diesem zweiten Nachkriegskontext zeichnete sich eine grundlegende Umdeutung der Helden- wie der Opferbilder ab. Während nach dem Ersten Weltkrieg mit Blick auf die Legionäre als Helden und auf

13 Zur Weimarer Republik vgl.: Sabine Kienitz, Der Krieg der Invaliden. Helden-Bilder und Männlichkeitskonstruktionen nach dem Ersten Weltkrieg, in: MGZ 60, 2001, 367402, hier 380-387.

14

Einleitung

die Kriegsgeschädigten als Opfer ein sehr differenziertes und spannungsreiches Bild entsteht, scheinen nach dem Zweiten Weltkrieg in der pathetischen und monolithischen Stilisierung eines antifaschistischen Heroismus die Opferund Heldenbilder zusehends zu verschmelzen. Die vorliegende Arbeit nimmt besonders die Ambivalenzen in den Blick, die in der Übertragung der aus den Kriegsdeutungen gespeisten heroischen Helden- und Opferbilder in die Ausgestaltung von Kriegsopferpolitik entstanden. Dem hier Verhandelten ging die Teilnahme an einem realen Kriegs- beziehungsweise Besatzungsgeschehen voraus, was jedoch in den untersuchten Diskursen kaum mehr zur Sprache kam und sich allenfalls den beschädigten Körpern selbst eingeschrieben hatte. Die in der neueren Forschung viel diskutierte Frage, inwiefern die Kriegsopfer traumatisiert waren, stellt sich vor diesem Hintergrund überhaupt nicht. 14 In den Quellen finden sich noch nicht einmal Begriffe, die sich in die Kategorien der Traumaforschung übersetzen ließen. Die Begriffe der Quellen sind die des Elends und der Not. Das überaus reale soziale Elend war jedoch nur in bestimmten differenzierten und sich verändernden Kategorien kommunizierbar. Der körperliche Schmerz kam dabei als solcher nicht zur Sprache. Er war allenfalls als Leiden am Krieg und seinen Folgen beschreibbar. Der Körper als Träger von Schmerz, erlittenem Leid und Verwundungen wurde bezeichnenderweise nicht zum bevorzugten Objekt des Kriegsopferdiskurses. Dieser Diskurs wurde vielmehr in beiden Nachkriegszeiten in soziale Kategorien gefasst. Auch das Elend erschien als soziale Kategorie. Sozialpolitik als eine Form der Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen basierte auf einem jeweils spezifischen Verständnis von Gemeinschaftlichkeit, den Aufgaben des Staates und der Bedürftigkeit verschiedener Akteure.

14 Die Folgen der Traumatisierung in Kriegen wurden zwar schon nach dem Ersten Weltkrieg bei ehemaligen Soldaten festgestellt, systematisch aber erst bei amerikanischen Veteranen des Vietnam-Krieges therapiert. Traumata wurden ebenfalls bei Holocaustüberlebenden diagnostiziert und therapiert. Die Einsicht, dass die Teilhabe am Krieg und das Erleben von Gewalt erhebliche psychische Störungen bewirken können, gehört mittlerweile zu den grundlegenden Motiven in der Diskussion über Kriegsfolgen. Die Begrifflichkeiten der Traumaforschung werden häufig unreflektiert in den öffentlichen Diskussionen benutzt und in der Geschichtswissenschaft auch auf frühere Ereignisse übertragen. Aktuell ist die Diskussion um die deutschen „Kriegskinder", denen 2005 eine Konferenz in Frankfurt am Main gewidmet wurde, vgl.: Eva-Maria Magel, Folgen einer Katastrophe. Erinnerung, Trauma, Erziehung: Ein Frankfurter Kongreß widmet sich erstmals der Generation der Kriegskinder, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. 3. 2005, 44; vgl. auch: Tilmann Moser, Dämonische Figuren. Die Wiederkehr des Dritten Reichs in der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 2001, 7 7 - 1 0 7 ; zu Vietnam z.B.: Arthur Egendorf, Healing from the War. Trauma & Transformation after Vietnam. Boston 1986, 2; zu Holocaustüberlebenden: Dan Bar-on, Kriegstrauma als soziales Phänomen. Erfahrungen in Israel, in: Elisabeth Bronfen/Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hrsg.), Trauma. Zwischen Psychoanalyse und kulturellem Deutungsmuster. Köln/Weimar/Wien 1999, 7 7 - 9 4 ; zur Entkontextualisierung: Birgit R. Erdle, Die Verführung der Parallelen. Zum Übertragungsverhältnis von Ereignis, Ort und Zitat, in: Ebd., 2 7 - 5 0 .

Fragestellung und Methodik

15

Bei der folgenden Analyse der tschechoslowakischen Helden- und Opferbilder nach den Weltkriegen lehne ich mich an das Konzept einer Kulturgeschichte der Politik an, wie es unter anderem Thomas Mergel beschrieben hat. 15 Im Gegensatz zur alten Politikgeschichte nimmt die Kulturgeschichte der Politik „nichts für selbstverständlich." 16 Die wichtigen Merkmale derselben sind zum einen „die ethnologische Perspektive" 17 , die die Politik der Kabinette grundsätzlich nicht anders betrachtet als am Amazonas beobachtete Rituale, und zum anderen „der Kommunikationsvorbehalt und der Konstruktivismus" 1 8 , nach deren Maßgabe „Interessen, Macht und Konflikte als kommunikativ produzierte und symbolisch repräsentierte Phänomene" 1 9 anzusehen sind. Äußerungsformen von Politik lagern sich demnach als Zeichen in Diskursen ab. Diese methodischen Vorannahmen knüpfen an banale kulturanthropologische Theoreme an. Vorrangig für den skizzierten Zusammenhang ist erstens die Orientierung an Bedeutungen, die den Ereignissen zugeschrieben werden, statt an „positiven" Tatsachen. Zweitens richtet sich der kulturanthropologische Fokus auf die vielfältigen Möglichkeiten historischer Konstellationen statt auf scheinbar zwangsläufige Entwicklungen. 2 0 Eine konsequente Lektüre der Quellen wie auch der historiographischen Literatur nach dieser Maßgabe hat weit reichende Folgen, weil sie dazu nötigt, die dort vorgefundenen Kausalitätsmuster in Frage zu stellen. Wenn die tradierte Entwicklungslogik nicht länger Anerkennung findet, wird die an Fakten orientierte Historiographie in der Tendenz selbst zur Quelle. Dies stellt gerade die gängigen historiographischen Erklärungsmuster zur Disposition. Wenn sich die Kulturgeschichte der Politik unter diesem Blickwinkel „harten" Themen von allgemein anerkannter historischer Relevanz zuwendet, kann dies zu einer Erschütterung grundlegender Vorstellungen insbesondere der Nationalhistoriographien beitragen. Mit der tschechoslowakischen Staatsgründung von 1918/19 und der staatlichen Reetablierung nach dem Zweiten Weltkrieg hat die vorliegende Arbeit ein „hartes" Thema im Blick, das an der Schnittstelle der deutschen und der tschechischen beziehungsweise der tschechoslowakischen Nationalhistoriographien angesiedelt ist. Der

15 Thomas Mergel, Überlegungen zu einer Kulturgeschichte der Politik, in: GG 28, 2002, 5 7 4 - 6 0 6 ; vgl. auch die Beiträge in: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung, Frankfurt a.M./New York 2005. 16 Mergel, Überlegungen, 592; Barbara Stollberg-RUinger, Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, in: Dies. (Hrsg.), Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? (ZHF, Beih. 35.) Berlin 2005, 7 - 2 4 , hier 12,14. 17 Mergel, Überlegungen, 591. ι» Ebd., 593. 19 Ebd., 594. 20 Emmanuel Terray, Das Wirkliche und das Mögliche. Handeln und Identität, Nation und Emotion aus der Perspektive eines Anthropologen, in: Etienne François/Hannes Siegrist/Jakob Vogel (Hrsg.), Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1995, 3 8 3 - 3 8 8 , hier 383f.

16

Einleitung

kulturgeschichtliche Blick zielt auf eine Hinterfragung der damit korrespondierenden Gewissheiten und Selbstbilder. 21 Der nach dem Ersten Weltkrieg etablierte tschechoslowakische Staat entstand in einem spannungsreichen Verhältnis zwischen der radikal proklamierten Abkehr von Österreich-Ungarn und der Notwendigkeit, an die alten Institutionen anzuknüpfen. Diese Notwendigkeit war nicht nur bürokratischer oder technokratischer, sondern offenbar auch diskursiver Natur. Der moralisch legitimierte Staatsbegriff der Gründungsväter wie der Juristen war im Milieu der späten Habsburgermonarchie entstanden. Er lehnte sich nicht territorial, aber in der legitimationspolitischen Rahmung an den alten Staat an. In seiner ideellen rhetorischen Ausrichtung fußte er auf der „universellen" Staatsrechtslehre, die nunmehr eine tschechoslowakische Transformation erfuhr. Das übergeordnete Prinzip des durch Rechtsnormen geordneten Gemeinwesens wurde so der Staat selbst, denn dieser galt im Sinne des späten aufgeklärten Staatspositivismus als Verkörperung legitimer Machtausübung. 22 Durch das Recht erwuchsen den Bürgern verschiedene Rollen, die sie als Angehörige des Gemeinwesens auswiesen. Dies geschah zunächst unabhängig davon, ob ein Gemeinwesen absolutistisch oder demokratisch war. Da es unmöglich war, einen Bürgerstatus außerhalb eines Staates in Anspruch zu nehmen, kam dem Staat eine überaus mächtige Position für die Definition seiner Untertanen oder Bürger zu. Die Etablierung des modernen Staates wurde in der deutschen, englischen und französischen Perspektive vor allem für den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert beschrieben. Der Staat galt seit dieser Zeit als eine Selbstverständlichkeit. 23 Die Spezifik der ostmitteleuropäischen Staatsgründungen kann in dieser Perspektive nicht erfasst werden, es sei denn, man wollte sie als eine schlechte Kopie der westeuropäischen Vorbilder ansehen. Unter solchem Blickwinkel gingen jedoch gerade die Zusammenhänge zwischen den konkreten historischen Handlungsräumen und der abstrakt gedachten staatlichen Ordnung verloren. Eine historische Interpretation der Staatsgründungen von 1918/19 ist aber nur dann möglich, wenn zeitspezifische Deutungen in die Analyse einbezogen werden. Denn die Praxis der Staatsgründung musste von den Akteuren in den Rahmen der aktuellen Ereignisse eingebunden werden. 24

21

Ute Frevert, Neue Politikgeschichte. Konzepte und Herausforderungen, in: Dies./ Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Neue Politikgeschichte, 7 - 2 6 , hier 15. 22 Staat und Souveränität, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-soziologischen Sprache in Deutschland, Bd. 6. Stuttgart 1990, 1-65, hier 2; Michel Foucault, The Political Technology of Individuais, in: Martin H. Luther/Huck Gutman/Patrick H. Hutton (Hrsg.), Technologies of the Self. A Seminar with Michel Foucault. London 1988, 145-162, hier 149. 23 Staat und Souveränität; Foucault, The Political Technology, 151. 24 Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse. 2. Aufl. Tübingen 2004, 94; Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1997,149,180.

Fragestellung und Methodik

17

Nach der Herauslösung des tschechoslowakischen Staates aus dem Territorium und der Herrschaft der österreichisch-ungarischen Monarchie brauchte er Deutungsmuster, die nicht nur die alte Herrschaft diskreditierten, sondern auch die neue in verbindlichen und verständlichen Begriffen legitimierten. 25 Bei meinem Versuch, in einer kulturgeschichtlichen Lesart die soziale Interaktion in der tschechoslowakischen Gesellschaft zu untersuchen, verstehe ich mit Ute Daniel die Bedeutungen, die den Ereignissen und Handlungen zugeschrieben werden, als konstituierende Teile der sozialen Praxis; das Symbolische als Teil der Interaktion. 26 In der tschechoslowakischen Gründungsrhetorik galt die Etablierung von Demokratie als wesentliches Legitimationsmuster. Demokratie erschien hier als abstrakter ideeller Begriff. Die Herrschaftspraxis funktionierte derweil über ältere Institutionen, die teilweise formal unverändert blieben und nur mit neuen ideellen Inhalten gefüllt wurden. Dies gilt in großen Teilen sogar noch nach dem Zweiten Weltkrieg für die Ministerien ebenso wie für die Landesämter, es gilt fur die Militär- wie für die Sozialpolitik. Vor diesem Hintergrund werden die von den staatlichen Institutionen geprägten Deutungsmuster Gegenstand einer diachron vergleichenden Analyse. Die Handlungsmuster zwischen den staatlichen Institutionen und den „Staatsbürgern" (eines nunmehr demokratisch legitimierten Staates) können mit dem Begriff des „Aushandelns" als symbolische Interaktion aufgefasst werden. 2 7 Mit einem solchen Verständnis können nicht nur die Deutungen analysiert werden. Es kann vielmehr auch die Frage geklärt werden, woraus sich diese speisten und wie sie sich in der Interaktion veränderten. Die symbolische Interaktion drückte sich auf der Seite der staatlichen Institutionen sowohl in den Gesetzgebungsverfahren wie in der Formulierung der Verfassung aus. Auf Seiten der Staatsbürger artikulierte sie sich in Bittschreiben ebenso wie in allgemein formulierten Ansprüchen an den Staat, sei es in Resolutionen oder in Zeitschriftenartikeln. 2 8 Bei den analysierten Aushandlungsprozessen ist keineswegs immer eindeutig, wo sich die „Staatsbürger" tatsächlich in ihrer Rolle als Angehörige eines demokratisch legitimierten Staates verstanden und wo der Staat tatsächlich als demokratischer Akteur handelte. Teilweise erscheinen die Institutionen vielmehr als Herrschaftsagenturen, an die sich verschiedene Leute gerade deshalb wandten, weil sie deren Macht über den Herrschaftswechsel hinweg anerkannten. Es wäre daher verfehlt, die Kommunikation zwischen „Staat" und „Bürgern" als Ausdruck von Demokratisierung

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Ute Frevert, Neue Politikgeschichte, in: Joachim Eibach/Günther Lottes (Hrsg.). Kompass der Geschichtswissenschaft. Göttingen 2002, 152-164. hier 158. 26 Ute Daniel, „Kultur" und „Gesellschaft". Überlegungen zum Gegenstandsbereich der Sozialgeschichte, in: GG 19,1993, 6 9 - 9 9 , hier 84. 93. 27 Walther Dieckmann/Ingwer Paul, „Aushandeln" als Konzept der Konversationsanalyse. Eine wort- und begriffsgeschichtliche Analyse, in: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 2,1983, H. 2 , 1 6 9 - 1 9 6 , hier 190. 28 Peter Auer, Kontextualisierung, in: Studium Linguistik 19. 1986, 2 2 - 4 7 . hier 24 f.

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Einleitung

(im Sinne der Zivilgesellschaft) zu interpretieren. 2 9 Die Teilhabe der Bürger an der symbolischen Interaktion stellte aber eine Form der Akzeptanz der neuen staatlichen Herrschaft dar, in deren R a h m e n Begrifflichkeiten und Wertigkeiten ausgehandelt wurden. Dass dies nicht unter Gleichen geschah, sondern in einem durch zahlreiche Codes gekennzeichneten Geflecht von Hierarchien, ist evident. Daher ist es notwendig, die B e d e u t u n g s z u s a m m e n h ä n g e , die diesen Codes zugrunde lagen, genauer zu betrachten. In der diachronen Perspektive steht weiterhin zur Untersuchung, wie die grundlegenden Topoi der Staatsgründung von 1918/19 in den dreißiger Jahren und nach dem Zweiten Weltkrieg verstärkt, umgedeutet oder überschrieben wurden und welche Funktion dabei den Deutungen der Weltkriege jeweils zukam. Wie die Orientierung an den Deutungen kann auch der Vergleich helfen, historisch festgeschriebene Kausalitätsmuster zu entschlüsseln. 3 0 Der diachrone Vergleich ordnet das Geschehen nicht auf einer gradlinigen Zeitachse an. Ihm geht es nicht u m die Prozesshaftigkeit historischer Ereignisse, wonach das Alte als ein Vorbote des Neuen und das N e u e als ein Resultat des Alten anzusehen wäre. Der diachrone Vergleich stellt vielmehr das Alte und das N e u e gewissermaßen nebeneinander. Der Vergleich gilt auch in seiner diachronen Variante als ein Kontrastmittel, u m die Konturen der jeweiligen Zeitphänomene zu schärfen. D e m n a c h sucht er weniger nach einer Begründung f ü r spezifische Zeitphänomene als vielmehr nach einer vertiefenden Beschreibung der untersuchten Zeiten. 3 1 „Nation" und „Nationalität" waren f ü r die historischen Akteure wichtige Bezugsgrößen. Das Forschungsinteresse richtet sich im Folgenden auf die Frage, wie dies funktionierte und was daraus folgte. 3 2 D a s nationale Konstrukt kann daher nicht in der Weise auf die Fragestellung übertragen werden, dass die national verengte Perspektive der Akteure reproduziert und ihre Konflikte bilateral gedeutet würden, wie dies immer noch häufig unter dem Banner der „Beziehungsgeschichte" geschieht. 3 3 Rogers Brubakers Idee, Nationsgründun29

Zur politologischen Demokratieforschung vgl.: Seyla Benhabib, Introduction. The Democratic Moment and the Problem of Difference, in: Dies. (Hrsg.), Democracy and Difference. Contesting the Boundaries of the Political. Princeton 1996, 3-18. 30 Jürgen Schriewer, Vergleich und Erklärung zwischen Kausalität und Komplexität, in: Ders./Hartmut Kaelble (Hrsg.), Diskurse und Entwicklungspfade. Der Gesellschaftsvergleich in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Frankfurt a.M./New York 1999, 53-102, hier 61-63, 6 6 - 6 8 . 31 Heinz-Gerhard Haupt/Jürgen Kocka, Historischer Vergleich: Methoden, Aufgaben, Probleme. Eine Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung. Frankfurt a.M./New York 1999, 9 - 45, hier 22; Michael Werner/Bénédicte Zimmermann, Vergleich, Transfer, Verflechtung. Der Ansatz der Histoire Croisée und die Herausforderung des Transnationalen, in: GG 28, 2002, 607-636. 32 Rogers Brubaker, Nationalism Reframed. Nationhood and the National Question in New Europe. Cambridge 1996,16. 33 So argumentiert auch Jeremy King in seiner Lokalstudie über Budweis, die darlegt, wie die Bewohner dieser Kleinstadt zwischen 1848 und 1948 zu Tschechen und

Fragestellung und Methodik

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gen nicht als Prozesse, sondern als „events" anzusehen 3 4 , weist hier eine neue Perspektive auf, die von den alten Vorstellungen mehr oder weniger utilitaristisch gedachter nationaler Entwicklungen wegführt und Nationsgründung stärker im Sinne diskontinuierlicher Praktiken als Ereignisse verstehbar macht. 3 5 In diesem Sinne werden die Opfer- und Heldendiskurse in der Tschechoslowakei im Kontext von Nationsgründung und Weltkriegen in den Zeugnissen der „Herrschenden" und der durch deren Institutionen zu Bürgern gemachten Akteure untersucht. 36 Die vorliegende Studie spürt also in den Diskursen Machtbeziehungen auf und fragt gleichzeitig, wie Machtbeziehungen durch Diskurse geschaffen, verändert, verworfen und verstärkt wurden. Dabei greift sie auf das Begriffspaar des Ein- und Ausschlusses (beziehungsweise der Inklusion und der Exklusion) zurück. Mit Zygmunt Bauman wird vorausgesetzt, dass im Akt der Klassifizierung eines „positiven" Begriffs seine andere Seite mitkonstruiert wird. Der Bezug auf ordnende Ideale und der Einschluss entsprechender Einheiten in eine Gemeinschaft kommen demnach ohne den Ausschluss „Anderer" nicht aus. Das ordnende Ideal selbst produziert die Destruktion der Ordnung (das Chaos) und bringt dadurch Ambivalenzen hervor. 37 Mit Blick auf graduelle Ein- und Ausschlussmechanismen gehe ich zugleich in der Analyse über das Konzept des Ein- und Ausschlusses hinaus. Es wird die These verfolgt, dass der Ein- oder Ausschluss verschiedener Staatsbürger in die konstruierte Bürgergemeinschaft nicht total, sondern auf der Grundlage jeweils verschiedener Hierarchisierungsmerkmale abgestuft war. Dabei können sich der zugrunde liegenden Vorstellung gemäß einzelne Hierarchisierungsmerkmale überschneiden. Durch diese Merkmale werden die Subjekte und Akteure an den Schnittstellen verschiedener Deutungsmuster verortet. Die zu untersuchende Hierarchie erscheint demnach nicht in Form ordentlich voneinander getrennter und mit einem fixen Machtpotenzial ausgestatteter Einheiten, sondern als ein elastisches Geflecht. Dabei stütze ich mich auf neue, geschlechterhistorische Theoreme, die das geschlechterhistorische Hierarchisierungskonzept zur differenzierten Analyse unterschiedlichster gesellschaftlicher

Deutschen wurden: Jeremy King, Budweisers into Czechs and Germans. A local History of Bohemian Politics, 1848-1948. Princeton 2002, 6 - 8 . In seiner Studie zum tschechoslowakischen Militär in der Zwischenkriegszeit betont Zückert in einer ähnlichen Ausrichtung, dass ein Blick auf die Ausgestaltung nationalstaatlicher Institutionen angesichts einer multinationalen Bevölkerung weiter führt als die traditionell nur auf zwei Nationalitäten bezogene Beziehungsgeschichte.· Martin Zuckert, Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität. Die tschechoslowakische Armee und ihre Nationalitätenpolitik, 1918-1938. München 2006,14. 34 Ebd., 18f. 35 Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am College de France - 2. Dezember 1970. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1977, 3 9 - 4 1 . Ebd., 8. 37 Zygmunt Bauman, Modernity and Ambivalence. Cambridge 1991. 2, 14.

20

Einleitung

Hierarchien fruchtbar machen wollen. Der Geschlechtergeschichte 3 8 verdanken wir die zentrale Einsicht, dass gesellschaftliche Hierarchien nicht nur durch ein Muster, sondern durch mehrere Muster geprägt werden. So hat sie d e m vorherrschenden Klassenbegriff der Sozialgeschichte Geschlecht als Analysekriterium teils entgegengestellt, teils hinzugefügt. Methodische Überlegungen und zahlreiche Forschungen konnten mittlerweile zeigen, dass Geschlecht nicht etwa als eine feste soziale Kategorie anzusehen ist, sondern dass Schichtenzugehörigkeit und Geschlechterrollen in einem komplexen und immer wieder neu ausgehandelten Verhältnis zueinander stehen. 3 9 So stellt sich heute die überaus wichtige Frage, wie graduelle Ein- und Ausschlussmechanismen in unterschiedlichen Kontexten an diskursiv verfestigte Merkmale wie Geschlechtlichkeit, Ethnizität und Schichtenzugehörigkeit gebunden werden. Im Kontext von post-colonial- und queer-studies hat die angloamerikanische Forschung ein Race-Class-Gender-Modell entwickelt, das eben die Verwobenheit einzelner Differenzkriterien ins Zentrum historischer Betrachtungen stellt. 4 0 U m dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ein kriegsgeschädigter Invalide in der Tschechoslowakei wäre demnach (jeweils exemplarisch) nicht nur als Tscheche, Slowake oder Deutscher, sondern auch als (prototypisch heterosexueller) Mann, Familienvater oder Heiratsanwärter und als Bürger, Arbeiter oder Bauer anzusehen. In der aufgezeigten Perspektive wäre er nicht bedarfsweise als Mann, Slowake oder Arbeiter zu betrachten, sondern das Augenmerk ist auf seinen sozialen Ort an der Schnittstelle der verschiedenen relevanten Diskurse zu richten. Es gilt nachzuprüfen, wie soziale an ethnische und geschlechtliche Zuweisungen gekoppelt wurden und wie sich dies in der historischen Praxis manifestierte. Der zeitliche R a h m e n der Analyse erstreckt sich vom Tag der Staatsgründung am 28. Oktober 1918 bis zur A u s r u f u n g der Verfassung am 9. Mai 1948, mit einem kurzen Ausblick auf die danach einsetzende Phase stalinistischer

38

Joan W. Scott, Gender: A Useful Category of Historical Analysis, in: AHR 91, 1986, H. 5, 1053-1075; ergänzend: Dies., Die Zukunft von gender. Phantasien zur Jahrtausendwende, in: Claudia Honegger/Caroline Arni (Hrsg.), Gender - Die Tücke einer Kategorie. Beiträge zum Symposium anlässlich der Verleihung des Hans-Sigrist-Preises 1999 der Universität Bern an Joan W. Scott. Zürich 2001, 39-63. 39 Hinsichtlich staatlicher Politik vgl.: Thomas Kühne, Staatspolitik, Frauenpolitik, Männerpolitik: Politikgeschichte als Geschlechtergeschichte, in: Hans Medick/AnneCharlott Trepp (Hrsg.), Geschlechtergeschichte und Allgemeine Geschichte. Herausforderungen und Perspektiven. Göttingen 1998, 171-231; Gisela Bock/Pate Thane (Hrsg.), Maternity and Gender Policies. Women and the Rise of European Welfare, 1880s-1950s. London/New York 1991. 40 Judith Butler, Körper von Gewicht. Gender Studies. Frankfurt a.M. 1997; Gerda Lerner, Unterschiede zwischen Frauen neu gefaßt, in: Hanna Schissler (Hrsg.), Geschlechterverhältnisse im historischen Wandel. Frankfurt a.M./New York 1993, 59-79; Karin Hausen, Die Nicht-Einheit der Geschichte als historiographische Herausforderung: Zur historischen Relevanz und Anstößigkeit der Geschlechtergeschichte, in: Medick/Trepp (Hrsg.), Geschlechtergeschichte und allgemeine Geschichte, 15-55; Kathleen Canning, Feminist History after the Linguistic Turn: Historicizing Discourse and Experience, in: Signs 19,1994, 368-404.

Gleichheitspostulat und soziale Ungleichheit

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Herrschaftspraxis. An den Tag der Staatsgründung wurden die Mythen der so genannten Auslandsrevolution geknüpft. Diese erfuhren während der Ersten Republik unterschiedliche Deutungen, die im Lichte des Münchner Abkommens und der Ereignisse des Zweiten Weltkrieges durch die Londoner Exilregierung eine Bekräftigung und Radikalisierung erfuhren. Die Kontinuitätsbehauptung der Exilregierung prägte in Korrespondenz mit den ebenfalls wirkmächtigen kommunistischen Deutungen die Politik der zweiten Nachkriegsjahre bis 1948. Die nach der kommunistischen Machtübernahme ausgerufene „volksdemokratische" Verfassung schrieb dagegen neue Deutungsmuster fest, die sich im Rahmen der sozialistischen Staatsauffassung bewegten. Insbesondere band sie den Bürgerstatus an das Ideal einer einheitlichen Arbeitergemeinschaft und den Zugang zu Sozialleistungen an den Betrieb als sozialistisches Kollektiv. Damit waren erhebliche Verschiebungen im Gefüge sozialer, ziviler und politischer Rechte proklamiert.

Gleichheitspostulat und soziale Ungleichheit In der Staatsbürgerschaftsforschung besitzt der Beitrag „Staatsbürgerrechte und soziale Klassen" des britischen Soziologen Thomas H. Marshall die „Prägkraft eines klassischen Modells" 41 , an dem sich die weiteren Ausführungen orientieren. Obwohl Marshall sich an der britischen Geschichte orientiert, ist der Text in der Soziologie zu einem Modell für die Entwicklung der Staatsbürgerschaft schlechthin avanciert. Daher wird das Konzept hier vorgestellt. Marshall definiert Staatsbürgerschaft als einen Status, der sich aus der Gewährung bürgerlicher, politischer und sozialer Rechte herleitet, die durch entsprechende Gesetze genauer bezeichnet werden. 4 2 Als bürgerliche Rechte deklariert er „jene Rechte, die notwendig sind, die individuelle Freiheit zu sichern: Freiheit der Person, Redefreiheit, Gedanken- und Glaubensfreiheit, Freiheit des Eigentums, die Freiheit, gültige Verträge abzuschließen, und das Recht auf ein Gerichtsverfahren". 4 3 Die politischen Rechte erstrecken sich auf politische Partizipation, insbesondere auf das aktive und passive Wahlrecht. Als soziale Rechte sieht Marshall „das Recht auf einen Mindeststandard von Wohlfahrt und Sicherheit, [ . . . ] das Recht an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Leben, [ . . . ] [und das] Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards". 44 Zur Verwirklichung sozialer

41

Dieter Gosewinkel, Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit, in: GG 21, 1995, 5 3 3 - 5 5 6 , hier 534f. 42 Thomas H. Marshall, Staatsbürgerrechte und soziale Klassen, in: Elmar Rieger (Hrsg.), Bürgerrechte und soziale Klassen. Zur S o z i o l o g i e des Wohlfahrtsstaates. Frankfurt a . M . / N e w York 1992, 3 3 - 9 4 , hier 39. 43 Ebd., 40. 44 Ebd.

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Einleitung

Rechte ist demnach Bildung erforderlich, zu deren Erlangung der Staat die Kinder als zukünftige Bürger notfalls zu zwingen habe. Die Ausweitung bürgerlicher Rechte ordnet Marshall grob dem 18., die der politischen Rechte dem 19. und die der sozialen Rechte dem 20. Jahrhundert zu. 4 5 Seine zentrale These ist, dass die „grundlegende menschliche Gleichheit" mit der „Ungleichheit sozialer Klassen" in einem spannungsreichen Verhältnis steht, das für die Gestaltung des (staats)bürgerlichen Lebens von entscheidender Bedeutung sei. 46 Dabei beleuchtet er den „Konflikt" zwischen dem Staatsbürgerstatus (der Arbeiter) einerseits und der Organisation kapitalistischer Gesellschaften als Klassengesellschaften andererseits. 47 Er verfolgt die Idee, dass durch den verstärkten Zugang aller Bürger zu den gesellschaftlichen Ressourcen - also durch Gewährung sozialer Rechte - dieser „Konflikt" begrenzt werden könne. 4 8 Von besonderem Interesse ist für uns die Frage, wie Marshall das Verhältnis von Gleichheitspostulat und sozialer Ungleichheit fasst und welche Rolle er dabei den sozialen Rechten zumisst. Der Klassenbegriff des Textes scheint hierbei erweiterungsfähig, denn Marshall führt bezüglich der Gewährung sozialer Rechte aus: „Die Gleichstellung geschieht weniger zwischen den Klassen als vielmehr zwischen Individuen einer Bevölkerung, die jetzt für diesen Zweck so behandelt werden, als seien sie eine Klasse." 4 9 Es scheint also zulässig, den Begriff „soziale Klasse" gedanklich als Äquivalent für von Ungleichheit betroffene Akteure anzusehen. In einer demokratischen und kapitalistischen Gesellschaft ist soziale Ungleichheit laut Marshall grundlegend. Sie ist die Voraussetzung für das Funktionieren solcher Gesellschaften und wie Marshall lakonisch formuliert - das „Nebenprodukt anderer Institutionen", wie Eigentum und Bildung. 5 0 Jedoch darf die Ungleichheit nicht übermäßig werden, wenn sie das politische System nicht delegitimieren soll. Dass der Begriff der Staatsbürgerschaft Menschen in sehr unterschiedlichen Positionen bezeichnet, macht Marshall am Beispiel der Gewährung des Stimmrechts deutlich, das er in ein Männer- und ein Frauenwahlrecht differenziert. Über die Gewährung politischer Rechte schreibt er: D[ies]er entscheidende Wandel der Grundsätze wurde mit dem Gesetz des Jahres 1918 durch die Einfuhrung des allgemeinen Männerwahlrechts vollzogen, das die Grundlage politischer Rechte vom wirtschaftlichen Vermögen auf den Status als rechtliche Person verlagerte. Ich sage absichtlich ,Männerwahlrecht', um die große Bedeutung dieser Reform von der zweiten und nicht weniger wichtigen Reform, die zur gleichen Zeit stattfand, zu unterscheiden, nämlich die Einführung des Frauenstimmrechts. 5 1

« Ebd., 46 Ebd., Ebd., « Ebd., 49 Ebd., so Ebd., si Ebd.,

42f. 39. 53. 36-38. 73. 55. 47.

Gleichheitspostulat und soziale Ungleichheit

23

Marshall spricht hier über Großbritannien. Das Zitat legt nahe, dass die Gewährung desselben Rechts für Bürger in unterschiedlichen Positionen verschiedene Bedeutung haben konnte. Für den Arbeiter drückte sich im allgemeinen Wahlrecht demnach eine Abkehr von der Bindung des Wahlrechts an den Besitz aus, während es Frauen die Gleichberechtigung gegenüber Männern zuerkannte. Diese Überlegung kann sehr wichtig sein, wenn es darum geht, das universalistische Bild „des Bürgers" in unterschiedlichen Kontexten zu verorten, und wenn wir die Gewährung von Rechten als symbolische Politik auffassen. Angenommen, Marshall hätte an dieser Stelle den Anflug eines Class-GenderModelles präsentiert, so ließe sich sein Gedanke für unseren Kontext zu einem Race-Class-Gender-Modell modifizieren, das heißt wir könnten auch in der Gewährung sozialer Rechte an die Angehörigen nationaler Minderheiten eine andere Bedeutung erblicken als diese für Arbeiter oder Frauen ausdrückten. Leider schweigt sich Marshall an allen anderen Stellen des Textes darüber aus, dass die von ihm besprochenen Phänomene eine geschlechterpolitische Dimension haben. Der Text gibt jedoch wichtige Hinweise auf die unterschiedliche Bedeutung von Wohlfahrt als karitative Armenfursorge und als soziales Bürgerrecht, wobei deutlich wird, dass deren Bedeutungszusammenhänge ineinander verwoben sein können und die Stigmatisierung der Armut auch im 20. Jahrhundert noch die soziale Praxis prägte. Die klassische Armenfürsorge behandelte nämlich die Unterstützung der Armen „nicht als integralen Bestandteil der Rechte des Bürgers, sondern als Alternative zu ihnen". 52 Armut schloss also aus der Bürgergemeinschaft aus. Die Merkmale der Armut wurden als Belästigung empfunden. 5 3 Im 20. Jahrhundert habe der Abbau von politischer Ungleichheit zu einer „neuen Einstellung gegenüber dem Problem der Gleichheit" gefuhrt, die Teilhabe aller Bürger an den materiellen Gütern zu einem Staatsbürgerrecht werden lassen und bei den Bürgern einen „Überbau legitimer Erwartungen" geschaffen. 5 4 Da der Staat den individuellen und kollektiven Erwartungen seiner Bürger auf soziale Sicherung nur in beschränktem Maße nachkommen könne, sei die Situation eingetreten, dass die Gesetzgebung „mehr und mehr den Charakter einer politischen Absichtserklärung annimmt, von der gehofft wird, dass sie eines Tages verwirklicht wird." 5 5 Es liegt auf der Hand, dass die immanenten Konfliktpotenziale zunahmen, wenn die Hoffnung auf die Verwirklichung eines umfassenden sozialen Einschlusses schwand. Das ganze von Marshall beschriebene System folgt nicht einer stringenten Logik, sondern präsentiert sich als ein Austarieren zwischen dem Gleichheitsgrundsatz und dem Faktum sozialer Ungleichheit. Der Soziologe betonte, eine „humane Gesell-

52 Ebd., 49. 53 Ebd., 50. 54 Ebd., 67,75. 55 Ebd., 75.

24

Einleitung

schaft" sollte den dabei zutage tretenden „Mischmasch aus Paradoxa" aushalten können. 56 So vage diese Schlussfolgerungen auch sein mögen - weil sie keine Rückschlüsse darauf erlauben, unter welchen Umständen soziale Ungleichheit in einer „humanen Gesellschaft" für wen unerträglich wurde, und in dieser Hinsicht ganz auf die Perspektive des Staates beschränkt bleiben - so geben sie doch andererseits einen wichtigen Hinweis darauf, dass die Paradoxa im Spannungsfeld von Gleichheit und Ungleichheit moderne Gesellschaften konstituierten. Marshalls Überlegungen ermuntern daher dazu nachzuforschen, auf welche Pfeiler sich dieses Gebäude aus staatsrechtlichen Paradoxa in einem konkreten Kontext stützte. Zu fragen wäre auch, wie Individuen und Gruppen ihren Anspruch auf soziale Gleichheit artikulierten und ob es Hinweise darauf gibt, wodurch manifeste Ungleichheit unerträglich wurde. Marshalls Überlegungen haben von verschiedenen Seiten Kritik und Ergänzungen erfahren, insbesondere von Soziologen. Diese Kritik zielte unter anderem auf die von ihm unterschätzte Funktion des Staates als „zentraler Ausdruck politischer Macht". 57 Bemängelt wurde außerdem, dass er die Rolle des Krieges als „Schrittmacher der Staatsbürgerschaft" nicht beleuchte und dass sein Konzept den Ausschlusscharakter staatsbürgerlicher Rechte nicht berücksichtige (als Instrument sozialer Schließung). 58 All diese Einwände bestärken die Absicht, die tschechoslowakische Sozialpolitik im Kontext staatlicher Machtentfaltung nach den Weltkriegen im Hinblick auf ihre Einschluss- und Ausschlussmechanismen zu betrachten und hierfür Marshalls Ansatz zu modifizieren. Dafür spricht auch, dass der Text kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verfasst wurde. An anderer Stelle betonte Marshall, die britischen Kriegsziele seien in „Begriffen sozialer Gerechtigkeit ausgedrückt" worden. 59 Dies verweist darauf, dass gerade angesichts der Not der 30er Jahre und der Zerstörungen des Krieges die Labour-Regierung in den ersten Nachkriegsjahren mittels Verstaatlichung zur Vollbeschäftigung beitragen wollte und die staatliche Wohlfahrt ausbaute. 60 Eine Veränderung im Zugang der Bürger zu sozialen Gütern wurde demnach nicht nur im Zuge der „Sowjetisierung" in den Ländern Ostmitteleuropas intendiert, sondern auch in liberalen Gesellschaftssystemen. Dies gibt einen wichtigen Hinweis für die Bewertung der Politik nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Bedeutungszuwachs sozialer Rechte war nach 1945 zudem der Grundpfeiler staatssozialistischer Wohlfahrtspolitik. 61 Es gilt daher, die Genese der tschechoslowakischen Sozialpolitik mit Bezug auf 56

Ebd., 93. Gosewinkel, Staatsbürgerschaft, 537. 58 Ebd., 538, 545f. 59 Thomas H. Marshall, Der Wohlfahrtsstaat. Eine vergleichende Untersuchung, in: Rieger (Hrsg.), Bürgerrechte und soziale Klassen, 169-188, hier 186. 60 Thomas Mergel, Großbritannien seit 1945. Göttingen 2005, 53-57, 6 4 - 7 6 . 61 Zur staatssozialistischen Wohlfahrtspolitik vgl.: Susan Zimmermann, Wohlfahrtspolitik und staatssozialistische Entwicklungsstrategie in der „anderen" Hälfte Europas im 20. Jahrhundert, in: Dies./Johannes Jäger/Gerhard Melinz (Hrsg.), Sozialpolitik in 57

Gleichheitspostulat und soziale Ungleichheit

25

zwei Phasen institutioneller Umwandlung nach den Weltkriegen zu betrachten. Die Anfange des alten, österreichischen konservativ-korporatistischen Wohlfahrtsstaates erfuhren mit der Einsetzung der tschechoslowakischen Staatsgewalt eine sozialdemokratische Überformung. Die Träger des neuen Staates verstanden Sozialpolitik als einen wesentlichen Bestandteil demokratischer Machtausübung. Diese Praxis scheiterte in den 30er Jahren aufgrund der wirtschaftlichen Situation, und sie erfuhr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine wesentliche Radikalisierung. Diese mündete in der Etablierung eines sozialistischen Wohlfahrtsstaates, der staatspaternalistische Sozialpolitik mit einem umfassenden Herrschaftsanspruch koppelte. Ein Durchbruch in der Wohlfahrtsstaatsforschung ist dem dänischen Soziologen Gosta Esping-Anderson 1990 mit seinem Werk „The Three Worlds of Welfare Capitalism" gelungen. 62 Er unterscheidet die europäischen Wohlfahrtsregime in einen sozialdemokratischen (skandinavischen), einen liberalen (angloamerikanischen) und einen konservativ-korporatistischen (mitteleuropäischen, das heißt deutschen, österreichischen, italienischen und französischen) Typ. Entgegen traditionellen Ansätzen, die an Sozialpolitik hauptsächlich die in Abhängigkeit vom Lohn gewährten Sozialversicherungsleistungen für (männliche) Arbeiter interessierte 63 , führt Esping-Anderson mit dem Begriff der Dekommodifikation (de-commodification) eine Dimension in die Wohlfahrtsstaatsforschung ein, die auch andere Formen der Umverteilung in den Blick nehmen kann. Dieser Begriff beschreibt, inwieweit ein Sozialstaat seinen Bürgern ein Mindestmaß an sozialer Sicherung unabhängig von Erwerbsarbeit ermöglicht. 6 4 Ein hohes Maß an Dekommodifikation wird in einigen sozialdemokratischen Wohlfahrtsregimes erreicht. Diese Frage scheint insbesondere zentral für die Beschreibung des Zugangs von Frauen zu sozialen Rechten und die Beschreibung familiärer Abhängigkeitsverhältnisse (etwa der nicht erwerbstätigen Ehefrau vom Erwerb ihres Mannes). In dieser Hinsicht ist Esping-Anderson in der geschlechtersoziologischen Perspektive ergänzt worden. 6 5 Diese wichtigen Ansätze haben das Feld der Wohlfahrtsstaatsforschung für Fragen differenzierter Ein- und Ausschlussmechanismen geöffnet und verweisen allgemein auf die zentrale Funktion von lohnabhängiger Erwerbsarbeit und familiären Bindungen für den Zugang zu sozialen Leistungen und die darin tradierten Hierarchisierungsmuster. der Peripherie. Entwicklungsmuster und Wandel in Lateinamerika, Afrika, Asien und Europa. Wien 2001, 2 1 1 - 2 3 7 ; Zsusza Ferge, Social Policy Regimes and Social Structure. Hypotheses about the Prospects of Social Policy in Central Eastern Europe, in: Dies./Jon Eivind Kolberg (Hrsg.), Social Policy in a Changing Europe. Colorado 1992, 2 0 1 - 2 2 2 . 62 Gosta Esping-Anderson, The Three Worlds of Welfare Capitalism. Princeton 1990. 63 Vgl. z.B. Manfred Schmidt, Sozialpolitik. Historische Entwicklung und internationaler Vergleich. Opladen 1988. 64 Esping-Anderson, Three Worlds, 3 5 - 5 4 . 65 Vgl. exemplarisch: Erna Appell, Geschlecht - Staatsbürgerschaft - Nation. Politische Konstruktionen des Geschlechterverhältnisses in Europa. Frankfurt a . M . / N e w York 1999, 9 6 - 9 9 .

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Einleitung

Insgesamt stellen die Neugründungen demokratischer Staaten aufschlussreiche Objekte der Wohlfahrtsstaatsforschung dar, weil sie den Verlaufscharakter, den Marshalls Studie voraussetzte, radikal in Frage stellen. 6 6 Gewährten wenn man Marshalls Modell zugrunde legt - die neugegründeten Staaten bürgerliche, politische und soziale Rechte mit ihrer Errichtung gleichzeitig? Was w ü r d e dies f ü r den Verlaufscharakter und die immanenten Z u s a m m e n h ä n g e zwischen bürgerlicher Gleichheit und sozialer Ungleichheit bedeuten? Schließlich: Welche Rolle spielten die nationalen Minderheiten als Teil der Staatsbürgergemeinschaft, wenn wir dieses Modell auf Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg übertragen? 6 7 Die Gründer der neuen Staaten deklarierten nach dem Ersten Weltkrieg einen nationalen Neubeginn. Es liegt j e d o c h auf der Hand, dass die so entstandenen Staaten gerade in ihrer jeweiligen Konsolidierungsphase die alten Institutionen übernahmen und diese nur langsam mit neuen Inhalten füllten. In der Tschechoslowakei legitimierte sich der neue Staat dabei wesentlich durch seinen demokratischen Charakter. Demokratie w u r d e rhetorisch an die tschechoslowakische Nation gebunden. Wenn Demokratisierung mit Marshall dagegen als ein lang andauernder Prozess aufgefasst wird, so m u s s auch in Betracht gezogen werden, dass bereits die alten, österreichischen und ungarischen Institutionen in jeweils spezifischer Weise bürgerliche, politische und soziale Rechte gewährten und dass diese sodann von d e m neuen, demokratischen Staat ü b e r n o m m e n und von den Bürgern genutzt w u r d e n . Es reicht also nicht aus, den rhetorischen Überbau als vollständigen Ausdruck der Staatsgründung anzuerkennen. Vielmehr gilt es, die konkreten Bezüge einzelner Institutionen zu untersuchen. Von besonderem Interesse sind dabei die Verwerfungen, die sich an den Schnittpunkten einzelner Bezugsfelder auftaten, weil sich an ihnen Ambivalenzen im Institutionalisierungsprozess ablesen lassen.

Forschungsstand Der französische Historiker Stéphane Audoin-Rouzeau hob schon 1994 hervor, dass der Erste Weltkrieg nur in international vergleichender Perspektive verstanden werden könne. Eine vergleichende Weltkriegsgeschichte sei „ f ü r alle Wissenschaftler das einzig richtige Fernziel ihrer Arbeit". 6 8 Audoin-Rouzeau

66

Darauf verweist auch: Müller, Staatsbürgerschaft und Minderheitenschutz. Einen interessanten Hinweis auf die Organisation des Parteiensystems entlang von sozialen und ethnischen Kriterien geben.1 Carol Skalnik Leff/Susan B. Mikula, Institutionalizing Party Systems in Multiethnic States: Integration and Ethnic Segmentation in Czechoslovakia, 1918-1992, in: Slavic Review 61, 2002, H. 2, 292-314, hier 301 f. 68 Stéphane Audoin-Rouzeau, Von den Kriegsursachen zur Kriegskultur. Neuere Forschungstendenzen zum Ersten Weltkrieg in Frankreich, in: NPL 39, 1994, 203-217, hier 203. 67

Forschungsstand

27

hatte hierbei den synchronen Vergleich der europäischen Kriegskulturen im Sinn, der vor allem die emotionalen, religiösen und ideologischen Aspekte im Blickfeld haben sollte. Neben dieser Richtung zielt insbesondere die deutsche Forschung in den letzten Jahren auf den diachronen Vergleich der Weltkriege und der Nachkriegszeiten. 6 9 Im Brennpunkt des Interesses stehen Kontinuität und Kausalität des europäischen Kriegsgeschehens im 20. Jahrhundert. Gesucht werden Erklärungsmuster, die es erlauben, einen Bogen vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende der Blockbindung und zur Überwindung der Teilung Deutschlands zu schlagen. Forschungsleitend sind auch hier kulturgeschichtliche Fragestellungen. Diese sehr produktiven Analysen konzentrieren sich jedoch nach wie vor überwiegend auf einzelne, meist als Nationen verstandene Kriegsparteien. Das gilt auch für alltags-, geschlechter- und erfahrungsgeschichtliche Studien. Dagegen befasst man sich bislang kaum mit den im Ersten Weltkrieg aus den zerfallenden Großreichen hervorgegangenen Staaten.™ So fehlt ein systematischer Vergleich der tschechoslowakischen Gesellschaften nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch die Weltkriegsdeutungen und ihre Implikationen für den institutionellen Umbau sind kaum erforscht. Einen diachronen sozial- und wirtschaftsgeschichtlich angelegten Vergleich der Gesellschaften in den tschechischen Gebieten während des Ersten und des Zweiten Weltkrieges versuchen Jan Gebhart und Ivan Sedivy in einem 2003 herausgegebenen Sammelband. 7 1 Die meisten der dort publizierten Beiträge beschäftigen sich nur mit einem der Weltkriege und unternehmen den Vergleich nicht selbst. Der Frage nach den Kriegsdeutungen geht Martin Kucera für den Ersten Weltkrieg nach. 72 Er beleuchtet insbesondere den Zusammenhang von Kriegsverlauf und Entstehung der Republik, wobei er betont, dass der Anteil der nationalen Bewegung an der Entstehung der Republik gering gewesen sei und aus ideologischen Gründen überhöht wurde. Mit der Einschreibung historischer Sinngebungsmuster beschäftigt sich Milos Havelka, dessen Beitrag vor allem den Charakter des Zweiten Weltkrieges (in 69

Zusammenfassend: Gerhard Hirschfeld, Erster Weltkrieg - Zweiter Weltkrieg. Kriegserfahrungen in Deutschland. Neuere Ansätze und Überlegungen zu einem diachronen Vergleich, www.zeitgeschichte-online.de, eingesehen am 18. 5. 2004. 70 Vgl. Karen Hagemann/Stefanie Schiiler-Springorum (Hrsg.), Heimat - Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege. Frankfurt a . M . / N e w York 2 0 0 2 ; Birthe Kundrus, Kriegerfrauen. Familienpolitik und Geschlechterverhältnisse im Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hamburg 1995; Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte? München/Wien/Zürich 2 0 0 0 ; Nikolaus Buschmann/ Horst Carl (Hrsg.), D i e Erfahrung des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg. Paderborn/München/ Wien/Zürich 2001; Gerd Krumeich/Jost Dülffer (Hrsg.), Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918. Essen 2 0 0 2 . 71 Jan Gebhart/Ivan Sedivy (Hrsg.), Ceská spolecnost za velkych válek 20. století (pokus o komparaci). Prag 2003. 72 Martin Kucera, Κ prqblematice vykladu í e s k é h o domácího odboje 1914-1918, in: Gebhart/Sedivy (Hrsg.), Ceská spolecnost, 115-135.

28

Einleitung

begrifflicher Anlehnung an die demokratische Auslandsrevolution während des Ersten Weltkrieges) als eine „nationale Revolution" (národní revoluce) hervorhebt.« Vor dem Hintergrund der politischen Einbrüche von 1938 (Münchner Abkommen), 1948 („Sowjetisierung") und 1968 (Niederschlagung des Prager Frühlings) machte sich in der tschechischen Gesellschaft ein Gefühl des Ausgeliefertseins breit. Der Historiker Oswald Kostrba-Skalicky brachte dies 1975 folgendermaßen auf den Punkt: ,,[A]ußer der erfolgreichen Staatsgründung im Jahre 1918 gab es - vom Gesichtspunkt des Staates und seiner Völker - nur Katastrophen". 74 In der Reflexion dieser Anschauung ist die Frage nach der politischen Kontinuität für die tschechische Geschichtsauffassung sehr wesentlich. Damit beschäftigt sich auch der tschechische Exilhistoriker Vojtech Mastny, der nach Gründen für das Scheitern von tschechischem Widerstand gegen den Kommunismus in den Jahren 1938 bis 1968 sucht.75 Der tschechische Soziologe Havelka nähert sich unter einem geschichtsphilosophischen Blickwinkel dem Thema. Er fragt nach dem Sinn tschechischer Geschichte und hat damit explizit die Produktion von Deutungen im Blick. 76 Im slowakischen Falle stellt sich die Frage nach der Kontinuität anders als im tschechischen. Im Zentrum der Betrachtung steht hier eher das Volk als der Staat. In der slowakischen Geschichtswissenschaft führte nach Gabriela Dudeková eine Konzentration auf politikgeschichtliche Fragestellungen dazu, dass sozialgeschichtliche Forschungen für dieses Land bislang vor allem in der Ethnologie betrieben wurden. 77 Die politische Geschichte der Slowakei ist in dem Buchtitel des herausragenden slowakischen Historikers Eubomir Lipták „Changes of Changes" pointiert zusammengefasst. 78 Neben den zahlreichen Herrschaftswechseln bestimmt vor allem das Autostereotyp des plebejischen Volkes die slowakische Geschichtsadaption. Der positive Bezug auf dieses Autostereotyp ist gerade hinsichtlich der Verbindungen von nationaler und kommunistischer Geschichtsauffassung sehr spannungsreich. 79

73

Milos Havelka, Ceské myslení o „velkych" válkách 20. století, in: Gebhart/Sedivy (Hrsg.), Ceská spoleònost, 1 5 - 3 2 , hier 25. 74 Oswald Kostrba-Skalicky, Vom Sinn der böhmischen Geschichte, in: Bohemia 16, 1 9 7 5 , 2 4 - 3 8 , hier 27. 75 Vojtech Mastny, Tradition, Continuity and Discontinuity in recent Czechoslovak History, in: Nikolaus Lobkowitz/Friedrich Prinz (Hrsg.), Die Tschechoslowakei 1945-1970. München/Wien 1978, 8 1 - 9 0 ; Ders., The Czechs under Nazi Rule. The Failure of National Resistance, 1939-1942, New York/London 1971. 76 Havelka, Ceské myslení; Ders., Dëjiny a smysl. Obsahy, akcenty a posuny „¿eské otázky" 1895-1985. Prag 2001; Ders. (Hrsg.), Spor o smysl òeskych dëjin 1895-1938. Prag 1995. 77 Gabriela Dudeková, Sozialgeschichte in der Slowakei - Eine Bilanz und neue Impulse, in: Bohemia 44, 2003, H. 2, 4 1 8 - 4 3 4 . 78 Eubomir Lipták, Changes of Changes. Society and Politics in Slovakia in the 20 th Century. Bratislava 2002. 79 Dudeková, Sozialgeschichte, 423.

Forschungsstand

29

D i e vorliegende Studie über Kriegsdeutungen kann auf e i n e m soliden Forschungsstand zur Entstehung des t s c h e c h o s l o w a k i s c h e n

Staates im Ersten

Weltkrieg, zum Staatsaufbau, z u m Parteienwesen und zur politischen Ideengeschichte der Ersten Republik aufbauen. Für die Geschichte der tschechischen Länder und der Staatsgründung im Ersten Weltkrieg sind neben älteren Studien vor allem die Arbeiten von S e d i v y grundlegend. 8 0 Z u m

nationalstaatlichen

Institutionalisierungsprozess in der Ersten Republik gibt es ebenfalls grundlegende

Literatur. Für die skizzierten Z u s a m m e n h ä n g e

sind

insbesondere

Beiträge zur Institutionalisierung des Parteien- und Justizwesens 8 1 , zur Verf a s s u n g s g e b u n g 8 2 s o w i e z u m Militär und zur Legionärstradition w e s e n t l i c h . 8 3 Über den Weg z u m Münchner A b k o m m e n und seine B e d e u t u n g fur die tschechische

80

Geschichtsadaption

(„Münchner

Komplex")84

sowie

die

Ge-

Ivan Sedivy, Cesi, ceské zemë a velká válka 1914-1918. Prag 2001; Ders., Velká válka 1914-1918, in: Cesky íasopis historicky 96, 1998, 1-14, hier 2; als Klassiker gilt: Josef Kalvoda, The Genesis of Czechoslovakia. New York 1986. 81 Skalnik Leff/Mikula, Institutionalizing Party Systems, 2 9 8 - 3 0 8 ; Eva Broklová, Interpretace problémû politického systému 1. CSR tremi nëmeckymi historiky, in: Masarykova filozofie pojeti demokracie a existence pluralitniho politického systému 1. republiky. Hodonín 1997, 2 0 - 3 1 ; zur Minderheitenpolitik: Jana Machacová/Jirí Matéjcek, Sociální pozice národních mensin ν ceskych zemích 1918-1938. Opava 1999; Heinz Mohnhaupt/Hans-Andreas Schönfeldt (Hrsg.), Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944-1989). Einführung in die Rechtsentwicklung mit Quellendokumentation. Bd. 4: Tschechoslowakei (1944-1989). Frankfurt a.M. 1998. 82 Vgl. Eva Broklová, První ëeskoslovenskà listava. Diskuse ν ústavním vyboru ν lednu a únoru 1920. Prag 1992; Dies., Ceskoslovenská demokracie. Politicky systém CSR 1919-1938. Prag 1992, 21-27. 83 Vgl. Oswald Kostrba-Skalicky, Bewaffnete Ohnmacht. Die tschechoslowakische Armee 1918-1938, in: Karl Bosl (Hrsg.), Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 24. bis 27. November 1977 und 20. bis 23. April 1978. München 1978. 4 3 9 - 5 2 7 ; Manfred Alexander, Die Rolle der Legionäre in der Ersten Republik. Ein politischer Verband und sein Geschichtsbild, in: Ferdinand Seibt (Hrsg.), Vereinswesen und Geschichte in den böhmischen Ländern. Vorträge einer Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 25. bis 27. November 1983 und vom 23. bis 25. November 1984. München 1986, 2 6 5 - 2 7 9 ; Ivan Sedivy, Legionárská republika? Κ systému legionárského zákonodárství a sociální péce ν meziválecné CSR, in: Historie a vojenství 51, 2002, Η. 1, 158-164; Ders., Velká válka; Ders., Zed' mezi odbojem domácím a zahranicním, in: Historie a vojenství 6, 1998, 8 4 - 9 3 ; Ders., Zur Loyalität der Legionäre in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Martin Schulze Wessel (Hrsg.), Loyalitäten in der Tschechoslowakischen Republik, 1918-1939. Politische, nationale und kulturelle Zugehörigkeiten. München 2004, 141-152; Zückerl, Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität, 14. 84 Vgl. z.B. Jan Tesar, Mnichovsky komplex. Jeho priciny a düsledky. Prag 2000; Väclav Kural, Cesi, Nëmci a mnichovská krizovatka (Strucné ctení). Prag 2002: Ders.. Rok 1938: Mohli jsme se bránit? Prag 1992; Fritz Tauberl (Hrsg.), Mythos München, Le Mythe de Munich, The Myth of Munich. München 2002; Jan Némecek (Hrsg.), Mnichovská dohoda: Cesta k destrukci demokracie ν Evropë. Prag 2004; Jan Kuklik. The Validity of the Munich Agreement and the Process of its Repudiation during the Second World War as Seen from the Czechoslovak Perspective, in: Prague Papers on History of International Relations 1998, Bd. 2, 3 4 4 - 3 6 5 .

30

Einleitung

schichte des Protektorats Böhmen und Mähren 85 , des Sudetengaus 8 6 und der Slowakei 8 7 während des Zweiten Weltkrieges gibt es Grundlagenstudien sowie Arbeiten zu unterschiedlichen Einzelaspekten. 88 Die Frage nach dem Umfang der tschechischen Kollaboration und der Bedeutung der tschechischen faschistischen Bewegung rührte ebenso wie die Umsetzung des Genozids an den tschechischen und slowakischen Juden und Roma lange Zeit an ein Tabu, da sich die Tschechoslowakische Sozialistische Republik in der Tradition des sozialistischen Antifaschismus sah und diese Sicht autoritär verteidigte. 89 Daher erfahren die genannten Problemkreise in der tschechischen und slowakischen Forschung erst neuerdings eine eingehende Untersuchung, ebenso wie die Geschichte der Londoner Exilregierung und ihrer Militär- und Außenpolitik. 90 Auch die Jahre 1945 bis 1948 werden erst in letzter Zeit gründlicher erforscht. 91

85

Detlef Brandes, Die Tschechen unter deutschem Protektorat, 2 Bde. München/Wien 1969 u. 1975; Mastny, The Czechs under Nazi Rule; Chad Bryant, Prague in Black. Nazi Rule and Czech Nationalism. Cambridge (Mass.)/London 2007. 86 Ralf Gebel, „Heim ins Reich". Konrad Henlein und der Reichsgau Sudetenland (1938-1945). München 1999; Volker Zimmermann, Die Sudetendeutschen im NS-Staat. Politik und Stimmung im Reichsgau Sudetenland (1938-1945). Essen 1999; Jörg Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung im Reichsgau Sudetenland, 1938-1945. München 2006. 87 Tatjana Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei 1939-1945. Politischer Alltag zwischen Kooperation und Eigensinn. München/Wien/Zürich 2003. 88 Jirí Dolezal, Ceská kultura za protektorátu. Skolství, písemnictví, kinematografíe. Prag 1996; Jan Gebhart/Jan Kuklík, Dramatické i vední dny protekorátu. Prag 1996; Jan Rataj, Das Deutschlandbild im Protektorat und im tschechoslowakischen Exil 19391945, in: ZfG 53, 2005, H. 5, 4 3 4 - 4 5 4 , hier 4 4 4 - 4 5 4 ; Chad Bryant, The Language of Resistance? Czech Jokes and Joke-telling under Nazi Occupation, 1943-45, in: JContH 41, 2006, H. 1,133-151. 89 Vgl. zu Faschismus und Kollaboration: Tomás Pasák, Cesky fasismus, 1942-1945, a kolaborace, 1939-1945. Prag 1999; zum Genozid: Miroslav Kárny, „Konecné resení". Genocida ceskych zidu ν nëmecké protektorátní politice. Prag 1991; zum Widerstand und zur Exilregierung: Vaclav Kural, Vlastenci proti okupaci. Ustrední vedeni odboje domácího, 1940-1943. Prag 1997; Eduard Cejka, Ceskoslovensky odboj na zâpadë. Prag 1997; siehe auch die Beiträge in: Robert Maier (Hrsg.), Tschechen, Deutsche und der Zweite Weltkrieg. Von der Schwere geschichtlicher Erfahrungen und der Schwierigkeit ihrer Aufarbeitung. Hannover 1997. 90 Grundlegend: Detlef Brandes, Großbritannien und seine osteuropäischen Alliierten 1939-1943. Die Regierungen Polens, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens im Londoner Exil vom Kriegsausbruch bis zur Konferenz von Teheran. München 1988. 91 Als Klassiker gilt bereits: Karel Kaplan, Der kurze Marsch. Kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei 1945-1948. München/Wien 1981; grundlegend auch: Jiri Kocian, Vom Kaschauer Programm zum Prager Putsch. Die Entwicklung der politischen Parteien in der Tschechoslowakei in den Jahren 1944-1948, in: Stefan Creuzberger/Manfred Görtemaker (Hrsg.), Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944-1949, Paderborn/München/ Wien/Zürich 2002, 301-317; vgl.v auch die Beiträge in: Zdeñka Kokosková/Jirl Kocian/Stanislav Kokoska (Hrsg.), Ceskoslovensko na rozhrani dvou epoch nesvobody. Sbornik ζ konference k 60. vyroci konce druhé svëtové války. Prag 2005.

Forschungsstand

31

Zur t s c h e c h o s l o w a k i s c h e n Sozialpolitik s o w o h l der Ersten Republik als auch der Jahre nach d e m Zweiten Weltkrieg gibt es kaum Forschungen. Hier fehlt es t e i l w e i s e an grundlegenden Informationen über die Funktionsweisen der verschiedenen

sozialpolitischen

Institutionen.

Einige w e n i g e

Autoren

beschäftigten sich in der staatssozialistischen Zeit mit d i e s e m Thema, j e d o c h immer aus der Perspektive

der Arbeiterbewegung

und mit d e m

augenmerk auf der Sozialversicherungs- und Arbeitslosenpolitik. 9 2

HauptDarüber

hinaus gibt es einige Broschüren und Sammelwerke aus der Z w i s c h e n - und Nachkriegszeit, die in der U m g e b u n g des Ministeriums für Sozialfürsorge und des 1919 gegründeten Prager Sozialinstituts entstanden sind. 9 3 Außerdem hat der tschechische Historiker Jakub Rákosník 2 0 0 3 am Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Karls-Universität in Prag eine Doktorarbeit über Arbeitslosigkeit in der Ersten Republik a b g e s c h l o s s e n , die j e d o c h nicht veröffentlicht ist. 9 4 Einige s l o w a k i s c h e Autorinnen und Autoren geben in der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Historia

einen ersten Einblick in die

Geschichte der t s c h e c h o s l o w a k i s c h e n Sozialpolitik. 9 5 Über die Kriegsgeschädigtenpolitik der Ersten Republik ist kaum e t w a s bekannt. Vor d i e s e m Hintergrund möchte die vorliegende Studie eine grundlegende Vorstellung über die Sozialpolitik des t s c h e c h o s l o w a k i s c h e n Staates vermitteln und zu weiteren Forschungen auf d i e s e m Gebiet anregen. Sie schließt dabei auch an Untersuchungen zur G e n e s e europäischer Wohlfahrtspolitik im A l l g e m e i n e n s o w i e zur

92

Zdenék Devi, Sociální vyvoj Ceskoslovenska 1918-1938. Prag 1985; Ders., Ζ novëjsího vyzkumu státní cinnosti ν sociální oblasti 1918-1924, in: Historicky ústav CSAV (Hrsg.), Politicky systém a státní politika ν prvních letech existence Ceskoslovenské republiky (1918-1923). Prag 1990, 122-168; Jaroslav Heuser, Vyvoj sociální správy za predmnichovské republiky. Prag 1968. 93 Vgl. Zdenék Deyl (Hrsg.), Soupis literatury k sociálním dëjinâm CSR, T. 1: Sociální politika. Prag 1973; das Sozialinstitut (sociální ústav) wurde 1919 als ein dem Ministerium für Sozialfürsorge unterstehendes wissenschaftliches Institut gegründet. Gründungsmitglieder waren neben dem ersten Sozialminister Lev Winter u.a. Edvard Benes und die Tochter des Präsidenten Alice Masaryková, vgl.: Sociální revue 4, 1923, 3 7 - 4 1 ; Jaroslav Heuser, Die soziale Verwaltung der Tschechoslowakei zwischen den beiden Weltkriegen, in: Verwaltungshistorische Studien. Aus Materialien der internationalen Konferenz über Verwaltungsgeschichte in Pécs-Siklós, 18.-20. Mai 1972, 109-130, hier llOf.; Sociální ústav Republiky ceskoslovenske. Jeho zalození a cinnost ν prvém tríletí: 1920-1922. Prag 1923. 94 Veröffentlicht ist lediglich eine begriffsgeschichtliche Reflexion zur „Arbeitslosigkeit": Jakub Rákosník, Od tulâkû k nezamëstnanym. Sociální politika ζ pohledu déjin pojmû, in: dëjiny - teorie - kritika 2, 2005, H. 2, 179-194. 95 Gabriela Dudekovä, Od milosrdenstva k státnej opatere. Starostlivost' o chudobnych l'udì na okraji spolocnosti ν minulosti, in: Historia 3, 2003, Η. 4, 21-26; Dies., Vydobytky modernej doby. Podoby sociálneho zabezpecenia ν minulosti. in: Historia 3, 2003, Η. 6, 21-24; Ludovit Hallon, Pod ochranou zákonov. Sociálne zabezpeceníe ν medzivojnovom období, in: Historia 3, 2003, Η. 6, 2 4 - 2 8 ; Anna Falisová, Zmiernenie biedy. Aktivity medzivojnovej CSR pre sociálne a hmote slabych, in: ebd., 2 6 - 2 9 ; Zuzana Kusá. Pokus o sociálny stát. Starostlivost' o sociálne slabych obyvatel'ov ν období socializmu. in: Ebd., 2 9 - 3 2 .

32

Einleitung

Kriegsgeschädigtenpolitik in verschiedenen europäischen Ländern im Besonderen an. 9 6

Quellenlage Für die Untersuchung der skizzierten Fragestellung konnte auf publizierte und nicht publizierte Quellen zurückgegriffen werden. Systematisch wurden zunächst wichtige Periodika derjenigen berufsständischen und ( s o z i a l p o l i t i schen Institutionen ausgewertet, die f ü r die nationalstaatliche Etablierung und insbesondere f ü r den Auf- beziehungsweise U m b a u von A r m e e und Sozialstaat maßgeblich waren: militärische und sozialpolitische Fachzeitschriften sowie die zentralen Organe der Kriegsgeschädigten. Hinsichtlich der Frage, wer wann und wie als O p f e r oder Held definiert worden ist, wurden einschlägige juristische Fachzeitschriften analysiert. Maßgeblich f ü r die Auswahl der Zeitschriften war, dass sie über einen längeren Zeitraum erschienen, vor allem in den jeweiligen Nachkriegszeiten. Dies sind im Einzelnen: 9 7 -

-

-

-

-

96

Nase doba. Revue pro vëdu, umëni a zivot sociální (Unsere Zeit. Revue f ü r Wissenschaft, Kunst und soziales Leben), erschien monatlich von 1894 bis 1948 in Prag (ausgewertet ab 1914). Právník. Teoreticky casopis pro otázky statu a prava (Der Jurist. Theoretische Zeitschrift f ü r Fragen des Staates und des Rechts), erschien in Prag 1861 bis 1948, herausgeben vom juristischen Institut des Justizministeriums (ausgewertet ab 1918). Ceské právo. Casopis Spolku notàrù (Tschechisches Recht. Zeitschrift des Notarvereins), erschien 1919 bis 1948 in Prag (ausgewertet f ü r den gesamten Erscheinungszeitraum). Péce o mládez. Mësicnik Ministerstva sociální péce (Jugendfürsorge. Monatszeitschrift des Ministeriums f ü r Sozialfürsorge), erschien 1922 bis 1948 in Prag (ausgewertet f ü r den gesamten Erscheinungszeitraum). 9 8 Sociální revue. Orgán Ministerstva práce a sociální péce (Soziale Revue. Organ des Ministeriums f ü r Arbeit und Sozialfürsorge), erschien 1920 bis 1938 und 1945 bis 1949 in Prag (ausgewertet f ü r den gesamten Erscheinungszeitraum).

Zur Wohlfahrtsstaatsforschung siehe nächstes Unterkapitel; zu Kriegsgeschädigten z.B.: Deborah Cohen, The War Come Home. Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914-1939. Berkeley/Los Angeles/London 1968; Michael Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates. Die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg, in: GG 9,1983, 230-277; Joanna Bourke, Dismembering the Male. Men's Bodies, Britain and the Great War. Chicago 1996. 97 Vgl. zur Zeitschriftenlandschaft allgemein: Milena Beränkovä/Alena Krivánková/ Frano Rottkay, Cesky a slovensky tisk ν letech 1918-1944. (Dëjiny zurnalistiky, T. 3) Prag 1988; sowie bei: Vladimir Kañka (Hrsg.), Bibliografie periodile ν ceskych krajich 1945-1963. Periodika, vycházející ν Praze, 2 Bde. Národní knihovna. Prag 1963. 98 Jahrgang 2,1923, konnte nicht ausfindig gemacht werden.

Quellenlage

33

- Novy zivot. Ústrední orgán Druziny ceskoslovenskych válecnych poskozencù (Neues Leben. Zentralorgan der Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter), erschien monatlich von 1920 bis 1951 in Prag (ausgewertet für den gesamten Erscheinungszeitraum). 99 - Der Kriegsverletzte. Organ des Bundes der Kriegsverletzten für Böhmen, Mähren und Schlesien (Sitz Reichenberg), erschien monatlich von 1919 bis 1938 in Liberec/Reichenberg (ausgewertet fìir den gesamten Erscheinungszeitraum). 100 Für die Analyse von Einzelaspekten sind komplementär andere Periodika hinzugezogen worden, so z.B. Nase revoluce. Ctvrtletni historicky sbornik (Unsere Revolution. Historisches Vierteljahresheft), erschienen 1923 bis 1937 in Prag. Die Zeitschrift des tschechoslowakischen Legionärsverbandes, Národni osvobozeni (Nationale Befreiung), enthielt von 1924 bis 1938 eine Wochenbeilage mit dem Titel Legionársky tyden (Legionärswoche), die ebenfalls partiell herangezogen wurde. Dasselbe gilt für: Bojovnik. Organ Ustredia sväzu l'udovych protifasistickych bojovnikov (Der Kämpfer. Organ des Zentralverbandes der antifaschistischen Kämpfer) 101 , erschien 1948 bis 1951 in Bratislava, und Hlas revoluce. Orgán svazu protifasistickych bojovnikù (Die Stimme der Revolution. Organ des Verbandes der antifaschistischen Kämpfer), erschien von 1948 bis 1990 in Prag. 102 Die Protokolle der Nationalversammlung (Národni shromâzdëni ceskoslovenské) sind auf der Homepage des tschechischen Parlaments online zugänglich und wurden für Einzelaspekte hinzugezogen. 103 Die Sozialgesetzgebung kann auf den Seiten der Sociàlni revue nach vollzogen werden. Die im Státní ústrední archiv (Staatliches Zentralarchiv, heute Národni archiv) in Prag aufbewahrten Akten des Ministeriums fur Sozialfürsorge (Ministerstvo sociàlni péce), unter diesem Namen auch in der Londoner Exilregierung sowie unter der Protektoratsregierung tätig, von Juli 1945 bis Juli 1946 jedoch Ministerstvo práce a sociàlni péce (Ministerium für Arbeit und Sozialfürsorge), sind überaus reich an Materialien zum Thema. Neben den im Folgenden analysierten Bittschreiben und Resolutionen finden sich hier hunderte von formal abgefassten Einsprüchen zur Rentenzahlung. Zwar hatte das Protektoratsministerium bis 1942 eine Abteilung, die unter anderem für die 99

Jahrgang 4, 1920, war der früheste Jahrgang, der bibliographisch erhoben werden konnte. Jahrgang 1 bis 3 hat sich offenbar nicht erhalten. Auch Jahrgang 2 0 bis 2 9 ( 1 9 3 6 - 1 9 4 5 ) konnte selbst unter Mithilfe des „Referenzdienstes" der Prager Nationalbibliothek nicht ausfindig gemacht werden. 100 Jahrgang 1, 1919, konnte nicht ausfindig gemacht werden, ebenso einzelne N u m m e r n der übrigen Jahrgänge. 101 Durchgesehen für 1948. Durchgesehen für die Jahre 1 9 4 8 - 1 9 5 4 . 103 www.psp.cz/cgi-bin/win/eknih; die Protokolle wurden - sofern nicht anders angegeben - am 16. 9 . 2 0 0 5 eingesehen; im Folgenden zitiert als: Národni shromázdéní c e s k o s lovenské.

34

Einleitung

Kriegsgeschädigtenfürsorge zuständig war, jedoch fanden sich in deren Akten nur einige wenige Blätter hierzu. Die Nachkriegsministerien unterhielten keine derartigen Abteilungen mehr. Die Aktenlage ist für die zweite Nachkriegszeit wie auch für die Exilregierung äußerst dünn. Im Bestand der Landesämter für Kriegsgeschädigte in Prag und Bratislava sind die Antragsformulare auf Zahlung von Kriegsgeschädigtenrenten aus den Jahren 1919 bis 1953 erhalten. Diese Akten wurden jedoch für die vorliegende Studie nicht systematisch ausgewertet, weil die Formulare rein bürokratischer Natur sind. 104 Im Fond des Landesamtes von Bratislava konnten dessen Jahresberichte sowie einige Schriftstücke über slowakische Kriegsgeschädigtenvereinigungen ausgewertet werden. Für die zweite Nachkriegszeit ist hinsichtlich der Kriegsopferpolitik auf das Zeitschriftenmaterial zurückzugreifen. Da die Kriegsgeschädigten nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwanden, ist für diese Zeit die Zeitschrift des Interessenverbandes der Invaliden Novy zivot besonders aufschlussreich. Ausgewertet wurden außerdem einige Akten der Exilregierung und des Ministeriums für Arbeitsschutz und Sozialfürsorge sowie des Verteidigungsministeriums (Ministerstvo národní obrany). Dessen Schriftstücke aus den Jahren 1945 bis 1948 sind laut Auskunft des Zentralen Militärarchivs (Vojensky ústredni archiv) im Prager Stadtteil Karlin durch das Hochwasser des Jahres 2003 zerstört worden. Die Akten des Verteidigungsministeriums aus der Zwischenkriegszeit sind in verschiedenen Beständen verstreut. Sie wurden ebenso wie Akten des Legionärsozialinstituts (Sociální ústav legionársky) bereits von Sedivy ausgewertet. 105 Für die vorliegende Arbeit sind daher nur einige wenige Akten aus dem Militärarchiv herangezogen worden. Aufschlussreich waren außerdem einige Vereinsakten aus dem Hauptstadtarchiv Archiv hlavniho mesta Prahy und aus den Beständen des Innenministeriums (Ministerstvo vnitra) im tschechischen staatlichen Zentralarchiv, aus dem slowakischen Nationalarchiv (Státní národní archiv) in Bratislava sowie aus dem Staatlichen Kreisarchiv in Liberec/Reichenberg (Státní okresní archiv Libérée). Diese Quellenmaterialien werden durch zahlreiche Publikationen aus dem Umkreis der Regierung, des Ministeriums für Sozialfürsorge und der Legionärsverbände ergänzt. Neben den Schriften der Präsidenten Tomás G. Masaryk (1850-1937) und Edvard Benes (1884-1948) 1 0 6 sind hier insbesondere die zu den Jubiläen der Staatsgründung herausgegebenen Bände, in denen die Ministerien ihre Arbeit ausführlich dokumentierten, sowie einige repräsen104

Vgl. den Inventar des Státní ústredni archiv in Prag 470: V. Janíková, Státní úrad pro válecné poskozence ν Praze (1919) 1946-1952 (1953). Prozatímní inventární seznam. Prag 1964; sowie den Inventar des Slovensky národní archiv in Bratislava O N F II 80: Markéta Nirházová, Státní úrad pre vojnovych poskodencov ν Bratislave, Bratislava

2001. 105

Sedivy, Legionárská republika? Masaryk war seit der Staatsgründung bis 1936 Präsident; Benes seit der Staatsgründung Außenminister und bis 1948 Masaryks Nachfolger. 106

Gliederung

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tative Veröffentlichungen der Legionärs- und Invalidenverbände und der mit dem Thema befassten öffentlichen Körperschaften zu nennen. 1 0 7 Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ändern sich mit den Helden- und Opferbildern auch die relevanten Quellen. In den genannten Aktenbeständen aus der Zwischenkriegszeit sowie in den ausgewerteten Zeitschriften und anderen publizierten Quellen befinden sich noch vereinzelt wichtige Informationen. Für die Analyse der Überlagerung tradierter Deutungsmuster durch „antifaschistische" und volksdemokratische Leitbilder nach dem Zweiten Weltkrieg wurden ausgewählte Quellen vom Typ politische Prosa, Programme und Propaganda, die Gesetze der Nachkriegsjahre und die Maiverfassung von 1948 vergleichend ausgewertet. Dieses Material wird durch eine Analyse von Zeitungsberichten zum 1. Mai (Tag der Arbeit), zum 8./9. Mai (Tag der Befreiung), zum 29. August (Slowakischer Aufstand) und zum 28. Oktober (Tag der Staatsgründung) vervollständigt.

Gliederung Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptteile, die den tschechoslowakischen Kriegsdeutungen nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg gewidmet sind. In beiden Teilen gilt es zu klären, wie sich Kriegsdeutungen in den Prozess der staatlichen Konsolidierung einschrieben. Zunächst werden jeweils die Umstände und die wesentlichen Legitimationspfeiler der Nachkriegsordnung mit besonderer Berücksichtigung der Sozialpolitik dargelegt. Sodann wird erörtert, welche Helden- und Opferbilder dabei kreiert wurden und ob und wie diese miteinander korrespondierten. Der Teil zur zweiten Nachkriegszeit fällt dabei aus mehreren Gründen kürzer aus. Zum einen blieben viele Konstruktionselemente nach dem Zweiten Weltkrieg erhalten, so dass es ausreichend ist, die Neuerungen und Unterschiede im Kontrast zur ersten Nachkriegszeit zu schildern. Außerdem zeichnet sich die zweite Nachkriegszeit durch die Durchsetzung monolithischer Deutungsmuster aus, die sich in den Quellen permanent wiederholen, in der Darstellung aber kurz beschrieben werden können. Schließlich ist der untersuchte Zeitraum für die zweite Nachkriegszeit schlicht kürzer. Die wesentlichen institutionellen Grundpfeiler der Staatsgründung von 1918/19 blieben bis zur Ausrufung der Maiverfassung 1948 erhalten. Unter der Oberfläche einer sich als Wiedereinsetzung der alten Staatsmacht darstellenden Konsolidierung erfuhren jedoch wichtige Begriffe einen Bedeutungswandel, der durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges begründet war. Der wesentliche Wendepunkt in der Ausgestaltung und im Verständnis der inneren und äuße107 Ausführliche bibliographische Informationen sind den einzelnen Kapiteln s o w i e der Zusammenstellung gedruckter Quellen im Anhang zu entnehmen.

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ren Verhältnisse des Staates wie der Gesellschaft war das Münchner Abkommen. Nach dem September 1938 wurden die vergangenen wie auch die zukünftigen Ereignisse durch das Prisma dieser aus tschechischer Sicht elementaren Niederlage gesehen. „München" kann als ein Scharnier zwischen den Ereignissen und Deutungen des Ersten und des Zweiten Weltkrieges angesehen werden. Das Kapitel „Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen" ist zunächst der Staatsgründung als einem juristischen und symbolpolitischen Akt gewidmet. Im Prozess der Staatsgründung war die Konzeption des Legionärsmythos zentral. Die Legionäre wurden zu Vorkämpfern der Staatsgründung und zu Helden der Auslandsrevolution stilisiert. Ihr Vorbild wurde paradigmatisch. Davon ausgehend befasst sich das Kapitel „Nach dem Ersten Weltkrieg" mit den Helden- und Opferbildern. Es zeigt, wie die Legionäre zum Sinnbild der Staatsgründung im Krieg wurden und wie sich die entsprechende Ehrerbietung in der sozialen Versorgung der Vorkämpfer niederschlug. Auf dieser Grundlage untersucht das Unterkapitel „Vorbilder Opferbilder: Einschreibungen in den sozialpolitischen Institutionalisierungsprozess", ob und wie sich das Legionärsparadigma in die Sozialpolitik einerseits und die Kriegsopferpolitik andererseits einschrieb. Die Ausführungen beginnen mit einer Charakterisierung der tschechoslowakischen Wohlfahrtspolitik zwischen den überkommenen Traditionen der Habsburgermonarchie und den Setzungen des neuen Staates. Dabei soll nachgewiesen werden, dass der Gewährung sozialer Rechte eine grundlegende Funktion in der Konzeption der tschechoslowakischen Staatsbürgergemeinschaft zukam. Als Kriegsgeschädigte galten neben Kriegsinvaliden deren unterhaltsbedürftige Angehörige sowie die Hinterbliebenen Gefallener. Ein Großteil der als Kriegsgeschädigte definierten Personen waren Kriegswaisen oder Kinder von Invaliden. Dennoch spielten Kinder keine besondere Rolle in der Ausgestaltung der Opferpolitik. Die Ausfuhrungen zur „Jugendfürsorge" gehen den Gründen für diese Unterrepräsentation kindlicher Opfer in den sozialpolitischen Institutionen nach. Des Weiteren beschäftigt sich das Kapitel mit der Etablierung des Sozialversicherungswesens, das am Ideal eines männlichen Arbeiters und Familienernährers ausgerichtet war. Sodann werden der Niederschlag des Legionärsund des Arbeiterideals in der Ausgestaltung der Kriegsgeschädigtenpolitik untersucht. Die Korrespondenzen in den Deutungen von staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren werden in den Unterkapiteln „Die Kriegsgeschädigtengesetzgebung: staatliche Verteilungs- und Wiederherstellungsmaßnahmen" sowie „Kriegsgeschädigtenorganisationen: Institutionalisierung und Ideale" abgehandelt. Neben den gesetzlichen Maßnahmen und den ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen geht es um die Einrichtung der Landesämter für Kriegsgeschädigtenfürsorge 1919 sowie um die Gründung und die Agitation verschiedener Kriegsgeschädigtenvereinigungen. Die einzelnen nationalen Gruppen hatten teilweise national oder religiös orientierte Kriegsgeschädigtenvereinigungen, deren unterschiedliche Organisations- und Agitationsmuster

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beleuchtet werden. Das Unterkapitel „Opferrepräsentationen" untersucht sodann die Bilder, die von verschiedenen Opfergruppen gezeichnet wurden. Die Präsentationen von Witwen, kriegsgeschädigten Kindern, Kriegsblinden, Tuberkulösen und anderen Kriegsinvaliden spiegeln die Kategorisierung des Leids und die Hierarchisierungen im Opferdiskurs wider. Mit den „Körper(re)präsentationen" im Blick wird daraufhin gezeigt, wie sich die auch national - unterschiedlichen Deutungen des Opferstatus in die Rede über den verletzten Körper einschrieben. Im Medium der teils diffusen, teils manifest hierarchisierten Opferkategorien erwarteten die Kriegsgeschädigten von den staatlichen Institutionen die Anerkennung ihres Leids und die Gewährleistung minimaler sozialer Standards. In Korrespondenz zu den staatlichen Setzungen wandten sich sowohl Privatpersonen als auch Versammlungen und Vereinigungen mit ihren Bitten und Forderungen an das Ministerium für Sozialfürsorge in Prag. Das Unterkapitel „Die Konkurrenz um Ressourcen" fußt auf der Analyse von Bittschreiben, Resolutionen und Verlautbarungen der Kriegsgeschädigtenvereinigungen. Es zeigt, durch welche Vorstellungen die Kommunikation zwischen dem Ministerium für Sozialfürsorge und den Kriegsgeschädigten vorgezeichnet war. Die Kriegsgeschädigten erscheinen dabei einerseits als Staatsbürger, die ihre sozialen Rechte einklagten. Andererseits unterstrichen sie ihren Opferstatus, um an die Mildtätigkeit des Ministers und seiner Mitarbeiter zu appellieren. Diese Praxis erweist sich als eine Mischform von moderner Sozialstaatlichkeit und tradiertem Paternalismus, der das Verhalten beider Seiten entspricht. Der Streit um Ressourcen wird anhand der maßgeblichen Instrumente der Kriegsgeschädigtenpolitik nachgezeichnet, nämlich der Zuteilung von Kino- und Kiosklizenzen, der Anstellung im Staatsdienst sowie anderer Maßnahmen zur Erwerbsförderung. Auch hier spiegeln sich die Hierarchisierungsmuster der Opferkategorien wider. Das Kapitel „Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren" zeigt, wie diese Politik angesichts der Wirtschaftskrise partiell scheiterte. Die sozialen Versprechungen der Staatsgründungsrhetorik waren nicht mehr einlösbar. Die Kriegsgeschädigten definierten nunmehr ihren Status nur noch in Kategorien des sozialen Elends. Besonders unter den deutschen Kriegsgeschädigten machte sich angesichts von Massenarbeitslosigkeit und Massenelend Verbitterung breit, die sich zusehends in antitschechischen Äußerungen artikulierte. Auf tschechischer Seite kam es zu Solidaritätsbekundungen zwischen älteren Kriegsgeschädigten und der jüngeren Generation 1 0 8 sowie zwischen Kriegsgeschädigten- und Legionärsvereinigungen. Die Ausführungen zur tschechoslowakischen Sozial- und Kriegsopferpolitik füllen eine Forschungslücke. Vor diesem Hintergrund schien es angebracht, die Forschungsergebnisse mit bereits untersuchten nationalen Varianten der 108 Zur Generationalität vgl.: Ute Daniel, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien. Praxis, Schlüsselwörter. Frankfurt a.M. 2001, 331-333.

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Einleitung

Kriegsgeschädigtenpolitik zu vergleichen. Zu diesem Zweck wird im Anschluss an eine „Zwischenbilanz" ein „Internationaler Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Zwischenkriegszeit" vorgenommen. Dessen Zweck ist, die Konturen der tschechoslowakischen Variante klarer zu fassen und sie in den europäischen Rahmen einzuordnen. Das Kapitel „Nach dem Zweiten Weltkrieg" geht von der Ambivalenz zwischen der Idee staatsrechtlicher Kontinuität und der faktischen Wiedergründung des Staates aus. Mit dem Münchner Abkommen wurden Opferrepräsentationen virulent, die sich wesentlich von denen des Kriegsgeschädigtendiskurses unterschieden. Diese waren grundlegend für die Deutungen seit 1939 beziehungsweise 1945. Das Unterkapitel „Nach dem Krieg und vor dem Krieg: Kriegsdeutungen im Lichte des Münchner Abkommens und der Ereignisse während des Zweiten Weltkrieges" geht diesem Aspekt nach. Es befasst sich unter anderem mit der umstrittenen Beurteilung des Präsidenten Benes als Gewährsmann staatsrechtlicher Kontinuität. Davon ausgehend möchte das Kapitel zur zweiten Nachkriegszeit klären, wie sich die Deutungen der Weltkriege in den Konsolidierungsprozess einschrieben. Die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges brachten wesentliche Veränderungen der tschechoslowakischen Gesellschaft wie auch der Konzeption staatlicher Legitimität mit sich. Diese geben die Kulisse ab, vor der die Befreiung und Wiedererrichtung des tschechoslowakischen Staates proklamiert wurde. Im Gehäuse formal gleich bleibender Institutionen kam es zu Überschreibungen und Umdeutungen grundlegender Topoi. In diesem Zusammenhang befasst sich das Unterkapitel „Zweierlei Kontinuitäten: Bürger, Bevölkerung und Volk als Objekt der Politik der Exil- und der Protektoratsregierung" zunächst mit der im und nach dem Krieg grundlegenden Umdefinierung des Volksbegriffs. Dies wird vor der Folie der Vorkriegskonzeptionen in einem Unterkapitel anhand der Genese „Alter und neuer Opfer- und Heldenbilder" weiter verfolgt. „Antifaschistische" Helden und Opfer wie Partisanen und Widerstandskämpfer traten neben die Legionäre und Kriegsgeschädigten. In der Orientierung am kollektiv gefassten tschechoslowakischen Volk wurde die Sozialpolitik zu einem Feld gewaltiger Umverteilungen, die mit den nunmehr scharf umrissenen Ein- und Ausschlusskriterien korrespondierten. Vor dem Hintergrund scharfer Ausschlusskriterien wurde das Volk tendenziell in gleichem Maße zum kollektiven Kriegshelden wie zum kollektiven Kriegsopfer stilisiert. Die Verfassung vom 8. Mai 1948 wird als Ausdruck der endgültigen Abkehr von der Zwischenkriegspraxis untersucht. Die Ausführungen stellen die grundlegenden Verschiebungen in der Gewichtung ziviler, politischer und sozialer Rechte in der volksdemokratischen Tschechoslowakei vor. Vor diesem Hintergrund werden schließlich anhand der Zeitschrift des Verbandes der antifaschistischen Freiheitskämpfer elementare „Formen und Topoi des stalinistischen Helden- und Opferdiskurses" aufgezeigt.

1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen 1.1 Der Staat als Deutungsinstanz Der Hinweis auf eine mangelhafte Umsetzung des Minderheitenschutzes, eine zu stark auf den Gründungspräsidenten ausgerichtete Politik, die eine mangelnde Ausgestaltung der Demokratie darstelle, und auf andere Defizite der tschechoslowakischen Demokratie wird in der Forschung zur Zwischenkriegszeit häufig dafür benutzt, die Verhältnisse der Staatsgründung als solche in Frage zu stellen. Dies geschieht oft im Kontext einer Kritik an der Versailler Ordnung. 1 Auf der Basis der vorangestellten methodischen Überlegungen kehrt die vorliegende Arbeit diese Betrachtungsweise gewissermaßen um. Da die Tschechoslowakei ein Staat war, muss davon ausgegangen werden, dass in der Ausgestaltung der staatlichen Politik Machtinstrumente zum Tragen kamen. Das Einsetzen von Machtinstrumenten muss hierbei als Kennzeichen von Staatlichkeit angesehen werden. Denn Machtinstrumente dienen der Herstellung ordnungs- und sinnstiftender Hierarchisierungsmuster. Diese wiederum produzieren wesensgemäß Ein- und Ausschlussmechanismen, als deren Ausdruck auch der Status so genannter Minderheiten angesehen werden kann. Die Tschechoslowakei unterschied sich darin soziologisch oder nationalismustheoretisch gesehen nicht von anderen Nationalstaaten. 2 Die nun vorzunehmende Institutionenanalyse zielt vorrangig nicht auf die Entstehung des tschechoslowakischen Staates, sondern auf seine institutionelle Ausgestaltung. Die für seine Entstehung konstitutiven Legitimationsmuster interessieren nur, insofern sie Sinnstrukturen für die Ausgestaltung staatlicher Politik lieferten. Die tschechoslowakische Republik kann dabei nicht an einem abstrakten juristischen oder philosophischen Staatsbegriff gemessen, sondern muss mit Blick auf die Machtbildungsprozesse ihrer Organe als ein konkreter, historisch konstruierter Staat untersucht werden. 3 Die dabei vorgenommenen historiographischen Differenzierungen können nicht dazu dienen, mit dem Verweis auf brüchige Kontinuitätslinien oder im Vorgriff auf das spätere Auseinanderfallen des tschechischen und slowakischen Territoriums zu unterstellen, die tschechoslowakische Gründungsidee sei weniger gerechtfertigt als die anderer Nationalstaaten. Warum diese Feststellungen wichtig sind, werden die späteren Ausführungen insbesondere zum Münchner Abkommen zeigen. Der Fokus der Arbeit liegt nicht auf dem 1 Vgl.: Wolfgang Kessler, Die gescheiterte Integration. Die Minderheitenfrage in Ostmitteleuropa, 1919-1939, in: Hans Lemberg (Hrsg.), Ostmitteleuropa zwischen den beiden Weltkriegen (1918-1939). Stärke und Schwäche der neuen Staaten, nationale Minderheiten. Marburg 1997, 161-188, hier 187f. 2 Vgl.: Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat. 3 Wolfgang Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt. Eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1999, 16f.

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1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

nation-building (das hier als abgeschlossen betrachtet wird) 4 , sondern auf der Übernahme und Umformung einzelner staatlicher Institutionen. Das Problem staatlicher Machtausübung und moderner Hierarchisierungen scheint im tschechoslowakische Fall aus zwei Gründen besonders virulent: Das staatsbildende politische, soziale und juristische Denken in der Tschechoslowakei stand erstens in der Tradition der multiethnischen und absolutistischen Staatlichkeit der Habsburgermonarchie und eines von deutschen Philosophen dominierten Diskurses. Zweitens konnte die Staatsgründung nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie das in der Zeit der Aufklärung definierte und im Absolutismus ausgeprägte Modell moderner Staatlichkeit nicht kopieren. Es musste die tradierten Institutionen im Kontext des vorherrschenden staatsphilosophischen Diskurses in seine spezifische Ausprägung transformieren. Obwohl die gängigen staatstheoretischen Vorannahmen für die nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Nationalstaaten Ostmitteleuropas kaum gültig waren, fanden eben diese Vorannahmen nunmehr in den nationalen Diskursen ihren spezifischen Niederschlag. Die Rechtsinstitutionen standen paradoxerweise in der Tradition derjenigen Reiche, von denen sich die Protagonisten der Nationsgründung lossagen wollten. Jenseits der Wiederholung der Gründungsmythen gibt es bislang wenig Erklärungen darüber, wie im Prozess der Geburt von Nationalstaaten, die ja auch die Bildung von Staatsbürgergemeinschaften implizierte, eigentlich der Staat zu einem Bezugsrahmen der Bürger gemacht wurde. 5 Hinsichtlich des Staatsbürgerschaftsrechts konstatiert Gosewinkel, dass der Staat „vor allem der zentrale Ausdruck politischer Macht in nationalen Gesellschaften [ist] und [...] als ein Netzwerk von Machtbeziehungen zwischen verschiedenen Organisationen [erscheint], die in die Verbreitung, Interpretation, Anwendung und Durchsetzung des Rechts einbezogen sind".6 Hiermit ist der Blick auf den zentralen Zusammenhang von nationalstaatlicher Verfassung, Recht und Machtfunktionen gerichtet. Mit dem Augenmerk auf diesem Zusammenhang muss die Tschechoslowakei als Teil eines internationalen Diskurses betrachtet und die Spezifik ihrer etablierten nationalstaatlichen Institutionen untersucht werden. 4

Zum tschechischen bzw. tschechoslowakischen nation-building vgl.: Jan Galandauer, Vznik Ceskoslovenské republiky 1918. Programy, projekty, perspektivy. Prag 1988; Kalvoda, The Genesis; Jiri Koralka, Von der ständisch-territorialen Verfassung zur Nation: Tschechische Nationsbildung und nationale Identität im 19. Jahrhundert, in: Ulrike v. Hirschhausen/Jörn Leonhard (Hrsg.), Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich. Göttingen 2001, 306-321; Jan Kren, Die Tradition der tschechischen Demokratie, in: Manfred Hildermeier/Jürgen Kocka/Christoph Conrad (Hrsg.), Europäische Zivilgesellschaft in Ost und West. Begriff, Geschichte, Chancen. Frankfurt a.M./New York 2000, 179-201. 5 Claudia Kraft betont für den polnischen Fall die zentrale Rolle des Rechts als Sinngebungs- und Integrationsinstanz, vgl.: Dies., Europa im Blick polnischer Juristen. Rechtsordnung und juristische Profession in Polen im Spannungsfeld zwischen Nation und Europa, 1918-1939. Frankfurt a.M. 2002, 3, 7. 6 Gosewinkel, Staatsbürgerschaft, 537.

1.2 Weltkrieg und nationalstaatliche Konsolidierung

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1.2 Weltkrieg und nationalstaatliche Konsolidierung Die meisten Tschechen reagierten auf die Generalmobilmachung in der Habsburgermonarchie mit gedämpftem Reichspatriotismus. Die Männer wurden von Kaiser Franz Josef an die Waffen gerufen und folgten in der großen Mehrheit. 7 Mehr noch als die Tschechen galten die Slowaken als loyal. Erst in den letzten Kriegsmonaten wuchs unter ihnen die Neigung zu Revolten, Desertion und sozialen Unruhen. 8 Tschechen und Slowaken kämpften bis ans Ende des Krieges in der österreichischen und ungarischen Armee. Über 1400000 Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee sollen tschechischer oder slowakischer Nationalität gewesen sein. Mehrere hunderttausend Angehörige dieser Armee waren Deutsche aus den böhmischen Ländern. 9 Im russischen Zarenreich aber hatte eine kleine Gruppe von Exiltschechen 1914 eine Druzina (Gefolgschaft) aufgestellt, die an der Seite der russischen Armee gegen Österreich-Ungarn kämpfte. Die Zahl der Tschechen und Slowaken in der Druzina beziehungsweise in der aus ihr hervorgehenden tschechoslowakischen Legion in Russland wuchs durch Desertion und Gefangenenanwerbung. Die bislang verbindliche und auch in tschechischen Publikationen zitierte Studie von Gerburg Thunig-Nittner „Die tschechoslowakische Legion in Rußland" nennt für die „russische" Legion folgende Zahlen: Sie wuchsen von 1673 Mann Ende 1915 auf 35 000 im Oktober 1917 und 60000 nach dem August 1918. Angeblich wechselten auch ganze Regimenter von der einen auf die andere Seite der Front. Die tschechoslowakische Legion in Russland setzte sich zu 80 Prozent aus Tschechen und zu 7 Prozent aus Slowaken zusammen (der Rest gehörte anderen Nationalitäten an). 10 Eine kleinere Zahl tschechoslowakischer Legionäre kämpfte auch auf italienischer und französischer Seite." Deren Anzahl stieg insbesondere am Ende des Krieges. Unter anderem aufgrund unterschiedlicher Zählweisen gibt es nach wie vor keine verbindlichen Angaben darüber, wie viele ehemalige Legionäre es in der Republik tatsächlich gab. Ohne die Mitglieder der erst nach der Staatsgründung in Italien ausgehobenen domobrana (Heimatwehr) kann ihre Zahl auf ca. 100000 geschätzt werden. 12 Sowohl zahlenmäßig als auch symbolpolitisch waren die in Russland aufgestellten Legionärsregimenter am wichtigsten. Ihre Abenteuer wurden legendär. 7

Sedivy, Cesi, 34f. Dusan Kovác, Prvá svetová vojna ν slovenskych dejinách a ν slovenskej historiografii, in: Ders./Milan Podrimavsky (Hrsg.), Slovensko na zaciatku 20. storocia (Spolocnost', stát a národ ν súradniciach doby). Bratislava 1999, 2 6 9 - 2 7 7 , hier 272. 9 Martin Zuckert, Memory of War and National State Integration: Czech and German Veterans in Czechoslovakia after 1918, in: Central Europe 4, 2006, H.4, 111-121, hier 111. 10 Gerburg Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion in Rußland. Ihre Geschichte und Bedeutung bei der Entstehung der 1. Tschechoslowakischen Republik. Wiesbaden 1970, 14 -17, 30, 4 2 - 44, 90. 11 Karel Pichlik/Bohumir Klipa/Jitka Zablouditovä, Ceskoslovensti legionàri (1914 — 1920). Prag 1996, 160-192. 12 Zuckert, Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität, 84f. 8

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1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

Während die Taten der tschechoslowakischen Legionäre national überhöht wurden, ist über die Teilhabe von Tschechen und Slowaken an den habsburgerischen Verbänden wenig bekannt. Ihre Kriegserfahrungen fanden in der Nationalhistoriographie keine Würdigung. Die Mehrzahl derjenigen Kriegsteilnehmer, die später tschechoslowakische Staatsbürger wurden, war damit nicht Gegenstand der den Nationalstaat konstituierenden Mythen. Vor diesem Hintergrund bildet der Erste Weltkrieg in der Auffassung der tschechischen und von dieser abhängigen slowakischen Historiographie in den Worten Sedivys die „entfernte Kulisse" für die nationale Befreiung (národní osvobození).u Diese galt auch für die spätere Deutung des Kriegshergangs als Auslandsrevolution (zahranicni revoluce), die sich wesentlich auf zwei Pfeiler stützte, nämlich - die diplomatischen Bemühungen Tomás G. Masaryks und Edvard Beness sowie des 1919 bei einem Flugunfall zu Tode gekommenen Slowaken Milan Stefánik (geboren 1880)14 um die Errichtung eines tschechoslowakischen Staates bei Reisen in den USA, in Russland und im französischen Exil, sowie - den heroisierten Kampf tschechoslowakischer Legionäre in den russischen, französischen und italienischen Armeen. 15 Deren Auslandsrevolution habe auf die Errichtung eines tschechoslowakischen Nationalstaates gezielt, dessen Legitimität vor allem ideell begründet wurde. Die Tschechoslowaken hätten - den gängigen Topoi gemäß - unter der Unrechtsherrschaft der Österreicher und Ungarn einen besonderen moralischen Charakter entwickelt, der sie zur demokratischen Vorhut der slawischen Völker machte. Das von der tschechischen Nationalbewegung im 19. und frühen 20. Jahrhundert ins Feld geführte historische Staatsrecht der böhmischen Krone wurde somit um eine gegen die habsburgerische Tradition gerichtete moralische Komponente und territorial um die Slowakei sowie hinsichtlich der Bevölkerung um die Slowaken und die slowakischen Ungarn erweitert. In der Befreiung aus der österreichisch-ungarischen Unterdrückung wurden Tschechen und Slowaken zu slawischen Brudervölkern, die sich in einem revolutionären Akt aus dem absolutistischen Großreich herauslösten, um einen modernen demokratischen Staat zu errichten. 16 Den Slowaken eröffnete dies die Möglichkeit, am tschechischen Mythos zu partizipieren. Die Durchsetzung der tschechoslowakischen Mission gab in dieser Auslegung letztlich dem tsche13 Sedivy, Velká válka 1914-1918, 2; zur tschechischen Geschichte des Ersten Weltkrieges: Ders., Cesi; fur die Slowakei stellt sich vor allem die Frage, inwieweit die dortige Bevölkerung die Umwälzung mittrug; Kovác, Prvá svetová vojna, 276. 14 Stefánik, Milan Rastislav, in: Slovensky biograficky slovnik (od roku 833 od roku 1990), Bd. 5. Martin 1992, 510-512; Peter Macho, Milan Rastislav Stefánik - bohatier a muceník?, in: Eva Krekovicová/Eduard Krekovic/Elena Mannová (Hrsg.), Myty nase slovenské. Bratislava 2005, 163-173. 15 Thunig-Nitlner, Die tschechoslowakische Legion, 14-17, 30, 4 2 - 4 4 . 16 T[omàs] G. Masaryk, Das neue Europa. Der slavische Standpunkt. Berlin 1922,90-112.

1.2 Weltkrieg und nationalstaatliche Konsolidierung

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choslowakischen Staat und dem Ersten Weltkrieg einen nationalen Sinn. Je näher die Möglichkeit eines eigenen Nationalstaates rückte, desto deutlicher artikulierte sich die Feindschaft zum Habsburgerreich. Der nationale Abtrennungsprozess bekam eine gleichermaßen antiösterreichische wie auf slowakischer Seite eine antiungarische Komponente. Komplementär zu dieser Feindschaft gegen Österreich-Ungarn konstruierte die Auslandsregierung die Figur des „Tschechoslowaken", und zwar deutlich verstärkt ab 1917.17 Verschiedene Faktoren trugen in den Jahren 1917/18 dazu bei, dass die Verwirklichung einer tschechoslowakischen Staatsidee immer wahrscheinlicher wurde. 1 8 So hatten Wilsons 14-Punkte-Erklärung und die russische Februarrevolution zu einer für die Tschechen und Slowaken günstigen außenpolitischen Konstellation geführt. Der amerikanische Präsident Woodrow Wilson hatte am 8. Januar 1918 die Zerschlagung der Habsburgermonarchie und die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Völker zu amerikanischen Kriegszielen erklärt. 19 Die Russische Revolution schwächte die Mittelmächte und stärkte die westlich orientierten tschechoslowakischen Politiker, die bei den Westmächten um eine Anerkennung ihrer nationalen Ansprüche warben. Eine hohe symbolische Bedeutung kam dabei auch der Schlacht bei Zborov (Zborów in Galizien) zu, bei der am 2. Juli 1917 die habsburgischen Verbände unter Mitwirkung der tschechoslowakischen Legionäre geschlagen wurden. 2 0 Die Schlacht hatte für die „Tschechoslowaken" damit den Charakter einer Feuerprobe und ihr Datum wurde fortan als Gedenktag der tschechoslowakischen Legion gefeiert. 21 Die Legion wurde noch vor der Proklamation der staatlichen Unabhängigkeit von den Westmächten als tschechoslowakische Armee anerkannt. 2 2 In den Legionären erhielt die entstehende Republik jene Helden, deren Vorbild konstitutiv werden sollte. 23 Erst die Bindung der Legion an die Auslandsregierung ermöglichte diese Konzeption. Beide Seiten - so17 Jan Galandauer, Die Slowaken in den tschechischen politischen Programmen. Zum historischen Hintergrund der Erklärung des Tschechischen Verbandes [Cesky svaz] vom 30. Mai 1917 im österreichischen Reichsrat, in: Österreichische Osthefte 36, 1994, H . 4 , 727-740. 18 Jan Galandauer, Ceskoslovenské legie a jejich komemorace, in: Gebhart/Sedivy (Hrsg.), Ceská spolecnost, 2 9 3 - 3 1 2 : Natali Stegmann, Soldaten und Bürger. Selbstbilder tschechoslowakischer Legionäre in der Ersten Republik, in: MGZ 61, 2002. H. 1, 25-48. 19 Haiina Parafinowicz, Mit amerykanski i amerikanizacja Czechoslowacji po 1 wojnie swiatowej, in: Dzieje Najnowsze 32, 2000, 1 9 - 3 3 ; Dies., Restoration of Poland and Czechoslovakia in Woodrow Wilson's Policy: The Myth and the Reality, in: D. Rossini (Hrsg.), From Theodore Roosevelt to EDR: Internationalism and Isolationism in American Foreign Policy. Keele 1995, 5 5 - 6 7 . 20 Jan Galandauer, 2.1. 1917 Bitva u Zborova. Ceská legenda. Prag 2002; Ders./Petr Hofman/Ivan Sedivv (Hrsg.), Zborov 1917-1997. Prag 1997; Jiri Fidler, Zborov 1917, Maly encyklopedicicy slovnik. Brno 2003. 21 Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, 28. 22 Ebd., 72; Karl Bosl (Hrsg.), Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 3. Stuttgart 1968, 355. 23 Ivan Sedivv, Zed' mezi odbojem; Kostrba-Skalicky, Bewaffnete Ohnmacht.

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1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

wohl Masaryk und Benes als auch viele in der Ersten Republik exponierte Legionäre - schufen in zahlreichen Schriften ein Bild des Legionärs als Prototyp eines Tschechoslowaken. Neben der Verklärung der militärischen Taten der Legionäre im Kontext des Zborov-Mythos spielte ein zweites Ereignis eine wichtige Rolle für die symbolpolitische Verbindung von diplomatischen und militärischen Bemühungen in der Auslandsrevolution als einer aus dem Exil gesteuerten staatlichen Umwälzung. Masaryk war nämlich nach der Februarrevolution nach Russland gereist, um mit der provisorischen Regierung über eine Verlegung der Legion an die Westfront zu verhandeln. Bei dieser Reise stattete er den Legionären einen Besuch ab. Dieses Ereignis wurde vielfach mit einer aus dem familiären Kontext entliehenen Bildsprache illustriert und begründete als solche eine symbolische Vorwegnahme der Bindung des späteren Präsidenten an „seine" Armee. Masaryk galt seither den Legionären als „Väterchen" (taticek). Die Legionäre nannte er „seine Jungs". 24 Für die in Russland weilenden Legionäre wurde Mitte 1917 ein Abzug über Sibirien geplant, der sich jedoch infolge der bolschewistischen Machtübernahme erheblich verzögerte. Viele Legionäre kamen erst Monate und Jahre nach dem Ende des Krieges aus Sibirien in der Tschechoslowakei an. Mit der Staatsgründung musste eine Verbindung von Auslandsrevolution und Heimat hergestellt werden. 2 5 Die Bevölkerung war im Krieg verelendet und mehrheitlich nicht mit den Vorbereitungen zur Errichtung des Staates befasst. In den böhmischen Ländern und der Slowakei beteiligten sich zahlreiche Menschen im Zuge der allgemeinen Umsturzstimmung in der Habsburgermonarchie an Streiks und Hungerrevolten. 2 6 Die Habsburgerherrschaft und der Krieg hinterließen viele Bewohner der entstehenden Tschechoslowakei in bitterer sozialer Not. 2 7 Vor diesem Hintergrund schrieb Premysl Sámal, ein Masaryk-Vertrauter und Führer der radikal gegen die österreichische Herrschaft agierenden Realistenpartei, am 11. Oktober 1918 aus Prag bezüglich der Modalitäten des geplanten Machtwechsels an Benes: „Wir können nicht einmal an eine Revolution denken; sie würde wahrscheinlich infolge der allgemeinen Not bald bolschewistische Züge annehmen." 2 8 Noch bevor die Republik in Prag und Bratislava am 28. und 30. Oktober 1918 ausgerufen wurde, trafen die Köpfe der Auslandsregierung in Genf mit Vertretern der so 24

Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, 150; vgl. auch: Karel Capek, Gespräche mit Masaryk, München 2001, 249. 25 Jan Gebhart/Ivan Sedivy, Uvod/Introduction, in: Dies. (Hrsg.), Ceská spolecnost, 9 - 1 3 . hier 9; Milos Havelka, Ceské mysleni, 16-21. 26 Peter Heumos, „Kartoffeln her oder es gibt eine Revolution" - Hungerkrawalle, Streiks und Massenproteste in den böhmischen Ländern 1914-1918, in: Sozialgeschichte und soziale Bewegungen in der Historiographie der Tschechischen und Slowakischen Republik. (Mitteilungsblatt des Instituts für soziale Bewegungen, Bd. 23.) Bochum 2000,148-176. 27 Zdenëk Kárník, Ceské zemë ν ère První republiky (1918-1938), Bd. 1: Vznik, budování a zlatá léta republiky (1918-1929). Prag 2003, 4 9 - 6 0 . 28 Ebd., 231; zu Sámal und Maffia: 93.

1.3 D i e staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei

45

genannten Maffia zusammen, die in der Heimat im Untergrund gegen die Abhängigkeit vom österreichischen Staat gekämpft hatten, um mit ihnen die Gründung des neuen Staates abzusprechen. 2 9 Nach der Ausrufung der Republik durch den Prager Nationalrat bildeten Vertreter desselben sowie der Maffia und der Auslandsregierung die tschechoslowakische Regierung und besetzten die Spitzen der alten habsburgischen Institutionen. Dabei stützten sie sich auf die alten Gesetze und neue Legitimationen. Dieser Prozess wird im nächsten Kapitel am Beispiel des Ministeriums für Sozialfürsorge dargelegt.

1.3 Die staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei 1.3.1

Revolution

„Der selbständige tschechoslowakische Staat trat [durch die am 28. Oktober 1918 vollbrachte revolutionäre Tat] ins Leben." 3 0 Diese Formulierung benutzte 1922 eine juristische Fachzeitschrift in dem Bemühen, die Erlangung staatlicher Souveränität zurückzudatieren: Mit dem Satz „Der selbständige tschechoslowakische Staat ist ins Leben getreten" (beziehungsweise „trat ins Leben") zitierte sie die Formulierung der politischen Unabhängigkeitsproklamation vom 28. Oktober 1918 selbst. 31 Dieser Satz bekam den Charakter einer ständig wiederholten Gründungsformel. 3 2 Zweierlei scheint hier bemerkenswert. Erstens kommt in der Wahl dieses Tages zum Geburtsdatum der Republik eine Symbolpolitik zum Ausdruck, die das Bemühen der Auslandspolitiker um die Errichtung der Tschechoslowakei an die politischen Ereignisse auf dem (späteren) tschechoslowakischen Territorium koppeln wollte. 33 Zweitens sticht hervor, dass die Manifestation staatlicher Unabhängigkeit als Revolution definiert und in dieser semantischen Figur an die Auslandsaktion angebunden wurde. Staatstragende und Rechtsgelehrte führten den Revolutionsbegriff als eine Integrationsmetapher ein, die das unterschiedliche Erleben der Kriegszeit im Exil und in der Heimat einem stringenten Deutungsmuster und Erzählmodus einverleiben sollten. Der auf diese Weise etablierte Revolutionsbegriff richtete sich klar gegen den vormaligen österreichischen Staat, dessen Macht demnach auf dem tschechoslowakischen Territorium durch den politischen Umsturz zu Fall gebracht wurde:

29

Zbynëk Zeman, Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches, 1914-1918. München 1963, 2 3 0 - 2 4 0 . Právník 61, 1922, 173. 31 Vgl.: Právník 68, 1929, 355. 32 Vgl.: Frantiseli Weyr, Stát, in: Slovník verejného práva é e s k o s l o v e n s k é h o . Bd. 4. Brno 1938, 6 1 2 - 6 2 4 , hier 6 2 0 - 6 2 2 . 33 Právník 68, 1929, 353.

46

1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

Der tschechoslowakische Staat entstand als eine unmittelbare Folge der Revolution, die vom Ausland aus ihren Weg nahm; Vertreter des tschechoslowakischen Volkes formierten ihre von den Vertretern der sie beherbergenden Staaten anerkannte Regierung schon im Ausland. Aber erst später haben die inländischen nationalen Vertreter in der Heimat die Regierung des tschechoslowakischen Volkes proklamiert, und das erst dann, als der frühere, also der österreichisch-ungarische Staat zu existieren aufhörte. 34

Während die „Heimat" dieser juristisch festgeschriebenen Deutung gemäß noch unter anachronistischer und feindlicher Herrschaft stand, waren die Regierungsvertreter in den verbündeten ausländischen Staaten bereits unabhängig. Die eigentliche Revolution aber war das Ende der österreichischen und ungarischen Herrschaft über die tschechoslowakischen Gebiete und somit das Kriegsende, das den Raum für neue (nationale und demokratische) Herrschaftsformen frei machte. Im Slovnik verejného pròva ceskoslovenského (Wörterbuch des tschechoslowakischen öffentlichen Rechts) wurde 1934 der Konnex zwischen dem endenden Krieg und der vollzogenen Revolution zum Ausdruck gebracht. Ohne den Versuch, die tschechoslowakische Revolution zu heroisieren, heißt es dort: Sicher ist, dass dies [die Umwälzung vom 28. Oktober] nicht eine Massenaktion des Volkes war, die den Kampf gegen die bisherige Staatsmacht geführt und diese niedergekämpft hätte. Der Machtapparat des alten Staates war im gegebenen Fall von außen durch den Krieg niedergekämpft [...]. [ . . . ] hier [waren] sozial-psychologisch alle Zeichen einer Revolution gegeben: der elementare Widerstand, der Bruch mit der staatlichen Autorität, die revolutionäre Ideologie. 35

Demgegenüber versuchten Regierungsvertreter das „Volk" zum Handlungsträger der Revolution zu stilisieren. Das Ende der „Fremdherrschaft" stellten sie im Kontext des Krieges als Resultat eines Kampfes oder wenigstens einer Tat des Volkes dar, denn dies verlieh der neuen Macht ihre demokratische Legitimation: „Die Kraft unseres Oktoberumsturzes lag darin, [...] dass es nicht nur um eine revolutionäre Liquidation des Krieges ging [...]. Es ging um eine neue, demokratische Verfassung der konstitutionellen und nationalen Politik." 36 So brachte es die dem Regierungslager nahestehende Zeitschrift Nase doba im Oktober 1922 auf den Punkt. Die vom Volk getragene Inlandsrevolution machte demnach den Umsturz demokratisch. Daher hatte insbesondere Masaryk als Vertreter der Auslandsregierung und von den heimischen Protagonisten der „Revolution" anerkannter Kopf der neuen Regierung ein vitales Interesse an der Verschmelzung von In- und Auslandsrevolution im nationalen Narrativ, dem er seine Deutung und damit die Bedeutung seiner Person für den Staatsgründungsprozess in zahlreichen Veröffentlichungen einschrieb. Faktisch kam es jedoch im Kontext der Legionärstradition zu einer

Ebd., 358. Zdenëk Neubauer, Revoluce, in: Slovnik verejného prava ceskoslovenského, Bd. 3. Brno 1934, 805-811, hier 810. 36 Nase doba 30, 1922/23, 1. 35

1.3 D i e staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei

47

semantischen Trennung zwischen dem zu befreienden Volk und den Auslandsrevolutionären, die sich zu Vorkämpfern der Republik stilisierten. 37

1.3.2

Staatsbegriff

Der tschechoslowakische Staatsbegriff wurde in Anlehnung an die revolutionäre Rhetorik der Staatsgründung wesentlich von tschechischen Rechtsgelehrten geprägt. Die in der Habsburgermonarchie ausgebildeten Juristen bezogen sich dabei auf die österreichische Tradition als Negativfolie. Ihre den Staatsbegriff konstituierenden Abgrenzungsstrategien verbanden drei Komponenten miteinander: eine territoriale, eine staatsbürgerliche und eine ideelle. Die territoriale Loslösung aus der Doppelmonarchie implizierte eine institutionelle Ausgestaltung des neu geschaffenen Staatskörpers. Dabei wurden die auf dem Territorium des neuen Staates lebenden Menschen als dessen Bürger definiert. Die Staatsgründung war von der ideell überhöhten demokratischen Staatsform nicht zu trennen, denn die demokratische Verfasstheit der jungen Republik bildete die legitimatorische Grundlage fur die territoriale Neuordnung. Der Bürger als Träger des demokratischen Staates trat in den juristischen Texten als eine abstrakte Figur auf. Die staatsrechtliche Sprache kannte ihn nur als unablösbaren Teil eines ideellen Staatsvolkes. Die Juristen koppelten dabei universelle (staats)bürgerliche Ideen an etwas spezifisch Tschechisches. Dieses Tschechische begründete die Abkehr vom Österreichischen. Es war der Spross der neuen Zeit, kam doch die Revolution in der Gründungsrhetorik einer Geburt des Staates gleich. Der Begriff der Geburt metaphorisierte den Prozess der Trennung in einem produktiven und emotionalen Bild. Den staatlichen Neubeginn stellte ein Artikel im Právník 1919 unter dem Titel „An der Schwelle zu einer neuen Zeit" folgendermaßen dar: Die Zeit selbst (konkret „das gerade vergangene Jahr") wurde als Akteur eingeführt. Sie habe nämlich „die lang ersehnte Freiheit und die staatliche Unabhängigkeit gebracht". 38 „Freiheit" und „Unabhängigkeit" stehen in dieser Formulierung gleichwertig nebeneinander. Sie enthalten einander. Während die Freiheit „lang ersehnt" war und somit auf die Vergangenheit weist, scheint die als „staatlich" beschriebene Unabhängigkeit manifest und aktuell. Die Zeit band also die Vergangenheit an den Staat. Durch die Neugründung wurde der Staat jedoch erst zu einer Verkörperung seiner Bürger, durch sie wurde er tschechisch oder tschechoslowakisch. Im Sinne des noch zu erläuternden Tschechoslowakismus waren diese Adjektive aus tschechischer Sicht austauschbar. Die Existenz des Staates selbst wurde zu einer antiabsolutistischen, fortschrittlichen Äußerung der Geschichte. 39 37

Zur „Diskussion über die inländische und ausländische Revolution" vgl. auch: N a s e doba 32, 1924/25, 1 - 3 . 38 Právník 58, 1919, 1. 39 N a s e doba 29, 1921/22, 4 9 4 f . ; 30, 1922/23, 321.

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1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

Die Bürger definierte ein Autor des Právník als den Staat konstituierende Glieder eines ideellen „Ganzen". So stellte er auch die Juristen als Bürger und Glieder einer Einheit dar. Diese würden nämlich - und hier agieren sie exemplarisch - „all [...] [ihr] Streben und all [ihre] Schritte vor allem in Hinsicht auf das allgemeine Wohl" unternehmen, zum Vorteil „unseres Staates als einem Ganzen"w. Diese geradezu klassische Figur der Staatsrechtslehre41 wird sodann mit einem Ausruf in der Zeit-Raum-Dimension verortet: „ - ja, der Staat sind heute wirklich alle zusammen [geworden], sein Vorteil ist also wirklich auch unser Vorteil."42 Die neue Qualität des Staates lag offenbar darin begründet, dass er demokratisch und tschechisch war. Als dessen Grundlage beschreibt der Text „Gerechtigkeit, Liebe zum Volk und die Unterdrückung egoistischer Bestrebungen und Instinkte".43 Da die Juristen also einerseits ohnehin in das „Ganze" eingebunden waren und andererseits der Staat auf ihre professionelle Berufung (zur Herstellung von Gerechtigkeit) gründete, sollten die Juristen ihm aus ideellen Erwägungen dienen. Während sie früher in „fremden Diensten" gestanden hätten, seien sie nunmehr aufgerufen, in der Ausgestaltung des neuen Staatsrechts der Gesetzgebung „ihren authentischen tschechischen Text" zu geben (gemeint war unter anderem die Übersetzung weiterhin geltender deutschsprachig verfasster Rechtsnormen) und somit die „tschechischen Gesetze" zum Ausdruck „tschechischen Geistes" zu machen. 44 In dieser Konzeption bindet das Recht selbst den Bürger an den Staat. Die Juristen erscheinen als dessen Erfüllungsgehilfen. Erst die Verbindung von ideell gesetztem Recht und dessen tschechischer Setzung verzahnte Bürger, Staat und Recht zu einem raumgreifend alle Bürger umfassenden Ganzen. Eine andere juristische Definition von 1919 beschreibt das Ziel des (als Rechtsperson aus einem Rechtsakt hervorgegangenen) Staates als ein nicht in erster Linie wirtschaftliches, sondern als ein öffentlich-rechtliches. Wirtschaftliche Ziele waren demnach nur „Mittel" zur Durchsetzung der politisch-kulturellen Ziele und bedurften keiner staatlichen Sanktion. 45 Dieses demokratisch gefasste öffentlich-rechtliche Staatsziel begreift den Staat als eine Instanz, die den Bürgern nicht übergeordnet ist, sondern sie als Gemeinschaft verkörpert. Die politisch-kulturellen Ziele werden demnach durch das Handeln der Bürger geschaffen, die im Staat ihren „natürlichen" Handlungsraum finden. Die Bürger sind ohne diesen demokratischen Staat nicht denkbar und aus diesem Grunde per definitionem zu dessen Erhalt verpflichtet. Ähnlich äußert ein 40

Právník 58,1919,1 (Hervorhebungen im Original). Das „allgemeine Wohl" hat der Staatsrechtsgelehrte Johann Heinrich Gottlob von Justi bereits Mitte des 18. Jahrhunderts als Staatsziel definiert, vgl.: Foucault, Technologies, 158-161; Staat und Souveränität, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, 21 f. 42 Právník 58, 1919, 1. 43 Ebd. 44 Ebd., 6. « Ebd., 145. 41

1.3 Die staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei

49

Artikel in der Zeitschrift Péce o mládez, der Staat sei „nur eine Form der Organisation seiner Bürger und [müsse] seine Aufgaben nur dort und so erfüllen, dass jeder Bürger von der Überzeugung durchdrungen [sei], dass er nicht nur für sich lebt, sondern für das Ganze verantwortlich ist, so dass er gemäß seinen Kräften fur eine Verbesserung der Lebensbedingungen dieses Ganzen arbeiten werde". 46 Hier scheint eine Staatsvorstellung tradiert, die ein Ausscheren einzelner Gruppen von Bürgern aus dem Staat nur als einen Angriff auf den Staat auffassen kann, da die Bürger per definitionem den Staat verkörperte. Das Ausschlagen des zunächst umfassend definierten Einschlussangebots (im Rahmen territorialer Umfassung) stellt daher offenbar aus der Sicht tschechischer Rechtsgelehrter für die nationalen Minderheiten keine Option dar.47 Das Einschlussangebot trägt hier den Charakter einer Einfassung, die sowohl räumlich-territorial als auch staatsbürgerrechtlich aufzufassen ist. Der Einschluss einzelner Gebiete in das Staatsterritorium zieht den Einschluss der in ihnen lebenden Menschen in die Menge der Bürger nach sich. Vor dem Hintergrund der multiethnischen Bevölkerung der Tschechoslowakei kann eine solche Auffassung in ihrer Undifferenziertheit borniert erscheinen. Sie steht jedoch ungebrochen in der Tradition humanistischen Staatsdenkens. Im Prozess der Staatsgründung schien die Existenz von nationalen Minderheiten nicht konstitutiv für die Formulierung des Staats(bürger)begriffes (sondern nur für die Formulierung eines davon getrennten Minderheitenschutzes). Zehn Jahre später wurde der Staat auch im Falle von Konflikten mit Vertretern der Minderheiten als Träger eigener Interessen definiert. Die Existenz von Minderheiten wollten die Rechtsinstanzen nun nicht als staatsrechtlich entlegitimierend anerkennen. 48 Dies geschah bereits in Reaktion auf konkrete Auseinandersetzungen. Die an die Gründungsmythen der Auslandsrevolution gebundene Staatskonzeption vermochte in zahlreichen Konfliktfallen offenbar auch die zuständigen Vertreter beim Völkerbund soweit zu überzeugen, dass die Beschwerden der Minderheiten nicht in völkerrechtlich begründete Verfahren mündeten. 49 Das Charakteristikum der tschechoslowakischen Staatsgründung lag darin, dass der Staat durch Abtrennung vom österreichisch-ungarischen Staatsgebiet errichtet wurde, während er gleichzeitig um eine demokratische Komponente ergänzt und mit dem Demokratiebegriff gekoppelt wurde, der die spezifische tschechoslowakische Staatsgründung legitimierte. Im Abtrennungsprozess wurde dabei ein neues Ganzes geschaffen, dessen Begründungsmuster einen neuen Herrschaftsanspruch zum Ausdruck brachten, der in seiner Substanz nicht nur als besser, sondern auch als wesentlich anders als der alte definiert 46

Péce o mládez 3, 1924, 2. Vgl. auch: Právník 58, 1919, 1 - 6 . « Právník 68, 1929, 662. 49 Martin Scheuermann, Minderheitenschutzverfahren contra Konfliktverhütung? Die Minderheitenpolitik des Völkerbundes in den zwanziger Jahren. Marburg 2000. 149-195. 47

50

1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

wurde. Besser schien er, weil er tschechisch oder tschechoslowakisch und weil er in diesem Sinne national und demokratisch war. Der Umfassungsanspruch den Bürgern gegenüber war für diesen Staatsbegriff konstitutiv und somit war er selbstredend auch ein Herrschaftsanspruch gegenüber den nationalen Minderheiten, die dazu aufgerufen waren, das tschechoslowakische Ganze mit zu konstituieren.

1.3.3 28.

Oktober

Die Auslandsrevolution musste legitimationspolitisch mit den Kriegserfahrungen in der Heimat zur Deckung gebracht werden. Diese Schwierigkeit spiegelte sich auch im Bemühen von Staatswissenschaftlern, die Entstehung des neuen Staates auf einen bestimmten Tag festzulegen, sowie im späteren Konflikt um die erfolgte Festlegung des Staatsgründungstages. Den Alliierten war am 14. Oktober 1918 die Einsetzung einer vorläufigen Regierung in Paris mitgeteilt worden. In der Washingtoner Deklaration erklärte diese die Unabhängigkeit des tschechoslowakischen Volkes und die Grundsätze der Tschechoslowakischen Republik am 18. Oktober. 5 0 In Prag erklärte sich am 28. Oktober der Nationalausschuss zur Regierung. Letzteres Datum gilt seitdem als Tag der Staatsgründung. Das symbolpolitisch hochbrisante Thema sprach auch der Gründungspräsident Masaryk in seinem Buch „Die Weltrevolution" an. Dieses Werk stellt die staatspolitischen Umwälzungen am Ende des Ersten Weltkrieges in einer teleologischen Weise dar, die Masaryk selbst in der Rolle eines Begründers dieser umstürzenden Neuordnung zeigt. Der Gründungspräsident bemerkt, dass „wir zwei Aktionszentren hatten" 51 , wobei das Subjekt „wir" eine Bezeichnung des erst entstehenden Staates durch eine unkonkrete Identifikationsfigur ersetzt. Denn „wir" könnte sowohl die Träger der Auslandsrevolution meinen (was im übertragenen Sinne bedeuten würde, Masaryk hätte, nachdem auch die Inlandsregierung ihn als Präsidenten anerkannt hatte, zwei Regierungen gehabt) als auch die Tschechen oder die Tschechoslowaken. Eine Differenzierung der überaus komplexen politischen Lage erscheint in diesem Text unnötig, da der tschechoslowakische Staat zum Zeitpunkt der Veröffentlichung eine manifeste institutionalisierte Verkörperung erfahren hatte. Masaryk hob hervor, dass die Einmütigkeit zwischen Auslandsund Inlandsregierung für diese Entwicklung wichtig war, bemüht also ein harmonisierendes Bild. Die „heimische Regierung" an der „Spitze der Verwaltung" und die „Regierung draußen [ . . . ] speziell für die Friedensver-

50

Declaration of the Independence of the Czechoslovak Nation by its Provisional Government, in: Ústav mezinárodních vztahû (Hrsg.), Vznik Ceskoslovenska 1918. Dokumenty ceskoslovenské zahranicní politiky. Prag 1994, 317-320. 51 Tfomás] G. Masaryk, Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914-1918. Berlin 1925, 402.

1.3 Die staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei

51

handlungen bestimmt" hätten sich sodann „vereinen müssen". 52 Die Selbststilisierung zum Begründer der Republik wird schließlich autoritär untermauert, wenn Masaryk über den Nationalfeiertag „entscheidet": Ich entscheide mich für das Datum des 28. Oktober aus den beiden [ . . . ] Gründen: dass nämlich der Umsturz v o m 28. Oktober der ganzen Nation als Beginn unserer Selbständigkeit gilt und dass an d i e s e m Tag die Proklamation der Unabhängigkeit durch den Nationalausschuss auf e i g e n e m Territorium erfolgt ist. 5 3

Auch wenn Masaryk sich in der Frage der Festlegung des Feiertages als legitimer Entscheidungsträger vorstellte, blieb seine Auslegung nicht unwidersprochen. Die Diskussion darüber, ob das gewählte Datum tatsächlich zur Feier der Errichtung des tschechoslowakischen Staates tauge, wurde offen gefuhrt und kreiste um die Frage, wer die Republik erstritten und wer in ihrem Dienst die größten Opfer gebracht habe. Darin kam auch ein symbolpolitischer Streit über den Konnex von Kriegsbeteiligung und Staatsgründung sowie um die unterschiedlich erfolgte Inbesitznahme des Staates durch seine Bürger zum Ausdruck. Schließlich ging es um die Frage, wie der Staat das Gedenken an die Kriegsteilhabe seiner Bürger institutionalisierte, und darum, was den Gegenstand der öffentlichen Erinnerung bilden sollte. Die staatsrechtliche Auslegung oblag den Juristen. Das Thema war aber auch Gegenstand eines nationalpolitischen Diskurses, an dem Legionärs- und Kriegsgeschädigtenverbände ihren Anteil hatten. Im Právník wurde die „Befreiung" 1918 euphorisch begrüßt und zugleich eine für die berufliche Praxis bedeutungsvolle Einschließung der Juristen in den Prozess dieser Befreiung formuliert. Die Freude „aller Seelen des tschechoslowakischen Volkes" über die Ereignisse des 28. Oktober begründete man mit der Bemerkung, dass „diese unsere Freude eine gerechte Freude" sei. Die Tschechoslowakei wurde als eine Verkörperung von „Recht und Gerechtigkeit" begrüßt. 54 Der Artikel zitiert das „ganze Volk" mit dem Ausruf „Wir sind befreit" und verknüpft dieses Bild einer harmonischen Ganzheit mit einem hohen demokratischen Ideal. 55 Die Ausgestaltung der Gesetze als Aufgabe der Juristen müsse nämlich dem Staat nützen. Der Staat wurde jedoch nicht absolut gesetzt, sondern: „Der Nutzen des Staates liegt aber einzig darin, dass alle seine Bürger in ihm zufrieden sind, in ihm ihre Heimat finden." 56 Der demokratische Staat war demnach Heimat und Hort der Zufriedenheit seiner Bürger. Einen anderen und abstrakten Sinn hatte er nicht. Vermutlich war bei der Hervorhebung des Wortes „alle" vor allem an die nationalen Minderheiten gedacht, denen die Tschechoslowakei Heimat werden sollte, und zwar, so die

52

Ebd., 4 0 2 f. 53 Ebd., 406. 54 Právník 57, 1918, 349. 55 Ebd., 350. 56 Ebd., 351 (Hervorhebung im Original).

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1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

ideelle Konzeption des „Juristen", weil sie Recht und Gerechtigkeit verkörperte und somit Zufriedenheit stiftete. Gut drei Jahre später bestätigte und erläutete dieselbe Zeitschrift die „revolutionäre" Entstehung des tschechoslowakischen Staates am 28. Oktober 1918. Dabei bezog sie sich auf ein Urteil des Höchsten Verwaltungsgerichts. Für die einzelnen Landesteile differenziert bedeutete dies: So weit es das ehemalige Königreich Böhmen, die Markgrafschaft Mähren und das Herzogtum Schlesien in ihren historischen Grenzen betraf, sei die „Staatsmacht der tschechoslowakischen Republik [ . . . ] mit dem Auseinanderfallen der österreichisch-ungarischen Monarchie" und also „faktisch schon mit der staatlichen Umwälzung" an dem genannten Tag entstanden. Was die Slowakei betreffe, so habe sich diese Staatsmacht erst mit der Okkupation der einzelnen Gaue entfaltet. 57 Der Auslegung des zitierten Gerichts zufolge sei die „Tschechoslowakei" demnach zunächst nur auf dem tschechischen Gebiet durch Loslösung von Österreich entstanden. Diese habe sodann ihre staatliche Macht mit dem Mittel der Okkupation in der Slowakei „verbreitert". 58 Aus tschechoslowakischer Sicht schien diese juristische Konzeption zwingend, da man andernfalls die Unabhängigkeit der Slowakei von Ungarn und ihr Fortbestehen als Teil der Tschechoslowakei erst nach dem Abschluss des Friedensvertrages mit Ungarn in Trianon am 4. Juni 1920 hätte konstatieren können. 5 9 Da in der zitierten juristischen Auffassung die junge Tschechoslowakei zwischenzeitlich in einem Krieg mit Ungarn um die ihr zugehörenden Gebiete lag, blieb der slowakische Anteil an der Entstehung des tschechoslowakischen Staates ein passiver. 60 Da der Staat in der Konzeption seiner Gründungsväter militärisch und diplomatisch erstritten war, stellt sich die Frage nach der Teilhabe der Bürger an den entsprechenden Kämpfen. Die Teilhabe der Angehörigen der habsburgerischen Verbände an der Befreiung der Tschechoslowakei weist dabei auf einen wunden Punkt. Die Gefallenen und Kriegsgeschädigten hatten einen Status als Kriegsopfer und damit als Kämpfer, die ihr Leben und ihre Gesundheit im Krieg als Ort der Staatsgründung aufs Spiel gesetzt hatten. Die Kriegsgeschädigten wollten 1920 an den Feierlichkeiten zum 28. Oktober beteiligt werden, weil sie darin das Gedenken an die Opfer des Krieges symbolisiert sahen. 61 Der Feiertag drückte für sie aus, dass sie an der nationalen Befreiung teilgehabt hatten, und symbolisierte zugleich die „menschliche Befreiung" von Leid und Not. 6 2 Anders als das Andenken an die gefallenen Soldaten, deren Opfer als 5' Právník 61, 1922, 168, vgl. auch: Právník 58, 1919,146. 58 Právník 61, 1922, 168, 169. 59 Ebd., 170. 60 In der Slowakei waren viele Bürger über den Umsturz und mithin den Herrschaftswechsel nur unzureichend informiert, vgl.: Bohumila Ferencuhová, Informovanost' slovenskej verejnosti o zahranicnom odboji, in: Kovác/Podrimavsky (Hrsg.), Slovensko na zaciatku 20. storocia, 4 0 4 - 4 1 4 . 61 Státní ústrední archiv: Ministerstvo sociálnípéce (MSP), Κ. 489, Nr. 9650. 62 Novy zivot 8, 1924, Nr. 43, 1.

1.3 Die staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei

53

Heldentod gefeiert wurde, war die Sichtbarmachung der körperlichen Versehrtheit und des sozialen Elends der Kriegsinvaliden im Rahmen der offiziellen Feierlichkeiten jedoch unerwünscht. Konnte man etwa das Grabmal des Unbekannten Soldaten ästhetisieren und symbolisch nutzbar machen 63 , so führte eine Invalidenversammlung die hässliche Seite des Krieges vor Augen. 64 Daher blieb das Verhältnis der Öffentlichkeit zu den Kriegsinvaliden in der Präsentation des Staatsgründungstages ambivalent. Als Kriegsteilnehmer wurden hier vornehmlich die Gefallenen und die körperlich Unversehrten vorgeführt. Als die Gefolgschaft der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigten am Tag des zehnjährigen Geburtstages der Republik in den Prager Straßen eine Versammlung abhalten wollte, wurde ihr dies mit Hinweis darauf untersagt, dass man auch anderen Wohltätigkeitsorganisationen an diesem Tag keine Präsenz auf den Straßen der Hauptstadt gewähre. Die Straßen sollten nur von Vertretern staatlicher Organisationen zur Repräsentation genutzt werden. 6 5 Deutlicher hätte man kaum zum Ausdruck bringen können, dass die Kriegsgeschädigten eben nicht als Repräsentanten des staatlichen Neubeginns galten. Von der Erhebung des 28. Oktober zum Nationalfeiertag zeigten sich besonders die Legionäre brüskiert. Dagegen wurde 1924 in der Wochenbeilage der Tageszeitung des Legionärsverbandes Národni osvobozeni polemisiert, die unter dem Titel Legionärsky tyden erschien. Man kreidete an, dass die Inlandspolitiker noch im Frühjahr 1917 ihre Loyalität zu Österreich bekundet hätten. Der 28. Oktober sei lediglich der Tag der tatsächlichen Machtübernahme durch die Tschechen gewesen. Seine Erhebung zum Staatsgründungstag werde dem Hergang der Revolution nicht gerecht. Die Legionäre könnten diesen Tag nicht „als die Vollendung unserer Widerstandsbewegung [odboj] gegen Österreich" ansehen. Die Revolution nämlich habe nicht zu Hause stattgefunden. Die Republik sei nicht in Prag erkämpft worden: „Das Recht auf Eigenstaatlichkeit haben sie uns erst nach unserem Einschreiten in Russland zuerkannt." 6 6 Die wahren Vorkämpfer der Republik waren demnach zum Zeitpunkt der falsch festgelegten Staatsgründung noch gar nicht aus dem Krieg zurückgekehrt, sondern kämpften sich gegen den Widerstand der Bolschewiki

63

Das Grabmal des Unbekannten Soldaten wurde mit den Gebeinen eines Kämpfers aus der Schlacht bei Zborov zum fünften Jahrestag 1922 im Altstädter Rathaus feierlich eingeweiht, vgl.: Vaclav Vojtisek, Osud hrobu Neznámého vojína ν Staromêstské radnici, in: Zborov. Památník k tricátému vyrocí bitvy u Zborova 2. cervence 1917. Prag 1947, 187-193, hier 87f.; vgl. auch: Galandauer, 2. 7. 1917, 8 9 - 9 5 . 64 So machte der Minister für Sozialfürsorge 1920 den Invaliden bezüglich ihrer Teilnahme an den Feierlichkeiten zum 28. Oktober zahlreiche Auflagen. Vgl. Novy zivot 4, Nr. 1920, 3 9 - 4 0 , 1; vgl. auch: Sabine Kienitz, Körper-Beschädigungen. Kriegsinvalidität und Männlichkeitskonstruktionen in der Weimarer Republik, in: Hagemann/ Schüler-Springorum (Hrsg.), Heimat-Front, 188-207, hier 196. 65 MSP, K. 358, Nr. 5702, 1928. 66 Legionársky tyden, 14. 8. 1924,1.

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1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

durch Sibirien. Einige Wochen später kritisierte ein slowakischer Artikel in der gleichen Beilage, dass ein tschechoslowakischer Nationalfeiertag am 28. Oktober begangen werde, obwohl die Unabhängigkeit in der Slowakei erst am 30. Oktober proklamiert wurde. 67 Dies verweist auf das spannungsreiche Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken als Staatsvölker. Während der Legionärsmythos das Bild eines im Kampfe vereinigten tschechoslowakischen Volkes transportierte und die Slowaken hier als „Brüder" angesprochen waren, konnte die Praxis der Prager Regierung angeprangert werden, da sie auf die tschechische Tradition fixiert war. Polemisch äußerte sich in der historischen Vierteljahresschrift des Legionärsverbandes Nase revoluce auch der Gymnasiallehrer und Vorsitzende der tschechoslowakischen Legionärsgemeinde in Brno, Josef Kudela 68 , der seit 1916 der Legion in Russland angehört hatte und dort seit 1917 Mitglied der Zweigstelle des tschechoslowakischen Nationalrats war. Er betonte, die Legionäre in Russland hätten sich (nach der Oktoberrevolution 1917) bereits vor dem Umbruch in der Heimat befreit (gefühlt) und schon im April 1918 in ihren Periodika über eine „Tschechoslowakische Republik" geschrieben. 69 Die unterschiedliche Art der nationalen Befreiung in der Heimat und bei den Legionären stellte Kudela folgendermaßen dar: Der Staatsstreich hatte für unsere Leute in der Heimat auch eine entscheidende persönliche Bedeutung: Sie befreiten sich, sie hörten auf, dem österreichisch-ungarischen Reich gefügig zu sein, sie wurden Bürger des eigenen Staates. Für unsere Soldaten kam eine solche Befreiung schon viel früher: eigentlich gleich in dem Augenblick, als jeder von ihnen sich entschied, die Brücken hinter sich abzubrechen [zu verbrennen, spàlit] und unseren revolutionären Streitkräften beizutreten. 7 0

Letztlich wird hier die nationale Befreiung auf die von den Legionären getroffene Entscheidung zurückgeführt. Das Recht „unserer Leute in der Heimat", diese Befreiung für sich zu proklamieren, wird somit bestritten. Diese Leute wurden von den Legionären befreit, noch bevor sie sich selbst befreien konnten. Sie waren - in der Figur des Volkes - die Objekte der Befreiung, nicht ihre Urheber. Über die Prager Ereignisse vom 28. Oktober 1918 seien die Legionäre in Russland - so Kudela weiter - seinerzeit nur unzureichend informiert gewesen. Der Zeuge zitiert eine am 25. November 1918 in Tscheljabinsk erschienene Legionärszeitschrift, in welcher derjenige Legionär als der unglücklichste beschrieben wurde, der einige Stunden vor dem Friedensschluss noch im Krieg falle und das Ziel seines Kampfes - die „völlige staatliche Selbständigkeit" -

67

Legionársky tyden, 23. 10.1924, 1 ; Ústav mezinárodních vztahü (Hrsg.), Vznik Ceskoslovenska 1918, 345. Vgl.: Ceskoslovensko-biografie 2 (J R) 1937, o. S. 69 Josef Kudela, 28. ríjen ν ruskych legiich, in: Nase revoluce 6, 1929/30, 121-133, hier 122. 70 Ebd., 134. 68

1.3 Die staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei

55

zu erleben knapp verfehle. 71 Zwischen den Fronten des russischen Bürgerkrieges fürchteten die tschechoslowakischen Kämpfer demnach noch den Opfertod, als das Ziel ihres Kampfes in der Heimat längst als erreicht proklamiert worden war. Von der Einmütigkeit, die Masaryk darstellte, konnte hier weder in der konkreten Situation Ende Oktober 1918 noch in der späteren Bewertung der Ereignisse die Rede sein. Anders als die Soldaten, die bis zuletzt in den österreichischen Verbänden gekämpft hatten, verfügten die Legionäre über eigene, ihre Kriegsteilnahme thematisierende Organe, die ihren Anspruch auf Berücksichtigung bei der Gestaltung der symbolischen Ordnung geltend machten. Dass gerade jene Soldaten, die aus dem österreichischen Dienst entlassen wurden, 1919/20 an der Okkupation der slowakischen Gaue mitwirkten 7 2 , scheint vor dem Hintergrund der ideell und historisch begründeten Proklamation der gemeinsamen Staatlichkeit von Tschechen und Slowaken absurd. Andererseits verweisen diese tiefen Risse in der Kontingenz der Ereignisgeschichte umso deutlicher auf die Wirkmächtigkeit und staatspolitische Notwendigkeit der beschriebenen symbolischen Setzungen.

1.3.4

Verfassung

Die Verfassung kann als eine gesellschaftliche Institution angesehen werden. Ihr Text ist als Ausdruck verbindlicher Rechtsnormen und der (demokratischen) Verfasstheit des Staates verstehbar. Der Staat sprach die Einwohner und Bürger in den unterschiedlichen „bürgerlichen" Handlungsfeldern an. Die Präambel der am 29. Februar 1920 verabschiedeten tschechoslowakischen Verfassung konstituierte die Republik: Wir, das tschechoslowakische Volk, haben im Streben nach Festigung der vollendeten Einheit des Volkes, nach Einführung einer gerechten Ordnung in der Republik, nach Sicherung einer friedlichen Entwicklung der heimatlichen Tschechoslowakei, nach Förderung des allgemeinen Wohls aller Bürger dieses Staates und nach Sicherung der erlangten Freiheit für die folgenden Generationen f . . . ] die Verfassung [ . . . ] ausgerufen: Hiermit erklären wir, das tschechoslowakische Volk, dass wir nachdrücklich wünschen, dass diese Verfassung und alle Gesetze unseres Landes im Geiste unserer Geschichte ebenso wie im Geiste moderner Grundsätze durchgeführt und nach ihrer wahren Losung beachtet werden: auf dass wir uns der Gemeinschaft der Völker anschließen als ein gebildetes, demokratisches und friedliebendes Glied. 73

Der Text bestätigt zunächst die Nationsgründung als solche. Das tschechoslowakische Volk, definiert als ideelles Ganzes und Gesamtheit seiner Staatsbürger, bekräftigt die Gründung in der Subjektposition. Den Akt der Nations-

71

Ebd., 135. Jörg K. Hoensch, Tschechoslowakismus oder Autonomie. Die Auseinandersetzung um die Eingliederung der Slowakei in die Tschechoslowakische Republik, in: Ders., Studia Slovaca. Studien zur Geschichte der Slowaken und der Slowakei. München 2000, 71-106, hier 8 5 - 8 7 . 73 Zitiert nach: Broklovä, Prvni, 187. 72

56

1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

gründung feierte die Zeitschrift Nase doba mit den Worten „Wir treten in die Reihe freier Völker/Nationen [nàrodù] ein" als einen „sehr andächtigen Augenblick in unserem nationalen Leben".74 Die Verfassung geriet so zu einer weihevollen, religiös überhöhten nationalen Verkündung. In diesem Sinne bekräftigte sie die tschecho-slowakische Einheit und benannte die sie verbindenden Elemente: gerechte Ordnung, friedliche Entwicklung, Sicherung der erlangten Freiheit und allgemeines Wohl. Diese wurden im zweiten Absatz als gleichermaßen auf der eigenen Geschichte als auch auf der modernen Verfasstheit der Republik fußend dargelegt. Das allgemeine Wohl können wir mit einem bereits zitierten Artikel als Ziel des für den „Staat als ein Ganzes"75 stehenden und durch ihm verkörperten Volkes ansehen. Unter „erlangter Freiheit" ist die staatliche Unabhängigkeit zu verstehen, welche die „friedliche Entwicklung" sichern soll. Der Frieden erschien gleichsam als ein demokratischer Frieden, nachdem das Kriegsende eine demokratische Verfassung der Tschechoslowakei ermöglicht hat. 76 Die „gerechte Ordnung" meinte ein am allgemeinen Wohl der Bürger orientiertes, durch die Verfassung und nach ihren Grundsätzen geregeltes Gefüge. Für den vorliegenden Kontext ist die Frage nach dem Verhältnis von postulierter Gleichheit und faktischer Ungleichheit auf unterschiedlichen Handlungsfeldern klärungsbedürftig: Wie manifestierten sich Hierarchien neben dem demokratischen Gleichheitsgebot im Verfassungstext? Überaus spannungsreich war in dieser Hinsicht das Verhältnis von geschlechtlicher und nationaler „Gleichstellung" einerseits sowie von Tschechen und Slowaken anderseits. Letzteres wird im Abschnitt über den Tschechoslowakismus behandelt. Zur Frage der „Gleichheit" äußern sich die Paragraphen neun, 106 und 128 der Urkunde. Die Verfassung gab im Abschnitt über die „gesetzgebende Gewalt" allen Bürgern, die das 21. Lebensjahr vollendet hatten, das Stimmrecht „ohne Unterschied des Geschlechts [bez rozdílu pohlavi]" (§ 9).77 Darüber hinaus legte sie die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz an zwei Stellen in unterschiedlichen Kontexten fest. Paragraph 106 regelte die „Rechte und Freiheiten sowie Bürgerpflichten" und Paragraph 128 den „Schutz der nationalen, religiösen und rassischen Minderheiten". Der Passus zur Gleichheit (rovnost) der Bürger lautete: „Vorrechte des Geschlechts, der Geburt/Herkunft [rodu] und des Berufs werden nicht anerkannt." (Absatz l). 78 Der zweite Absatz sah weiter vor, dass „alle Einwohner [vsichni obyvatelé] den vollen und unbedingten Schutz ihres Lebens und ihrer Freiheit genießen", und zwar „unabhängig von Geburt/Herkunft [rodu], Sprache, Rasse oder Religion".79 Die Gleichberechtigung der Geschlechter findet in diesem zweiten Absatz keine Erwähnung mehr. 74

NaSe doba 27,1919/20,161. " Právník 58, 1919, 1. Vgl. auch: Nase doba 26,1918/19, 241. 77 Zitiert nach: Broklová, První, 190. 7 ¡s Ebd., 207. τ> Ebd. 76

1.3 Die staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei

57

Er bezieht sich allein auf den Minderheitenschutz, der an dieser Stelle geschlechtlich nicht codiert erscheint. Das gleiche gilt für den allein dem Minderheitenschutz gewidmeten Paragraph 128. Er bestimmte: „Alle Staatsbürger [vsichni obcané] der Tschechoslowakischen Republik sind vor dem Gesetz völlig gleich und machen von denselben bürgerlichen und politischen Rechten Gebrauch, ohne Rücksicht auf [nehledíc k tomu, jaké jsou] ihre Rasse, Sprache und Religion." 8 0 Ethnische und geschlechtliche „Gleichheit" standen hier in einem spannungsvollen Verhältnis. Während unter dem Abschnitt zur „Gleichheit" (§ 9) geschlechtliche und ethnische Zuweisungen als Quelle möglicher Ungleichheiten vor dem Gesetz gleichermaßen verdammt wurden, unterlag der Minderheitenschutz weiteren Ausführungen. Darin wurde den Angehörigen der nationalen Minderheiten unter anderem das Recht auf Religionsausübung und auf Unterricht in der Muttersprache gewährt. 81 Die Minderheitenrechte waren in der Kopplung von Staatsbürgerschafts- und Eherecht teilweise überlagert. Gerade das Staatsbürgerschaftsrecht konterkarierte das Gleichheitspostulat, da es Frauen qua Eheschließung der Nationalität ihres Partners zuordnete. 8 2 Wer nach dem Staatsbürgerschaftsrecht in einer nunmehr dem tschechoslowakischen Territorium zugehörenden Gemeinde seit dem 1. Januar 1910 oder früher das Heimatrecht besaß oder danach in einer solchen Gemeinde geboren wurde, wurde tschechoslowakischer Staatsbürger. In den Bestimmungen zum Heimatrecht hieß es in teilweisem Widerspruch dazu, dass Ehegattinnen in der Ausübung dieses Rechts dem Ehegatten folgten. 8 3 Faktisch bedeutete dies, dass Frauen, egal welcher ethnischen Zugehörigkeit, wenn sie einen Mann heirateten, der das fragliche Heimatrecht nicht besaß, ihren Staatsbürgerstatus in der Tschechoslowakei verloren. Dies verweist allgemein auf das ambivalente Verhältnis zwischen dem Gleichheitsgebot und dem Familienrecht und damit auf das Verhältnis von universellen Rechten zu dem vor Einmischung geschützten und in der Regel nicht egalitär organisierten familiären Binnenraum. An der Schnittstelle von geschlechtlicher und nationaler Gleichheit zeichnete sich ein überaus spannungsreiches Hierarchisierungsmuster ab. 84 so Ebd., 210. si Ebd., 210f. 82 Leo Epstein, Studien-Ausgabe der Verfassungsgesetze der Tschechoslowakischen Republik. Unter Berücksichtigung der Gesetzesmaterialien, der Rechtsprechung und der alten österreichischen Verfassungsgesetzgebung, sowie mit Hinweisen und Bemerkungen versehen. Libérée 1923, 662; Marie Pivoñková, Zeny, in: Slovník vefejného práva ceskoslovenského, Bd. 5. Brno 1948, 8 8 9 - 8 9 7 , hier 891. 83 Epstein, Studien-Ausgabe der Verfassungsgesetze, 657, 662. 84 Dabei handelte es sich um eine internationale Praxis, die u.a. von der internationalen Frauenliga bekämpft wurde, vgl.: Carol Miller, „Geneva - the Key to Equality": InterWar Feminists and the League of Nations, in: Women's History Review 3, 1994, H . 2 , 219-225, hier 226f.; auch die tschechische Frauenbewegung agitierte gegen diese Praxis, vgl.: Melissa Feinberg, Elusive Equality. Gender, Citizenship and the Limits of Democracy in Czechoslovakia, 1918-1950. Pittsburgh 2006, 7 2 - 9 8 .

58

1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

Auch an anderer Stelle zeigt sich, dass der Verfassungstext nicht in allen Fällen Frauen meinte, wenn er Bürger sagte. Dies macht die Formulierung des Paragraphen 127 zur Wehrpflicht deutlich. Er lautet: „Jeder taugliche Staatsbürger [kazdy zpùsobily státní obcan] ist verpflichtet, sich der militärischen Ausbildung zu unterziehen [.. .]." 85 Während Frauen hier nicht gemeint waren, spricht sie die Verfassung noch in einer anderen Rolle als jener der Bürgerinnen an, nämlich als Mütter. Paragraph 126 über „Ehe und Familie" schrieb fest: „Die Ehe, die Familie und die Mutterschaft stehen unter dem besonderen Schutz des Staates." 8 6 Im Gegensatz zur Wehrpflicht der „Bürger", deren Proklamierung ohne eine entsprechende Ausformulierung des Ausschlusses von Frauen als exklusiv männlich galt, rangierte der Schutz der Familie offenbar außerhalb der definierten Bürgergemeinschaft. Er benutzte ein anderes Vokabular. Ähnlich wie der Minderheitenschutz wurde der Schutz der Familie nicht als Bürgerrecht definiert, sondern gewissermaßen als ein Nießnutz an den demokratischen Institutionen. Deren Adressaten waren nicht die im Singular gedachten universellen Staatsbürger, sondern Angehörige von Gruppen mit spezifischen Interessen. Der Minderheitenschutz war als ein Sonderrecht formuliert. Die Angehörigen der Minderheiten waren als Staatsbürger zwar gleichberechtigt und mussten beispielsweise, sofern sie männlich waren, gleichermaßen der Wehrpflicht nachkommen. Andererseits wurden ihnen zusätzlich spezifische Rechte zugesprochen, die mit nationalen Zuschreibungskriterien arbeiteten, die der Gleichheitsidee entgegenstehen konnten. Die oftmals wenig eindeutigen Formulierungen des Verfassungstextes spiegeln die verschiedenen Zusammenhänge, in denen Gleichheit, Geschlecht, Mutterschaft, Wehrpflicht und Ethnizität gedacht wurden. Die feierliche Verkündung der staatlichen Einheit als ein nationaler Akt erklärte die formale Gleichheit in Form eines universellen demokratischen Verfassungsgrundsatzes. Dieser erzeugte jedoch in den Ausführungsbestimmungen mehrdeutige Kategorien, da der/die einzelne Bürger/in von der Verfassung in verschiedenen funktional den gesellschaftlichen Handlungsfeldern zugeordneten Rollen angesprochen werden konnten. Zu den Ausführungsbestimmungen der Verfassung ist darüber hinaus bemerkenswert, dass sie dort, wo keine neuen nationalstaatlichen Regeln bestanden, die Geltung des österreichischen und ungarischen Rechts für die tschechischen und slowakischen Landesteile bestätigten, so dass unterschiedliche Rechtssysteme erhalten blieben. Faktisch wurde in den ersten Nachkriegsjahren die neue Ordnung in der Slowakei teilweise durch die heimkehrenden tschechischen Soldaten der habsburgerischen Verbände und teilweise durch die Legionäre etabliert, gestützt auf slowakische Vertreter der Auslandsrevolution

85 86

Broklová, První, 210. Ebd.

1.3 Die staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei

59

(die so genannten Regierungsslowaken), und zwar sowohl mit Waffengewalt als auch mittels einer vornehmlich mit tschechischen Vertretern besetzten Administration. 8 7

1.3.5

Tschechoslowakismus

Die Verfassungsurkunde der tschechoslowakischen Republik bestimmte, dass die „tschechoslowakische Republik ein einheitliches und unteilbares Ganzes" bilde (§ 3). 88 Während die Karpatoukraine de jure einen Autonomiestatus erhielt (Abschnitt 2), erschien die Slowakei als in den „tschechoslowakischen" Bestimmungen enthalten. 8 9 Damit fielen die Slowaken nicht unter den Minderheitenschutz. Eine Folge dieser Konzeption war, dass das Staatsvolk der Tschechoslowaken nunmehr circa 63 Prozent der Bevölkerung umfasste (wovon ca. ein Viertel Slowaken waren). Die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe stellten die Deutschen mit 25 Prozent, gefolgt von Ungarn mit knapp 6 Prozent, Ukrainern mit etwas über 3 Prozent, Juden mit etwas über 2 Prozent und Polen mit unter einem Prozent (Zahlen für 1930). 90 Auch wenn ein überaus vorsichtiger Umgang mit solchem Zahlenmaterial angebracht ist, so kann doch anhand dieser (auf der Grundlage der Volkszählungen errechneten) Zahlen festgestellt werden, dass in der Tschechoslowakei nach den dort zugrunde gelegten Kriterien mehr Deutsche lebten als Slowaken; ein Zustand, dessen sich die Zeitgenossen überaus bewusst waren und der zahlreiche Diskurse entscheidend prägte. 91 Die Festschreibung der tschechoslowakischen Einheit wird allgemein mit dem Begriff des „Tschechoslowakismus" charakterisiert. Anders als in der ersten Verfassung nach dem Zweiten Weltkrieg vom 9. Mai 1948, die die Tschechen und Slowaken zu „Brudervölkern" erklärte 92 , schienen die beiden Titularnationen 1920 begrifflich untrennbar. Der Tschechoslowakismus war „als eine politische staatliche Doktrin" die „integrierende Ideologie der tschechoslowakischen Staatsbildung". 9 3 Er beruhte auf der Grundidee, dass die Tschechen und Slowaken ein Staatsvolk bildeten, das heißt eine transzendente

87

Hoensch, Tschechoslowakismus, 8 4 - 8 8 . Broklová, První, 189. 89 Der Autonomiestatus der Karpatoukraine wurde de facto niemals vollständig verwirklicht, vgl.: Ladislav Lipscher, Karpatenrußland und die südkarpatischen Ruthenen 1919-1933, in: Bohemia 31, 1990, 5 5 - 7 2 , hier 60. 90 Kessler, Die gescheiterte Integration, 170f. 91 Wie fragwürdig die Zuschreibungen nationaler Zugehörigkeit waren, hat besonders Chad Bryant herausgearbeitet, der zeigen konnte, dass nach dem Zweiten Weltkrieg die Fixierung nationaler Identität in Anlehnung an die Kriterien der Nationalsozialisten oftmals willkürlich erfolgte, vgl.: Chad Bryant, Either German or Czech: Fixing Nationality in Bohemia and Moravia, 1939-1946, in: Slavic Review 61, 2002, H.4, 6 8 3 - 7 0 6 . 92 Václav Kopecky (Hrsg.), Ústava 9. kvétna. Usnesení ústavodárného národního shromázdení. Prag 1948, 17. 93 Jan Galandauer, Cechoslovakismus ν promenách casu. Od národotvorné tendence k integracní ideologii, in: Historie a vojenství 47, 1998, H. 2, 3 3 - 5 2 , hier 34. 88

60

1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

„objektiv existierende soziale Einheit". 94 Der bedeutendste Konstrukteur des tschechoslowakischen Staatsgedankens und der dazugehörenden Ideologie war der spätere Präsident Masaryk. In seinen Schriften wie auch in vielen anderen tschechischen Verlautbarungen werden die Begriffe „tschechisch" und „tschechoslowakisch" abwechselnd gebraucht, ohne dass klar wäre, wodurch sich der Gebrauch des einen oder anderen Adjektivs jeweils rechtfertigt. Es entsteht der Eindruck, die Tschechen hätten die Slowaken ihrem eigenen Volk einfach hinzuaddiert, ohne dass dies die Artikulation tschechischer kultureller und politischer Werte und positiver Bezüge in irgendeiner Art verändert hätte. 95 Sie konnten nunmehr einfach als tschechisch oder tschechoslowakisch bezeichnet werden. So heißt es zum Beispiel in der im Ersten Weltkrieg verfassten Schrift Masaryks „Das neue Europa. Der slavische Standpunkt": Die Selbständigkeit des tschechoslowakischen Staates ist eine Forderung der politischen Gerechtigkeit; durch seine geographische Lage in Europas Mitte und durch seinen angestammten Kampf gegen den deutschen Andrang gegen den Osten ist das tschechische und slowakische Volk die Vorhut aller osteuropäischen Nationen. [ . . . ] Die geographische Lage in der Mitte Europas und der geschichtliche Widerstand der Tschechen gegen den verknechtenden Germanismus und Pangermanismus verleihen Böhmen eine große politische Bedeutung, die die Verbündeten schon anerkannt haben. 96

Im ersten Teil des Zitats wird die politische Legitimität der Tschechoslowakei geographisch und moralisch mit dem Hinweis auf das tschechische und slowakische Volk begründet. Das darauf folgende historische Argument spricht aber ohne eine weitere Begründung nur noch von Tschechen, obwohl es rhetorisch an den zuvor erwähnten gemeinsamen Kampf beider Völker anknüpft. Eine Bestätigung der Interpretation, die Slowaken seien den Tschechen hinzugefügt worden, findet sich auch in der nationalen und sprachlichen Zuordnung. So formulierte wiederum Masaryk: „Slováci jsou Cechy" oder „Slovaks are Bohemians" (Slowaken sind Tschechen/Böhmen). 9 7 In seiner Konzeption waren die Tschechoslowaken slawisch, antihabsburgisch und fortschrittlich orientiert. Die gesellschaftliche Entwicklung dieser „westlichsten Slawen" folgte außerdem, was die demokratische Orientierung und die sozioökonomische Lage betraf, westlichen Standards. 9 8 Die Tschechen nahmen in dieser Hinsicht

94 Jan Rychlik, Teorie a praxe jednotného ceskoslovenského národa a ceskoslovenského jazyka ν 1. republice, in: Ustav T. G. Masaryka (Hrsg.), Masarykova idea ceskoslovenské státnosti ve svëtle kritiky dëjin. Prag 1993, 6 9 - 7 7 , hier 70. 95 Wie unausgeprägt das Zusammengehörigkeitsgefühl tatsächlich war, belegt auch die Tatsache, dass nach der Erklärung des Cesky svaz vom 30. Mai 1917, welche einen tschechoslowakischen Staat als Ziel der Kriegspolitik bezeichnete, die Slowakei dem tschechischen Publikum unter der Überschrift „Was ist die Slowakei?" erst vorgestellt werden musste, vgl.: Naäe doba 25, 1917/18, 2 0 - 2 8 , 8 6 - 9 1 ; zur Erklärung vgl.: Galandauer, Die Slowaken in den tschechischen politischen Programmen. 96 Masaryk, Das neue Europa, 111. 97 Galandauer, Cechoslovakismus, 41 f. 98 Masaryk, Das neue Europa, 90-112.

1.3 Die staatsrechtliche Konzeption der Tschechoslowakei

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die Slowaken mit s i c h . " Anders als es im Pittsburgher Vertrag vom Mai 1918 zwischen Auslandstschechen und -Slowaken vorgesehen war, bekam die Slowakei in der Republik kein eigenes Parlament und die slowakische Sprache wurde keine Amtssprache. Die Verfassung vom Februar 1920 kannte vielmehr das Konstrukt einer tschechoslowakischen Sprache. Das Slowakische war nunmehr ein Dialekt des Tschechischen. 100 Dabei handelte es sich um ein rechtliches Konstrukt, das - laut Jan Rychlik - beide Sprachen gleichstellte. 101 Slowakisch konnte als Amtssprache wie Tschechisch benutzt werden. Die Bürger wandten sich an staatliche Stellen auch auf Deutsch, Ungarisch, Russisch und Polnisch. 102 Das an den Schulen unterrichtete Slowakisch galt als Tschechoslowakisch. In tschechischen Zeitschriften tauchten slowakische Artikel unkommentiert neben tschechischsprachigen auf, während deutsche und ungarische Artikel eigens in deutschen und ungarischen Zeitschriften erschienen. 103 So bemerkte 1921 ein slowakischer Abgeordneter in der tschechoslowakischen Nationalversammlung (in einer Debatte zu einem anderen Thema): „Vsak dobre vieme, ze ceskoslovenskej reci niet, [...]". Er äußerte auf Slowakisch, man wisse schließlich, „dass es keine tschechoslowakische Sprache gibt" (sondern nur eine tschechische und eine slowakische), wohl wissend, dass dies am Status quo nichts mehr ändern würde. 1 0 4 Während die Redebeiträge der Angehörigen nationaler Minderheiten in den Protokollen der Nationalversammlung übersetzt wurden, schien dies für das Slowakische überflüssig. Die Lage der Slowaken in der Tschechoslowakei war durch ihre sprachlichsymbolische Unterordnung unter die Tschechen gekennzeichnet. Sie entsprach nicht einer Benachteiligung als „Minderheit", denn einen solchen Status besaßen die Slowaken nicht. Der Einschluss der Slowaken in die Staatsbürgergemeinschaft blieb damit amorph. Ihrem vielfach empfundenen Sonderstatus fehlte eine feste Kontur. 99

Hans Lemberg, Der Versuch der Herstellung synthetischer Nationen im östlichen Europa im Lichte des Theorems vom Nation-Building, in: Eva Schmidt-Hartmann (Hrsg.), Formen des nationalen Bewußtseins im Lichte zeitgenössischer Nationalismustheorien. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 31. Oktober bis 3. November 1991. München 1994, 145-161, hier 149-151; Robert Kvacek, Ke vzniku Ceskoslovenska, in: Cesky casopis historicky 96, 1998, 717-735, hier 724f.; Skalnik/ Mikula, Institutionalizing Party Systems, 301. 100 Jörg K. Hoensch (Hrsg.), Dokumente der Autonomiepolitik der Slowakischen Volkspartei Hlinkas. München/Wien 1984, 129, 131 f.; die Frage, ob das Slowakische eine eigenständige Sprache sei, war von hoher symbolischer Bedeutung. In der romantischen Tradition galt die Sprache als Ausweis von nationaler Verfasstheit. Die Etablierung der slowakischen Schriftsprache und die erste Forderung nach einer slowakischen Autonomie fallen in die Zeit des Vormärz, vgl. auch: Nase doba 28, 1920/21. 180-190. 101 Rychlik, Teorie a praxe, 72. 102 Entsprechende Schreiben befinden sich z. B. in den Akten des Sozialministeriums, die teilweise später zitiert werden. 103 Slowakischsprachige Artikel finden sich z.B. in: Nase doba 29, 1921/22. 129-137; 195-202; Péce o mládez 3, 1924, 42f.; 17. 1938, 6 1 - 6 3 . 104 Národní shromázdení ceskoslovenské 1920-1925, 84. schuze, cást 3/9, 2.

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1. Der tschechoslowakische Staat als institutioneller Bezugsrahmen

Mit der Etablierung des tschechoslowakischen Staates ging auch die Erfindung einer tschechoslowakischen Geschichte einher. 105 Deren hervorragender Stifter war in der Zwischenkriegszeit der tschechische Historiker Václav Chaloupecky, der seit 1919 den Lehrstuhl für tschechoslowakische Geschichte an der neu gegründeten Comenius-Universität in Bratislava bekleidete (professionelle slowakische Historiker, die für einen solchen Posten in Frage gekommen wären, gab es zu diesem Zeitpunkt nicht). 106 Zwar sprach Chaloupecky 1922 von „unserer" Geschichte, definierte aber die Existenz des tschechoslowakischen Staates als Ausdruck einer neuen Epoche, als Verkörperung eines gemeinsamen tschechoslowakischen „Ziels: der Einheit und der Befreiung". 1 0 7 Die Idee einer auf dieses Ziel gerichteten „tschechoslowakischen" Vergangenheit implizierte demnach nicht die Konstruktion eines immer schon vereinten tschechoslowakischen Volkes. Vielmehr betonte der Historiker das aufeinander Bezogensein der beiden slawischen Völker, die er als Kinder „einer Mutter", nämlich der Slawenheit (Slavie), und somit historisch als Brüder definierte. 108 Die Einheit des tschechoslowakischen Volkes galt ihm als eine historisch gewachsene. 109 Als Komponenten des Volksbegriffes beschrieb er Heimatbezogenheit (mit svoji vlast), Sprache, Kultur und geomorphologische Faktoren. 110

105 Jan Rychlík, Ceské, slovenské a ceskoslovenské dëjiny - problém vzájemného vztahu ν rüznych historickych dobách, in: Cesko-slovenská historická rocenka 2000. Brno 2000, 20 f. ιοί Mark M. Stolárik, The Painful Birth of Slowak Historiography in the 20 th Century, in: Z f O 50, 2001, H. 2, 160-187, hier 162. 107 VfáclavJ Chaloupecky, Ceskoslovenské dëjiny, in: Cesky casopis historicky 28, 1922, 1 - 3 0 , hier 1. ios Ebd., 3. i"' Ebd., 2. »o Ebd., 4 - 6 .

2. Nach dem Ersten Weltkrieg 2.1 Heldenbilder Die obigen Ausführungen betrachteten den Staat als Deutungsinstanz und die Verfassung als Ausdruck seiner demokratischen Form. Im Kontext der Staatsgründung und ihrer Mythen ging es um die Stellung tschechoslowakischer Staatsbürger in verschiedenen Handlungsfeldern und damit um Hierarchisierungsmuster, die aus den Gründungstopoi resultierten. Dabei wurden unterschiedliche Deutungsmuster ausgeleuchtet und es wurde danach gefragt, welche Differenzierungen das demokratische Gleichheitsgebot im Prozess der staatspolitischen Konsolidierung erfuhr. Nachdem wir so das Panorama der tschechoslowakischen Staatsgründung in Ablösung von Österreich-Ungarn am Ende des Ersten Weltkrieges entfaltet haben, soll es nun um die korrespondierenden Heldenbilder gehen. Dabei ist zu fragen, inwiefern die im Zuge der Gründungsmythen kreierten Heldenbilder paradigmatisch waren. Von großem Interesse ist weiterhin, ob und wie diese Bilder dem nationalen Institutionalisierungsprozess im Allgemeinen und der Sozialpolitik im Besonderen eingelassen waren.

2.1.1 Die „Zurückkehrenden" Im Gegensatz zu den gefallenen Helden, die per se und für immer als Opfer galten, waren die Zurückkehrenden jene Soldaten, die nunmehr ein Leben nach dem Krieg begannen. Für sie ging es darum, ob ihre Kriegsteilhabe als ehrenwert angesehen werden würde. Diese Zurückkehrenden bildeten gewissermaßen das Verbindungsstück zwischen der im Krieg vollzogenen Auslandsrevolution und der Heimat. Ihre Ankunft zu Hause stellte den symbolischen Vollzug der Geburt der Nation im Kriege dar. Die in einem sinnlosen Massenkrieg aufgeriebenen Soldaten wurden so zu Bürgern eines neuen Staates, dessen Existenz dem Krieg ex post einen Sinn verleihen sollte. Die Suggestion der Kontinuität, die Verwobenheit von Vorher und Nachher im Begriff des Zurückkehrens, transportierte ein spezifisches Sinngebungsmuster. Es besagte, dass die nunmehr bessere Qualität der in einen neuen institutionellen Rahmen gefassten Heimat für das erlittene Leid entschädigen sollte. In Gestalt der tschechoslowakischen Nation erschien in der Retrospektive die Heimat selbst als Ziel des Krieges. Auf diesen Zusammenhang verweist auch jene Postkarte, die auf dem Umschlag dieses Buches abgebildet ist.1 Sie zeigt die Heimkehr des Kriegers in das „Vaterland", welches hier gleich dreimal dargestellt wird: in Gestalt der Czechie, des Gründungsvaters Masaryk und der 1

Die Postkarte stammt aus der Sammlung Rudolf Jaworski.

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

Landkarte der Tschechoslowakei. Letztere gibt die Postkarte ohne Nachbarstaaten wieder. Die U m g e b u n g , eine Hügellandschaft im Sonnenaufgang, weist auf eine A u f b r u c h s t i m m u n g . Der Zurückkehrende ist verwundet und b e w a f f net. Die Unterschrift lautet „durch eigene Kraft". Der heimkehrende Soldat wird mithin prototypisch als K ä m p f e r f ü r das Vaterland dargestellt, der ein O p f e r gebracht hat. Den Topos der Heimkehr als Verbindungsstück zwischen Auslandsrevolution und Heimat nahm auch der Vorsitzende der Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter (Druzina ceskoslovenskych välecnych poskozencü) Ondrej K y p r in seinen Dienst. Er argumentierte, die Kriegsgeschädigten hätten ein O p f e r für die Entstehung des „neuen Menschen und des neuen Staates" gebracht, deren Verkörperung die Republik sei. 2 Dabei spielte auch eine Rolle, dass zahlreiche Kriegsgeschädigte schon vor d e m Ende des Krieges zurückgekehrt waren und bereits 1917 ihre ersten Vereinigungen gegründet hatten. Das Statement zitiert eine wirkmächtige Darstellung des Anteils der geschädigten Veteranen an der Errichtung der Republik. Der gemäß suchten die Kriegsgeschädigten im Tross der Zurückkehrenden beständig nach einem Weg in die Normalität. Dieser Weg sollte von dem im Krieg erlittenen Leid zu einer Partizipation an der Republik und zu einer Teilhabe am politischen und wirtschaftlichen Leben fuhren. Die Darstellung Kyprs entsprach zugleich einer seit Beginn der 20er Jahre von staatlichen Institutionen verbreiteten Deutung, die besagte, die Tschechen und Slowaken seien bereits 1914 mehrheitlich gegen den Krieg gewesen und hätten auch innerhalb der habsburgerischen A r m e e durch Sabotage- und Widerstandsakte zur Niederlage derselben beigetragen. 3 Der A b z u g der tschechoslowakischen Regimenter aus dem revolutionären Russland ist z u d e m unter dem Begriff „ A n a b a s i s " in die Geschichte eingegangen. 4 Dem Weg aus Galizien, w o die Legionäre mehrere Schlachten geschlagen hatten, durch Sibirien wird somit eine antike Tradition zur Seite gestellt. Die Anabasis Xenophons, ein Bericht über den 401 vor Christus begonnenen Marsch gegen Persien, beschreibt nach dem Tod des anführenden Prinzen Kyros die hoffnungslose Lage seines Heeres, die Sehnsucht seiner griechischen Söldner nach ihrer Heimat und den schließlich unter der Leitung des Autors geglückten Rückzug durch Feindesland. So schrieb X e n o p h o n sein eigenes Heldenepos. Seine Autorschaft versuchte er zwar hinter einem Pseudonym zu verstecken, um so die Größe seiner Tat nicht durch die Tatsache eines Eigenlobs zu schmälern, jedoch wurde dies schon in der Antike erkannt. 5 Mit dem ab 1918 verwendeten Begriff Anabasis für den schwierigen und konfliktreichen A b z u g der „Tschechoslowaken" zwischen den Fronten des russischen 2

0[ndrej] Kypr, Svetová válka a její obëti. Prag 1929, 5. Zuckert, Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität, 228f. 4 Vgl.: Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, 45; Kalvoda, The Genesis, 485. 5 Bernhard Zimmermann, Nachwort, in: Xenophon, Der Zug der Zehntausend. Düsseldorf/Zürich 2003, 254-266, hier 257-259. 3

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Bürgerkrieges ist somit mehreres impliziert. Zunächst kommt dem Ereignis damit etwas Großes und Heldenhaftes zu. Außerdem weist die Wahl des Begriffs vermutlich unfreiwillig auf das Problem der Identität von Akteuren und Autoren in der historischen Erzählung. Wie Xenophon, so befand sich auch „der Legionär" in der Situation, die Größe seiner Tat selbst zu berichten. Der Abzug wird schließlich einer Erzählung einverleibt, die sehnsuchtsvoll der Heimat entgegensieht und somit mit dem Topos der Heimkehrenden korrespondiert. Der ehemalige Legionär und Publizist Rudolf Medek (1890-1940) veröffentlichte 1922 ein fiktives Tagebuch über die Rückkehr aus dem Krieg unter dem Titel „In das allerschönste Land der Welt". Der Stille Ozean und Honolulu, Paris und der Grand Canyon sind darin Stationen auf dem Weg in die Heimat. Für die zurückkehrenden Legionäre verschmolz Medek das Ziel des Kampfes und das Ziel der Reise, indem er die neue und erkämpfte Tschechoslowakei mit der alten Heimat in eins setzte und beide in einem metaphernreichen Text zu einem Ort der Hoffnung machte: Das neue Volk und der neue Staat werden, wenn sie erst die Trauer und die Anschwemmungen der vergangenen Tage und die Schwäche der gestrigen Ohnmächtigkeit und Unbeholfenheit abgeschüttelt haben, stark und schön an dieser Stelle stehen wie ein junger griechischer Gott. Quatscht ihr Schwätzer, [ . . . ] was ihr wollt. Das Land, das Gott unseren Vätern am Berg Rip gab, ist von allen Ländern der Welt das Schönste. Es ist dies ein Land großer Hoffnungen. 6

Der Rückgriff auf die vom ersten böhmischen Geschichtsschreiber Cosmas überlieferte Sage, wonach der Urvater Cech dem Land am Berg Rip seinen Namen gab, stellte die neu gegründete Republik in eine lange zurückreichende, mythologische, emotionale Tradition. Hiermit zitierte und verbreitete der Text den Begriff des Heimkehrenden und popularisierte ihn in der Erweiterung des Begriffs des Zurückkehrenden. Dieser Topos bekam für das Bild der Soldaten im Allgemeinen und der Legionäre im Besonderen große Bedeutung. In ihm flössen Vorkriegszeit und Nachkriegszeit, Tradition und Revolution, Auslandsrevolution und Heimat zusammen. Der Begriff der Heimat verwischte die Tatsache, dass jenes Reich, auf dessen Ruf sie in den Krieg gezogen waren, nicht mehr existierte und dass sie in eine Nation heimkehrten, die gerade erst gegründet wurde. Das Wort von der Heimkehr der Krieger verschleierte darüber hinaus, dass sie aus der zeitlichen Perspektive ihrer Einberufung größtenteils für ein verlorenes Ziel gekämpft hatten. Diese Widersprüche waren ebenso wenig wie die Verwerfungen zwischen den verschiedenen Gruppen der Heimkehrenden kommunizierbar. Ganz zu schweigen von dem, was die Soldaten im Krieg erlebt hatten. Der ganze Krieg erschien nur noch als ein „Weg zur Befreiung". 7 Mit der Geburt des Staates begann für alle ein neues, 6

Rudolf Medek, Do nejkràsnêjsi zemë svëta, Prag 1922, 112f. So lautete der Titel einer bei der Legion entstandenen Gedichtssammlung „Auf dem Weg zur Befreiung": Josef Kopta, Cestou k osvobozeni. Bàsnë. V. Rusku 1915-1919. Prag o. J. (1920). 7

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besseres Leben. Und wenn ein böhmischer Angehöriger der habsburgerischen Armee in einer Schlacht einen tschechischen Legionär getötet hatte, so kehrte er ebenso zurück wie die „russischen" Legionäre mit ihrer reichen Beute im Gepäck. 8 Die offensichtlichen Unterschiede in der Kriegserfahrung und den Umständen der Kriegsteilnahme waren in der Metapher des Heimkehrenden zugunsten der Idee eines im Kriege errungenen, neuen und besseren Staates aufgehoben. Darin war zugleich eine Verheißung enthalten. Sollte die neue Heimat jedoch nicht den von den Architekten der Auslandsrevolution geweckten Hoffnungen entsprechen, konnte dies unter der dünnen Decke demokratischer Versprechungen leicht tiefe Gräben reißen.

2.1.2 Der Legionär als

Vorbild?

Im Folgenden ist zu fragen, inwieweit die Legionäre Gegenstand eines Heldenmythos wurden, der Hierarchisierungsmuster prägte und auf diese Weise dem Opferdiskurs inhärent war. Dabei wird die These zugrunde gelegt, dass das Legionärsbild als Vorbild eines idealisierten Staatsbürgers fungierte, das unter der Hand spezifische Ausschlussmechanismen schuf. 9 Auf den Zusammenhang von demokratischem Staatsbürgerstatus und Idealbildern, die den Institutionen eingewoben waren, wies Marshall schon 1948 implizit hin. Über die Etablierung von Staatsbürgerrechten schrieb er: Die Gesellschaften aber, in denen sich die Institutionen der Staatsbürgerrechte zu entfalten beginnen, erzeugen die Vorstellung eines idealen Staatsbürgerstatus, an der die Fortschritte geraessen und auf die die Anstrengungen gerichtet werden können. 1 0

Das Konstrukt des Staatsbürgers setzte demnach einen Idealtypus 11 voraus, dem die tatsächlichen Bürger in unterschiedlicher Weise entsprachen. Marshall stellt damit eine Erklärung für gesellschaftliche Ungleichheit in Aussicht, die 8

Der Schriftsteller Josef Kopta stellte in seiner Kurzerzählung „Drei Besuche" u. a. die Gewissensnöte eines solchen Tschechen dar, der einen Legionär getötet hatte, vgl.: Josef Kopta, Tri návstévy, in: Zborov, Památník, 281 f.; zur Beute vgl.: Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, 116-118. Die Autorin gibt an, dass es sich bei dieser Beute größtenteils um Güter gehandelt habe, die die Legionäre gegen „bares Geld eingehandelt" hätten. Diese Beute bildete den Grundstock fìir eine Legionärsbank, die bis heute existiert. 9 Vgl. auch: Stegmann, Soldaten und Bürger. 10 Marshall, Staatsbürgerrechte, 53. 11 Hier trifft Webers Begriff eines Idealtypus als „Versuch, historische Individuen oder deren Einzelbestandteile in genetische Begriffe zu fassen." Webers Idee, sich durch die Postulierung eines solchen Idealtypus einer vom Forschenden erzeugten „Objektivität" anzunähern, war stark an Normen (er selbst sagte Werten) ausgerichtet. Die Kreation solcher Idealtypen wird in dieser Arbeit nicht als Forschungsmethode angestrebt. Vielmehr wird sie selbst als eine wissenschaftliche Konstruktion betrachtet und analysiert. Nur in dieser Hinsicht gebrauche ich den Begriff, der hier synonym zum Begriff des „Vorbilds" verwendet wird. Zum Idealtyp vgl.: Max Weber, Die „Objektivität" sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann. 7. Aufl. Tübingen 1988, 146-214, hier 190-194, Zitat 194.

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diese nicht bloß als Ausdruck ökonomischer Faktoren auffasst. Mit der Bildung von Idealtypen kreiert das Staatsbürgerkonzept demnach selbst Verwerfungen und webt unterschiedliche Muster in die gesellschaftliche Hierarchie. Um die Einschreibungen solcher ideeller Vorbilder in den Institutionalisierungsprozess verfolgen zu können, müssen die Paradigmen der Staatsgründung hinsichtlich der Schaffung von Prototypen des Staatsbürgers befragt werden. Dies ist von Seiten der Geschlechterforschung in der Kritik an männlichen bürgerlichen Paradigmen „moderner" Gesellschaften exemplarisch unternommen worden. Zahlreiche Analysen verweisen darauf, dass der idealle Staatsbürger nicht nur als männlich gedacht wurde, sondern dass vielmehr den bürgerlichen Gesellschaften die Geschlechtersegregation auch als ein konstituierendes Muster eingelassen war. Der idealisierte männliche Bürger war in dieser Konstellation ohne eine komplementäre weibliche Rolle nicht denkbar. 12 Idealbilder, die den Institutionen zu eigen waren, standen zwar in einem komplexen Verhältnis zu den sozialen Ungleichheiten, bildeten diese aber keineswegs unmittelbar ab. Hinsichtlich der Kreierung von Idealbildern ist insbesondere die Funktion der allgemeinen Wehrpflicht als legitimierendes Element bei der Begründung des allgemeinen männlichen Stimmrechts untersucht worden. Dieser modernen Institution lag die Vorstellung zugrunde, dass die Opferbereitschaft der Männer für die Nation ihnen einen besonderen Bürgerstatus verlieh, von dem Frauen per se ausgeschlossen waren. Der Bürger-Soldat hatte demnach einen Anspruch auf gesellschaftliche Partizipation, weil er bereit war, im Dienst für das Vaterland sein Leben zu geben. Dies begründete gleichzeitig den Ausschluss der Frauen vom Zugang zu politischen Rechten. 13 Im Zuge fortschreitender Demokratisierung kam es in Westeuropa überall zu dieser „Verknüpfung von Staatsbürgerrechten und Wehrpflicht". 14 Übertragen auf die tschechoslowakischen Verhältnisse stellt sich die Frage, inwieweit den tschechoslowakischen Legionären, dem Typus des Bürger-Soldaten folgend, eine idealisierte Vorbildfunktion im Staatsbildungsprozess zukam. Zu fragen ist, ob diese hier den Rang eines universalisierten Bürgertypus einnahmen, auf welchen Vor12 Vgl. z.B.: Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere". Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Stuttgart 1976, 3 8 3 - 3 9 3 ; Karen Hagemann, Familie - Staat - Nation. Das aufklärerische Projekt der „Bürgergesellschaft" in geschlechtlicher Perspektive, in: Hildermeier/Kocka/Conrad (Hrsg.), Europäische Zivilgesellschaft, 5 7 - 8 4 ; Charlotte Tacke, Geschlecht und Nation, in: Sophia Kemlein (Hrsg.), Geschlecht und Nationalismus in Mittel- und Osteuropa, 1848-1918. Osnabrück 2000, 1 5 - 3 2 . 13 Thomas Kühne, Der Soldat, in: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hrsg.), Der Mensch des 20. Jahrhunderts. Frankfurt a.M./New York 1999, 3 4 4 - 3 8 3 ; aus „habsburgischer" Sicht kritischer: Christa Hämmerle, Von den Geschlechtern der Kriege und des Militärs. Forschungseinblicke und Bemerkungen zu einer neuen Debatte, in: Kühne/Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte?, 2 2 9 - 2 6 2 . 14 Ute Frevert, Soldaten, Staatsbürger. Überlegungen zur historischen Konstruktion von Männlichkeit, in: Thomas Kühne (Hrsg.), Männergeschichte - Geschlechtergeschichte. Frankfurt a.M./New York 1996, 6 9 - 8 7 , hier 76.

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aussetzungen dies fußte, welche Implikationen dies für die gesellschaftlichen Hierarchisierungsmuster enthielt und wie dieses Bild schließlich mit anderen idealisierten Figuren insbesondere auf dem Feld der Sozialpolitik zusammenwirkte. Bolschewiki, „Konterrevolutionäre" und Tschechoslowaken Die Ereignisse der Anabasis und der Rückkehr der Legionäre aus Russland waren von vielen Zwischenfallen geprägt und lassen sich auch in moralischer Hinsicht nicht immer eindeutig interpretieren. Dass nicht alle Legionäre „gut" waren und dass nicht alles, was die Legionäre getan hatten, erbaulich war, hat der Diskussion in unterschiedlichen politischen Konstellationen eine besondere Brisanz gegeben. Zu den „nicht guten" Legionären zählten im Kontext der Staatsgründung besonders diejenigen, die im Bürgerkrieg zur Roten Armee oder zu den antibolschewistischen Gruppen übergelaufen waren (Letzteres war zahlenmäßig kaum von Bedeutung). 15 Denn die Direktive Masaryks lautete auf strikte Neutralität. Kampfhandlungen waren nur dann erlaubt, wenn sie zur Durchsetzung des verhandelten Abtransports der Legion unerlässlich waren. Vielfach wurde dieses Gebot jedoch in Frage gestellt. Da die Legion in Russland seit Juni 1918 formal einen Teil der alliierten Truppen unter Oberbefehl des französischen Generals Maurice Janin (1862-1946) 1 6 bildete, hätten sie sich auch der alliierten Intervention in Sibirien anschließen können, statt weiterhin auf dem Abtransport zu bestehen. 17 Die Auseinandersetzung mit den unschönen Seiten der Legionärsgeschichte verweist zugleich auf ein erfahrungs- und erinnerungsgeschichtliches Problem. „Schon am Ende des Krieges entstand eine Diskussion darüber, wie sich das tschechoslowakische Militär in Russland und in Sibirien hätte verhalten sollen." Mit diesem Satz begann der oben genannte General einen Artikel über „Die Rolle Russlands im Weltkrieg und in der tschechoslowakischen Befreiung". 1 8 Zwar waren die Diskussionen über das Verhalten der Legionäre ideologischer Natur und nach Lagern geteilt, doch sie verraten zugleich auch etwas von den Schwierigkeiten der Legionäre im Krieg und bei der Einpassung der Ereignisse in das nationale Erzählschema. An einer anderen Stelle wird Janin mit der Bemerkung zitiert, Sibirien sei „die Hölle" gewesen. Jene „Tschechoslowaken", die dort gekämpft hatten, hätten per se ein „Recht auf den besonderen Dank ihres Volkes". 19 Was genau „die Hölle" ausgemacht hat, erfahren wir nicht. Jedoch verweist dieses Wort darauf, dass die Erlebnisse in Sibirien entsetzlich gewesen sein müssen. Dies lässt sich auch mit Blick auf die Ge15

Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, 85. Zur Person vgl.: Jiri Fidler, Generálové legionàri. Brno 1999, 111-121. 17 So argumentiert z . B . Kalvoda, man hätte auf diese Art das Blatt vielleicht noch wenden können, vgl. Kalvoda, The Genesis, 4 6 6 - 6 1 0 . 18 Maurice Janin, Poznámky o úloze Ruska ve svëtové válce a ν ceskoslovenském osvobození, in: Naäe revoluce 5, 1928/29, 1-15, hier 1. 19 Josef Kudela, Svédectví generala Janina, in: Nase revoluce 6 , 1 9 2 9 / 3 0 , 2 9 - 5 4 , hier 33. 16

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schichte des russischen Bürgerkrieges vermuten, welcher von Stalinismusforschern als Ausgangspunkt einer Gewaltspirale angesehen, die im „Großen Terror" mündete. 2 0 Indes wurden die entsprechenden Kriegserlebnisse vor dem tschechoslowakischen Publikum nicht ausgebreitet. Denn die russischen Erfahrungen passten sich weder dem Gründungsmythos ein, noch war es angenehm (teilweise vielleicht sogar unmöglich), sich an sie zu erinnern. Damit entzogen sich die Zeugenschaft und/oder Teilhabe an Scharmützeln, Morden, Plünderungen und ähnlich Heikles dem Kanon der Legionärserzählungen. Allenfalls distanzierte man sich von den Gräueltaten der russischen Bürgerkriegsparteien. 21 Die Schrecken des Krieges kommen jedoch in den Legionärserzählungen implizit als Stationen auf dem Weg in die Tschechoslowakei vor. Außer den heroischen Stationen wie Zborov und der Anabasis gibt es auch solche, die die Ambivalenzen in der Legionärsgeschichte illustrieren. Von überragender Bedeutung sind in dieser Hinsicht Penza, gekoppelt an das Phänomen Svec, sowie das Schicksal des „weißen" Generals Alexander Wassiljewitsch Koltschak (tschechisch: Kolcak). Diese beiden Figuren sind zugleich Verarbeitungsformen des „bolschewistischen" und des „konterrevolutionären" Erbes der Legion. Nach der Oktoberrevolution stellte die tschechoslowakische Legion in Sibirien eine wichtige militärische Größe dar. Sie hielt große Teile der transsibirischen Eisenbahn unter ihrer Kontrolle. Gerade dies brachte ihr den Respekt der Alliierten ein. 22 Der Weg von Tscheljabinsk bis Wladiwostok, die Anabasis, war jedoch von vielen Zwischenfallen geprägt. Es kam immer wieder zu Kampfhandlungen mit der Roten Armee, die sich in ihrer Aufbauphase befand. Im Kampf gegen die „Weißen", aber auch gegen die Sozialrevolutionäre, die ihre Bastionen in Sibirien hielten, war die Idee naheliegend, die Tschechoslowaken für die Rote Armee anzuwerben. 2 3 Diese Aufgabe übernahmen die tschechoslowakischen Kommunisten in Russland. 2 4 Sie stellten den „roten" Tschechoslowaken eine baldige Heimkehr in Aussicht. Viele Legionäre waren zu diesem Zeitpunkt bereits kriegsmüde. Auf welchem Wege auch immer, der Abtransport aus Russland war wohl tatsächlich das vordringliche Bedürfnis der allermeisten. Aus diesem Grund und zum Teil aus Überzeugung ließen sich tatsächlich höchstens 5 000 Mann für die Rote Armee anwerben. Die Rückkehr in die Tschechoslowakei wurde ihnen im November 1920 möglich. 2 5 20 Stefan Plaggenborg, Gewalt und Militanz in Sowjetrußland 1917-1930, in: JbbGOE 44, 1996, H. 3, 4 0 9 - 4 5 5 . 21 Jonathan D. Smele, Civil War in Siberia. The Anti-Bolshevik Government of Admiral Kolchak, 1918-1929. Cambridge 1996, 572; Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, 105. 22 Thunig-Nittner, Die tschechslowakische Legion, 72 f. 23 Geoffrey Swain, The Origins of the Russian Civil War. London/New York 1996, 142 f. 24 Kalvoda, The Genesis, 474. 25 Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, 90.

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Als es am 28. Juni 1918 in Penza zu Kampfhandlungen zwischen der Roten Armee und der Legion kam, standen sich mit Legionären und kommunistischen Überläufern „Tschechoslowaken" auf beiden Seiten der Front gegenüber. 26 Daher ist Penza als „Bruderkrieg" in die Geschichte der Legion eingegangen. 2 7 Wie sich in Zborov regierungstreue Tschechen und Legionäre gegenseitig bekämpften, so waren es in Penza Legionäre und tschechische Kommunisten. Der Übertritt zu den Roten kam damit einer zweiten Desertion gleich, die jedoch im Gegensatz zu der aus den habsburgerischen Verbänden im neuen Staat geächtet wurde. Hier setzt nun die Erzählung von dem tragischheroischen Freitod des Oberst Svec ein. Auf den geschlossenen Angriff der Bolschewiki gegen die sibirischen „Konterrevolutionäre" reagierten die tschechoslowakischen Legionäre im Herbst 1918 mit einem geordneten Abzug. Einem ihrer profiliertesten Kommandeure, dem Oberst Josef Jiri Svec (geb. 1883), verweigerte dabei ein Regiment in Belebeji öffentlich den Gehorsam. Daraufhin erschoss er sich am 25. Oktober 1918. Seine letzten Wort sollen gelautet haben: „Ich kann die Schande nicht überleben, die unser Heer durch die Schuld der vielen hemmungslosen Fanatiker und Demagogen getroffen hat, die in sich [ . . . ] und in uns allen das Wertvollste zerschlagen [haben] - die Ehre." 2 8 Svec wurde just am Tag der Staatsgründung in Tscheljabinsk mit militärischen Würden beigesetzt. Sein Selbstmord gilt als Symbol gegen die Demoralisierung der Legion, die durch die bolschewistische Agitation hervorgerufen wurde. Kalvoda spricht gar von einer „infection". 2 9 Das Andenken an den Oberst ging nicht verloren. Es manifestierte sich zum Beispiel 1929 in einem mit großem Erfolg gespielten Theaterstück, das auch verfilmt wurde. 3 0 Ohnehin konnte nur jener (größte) Teil der Legionäre die Tugend der „Neutralität" für sich beanspruchen, der sich weder auf die Seite der Roten noch auf die der Antibolschewiken geschlagen hatte. Neutralität schien ihnen als ein Ideal, weil sie von Masaryk befohlen wurde und so einen Beweis der Loyalität darstellte. Außerdem suggerierte der Begriff, man habe sich an dem allgemeinen Gewaltausbruch nicht beteiligt. Indes war Loyalität in der Situation des russischen Bürgerkrieges weder möglich noch bot sie viele Möglichkeiten einer Heroisierung. Zudem drohte die masaryksche Direktive immer wieder in Konflikt zu den strategischen Winkelzügen der Alliierten zu geraten. Diese Dilemmata finden ihren exemplarischen Ausdruck in der Figur Kolcaks. Der alt gediente russische Admiral Koltschak war auf dem Rückweg von einer im Auftrag der provisorischen Regierung ausgeführten amerikanischen Mission, als er in Japan von der Oktoberrevolution hörte. Er trat in britischen Dienst und wurde kurz darauf Minister der Regierung der Soziales Ebd., 88f. 27

Ebd., 61. 28 Ebd., 78. 29 Kalvoda, The Genesis, 477. 30 Rudolf Medek, Plukovnik Svec. Drama o trech dëjstvich. 4. Aufl. Prag 1929.

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revolutionäre und Kadetten in Omsk. Im November 1918 beteiligte er sich sodann am Sturz derselben Regierung und errichtete eine antibolschewistische Diktatur, die von den Alliierten nur begrenzt unterstützt wurde. Als nun die Rote Armee noch im selben Monat Omsk eroberte, stellte man den ehemaligen Diktator unter den Schutz von General Janin, der zusammen mit Stefánik im Oktober 1918 in Sibirien eingetroffen war. Von der Gründung des tschechoslowakischen Staates hatten Janin und Stefánik auf dem Schiff nach Sibirien erfahren. Nun konnten sie den Legionären die Heimkehr versprechen. Besonders Stefánik erwog zwar zunächst deren Teilnahme an einer antibolschewistischen Intervention, also eine Kooperation mit Koltschak, 31 jedoch musste er bald nach seiner Ankunft bei den Truppen feststellen, dass diese nach seinen eigenen Worten „physisch und moralisch erschüttert" waren. 3 2 Nachdem der Krieg zu Hause zu Ende gegangen war, war der militärische Einsatz der Legionäre nur noch eine theoretische Option. In dieser Situation sollte Koltschak mit Hilfe der Legion aus Sibirien evakuiert werden. Indes drängten neben den Legionären tausende von Flüchtlingen und Verwundeten auf der transsibirischen Eisenbahn aus dem Land. Dass Koltschaks Wagen unter diesen Umständen direkt bei den Legionären eingereiht wurde, konnte kaum mehr als ein Zeichen der Neutralität gelten. Nach längeren Verhandlungen lieferte Janin den Admiral schließlich dem „Politischen Zentrum" in Irkutsk aus, wo er auf Geheiß der Moskauer Regierung ohne Gerichtsverhandlung erschossen wurde. 3 3 Diese Entscheidung wurde Janin später von zahlreichen Legionären angelastet und hat seiner weiteren Karriere geschadet. Sonst wäre er wohl Generalstabschef der tschechoslowakischen Armee geworden. 3 4 Der beschriebene Hergang war hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass die Legionäre nicht mehr zu kämpfen bereit waren. 3 5 Es ging ihnen primär darum, die „Politik der Schiene" zu Ende zu bringen und ihr Leben zu retten. Das erste Schiff mit Legionären verließ Wladiwostok im Januar 1919. Darauf befanden sich vor allem Invalide, Alte und Kranke. Die großen Transporte begannen erst im Winter 1919/20.36 Die Legionäre in Masaryks „kleiner Nation" Das Idealbild des Legionärs in seiner Funktion als Prototyp eines Staatsbürgers soll nun exemplarisch anhand eines Textes dargelegt werden, der das Legionärsbild aus der Sicht des Gründungspräsidenten transportierte. Es handelt sich um Karel Capeks „Gespräche mit Masaryk". Der Schriftsteller Capek, 31

Kalvoda, The Genesis, 2 7 7 - 2 7 9 , 285. Zitiert nach: Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, 81. 33 Bettina Brand, Koltschak, Alexander Wassiljewitsch, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg. 2. Aufl. Paderborn/ München/Wien/Zürich 2003, 620. 34 Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, 108 f. 35 Ebd., 108. 36 Ebd., 101. 32

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dessen „Persönlichkeit und Werk" als „Symbol nicht nur des kulturellen, sondern auch des bürgerlich öffentlichen [obcansky] Lebens der ersten demokratischen Tschechoslowakischen Republik" angesehen wird, war mit Masaryk befreundet. 3 7 Für seine „Gespräche mit M a s a r y k " zeichnete er aus d e m Gedächtnis seine Plaudereien mit dem Präsidenten auf dessen Landsitz in Topolcianky auf und ließ sie später von diesem selbst durchlesen und ergänzen. Das so entstandene Präsidentenportrait illustriert eindrücklich, welche kulturellen Leitbilder mit der Staatsgründung etabliert wurden. Das Werk erreichte zahlreiche Auflagen im In- und Ausland. Es handelt sich um eine erstklassige Inszenierung Masaryks in der Rolle des väterlichen Vordenkers und kämpferischen Kriegers. Wie in einer Herrschervita wird Masaryk als Genius dargestellt, der f ü r sein A m t prädestiniert war. 3 8 Die erzählten Geschichten werden häufig mit einem exemplarischen (ahistorischen) Verweischarakter vorgetragen. Hier sollen einige Darstellungen von Soldaten und Legionären auf ihre impliziten Hierarchisierungsmuster untersucht werden. Bei Kriegsende war der „Präsident-Befreier" 3 9 M a s a r y k schon weit über sechzig Jahre alt. Masaryk konnte während seiner Präsidentschaft Lebenserfahrung, Gelehrtheit und Weltklugheit ausspielen. Dies galt u m s o mehr, als er vor dem Krieg Professor gewesen und viel gereist w a r sowie in unterschiedlichen Ländern gelebt und gearbeitet hatte. Diese Eigenschaften des Gründungsvaters der Republik trugen ebenso wie die Idealisierung der tschechoslowakischen Legion wesentlich zur Legitimation des neu entstehenden Staates bei. Es w a r also von hoher symbolischer Bedeutung, eine urwüchsige Verbindung zwischen diesen beiden nationalen Vorbildern zu konstruieren und zu demonstrieren. Daran haben Masaryk und zahlreiche staatstragende Intellektuelle während der Ersten Republik erfolgreich gewirkt. Passend zur persönlichen U m g e b u n g , in der die Gespräche stattfanden, und zur Figur des Vater-Präsidenten pries Masaryk den „Gesprächen" zufolge die Vorzüge einer „kleinen Nation". Er meinte nicht nur, dass Leistungen einer solchen Nation einen „unermeßlichen moralischen Wert" hätten. Einen Vorzug sah der Präsident auch darin, dass „[wir] uns besser kennenlernen und intimer leben, uns mehr daheim fühlen [können]". 4 0 In den R a u m dieser kleinen und intimen Nation spann Masaryk zahlreiche familienanaloge, um die genannten Ideale gruppierte Beziehungsnetze. Diese familiäre Rhetorik schuf und verstärkte Unterschiede. Sie wies die Akteure in spezifische Funktionen, denn „intim leben" und „ sich daheim f ü h l e n " waren nicht universelle, juristische, sondern emotionale Kategorien, in denen nicht j e d e Form der Staatsbürgerschaft aufgehoben war. In ihrer spezifischen Verbindung von Macht und Fami37

Capek Karel, in: Kdo byl kdo ν nasich dëjinâch ve 20. století, Bd. 1. Prag 1998, 85-87, Zitat 85. 38 Capek, Gespräche, 206-209. 39 Jaroslav Papousek, Dr. Eduard Benes. Sein Leben. Prag 1937, 6. 40 Capek, Gespräche, 75.

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liarität begründete diese Rhetorik eine patanalistische Herrschaft. Über Masaryks Aufenthalt bei den Legionären in Russland hieß es in den „Gesprächen": Mich hatten unsere Soldaten gern, sie erkannten mich als Oberbefehlshaber an. Ich glaube, hauptsächlich deshalb, weil ich ihnen manchmal meine Meinung sagte - beim Militär gehört es dazu, daß die Menschen zueinander aufrichtig sind - und vielleicht auch, weil ich mich nicht fürchtete. Die Jungen erzählten sich ganze Legenden über mich. Sie behaupteten, daß ich mich vor nichts fürchtete. Indessen habe ich wiederholt Angst gehabt, aber mir nichts anmerken lassen; gerade ihretwegen ging ich in den Straßen herum, wenn geschossen wurde. Sie sahen in mir nichts Professorales. Gern war ich mit ihnen zusammen. Ich beobachtete viel Gemeinsames zwischen Soldaten und Kindern. Die Soldaten bedürfen ebenso wie Kinder der Gerechtigkeit, der Unmittelbarkeit, der Offenheit. Weil sie selbst bis in den Tod gehorsam sein müssen, muß ihnen derjenige, dem sie gehorchen, wirklich und ohne Falsch imponieren. [ . . . ] Ich liebe die Soldaten, wenn ich auch den Krieg nicht liebe. 41

Zwar sprach Masaryk von Soldaten allgemein, jedoch meinte er die Legionäre. Dies entspricht dem paradigmatischen Charakter „des Legionärs" für die Vorstellung vom „demokratischen" Soldaten der Republik. Als liebenswerter und durch demonstrative Furchtlosigkeit imponierender Oberbefehlshaber drückte Masaryk den Soldaten-Kindern seine Zuneigung aus. Diese SoldatenKinder stellte er gleichzeitig als formbare Träger der zukünftigen Republik dar. In einer früheren Textpassage ließ sich der Präsident am Beispiel amerikanischer Kinder über die Vorzüge der Republik aus: Ein Kind in Amerika ist freier als in Europa, ist naiver und schlichter im Verkehr sowohl mit anderen Kindern als auch mit den Erwachsenen; es fürchtet die Erwachsenen nicht, es sieht, daß auch sie untereinander unbefangen sind. Das ist der Einfluß der Republik und der Freiheit; die Menschen lügen nicht [.. ,]. 42

Die Soldaten waren also der Darstellung gemäß in ihrem Bedürfnis nach Offenheit den amerikanischen Kindern ähnlich. Sie waren Kinder der Republik. Wie durch die Freiheit so erschienen sie auch durch das Beispiel Masaryks formbar, der „ohne Falsch imponieren" konnte. Durch eine solche Präsentation ist die normative Aussage des Textes verstärkt. Masaryk wird nämlich in zwei Rollen als beispielhaft dargestellt, erstens als tatsächliches Vorbild und zweitens als jemand, der seinerseits durch positive Beispiele geformt wurde. In seiner Einleitung hatte Capek den Präsidenten bereits als einen konsequent ehrlichen Menschen charakterisiert. „Wahrhaftigkeit und Kompromißfeindlichkeit" waren laut Masaryk wiederum hervorragende Eigenschaften seiner amerikanischen Ehefrau Charlotte (auch Karla oder Charlie) Garrigue Masaryková (1850-1923) und „übten einen großen erzieherischen Einfluß" auf ihn aus. 43 Masaryk bot sich also in der Rolle des Erzoge4

' Ebd., 249. Ebd., 40. 43 Ebd., 121; Babara K. Reinfeld, Charlotte Garrigue Masaryk, 1850-1923, in: Czechoslovak and Central European Journal 8, 1989, 9 0 - 1 0 3 ; vgl. auch den Nachruf auf Masaryková in: Nase doba 30, 1922/23, 449f. 42

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nen den Kinder-Soldaten und den übrigen Angehörigen der „kleinen Nation" als Identifikationsfigur an. Seine Ehefrau verkörperte die USA als demokratisches Vorbild und zudem die Frauen als moralisches Vorbild. Über die Rolle der Frauen in der demokratischen Gesellschaft äußerte sich der durch seine Ehefrau Erzogene ebenfalls. In diesem Zusammenhang rief der Demokrat aus: „Wie können die Menschen überhaupt nur die Frage aufwerfen, ob das Weib dem Manne gleichwertig sei!" 4 4 Der Moralist und Evolutionist legte dar: Die Unterschätzung der Frauen zeugt von einer polygamen Gesellschaft. Wir leben tatsächlich noch in der Vielweiberei. Der Mann der Urzeit kümmerte sich nicht um die Kinder [ . . . ] . Aber er war ein roher Jäger und Krieger, der dafür das Leben der Familie mit seinem Leben schützte. Heute sind wir zivilisiert und trotzdem erhält sich eine grobe Polygamie. [ . . . ] Man bedenke, welche doppelte Geschlechtsmoral für Männer und Frauen gilt und wie das eine Ehe entwertet. [ . . . ] Ich will [ . . . ] nicht sagen, daß alle Frauen Genien oder Engel sind; im ganzen stehen sie mit den Männern auf einer Entwicklungsstufe; sie haben jedoch den Vorzug, daß sie sich durch das Leben und seine Pflichten reiner erhalten als die Männer. Sie trinken nicht soviel, rauchen nicht soviel, bummeln nicht - darum suchen so viele Männer ihre Rettung in der Ehe. 4 5

Hier blieb also die Frau ein Geschlechtswesen (definiert im Verhältnis zum Mann), das rein erhalten und schutzbedürftig war. Dieses Frauenbild war komplementär zum Soldatenbild: Soldaten wird es, in irgendeiner Form, vielleicht immer, jedenfalls noch lange geben. Ich meine: Die Nation braucht die geschulte Bereitschaft junger, mutiger und abgehärteter Männer, die jederzeit bei großen Katastrophen zur Arbeit dirigiert werden können und zur Verteidigung bereitstehen. 4 6

Der Soldat wurde an dieser Stelle explizit als Mann angesprochen. Als solcher musste er zu Opfern für die Nation bereitstehen, bedurfte aber im zivilen Leben der Rettung durch die Ehe. Ganz in Analogie zur Geschlechterordnung des westlichen Bürgertums wurden Reinheit, Schutzbedürftigkeit und ideelle Jungfräulichkeit der Frauen zur Legitimierung militärischer Herrschaftsausübung benutzt. 4 7 Der Text transportiert damit ein männliches Idealbild, das an die militärische Legionärstradition angeschlossen zum Imperativ eines neuen Soldatenbildes und zur Übergangsfigur auf dem Weg in das zivile Leben der demokratischen Republik wurde. In dieser Hinsicht korrespondiert es mit dem Topos des Heimkehrenden. Kultivierte Selbstbilder Das durch den Gründungspräsidenten kanonisierte Soldaten- und Legionärsbild korrespondierte mit anderen öffentlichen Darstellungen. Die Vorstellung 44

Capek, Gespräche, 133. « Ebd., 135. Ebd., 273. 47 Kathrin Hoffmann-Curtius, Opfermodelle am Altar des Vaterlandes seit der Französischen Revolution, in: Gudrun Kohn-Waechter, Schrift der Flammen. Opfermythen und Weiblichkeitsentwürfe im 20. Jahrhundert. Berlin 1991, 5 7 - 9 2 .

2.1 Heldenbilder

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vom Legionär als demokratischem Vorkämpfer fungierte als Folie bei der Etablierung männlicher Vorbilder im Prozess staatspolitischer Institutionalisierung. In der Ersten Republik wurde dieses Bild wesentlich von Legionären selbst geprägt, die sich in gesellschaftlich exponierten Stellungen professionell mit der Pflege ihrer Tradition beschäftigten und deren Überlieferungen das Geschichtsbild bis heute prägen. Eine herausragende Stellung nahm in dieser Hinsicht Frantisek Steidler (1887-1974) ein. Der promovierte Geschichtswissenschaftler war bis 1914 als Gymnasialprofessor in Pribram tätig gewesen, bevor er sich nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges direkt der Legion in Russland anschloss. 1920 zurückgekehrt, war er zunächst wieder im Schuldienst tätig, bis er 1926 Chef des Památnik odboje (Gedenkstätte des Widerstandes) und 1940 Abteilungsleiter beim Archiv des Innenministeriums wurde. Aus seiner Feder stammen zahlreiche Monographien, Aufsätze und Broschüren über die tschechoslowakische Legion, die wegen ihrer relativen Objektivität vielfach in wissenschaftlichen Publikationen zitiert worden sind. 48 Neben Faktentreue zeichneten sich Steidlers Texte dadurch aus, dass sie die Legionäre als Vorkämpfer der Republik und als vorbildliche Tschechoslowaken in die Nationalhistoriographie einschrieben. Dabei schuf Steidler eine Verbindung der militärischen Auslandsaktion mit den tschechischen Traditionen einerseits und dem demokratischen Umbruch andererseits. Er bediente sich einer Rhetorik, die an die Auslandsrevolution anschloss. Im Rückgriff auf die Hussitenkriege und die nationale Turnerbewegung des 19. Jahrhunderts, Sokol, sprach er den Legionären einen „sokolistischen und hussitischen Geist" zu, der sie dazu gebracht habe, sich freiwillig in den Dienst der „eigenen" Armee zu begeben und dort unabhängig von ihrer religiösen und politischen Überzeugung gemeinsam für den tschechoslowakischen Staat zu kämpfen. In dieser Hinsicht sah Steidler in ihnen ein „schönes Beispiel für das ganze Volk".49 Das Volk fungierte hier in der Verlängerung des Legionärsparadigmas als Sinnbild für die Einmütigkeit bei der Erlangung des den Individuen übergeordneten Interesses. Dem Legionär als dessen Vorbild erwuchs hiermit eine paradigmatische Bedeutung, die jener der Soldaten für die westlichen bürgerlichen Demokratien durchaus ähnlich war. Bei der Popularisierung eines national-patriotischen demokratischen Legionärsmythos spielte außerdem der bereits erwähnte Publizist Medek eine herausragende Rolle. 50 Der ehemalige Lehrer war 1915 als österreichischer Offizier zur russischen Armee übergelaufen. Ab 1916 war Medek bei den Legionären, wo er Chef der Militärverwaltung wurde. Mit zahlreichen Orden ausgezeichnet, war er ab 1920 Mitbegründer und Leiter des Památnik národního osvobození (Gedenkstätte der nationalen Befreiung). Diese Institution war 48

Z.B. Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, XVI, zu Steidler: 244. Frantisek Steidler, Ideovy a vojensky vyznam ceskoslovenskych legii. Brno 1924. 3. 18f„ 29. 50 Zur Person: Ceskoslovensko-biografie, 1937, o.S. 49

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ein zentraler Ort der Erinnerung an den Freiheitskampf. Sie beherbergte ein Archiv und eine Bibliothek. Darüber hinaus war Medek an der Planung einer zentralen Gedenkstätte der Befreiung auf dem nach dem unbesiegten Hussitenführer benannten Zizka-Hügel (auch: Vitkov/Veitsberg) maßgeblich beteiligt. Hier sollte neben einem Denkmal für Jan Zizka (1360-1424) eine Grabstätte für national bedeutsame Personen sowie ein Grabmal des Unbekannten Soldaten (Legionärs) entstehen. Die Grundsteinlegung für die Gedenkstätte fand am 8. November 1928 in einem feierlichen Staatsakt unter Anwesenheit des Präsidenten, zahlreicher Legionäre und Sokolisten am Jahrestag der Schlacht von Zborov und eingebettet in die Jubiläumsfeiern zum zehnjährigen Bestehen der Republik statt. 51 Eingeweiht wurde der Komplex jedoch erst 1950.52 Erst dann wurde die Zizka-Statue aufgestellt, die eine der größten Bronzestatuen Europas ist. Entgegen der ursprünglichen Planung wurde in der mit Verspätung eingeweihten Gedenkstätte nun nicht Tomás G. Masaryk, sondern Klement Gottwald 5 3 beigesetzt. Medek verfasste sowohl literarische als auch populärwissenschaftliche Texte. Ein Großteil seines Werkes war politischen und kulturellen Fragen der tschechoslowakischen Nation gewidmet. 5 4 In einer 1929 für ein englisches Publikum erschienen Abhandlung stellte er eine direkte Verbindung zwischen der Stellung der Legion im russischen Bürgerkrieg und ihrer Rolle als Vorkämpfer der Demokratie her: The demoralisation of the Russian army did not effect [the Czechoslovak legions]. It did not succumb to the Russian revolutionary chaos and disorganisation. It became an island in the storm, an island of discipline and order in the wild confusion [...]. In the face of Russian anarchy the Czechoslovaks involved their ideal of an independent, coherent and creative democratic state, found on the justice of all, which was to be an important factor of peace [ . . . ] in Central Europe, and a bulwark against the mania of imperial expansion. 55

Auch hier findet sich die schon im Kontext des Staatsbegriffes diskutierte Idee, der demokratische Staat sei auf einer ,justice of all" gegründet. Diese Idee hielt Medek in einer intentionalen Deutung ex post dem revolutionären Chaos und damit implizit auch dem Bolschewismus entgegen. Das Festhalten an der Ordnung war damit das entscheidende Element, das die Legion vom Chaos des russischen Bürgerkriegs und - auch wenn dies nicht explizit gesagt wird - von seiner entgrenzten Gewaltanwendung symbolisch wie auch zusehends räumlich distanzierte. In dieser Konzeption tritt zugleich zutage, wie weit die nationalen tschechoslowakischen Erzählungen über den Krieg von den Erfahrungen der Kriegsteilnehmer entfernt blieben, selbst wenn sie auf der „richtigen" Seite 51

www.památník-vítkov.cz, eingesehen am 9. 11.2005. Zdenëk Hojda/Jirí Pokorny, Pomníky a zapomníky. 2. Aufl. Prag 1997, 160f. 53 Die Einbalsamierung des 1953 verstorbenen sozialistischen Staatschefs misslang jedoch. Die Leiche wurde 1962 entfernt und verbrannt. 54 Jaroslav Kurte, Slovnik soudobyeh ceskych spisovatelü. Krásné písemnictví ν letech 1918-1945, Bd. 1. Prag 1945, 5 4 2 - 5 4 7 . 55 Rudolf Medek, The Czechoslovak Anabasis across Russia and Siberia. London 1929, 3. 52

2.1 Heldenbilder

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gekämpft hatten. Nichtsdestoweniger waren diese Deutungen als Säulen nationalstaatlicher Sinnstiftung überaus wichtig. Diese Funktion erfüllten sie, obwohl die Legionäre in der Tagespolitik nicht geschlossen auftraten und ihre Verbände das ganze politische Spektrum abdeckten. Eindrücklich illustriert dies das Beispiel zweier bekannter Legionäre. Der Schriftsteller und Anarchist Jaroslav Hasek ist als Autor der „Abenteuer des braven Soldaten Schwejk" bekannt geworden. Als Legionär war er an der Gründung der tschechoslowakischen kommunistischen Partei in Russland und der Anwerbung von Legionären für die Rote Armee beteiligt. Der Faschist General Rudolf Gajda war in Sibirien Kommandeur eines Streckenabschnitts der Eisenbahn und arbeitete zeitweise eng mit Koltschak zusammen. 1926 wurde er wegen seiner dubiosen politischen Machenschaften seiner Funktionen in der tschechoslowakischen Armee enthoben. 5 6 Beide Männer sind in ihrer politischen Ausrichtung keineswegs exemplarisch. Jedoch spielten sie wie zahlreiche andere Legionäre eine gewisse Rolle in der Republik. In ihrer jeweils spezifischen Stellung waren sie wie andere an der Kreierung und Propagierung des Legionärsbildes beteiligt. 57 Dies gilt für Hasek auch, obwohl er nach der weiter unten zitierten juristischen Definition gar nicht als Legionär anerkannt wurde. Seine Wirkmacht war daher allerdings eher literarisch als institutionell. Die genannten Randfiguren unterstreichen einen wichtigen Zusammenhang. Die Legionäre stellten in der Republik einen großen Teil der gesellschaftlichen Elite 58 und hatten deshalb viele Möglichkeiten, ihre Kriegsdeutungen zu popularisieren. Das bedeutet weder, dass alle Legionäre eine gesicherte soziale Position hatten, noch dass sie ein einmütiger politischer Wille verband. Aber es verweist darauf, dass ihre Verbände und Lobbyisten schwerwiegende Argumente in die Waagschale werfen konnten, wenn es darum ging, in Legionärsgesetzen soziale und zivile Sonderrechte zu formulieren. Die Legionärsgesetze In seinem Artikel „Legionárská republika?" stellt der tschechische Sozial- und Militärhistoriker Ivan Sedivy die Frage, ob die Legionäre für ihren „Dienst" während des Krieges nachträglich von der Republik „bezahlt" worden seien. Obwohl er eine eindeutige Antwort vermeidet, scheint seine Aufzählung verschiedener sozialpolitischer Vergünstigungen für diese Personengruppe doch den Eindruck zu bestätigen, dass sie deutlich privilegiert war. Diesen Umstand 56 Zu Hasek: Kdo byl kdo ν nasich dèjinâch ν 20. století, Bd. 1. Praß 1998, 198-199; zu Gajda: Ebd., 169-170; Ivan Sedivy, Gajdova aféra 1926-1928, in: Cesky casopis historicky 92, 1994, 7 3 2 - 7 5 7 . 57 Stegmann, Soldaten und Bürger, 25, 38f. 58 Vgl. Martin Kucera, Vyznamni legionàri ν roce 1938 (Prispêvek k vyzkumu spolecenskych élit mezivàlecného Ceskoslovenska), in: Ivana Koutská/Frantisek Svátek (Hrsg.), Politické elity ν Ceskoslovensku 1918-1948. Sborník, Prag 1994, 81-146; Zdenëk Valis, Osobnosti prvního a druhého ceskoslovenského odboje (1914-1918 a 1938-1945), in: Gebhart/Sedivy (Hrsg.), Ceská spolecnost, 137-241.

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

erklärt der Autor mit dem Hinweis auf die schwierige Situation, in der sich viele zurückkehrende Legionäre befanden, und deutet die Legionärsgesetze als eine Hilfe bei der Eingliederung in den „zivilen Alltag". 5 9 Damit rekurriert er auf den Umstand, dass die Legionäre nach einer langen Zeit der Abwesenheit und des K a m p f e s in die Heimat zurückkehrten und dort eine schwierige soziale Situation vorfanden. Sedivy wiederholt damit zentrale Topoi der zeitgenössischen Diskussion, die in der Figur des Zurückkehrenden ein Symbol f ü r die Verschmelzung von Auslandsrevolution und Heimat sah. Diese Argumentation ist aber nur vor dem Hintergrund der geschilderten Gründungsmythen verständlich, denn die Situation der aus dem Krieg zurückkehrenden Angehörigen der habsburgerischen A r m e e war vermutlich h ä u f i g kaum einfacher. Selbst wenn sie früher z u r ü c k k a m e n und/oder weniger belastende Kriegserlebnisse hinter sich hatten, so war die soziale Situation f ü r die allermeisten „ H e i m k e h r e n d e n " sehr schwierig. Die Tatsache, dass zahlreiche Legionäre der gesellschaftlichen Elite gebildeter Tschechen angehörten, wurde daher durch die Staatsgründungspolitik betont. Sedivy hebt in einer neueren Veröffentlichung hervor, die Legionäre seien in einem weit geringeren Maße hoch gebildete loyale Staatsdiener gewesen, als dies bislang vermutet wurde. Vielmehr hätten sich viele Legionäre im sozialistischen Lager gesammelt. 6 0 Die Legionäre haben außerdem laut Sedivy ihre sozialen Rechte massiv eingefordert. 6 1 Besonders ihr Anteil am A u f b a u und an der Gestaltung der tschechoslowakischen A r m e e wäre geringer als bislang veranschlagt. Z u d e m konnte man in den Legionären durchaus einen Machtfaktor im Gefüge der j u n g e n Republik erblicken, dessen Radikalisierungspotenziale es e i n z u d ä m m e n galt. 6 2 Dies alles spricht j e d o c h nicht gegen die Einsicht, dass ein ideelles Legionärsbild in der staatlichen Institutionalisierungspolitik als Vorbild fungierte. Sedivys sozialhistorischer Befund gibt vielleicht eine weitere Erklärung dafür, w a r u m das Paradigma vom Legionär als heldenhaftem Vorkämpfer der Republik gerade im sozialpolitischen Diskurs mächtig war. Hinter dem ideell gezeichneten Bild verbarg sich vermutlich auch ein furchtsamer Respekt vor den Kämpfern. 6 3 A r m u t unter den Legionären erschien vor dem Hintergrund ihrer besonderen Verdienste f ü r die Republik als ein Skandal. 6 4 Die Kanzlei der tschechoslowakischen Legion war beim Verteidigungsministerium angesiedelt. Hier wurden zahlreiche Gesetzesvorlagen erarbeitet.

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Ivan Sedivy, Legionárská republika?, 158. Sedivy, Zur Loyalität der Legionäre, 144-148. Ebd., 149f. 62 Alexander, Die Rolle der Legionäre in der Ersten Republik. 63 Durch Vergünstigungen gelang es auch, das Gefahrenpotenzial auszugleichen. Die sozialpolitischen Maßnahmen zugunsten der Legionäre hatten also eine integrierende Funktion, vgl.: Zuckert, Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität, 86f., 100. 64 Vgl. z.B.: Josef Fischer, Pripad Petra Korcáka. Vypravování o zoufalé bidé legionáre. Brno 1928. 60

2.1 Heldenbilder

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Als wichtigste Texte in der Legionärsgesetzgebung gelten die Gesetze Nr. 282 und Nr. 462 von 1919. Letzteres legte eine gesetzliche Definition des Legionärsbegriffes fest: Ein Legionär ist jeder Freiwillige der tschechoslowakischen [revolutionären Auslands-]Armee, der auf der Grundlage einer von einem zugehörigen Organ oder einem Stellvertreter des tschechoslowakischen Nationalrates in Paris oder einer ihrer weiteren Zweigstellen durchgeführten A n m e l d u n g bis zum 28. Oktober 1918 in diese eingegliedert wurde, und das völlig freiwillig [ . . . ] , und am Tag des Umsturzes, das heißt am 28. Oktober 1918, tatsächlich gemäß seiner Dienstanweisung Dienst versehen hat oder der glaubwürdig nachweisen kann, dass er aus Gründen, die von seinen Kräften und seinem Willen unabhängig waren, an besagtem Tag [ . . . ] nicht anwesend sein konnte. 6 5

Solche Legionäre bekamen ihre „Dienstjahre" bei der Legion bei der Vergabe öffentlicher Stellen angerechnet und wurden im Staatsdienst bevorzugt eingestellt. Gesetz Nr. 282 stellte Vergünstigungen bei der Beförderung und Bezahlung in öffentlichen Ämtern in Aussicht. 66 Seit dem 22. Juni 1919 wurden Legionäre bevorzugt im Schuldienst eingestellt. 67 Schon im April 1919 war ein umfangreiches Hilfsprogramm für die Familien von Legionären aufgelegt worden. 6 8 Bei der Durchführung der Bodenreform der Jahre 1920/21 wurden Legionäre bevorzugt behandelt. 6 9 Dies funktionierte besonders durch die Subventionierung der Kolonisationsprogramme von Legionsvereinigungen. 7 0 Vor dem geschilderten Hintergrund nahmen auch die Legionärsinvaliden eine bevorzugte Stellung ein. Der Zugang zu öffentlichen Ämtern war für sie wesentlich leichter als für andere Kriegsinvaliden. Außerdem fanden sie in den reich subventionierten Legionärsvereinigungen zuverlässige Unterstützung, sei es in Form zusätzlicher Geld- und Sachleistungen, sei es beim Zugang zu Privilegien. Mit einem Erlass vom 15. Mai 1922 wurde die Kompetenz für die Legionärsinvaliden dem Ministerium für Nationale Verteidigung übertragen, sofern sie ihre Verletzung im Dienste der Legion erlitten hatten. Für eine Übergangszeit blieb jedoch das Ministerium für Sozialfürsorge weiterhin zuständig. 71 Bemerkenswert ist, wie explizit die gesetzliche Legionärsdefinition auf die Freiwilligkeit des Dienstes in der Legionärsarmee sowie auf den Tag des Umsturzes ausgerichtet war. Die Beteiligung an der revolutionären Errichtung des Staates und nicht die Teilhabe am Krieg galt hier als Argument der Bevor65

Zitiert nach: Sedivy, Legionárská republika?, 160. Ebd., 159. Resolution der 66. Sitzung der Nationalversammlung, bei: MSP, K.. 215. Resolution der 25. Sitzung bei: MSP, K. 215, Nr. 4 5 4 4 ; vgl. auch: MSP, K. 215, Nr. 10768, 1919. 69 Zur Bodenreform vgl.: Karm'k, Ceské z e m ë , Bd. 1, 4 6 1 - 4 7 0 . 70 Sedivy, Legionárská republika?, 172f. 71 Jan Svoboda, Prírucka válecného p o s k o z e n c e c e s k o s l o v e n s k é h o . Soubor zákonú, narízení a v y n o s ü ν péci o válecné p o s k o z e n c e se vzorci podání a zádostí. Brno 1923, 347; MSP, K. 270. 66 67

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

zugung. Die Heroisierung des freiwilligen Opfers für das Vaterland war ein deutliches Abgrenzungsmerkmal vom gewöhnlichen gehorsamspflichtigen Soldaten. Gehorsam als militärisches Urprinzip spielte offenbar für das Verständnis der Legion in der Zwischenkriegszeit eine untergeordnete Rolle. 72 Dagegen scheint das, was der Militärsoziologe Böckling bezüglich militärischer Normen als „das ,ganz andere' von Familie, Werkstatt und Büro" beschreibt, nämlich die Möglichkeit, den „Zwängen des zivilen Alltags wenigstens fur eine Zeitlang zu entkommen" 7 3 , in besonderer Weise die Anziehungskraft der Legion ausgemacht zu haben. Als „Deserteursarmee" wurde die Legion eher mit Revolutionsgeist und Abenteuerlust verbunden als mit Untertänigkeit und blindem Gehorsam. Für letzteren stand die habsburgerische Armee, gegen deren Organisation, Mittel und Ziele die Legion angetreten war. Mit der Konzentration auf den Tag des Umsturzes war zugleich ausgeschlossen, dass auch solche Überläufer in den Genuss der Vergünstigungen kamen, die sich der Roten Armee oder den „Konterrevolutionären" angeschlossen hatten und damit die Basis des masarykschen Grundkonsens verlassen hatten. Auch die Mitglieder der erst nach dem Gründungstag ausgehobenen domobrana waren nach dieser Definition keine Legionäre. Ebenso gehörten jene „tschechoslowakischen" Deutsche und Magyaren, die sich erst nach dem 28. Oktober vermutlich aus pragmatischen Gründen der „russischen" Legion angeschlossen hatten, nicht dazu. 74 Wie am Beispiel der Texte von Capek, Steidler und Medek gezeigt wurde, personifizierte der Legionär den Übergang von einem traditionellen Gestern zu einem revolutionär errungenen demokratischen Heute. In dieser Funktion repräsentierte er einen Prototyp, der für die nationalstaatliche Institutionalisierung in zweierlei Hinsicht konstitutiv wurde. Einerseits galt er als staatsbürgerliches Vorbild. Andererseits besetzten viele Legionäre zentrale Positionen in der Republik und prägten deren Institutionen somit persönlich. Dies drückte sich auch in der Legionärsgesetzgebung aus. Die im Staatsdienst eingestellten Legionäre kamen nicht nur beruflich unter. Sie übten auch administrative Macht aus. Besonders großen Einfluss hatten sie im Schuldienst, in der Armee und im Kulturbetrieb. Der neu errichtete Staat war dadurch auch vom Korpsgeist und der Patronage der Legionäre geprägt. Was die paradigmatische Wirkung des Legionärsbildes betrifft, kann zusammenfassend festgestellt werden, dass es einen universellen männlichen Prototyp kreierte. Der Legionär war darüber hinaus ein Tschechoslowake im oben beschriebenen Sinne einer tschechoslowakischen Gemeinschaft.

12

Vgl. auch Stegmann, Soldaten und Bürger, 32f. Ulrich Böckling, Disziplin. Soziologie und Geschichte militärischer Gehorsamsproduktion. München 1997, 9. 74 Vgl.: Thunig-Nittner, Die tschechoslowakische Legion, 96. 73

2.2 Vorbilder - Opferbilder

81

2.2 Vorbilder - Opferbilder: Einschreibungen in den sozialpolitischen Institutionalisierungsprozess Vor dem Hintergrund des skizzierten Legionärsparadigmas wird im Folgenden am Beispiel der Sozialpolitik der Frage nachgegangen, welche Implikationen die am Ende des Ersten Weltkrieges kreierten Helden- und Opferbilder für die Definition von Staatsbürgerschaft hatten. Besonderes Augenmerk liegt auf den Deutungsinstanzen, die bei der Ausgestaltung von Sozialpolitik die Praxis prägten, insbesondere auf dem Minsterium für Sozialfürsorge. Diskutiert wird, welcher Stellenwert der Sozialpolitik für die Legitimierung des neuen Staates zukam. Zunächst geht es um eine Einschätzung der tschechoslowakischen Politik im Lichte der Wohlfahrtsstaatsforschung. Untersucht werden zwei Politikbereiche, die die Kriegsgeschädigtenpolitik vorprägten, nämlich die Jugendfürsorge und das Sozialversicherungswesen. In Anlehnung an neuere Forschungen zum Wohlfahrtsstaat wird gefragt, inwieweit gerade das Sozialversicherungswesen am Prototyp des Arbeiters ausgerichtet war. Der männliche lohnabhängige Arbeiter stellt sich als eine Figur dar, die im Kriegsgeschädigtendiskurs idealtypisch neben die Legionärsfigur trat.

2.2.1 Das Ministerium für

Sozialfürsorge

Der Begriff der Gerechtigkeit, der schon in den juristischen Texten zur Staatsgründung zentral war, bekam in der Ausformung des Sozialstaates eine neue Konnotation. Unter Gerechtigkeit wurde nunmehr nicht nur die Gleichbehandlung in rechtlicher Perspektive, sondern auch der Zugang zu sozialen Rechten verstanden. Wie stark der Zusammenhang zwischen Krieg, Nationsgründung und sozialen Rechten beziehungsweise Forderungen die Positionen der politischen Akteure prägte, belegt auch folgendes - laut Sedivy berühmtes - Zitat des Finanzministers und Nationaldemokraten Alois Rasin vom 10. Dezember 1922: Sobald Sie sich ein wenig umsehen, merken Sie, dass auch die Menschen, die ihr Haupt unzweifelhaft mit Ruhm bedeckt haben, in einen freien, jungen, in Nachkriegsschwierigkeiten befindlichen Staat gekommen sind, die Hand ausgestreckt haben und sagten: ,Wir haben für Dich gekämpft, bezahle! Bezahle bar, bezahle mit Vorteilen, mit Privilegien in der freien, gleichberechtigten, demokratischen Republik'. Ich behaupte, dass alle diese Leute, wer auch immer sie sind, dem ersten größten Prinzip untreu wurden, dem Prinzip, auf dem unser Volk ruhte und das ihm auch die Freiheit brachte, dass das, was man für das Volk macht, nicht bezahlt wird. 7 5

Diese Äußerung haben die Legionäre als gegen sich gerichtet aufgefasst und bekämpften sie um ihrer „Legionärsehre" willen. 76 Sie könnte sich jedoch ebenso auf Kriegsgeschädigte bezogen haben. Entscheidend scheint, dass der 75 76

Zitiert nach: Sedivi\ Ebd.

Zur Loyalität der Legionäre, 151.

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

Finanzminister die Schnittstelle zwischen dem für den ,jungen Staat" kämpfenden „Volk" und den in der „Republik" agierenden „Leuten" als eine sozialpolitische beschreibt. „Große Prinzipien" einerseits und staatliche Verteilungsaufgaben andererseits geraten hier in einen Zusammenhang, den eben nicht nur „die Leute" mit den „ausgestreckten Händen" herstellten, sondern der auch der unmittelbaren Nachkriegspolitik inhärent war. Eine zentrale Position für die Etablierung und Umsetzung demokratischer sozialer Rechte hatte das Ministerium für Sozialfürsorge. Der Sozialminister war - im Gegensatz zum Finanzminister - qua Amt der höchste staatliche Anwalt der Bedürftigen und wurde als solcher mit deren Schicksal konfrontiert. Das Ministerium für Sozialfürsorge entstand als eine Institution des tschechoslowakischen Staates am 2. November 1918 und zwar auf der Grundlage von Vorbereitungen der österreichischen Verwaltung seit Herbst 1917. Das Ministerium als solches blickte damit auf eine sehr kurze Vorgeschichte zurück. 7 7 Es inkorporierte jedoch verschiedene ältere Abteilungen und definierte seine Arbeit entlang bestehenden Gesetzen. Laut Angaben des ersten Sozialministers Lev Winter (1876-1936) war bei der Regierungsbildung unstrittig, dass das Sozialressort den Sozialdemokraten zufallen sollte. 78 Bis zur Zerschlagung des tschechoslowakischen Staates nach dem Münchner Abkommen vom September 1938 waren alle Minister für Sozialfürsorge Anhänger dieser Partei. 79 Das Amt bekleidete vom November 1918 bis September 1920 Lev Winter, von September 1920 bis September 1921 Josef Gruber, vom September 1921 bis Dezember 1925 Gustav Habrman, vom Dezember 1925 bis März 1926 wieder Lev Winter, vom März 1926 bis Oktober 1926 Josef Schieszl, vom Oktober 1926 bis Dezember 1929 Jan Srámek, vom Dezember 1929 bis Februar 1934 Ludwig Czech (einer von zwei Ministern der deutschen Sozialdemokratischen Partei), vom Februar 1934 bis Juli 1935 Alfred Meissner und vom Juni 1935 bis September 1938 Jaromír Necas. 8 0 Aufgabe der Sozialpolitik war in der Auffassung der tschechoslowakischen Sozialdemokraten die Herstellung von Gerechtigkeit zwischen den gesellschaftlichen Klassen. 81 Damit galt sie nicht mehr als Ausdruck der Mildtätigkeit, sondern als Politik, die (im Sinne der Herstellung von Produktivität) auf das Ziel der „gesellschaftlichen Zweckmäßigkeit" ausgerichtet war. 82 Auch hier argumentierte die demokratische Rhetorik mit einem abstrakten und ideellen Ganzen, in dem der Einzelne in konkreten Rollen und Situationen zwar nicht aufging, gleichwohl aber semantisch der Gemeinschaft paradigmatisch eingelassen war. Instrument der Sozialpolitik war daher neben der Sozialfürsorge eine regulie77 Národní archiv ν Praze, Státní ústrední archiv, Inventár411: Ministerstvo sociální péòe, 1918-1951, Prag 1954-1961, I; Sociální revue 4, 1923, 465. 78 Sociální revue 7, 1926, 373. 79 Národní archiv ν Praze, Inventár 411, 1. 80 Vgl. Kárnik, Ceské zemë, Bd. 3, 6 5 3 - 6 6 3 . 81 Sociální revue 4, 1923, 4. 82 Deyl, Sociální vyvoj, 25.

2.2 Vorbilder - Opferbilder

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rende Wirtschaftspolitik. Wirtschaft war in dieser Auslegung kein Selbstzweck, sondern sie galt als die Bedingung von Wohlstand, dessen Verteilung, wo dies politisch notwenig schien, dem Staat oblag (zum Beispiel mittels Lohnpolitik oder Mieterschutz). So ist Masaryks Satz aus der „Weltrevolution" zu verstehen, der 1935 einer Reflexion über die Sozialpolitik vorangestellt wurde: „Das Sozialrecht wird nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich und sozial sein." 83 Die Abteilungen des Ministeriums untergliederten sich bis Ende 1920 gemäß der österreichischen Tradition der Reihe nach in Zahlen wie folgt: Jugendfürsorge (1), Invalidenfürsorge, Baufürsorge, Konsumgenossenschaften (2), Arbeiterschutz, Arbeitsvermittlung, Gewerbeinspektion und Sozialversicherung (3). 1920 folgten einige Änderungen. Die Abteilungen wurden alphabethisch gereiht: Sozialfürsorge (A), Kriegsgeschädigtenfiürsorge (B), Baufursorge (C), Gesetzgebungsangelegenheiten im Ressort Arbeiterfursorge, Konsumgenossenschaftsfürsorge, Arbeitslöhne (D), Arbeiterproduktion (E), Sozialversicherung (F), zentrale Gewerbeinspektion (G). In den nächsten Jahren wurden Abteilung A und Β zur Abteilung I „Sozialfürsorge für Personen, die auf öffentliche Hilfe und Schutz angewiesen sind", Abteilung C zu Abteilung II umgewandelt und die Abteilungen D, E und G zu Abteilung III „Allgemeine Sozialpolitik" zusammengefasst. Abteilung F wurde zu Abteilung IV, Abteilung G vermutlich ausgelagert. Abteilung II, III und IV blieben bis 1938 unverändert. Abteilung I wurde differenziert, so dass unter anderem eine neue Abteilung V für Kriegsgeschädigtenfürsorge entstand. 84 Laut Angaben von Houser erschwerten zahlreiche Kompetenzstreitigkeiten die Arbeit der einzelnen Abteilungen. 8 5 Auf lokaler Ebene wurden die administrativen sozialpolitischen Aufgaben von allgemeinen politischen Behörden übernommen. 8 6 Aus Anlass des zehnjährigen Bestehens der Republik gab die Regierung 1928 ein mehrbändiges Werk heraus, in dem die Ministerien ihre jeweiligen Politikfelder präsentierten. Hier wurde Sozialfürsorge als Ausdruck eines solidarisch handelnden und kulturell hoch stehenden Gemeinwesens dargestellt: Sozialfürsorge ist die natürliche und unerlässliche Aufgabe eines Kulturstaates; an der Haltung, die der Staat zur sozialen Frage hat, kann man den Grad seiner Kultur messen. Die menschliche Gemeinschaft hat die soziale und kulturelle Stellung des Volkes in ihren Händen; sie ist verantwortlich für soziale und kulturelle Not, denn sie hat die Mittel und Möglichkeiten, diese zu beseitigen oder zu vermindern. Von den gesellschaftlichen Gebilden ist [es] nun in erster Linie der Staat, dem hier die führende Rolle zukommt, denn der Staat ist die höchste Form der Organisation menschlicher Gemeinschaft. 87

Der Staat als Verkörperung der menschlichen Gemeinschaft nahm demnach seine Aufgabe gegenüber dem Volk wahr. Die Minderung sozialer Not hob das « Sociální revue 16, 1935, 179. 84 Národní archiv ν Praze, Státní ústrední archiv, Inventár 411, VII. 85 Houser, Die soziale Verwaltung, 110, 123. 86 Ebd., 116. _ 87 Deset let Ceskoslovenské republiky, Bd. 3. Prag 1928, 9.

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

kulturelle Niveau des Staates. Die Existenz von A r m u t galt hier als Zeichen mangelnder sittlicher und materieller Werte der Bürger. Z w a r gab es eine begriffliche Unterscheidung zwischen d e m potenziell bedürftigen „Volk" und der zur Minderung der Not mächtigen „menschlichen Gemeinschaft". Trotz dieser Differenzierung konnten sich auch die Angehörigen der „menschlichen G e m e i n s c h a f t " nicht aus der sozialen Verantwortung f ü r „das Volk" stehlen, ohne dass dies gleichzeitig als eine Verletzung der gesellschaftlichen Prinzipien angesehen wurde. Die soziale Not galt ein Jahrzehnt nach der Errichtung der Republik als ein Resultat der Vorkriegszeit und des Krieges, die zu b e k ä m p f e n und zu beseitigen der neue Staat berufen war. 8 8 Der Sozialdemokrat und Ö k o n o m Josef Macek erklärte dabei den Unterschied zwischen Sozialfürsorge und Sozialpolitik dahingehend, dass Sozialfürsorge „das schon entstandene Übel" 8 9 bezwinge, während Sozialpolitik präventiv sei. Er räumte zwar ein, dass diese Unterscheidung theoretischer Natur war, 9 0 im strikten Sinne bedeutete seine Definition jedoch, dass nach der Beseitigung vorhandener Übel durch die Sozialfürsorge eine gute Sozialpolitik die weitere Ausbreitung des sozialen Elends eindämmen könne. Hierin lag offenbar die soziale Mission der neuen Politik (diese Konzepte büßten besonders nach dem ökonomischen Niedergang in der Weltwirtschaftskrise ihre Glaubwürdigkeit ein). Nicht selten wurde die G e w ä h r u n g sozialer Rechte als ein Ausdruck von Demokratie dargelegt. Sie schien dadurch den tschechoslowakischen Staat moralisch zu legitimieren. So hieß es in einer Broschüre über die Sozialpolitik der ersten zehn Jahre der Republik: Die tschechoslowakische Republik, erbaut auf dem Grundsatz der Demokratie und der Gerechtigkeit, wurde bei ihrer Entstehung ebenso wie in den übrigen Zweigen des öffentlichen Lebens so auch auf dem Feld der Sozialpolitik vor sehr schwierige Aufgaben gestellt. Der lang andauernde Krieg, welcher die Wirtschaft ganz Europas zerstört hat, ließ eine große soziale Armut zurück und es war die Aufgabe des neu gegründeten Staates die schmerzenden Wunden zu heilen, welche hauptsächlich der Schicht der sozial Schwachen versetzt wurden. Es ging also an erster Stelle darum, die sozialen Mängel zu beseitigen, die der Krieg verschuldet hatte, aber es war auch nötig, die sozialen Institutionen zu verbessern, die die tschechoslowakische Republik aus dem Vorkrieg übernommen hatte.91 Deutlich tritt in diesem Zitat zutage, dass der Staat nach seiner Errichtung nicht nur die aktuellen Probleme „ererbte", sondern seine Organe - so sehr sich ihre Träger rhetorisch von den habsburgischen Traditionen abgrenzten - zunächst nur im R a h m e n der ü b e r k o m m e n e n Institutionen handlungsfähig waren. Vielfach waren dabei die staatlichen Verlautbarungen legitimationspolitische

88 Vgl. auch: Nase doba 36, 1928/29, 104-110. 89 Sociální revue 4, 1923, 5. 9 ° Ebd. 91 Kazimír Dobiás, Sociální politika Ceskoslovenské republiky ν prvním desetiletí jejího trvání. Prag 1929, 3.

2.2 Vorbilder - Opferbilder

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Versuche, die alten Formen mit neuen Begriffen auszukleiden. 9 2 Den neuen Staat errichten hieß dabei auch den Folgen des Krieges begegnen. Wenn der Krieg einen nationalstaatlichen Sinn durch die Errichtung der Tschechoslowakei b e k o m m e n sollte, wie dies insbesondere die Schriften Masaryks suggerierten, so musste der Staat auch in der Lage sein, die Kriegsopfer in die so verfasste Gesellschaft zu integrieren. So formulierte Lev Winter in Erinnerung an seine ersten Wochen als Minister: „Was das Ziel des Ministeriums f u r Sozialfürsorge in der ersten Zeit seiner Tätigkeit sein würde, war mir klar: Es resultierte aus den Kriegsereignissen, dass es vor allem anderen nötig sein würde, die durch den Krieg beigefugten Wunden zu heilen." 9 3 Man ist versucht, in der Absicht, die „Wunden zu heilen", neben der sozialpolitischen eine symbolpolitische Dimension zu erblicken. Es scheint, als ob der tschechoslowakische Staat substanziell darauf verwiesen war, die Bewältigung der spürbaren und offensichtlichen Folgen des Krieges in ein demokratisches und ziviles Gemeinwesen einzubauen. 9 4 Die soziale Absicherung der Kriegsopfer machte die Umwälzungsrhetorik des 28. Oktober auch an j e n e Bürger zu Hause vermittelbar, deren Revolten die Träger der Auslandsrevolution gefurchtet hatten, und an die Bürger im Feld, die noch lange nicht aus dem Krieg zurückkehrten. Wohlstand und Demokratie waren in dieser Logik untrennbar.

2.2.2

Jugendfürsorge

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges wurden Kinder verstärkt zum Gegenstand sozialpolitischer und pädagogischer Erörterungen. Die Jugendfürsorge war zunächst von einem Phänomen betroffen, das ebenfalls der Krieg hervorgebracht hatte. Im Dezember 1918 reagierte die Sozialadministration auf eine Pressemitteilung über bettelnde Kinder in den Prager Straßen mit der Absichtserklärung, man wollte dem k ü n f t i g mehr Aufmerksamkeit widmen. Als Ursachen f u r die unangenehm auffallenden Halbwüchsigen wurden die Teuerungen und allgemeine soziale Missstände ausgemacht. 9 5 Wohltätigkeitsvereine waren bis dahin die alleinigen Träger der Jugendfürsorge. Unterstützung erhielten sie zunächst von amerikanischen karitativen Organisationen, was unter anderem auf das Engagement der Präsidentengattin Masaryková f u r das Rote Kreuz z u r ü c k z u f ü h r e n war. 9 6 Nun machten die Wohltätigkeitsvereine 92

Dass die Habsburgermonarchie seit den 1880er Jahren eine „moderne" Politik betrieb, durch welche das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft langfristig verändert wurde, und dass dies auch die Voraussetzung für die Entwicklung sozialer Institutionen (der so genannten „civil society") in den Nachfolgestaaten war, betonte jüngst: Gary B. Cohen, Spolecnost, politicky zivot a vláda ν pozdnê imperiálním Rakousku: zamyslení nad novou syntézou, in: Cesky casopis historicky 102, 2004, H. 4, 745-765, hier 748f. Sociální revue 7, 1926, 373. 94 Vgl. auch: Sociální revue 4, 1923, 465. « MSP, Κ. 1, 17. 12. 1918; vgl. auch Nase doba25, 1917/1918, 583f. 96 Kypr, Svétová válka, 14.

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

darauf aufmerksam, dass es einer staatlichen Institutionalisierung und Gesetzgebung in diesem Bereich dringend bedurfte, um den massiven Nachkriegsproblemen beizukommen. 9 7 Zwar übernahm der neue Staat im Zuge der skizzierten Sozialgesetzgebung eine Fürsorgefunktion nicht mehr nur für behinderte und chronisch oder unheilbar kranke, sondern auch für „gefährdete Kinder", wozu unter anderem Kriegswaisen zählten. 9 8 Auf längere Sicht war das Interesse der Sozialpolitik an den Kindern und Jugendlichen aber gering. Charakteristisch war gerade auf diesem Gebiet ein Nebeneinander von staatlicher und privater Wohlfahrt. 9 9 Dabei wurden privaten Leistungsträgern wie zum Beispiel Vereinen durch die staatlichen Organe öffentliche Aufgaben übertragen. Zu diesem Zwecke subventionierte sie der Staat. 100 Dieses als Subsidiaritätsprinzip bekannte Instrument der Sozialpolitik war auch in Deutschland und Österreich traditionell stark verbreitet und gilt als Kennzeichen konservativ-korporatistischer Wohlfahrtsregime. In den deutschsprachigen Ländern traten (und treten) insbesondere die Kirchen als sozialpolitische Leistungsträger auf. In der Tschechoslowakei der Jahre 1918 bis 1938 griff das Subsidiaritätsprinzip hauptsächlich in der Jugendfürsorge. Hierin ist ein Grund für die institutionelle Abtrennung der Jugendfürsorge von anderen Bereichen der Sozialpolitik und für die offenbar ausgesprochen schwache Lobby der hilfsbedürftigen Kinder zu erblicken. Laut Angaben von Houser beteiligten sich fast ausschließlich bürgerlich-karitative Vereine an der Jugendfürsorge und kaum Arbeitervereine. Das Engagement der Kirchen auf diesem Gebiet war gering. 101 Zwar appellierte beispielsweise die Abgeordnete Purkyñová leidenschaftlich an die Nationalversammlung, genügend Geld zur Verfügung zu stellen, um die Institutionen der Jugendfürsorge „so modern wie möglich" auszubauen, doch die Hinweise darauf, dass die Hinterbliebenen und die mit einem kriegsgeschädigten Vater lebenden Familien sozial sehr benachteiligt und dass besonders die Frauen in diesen Familien einer extremen Arbeitsbelastung ausgesetzt seien, dass sich dies schließlich auch auf die Entwicklung und Chancen der Kinder negativ auswirke, blieben ein isolierter Einwurf in einer langen Debatte. 102 Sie änderten nichts an den etablierten Verteilungsmechanismen. In der Jugendfürsorge wurden dennoch einige wichtige Grundsteine für die Sozialfürsorge gegenüber Kindern gelegt, also auch gegenüber den Kriegswaisen und den Kindern von Kriegsinvaliden. Dazu zählte der Ausbau von Heimplätzen für Waisenkinder und die Unterstützung bedürftiger Familien, etwa in Form von Kinderlandverschickungen. Über derartige Heime und Maß97

MSP, K. 1. '8 Nase doba 23, 1915/16, 435. 99 Deyl, Sociální vyvoj, 27. 100 Nase doba 34, 1926/27, 80 f. 101 Houser, Die soziale Verwaltung, 117. 102 Národní shroraázdéní ceskoslovenské 1920-1925, 117. schûze, cást 1/8, 7f., Zitat 7.

2.2 Vorbilder - Opferbilder

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nahmen gibt es zahlreiche Berichte in der Zeitschrift Péce o mlàdez. Eine Unterscheidung zwischen der Fürsorge für kriegsgeschädigte und andere bedürftige oder Waisenkinder wurde dabei nicht vorgenommen. 103 Aufgrund dieser institutionellen Bedingungen kann von einer eigenständigen Politik für kriegsgeschädigte Kinder nicht gesprochen werden. Sie waren in der Masse der „gefährdeten" Kinder enthalten und wurden nicht anders als diese behandelt. Im Kriegsgeschädigtendiskurs traten besonders diejenigen Kinder auf, die von Kriegsinvaliden oder Kriegswitwen ernährt werden mussten, und zwar vor allem in diesem Zusammenhang: als hungrige Esser.

2.2.3 Das Sozialversicherungswesen:

Der Arbeiter als Vorbild

Die Organisation des Sozialversicherungswesens übernahm die neu gegründete Tschechoslowakei von Österreich-Ungarn. Der späteren sozialistischen Rhetorik gemäß war der „legislative Konservativismus" charakteristisch für die „bürgerliche tschechoslowakische Republik" 104 : In Abgrenzung zu diesem abgemilderten Institutionenwechsel nach dem Ersten Weltkrieg hielt daher das in den 1960er Jahren entstandene Inventar des Archivs des Ministeriums für Sozialfürsorge zum Systemwechsel 1948/49 fest: „In kapitalistischen Gesellschaften dienen die staatlichen Apparate der herrschenden Klasse zur Ausbeutung der Arbeitenden. Die sozialistische Revolution muss deshalb diese staatlichen Apparate zerstören." 105 Anders als die spätere „sozialistische Revolution" baute der durch die Auslandsrevolution errichtete Staat auf die alten Institutionen. Bei aller Abgrenzungsrhetorik gegen Österreich-Ungarn implizierte die Errichtung des tschechoslowakischen Staates 1918/19 keinen sozioökonomischen Systemwechsel. Die Kontinuität der Institutionen war somit sowohl in der Logik des Staates als auch in der Wahrnehmung seiner Bürger selbstverständlich. Vor diesem Hintergrund muss dennoch gefragt werden, in welche neuen Zusammenhänge die alten Institutionen im Zuge der Staatsgründung gestellt wurden und wie und warum diese Institutionen schließlich modifiziert wurden, und zwar sowohl auf der administrativen als auch auf der Bedeutungsebene. Das Beispiel der Sozialversicherungen kann illustrieren, wie die Überführung der sozialpolitischen Institutionen in ein neues Staatswesen funktionierte. Von besonderem Interesse ist hier die Frage, inwiefern ein normatives Bild des (männlichen) Arbeiters im österreichischen wie im tschechoslowakischen Falle der Ausgestaltung von Sozialpolitik inhärent war. Dabei gilt es herauszuarbeiten, welche Funktionen die alte österreichische (und ungarische) Sozialpolitik in dieser Hinsicht bediente, wie diese im Kontext der neu gegründeten Tschechoslowakei wirkten und ob sie schließlich eine grund103 104 105

Vgl. auch: Pé£e o mládez 1, 1922, 202f. Heuser, Die soziale Verwaltung, 110. Národní archi ν ν Praze, Inventár 411, Χ.

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2. N a c h dem Ersten Weltkrieg

legende Änderung erfuhren. Dabei wird im Sinne Marshalls nicht davon ausgegangen, dass das Sozialversicherungssystem einer stringenten Logik folgte. Vielmehr geht es darum herauszufinden, welche normativen Muster die von Marshall konstatierten Paradoxien (der intendierten staatsbürgerlichen Gleichstellung und der tatsächlichen sozialen Ungleichheit) quasi unabsichtlich (re)produzierten. Österreich gehörte (neben Deutschland) zu den Vorreitern bei der Einführung von Pflichtversicherungen. Diese als „autoritär" beschriebenen Staaten verfügten schon am Ende des 19. Jahrhunderts über effektive Bürokratien, die solche Pläne entwickeln und umsetzen konnten. Die Einführung der Pflichtversicherung, mit der kommunale, familiäre und kirchliche Sicherungsnetze durch staatliche ergänzt beziehungsweise ersetzt wurden, sollte den Staat politisch legitimieren und herrschaftsstabilisierend wirken. Keinesfalls begründete die soziale Not selbst diese Politik. Von der Pflichtversicherung wurden überall zuerst die lohnabhängigen Arbeiter erfasst. In der österreichischen Reichshälfte war 1887 eine Unfallversicherung und 1888 eine Krankenversicherung eingeführt und von Versicherungsanstalten verwirklicht worden. Eine angedachte Arbeitslosen- und Rentenversicherung setzte die alte Monarchie vor dem Ersten Weltkrieg nicht um. 106 In der ungarischen Reichshälfte und mithin der späteren Slowakei bestand eine Krankenversicherung seit 1891, eine Unfallversicherung seit 1907.107 Darüber hinaus waren die Anfänge der Sozialpolitik hier wie auch in der österreichischen Reichshälfte von einem System der Armenfürsorge gekennzeichnet, dass die Armen oftmals stigmatisierte und ausgrenzte. 108 Die beschriebene „sukzessive Transformation gesellschaftlicher Sicherungssysteme" an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert interpretiert Erna Appelt als eine „sozialpolitische Institutionalisierung von Männlichkeit".m Man operierte bei der Einfuhrung der Sozialversicherung mit dem Bild eines männlichen Arbeiters und Familienernährers. Die Verantwortung des Mannes gegenüber seiner Familie untermauerte seinen Anspruch auf Versicherungsschutz und zementierte eine familienorientierte Geschlechterhierarchie, die Frau und Kinder vom Lohn und von den Versicherungsleistungen des Mannes und Vaters abhängig machte. 110

106 Schmidt, Sozialpolitik, 117-125, 127f.; Vgl. auch: Gerhard Ritter, Soziale Sicherheit in Deutschland und Großbritannien von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis z u m Ersten Weltkrieg. Ein Vergleich, in: GG 13,1987, H. 2: Sozialpolitik im Vergleich, 1 3 7 - 1 5 6 , hier 137, 140 f. 107 D e s e t let C e s k o s l o v e n s k é republiky, Bd. 3, 101, 112. 108 Vgl. Susan Zimmermann, Prächtige Armut. Fürsorge, Kinderschutz und Sozialreform in Budapest. D a s „sozialpolitische Laboratorium" der Doppelmonarchie im Vergleich zu Wien, 1873-1914. Sigmaringen 1997, 3 8 4 - 3 9 8 . 109 Appelt, Geschlecht, 161 (Hervorhebung im Original), "o Ebd., 1 6 0 - 1 6 4 .

2.2 Vorbilder - Opferbilder

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Die Sozialversicherung kann mithin als ein Herrschaftsinstrument betrachtet werden, das gesellschaftliche Hierarchien abbildete und begründete. Mit den Institutionen der Sozialpolitik übernahm der neu gegründete tschechoslowakische Staat demnach weitaus mehr als eine institutionelle Hülle. Es ist evident, dass die herrschaftslegitimierende Funktion der Sozialpolitik in der konkreten Ausgestaltung nationalstaatlicher Demokratisierung eher verstärkt als negiert wurde. Den staatspaternalistischen Anspruch der alten Monarchie konnte und wollte der neue Staat nicht zurücknehmen. Vielmehr galt es, die alten Institutionen zur Festigung der neuen Herrschaft nutzbar zu machen. Mit dem institutionellen Gehäuse wurden auch zentrale Begründungsmuster übernommen. So blieb die Ausrichtung der Sozialpolitik am Bild des männlichen Arbeiters bestehen und wurde durch die Einfuhrung weiterer Versicherungsleistungen gestützt. Die Rolle der überkommenen Institutionen sollte gleichzeitig nicht überschätzt werden, denn die Unfall- und Krankenversicherung funktionierte in den ersten Jahren der Republik nur unzureichend beziehungsweise entzog sich einer umfassenden staatlichen Kontrolle. 111 Es kam in diesem Bereich zu einigen Modifizierungen. Dies betraf insbesondere die Übernahme der Unfallversicherungen für Bergarbeiter, Bahn- und Postbedienstete sowie für Tabakarbeiter durch den tschechoslowakischen Staat und die Ausweitung der Krankenversicherung auf alle Arbeiter und Bediensteten sowie auf freiwilliger Basis auf Hausangestellte und mithelfende Familienangehörige (jeweils 1919).112 Das von Österreich-Ungarn übernommene Sozialversicherungswesen blieb insgesamt weit hinter dem zurück, was am Beginn der 1920er Jahre - also zu einer Zeit, als auch andere demokratische Staaten sukzessive Sozialversicherungen einführten 1 1 3 - in der Tschechoslowakei als nötig empfunden wurde. Das größte sozialpolitische Problem stellte die Arbeitslosigkeit dar. Während der Zwischenkriegszeit konnte in der Tschechoslowakei keine ausreichende Absicherung der Arbeitnehmer für den Fall des Verlustes des Arbeitsplatzes gewährleistet werden. In den ersten Jahren der Republik stellte die Arbeitslosigkeit unter den von der Front zurückgekehrten Soldaten ein besonders Problem dar. Schon im Dezember 1918 wurde dem durch ein staatliches Hilfsprogramm begegnet, das jedem Familienmitglied eines arbeitslosen Frontheimkehrers eine Krone täglich sicherte. 114 1924 trat eine Regelung nach dem so genannten Genter System in Kraft. Dabei handelte es sich um ein zuerst 1901 in der belgischen Stadt Gent eingeführtes System einer staatlich bezuschussten freiwilligen Versicherung, die durch öffentlich-rechtliche Institutionen verwirklicht wurde. In der Tschechoslowakei übernahmen die Gewerk111 112

114

Houser, Die soziale Verwaltung, 114; Deyl, Sociální vyvoj, 84. Deset let Ceskoslovenské republiky, Bd. 3, 102f., 109-111. Schmidt, Sozialpolitik, 118. Falisová, Zmiernenie biedy, 27.

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

Schäften diese Rolle. Der Versicherungsschutz galt demnach nur für Gewerkschaftsmitglieder, die zudem mindestens sechs Monate, bevor sie arbeitslos wurden, Mitglied sein mussten. Diese Vorausetzung traf 1925 in den böhmischen Ländern auf 50 Prozent der Arbeiter zu (darunter eine unbekannte Zahl Arbeiterinnen), in der Slowakei nur auf ein Viertel. Seit 1930 wurde dieses System unter dem Eindruck der Wirtschaftskrise ergänzt. Unter anderem zahlte der Staat nunmehr jedem Arbeitslosen unter bestimmten Voraussetzungen eine Unterstützungsleistung. Diese betrug 20 Kronen wöchentlich für einen Verheirateten in einer Zeit, in der ein Brot zwei Kronen kostete. Die Unterstützung war damit „nur symbolisch". 115 Daneben wurden verschiedene Notprogramme aufgelegt. 1932/33 zum Beispiel nahmen 3 8 0 0 0 0 Kinder an einer staatlich initiierten Milchverteilungsaktion teil.116 Neben den staatlichen Unterstützungsleistungen übernahmen zahlreiche Vereine wohltätige Aufgaben. Die Arbeitslosen und ihre Familien waren auf diese und andere private Unterstützungen angewiesen, wenn sie überleben wollten. Der Zugang zu solchen Hilfsleistungen war insbesondere während der Weltwirtschaftkrise stark begrenzt. Viele Familien und Einzelpersonen litten bittere Not. Die Sterblichkeitsrate stieg merklich, epidemische Krankheiten grassierten. Zwar unterhielt das Ministerium für Sozialfürsorge eine Arbeitsvermittlungsstelle, jedoch half dies wenig, da es keine Arbeitsplätze gab. Die ausreichende Versorgung der Arbeitslosen blieb vielfach ein Problem der von privaten Wohltätigkeitsvereinen organisierten Armenfürsorge, die insbesondere während der Krise damit völlig überfordert waren. Das mangelhafte Arbeitslosenversicherungssystem produzierte damit gleich auf mehrere Arten Ungleichheiten. Neben dem klassischen Problem, dass sie eben nur die lohnabhängigen Arbeiter erfasste, trug der unterschiedliche Zugang zu privaten Unterstützungsleistungen insbesondere durch Vereine zu einer weiteren Abstufung bei der Verteilung sozialer Leistungen bei. So erhielten sich zum Beispiel die Legionärs- und die Kriegsgeschädigtenverbände aus Mitgliedsbeiträgen wie auch aus staatlichen Subventionen. Zu den Sozialleistungen dieser Verbände hatten indes nur deren Mitglieder Zugang. Auch religiöse Wohltätigkeitsorganisationen waren nicht für alle Bedürftigen offen. Einen großen Einfluss auf den Lebensstandard von Arbeitslosen hatte außerdem das familiäre Umfeld. Ob die Frau eines Arbeitslosen einen Arbeitsplatz hatte, ob seine Kinder sich etwas dazuverdienen konnten, ob die Familie einen Garten oder gar ein eigenes Haus hatte und ob sie von den Verwandten öfter zu einer warmen Mahlzeit eingeladen wurden, konnte in der Krise von entscheidender Bedeutung sein. Während die Versorgung der Arbeitslosen mit ihrer Anlehnung an überkommene Formen der Armenfürsorge im bürokratischen Sinne vormoderne Züge 115 116

Ebd. Ebd.

2.2 Vorbilder - Opferbilder

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behielt, kam es bei der Altersrenten- und Invaliditätsversorgung zu wesentlichen Neuerungen. In beiden Bereichen wurde 1924 eine obligatorische und zentralstaatlich organisierte Versicherung eingeführt." 7 Dieses ambitionierte Projekt der jungen Republik befürworteten alle Parteien. Es galt als „Beweis für den sozialen Charakter der Tschechoslowakei"." 8 Die Altersrenten- und Invaliditätsversicherung lässt sich vor diesem Hintergrund als Prestigeprojekt verstehen. Die diesem Projekt zugrunde gelegten administrativen und paradigmatischen Vorbilder können als konstitutiv betrachtet werden. Wie die Unfall- und Krankenversicherung teilten auch die neu etablierten Versicherungen die Arbeitnehmer in verschiedene Gehaltsgruppen ein, die über die Höhe der abzuführenden Beträge entschieden. Im Versicherungsfall wurden an die Gehaltsgruppen angelehnte Summen ausgezahlt." 9 Die mit dem Gesetz vom 9. Oktober 1924 eingeführte Altersrenten- und Invaliditätsversicherung regelte auch die Zahlung von Witwen- und Waisenrenten verstorbener Arbeiter und Bediensteter. Träger der Pflichtversicherung war für die ganze Republik die Zentrale Sozialversicherung (Ústredni sociálnipojist'ovna) in Prag. 120 Von der Versicherungspflicht wurden alle Arbeitnehmer erfasst, die auf der Basis eines Arbeitsvertrages einer Beschäftigung nachgingen, die nicht als Nebenbeschäftigung anzusehen war.121 Damit kam die Versicherung der Absicht, die durch Arbeitsunfähigkeit oder den Tod eines Arbeitnehmers auch auf seine Familie übergreifenden Risiken durch eine staatliche Regelung abzumildern, umfassend nach. Sie entsprach mithin ihrem Charakter als Teil der Arbeitergesetzgebung, die - so die allgemeine Definition im Slovník verejného pròva ceskoslovenského - neben den hauptsächlich auf Arbeitsverbote für Kinder, Frauen (im Bergbau) und (werdende und junge) Mütter bezogenen Arbeitschutzbestimmungen Arbeitsversicherungen enthielt. Letztere sollten „für den Arbeiter in jener Zeit sorgen, wenn dieser nicht beschäftigt ist, sei es, weil er aufgrund irgendeines körperlichen oder auch seelischen Leidens zur Arbeit unfähig ist, sie es, weil es für ihn keine Arbeit gibt". 122 Wie schon die Unfall- und Krankenversicherung orientierte sich also auch die Ausgestaltung der Invaliden- und Altersrentenversicherung am Vorbild eines Arbeiters und Familienvaters, dessen Verdienst indirekt die familiäre Reproduktion absicherte. In dieser Hinsicht unterschied sich die tschechoslowakische Gesetzgebung nicht von der älteren, österreichischen. Die konkrete Ausgestaltung dieser Politik (deren administrative Versatzstücke während und unmittelbar nach dem Krieg in Kraft gesetzt wurden) wird in den folgenden Ausführungen am Beispiel der Kriegsversehrten genauer zu beleuchten sein. n7

Deset let Ceskoslovenské republiky, Bd. 3, 8 8 - 9 0 . Deyl, Sociálni vyvoj, 85. 119 Für die Krankenversicherung vgl.: Emil Schoenbaum, Sociálni pojistëni, in: Slovník verejného práva ceskoslovenského, Bd. 4, 3 4 3 - 4 2 1 , hier 366. '20 Ebd., 375. 121 Ebd. i " Ebd., 343. 118

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg 2.2.4 Die Staatliche Verteilungs-

Kriegsgeschädigtengesetzgebung: und Wiederherstellungsmaßnahmen

Der Erste Weltkrieg als „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" 1 2 3 überstieg an Ausmaß, Brutalität, Zerstörungen und Verlusten bei weitem die Kriege der vorangegangenen Jahrhunderte. 1 2 4 Mit der steigenden Zahl von Gefallenen und Verwundeten stellte sich auch f ü r die österreichische Sozialbürokratie das Problem der Versorgung von Invaliden sowie von Hinterbliebenen in einer neuen und - wenn man sich das ohnehin u m f a s s e n d e soziale Elend am Ende des Krieges vor Augen führt - radikalen Form. Z w a r gewährte der österreichische Staat schon seit 1875 geringfügige Renten f ü r Kriegsopfer, j e d o c h reichten diese trotz zahlreicher Modifizierungen nach allgemeinem Einvernehmen z u m Überleben nicht aus. Die Versorgung war eine M i s c h f o r m aus öffentlicher und privater Fürsorge, die sich im Verlauf des Krieges als völlig unzureichend erwiesen. 1 2 5 Vor diesem Hintergrund bemühte sich das Κ. K. Ministerium f ü r Soziale Fürsorge in Wien im August 1918 in einem letzten bürokratischen Akt um eine Zählung der Kriegshinterbliebenen. Es ließ so genannte Katasterblätter drucken, die in den Gemeinden ausgefüllt und an das Ministerium zurückgeschickt werden sollten. Entsprechende unausgefullte Katasterblätter befinden sich in Hülle und Fülle in den Akten des tschechoslowakischen Ministeriums f ü r Sozialfürsoge; eine stichhaltige Erhebung konnte unter den konkreten Umständen am Kriegsende nicht mehr durchgesetzt werden. 1 2 6 Die lokalen Behörden wurden vom österreichischen Sozialminister noch einmal über den Z w e c k der Zählung in Kenntnis gesetzt. Dieser bestehe einzig und allein darin, eine gehörige Grundlage für eine systematische Fürsorge für die Hinterbliebenen zu schaffen, das heißt die öffentliche und private Fürsorge in die Lage zu versetzen, zu erfahren, welche Mittel und Wege, und zwar einerseits der Geldfürsorge, andererseits der sozialen Fürsorge, bestehend in der Fürsorge für die Gesundheit, die Ordnung der wirtschaftlichen Lage, die Berufsberatung und Arbeitsvermittlung sowie schließlich in der Jugendfürsorge nötig sind, damit für alle Kriegshinterbliebenen, die einer Fürsorge bedürftig sind, in möglichst ausreichender, gerechter und zweckmäßiger Weise in Abtragung einer Dankesschuld des Vaterlandes an seine Verteidiger gesorgt werde. 127 Es seien schädliche Gerüchte darüber verbreitet worden, dass die Zählung zur Herabsetzung der Renten genutzt werden solle, die „zur Irreführung der ohnehin geängstigten Bevölkerung geeignet" seien und „mit N a c h d r u c k zurückge-

123 George F. Kennan, zitiert nach: Edgar Wolfrum, Krieg und Frieden in der Neuzeit. Vom Westfälischen Frieden zum Zweiten Weltkrieg. Darmstadt 2003, 99. 124 Langewiesche, Zum Wandel von Krieg und Kriegslegitimation, 16f., 21. 125 Deset let Ceskoslovenské republiky, Bd. 3, 128; Schreiben des Ministeriums für Sozialfürsorge in Prag vom 19. 1. 1921, MSP, K. 487, Nr. 997, 4. 126 Belehrung zur Durchführung der Verordnung des Ministeriums für soziale Fürsorge vom 20. April 1918, MSP, K. 3. 127 MSP, K. 3, Nr. 19596.

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wiesen werden" müssten. 1 2 8 Das junge Ministerium für Sozialfürsorge formulierte hier ein umfassendes Sozialprogramm gegenüber den Hinterbliebenen, das zugleich als „Dankesschuld des Vaterlandes" fungierte. Dass sowohl der patriotische als auch der sozialtechnokratische Impetus dieser Verordnung in den Landesbehörden versickerten, verwundert wenig. Interessanter ist, dass die neuen tschechoslowakischen Behörden genau dort ansetzten, wo die alten Machthaber einbrachen. In der Absicht, die Kriegsgeschädigten umfassend staatlich zu versorgen, bemühte sich das nunmehr tschechoslowakische Ministerium für Sozialfürsorge nach dem Umsturz vom Oktober 1918 weiterhin um konkretes Zahlenmaterial. Zwar wurde die Versorgung der Kriegsopfer durch den alten Staat von Seiten der neuen Machthaber ex post als unzureichend geschildert und man war bemüht, sich selbst als bessere Fürsorgeinstanz in ein günstiges Licht zu setzen, 129 jedoch ist gleichzeitig unübersehbar, dass sich bereits die alten Behörden auf diesen Weg gemacht hatten. So scheint es auch schlüssig, dass die Maßnahmen, die der tschechoslowakische Staat schließlich zur Sicherung des Lebensunterhalts der Invaliden ergriff, dem schon 1918 vom österreichischen Sozialminister beschriebenen Programm „einerseits der Geldfürsorge, anderseits der sozialen Fürsorge" nachgingen. Selbst die patriotische Einfarbung des zitierten Dokuments nahmen die neuen Sozialbehörden nicht zurück, sondern ließen es gewissermaßen unangetastet. Der Einsatz für das Vaterland blieb ein Einsatz für das Vaterland, auch wenn sich dessen proklamierte Grundsätze, Grenzen und sein Name geändert hatten. Die Lektüre zahlreicher an das Ministerium gerichteter Schreiben erweckt den Eindruck, dass dieses genau in dieser Ausrichtung von den betroffenen Menschen unmittelbar nach dem 28. Oktober als legitimer oder wenigstens faktischer Nachfolger des vormaligen Ministeriums fur Sozialfürsorge angesprochen wurde. Es setzte ein Aushandlungsprozess über die soziale Lage und den Status der Kriegsopfer in dem neuen Staat ein, der nicht nur unter Tschechen und Slowaken geführt wurde. Der erste wichtige legislative Akt des neuen Staates auf dem Gebiet der Kriegsgeschädigtenpolitik war das Gesetz Nr. 199 vom 8. April 1919. Es legte fest, wer als kriegsgeschädigt anzusehen sei, nämlich 1. „Invaliden tschechoslowakischer Staatsbürgerschaft, deren Arbeitsfähigkeit infolge einer Verwundung oder Krankheit", die sie sich in Ausübung des Militärdienstes, anderer militärisch angeordneter Aufgaben oder in der Gefangenschaft zugezogen hatten oder die sich dort verschlimmert hatte, „zeitweise oder dauernd beeinträchtigt ist oder die sie ganz eingebüßt haben" "O, 2. deren unterhaltspflichtige Angehörige,

128 Ebd. 129 Deset let C e s k o s l o v e n s k é republiky, Bd. 3, 128140. '30 Sociální revue 1, 1919/20, Nr. 1 - 2 , 44.

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2. N a c h dem Ersten Weltkrieg

3. Hinterbliebene der unter den in Punkt eins genannten Umständen Gestorbener oder vermisster Personen, denen gegenüber diese unterhaltpflichtig waren. 131 Als Aufgaben des Ministeriums für Sozialfürsorge in der Kriegsgeschädigtenfürsorge beschrieb das Gesetz die Erfassung der vormals genannten Personen, die Sicherstellung von Untersuchungen zur Feststellung des Grades der erlittenen Beeinträchtigung, die Bemessung und Auszahlung der Invalidenrenten, die Sorge um Ausbildung und Schulungen der Invaliden, die Besorgung von Prothesen, Hilfe zu einem selbständigen Leben sowie Unterstützung anderer Personen und Institutionen bei der Wahrung der Interessen der Kriegsgeschädigten. 132 Zur Verwirklichung der gesetzten Vorgaben wurden im Oktober 1919 Landesämter für Kriegsgeschädigtenfursorge eingesetzt (Zemské úrady pro péci o válecné poskozencé). Das Landesamt für Böhmen befand sich in Prag, das für Mähren und Schlesien in Brno und das für die Slowakei in Bratislava. 133 Schon unter den Österreichern war im März 1915 eine Vorläuferbehörde eingerichtet worden, die dem Finanzministerium unterstanden hatte. 134 Die zahlreichen Aufgaben der Landesämter wurden in einem Erlass vom 26. November 1919 festgelegt. Diese umfassten die Sicherstellung von medizinischer Fürsorge und Schulungen für Invaliden, die Unterstützung bei der Gründung und Unterhaltung von Invalidengenossenschaften sowie bei der Suche nach Unterkünften, die Herstellung und Verteilung von Prothesen, unterstützende Tätigkeit, die Zählung der Kriegsgeschädigten und die Erstellung von Statistiken, die Auszahlung von Renten, Berufsberatung und allgemeine Fürsorge für Kriegsgeschädigte. 135 Die tschechischen Landesämter nahmen noch 1919 ihre Arbeit auf, das slowakische zum 1. Januar 1920 (bis dahin unterlag die Invalidenfürsorge dem Ministervstvo s plnou moci pro Slovensko, einem für die Durchführung der Regierungsverordnungen bevollmächtigen Ministerium). 136 Seit Mitte 1919 wurde die bevorzugte Vergabe von Kiosken ( t r a f l k y ) und Kinolizenzen an Kriegsgeschädigte mit einem tschechoslowakischen Erlass bestätigt. Das staatliche Tabakmonopol existierte in der Habsburgermonarchie bereits seit 1773. Schon Josef II hatte 1784 bestimmt, dass kriegsgeschädigte Soldaten Trafiken und kriegsgeschädigten Offiziere Tabakverlage zugeteilt bekommen sollten. 137 Auf eine Beibehaltung dieser Regelung hatte unter anderem eine Initiative der Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter hingewirkt. Idealtypisch formulierte sie in einem Schreiben an die Mitglieder 131

Ebd. •32 E b d . 133

Svoboda, Sociální Sociální 136 MSP, Κ. 137 Thomas 13, 101. 134 135

Prírucka válecného p o s k o z e n c e , 9. revue 2, 1921, 25. revue 1, 1919/20, 3 1 0 - 3 1 2 . 4 7 0 , Nr. 11118. Blimlinger, Das österreichische Tabakmonopol. Diplomarbeit Wien 1986,

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der Nationalversammlung vom Juni 1919 die grundlegenden A r g u m e n t e f ü r die Lizenzvergabe an Kriegsgeschädigte. Sie unterstrich zuerst, dass ihre Mitglieder der Republik nicht zur Last fallen wollten, dass die „unschuldigen Opfer des Krieges" vielmehr um Unterstützung bei der Sicherung ihres Lebensunterhaltes bäten. Der Lizenzhandel schiene hierfür sehr geeignet, denn: Mit Rücksicht darauf, dass die Kriegsinvaliden nur leichte Arbeit bewältigen können und die Witwen sich auch nicht irgendeiner außerhäuslichen Erwerbstätigkeit w i d m e n können, da sie nicht die Erziehung ihrer Kinder vernachlässigen dürfen, wären es gerade die Kioske, die ihnen eine neue Existenz ermöglichen könnten. 1 3 8

Bemerkenswert ist hier die E r w ä h n u n g von körperlicher Schädigung und Sorge um Kinder als grundlegende Beeinträchtigungen in einem Satz, der damit den Witwen unter der unhinterfragten Voraussetzung, dass sie Kinder zu versorgen hätten, einen gleichwertigen Status als Kriegsgeschädigte einräumt. Dem Vorschlag der Gefolgschaft wurde entsprochen. Das 1919 verabschiedete Gesetz erfuhr im August 1920 eine Ergänzung. N u n m e h r sollte auch der Handel mit Tabakwaren und Spirituosen sowie die Verpachtung von Bahnhofsrestaurants und Kantinen zugunsten von Kriegsgeschädigten und Legionären organisiert werden. 1 3 9 Für die D u r c h f ü h r u n g dieser Verordnung waren die Finanzbehörden zuständig, die auch die staatlichen Tabak- und Spirituosenmonopole ausübten. 140 Jedoch sind zahlreiche Beschwerden über die Vergabepraxis an den Sozialminister gerichtet worden, die - wie zu zeigen sein wird - auf harte lokale Verteilungskonflikte schließen lassen. Zu einer Neuregelung der Rentenbezüge der Kriegsgeschädigten kam es im Februar 1920. In der Zwischenzeit waren die O p f e r des Krieges auf die mageren Renten beschränkt, die ihnen gemäß den österreichischen beziehungsweise ungarischen Verordnungen zufielen. Das Gesetz vom 20. Februar 1920 legte fest, dass Invaliden, deren Arbeitsunfähigkeit (ztráta vydélecné schopnosti) mindestens 85 Prozent betrug, jährlich eine Hilfe von 1 800 Kronen zustand. Bei einer geringeren Arbeitsunfähigkeit sanken die Bezüge stufenweise bis auf 20 Prozent der Höchstsumme (also 360 Kronen) bei einer Arbeitsunfähigkeit von 20 bis 24 Prozent. Kein Anrecht auf Renten hatten Kriegsinvaliden bei einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit unter 20 Prozent. Die Witwenbezüge betrugen 600 Kronen im Jahr, etwas mehr als die eines 25 bis 34 Prozent arbeitsunfähigen Invaliden. Wenn die Witwe arbeitsunfähig war oder älter als 55 Jahre, erhielt sie zusätzlich 120 Kronen. Kriegswaisen erhielten 300 Kronen jährlich, sofern sie das erste Kind waren. Jedes weitere Kind bekam 252 Kronen. Im Haushalt lebende Eltern von Invaliden erhielten 300 Kronen. Diese Regelungen galten nur, sofern die betroffene Familie über weniger als 138 139 140

MSP, K . 4 , Nr. 7828, 1919. Národní shromázdení c e s k o s l o v e n s k é 1 9 2 0 - 1 9 2 5 . 84. schuze, cást 1 u. 2/9. Deset let C e s k o s l o v e n s k é republiky, Bd. 3. 138.

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

4 000 Kronen aus anderen Einkünften im Jahr verfügte. 141 Die Höhe der Bezüge war von Anfang an Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen, weil sie weit hinter den Erwartungen zurückblieben. Nach wie vor war mit ihnen kein Lebensunterhalt zu bestreiten. Auch kam es offenbar zu erheblichen Verzögerungen bei der Auszahlung der Renten. 142 Von der Lage der Kriegsgeschädigten zeichnete der Abgeordnete Ladislav Kucera 1921 in einer Parlamentsdebatte folgendes Bild: Es gibt eine ganze Reihe Kriegsgeschädigter, die aus den zugestandenen Unterhaltsleistungen noch nicht mal das Allernötigste beschaffen können. Wir sehen sie Tag und Nacht durch die Großstädte und auch auf unserem Land herumstreichen; überall, wohin Sie sich wenden, sehen Sie Kriegsgeschädigte, die sich von der menschlichen Mildtätigkeit durch Betteln etwas zu erbitten suchen, weil die Renten, die ihnen gezahlt werden und die einige Kronen monatlicher Unterhaltsleistungen betragen, nicht derart sind, dass sie ihre Bedürfnisse decken. 143

So wie dieser verhallten auch viele andere Appelle zur Anhebung der Renten für Kriegsgeschädigte. Zu einer grundlegenden Versorgung durch Rentenzahlungen kam es nicht, so eindringlich das Elend auch geschildert, so sehr auch die Pflicht gegenüber den Opfern des Krieges beschworen wurde. Zahlreiche Initiativen zur Änderung des Gesetzes führten nur zu geringfügigen Modifizierungen. 1 4 4 Die erbitterten Proteste von Invalidenvereinigungen konnten daran wenig ändern. Dies führte dazu, dass die finanzielle Situation der Invaliden, ihrer Angehörigen und der Hinterbliebenen von Gefallenen weiterhin von privater und öffentlicher Wohlfahrt wie von der Subvention ihrer Vereinigungen durch den Staat abhingen. Der wichtigste sozialpolitische Begriff in der Kriegsgeschädigtenfürsorge war der der Verpflichtung (povinnost). Er fiel in den Debatten der Nationalversammlung immer wieder. 145 Obwohl sich die sozialpolitischen Institutionen dieser Verantwortung stellten, kam es letztlich nicht zu einer umfassenden finanziellen Versorgung der Opfer. Vielmehr basierte die Kriegsgeschädigtenpolitik auf einem Konzept der Selbsthilfe, das angesichts der oftmals erheblichen körperlichen Beeinträchtigungen der Kriegsinvaliden kaum aufgehen konnte. 146 Nichtsdestoweniger legte die Gesetzgebung einen umfassenden Regelungsund Versorgungsanspruch fest, der sich jedoch weniger an wohltätigen Zielen als an den zuvor beschriebenen Vorbildern des Staatsbürgers und des Arbeiters orientierte. Kernstück der Kriegsgeschädigtenpolitik war ohnehin nicht die

141

Sociální revue 1, 1919/20, 415-419. Národní shromázdéní ceskoslovenské 1920-25, 178. schüze, cást 3/6, 2. 143 Ebd., 115. schüze, cást 9/12, 5. 144 Sociální revue 1, 1919/20, 505-517, Sociální revue 2,1921, 42; Sociální revue 3,1922, 150-155; Sociální revue 4, 1923, 86-111. 145 Vgl. z.B. Národní shromázdéní Ceskoslovenské 1920-25, 84. schüze, cást 1/9, 2; 115. schüze, cást 9/12, 1, 4, 6; 308. schüze, cást 1/4, 7. 146 Schreckliche Verwundungen und Beeinträchtigungen schildert z.B.: Kypr, Svëtovà válka, 16-30. 142

2.2 Vorbilder - Opferbilder

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Versorgung der Invaliden, sondern deren Eingliederung in die Gemeinschaft produzierender Bürger. Der kalten Verregelung des Kriegsgeschädigtenstatus in Gesetzen gingen hitzige Diskussionen in der Nationalversammlung voraus. Diese spiegeln klar die den Gesetzen zugrunde liegenden Deutungen. Beispielhaft sei hier der Beitrag des Abgeordneten Josef Schieszl vom 8. April 1919 zitiert. Ausgehend von der Schätzung, dass es 2 0 0 0 0 0 bis 4 0 0 0 0 0 Kriegsinvaliden gebe, führte er aus: N e h m e n wir den Durchschnitt dieser Zahl, dann w i s s e n wir, w i e viele Unglückliche wir haben: 3 0 0 0 0 0 . Dabei geht es um Leute, die das Wertvollste, w a s sie hatten, unserem Volke, der Freiheit unseres Volkes geopfert haben. [ . . . ] Wenn wir von der Versorgung der Invaliden sprechen, haben wir immer vor allem die Invalidenrenten im Sinn. [ . . . ] Unsere soziale Fürsorge für die Invaliden muss j e d o c h von der Erkenntnis ausgehen, dass es in der Mehrzahl der Fälle dem Invaliden m ö g l i c h ist, an seine ehemalige Stelle zurückzukehren, dass es möglich ist, ihm Arbeit zu geben, dass es m ö g l i c h ist, aus ihm ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu machen, und wenn auch, verehrte Nationalversammlung, Arbeit als Strafe für die Ursünde bezeichnet wird, denke ich, dass sie in Wahrheit das einzige Mittel ist, das uns Freude am Leben geben kann. 1 4 7

Schieszl war seit 1920 Chef der Rechtsabteilung in der Kanzlei des Präsidenten. 148 Seine Aussage ist durchaus typisch fur die positivistische Denkweise jener Zeit, in der Arbeit die Matrix nicht nur des ökonomischen, sondern auch des ethischen Denkens war. Diese Grundhaltung verknüpfte er mit einer patriotischen Rhetorik. Die Invaliden nennt er „unsere Brüder, die in diesem Krieg ihre körperliche Gesundheit verloren haben" 149 , wobei „Bruder" die übliche Anrede bei den Hussiten und in den Legionen war. Der Appell, die Brüder zu unterstützen, wurde somit schnell zu einem Appell an die kranken Brüder, ihre Gebrechen zu überwinden. Schieszl vergaß auch nicht zu betonen, dass die Invaliden als ehemalige Soldaten einer Tauglichkeitsprüfung unterzogen worden waren, dass es sich also um ursprünglich gesunde und leistungsfähige Männer handelte. Der zitierte Beitrag reduziert letztlich das Unglück der Invaliden auf das Unglück, nicht arbeiten zu können, wobei die körperlichen Dimensionen dieses Unglücks wie Schmerzen, Amputationen und andere unheilbare Beeinträchtigungen nicht benannt wurde. Ein anderer Redner betonte in der Nationalversammlung, dass die Kriegsopfer „gegen ihren Willen in den Strudel des Kriegs hineingezogen wurden". 150 Indem er die Passivität der späteren Opfer des Krieges unterstrich, betonte er die Verantwortung der Republik. Es sei „selbstverständlich und gerecht", die Kriegsgeschädigten als Staatsangehörige angemessen abzusichern. 151 Damit setzte er implizit den Opferstatus der Invaliden deutlich von dem dem Stauts der Legionäre ab, deren Privilegien sich ja von der Freiwilligkeit ihres Dienstes ableiteten. 147

Národní Kárnik, 149 Národní 150 Národní I5 ' Ebd., 6. 148

shromázdéní Ceské z e m ë , shromázdéní shromázdéní

c e s k o s l o v e n s k é 1918-1920, 43. schûze, cást 6/10, 3. Bd. 1, 388. c e s k o s l o v e n s k é 1918-1920, 43. schûze, cást 6/10, 2. c e s k o s l o v e n s k é 1 9 2 0 - 1 9 2 5 , 117. schuze, cást 1/8, 5.

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

Während an private Betriebe nur appelliert werden konnte, Kriegsinvaliden einzustellen, wurde die Einstellung von Invaliden im staatlichen Dienst obligatorisch. Dort gerieten sie allerdings in Konkurrenz zu den Legionären. Als weitere Maßnahme sollten die Invaliden durch Schulungen dazu befähigt werden, trotz körperlicher Beschädigung einer produktiven Arbeit nachzugehen (solche Angebote richteten sich ausschließlich an die Invaliden und nicht an kriegshinterbliebene Witwen). Ein Bestandteil dieser Politik lag auch in Heilmaßnahmen und der Bereitstellung von Prothesen und anderen Hilfsmitteln. Während die Mehrzahl der Sozialisationsmaßnahmen darauf abzielte, die Invaliden in ihren Familien zu belassen und ihnen dort das Leben eines normalen Ehemanns und Vaters zu ermöglichen, wurden nicht wenige Invaliden auch in eigens auf dem Lande eingerichteten Heimen untergebracht. Dieses Schicksal traf besonders die Tuberkulösen. 152 Das Ministerium für Sozialfürsorge der Tschechoslowakischen Republik ging im Januar 1921 davon aus, dass in Böhmen ca. 80000, in Mähren und Schlesien ca. 50000 und in der Slowakei ca. 45 000, also insgesamt 175 000 Kriegsinvaliden lebten, dazu in Mähren 170000, in Schlesien 80000 sowie in der Slowakei 150000, also insgesamt 400000 Angehörige von Invaliden sowie Hinterbliebene von Gefallenen. Demnach wäre die Anzahl der Hinterbliebenen in der Slowakei im Verhältnis zu den Invaliden sehr hoch gewesen. Dazu passt auch, dass die vermutlich größte slowakische Kriegsgeschädigtenorganisation ihre Mitgliedszahlen in Familien angab. 153 Etwas andere Zahlen nennt Deyl. Er schreibt, dass es auf dem Gebiet der tschechoslowakischen Republik 1918 um die 210000 Kriegsinvaliden und um die 380000 Hinterbliebene von Gefallenen gab. 154 Bei einer Gesamtbevölkerung von knapp über 13 Millionen (Wert von 193 0),155 wären demnach über 4 Prozent der Bevölkerung in die Rubrik „Kriegsgeschädigte" gefallen.

2.2.5 Kriegsgeschädigtenorganisationen:

Institutionalisierung

und Ideale

Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass die sozialpolitischen Maßnahmen des jungen Staates Idealvorstellungen transportierten. Die kriegsgeschädigten Invaliden wurden am Vorbild eines Familienernährers gemessen. Der Staat behandelte sie zudem als Opfer des Nationsgründungskrieges. Die Kriegsgeschädigtengesetzgebung stellte den Opfern Hilfe bei der Realisierung von Erwerbsmöglichkeiten in Aussicht. Die entsprechenden Grundannahmen 152

Kypr, Svetová válka, 55. MSP, Κ. 487, Nr. 773, 1920; Vermutlich war ein Fünftel aller slowakischen Familien durch Tod, Seuchen und Verwundungen unmittelbar von den Kriegsfolgen betroffen: L'ubomír Lipták, Slovensko ν prvej a druhej svetovej vojne, in: Historicky ústav SAV, Slovensko ν rokoch druhej svetovej vojny (Materiály ζ vedeckého sympózia). Castá 6.-7. novembra 1990. Bratislava 1991, 6 - 1 2 , hier 6. 154 Deyl, Sociální vyvoj, 29. 155 Kessler, Die gescheiterte Integration, 170 f. 153

2.2 Vorbilder - Opferbilder

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und Definitionen standen mit den Verlautbarungen der Kriegsgeschädigtenorganisationen in einem wechselseitigen Verhältnis. Dieses wird im Folgenden als Kommunikation zwischen den staatlichen Institutionen und den kriegsgeschädigten Bürgern interpretiert. In den Akten des Ministeriums für Sozialfürsorge finden sich in erster Linie verschiedene Schreiben der Druzina ceskoslovenskych vâlecnych poskozencù und des Bundes der Kriegsverletzten, Witwen und Waisen der Tschechoslowakischen Republik. Beide Organisationen prägten den Kriegsgeschädigtendiskurs maßgeblich. Ihre Gründungsmotive, Artikulationsformen und ideellen Referenzpunkte bildeten die Eckpfeiler jeweils spezifischer Opferbilder. Beide Vereine erreichten einen hohen Organisationsgrad und wurden staatlich subventioniert. 156 Da sie im Sinne des Subsidiaritätsprinzips Aufgaben wie den Betrieb von Genossenschaften in Ausführung der Kriegsgeschädigtengesetze übernahmen, hatten sie auch administrativ eine bedeutende Stellung inne. 157 Die genauere Betrachtung dieser Vereine ist auch deshalb von Interesse, da es Ende der 30er Jahre zu einem Zerwürfnis zwischen ihnen kam. Außer den genannten traten noch einige kleinere Kriegsgeschädigtenorganisationen in Erscheinung, die hier nur am Rande erwähnt werden. Im Folgenden sollen anhand von Vereinsstatuten und anderen Akten sowie der Zeitschriften der genannten großen Vereinigungen deren Selbstkonzeptionen dargestellt werden. Dies geschieht mit Bezug auf die Gründungsmythen der Republik und die Grundlegungen der Sozialpolitik. Die Darstellung wird durch kurze Ausführungen zu einigen anderen tschechoslowakischen Vereinen ergänzt. Die tschechoslowakischen Organisationen erscheinen dabei als diejenigen, die versuchten, sich in den Kanon der Gründungsmythen einzuschreiben. Im Kontrast dazu werden im Falle des deutschen Bundes der Kriegsverletzten zahlreiche Ambivalenzen in der Selbstkonzeption sichtbar. Das in der deutsch-tschechischen Konfrontation entstehende bipolare Bild wird durch die Betrachtung anderer, weniger bedeutsamer Organisationen erweitert. Darunter befindet sich der Spolek zidovskych vâlecnych poskozencù a invalidû Ceskoslovenské republiky (Verein der jüdischen Kriegsgeschädigten und Invaliden der Tschechoslowakischen Republik), dessen Tätigkeit sich nicht in den Akten des Ministeriums für Soziale Fürsorge niederschlug. Den Kriegsgeschädigtenverbänden in der Slowakei ist ein weiteres Unterkapitel gewidmet. Die mangelnde Kommunikation zwischen den zentral staatlichen Institutionen und den lokalen slowakischen Akteuren provoziert die '56 MSP, K. 484, MV, K. 4 5 8 0 , Nr. 2/100/14. 157 In einem Schreiben an das Ministerium für Sozialfürsorge legte die G e f o l g s c h a f t tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter am Beginn der 1920er Jahre ihre g e n o s s e n schaftliche Tätigkeit dar. In der Errichtung von Genossenschaften sah sie ein hervorragendes Mittel der Selbsthilfe, die zu einer Sicherung des Lebensunterhalts für Invaliden und Witwen beitrug. D a s Schreiben führt 51 in den böhmischen Ländern ansässige Genossenschaften namentlich auf. Der Schwerpunkt der genossenschaftlichen Tätigkeit lag auf dem Betrieb von Kinos, MSP, K . 4 8 9 , Nr. 1721, 1920 (?).

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

Frage, ob sich die schwache Präsenz der slowakischen Kriegsgeschädigten im tschechoslowakischen Kriegsgeschädigtendiskurs ebenfalls als eine Selbstkonzeption lesen lässt oder ob sich darin nur eine mangelnde Institutionalisierung ausdrückt. Schließlich sollen in der Zusammenschau dieser Institutionen die Hierarchisierungsmuster dechiffriert werden, die sich in der Kommunikation mit den staatlichen Institutionen abzeichnen. Druzina ceskoslovenskych Organisationen

vâlecnych poskozencù

und andere tschechische

Die 1917 gegründete Druzina ceskych invalidu ze zemí koruny svatováclavské (Gefolgschaft tschechischer Invaliden aus den Gebieten der Krone des Heiligen Wenzel) war die Vorläuferorganisation der Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter. Sie akzeptierte vor der Staatsgründung nur Mitglieder tschechischer Nationalität. In einer Versammlung im Herbst 1918 hatten die Mitglieder sich enthusiastisch für den Umsturz und die Staatsgründung ausgesprochen. 158 In einer frühen Fassung der Statuten der nunmehr unter dem Namen „Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter" firmierenden Organisation lautet der erste Punkt in der Aufzählung der Vereinsziele: ,,[a]lle Kriegsgeschädigten tschechoslowakischer Nationalität in einer einheitlichen Interessen- und Selbsthilfeorganisation zu vereinigen". In allen weiteren Fassungen richtet sich die Organisation an „alle Kriegsgeschädigten in der tschechoslowakischen Republik". Diese Änderung war vermutlich der Errichtung der Republik geschuldet (die Dokumente tragen leider größtenteils keine Daten).159 Als Verkehrssprachen waren Tschechisch und Slowakisch angegeben (erst seit 1931 war es auch möglich, auf Deutsch oder Ungarisch an die Gefolgschaft zu schreiben). Mitglied konnte jeder Kriegsgeschädigte „in der tschechoslowakischen Republik" sein (§ 4). Sitz des Vereins war Prag. Die Tätigkeit erstreckte sich auf das Gebiet der ganzen Republik. Die Gefolgschaft verstand sich als gemeinnützig und parteipolitisch neutral (§ 1). Ihr erklärtes Ziel war neben der Sorge um die Kriegsgeschädigten und ihre Familien, auf die Ausgestaltung der staatlichen Politik Einfluss zu nehmen. Geplant war eine dichte Vernetzung aller Kriegsgeschädigten. In Gemeinden mit mehr als 20 Kriegsgeschädigten sollten Ortsgruppen eingerichtet werden. Schon in der zweiten Fassung schrieb die Satzung vor, dass Vertreter der Ortsgruppen Kreisausschüsse bilden sollten, die aus ihren Reihen Gau- beziehungsweise Landesausschüsse bildeten (§ 3). Gemäß dem Ziel der 158 Novy zivot 12, 1928, Nr. 7, 10f., vgl. auch: Dvacet let práce Druziny vâlecnych poskozencù ceskoslovenskych, 1917-1937. Prag 1937, 12-20. 159 Ich beziehe mich auf die Statuten, die beim Ministerium des Innern abgelegt sind, sowie auf eine Satzung, die sich im Fond der Druzina ceskoslovenskych vâlecnych poskozencù des Archiv hlavniho mèsta Prahy befindet (SK 11/664). Insgesamt liegen mir fünf Satzungen aus den 20er Jahren und zwei aus den 30er Jahren mit geringfügigen Abweichungen vor. Die Abweichungen betreffen häufig Präzisierungen der Sachverhalte. Signatur in den Akten des Ministeriums des Innern: MV 2/100/14.

2.2 Vorbilder - Opferbilder

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Selbsthilfe sollten durch von der Gefolgschaft durchgeführte Schulungen und genossenschaftliche Tätigkeit die Kriegsgeschädigten in die Lage versetzt werden, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Ebenso kümmerte man sich um die Verbesserung der medizinischen und prothetischen Versorgung sowie um juristische Hilfe. Die Statuten der Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter nahmen anders als deren publizistische Verlautbarungen auf die Gründungsmotive des Staates keinen Bezug. Im Rahmen der neuen Staatlichkeit formulierten sie die Ziele offen und richteten sich grundsätzlich an alle kriegsgeschädigten Bürger, nunmehr unabhängig von deren Volkszugehörigkeit. Der Staat war Adressat ihrer sozialen Forderungen. Deutlich wird jedoch der Anspruch, die Kriegsgeschädigten insgesamt zu repräsentieren und durch ein dichtes Organisationsnetz der fraglichen Klientel unter dem einen Dach dieser Gefolgschaft zu vereinen. Die Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter nahm eine exponierte Stellung unter den tschechoslowakischen Kriegsopferorganisationen ein. Deren Vorsitzender Kypr war zugleich Mitglied der Nationalversammlung und trat hier explizit für die Interessen dieser Gruppe ein. Er verstand es, gleich nach dem Umsturz eine Mittlerposition zwischen den staatlichen Institutionen und den Kriegsgeschädigtenorganisationen zu besetzen. 160 Seit 1919 war er der Leiter des Landesamtes für Kriegsgeschädigtenfürsorge in Prag. Symbolisch kam dieser Gleichzeitigkeit von Amt, Mandat und Interessenvertretung große Bedeutung zu, denn sie war Ausdruck der Verbindung staatlicher und privatrechtlicher Institutionen. Kypr nahm dabei die Rolle eines Kriegsgeschädigtenfunktionärs ein. Als Lobbyist, Abgeordneter und Amtsleiter verkörperte und popularisierte er die Figur des tschechischen Kriegsinvaliden und Patrioten. Charakteristisch für die Gefolgschaft und deren Veröffentlichungen war entsprechend die starke Anlehnung an Motive der Auslandsrevolution und dadurch die Verortung der Kriegsinvaliden in der nationalen Gemeinschaft. Als Funktionär artikulierte Kypr in seinen Artikeln und in seinen Reden vor der Nationalversammlung sein körperliches Leid nicht. In der Ausübung seiner Rolle abstrahierte er das persönlich erlittene Leid und ordnete an den Schnittstellen zwischen individueller und kollektiver Opferposition die Gemeinschaft der Kriegsgeschädigten den nationalen Gründungsmustern zu. Die Umstände seiner eigenen Rückkehr während des Krieges verblassten vor diesem Hintergrund. In seinen sich überschneidenden Funktionen verkörperte er das kollektive „Wir" der kriegsgeschädigten Soldaten. In einer Darstellung seiner Bemühungen zur Organisation der tschechischen Kriegsgeschädigten bemerkt er nur kurz, er sei „von der karpatischen Front im Juni 1916 als Invalide" zurückgekehrt. 161 Im Kontext dieser Bemühungen stand vermutlich l6

° MSP, K. 471, Nr. 299, 1918. Ebd., 7.

161

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

auch die Veröffentlichung seines Kriegstagebuchs. Der Gedanke an die Heimat wirkt in dieser Darstellung wie ein Trost in den verzweifelten Stunden nach der Verwundung: Sonntag, 20. Juni, nachmittags. Ich liege im Quarantänekrankenhaus Nr. 16. Der rechte Arm ist taub und schmerzt schrecklich. Ich schlafe nicht und denke ständig an meine Liebe zu Hause [drahà doma]. Gestern Abend hat sich mir der Arm und der rechte Teil des Körpers blau und rot verfärbt.162 A m Schluss des Tagebuchs beteuerte Kypr, er sei sich an der Front stets sicher gewesen, dass er „zurückkehren" werde, „zur Familie, an die Arbeit". 1 6 3 Diesen Topos benutzte er in Ü b e r e i n s t i m m u n g mit den Gründungsmythen der Republik. Zugleich erinnerte er sich daran, dass „die russische Kugel" seine Halsschlagader gestreift habe und wie k n a p p er dabei dem Tod entronnen sei. 164 Diese Erinnerung passt logisch nicht in das Erzählschema. Denn dass er dem Tod nur knapp entkam, verweist darauf, wie unsicher tatsächliche seine Heimkehr war. N u r aus der Perspektive des Überlebenden bringt er sein Leid n u n m e h r mit der nationalen Sinnproduktion in Einklang. D e m n a c h ging es im Krieg darum, zu der „Lieben zu H a u s e " zurückzukehren. Darauf ist die Darstellung ausgerichtet. Der Gedanke an den nahen Tod erscheint in dieser Hinsicht nur noch als eine Schreckensversion, der Kypr schicksalhaft entzogen blieb. Das Z u h a u s e benutzte er als einen Begriff, der die Heimat und die Rolle die er dort als Familienvater- und Ernährer spielte gleichermaßen umschloss. Diese Konstruktion suggeriert, Kypr und die anderen Kriegsgeschädigten, deren Vertreter er war, hätten f ü r ihr Zuhause gelitten. Dass der Zurückkehrende dem Tod knapp entronnen war, unterstrich seinen Heroismus und seine Aufopferung. Damit transportiert die Darstellung den Anspruch, auf die alte Position eines Familienvaters „zur Familie, an die A r b e i t " zurückzukehren. An diesem Punkt setzten Kyprs Organisationsbemühungen an. Als Scharnier zwischen individuellem Leid und einer kollektiven Opferposition diente auch seine Publikation Svétová válka a jeji obëti (Der Weltkrieg und seine Opfer) von 1929. Auch sie reihte die Kriegsinvaliden in den Gründungskanon ein und unterstrich damit zugleich ihre sozialen und emotionalen Ansprüche dem Staat und ihren Familien gegenüber. In der Einleitung führte Kypr aus, die „Tschechen und Slowaken in der österreichischen A r m e e " seien ein antiösterreichisches „zersetzendes Element" gewesen und hätten „ihr eigenes Ideal" verfolgt, nämlich: „in ein befreites Vaterland zurückzukehren." 1 6 5 Die Beteuerung, die Invaliden seien schon vor dem U m b r u c h antiösterreichisch gewesen, dient hier als patriotische Folie, vor der einige Schwerverletzte in der Ich-Form ihr erlittenes Leid exemplaiisch vortragen (tschechoslowa-

162 163 164 165

O. Kypr, Na vojnë ν Karpatech a Halici. Dojmy ceského vojáka. Pardubice 1916, 179. Ebd., 182. Ebd., 183. Kypr, Svétová válka, 6.

2.2 Vorbilder - Opferbilder

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kische Veteranenorganisationen waren im Kontext der Gründungsmythen allgemein bemüht, die Rolle der Tschechen und Slowaken in der österreichischungarischen Armee als eine destruktive darzustellen 166 ). Diese Kriegsopfer waren auch auf Fotos abgebildet. Sie stellten sich persönlich und mit ihrem körperlichen Gebrechen dar und erschienen dabei als Opfer und als Individuen zugleich. 167 Diese emotional aufwühlenden Berichte und Bilder bilden das Bindeglied zwischen der Geburt des Staates und der patriotischen Gesinnung der tschechischen Kriegsgeschädigten. Die individuellen Kriegsopferberichte nahmen eine Mittlerposition ein zwischen dem Krieg als Ort der Beschädigung und der Zeit der Nationsgründung sowie der Republik als Ort, der dem Opfer einen Sinn gibt. Den Portraits einzelner Opfer folgten in Korrespondenz hiermit Darstellungen von Heilungserfolgen sowie von genossenschaftlichen Projekten, die die Normalität wieder herstellen sollten. Diesen Gründungsmotiven wurde auf den Seiten des Organs der Gefolgschaft der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigten Novy zivot wiederholt ein anderes Grundmuster der historischen Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges zur Seite gestellt. Anders als in anderen Blättern 168 , die der runden Jahrestage der Staatsgründung 1918 gedachten, widmete sich diese Zeitschrift in zahlreichen Situationsanalysen auch dem Jahrestag des Kriegsausbruchs. Ihre Geschichte begann in der Wahrnehmung der Opfer mit dem Krieg selbst und nicht erst mit der Staatsgründung. „Zehn Jahre Leiden, Armut, Hunger und Verzweiflung" titelte die Zeitschrift im August 1924. Demnach begann das Unglück der Kriegsinvaliden mit der Mobilisierung. Trauer begleitete die Soldaten hier bereits auf dem Weg in den Krieg. Kaum hatten sie sich am Bahnhof von ihren Liebsten verabschiedet, fuhren auch schon die ersten Züge mit Verwundeten zurück. Der Krieg wird nur als „blutig" und „schrecklich" geschildert. Immer habe man dem Tod ins Gesicht geschaut. In diesen Darstellungen scheinen die Invaliden den Toten näher als den gesund gebliebenen Soldaten. Sie verabscheuten den Krieg, prangerten aus gegebenem Anlass den „Militarismus" an und traten für Frieden ein. Ein Abschnitt, der der 300-jährigen Unfreiheit der Tschechen gewidmet ist und somit ein grundlegendes Motiv der Auslandsrevolution zitiert, stand wie eine patriotische Dreingabe isoliert neben diesen Hauptmotiven des Gedenkens an den Kriegsbeginn. 169 Selbst zum zwölften und dreizehnten Jahrestag erschienen ähnliche Artikel, nunmehr etwas poetischer. 1926 erinnerte ein Leitartikel eindringlich an den herrlichen Tag im Hochsommer 1914 und dessen Stille, daran, wie es bei den

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Zuckert, Memory of War, 117. Kypr, Svetová válka, 16-30. Ein Bericht in der kommunistischen Pravda über eine Invalidendemonstration in PIzen klagte 1923 ebenfalls „alle Zeitschriften [hätten] diesen schrecklichen Jahrestag vergessen", Pravda, 31. 7. 1923, Plzen, 1. im Novy zivot 8, 1924, Nr. 29, 1 - 3 . 167

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

Worten „Mobilisierung, Krieg" so gewirkt habe, als habe „das ganze Land zu atmen aufgehört". 170 Das Gedenken an die Staatsgründung wurde dagegen zum Anlass, im Namen der hungernden Kriegsinvaliden und ihrer Frauen und Kinder „definitive Gerechtigkeit und Demokratie" einzufordern. 171 Obwohl sich also die Gefolgschaft der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigten deutlicher als andere Verbände und Einzelpersonen in den patriotischen Grundkanon einschrieb, stand hier das Leiden an den Folgen des Krieges als ein wichtiges Motiv neben dem Bezug auf den Krieg als Ort der nationalen (Wieder)Geburt. Dies drückt sich in einer partiellen Verschiebung der Gedenkanlässe vom allgemeinen Gedenken an das Kriegsende auf das spezifische Gedenken der Opfer an den Kriegsbeginn aus. Die staatlichen Deutungen machten sich die Kriegsinvaliden nur teilweise zu eigen. Weihevoll konnte der Staat für sie aus der geschilderten Perspektive nicht sein, denn ihr Leiden datierte aus einer Zeit vor dessen Gründung und überdeckte daher die Staatsgründung als Inszenierung eines Anfangsmythos. Der Spolek invalidù ceskoslovenskych legii (Verein der Invaliden der tschechoslowakischen Legionen) schrieb die Durchsetzung eines umfangreichen Sozialprogramms als Ziel in seine Statuten. Neben der Erwartung einer bevorzugten Behandlung durch die staatlichen Sozialinstanzen (die sich auch auf die Witwen und Waisen bezog) drückte sich hierin der Wille zur Gemeinschaftsbildung und zur gegenseitigen Hilfe aus. Außer dem Hinweis, dass man sich in dem Verein „in Erinnerung unseres gemeinsamen Kampfes für die Befreiung" gegenseitig mit „Bruder" anreden würde, kamen die Statuten ohne patriotisches Pathos aus.172 Auf der Grundlage christlicher Werte arbeitete der vermutlich 1920 gegründete Svaz ceskoslovenskych vâlecnych poskozencù kresfansko-socialních (Verband der tschechoslowakischen christlich-sozialen Kriegsgeschädigten). Er sah „im Geiste der christlichen Gerechtigkeit und Liebe" die Sozialfürsorge als eine humanitäre und karitative Aufgabe an. In diesem Sinne setzte er sich für die Gleichwertigkeit (rovnocennost) der Kriegsgeschädigten mit den Legionären ein.173 Auch dieser Verein trat in den Akten des Ministeriums für Sozialfürsorge nicht in Erscheinung. Insgesamt war die Beteiligung der christlichen Kirchen an der Sozialfürsorge in der Tschechoslowakei offenbar gering. Bund der Kriegsverletzten, Witwen und Waisen in der tschechoslowakischen Republik Die treibende Kraft bei der Gründung des Bundes der Kriegsverletzten, Witwen und Waisen in der tschechoslowakischen Republik war Bernhard Leppin. Er

"o N o v y zivot 10, 1926, Nr. 30, 1. ' 71 Novy zivot 12, 1928, Nr. 7, 1. 172 In Anlehnung an die hussitische Tradition hatten sich die Legionäre mit „Bruder" angesprochen, vgl. die Statuten: MSP, K. 491,1921 (?). 173 Pët let práce Svazu csl. válecnych poskozencu krest'ansko-sociálních, Brno o.J., 25, 39.

2.2 Vorbilder - Opferbilder

105

hatte schon 1917 entsprechende Vereinigungsbemühungen unternommen, scheiterte aber zunächst an der österreichischen Administration. 1 7 4 Wie die Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter definierte auch der (deutsche) Bund mit Sitz in Reichenberg/Liberec einen weit reichenden Vertretungsanspruch. 1 7 5 Die Statuten aus der Zeit vor dem 28. Oktober 1918 (der N a m e lautete seinerzeit Bund der Kriegsverletzten f u r B ö h m e n , Mähren und Schlesien) bestimmten als Wirkungsfeld „die Länder B ö h m e n , Mähren und Schlesien". Fortan erstreckte sich die Tätigkeit auf „die ganze tschechoslowakische Republik", seit 1937 „auch über die Landesgrenzen hinaus". 176 In Gemeinden mit mehr als dreißig Mitgliedern des Bundes sollten Ortsgruppen etabliert werden (§ 17). Vorgesehen war eine weit reichende horizontale und vertikale Vernetzung. Von 1919 bis 1938 gab der Bund die Zeitschrift „Der Kriegsverletzte" heraus. Auf der Hauptversammlung in Brno konnte im Juni 1920 die „Vereinigung sämtlicher deutscher Kriegsverletzter in der Republik" gefeiert werden. Die Bezeichnung „Sudetendeutsche" benutzten die Vertreter des Bundes erst seit Mitte der 30er Jahre neben der Wendung „Deutsche in der Tschechoslowakei". Der Bund hatte seit Beginn der 20er Jahre einen (tschechoslowakischen) Bundesvorstand. Erst im letzten Paragraphen der Statuten vom August 1920 (§ 31) wurde als Geschäftssprache Deutsch festgelegt. „Parteipolitisch und konfessionell" war der Bund neutral. „Unabhängig d a v o n " erklärten alle während der Republik erlassenen Statuten „angesichts des durch den Weltkrieg hervorgerufenen Unglücks Kriege als das fürchterlichste Unheil der Menschheit". Deshalb strebe der Bund an, „die Entstehung von Kriegen mit allen Mitteln zu verhindern" (§§ 2, 3). Ziele der Vereinigung waren die Pflege von Kameradschaft und Solidarität, die Mitwirkung an der Kriegsgeschädigtengesetzgebung und ihrer D u r c h f ü h r u n g , Rechtsberatung, Schulung, Arbeitsvermittlung, wirtschaftliche - insbesondere genossenschaftliche - Aktivität, gegenseitige Hilfe durch Sterbekassen und Ähnliches sowie die Verbreitung von Publikationen. Bis auf die pazifistische Erklärung und die unterschiedliche Verkehrssprache unterscheiden sich die Statuten des (deutschen) Bundes und der (tschechoslowakischen) Gefolgschaft kaum. Ein nationaler Antagonismus schlug sich in beiden Fällen nicht in den Statuten nieder. Diese formulierten soziale Forderungen. Nur der von beiden Organisationen erhobene Anspruch, alle Kriegsgeschädigten unter ihrem Dach zu vereinen und politisch zu vertreten, weist auf einen konfliktträchtigen Punkt hin. Wenn die Statuten wie

174 Ausführlich beschrieb Leppin diese Bemühungen in der Jubiläumsnummer zum 20-jährigen Bestehen des Bundes: Der Kriegsverletzte, 19, 1937, Nr. 7. lf. 175 Reichenberg war die größte Stadt des Sudetenlandes. Am Ende der 30er Jahre hatte sie knapp über 6 9 0 0 0 Einwohner. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung der Republik lebte in Kleinstädten und Dörfern; vgl. Gebe!, „Heim ins Reich", 64. 176 Die Satzungen befinden sich in drei Fassungen aus den 20er Jahren und in zwei Fassungen aus den 30er Jahren in den Akten des Innenministeriums. Auch hier betreffen die Abweichungen häufig Präzisierungen: MV, K.4570. Nr. 2/88/8.

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2. N a c h dem Ersten Weltkrieg

geplant zur Ausführung gekommen wären, hätte es an jedem Ort mit einer Ortsgruppe des Bundes auch eine Ortsgruppe der Gefolgschaft geben können. Faktisch gab es, wie später thematisiert werden wird, zahlreiche Doppelmitgliedschaften, die jedoch vom Bund nicht erwünscht waren. Dessen Statuten erließen den Bei tri ttsbei trag bei Übertritten aus „Vereinigungen ähnlicher Tendenz" (§ 8). Wie in den 30er Jahren deutlich wurde, waren die Funktionäre des Bundes der Ansicht, sie allein könnten die Interessen deutscher Kriegsgeschädigter adäquat vertreten. Selbst wenn die Statuten dies nicht bestimmten, so differenzierten sich die Kriegsgeschädigtenorganisationen in einen „deutschen" und einen als tschechoslowakisch deklarierten „tschechischen" Verein. Vor diesem Hintergrund kam es 1924 zu öffentlichen Polemiken zwischen dem Bund und der Gefolgschaft. Darin ging es um die Entsendung Kriegsgeschädigter in die Landesanrufungskommission. Diese Kommission hatte Einsprüche gegen die Festsetzung der Prozente an Arbeitsunfähigkeit zu prüfen. Nachdem zunächst ein deutscher und ein tschechischer Vertreter mit Stimmrecht berufen worden waren, bestellte die Kommission nunmehr zwei tschechische, was der Bund auf die Agitation der Gefolgschaft zurückführte. Die Gefolgschaft betonte wiederum, die Mittelsmänner würden nicht nach Nationalität berufen, die Entscheidung liege allein bei der Kommission. Der Bund war jedoch der Ansicht, die tschechischen Vertreter würden die Interessen der deutschen Kriegsopfer nicht vertreten. Die Gefolgschaft beharrte darauf, die Vertretung der Interessen der Kriegsgeschädigten sei eine „rein soziale Angelegenheit" und von nationalen Fragen unberührt. 177 Hierin zeichnete sich ein Konflikt ab, der sich Ende der 30er Jahre unter dem Einfluss der Sudetendeutschen Partei radikalisieren sollte. Es handelt sich weniger um einen Interessen- als um einen Machtkonflikt, denn es ging um die Frage, welche Vereinigung für die deutschen Kriegsgeschädigten sprechen durfte. Als Muster zeichnet sich darüber hinaus ab, dass die tschechoslowakischen Institutionen auf der Basis eines umfassenden Staatsbürgerkonzeptes soziale, zivile und politische Rechte als aneinander gekoppelt verstanden, während die deutschnationale Agitation zwar soziale Rechte einforderte, diese aber nicht als Ausdruck einer bürgerlichen Teilhabe an der tschechoslowakischen Bürgergemeinschaft auffasste. Zu Beginn der 20er Jahre richtete der Bund eine polemische Agitation gegen den Staat, besonders gegen die Landesämter und ihre Beamten. Der Vorwurf lautete, die Kriegsgeschädigten würden insgesamt nicht angemessen versorgt. Die tschechischen Beamten in den Landesämtern verzögerten die Auszahlungen der Renten, da nur wenige die deutschsprachigen Anträge verstehen und bearbeiten könnten. Auch würden sie das „deutsche Volksgefühl" nicht nachempfinden. 178 Den deutschen Kriegsgeschädigten fehle daher das „Vertrauen" 177 N o v y zivot 8, 1924, Nr. 21, 1. "8 Der Kriegsverletzte 4, 1922, Nr. 7, 3.

2.2 Vorbilder - Opferbilder

107

in diese Behörden und folglich in den Staat. 179 Als „Bürger 2. Klasse" 1 8 0 fühlten sie sich der Willkür tschechischer Beamter ausgesetzt. Dies sei „Chauvinismus und Imperialismus des Staatsvolkes gegenüber den .Staatsbürgern' anderer Nationalität" 181 . Man berief sich auf die „Versprechungen der tschechischen Staatsmänner" und forderte vor diesem Hintergrund „endlich [ . . . ] Gerechtigkeit" für „die Deutschen in diesem Staate". 182 Es wurde nicht behauptet, dass die deutschen Kriegsgeschädigten durch die Gesetzeslage schlechter gestellt würden. Vielmehr hieß es im „Kriegsverletzten", die Versorgung sei „für die tschechischen wie für die Bürger anderer Nationalität ganz gleich unzureichend". 183 Jedoch fiel die Begründung, warum die Kriegsgeschädigten besser versorgt werden sollten, national aus. Sehr pathetisch wurden die deutschen Kriegsgeschädigten 1921 als kühne Kämpfer dargestellt, denen eine Anerkennung gebühre: Es ist zwar richtig, daß das deutsche Volk in d i e s e m Staate durch den Ausgang des Krieges und die Friedensverträge heute geknebelt und gebunden als Vasall eines im Siegerwahn lebenden Herrenvolkes am Boden liegt und es so viele Zukunftssorgen beschäftigt, die g e w i ß nicht als Kleinigkeit zu betrachten sind, aber schließlich und endlich wirft sich doch die Frage auf: ,Kann und darf man der Besten des Volkes vergessen?' Nein, und tausendmal nein! 1 8 4

Die „Besten", das waren eben jene, die ihre Gesundheit im Krieg geopfert hatten. Trotz der grundsätzlichen Einsicht, dass alle Kriegsgeschädigten schlecht versorgt waren, schien immer wieder die Begründung durch, man werde als „Kriegsverlierer" darüber hinaus noch schlechter behandelt oder nicht ernst genommen. 1 8 5 Die deutschen Kriegsgeschädigten präsentierten sich vor diesem Hintergrund deutlich niedergeschlagener als die tschechischen. Mehrmals wird darauf Bezug genommen, dass sie manchmal wünschten, im Feld geblieben zu sein, oder sich sonst den Tod herbeisehnten. 186 Auch betonte der „Kriegsverletzte", sie seien nicht nur körperlich, sondern auch seelisch tief getroffen. 187 Gelegentlich tröstete man sich mit Phrasen wie: „Auch für uns kommt einmal der Tag der Abrechnung!" 1 8 8 „Wenn uns Prag nicht hilft, dann werden wir uns eben selbst helfen." 1 8 9 ,,[D]ie Geschichte [wird] einst Richterin sein und die verurteilen, die heute aus Machtwahn heraus einen Großteil der Staatsbürger in bitterster Not und tiefstem Elend leben lassen." 190 Aus solchem 179

Der Kriegsverletzte 3, 1921, Nr. 9, 1. ° Der Kriegsverletzte 3, 1921, Nr. 10, 1. '81 Ebd. 182 Ebd. 183 Der Kriegsverletzte 3, 1921, Nr. 9, 1. 4 ι» Der Kriegsverletzte 3, 1921, Nr. 12, 7. 18 5 Der Kriegsverletzte 4, 1922, Nr. 11, 2; 6, 1924. Nr. 2, 2. 186 Ebd.; Der Kriegsverletzte 4, 1922, Nr. 7, 3; 8, 1926, Nr. 9, 1. 187 Der Kriegsverletzte 4, 1922, Nr. 7, 3; 7, 1925, Nr. 4, 1. '88 Der Kriegsverletzte 4, 1922, Nr. 3, 3. 189 Der Kriegsverletzte 4, 1922, Nr. 7, 4. I9 ° Der Kriegs verletzte 9, 1927, Nr. 12, 9. 18

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2. Nach dem Ersten Weltkrieg

Trost sprechen Ohnmachtsgefühle und Verbitterung. Vieles weist darauf hin, dass die fragliche Ohnmacht von den tschechischen Institutionen tatsächlich nicht nachempfunden, sondern als Beweis einer gefahrlichen Haltung verstanden wurde. Bei einer Kundgebung der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigten in Prag erläuterte Leppin in einer Ansprache die Sicht der Deutschen: Gestatten Sie mir, daß ich als Deutscher mir erlaube, einige psychologische Momente aus eigener Beobachtung heraus ihnen hier kundzutun. Die psycho-logische Einstellung der Deutschen zum tschechoslowakischen Staate ist doch logischerweise eine ganz andere als die der Angehörigen der tschechischen Nation. Wir deutschen Kriegsgeschädigten sind von A n f a n g an mit einem gewissen Misstrauen den Staatsmaßnahmen gegenübergestanden. Wir hatten den Glauben nicht. 191

Es ist anzunehmen, dass Leppin diese „psychologischen Momente" nicht nur beobachtet hat, sondern durch seine Arbeit auch stützte. Er verbreitete die Ansicht, die deutschen Kriegsgeschädigten könnten allein „der Sache" dienen, ohne den hemmenden „Glauben" an den Staat. Diese „Sache" war die allgemeine Verbesserung der Versorgung. Der Gründungskanon des Staates trug in dieser Anschauung nur den Charakter trügerischer Propaganda. Neben der Verbesserung der Versorgung forderte der Bund Zeit seines Bestehens deutsche Beamte in den Behörden sowie die Durchführung eines „Zwangseinstellungsgesetzes". Dabei berief er sich auf positive Erfahrungen mit einem solchen Gesetz in Deutschland. 192 Es wurde - vermutlich nicht ganz zu unrecht - gemutmaßt, dass das Legionärsgesetz eine ähnliche Regelung in der Tschechoslowakei verhindert habe. 193 Besonders von den deutschen Kriegsgeschädigten wurde vielfach ins Feld geführt, dass die Versorgungslage in anderen europäischen Ländern wesentlich besser sei. Dies führt 1929 sogar zu einer Intervention der internationalen Kriegsgeschädigtenorganisation CIAMAC (Conférence Internationale des Associations de Mutilés et Anciens CombattantsAnternationale Arbeitsgemeinschaft der Verbände der Kriegsopfer und Kriegsteilnehmer), über die bezeichnenderweise in dem deutschen Kriegsgeschädigtenorgan viel breiter berichtet wurde als im tschechischen. 194 Die Vertreter des Bundes warfen den Vertretern der Gefolgschaft in diesem Zusammenhang indirekt vor, durch den „Glauben an den Staat", durch ihren tschechischen Patriotismus korrumpiert zu sein. 195 Aus Anlass der Vereinigung der deutschen Kriegsgeschädigtenorganisationen hieß es schon 1921 : Leider Gottes geht die tschechische Organisation der Kriegsgeschädigten nicht mit jener Schärfe vor, die notwendig ist, um gegen j e n e Elemente anzukommen, die sich gegen die Einführung einer modernen, den Bedürfnissen der Kriegsgeschädigten entsprechenden Kriegsgeschädigtenfürsorge wehren. Das treibende Element sind wir und wollen es

19

' Ebd., 1. Der Kriegsverletzte 193 Der Kriegsverletzte 194 Der Kriegsverletzte 195 Der Kriegsverletzte 192

3, 1921, Nr. 10, 2. 4, 1922, Nr. 7, 3. 11, 1929, Nr. 2, 1. 4, 1922, Nr. 11, 1.

2.2 Vorbilder - Opferbilder

109

auch bleiben, weil wir unabhängig von Sonderinteressen nur das große Ziel, den Kriegsgeschädigten ein menschenwürdiges Dasein zu erkämpfen und zu verhindern, daß spätere Generationen wieder den L e i d e n s w e g von Kriegsgeschädigten gehen müssen, im Auge haben. 1 9 6

Besonders der Leiter des Prager Landesamtes und Vorsitzende der Gefolgschaft Kypr wurde der „Schönfärberei" beschuldigt. Er stelle sich auch gegen die Interessen der Kriegsgeschädigten schützend vor den Staat. 197 Hämisch hieß es in diesem Zusammenhang 1927: „Es muß furchtbar sein, so vom Staate enttäuscht zu werden, wie es bei den tschechischen Kriegsbeschädigten der Fall ist."'»» Deutsch-tschechischer Antagonismus in der Kriegsgeschädigtenpolitik Im Jahre 1920 erschien das Amtsblatt des böhmischen Landesamtes fur Kriegsgeschädigtenfürsorge in deutscher und in tschechischer Sprache. Die tschechische Ausgabe trug den Titel Sociální sluzba, die deutsche Ausgabe erschien unter dem Namen „Soziale Arbeit". Zur Begründung fur die zweisprachige Erscheinungsweise hieß es in der ersten deutschen Ausgabe unter anderem, man wolle beweisen, [ . . . ] dass das neue Landesamt, ohne Rücksicht auf die Nationalität, für alle Kriegsbeschädigten, die in B ö h m e n wohnen, gleich sorgen will und dass man ihm keinen Nationalchauvinismus vorwerfen kann, [ . . . ] . Wir hoffen, dass die Objektivität des Landesamtes von der deutschen Seite auch erkannt werden wird und ersuchen die Gleichgesinnten zur Mitarbeit und zur möglichst großen Verbreitung der Zeitschrift. 1 9 9

Dies klingt wie ein Angebot und eine Appell zugleich. Offenbar war man sich in den Behörden der besonderen Schwierigkeit bewusst, die eine Einbindung der deutschen Kriegsgeschädigten in den Rahmen der tschechoslowakischen Politik in sich barg. Die Absichtserklärung, die deutschen Bürger gleich behandeln zu wollen, ging demnach mit der Aufforderung zur Mitarbeit einher. Diese wurde auf der gleichen allerersten Seite der Zeitschrift in einem Artikel unter der Überschrift „Die kriegsbeschädigten Bürger in einer Reihe" untermauert. Darin richtete Kypr in seiner Eigenschaft als Leiter des Amtes für Kriegsgeschädigte das Integrationsangebot des neuen Staates mit seinen spezifischen Legitimationsmustern explizit an die deutschen Kriegsgeschädigten: Die demokratische Konstitution wird allen Staatsangehörigen volle Freiheit und Gleichheit sicherstellen; unser Staat wird ein Staat der Gerechtigkeit und des Rechtes werden. [ . . . ] Unsere Republik wird vom nationalen Standpunkt aus gerecht sein. Das bedeutet, dass allen nationalen Minderheiten eine gleich freie Entwicklung vergönnt sein wird, w i e der nationalen Mehrheit, welche die Bewohner der tschechoslowakischen Republik bilden. Es hängt nur von den Minderheiten ab, ob sie ihre alten Gewohnheiten verlassend, zur Stärkung des inneren Ausbaus des Staates mitarbeiten wollen. 2 0 0

196

Der Kriegsverletzte 3, 1921, Nr 2,1. Der Kriegsverletzte 7, 1924, Nr. 6, 1; 9, 1927, Nr. 12, 9. i9» Ebd. Soziale Arbeit 1, 1920, Nr. 1, 1. 200 Ebd. 197

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2. N a c h dem Ersten Weltkrieg

Dieses Angebot koppelte Kypr im gleichen Atemzug mit einer Drohung, wenn er betonte, der neue Staat werde „genügend Kraft besitzen, um alle Existenzbestrebungen, die das Staatsinteresse schädigen, im Keime zu unterdrücken". 201 Die Mitteilung der tschechoslowakischen Institution an die deutsche Minderheit war eindeutig. Die „Tschechoslowaken" beanspruchten den Status einer Mehrheit und machten den Deutschen als Minderheit ein auf der Grundlage ihres Selbstverständnisses „gerechtes" Angebot. Die Deutschen sollten alles erhalten, was ihnen demnach zustand, und sollten so im neuen Staate Bürger werden. Für den Fall, dass sie dies verweigerten, demonstrierte der Staat Stärke und stellte neben den Mehrheits- auch die Machtverhältnisse klar. Diese Drohgebärden sollten jedoch nicht als aggressive Ausgangsposition verstanden werden. Vielmehr scheinen die zitierten Texte verständlicher, wenn sie auch als Antwort auf die artikulierte Haltung der deutschen Interessenverbände gelesen werden. Exemplarisch sei hier eine weit verbreitete Resolution deutscher Kriegsgeschädigter zitiert: „Unsere Not ist auf das Höchste gestiegen. Wir Kriegsbeschädigten Deutschböhmens schauen mit Entsetzen einer Zukunft voll Hunger und Elend entgegen." 2 0 2 Mit diesen Worten beginnt ein Schreiben an die „Regierung des cecho-slovakischen Staates", das offenbar in Dutzenden Exemplaren versendet wurde. Es findet sich sowohl in den Akten des Sozialministers als auch in denen des Verteidigungsministers und wurde mit gleichem Wortlaut in zahlreichen Ortschaften unterzeichnet. Die nicht datierten Schreiben stammen aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Jahre 1919. Ihr Text lässt sich daher als eine frühe Darlegung iher (offenbar) von zahlreichen deutschen Kriegsgeschädigten geteilten Sicht deuten, die den späteren Diskurs prägte. In dem Schreiben wird die Beschuldigung geäußert, für die deutschböhmischen Kriegsbeschädigten würde „nur der letzte Rest" verbleiben, weil im tschechoslowakischen Staate „mit zweierlei Maß gemessen" werde. 203 Und auch dieses Schreiben operiert bereits mit einer Drohung: Wir fordern nunmehr energisch unser Recht und machen die Regierung darauf aufmerksam, daß wir uns zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefunden haben und daß wir uns nunmehr mit leeren Worten nicht mehr abspeisen lassen. Wenn die Regierung ein Interesse daran hat, uns nicht in die Arme des B o l s c h e w i s m u s zu treiben, s o muß unseren Forderungen Folge geleistet werden. 2 0 4

In dieser Äußerung tat sich nicht primär eine politische Überzeugung kund. Vielmehr glaubten die Deutschböhmen offenbar, dass „der Bolschewismus" für den tschechoslowakischen Staat eine Schreckgestalt darstellte, und drohten deshalb damit. Die Resolution illustriert, dass die Deutschen ihr Elend in nationalen Kategorien definierten und sich bei der Gründung der Republik hinter

26 MSP, K. 4, Nr. 27954/9. 4

2.4 Die Konkurrenz um Ressourcen

161

Prestigeobjekt der Medizin. Sie sollte die sichtbaren Folgen der kriegerischen Gewalt zumindest abmildern und die Invaliden damit jedenfalls teilweise von ihrem Stigma befreien. Noch während des Krieges wurden auf genossenschaftlicher Basis verschiedene Werkstätten gegründet, die Invaliden beschäftigten und damit zur Minderung der Kriegsfolgen in mehrfacher Hinsicht beitrugen. Sie boten den Invaliden Arbeit und Heilmittel. So beschäftigte etwa die orthopädische Genossenschaft der Kriegsinvaliden in Prag Mitte der 1920er Jahre mehr als 200 Invaliden, die ca. zwei Drittel der Belegschaft bildeten. 417 Diese Werkstatt bekam 1920 Besuch vom Staatspräsidenten, was ihr Programm aufwertete und den politischen Stellenwert der Beschäftigungshilfen für Kriegsinvaliden unterstrich. 418 Eine andere Invalidengenossenschaft spezialisierte sich auf Herrenkonfektion. 4 1 9 Gerade im Zusammenspiel von Modernität (orthopädischen Hilfsmitteln, modernen Organisationsformen) und eigener Produktivität demonstrierten die Invaliden oftmals das strahlende Selbstbewusstsein eines zur Arbeit fähigen Kriegsopfers. 4 2 0

417 418 419 420

Kypr, Svétová válka, 73. Novy zivot 4, 1920, Nr. 1, 2; Nr. 10, lf.; Nr. 11, lf.; Nr. 20, 2. Kypr, Svétová válka, 8 1 - 8 6 . Vgl. z.B. die Abbildung bei: Ebd., 64.

3. Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren Die bislang dargestellten Motive und Topoi der Staatsgründung sowie der Kriegsgeschädigtenpolitik wurden in den 20er Jahren entfaltet und vertieft. Grundsätzlich galten sie bis zum Ende der Republik. Im Kontext der Wirtschaftskrise und der sich verschärfenden deutsch-tschechischen Konflikte erfuhren sie jedoch einige Modifikationen.

3.1 Sozialpolitische Rahmenbedingungen Von dem Massenelend, das die Weltwirtschaftskrise der frühen 30er Jahre hervorrief, waren die Kriegsgeschädigten in besonders drastischer Weise betroffen. Dieses Elend stellte wesentliche Pfeiler der tschechoslowakischen Sozialund Kriegsopferpolitik in Frage. Das sozialpolitische Legitimationsmuster der Staatsgründung war durch den Mangel an ökonomischen Ressourcen teilweise unterhöhlt. 1 Die Idee, dass sich der demokratische Staat durch die Gewährung sozialer Rechte legitimierte, stand ebenso zur Disposition wie die Orientierung der Kriegsgeschädigtenpolitik am Ideal des Arbeiters und Familienernährers. Von der Schulung und Vermittlung der Kriegsgeschädigten auf Arbeitsplätze war keine Rede mehr. Dagegen trat die zu geringe Höhe der Invalidenrenten in den Vordergrund. Aus den wenigen Resolutionen von Kriegsgeschädigten in den 30er Jahren sprach die pure Not. Auf die Topoi der Auslandsrevolution und auf idealisierte Präsentationen der Kriegsteilnahme nahmen sie allgemein keinerlei Bezug mehr. Sozial vollzog sich eine Differenzierung zwischen solchen Kriegsgeschädigten, die in den 20er Jahren eine Arbeitsstelle respektive eine staatliche Lizenz bekommen und behalten hatten, und solchen, die weiterhin auf Rentenzahlungen und Armenfürsorge angewiesen blieben. Die wirtschaftliche Krise brachte außerdem deutliche Veränderungen in der sozialen Hierarchie der nationalen Gruppen mit sich, da sie sich in den überwiegend von Deutschen besiedelten Gebieten am deutlichsten auswirkte (die sudetendeutsche Industrie war extrem vom Export abhängig). Dass in einer Zeit, in der „starke und gesunde Leute" keine Arbeit fanden, für die „körperlich schwachen und gebrechlichen" Kriegsinvaliden die Erwerbschancen sehr schlecht waren, räumte auch der Sozialminister ein und betonte die besondere Verpflichtung des Staates den Kriegsopfern gegenüber. 2 Das Elend der Arbeitslosen konnten die sozialen Institutionen - trotz des Bekenntnisses, sich um die „Opfer der

1 2

Houser, Vyvoj sociální správy, 40. Dvacet let práce Druziny, 5.

164

3. Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren

Wirtschaftkrise" 3 besonders kümmern zu wollen - kaum eindämmen. 4 Auch die Mittel aus einem 1930 aufgelegten staatlichen Hilfsfond für Kriegsinvaliden änderten wenig an der miserablen Situation der nichterwerbstätigen Kriegsgeschädigten. 5 Statt moderner Präventions- und Sozialisationsmaßnahmen gingen die Hilfsorganisationen zu den banalsten Formen der Armenfürsorge über und verteilten Naturalien und Kleidungsstücke. 6 Im Hintergrund verschoben sich außerdem die außenpolitischen Koordinaten. Die Etablierung autoritärer Regime in zahlreichen Nachbarstaaten führte zwar im Innern zur Beschwörung des demokratischen Grundkonsenses, 7 abstrakte demokratische Gemeinschaftsideale verloren jedoch gerade im Vergleich zu den scheinbar florierenden Führerdiktaturen ihre Anziehungskraft insbesondere für die besonders hart vom Massenelend betroffenen „Sudetendeutschen" 8 . Die deutschen Organisationen in der Tschechoslowakei verglichen die sozialen Zustände im Reich mit den eigenen und kamen zu dem Schluss, dass es ihnen als Minderheit in einem „fremden" Staat besonders schlecht erging. Diese Denkfigur schrieb sich auch in die tschechoslowakischen sozialpolitischen Institutionen ein. Nach Hitlers Machtergreifung reagierten diese empfindlich darauf, dass die Nationalsozialisten in Deutschland in Sozial- und Arbeitsmarktpolitik investierten. Ein Artikel in Péce o mládez betonte 1935 mit Bezug auf die „Winterhilfe" im nationalsozialistischen Deutschland die Einbettung der tschechoslowakischen Sozialpolitik in das demokratische Gleichheitspostulat. Auch wenn in der Tschechoslowakei nicht in gleichem Maße Mittel investiert werden könnten, so würden diese doch nach der Maßgabe verteilt, dass alle Leidenden gleichermaßen etwas davon bekommen sollten. Diese Maxime war explizit mit Blick auf die Minderheiten formuliert, die darauf eingeschworen werden sollten, dass soziale Versorgung unter Preisgabe demokratischer Freiheit kein Ideal sein könne. Dass dieser Appell seine Wirkung verfehlen würde, zog der Artikel bereits ins Kalkül, denn er schloss mit dem Satz: „Heute oder morgen kann unsere Freiheit, unsere Unabhängigkeit bedroht werden - es ist an uns, alle Kräfte zu ihrer Verteidigung zu sammeln; damit werden wir auch unsere Demokratie verteidigen." 9 3

Jaromir Necas, 20 let sociální péce ν Ceskoslovenské republice. Prag 1938, 7. Auch arbeitslose und nichtarbeitsfahige Legionäre sowie die Angehörigen gefallener Legionäre mussten eine „Verschlechterung" ihrer ökonomischen Lage hinnehmen. Dies bemängelten verschiedene Legionärsorganisationen und forderten Abhilfe, vgl. MSP,

4

K. 216. 5

Necas, 20 let sociální péôe, 94. Deyl, Sociální vyvoj, 186. 7 Vgl. z.B.: Nase doba 44,1936/37, 257f. 8 Der Begriff „sudetendeutsch" steht für den Versuch, eine gemeinsame Identität der Deutschen in den überwiegend deutsch besiedelten Gebieten der Tschechoslowakei herzustellen. Dabei handelte es sich um die zu Schlesien, Böhmen und Mähren gehörenden Randgebiete, deren deutsche Bevölkerungen während der Zwischenkriegszeit vor allem die antitschechische Haltung einte, vgl.: Gebel, „Heim ins Reich", 36. 9 Péce o mládez 14,1935, 255. 6

3.1 Sozialpolitische Rahmenbedingungen

165

Der Sozialminister Jaromír Necas bekannte sich aus Anlass des 20-jährigen Bestehens der Republik vermutlich kurz vor der Unterzeichnung des Münchner Abkommens zu „einer progressiven Lösung der sozialen Fragen". Die Republik sei auf den „grundlegenden Ideen der Freiheit und der Demokratie aufgebaut" 1 0 . Er betonte mit Blick auf die Vereinheitlichung der Rechtsprechung, dass eine staatliche Konsolidierung gelungen sei. Diese trage wesentlich zum „sozialen Frieden" bei. Der Staat und seine Sozialpolitik erschienen hier als Garanten der Stabilität." Der Minister hatte hierbei vermutlich vor allem die Entwicklung in der Slowakei im Blick. Die Vereinheitlichung der Rechtsprechung hatte dort zur staatlichen Konsolidierung geführt. Trotz der Wirtschaftskrise waren die dreißiger Jahre in der Slowakei durch eine kulturelle Blüte gekennzeichnet, die zu einer Integration in die nationalstaatlichen Strukturen beitrug. Der Anstieg des Bildungsniveaus war ein wesentliches Kennzeichen dieser Entwicklung. 1 2 Angesichts der sozialen Not betonten also die sozialen Institutionen ihre Gründungsmotive und versuchten die Grundpfeiler der nationalstaatlichen Ordnung zu festigen. Die Kopplung von Demokratie und Sozialfürsorge erwies sich dabei als rein theoretisch. Die Forderung nach und die Inanspruchnahme von sozialen Leistungen stellte auch in den 20er Jahren weder ein Bekenntnis zur Demokratie noch zum Staat dar. In einer spezifischen Kopplung von nationalen und sozialen Topoi wurde der demokratische Grundkonsens jedoch in den 30er Jahren von zahlreichen Angehörigen der deutschen Minderheit grundsätzlicher als zuvor in Frage gestellt und zusehends aktiv zersetzt. Der von Necas benutzte Begriff des „sozialen Friedens" stand vor diesem Hintergrund für eine neue Qualität im sozialpolitischen Diskurs. Er verband zweierlei: Erstens die innere Stabilität, gegründet auf der gerechten Verteilung der Ressourcen und der Anerkennung der Staatsmacht, sowie zweitens die Festigung nach außen und die Wahrung des Friedens. Im Begriff des „sozialen Friedens" drückte sich die Verknüpfung von sozialer Krise, der Lage und Politik der deutschen Minderheit und der seit 1933 immer stärker empfundenen außenpolitischen Unsicherheit aus, die letztlich zur Destruktion des Staates führen sollte. Das größte sozialpolitische Problem der 30er Jahre war die Massenarbeitslosigkeit. Sie galt als „soziale Katastrophe" 13 . Dies korrespondierte mit einer paradigmatischen Vorstellung von Arbeit. Die moderne Organisation von Erwerbsarbeit und ihrer sozialen Einbettung schuf zugleich eine Vorstellung von Arbeitslosigkeit, die es zuvor nicht gab und die scharfe soziale Abgrenzungen hervorbrachte. 14 Auch vor diesem Hintergrund ging es im Be10

Necas, 20 let sociální péce, 7. i' Ebd. 12 Kamenec, Hlavné trendy, 4 4 7 - 4 4 9 . 13 Devi, Sociální vyvoj, 106. 14 Rakosnik, Od tulákú.

166

3. Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren

schäftigungsdiskurs nicht nur um ein Auskommen, sondern auch um gesellschaftliche Positionen. Im ganzen Land verursachte die Wirtschaftskrise ein Absinken der Löhne und ein Anwachsen der Arbeitslosigkeit. 15 Während sich die tschechoslowakische Wirtschaft insgesamt ab Mitte der 30er Jahre wieder erholte, blieb das Niveau der Arbeitslosigkeit in den Randgebieten sehr hoch. 16 Volker Zimmermann nennt folgende Zahlen: Im Winter 1932/33 waren zwei Drittel der Arbeitsuchenden in der Tschechoslowakei Deutsche (wobei sie nur ein Viertel der Bevölkerung stellten). 1936 waren über 19 Prozent der Bevölkerung in den überwiegend deutsch besiedelten Gebieten und etwas über 11 Prozent in den anderen Gebieten arbeitslos. 17 Hierbei wurden mit größter Wahrscheinlichkeit solche Personen gezählt, die zuvor Arbeit hatten. Faktisch waren vermutlich noch mehr arbeitsfähige Menschen ohne festen Erwerb. Es ist davon auszugehen, dass in vielen ehemaligen kleineren Industriestandorten der vornehmlich von Deutschen besiedelten Gebiete ähnliche Zustände herrschten wie in dem österreichischen Industriedorf Marienthal. Nach der Schließung mehrerer Fabriken im Jahre 1927 war dort die Mehrheit der Bevölkerung von sozialer Unterstützung abhängig. Ein soziologisches Forschungsteam führte daraufhin in Marienthal eine ausführliche Untersuchung der sozialen Verhältnisse durch, die in zahlreichen Auflagen veröffentlicht wurde und bis heute als soziologische Grundlagenstudie gilt. Die Untersuchung teilte die Arbeitslosen in einen ungebrochenen, einen resignierten, einen verzweifelten und einen apathischen Typus ein. Bei weitem die meisten hatten resigniert, das heißt sie hatten kaum Hoffnung auf Besserung ihrer Lage und arrangierten sich auf einem niedrigen ökonomischen Niveau mit ihrer elenden Lage. Für den Erfolg der entsprechenden Lebensstrategien war sparsames Einkaufen, Kochen, Nähen und Ähnliches von entscheidender Bedeutung. Der schmale Grad zwischen Verwahrlosung und einem würdigen Leben wurde meistens von den Frauen verteidigt. Nur einige, meist alkoholabhängige Eltern gaben auf und überließen ihre Familien dem Hunger und der Kälte. Ein überaus strenges hauswirtschaftliches Regiment sowie nächtliches Wäschestopfen und Umarbeiten konnten dazu beitragen, dass es an allen Tagen eine warme Mahlzeit gab oder dass man auch im Winter etwas zum Anziehen hatte, mit dem man sich in die Kälte wagen konnte. Die Studie verdeutlicht, dass der Alltag der Arbeitslosen im familiären Raum gelebt und dort zu sozialer Realität gemacht wurde. Alleinstehende Arbeitslose erfasste sie nicht. Die Forscher konstatierten darüber hinaus einen direkten Zusammenhang zwischen der Höhe der Arbeitslosenbezüge und dem Grad der Verzweiflung. Dies ist vor dem Hintergrund nachvollziehbar, dass es für die Einzelnen um die Versorgung mit unbedingt Existenziellem ging. Zugleich weist diese Studie aber auch

15 16 17

Zum Absinken der Löhne vgl.: Kárník, Ceské zemë, Bd. 2, 49. Ebd., 50; Bd. 3, 59f. Zimmermann, Die Sudetendeutschen, 38.

3.1 Sozialpolitische Rahmenbedingungen

167

nach, dass sich vorherige Lebenskonzeptionen und Selbstbilder auf die sozialpsychologischen Folgen der Arbeitslosigkeit auswirkten. Besonders schwer haderten solche Menschen, die zuvor unterqualifiziert gearbeitet und auf eine bessere Stellung gehofft hatten. Besser erträglich wurde die Arbeitslosigkeit für Menschen, die ein vorheriges ehrenamtliches Engagement weiterfuhren konnten. 18 Wie in Marienthal, so war auch in den deutschböhmischen Gemeinden vermutlich an zahlreichen Orten die Mehrheit der Menschen nicht erwerbstätig. In der Reaktion hierauf gab es einen entscheidenden Unterschied: Die Soziologen stellten in Marienthal einen Einbruch des sozialen Lebens fest. Vereine und Gewerkschaften stießen auf das Desinteresse der Menschen. Obwohl die Arbeitslosen von Marienthal Zeit hatten, zogen sie sich größtenteils von politischen, kulturellen und sozialen Aktivitäten zurück. Im Gegensatz dazu organisierten sich in der Tschechoslowakei immer mehr Deutsche in der Sammlungsbewegung „Sudetendeutsche Heimatfront", seit 1935 „Sudetendeutsche Partei", unter Konrad Henlein, die seit 1933 radikale Nationalsozialisten, nationalistische Turner und ebenfalls antidemokratische Heimatpolitiker des Kameradschaftsbundes vereinte. 19 In diesem Zusammenhang wurde das individuelle Elend als ein Schicksal der eigenen Volksgruppe definiert und damit gewissermaßen kollektiviert. Es gab eine Schnittstelle von individuellem Erleben und kulturellen Deutungen, die politisch mobilisierend wirkte. Das eigene Elend bekam in dieser sudetendeutschen Perspektive einen Sinn. Es galt als Zeichen der nationalen Benachteiligung. In diesem Kontext wurde der (persönlichen und kollektiven) eigenen Verelendung eine politische Absicht des tschechoslowakischen Staates unterstellt. Sie wurde als Folge eines Angriffs definiert. Die Sudetendeutsche Partei förderte eine Radikalisierung dieser nationalistischen Sicht auf die soziale Situation. Vor dem Hintergrund der Orientierung der Sozialpolitik und ihrer Klientel am Ideal des Familienernährers war mit dem wirtschaftlichen Niedergang der überwiegend von Deutschen besiedelten Gebiete auch eine empfindliche Zurücksetzung im

18 Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle (Hrsg.), Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziologischer Versuch über die Wirkung langdauernder Arbeitslosigkeit. Mit einem Anhang zur Geschichte der Soziologie. Leipzig 1933. 72-74. 19 Die Mitgliederzahlen der Sudetendeutschen Partei stiegen von 9 500 im Oktober 1933 auf 71 431 im Oktober 1934, 384 982 im Oktober 1935, 559614 im Februar 1938 auf 1348 180 (weit mehr als ein Drittel der sudetendeutschen Bevölkerung); vgl.: Zimmermann. Die Sudetendeutschen, 40, 58. Der hohe Mobilisierungsgrad der Vereine, Parteien und Verbände kann allgemein im Sinne einer „politisch klassenlosen Einheit" als manifester Ausdruck der in der Ablehnung des tschechoslowakischen Staates geeinten „sudetendeutschen Identität" gelten, vgl. Karl Bosl, Das Geschichtsbild der Sudetendeutschen als Integrationsproblem, in: Bohemia 21, 1980, 155-170. hier 162f.; Otfrid Pustejovskv. „Sudetendeutsche Identität" als Abgrenzungs- und Rechtfertigungsideologie. Überlegungen und Argumente aus historischer Sicht, in: Ferdinand Seibt (Hrsg.), Die böhmischen Länder zwischen Ost und West. Festschrift für Karl Bosl zum 75. Geburtstag. Wien 1983, 3 0 7 - 3 2 7 , hier 316.

168

3. Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren

Status besonders der Männer verbunden. Die Neigung vieler Sudetendeutscher, die eigene Misere der „Tschechenherrschaft" zuzuschreiben 2 0 , enthält hier eine bislang kaum beachtete Komponente. Verhandelt wurden nämlich nicht nur Funktionen staatlicher Beherrschung und Versorgung, sondern es ging in einem weiteren Sinne um Machteinbuße, Ohnmachtsgefühle und (narzisstische) Kränkungen. 2 1 Es kann vermutet werden, dass die Arbeitslosigkeit der männlichen Familienernährer in den sudetendeutschen Gebieten wie in Marienthal nicht nur die soziale Lage der ganzen Familie massiv verschlechterte, sondern auch den Alltag und die familiäre Binnenstruktur veränderte. Im Kontext einer unterstellten absichtsvollen nationalen Zurücksetzung in einer überaus belastenden wirtschaftlichen Situation wurden Elend und Arbeitslosigkeit zur Antriebskraft der politischen Radikalisierung. Damit bekam die Arbeitslosigkeit in den überwiegend von Deutschen bewohnten Gemeinden der Tschechoslowakei eine zusätzliche Bedeutung, die - nicht nur für die Arbeitslosen selbst, sondern auch für ihre Angehörigen - aggressiv nach außen gerichtete Handlungsmuster schuf. Die antitschechische Politik der Sudetendeutschen Partei arbeitete mit einer eigenartigen Mischung aus der Selbstdeklaration als Opfer und der überlauten Artikulation eines eigenen Machtanspruchs.

3.2 Orientierungen der Kriegsgeschädigtenvereinigungen Der Sozialminister bescheinigte der Gefolgschaft der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigten 1937 eine wichtige Rolle im demokratischen Gefüge. Er bestätigte den Opferstatus ihrer Mitglieder und interpretierte ihre Opfer zugleich als Opfer fur die Republik. 2 2 Die Fortschreibung der alten Opfermuster war aus der tschechoslowakischen Perspektive in den 30er Jahren neben der sozialen Not von einem latenten Gefühl der Bedrohung von außen begleitet. Diese Koordinaten bestimmten auch die Veränderungen im institutionellen Gefüge der Kriegsgeschädigtenorganisationen. Das betraf die Etablierung einer Jugendorganisation, die aus Sicht der frühen zwanziger Jahre erstaunliche Allianz zwischen Kriegsgeschädigten und Legionären sowie das Zerwürfnis mit den deutschen Kriegsgeschädigtenorganisationen.

20

Auch nach dem Anschluss an das Deutsche Reich fühlten sich zahlreiche Sudetendeutsche bei der Vergabe von Aufträgen und von Staatsstellen benachteiligt. Konkurrenten waren nunmehr die Reichsdeutschen, vgl.: Zimmermann, Die Sudetendeutschen, 3 7 - 3 9 , 171-180. 21 Auf wichtige „sozialpsychologische Reaktionsmuster" machte vor 30 Jahren bereits Jaworski aufmerksam. Seine Überlegungen sind jedoch von der Forschung nicht weitergeführt worden, vgl.: Rudolf Jaworski, Vorposten oder Minderheit? Der sudetendeutsche Volkstumskampf in den Beziehungen zwischen der Weimarer Republik und der CSR. Stuttgart 1977, 4 8 - 5 5 . 22 Dvacet let práce Druziny, 6.

3.2 Orientierungen der Kriegsgeschädigtenvereinigungen

169

Die Jugendorganisation der Gefolgschaft der Kriegsgeschädigten wurde 1933 unter dem Namen Mládez druziny ceskoslovenskych válecnych poskozencù (Jugend der Gefolgschaft der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigten) gegründet. Ihr Ziel war die Vereinigung der Kinder von Kriegsinvaliden, die ihr 18. Lebensjahr vollendet hatten. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise wollte die Initiative vor allem fur die als benachteiligt geltenden Kinder der Kriegsopfer Arbeitsmöglichkeiten schaffen. Eine ähnliche Organisation gab es auch bei den Legionären, mit der die Gefolgschaftsjugend kooperierte. 2 3 Die letztgenannte Organisation setzte sich außerdem für den Frieden ein. Dieser Begriff hatte in der Auffassung der Kriegsopferkinder eine klare sozialpolitische Konnotation. Bei der Gründungsversammlung der Gefolgschaftsjugend hieß es, Frieden könne nur herrschen, wenn das Volk zufrieden sei, wenn das Leben „wenigstens ein bisschen besser" und die Arbeitslosigkeit verringert werde. 24 Diese Äußerung steht in Korrespondenz zum Topos des sozialen Friedens als Grundlage für ein ungestörtes und würdiges Zusammenleben der Bürger im Staate. Sie war zugleich Forderung, Bekenntnis und Appell an zwei Adressaten. Die staatlichen Institutionen sollten für eine Verbesserung der sozialen Verhältnisse sorgen, und das Volk sollte den Frieden wahren. Eine systematische Organisierung der Kinder Kriegsgeschädigter und anderer Veteranen gab es auch in anderen europäischen Staaten. 1933 tagte in Genf ein internationaler Kongress der Jugendorganisation des Zusammenschlusses der europäischen Kriegsgeschädigtenorganisation CIAMAC. Die tschechische Kriegsgeschädigtenjugend gehörte dieser internationalen Organisation an. 25 Analog zur Intensivierung der Jugendarbeit wurden in den Statuten der Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter 1935 auch „Nachkriegsgeschädigte" definiert, die man in das Hilfsprogramm aufnahm. Dabei handelte es sich um die Hinterbliebenen verstorbener Invaliden. 2 6 Als eine „neue Etappe der Arbeit" 2 7 der Gefolgschaft wurde 1934 die Zusammenarbeit mit der Legionärsgemeinde (Ceskoslovenská obec legionárská) vorgestellt. Die nunmehr als „ehemalige tschechoslowakische Soldaten" 2 8 zu einer Gruppe zusammengefassten Kriegsinvaliden und Legionäre arbeiteten unter anderem gemeinsam für die Errichtung von Kriegsgefallenendenkmalen. Aus diesem Anlass erinnerten sie in einem Manifest daran, wie grausam der Krieg gewesen sei. Gleichzeitig beschworen sie die Gründungsmythen, insbesondere den Kampf gegen die Monarchie. Die Aufforderung zur Wahrung des Friedens manifestierte sich auch hier in einem Bekenntnis zur Demokratie, und 23

V. Halíková/O. Kohn/L. Neskrabal/J. Pivoñka/M. Ríhová (Hrsg.), Mládez Druziny

csl. válecnych poskozencû. Konference mládeze, Programové zásady, organisacní pokyny. Prag 1936, 16 f. 24 Novy zivot 18, 1934, Nr. 50, 1. « Novy zivot 18, 1934, Nr. 17, 49. 2 « MV, K. 4580, Nr. 2/100/14. Novy zivot 18, 1934, Nr. 32, 1.

170

3. Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren

zwar in den Begriffen von Wahrheit, Freiheit und Menschlichkeit. Das Zusammengehen von Kriegsgeschädigten und Legionären basierte auf einer begrifflichen Verschränkung von Gründungsmythen und Friedensappellen, von Opferrepräsentationen und Befreiungsrhetorik. 29 In Novy zivot erschienen seit Mitte der 30er Jahre mehrfach Artikel, aus denen Angst vor einem neuen Krieg sprach. 30 Aus Anlass des zwanzigsten Jahrestages des Kriegausbruches erinnerte ein Artikel daran, welche schrecklichen Opfer dieser gefordert hatte und wie sehr die Kriegsgeschädigten unter seinen Folgen litten. Damit wiederholte und bekräftigte er die alte Deutung. In dieser Form neu war jedoch der eindringliche Aufruf, sich unter dem Banner von „Demokratie und Frieden" zu sammeln: Zu Frieden und Gegenseitigkeit rufen wir vor allem uns selbst, unser eigenes Volk und alle Nationalitäten unserer teuren Republik. Der Frieden, den wir untereinander begründen und gegenseitig ehren, wird der nachhaltigste Dienst sein, den wir dem Weltfrieden erweisen. 31

Insgesamt war die tschechoslowakische Kriegsgeschädigtengefolgschaft in den 30er Jahren vorrangig an einer Festigung der eigenen Position und an Traditionspflege interessiert. Neben der patriotisch vorgetragenen Opferrhetorik artikulierte sie vor allem Friedensappelle. In der Zusammenarbeit mit den Legionären wurde der Versuch unternommen, sich noch stärker als zuvor in den Gründungskanon der Republik einzuschreiben. In der Furcht vor einem Ende des sozialen Friedens und einer Eskalation der Konflikte mit den Sudetendeutschen intensivierte sich das Bekenntnis zum Staat auch in der pazifistischen Rhetorik. Die schon in den 20er Jahren angelegte organisatorische Konkurrenz zwischen der deutschen und der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigtenvereinigung verschärfte sich jedoch erst 1938. Was die deutsche Minderheit betrifft, so muss zwischen der Politik der Sudetendeutschen Partei einerseits und jener des Bundes der Kriegsgeschädigten andererseits unterschieden werden. Die Auslegung der wirtschaftlichen Misere in nationalen Kategorien, wie sie von der Sudetendeutschen Partei betrieben wurde, wirkte sich nur partiell auf die Agitation des Bundes der Kriegsverletzten aus. Letzterer orientierte sich, obgleich er politisch neutral sein wollte, vorrangig an sozialdemokratischen Positionen und schwenkte erst sehr spät auf eine nationalchauvinistische Linie um. In der Agitation mischten sich damit auf die soziale Gerechtigkeit gerichtete und deutschnationale Positionen. Dabei argumentierte der Bund eindeutig aus der Position einer benachteiligten Minderheit, jedoch orientierte er sich nicht am Reich. Von der Sudetendeutschen Partei grenzte er sich zunächst zwar nicht expressis verbis 28

30 31

Novy zivot 18, 1934, Nr. 31, 1. Novy zivot 19, 1935, Nr. 28, 1. Vgl. u.a.: Novy zivot 19, 1935, Nr. 12, 1; Nr. 13, 1. N o v y zivot 18, 1934, Nr. 29, 1 ; ähnlich: Nr. 33, 1.

3.2 Orientierungen der Kriegsgeschädigtenvereinigungen

171

ab, w o h l a b e r in d e r D e u t u n g u n d E i n o r d n u n g d e r E r e i g n i s s e . Im K o n t e x t d e r A u f g a b e d e r s e p a r a t i s t i s c h e n Politik d e r d e u t s c h e n P a r t e i e n in d e r T s c h e c h o s l o w a k e i n u t z t e a u c h d e r B u n d d i e P a r t i z i p a t i o n s m ö g l i c h k e i t e n , d i e sich b o t e n , u n d k o o p e r i e r t e seit E n d e d e r 2 0 e r J a h r e bis z u m A n s c h l u s s Ö s t e r r e i c h s an d a s D e u t s c h e R e i c h m i t d e r t s c h e c h i s c h e n G e f o l g s c h a f t (vor a l l e m bei d e r Vert r e t u n g t s c h e c h o s l o w a k i s c h e r K r i e g s g e s c h ä d i g t e r in d e r i n t e r n a t i o n a l e n O r g a n i s a t i o n CIAMAC).32

D i e V o r s t e l l u n g e i n e s n a t i o n a l e n A n t a g o n i s m u s hatte sich

d a m i t j e d o c h nicht ü b e r l e b t . V i e l m e h r w a r d i e K o o p e r a t i o n e i n e Frage d e r S t r a t e g i e . D a s g r u n d l e g e n d e D e n k e n in n a t i o n a l e n K a t e g o r i e n k o n n t e d a b e i politisch variiert werden. Als die wichtigste g e m e i n s a m e Position der tschechischen und der deutschen

Kriegsgeschädigten

kann

die

Sorge

um

den

Frieden

gelten.

Die

E r i n n e r u n g an d a s G r a u e n d e s E r s t e n W e l t k r i e g e s b e w i r k t e bei d e n K r i e g s g e s c h ä d i g t e n j e n s e i t s der nationalen Deutungsmuster eine tiefe Abscheu gegen d e n K r i e g als s o l c h e n . D i e W a r n u n g e n v o r e i n e m n e u e n K r i e g stellten d i e z e n trale B o t s c h a f t d e r g e s c h ä d i g t e n Veteranen dar. A n d e n ö f f e n t l i c h e n V e r l a u t b a r u n g e n g e m e s s e n w a r sie d e n V e t e r a n e n w e i t w i c h t i g e r als p o l i t i s c h e O r i e n t i e r u n g e n . D e r B u n d e r h o b d a r ü b e r h i n a u s bei allen sich b i e t e n d e n G e l e g e n h e i t e n seine

„berechtigten

Forderungen",

worunter

vor

allem

die

angemessene

V e r s o r g u n g d e r K r i e g s g e s c h ä d i g t e n v e r s t a n d e n w u r d e . A n d e r s als a m B e g i n n d e r 2 0 e r J a h r e v e r s a h er d i e s e Postulte nicht m e h r mit f r o n t a l e n A n g r i f f e n g e g e n d i e staatliche M i n d e r h e i t e n p o l i t i k . Z w a r m a c h t e d e r B u n d d i e t s c h e c h i schen B e a m t e n in d e n ö r t l i c h e n B e h ö r d e n w i e b e s o n d e r s im L a n d e s a m t in P r a g w e i t e r h i n z u r Z i e l s c h e i b e s e i n e r K r i t i k , d o c h b e z o g sich d i e s e K r i t i k nicht a u f das Ministerium für Sozialfürsorge. Vielmehr wurden die einzelnen Sozialm i n i s t e r als F r e u n d e u n d U n t e r s t ü t z e r d e r K r i e g s g e s c h ä d i g t e n d a r g e s t e l l t , zu denen man gute Kontakte pflegte.33 Bis E n d e der 3 0 e r J a h r e stellten Vertreter d e s B u n d e s u n d d e r G e f o l g s c h a f t g e m e i n s a m e A b o r d n u n g e n zu d e n z e n t r a l s t a a t l i c h e n I n s t i t u t i o n e n w i e a u c h bei

der

internationalen

Kriegsgeschädigtenorganisation.

So

gehörten

zum

B e i s p i e l Vertreter b e i d e r O r g a n i s a t i o n e n 1936 e i n e r g e m e i n s a m e n D e l e g a t i o n d e r CIAMAC

z u m P r ä s i d e n t e n B e n e s a n , in d e r e n V o r d e r g r u n d die A b w e n d u n g

d e r K r i e g s g e f a h r s t a n d . D i e A t m o s p h ä r e s c h i l d e r t e d e r „ K r i e g s v e r l e t z t e " als sehr f r e u n d s c h a f t l i c h . B e n e s a n t w o r t e t e d e n d e u t s c h e n Vertretern

in

ihrer

M u t t e r s p r a c h e . E r z e i g t e sich o p t i m i s t i s c h , d a s s d e r F r i e d e n a n d a u e r n und m a n Zeit zur Lösung der Probleme der Kriegsgeschädigten finden werde.34 Einen Höhepunkt barungen

gegenseitiger

Freundschaftsbekundungen

anlässlich des 20-jährigen

stellten

die

Verlaut-

B e s t e h e n s d e s B u n d e s 1937 dar.

Der

S o z i a l m i n i s t e r N e c a s lobte in s e i n e m F e s t t a g s b e i t r a g : „ E s ist als e r f r e u l i c h e

32 Der Kriegsverletzte 19, 1937, Nr. 7, 1, 4. 33 Der Kriegsverletzte 7, 1925, Nr. 4, 1; 12, 1931, Nr. 11, 1. 34 Der Kriegsverletzte 18, 1936, Nr. 3, lf.

172

3. Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren

Erscheinung hervorzuheben, daß der ,Bund der Kriegsverletzten' in seiner Tätigkeit der Interessenvertretung der Kriegsverletzten der loyalen Zusammenarbeit mit der Staatsverwaltung nicht ausgewichen ist." 35 Hiermit wurde der Bund positiv gegen die antidemokratischen sudetendeutschen Organisationen abgegrenzt. In krassem Gegensatz zu den Verlautbarungen der deutschen Kriegsgeschädigten der frühen 20er Jahre stand die weitere Bekundung des Sozialministers: „Auf dem Gebiete der Kriegsgeschädigtenfürsorge hat es eine Nationalitätenfrage überhaupt nicht gegeben. Vor den Ämtern der staatlichen sozialen Fürsorge stand immer nur der Kriegsverletzte." 3 6 Sie blieb an dieser Stelle unwidersprochen. Ähnlich versöhnlich war auch der Nachruf auf den „Präsident-Befreier" Masaryk, der eine Titelseite einnahm. Dort hieß es: „Die Sudetendeutschen betrauern in dem Verblichenen einen Mann, der für die Lage des sudetendeutschen Volkes volles Verständnis hatte." 3 7 Die Annäherung zwischen den staatlichen Institutionen und der deutschen Kriegsgeschädigtenvereinigung stehen im Kontext der verstärkten politischen Zusammenarbeit der so genannten aktivistischen deutschen und der tschechischen Parteien nach dem großen Wahlsieg der Sudetendeutschen Partei im Jahre 1935. Es ging darum, diejenigen deutschen Parteien und Organisationen zu stärken, die dem tschechoslowakischen Staat in einer positiven Grundhaltung begegneten. 3 8 Gleichzeitig gab es erste Anzeichen einer Formierung des Bundes unter dem Banner einer deutschen Einheitsfront. Gegen die Gefolgschaft führte der Bund erstmals 1933 ins Feld, sie würde in den deutschsprachigen Gebieten Spendenaufrufe in deutscher Sprache verbreiten und damit die Öffentlichkeit irreleiten. Die Aufrufe würden den Eindruck hinterlassen, die Spenden kämen deutschen Kriegsgeschädigten zugute. Öffentlich wurde die Gefolgschaft aufgerufen, dieses zu unterlassen. 3 9 Als ein Zeichen der Annäherung des Bundes an das deutschnationale Lager lässt sich sein Eintritt in die 1935 gegründete „Vereinigung der sudetendeutschen Kriegsteilnehmerschaft" lesen. Darin waren neben dem Bund die deutschnationale Veteranenvereinigung „Verband der Unterstützungsvereine ,der Heimat Söhne im Weltkrieg'" und die „Reichsvereinigung ehemaliger Kriegsgefangener" zusammengeschlossen. 4 0 Wie die tschechischen Kriegsgeschädigten und Legionäre tat sich auch die deutsche Arbeitsgemeinschaft vor allem durch ihr vehementes Eintreten für den Frieden hervor. Erst im April 1938 schloss sich der Bund der Agitation der Sudetendeutschen Partei an, indem er zustimmend die Parlamentsrede eines Abgeordneten dieser Partei zur Kriegsgeschädigtenpolitik abdruckte. Darin wurde vorgerechnet, dass die Kriegsgeschädigten in Österreich viel höhere 35 Der Kriegsverletzte 19, 1937, Nr. 7, 10. 36 Ebd. 37 Der Kriegsverletzte 19, 1937, Nr. 10, 1. 38 Vgl.: Zuckert, Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität, 257f. 39 Der Kriegsverletzte 15, 1933, Nr. 5, 1. 40 Der Kriegsverletzte 17, 1935, Nr. 9, 1.

3.2 Orientierungen der Kriegsgeschädigtenvereinigungen

173

Bezüge erhielten und diese durch den Anschluss Österreichs an das Reich noch weiter steigen würden. Der Redner brachte die neue Forderung ein, die deutschen Kriegsgeschädigten müssten von deutschen Ärzten untersucht und in deutschen Klinken behandelt werden. Auch die Mitgliedschaft deutscher Kriegsgeschädigter in der Gefolgschaft wurde nun gebrandmarkt: „Denn allein die Aufforderung, daß ein deutscher Kriegsgeschädigter einer tschechischen Organisation beitreten soll, ist eine beleidigende Zumutung." Die Gefolgschaft sollte sich demnach aus den Belangen der deutschen Kriegsgeschädigten in der Republik vollständig heraushalten. 41 Hier wurde der alte deutsch-tschechische Antagonismus in einer deutlich radikalisierten Ausschließlichkeit propagiert. Es ging nicht mehr um eine gemeinsame Sprache der Behörden und ihrer Klienten, sondern man redete einem nationalen Essentialismus das Wort, wonach ein tschechischer Arzt auch dann keinen Deutschen behandeln sollte, wenn er deutsch sprach, und ein Deutscher grundsätzlich keiner tschechischen Vereinigung angehören sollte. In der nächsten Nummer des „Kriegsverletzten" wurde in diesem neuen nationalvölkischen Duktus ausgeführt, der Bund habe von Anbeginn seiner Tätigkeit die „wahre Volksgemeinschaft aufrechterhalten". In diesem Zusammenhang bekannte sich der Vorsitzende des Bundes Ferdinand Pfeifer zum Alleinvertretungsanspruch der Sudetendeutschen Partei für die Deutschen in der Republik. In einer merkwürdigen Doppelung der Begriffe „deutsch" und „sudetendeutsch" führte er aus: „Das ist eine Stärke unseres Bundes und ich möchte sagen unsere Stärke überhaupt, dass wir immer nur sudetendeutsche Kriegsbeschädigte waren und nichts anderes als deutsche Kriegsgeschädigte." 4 2 So verengten sich eine Vielzahl von Optionen in der Republik zu einer einzigen Daseinsform der „Sudetendeutschen" und mithin der deutschen Kriegsgeschädigten: Deutschsein. In den Akten des Innenministeriums befindet sich ein Ausschnitt aus einer Zeitung der deutschen sozialdemokatischen Partei der Tschechoslowakei vom April 1938 unter der Überschrift „Bund der Kriegsverletzten vor der Gleichschaltung?". Darin wurde berichtet, deutsche Kriegsgeschädigte sollten ohne Beitragsleistung in die Sudetendeutsche Partei aufgenommen werden. Drahtzieher sei ein Parteigänger gewesen, der dies angeblich ohne Wissen der Leitung des Bundes der Kriegsgeschädigten veranlasst habe. 43 Im Sommer 1938 vollzog der Bund tatsächlich den Prozess einer freiwilligen Gleichschaltung. Deutschen Kriegsgeschädigten, die bei der Gefolgschaft organisiert waren, wurde ein Ultimatum gestellt. Falls es sich um „erwünschte" Personen handelte, sollten sie von den Ortsgruppenfunktionären gezielt aufgesucht und überzeugt werden, bis zum 30. Juni bei der Gefolgschaft aus- und beim Bund einzutreten. Eine Doppelmitgliedschaft werde fortan nicht mehr möglich sein.

41

Der Kriegsverletzte 20, 1938, Nr. 4, l f . Der Kriegsverletzte 20, 1938, Nr. 5, 1. « MV, K. 4 5 7 0 , Nr. 2/88/8. 42

174

3. Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren

Angeblich hatte die Gefolgschaft eine „gefürchtete Agitation gegen unsere Organisation" 4 4 entfaltet. Worin diese jedoch bestand, verschwieg das zitierte Schreiben. Tatsächlich handelte es sich bei dem Manöver des Bundes um die Durchsetzung einer neuen Politik, die im Kontext der politischen Radikalisierung gesehen werden muss und in dieser Form im März 1938 auch von der Sudetendeutschen Partei der deutschen Bevölkerung gegenüber betrieben worden war. 45 In der Begründung des Ultimatums wurde eine Sichtweise formuliert, die Interessenpolitik nunmehr völkisch fasst: Seit Gründung des tschechoslowakischen Staates stand unsere Organisation immer auf dem Standpunkte, dass die Interessen der deutschen Kriegsbeschädigten nur in einer einheitlichen, parteipolitischen Organisation zweckmäßig vertreten werden können und sie hat deshalb ihre Tätigkeit nur in den Kreisen der deutschen Kriegsgeschädigten entfalten [sie]. 46

Dieses Gründungsmotiv stand nicht in den Statuten des Bundes, schwang aber in seiner Agitation teils mit. Indessen war es anfanglich in eine pazifistische und kämpferisch proletarische Grundhaltung eingebettet und wies nicht auf eine Einreihung ins rechte Lager hin. Letztlich passte es sich aber in die Mechanismen der Formierung einer deutschen Front in Opposition zum tschechoslowakischen Staat ein. Das, was dabei das „Deutschsein" in diesem Staat ausmachte, artikulierte sich in Begriffen, die den erklärten Pazifismus übertönten. Die Vertreter des Bundes waren keine Vorkämpfer dieser Entwicklung, aber sie schlossen sich der immer mächtigeren Agitation der Sudetendeutschen Partei in einem Moment an, da deren Schikane zunahm und der Einfluss der Prag Regierung sank.

3.3 Zwischenbilanz: Hierarchisierungsmuster im Spannungsfeld von Helden- und Opferbildern Der in den Akten des Ministeriums für Sozialfürsorge manifestierte Opferbegriff ist deutlich hierarchisiert. So erhielten Mitglieder priviligierter Opfergruppen eher eine Stellung im Staatsdienst. Diese berufsfördernde Maßnahme galt ausschließlich Männern in deren Rolle als Familienoberhäupter. Invaliden sollten trotz ihrer körperlichen Versehrtheit befähigt werden, diese Stelle in der familiären Binnenstruktur besetzt zu halten. Außerdem machte die politische Praxis deutliche Unterschiede in der Wertung von gewöhnlichen Kriegsgeschädigten und solchen aus den Reihen der Legionäre. Diese Politik war mehrdimensional am männlichen Vorbild des Arbeiters, am Idealbild des Staatsbürgers und an der Vorstellung ausgerichtet, den Legionären käme eine 44 45 46

Ebd. Zimmermann, Die Sudetendeutschen, 58. MV, K. 4570, Nr. 2/88/8.

3.3 Zwischenbilanz

175

Sonderrolle aufgrund ihrer besonderen Leistungen bei der Befreiung aus der österreichisch-ungarischen Herrschaft und der Errichtung der Republik zu. Diese drei Dimensionen schrieben sich in teils widersprüchlicher Weise in den Institutionalisierungsprozess ein. Das „Männliche" scheint zunächst selbstverständlich dem Staate als Fundament eingelassen zu sein und weist - wie noch weiter auszufuhren sein wird in dieser Hinsicht große Ähnlichkeiten mit anderen - insbesondere den konservativ-korporatistischen - Wohlfahrtsstaaten der Zwischenkriegszeit auf. Dies korrespondiert mit der Selbstdarstellung der männlichen Opfer, die immer wieder betonten, sie wollten nicht als unfähig und nutzlos gelten, sondern als Erwerbstätige (wieder) vollwertige Mitglieder der Gesellschaft werden. Sie artikulierten nicht nur den Wunsch nach einer Kompensation ihrer körperlichen Verletzung durch staatliche Unterstützung, vielmehr wurde die Familie im Hintergrund stereotyp zur Illustration dieses Anspruches herangezogen. Mit der Etablierung des Idealbildes vom Familienernährer war zugleich ein Standard als normativ formuliert, dessen Durchsetzung sich der Staat zur Aufgabe machte. Analog zu den festgeschriebenen Gesetzen forderten die Kriegsgeschädigten vom Sozialminister die Einlösung ihrer Ansprüche. In dem Maße, in dem die umfassende Versorgung der Kriegsinvaliden mit orthopädischen Hilfsmitteln und Arbeitsplätzen scheiterte, trug dies tendenziell zur Entlegitimierung des Staates bei, der ja gerade eine moderne Sozialpolitik als Errungenschaft des Umsturzes proklamiert und damit eine neue Idee der Staatsbürgergemeinschaft gestiftet hatte. Die Orientierung an den genannten Idealbildern schadete den Invaliden, sofern sie diesen nicht entsprechen konnten, weil dieses Nicht-Entsprechen als eine defizitäre Position wahrgenommen wurde. Und sie schadete dem Staat, weil er dafür verantwortlich gemacht wurde, dass nach wie vor Kriegsopfer im Elend leben mussten. Das Elend wurde nicht nur als eine wirtschaftliche Misere begriffen, sondern auch als eine Position im sozialen Abseits, als ein Unvermögen, den gesetzten Idealbildern zu entsprechen. Dekommodifikation war damit nicht das Ziel der tschechoslowakischen Politik gegenüber Kriegsinvaliden: Die Sozialpolitik stützte sich nicht auf die Idee, den Invaliden ein würdevolles Leben unabhängig von Erwerbsarbeit zu ermöglichen, sondern intendierte deren Wiederherstellung als Erwerbsfähige. Mehrdeutig war auch die Witwenpolitik. Während Witwen einerseits als abhängig vom Erwerb eines Mannes angesehen wurden und aus diesem Grund überhaupt nur Unterstützung erhielten, war diese Unterstützung gleichwohl nicht so hoch wie jene für schwer geschädigte Invaliden. Wie weibliche Erwerbsarbeit wurde hier auch der weibliche Opferstatus schlechter „entlohnt". Dies bedeutete, dass die Witwen entweder von anderen Unterhaltsleistungen abhängig blieben oder doch einer Erwerbsarbeit nachgehen mussten. Zwar war es eine formulierte Idealvorstellung, gerade die Witwen mit jüngeren Kindern durch die sozialen Verhältnisse nicht zur Erwerbsarbeit zu zwingen, doch kam

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3. Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren

es nicht zu dieser Form der Dekommodifikation. Ähnlich wie die Witwen hatten auch die Waisen eine marginale Position im Opferdiskurs. Auch für sie wurden nur Versorgungsleistungen erbracht und es ging nicht wie bei den Kriegsinvaliden um soziales Prestige. Erst in den 30er Jahren verband sich der Opferstatus der Kinder von Invaliden (nicht der Waisenkinder) mit auf den Arbeitsmarkt zielenden Forderungen. Die Kinder der Invaliden formulierten nun in Fortführung der Arbeit ihrer Väter eine eigene Position. Ist es nun richtig, die Legionäre als Prototypen und „Helden" im Staatsgründungsprozess anzusehen, die Kriegsinvaliden dagegen als Opfer? Waren die Opferbilder tatsächlich an den paradigmatischen Heldenbildern ausgerichtet? An diesem groben Muster scheinen einige Differenzierungen angebracht. Wie die Legionäre insgesamt etablierten sich auch die kriegsgeschädigten Legionäre als Helden. Sie nahmen zur Durchsetzung ihrer Interessen zwar auf ihren Opfermut Bezug. Kriegsgeschädigte, die dagegen auf der „falschen", österreichisch-ungarischen Seite gekämpft hatten, verzichteten in der Regel auf eine Hervorhebung soldatischer Tugenden und nahmen die Rolle beklagenswerter und hilfsbedürftiger Opfer an. Dies entsprach ihrem Status als unfreiwillig in den Krieg Hineingezogene. Dagegen bildete die Freiwilligkeit des Dienstes für das Vaterland eine wichtige Säule bei der Konstruktion des Legionärsmythos. Insgesamt stehen der „Held" und das „Opfer" im Kontext der Kriegsgeschädigtenpolitik als zwei Figuren nebeneinander. In der Sozialversicherung im Allgemeinen und in der Kriegsgeschädigtenpolitik im Besonderen fungierte neben dem Legionär der Arbeiter als Prototyp. Der Kriegsinvalide stand im Spannungsfeld dieser Idealbilder. Sie gaben die Kontrastfläche ab, vor welcher der Opferdiskurs seine Konturen zeichnete. Die Politik für die Opfer des Krieges wurde als eine sozialpolitische Aufgabe zur Beseitigung des Elends unter den Geschädigten von den heroisierenden Deutungen des Krieges tendenziell entkoppelt und rekurrierte nur partiell auf ein patriotisch eingefarbtes Soldatenbild, dem sich im tschechoslowakischen Kontext eben allein die Legionäre einfügten. Daher generierten der Helden- und der Opferdiskurs unterschiedliche Deutungen des Krieges. Neben der staatlich propagierten Idee eines Staatsgründungskrieges erscheint der Krieg im Opferdiskurs als Ort sozialer und körperlicher Verelendung und Verletzung. In die Typisierung der unterschiedlichen Opfer schrieben sich außerdem soziokulturelle Traditionen ein. Dies gilt insbesondere für die Lage der Witwen und Waisen als Kriegsopfer, deren Lage weder in den Begrifflichkeiten des korrespondierenden Heldendiskurses noch in denen des am Arbeiter orientierten Sozialversicherungswesens verstanden werden kann. An der Schnittstelle von Legionärs- und Arbeiterideal stand das Paradigma der Arbeitsbefähigung Kriegsgeschädigter. Ihr gemeinsamer Angelpunkt war der Prototyp des potenten militärisch tauglichen und arbeitsfähigen Mannes. Dieser wurde der sozial organisierten Bürgergemeinschaft zugrunde gelegt. Dieses Ideal machten sich auch die Kriegsgeschädigtenvereinigungen zu eigen.

3.3 Zwischenbilanz

177

Da eine Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess für die Kriegsinvaliden vor dem Hintergrund der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage immer weniger umsetzbar schien, traten die differenzierten Wertigkeiten unter den Kriegsteilnehmern und Kriegsgeschädigten in der Vergabepraxis immer deutlicher zutage. Zunehmend konnten nur noch diejenigen berücksichtigt werden, die unbedingt anerkannt werden mussten, und das waren allen voran die Legionäre. So brach im Gerüst der sozialpolitischen Legitimation unter der Last der sozialen Bedingungen eine tragende Säule ein. Das hehre Männlichkeitsideal, das in der Amalgamierung von soldatischen Legionärstugenden und dem Bild des kräftigen Arbeiters als Vorbild und Verheißung selbst den übel zugerichteten Kriegsinvaliden vorgehalten wurde, erwies sich in dieser Hinsicht als destruktiv. Denn die Invaliden machten gerade jene Institutionen, in denen diese Ideale kreiert und transportiert wurden, dafür verantwortlich, dass die sozialpolitischen Verheißungen scheiterten. Eine anders motivierte Anerkennung für die Invaliden oder ein Sicherungssystem außerhalb der Ideale, die von den Gründungsmythen determiniert waren, konnte sich dem gegenüber nicht etablieren. Schließlich gab es so einige Kriegsinvalide, denen es in der Republik verhältnismäßig gut ging, weil sie Legionäre waren, im Staatsdienst untergekommen waren, zusätzliche Unterstützung von nichtstaatlichen Institutionen erhielten, Funktionäre wurden oder eine gute trafika bekommen hatten. Deren Beispiele konnten aber für all jene, für die am Schluss nichts übrig blieb, nicht als Trost gelten, sondern sie machten im Kontrast umso deutlicher, dass das hohe Ziel einer präventiven Sozialpolitik gescheitert war und dass die ungleichen Verteilungsmechanismen den Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit unterhöhlten. Mit anderen Worten stolperte die tschechoslowakische Sozialpolitik über ihre eigenen hohen Ideale und scheiterte in den Augen ihrer Klienten, weil diese deren Verheißungen ernst genommen hatten. Wenn letztlich ein geringer Teil der Kriegsgeschädigten in die Lage versetzt wurde, den gezeichneten Idealbildern zu entsprechen, so war das für die Masse der Anderen erst recht ein Grund zur moralischen Anklage gegen die zentralen sozialpolitischen Institutionen. Die Kommunikation zwischen den Invaliden und dem Ministerium für Sozialfürsorge stockte in den 30er Jahren. Die wenigen Resolutionen der 30er Jahre nahmen nicht mehr die aufgezeigten Idealbilder in ihren Dienst, sondern beschrieben das nackte Elend. Zwar schlossen sich angesichts der außenpolitischen Bedrohung die tschechoslowakische Gefolgschaft der Kriegsgeschädigten und verschiedene Legionärsvereinigungen als patriotische und pazifistische Veteranen zusammen, aber diese Entwicklung war weitgehend vom sozialpolitischen Diskurs abgekoppelt. Ambivalent fallen die bisherigen Ergebnisse bezüglich der nationalen Minderheiten und insbesondere der deutschen Minderheit aus. In der fordernden Haltung gegenüber dem tschechoslowakischen Staat drückte sich einerseits eine Form der Akzeptanz seiner Herrschaftsinstitutionen aus. Andererseits war das Band, das die deutschen Interessenorganisationen mit dem tschechoslowa-

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3. Kriegsgeschädigte in den 30er Jahren

kischen Staat verknüpfte, sehr dünn. In den an die tschechoslowakischen Institutionen gerichteten Äußerungen schwang oft die Drohung mit, dieses Band zu lösen und sich gegebenenfalls gegen den Staat zu wenden. Dem entsprach auf staatlicher Seite im Sinne der demokratischen Gleichheitsrhetorik ein abstraktes Einschlussangebot an die Angehörigen der Minderheiten, das jedoch in der konkreten Beschreibung der den tschechoslowakischen Staate zusammenhaltenden Ideale nur schwerlich seine Entsprechung fand. So wog etwa die Macht des Legionärsparadigmas im Hinblick auf die Angehörigen der deutschen Minderheit besonders schwer, weil sie ihm nicht nur nicht entsprechen konnten, sondern weil es explizit gegen die österreichisch-ungarische Armee und die „deutschen" Kriegsziele gerichtet war. Wenn der Gründungspräsident die Vorzüge einer „kleinen Nation" in Familienanalogien darlegte, so schwang hier implizit mit, dass es sich dabei um eine tschechische Nation (gegebenenfalls in der slowakischen Erweiterung) handelte. Es scheint überaus fraglich, ob und wie die politisch organisierten Angehörigen der deutschen Minderheiten die dabei tradierten Deutungen verstanden und ob es eine Möglichkeit gab, sich gleich den Tschechen im familiär gesponnen Netz der „kleinen Nation" heimatlich einzufinden. Die Kommunikation zwischen den deutschen Staatsbürgern und den Institutionen des tschechoslowakischen Staates scheint jedenfalls im sozialpolitischen Diskurs von vornherein misslungen, da ihr divergierende Deutungsmuster zugrunde lagen, die sich wesentlich aus einer völlig unterschiedlichen Haltung gegenüber den Ereignissen und Resultaten des Ersten Weltkrieges speisten. Indes scheint es verfehlt, diese Entwicklung einer grundsätzlich gescheiterten Minderheitenpolitik anzulasten. Wie die Seitenblicke auf die Organisation der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Slowakei und auf eine jüdische Vereinigung gezeigt haben, konnten sich diese im Rahmen der neuen Staatlichkeit einrichten, ohne an die Gründungsmythen anzuschließen. Die Lage der Kriegsgeschädigten war in beiden Fällen Objekt einer am Fürsorgeprinzip ausgerichteten traditionellen Sozialpolitik, die nicht weiter mit Sinngebungsmustern überformt wurde. Vor diesem Hintergrund korrespondierte die Rhetorik der deutschen Kriegsgeschädigtenorganisationen weitaus stärker mit den Topoi und Mythen der Staatsgründung als die jüdische und slowakische. In der fortwährenden Abgrenzung davon entwickelten die deutschen Vereinigungen gerade auf dem Gebiet der Sozialfürsorge eine spezifische Vorstellung von der Verschmelzung sozialen und nationalen Unrechts. Jedes Elend konnte darin zum Beweis einer nationalen Zurücksetzung werden. Wie der Hunger, so galt auch die körperliche Versehrtheit als ein Zeichen für die Unrechtspolitik des neuen Staates. Im Falle der deutschen Minderheit findet sich demnach eine eigentümliche Auffassung der Verbindung von Staatsangehörigkeit, Nationalität und sozialen Rechten: Die politischen und zivilen Rechte banden die deutschen Bürger nicht an diesen Staat (obwohl Partizipationsmöglichkeiten bestanden und auch wahrgenommen wurden). Die sozialen Rechte wurden dagegen lauthals eingefordert. Eine Zurückweisung

3.3 Zwischenbilanz

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dieser Forderungen bestärkte das Gefühl der Kränkung. Dieser Befund hat eine institutionelle Ergänzung. Aus der tschechischen Sicht waren die Landesämter durch eine Verschmelzung von Interessenorganisation und staatlichen Institutionen geprägt. Die tschechischen Kriegsinvaliden hatten Funktionäre, die auf die staatliche Politik Einfluss nehmen konnten. Sie bildeten ein Bindeglied zwischen dem Staat und den Kriegsgeschädigten. Zwar hatten auch die deutschen Kriegsgeschädigtenorganisationen partiell Einflussmöglichkeiten. Eine Mittlerfunktion konnten sie dabei aber kaum einnehmen, weil dazu der Bezug auf ein übergeordnetes gemeinsames Ideal fehlte. Während der direkte Kontakt zwischen den zentralstaatlichen Sozialbehörden als Rechtsinstanz und den deutschen Kriegsgeschädigten als Nutznießer funktionierte, gerieten die Landesämter als fremd verwaltete Zwischeninstanz ins Kreuzfeuer der deutschen Kritik. Dass die Macht des tschechoslowakischen Staates begrenzt war, fiel aus dem aufgezeigten deutschen Wahrnehmungsschema heraus. Marshall konstatiert, ein demokratischer Staat müsse die in der Gewährung sozialer, politischer und ziviler Rechte entstehende Vermengung von Paradoxa aushalten. Augenscheinlich wurde jedoch die beschriebene spezifische tschechoslowakische Vermengung von Paradoxa gerade für sehr viele Angehörigen der deutschen Minderheit an der Schnittstelle von subjektiven und kollektiven Deutungen unerträglich. Dies geschah, weil die Kluft zwischen Erwartung und Erlebtem zu groß geworden war und man das eigene Elend als (nationales) Unrecht wahrnahm. 4 7 Die daraus erwachsende Destruktion des tschechoslowakischen Staates erklärt sich aber nicht nur in dieser Binnensicht, sondern hatte eine grundlegende außenpolitische Komponente.

47

Hierin Frevert, hundert, Schmuhl hier 102.

drückt sich die soziale Dimension der betreffenden Emotionen aus, vgl.: Ute Angst vor Gefühlen? Die Geschichtsmächtigkeit von Emotionen im 20. Jahrin: Paul Nolte/Manfred Hettling/Frank-Michael Kuhlemann/Hans-Walter (Hrsg.), Perspektiven der Gesellschaftsgeschichte. München 2000, 95-111,

4. Internationaler Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Zwischenkriegszeit Die eingehende Untersuchung der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigtenpolitik der Zwischenkriegszeit konnte wesentliche neue Erkenntnisse zutage fördern. Diese betreffen nicht nur die formale Ausgestaltung, sondern auch die symbolischen Dimensionen des Themas. Das folgende Kapitel stellt nun einen asymmetrischen Vergleich der bisherigen Ergebnisse mit anderen nationalen Varianten an. Dabei stütze ich mich auf bereits veröffentlichte Forschungsergebnisse zur Zwischenkriegszeit. Nach dem Ersten Weltkrieg war staatlich institutionalisierte Kriegsgeschädigtenpolitik überall in Europa eine Notwendigkeit und ein N o v u m . Nicht nur die auf den Territorien der besiegten Großreiche neu- oder wiedergegründeten Staaten, auch die traditionsreichen Demokratien im Westen und der ehemals autoritäre deutsche Wohlfahrtsstaat betraten Neuland. Bis in den Ersten Weltkrieg hinein gab es zwar überall Unterstützungsleistungen für Kriegsinvaliden, die Sozialfürsorge wurde jedoch durch wohltätige Organisationen erbracht und nicht durch staatliche Behörden. In allen involvierten Staaten war nach dem Ersten Weltkrieg die umfassende Sozialfürsorge für Kriegswitwen und -waisen sowie für Angehörige von Kriegsinvaliden ebenso grundlegend und neu wie staatliche M a ß n a h m e n zur Wiedereingliederung von Kriegsinvaliden in den Arbeitsmarkt und die Einbeziehung von Heilfürsorge, Betreuung und Krankenpflege in den staatlichen Versorgungskatalog. 1 Zwei Faktoren stifteten gegen Ende des Krieges neue Bedeutungsz u s a m m e n h ä n g e in der Kriegsgeschädigtenpolitik: der industrielle Charakter der Kriegsfiihrung und die allgemeine Tendenz zur Demokratisierung. Die Intensivierung sozialpolitischer M a ß n a h m e n war auch ein Resultat des Sieges über die ehemals absolutistischen Großreiche, das heißt, der Ausbau der Sozialpolitik galt allgemein als Ausweis von Demokratie. Sowohl die Anzahl der Gefallenen und der Kriegsinvaliden als auch die Grausamkeit ihrer Verletzungen erreichten durch den Einsatz neuer Waffen (Granaten, Panzer, B o m b e n , Gas) und die lange Dauer des Krieges ein weitaus schlimmeres Ausmaß als dies von früheren Kriegen bekannt war. Sehr viele Personen waren unmittelbar und mittelbar davon betroffen. 1923 zählte man international 6 8 5 4 0 0 0 Kriegsinvaliden. A m höchsten war deren Zahl in Deutschland ( 1 5 3 7 0 0 0 ) und Frankreich ( 1 5 0 0 0 0 0 ) . In der Tschechoslowakei gab es nach Zahlen von 1923 wesentlich mehr Kriegsinvaliden als in Österreich ( 2 3 6 0 0 0

1

Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates, 234f.

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4. Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Zwischenkriegszeit

versus 164 000). 2 Die Wahrnehmung der grundsätzlich fur alle Beteiligten gleichermaßen aus dem Charakter des Krieges resultierenden körperlichen Folgen wurde von national divergierenden Auffassungen maßgeblich geformt. Die Sozialfürsorge für Kriegsgeschädigte reflektierte in den verschiedenen Ländern einerseits die jeweiligen Deutungen des Krieges und andererseits die staats- und sozialpolitischen Traditionen. Der Forschungsstand über Kriegsgeschädigte in Europa ist sehr heterogen. Während schon Ende der 60er Jahre eine britische Studie einen deutsch-britischen Vergleich zu den Kriegsgeschädigtenorganisationen unternahm 3 , stehen eingehende Untersuchungen zu naheliegenden Vergleichsfallen noch aus. So steht die Erforschung der Kriegsgeschädigtenpolitik für Österreich und Ungarn als Länder mit der gleichen administrativen Vorgeschichte sowie für Polen und Jugoslawien als weitere am Ende des Ersten Weltkrieges (wieder)gegründete Staaten noch am Anfang. 4 Vergleichsweise gut ist der Kenntnisstand für Frankreich. Der folgende asymmetrische Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik der Zwischenkriegszeit zwischen einigen europäischen Länder und der tschechoslowakischen Republik dient hauptsächlich dazu, die jeweiligen Spezifika schärfer zu konturieren und transnationale Faktoren zu verorten. Die gemeinsame staatliche Tradition legt einen Vergleich zwischen der Tschechoslowakei und Österreich nahe. Soweit dies auf der Grundlage einschlägigen Quellenmaterials möglich ist, soll er hier versucht werden. Der Vergleich zu Deutschland bietet sich insbesondere hinsichtlich der Rolle deutscher Kriegsgeschädigtenorganisationen in der Tschechoslowakei an. Seitenblicke auf das französische und das englische Beispiel können in diesem Spannungsfeld als Kontrastmittel fungieren. Die Darstellung verbindet einen kurzen Aufriss der Fragestellungen und Ergebnisse bisheriger Forschungen mit einem Vergleich der Gesetzgebungen sowie der sozialpolitischen Symbolik der einzelnen Länder. Sie ordnet sich nach Themenfeldern. Kriegsgeschädigtenpolitik ist vorrangig in zwei Dimensionen untersucht worden: als ein sozialpolitisches Feld und als Ausdruck von Männlichkeitscodes und Körperrepräsentationen. Die naheliegende Annahme, es gebe einen grundlegenden Zusammenhang zwischen der Position eines Staates als Kriegsverlierer oder Kriegsgewinner und der Ausgestaltung der Kriegsgeschädigtenpolitik erweist sich schon bei einem ersten Blick in die einschlägige Literatur 2

bureau International du Travail, Le placement des invalides. Réunion d'experts de l'organisation du placement des invalids (Genève, 31 juillet, 1er et 2 août 1923). Genf 1923, 13. 3 Cohen, The War Come Home. 4 Zu Österreich vgl.: Verena Pawlowsky/Harald Wendelin, Kriegsopfer und Sozialstaat. Österreich nach dem Erstem Weltkrieg, in: Natali Stegmann (Hrsg.), Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte. Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und nach dem Zweiten Weltkrieg. Prag 2009, 127-146; zu Polen: Julia Eichenberg, Söldner der Besatzer oder Helden des Unabhängigkeitskampfes? Die Debatte um die polnischen Veteranen des Ersten Weltkrieges, in: Stegmann (Hrsg.), Die Weltkriege, 147-168.

4. Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Zwischenkriegszeit

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als zu kurz gegriffen. So sprechen eklatante Unterschiede in der französischen und der britischen Politik gegen eine solche These. Unterschiede und Gemeinsamkeiten resultierten jeweils aus einem Set verschiedener Faktoren, von denen die Stellung im Gefiige der Friedensordnung nur einer war. Da die entscheidenden Gesetze überall in den ersten Nachkriegsjahren verabschiedet wurden, gab es außerdem kaum Ausstrahlungen einer nationalen Variante auf die andere. Vergleichsprozesse fanden hauptsächlich von Seiten der Interessenvertretungen nach der Verabschiedung der Kriegsgeschädigtengesetzgebungen statt. Einen guten Einblick in die jeweiligen Gesetzgebungen und ihre Prädispositionen gibt Michael Geyers Aufsatz „Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates. Die Kriegsopferversorgung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg" von 1983. Er untersucht das Thema hinsichtlich der wohlfahrtsstaatlichen Traditionen. Besonderes Augenmerk liegt auf den Kriegsgeschädigtenorganisationen, die Geyer als soziale Bewegungen fasst. Selbst in diesen dezidiert sozialgeschichtlichen Ausführungen wird deutlich, dass die Definition der „Kosten und Verluste des Krieges" ein Produkt der „Auseinandersetzungen" zwischen dem Staat, den mit dem Thema befassten Experten und der „sozialen Bewegung" war. Geyer konstatiert, dass „der anerkannte Kriegsinvalide" nur zum Teil ein „Produkt des Krieges" und zum anderen Teil ein „Produkt der Gesetzgebung und der Vorstellung von Experten [ . . . ] und der Gesellschaft" war. 5 Implizit klang schon hier die Wichtigkeit von Bedeutungszusammenhängen an. Dieser Eindruck intensiviert sich bei einer genaueren Untersuchung der nationalen Varianten, hier zunächst der Versorgungsgesetze. Am weitreichendsten war die französische Kriegsgeschädigtengesetzgebung. Einmalig war die Regelung des droit à réparation vom März 1919, nach der grundsätzlich jeder geschädigte Kriegsteilnehmer Anspruch auf staatliche Versorgung hatte. Da man davon ausging, dass die Soldaten als gesunde Männer in den Krieg gezogen waren, musste nicht wie in anderen Ländern der Nachweis erbracht werden, dass die Schädigung tatsächlich in Ausübung des Dienstes eingetreten war. Damit kam ein in anderen Ländern zentrales Instrument der Machtausübung staatlicher Behörden und insbesondere der mit den Kriegsgeschädigten befassten Ärzte sowie der Regulierung der Berechtigung nicht zur Geltung. Die französische Versorgungsregelung diente der „Wahrung eines sozialen und politischen Sonderstatus für die Kriegsgeschädigten". 6 Geyer sieht hierin eine „Interpretation des Ersten Weltkrieges". 7 Die mutilés besaßen nämlich einen Sonderstatus, der sie als Repräsentanten der nation armée kennzeichnete. 8 Dieser Sonderstatus rekurrierte auf 5 Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates, 233 f. « Ebd., 239. 7 Ebd., 240. 8 Ebd.

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4. Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Zwischenkriegszeit

ein spezifisches Verständnis von Nation, G e m e i n s c h a f t und A r m e e . In der tradierten Verknüpfung von Staatsbürgerschaft und Wehrpflicht galt die Kriegsschädigung als Ausdruck der Teilhabe am K a m p f f ü r die Nation. Sie w a r an sich ein Zeichen von Ehre. Die Schädigung wurde nicht wie in anderen Ländern in Graden der Arbeitsunfähigkeit, sondern in Invalidität gemessen. Gradmesser waren die „ , n o r m a l e n ' Fähigkeiten eines Mannes". Der entscheidende Unterschied zu der tschechoslowakischen Variante war die Ausrichtung an der G e m e i n s c h a f t der Bürger und nicht am Ideal eines arbeitenden Mannes. Invalidität galt in Frankreich als „Minderung der Fähigkeit, am öffentlichen Leben teilzunehmen". 9 Diese Einschränkung sollte durch die staatliche Versorgung wenigstens teilweise kompensiert werden. Der Kriegsinvalide w a r also unabhängig von seiner Erwerbsfahigkeit und Erwerbstätigkeit ein ehrenwerter Bürger. Die mutilés bildeten eine soziale Gruppe, die nach dem Grundsatz der D e k o m m o d i f i k a t i o n konstituiert war. Von hoher symbolischer Bedeutung war hierfür auch die Setzung der Versorgung als Recht und nicht als Fürsorgemaßnahme. Ein solches Verständnis von Versorgung als selbstverständlicher Lohn f ü r die im Krieg erbrachten Opfer klagten auch Kriegsgeschädigte in anderen Ländern ein. In der dargelegten Konsequenz blieb es j e d o c h eine französische Besonderheit. In der deutschen Kriegsgeschädigtenpolitik w a r „Erwerbstätigkeit das M a ß aller Dinge". 10 Dies entsprach der Ausrichtung der bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung (ein ähnlicher B e f u n d trifft vor dem Hintergrund der konservativ-korporatistischen Tradition vermutlich auch auf Österreich zu). Mit d e m Gesetz vom Mai 1920 sollten Kriegsgeschädigte in der Weimarer Republik wie auch andere körperlich Behinderte zur A n n a h m e einer Arbeit veranlasst werden. Diese M a ß n a h m e wurde zielorientiert von der Z w a n g s einstellung Körperbehinderter in größere Betriebe flankiert. Arbeitsbes c h a f f u n g w a r in der vorliegenden Konzeption eine Sozialleistung. Die Renten wurden in diesem Kontext bewusst niedrig gehalten." Waren sie bis dato nach militärischem Rang gezahlt worden, bemaß man sie jetzt nach dem Grad der Arbeitsunfähigkeit. 1 2 Diese Regelungen ähneln den tschechoslowakischen Bestimmungen mit der Ausnahme, dass dort die Einstellung von Kriegsinvaliden in privatwirtschaftliche Betriebe nicht angeordnet wurde. Dagegen w a r die Zuteilung staatlicher Lizenzen als Instrument der Sozialpolitik f ü r Kriegsgeschädigte ein Erbe der habsburgerischen Tradition, das von der tschechoslowakischen Gesetzgebung a u f g e n o m m e n und erweitert wurde. Die Bevorzugung bei der Lizenzzuteilung diente ebenfalls der B e s c h a f f u n g von Arbeit und kennzeichnete die tschechoslowakische Variante als staatlich gelenkt und erwerbsorientiert. 9

Ebd., 239. Ebd., 245. 11 Ebd., 247. 12 Kienitz, Körper - Beschädigungen, 197. 10

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Die britische Regelung wies nur eine Gemeinsamkeit mit der französischen auf. Auch in Großbritannien konnte der Grad der Invalidität als Bemessungsgrundlage f u r die Zuteilung staatlicher Bezüge herangezogen werden. Sie hatte j e d o c h teilweise eine andere Bedeutung. Wahlweise konnte nämlich auch der Grad der Arbeitsunfähigkeit ausschlaggebend sein. Die Bezüge richteten sich in diesem Fall nach dem Vorkriegsverdienst. Damit war eine Variante sozialer Ungleichheit in das britische Gesetz eingebracht, die sich vorrangig am zivilen Status und nicht an der Teilhabe am Krieg orientierte. Ein umfassendes Sozialprogramm f ü r Kriegsinvaliden wurde in Großbritannien nicht aufgelegt. Die Rentenbezüge waren sehr gering und die Untersuchungsstellen bestrebt, die Zahl der Berechtigten niedrig zu halten. Die entstandene Versorgungslücke wurde durch wohltätige Organisationen geschlossen. 1 3 Dieser Umstand wird ausführlich in der 1968 erschienenen Vergleichsstudie „The War Come Home. Disabled Veterans in Britain and G e r m a n y " von Deborah Cohen dargestellt. Die Autorin geht dabei von dem Widerspruch aus, dass sich die sozial schlecht gestellten britischen Kriegsgeschädigten unter dem Dach der gemäßigten patriotischen British Legion z u s a m m e n f a n d e n , während die viel besser gestellten deutschen Kriegsgeschädigten in den 30er Jahren überaus unzufrieden und verbittert in den Sog der allgemeinen Radikalisierung insbesondere der Veteranen gerieten. Diese oberflächliche Beobachtung fuhrt schnell zu dem Schluss, dass Sozialleistungen allein keine Bindung an den Staat begründen konnten. Cohen bemüht zur Erklärung des konstatierten Paradoxons einen „zivilgesellschaftlichen" Ansatz. Sie rekurriert auf die Bedeutung der Wohlfahrtsorganisationen als zivilgesellschaftliche Instanzen. In Großbritannien sei deren Fürsorge von den Kriegsinvaliden als ein Zeichen der Anerkennung und des Dankes der Gesellschaft f ü r die im Krieg erbrachten O p f e r aufgefasst worden. „Freiwilligkeit" spielte dabei eine große Rolle. Einerseits erschien das Opfer der geschädigten Veteranen besonders groß, weil diese freiwillig g e k ä m p f t hatten (die Wehrpflicht wurde in Großbritannien erst am Ende des Ersten Weltkrieges eingeführt). Andererseits war auch die karitative Hilfe ein freiwilliger Dienst der Gesellschaft. Dagegen hätten sich nach Cohen die deutschen Kriegsgeschädigten alleingelassen und stigmatisiert gefühlt. Der Interaktion zwischen dem versorgenden Staat und den bedürftigen Kriegsgeschädigten habe eine dritte Instanz gefehlt, die das Thema im Medium der Zivilgesellschaft hätte verorten können. Die Behörden seien bloß technokratischer Natur gewesen und hätten den Kriegsgeschädigten nicht das Gefühl der Anerkennung ihres Leidens gegeben. Übrig blieb Verbitterung. Cohen betont auch die symbolischen Dimensionen der Interaktion. Die geschädigten Veteranen hätten in den jeweiligen Gesellschaften den Krieg an sich symbolisiert. Der U m g a n g mit ihnen reflektierte auch die gesellschaftlichen Folgen des

13

Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates, 242-245.

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4. Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Zwischenkriegszeit

Krieges. Dem entspricht, dass die britischen Kriegsgeschädigten als „Helden" galten, die deutschen dagegen als Objekte der Sozialfürsorge. 14 Wie Cohen betont auch Geyer, dass die deutschen Kriegsgeschädigten schon früh in unterschiedliche politische Lager gespalten waren, sich zunehmend radikalisierten und zu großen Teilen ins Fahrwasser völkischer und antidemokratischer Gruppierungen gerieten. 15 Auch er konstatiert ein Scheitern der sozialtherapeutischen Politik in der Weimarer Republik: „Eine positive Identifikation von Sozialstaat und Behinderten wurde unterbunden." Das Fordern sei das Merkmal der „politischen Identität" der deutschen Kriegsgeschädigten gewesen. 16 Die große symbolische Bedeutung des Themas hat auch eine körperhistorische Dimension. Einige Thesen von Sabine Kienitz zu diesem Komplex wurden im Zusammenhang mit den Körperpräsentationen tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter bereits behandelt. Wie Kienitz geht es auch Joanna Bourke in ihrer Studie „Dismembering the Male. Men's Bodies, Britain and the Great War" um den männlichen Körper als Gegenstand öffentlicher und professioneller Erörterungen. Beide Autorinnen rekurrieren dabei auf geschlechterhistorische Forschungen und erforschen den Wandel in der Konstruktion von Männlichkeit. Kienitz konnte anhand der deutschen Variante zeigen, wie sehr der männliche Körper im Lichte des Arbeitsparadigmas zum Funktionsträger wurde. 17 Orthopädische und chirurgische Maßnahmen zielten in einer technizistischen Perspektive auf die Wiederherstellung körperlicher Funktionen und tradierter Geschlechterverhältnisse. 18 Bourkes Studie befasst sich mit „the impact of the First World War on the male body". 19 Nur das erste Kapitel widmet sich den Kriegsinvaliden. Dabei geht es um die Frage, wie sich das Bild des Kriegsverletzten in Großbritannien allgemein auf Körperbilder auswirkte, insbesondere auch auf die Konzeptionen von (nicht im Krieg erlittenen) körperlichen Behinderungen. Bourke zeigt, dass sich der Akzent der Wahrnehmung im Kontext des Krieges verschob. Er lag nicht mehr auf einer bemitleidenswerten erzwungenen Passivität der Körperbehinderten, sondern richtete sich nunmehr auf die Anerkennung der aktiven Kriegsteilnahme. 2 0 Körperbehinderungen, insbesondere Amputationen, wurden als Zeichen des Kampfesmuts und der Tapferkeit gelesen. Es kam zu einer auch emotionalen Aufwertung der Kriegsschädigung. Diese machte die Veteranen nicht weniger männlich,

M Cohen, The War Come Home, 2f., 9, 11, 17-19, 2 8 8 - 2 9 2 . 15 Dieser Befund wird in der neueren Forschung jedoch differenziert, vgl.: Christian Weiß, Opfer für den Frieden. Die pazifistische Kriegsdeutung des Reichsbundes der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegerhinterbliebenen, in: Stegmann (Hrsg.), Die Weltkriege, 169-186. 16 Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates, 256. 17 Sabine Kienitz, Beschädigte Helden. Kriegsinvalidität und Körperbilder 1914-1923. (Krieg in der Geschichte, Bd. 41.) Paderborn/München/Wien/Zürich 2008. 18 Kienitz, Körper - Beschädigungen, 197-201. 19 Bourke, Dismembering the Male, 11. 20 Ebd., 3 7 - 4 1 .

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sondern mehr. 21 Sehr spezifisch für den britischen Kontext ist die populäre Sentimentalisierung der Kriegsopfer, wie sich auch in den Ehen Kriegsgeschädigter zeigte. O f f e n b a r hatten die britischen Kriegsgeschädigten gute Chancen auf dem Heiratsmarkt, obwohl eine solche Ehe in den meisten Fällen arm blieb und sehr viel Arbeit fur die Frauen mit sich brachte. 2 2 Die emotionale Komponente in der Wahrnehmung der Kriegsopfer als Helden war nicht an Körperfunktionen geknüpft. Der im Krieg Versehrte Körper galt vielmehr als ein Zeichen für einen guten und männlichen Charakter. Diese Sicht hatte eine patriotisch-normative Komponente. Ihr Vorbild war der britische, weiße Soldat. Andere Männer passten sich schlecht in dieses Schema ein. So unterlag das Kriegsopfer maltesischer und irischer Soldaten in der britischen A r m e e völlig anderen Deutungen. 2 3 Insbesondere die Iren hatten erhebliche Prestigeprobleme, die an die heikle Situation der tschechoslowakischen Angehörigen der habsburgerischen Armee erinnern. Ebenso wie in der Tschechoslowakei wurden die Kriegsgeschädigten auch in Großbritannien trotz ihres Status als Kriegshelden gegenüber anderen Veteranen marginalisiert. Im Juli 1919 bekamen sie bei der Siegesparade in London einen Platz am Rande der Parade zugewiesen. 2 4 Von entscheidender Bedeutung f ü r den Status der Kriegsgeschädigten in den Nachkriegsgesellschaften war die allgemeine Wehrpflicht. Der Umstand, dass in Großbritannien weder die Rentenbezüge ausreichend waren noch hinreichende Anstrengungen zur B e s c h a f f u n g von Arbeitsplätzen unternommen wurden, ist auch militärsoziologisch zu erklären. In Großbritannien hielt man bis zum Ende des Ersten Weltkrieges an der Berufsarmee fest. Das Militär bestand aus sozial höhergestellten Offizieren und aus f ü r einen Sold angeworbenen Soldaten, die den Unterschichten entstammten. Dieser Logik gemäß wurden auch die Renten neben dem Grad an Invalidität am militärischen Rang bemessen, sofern sie nicht nach Arbeitsunfähigkeit gemessen und am zivilen Vorkriegsstatus orientiert waren. Hier lässt sich eine Parallele zur österreichischen Vorkriegstradition ablesen. In Österreich war zwar die allgemeine Wehrpflicht 1868 eingeführt worden. Invalidenbezüge wurden aber gemäß dem maßgeblichen Gesetz von 1875 nach militärischem Rang festgelegt. Eine Besonderheit des österreichischen Systems ist offenbar auch die frühe E i n f u h r u n g einer Hinterbliebenenversorgung. Hinterbliebenenbezüge gab es seit 18 87. 25 Nachweisen lässt sich dies etwa an dem Gesetz „betreffend die Militär-Versorgung der Witwen und Waisen von Offizieren und M a n n s c h a f t " und seinen Ergänzungen. 2 6 Durch die E i n f ü h r u n g der Allgemeinen Wehrpflicht wurde die habsburgerische Armee zu einer ausgeprägt multinationalen A r m e e mit einem 21 22 23 24 25 26

Ebd., 56, 58. Ebd., 73f.; Cohen, The War Come Home, 106f. Bourke, Dismembering the Male, 69f. Cohen, The War Come Home, 101 f. Deset let Ceskoslovenské republiky, 128. AHMP, Ústrední sociální ufad hlavního mèsta Prahy, Nr. 360/361, Sig. IV 3.

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4. Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Zwischenkriegszeit

hohen Anteil von Soldaten aus der ländlichen Bevölkerung. Dies stand in eklatantem Widerspruch zu dem bis 1907 verwehrten Stimmrecht. Die Untertanen wurden zum Waffendienst verpflichtet, ohne dass sie - wie im prototypischen französischen Kontext - durchgängig den Status des Bürgers erlangen konnten. Standesunterschiede bestimmten auch die Armee. Diese wurden durch eine nationalitätenbezogene Hierarchie ergänzt, deren deutlichstes äußeres Merkmal die durchgängig deutsche (beziehungsweise nach dem Ausgleich von 1867 auch ungarische) Geschäfts- und Umgangssprache in der Armee war. 27 In der Abweichung vom Grundsatz der Rentenzahlung nach Rang lag in der Tschechoslowakei die deutlichste Abkehr von der vorgefundenen habsburgerische Tradition. Die Hinwendung zu einer egalitären Verteilungspraxis richtete sich einerseits gegen die alten (deutschen) Eliten, andererseits könnte man argumentieren, dass durch die Legionärsgesetzgebung eine neue Form der Hierarchisierung etabliert wurde. Beide Aspekte der Neuregelung haben nationalpolitische Implikationen. Die Abwertung der vormals deutschen Eliten wurde durch eine Aufwertung der tschechischen (und slowakischen) „Befreiungselite" flankiert. Die Angehörigen „des Volkes" wurden nicht länger schlechter gestellt als ihre ehemaligen Offiziere. Im Kontext der allgemeinen Wehrpflicht trat hingegen der tschechoslowakische Staat das Erbe des alten Regimes an. Er übernahm die sozialpolitische Verantwortung für die Rekruten unterschiedlicher Nationalität. Zugleich setzte er aber symbolpolitisch ein anderes soldatisches Ideal darüber. Die Legionärspolitik erinnert weniger an die österreichische als an die britische Tradition. Die Legionäre wurden nämlich behandelt wie Angehörige einer sozial und moralisch höher stehenden militärischen Elite. Die Betonung der Freiwilligkeit des Dienstes bei den Legionen steht hier in einem weiteren Bedeutungskontext. Möglicherweise waren diese Ähnlichkeiten zum britischen Modell nicht allein ideeller Natur, sondern auch Ausdruck der vielen Berührungspunkte von britischem Militär und tschechoslowakischen Legionären im Ersten Weltkrieg. Vergleicht man die Ergebnisse der Studie von Cohen mit den Befunden zur Tschechoslowakei, so drängt sich noch eine andere Idee auf. Die These, dass die Anerkennung der Kriegsopfer durch die Bevölkerung beziehungsweise durch die Bürgergesellschaft in Großbritannien trotz des sozialen Elends zu einer Befriedung der Versehrten Veteranen führte, kann parallel auf die Geschichte der tschechischen Gefolgschaft der Kriegsgeschädigten bezogen werden. Grundlegend war deren patriotische Haltung. Darin unterschieden sie sich 27

Ernst Hanisch, Die Männlichkeit des Kriegers. Das österreichische Militärstrafrecht im Ersten Weltkrieg, in: Thomas Angerer (Hrsg.), Militär und Recht. Festschrift für Gerald Stourzh zum 70. Geburtstag. Wien/Köln/Weimar 1999, 314-338, hier 314-317; Christa Hämmerle, Zur Relevanz des Connell'schen Konzepts hegemonialer Männlichkeit fïir „Militär und Männlichkeit/en in der Habsburgermonarchie (1868 — 1914/18)", in: Martin Dinges (Hrsg.), Militär - Macht - Körper. Hegemoniale Männlichkeiten vom Mittelalter bis heute. Frankfurt a.M./New York 2005,103-121, hier 107-109.

4. Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Zwischenkriegszeit

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maßgeblich von den deutschen Kriegsopfern in der Tschechoslowakei. Deren Agitation erinnert sehr stark an Cohens Befund zur Weimarer Republik. Bitterkeit bestimmte die Äußerungen deutscher Kriegsgeschädigter in der Weimarer Republik ebenso wie in der Tschechoslowakei. Es liegt nahe, dahinter ähnliche Deutungsmuster von Seiten der (deutschen und sudetendeutschen) Opferverbände zu vermuten. Wie das Beispiel der Weimarer Republik zeigt, konnte eine Befriedung nicht allein technokratischer Natur sein. Das Maß der Einpassung in vorherrschende Muster von Gemeinschaftlichkeit war auch nicht von der Höhe der finanziellen Leistungen abhängig. Der deutsch-britische Vergleich zeigt ganz allgemein, dass die gesetzliche Positionierung der Kriegsgeschädigten nicht der alleinige Angelpunkt ihrer Selbstpositionierung war. Wir haben es daher im Falle der Tschechoslowakei mit zwei Ausformungen handlungsrelevanter Deutungsmuster von Kriegsgeschädigten unter dem Schirm ein und desselben Staates mit einer einheitlichen Gesetzgebung zu tun. Wenn man der These von Cohen folgt, dass die Instanzen zwischen dem Staat und den Kriegsgeschädigten maßgeblich für eine an der Gemeinschaft ausgerichteten produktiven Haltung der Letzteren waren, so wirft dies ein neues Licht auf die Konflikte zwischen den örtlichen Behörden und den deutschen Kriegsgeschädigten in der Tschechoslowakei. Während das Landesamt in Prag in der Wahrnehmung der tschechischen Kriegsgeschädigten durchaus als eine zivilgesellschaftliche Instanz erscheinen konnte, war es in der Wahrnehmung der deutschen Kriegsgeschädigten eine verständnislose bürokratische Behörde. Dies hing ganz offenbar auch mit den nationalen Deutungen beziehungsweise Bedeutungen des Krieges und nicht nur mit einer tradierten Feindschaft zusammen. Vieles spricht dafür, dass kaum eine allgemeingültige Maßnahme des tschechoslowakischen Staates für seine kriegsgeschädigten Bürger zu einer Befriedung der deutschen Kriegsgeschädigten geführt hätte. Die Tatsache, dass die Kriegsgeschädigten in der Weimarer Republik der Radikalisierung der Veteranenverbände im Sinne des Nationalsozialismus folgten, fordert auch zu einem zweiten Blick auf das Verhältnis der deutschen Kriegsopfer zum tschechoslowakischen Staat auf. Es ist zu vermuten, dass die deutschen Kriegsgeschädigten in der Tschechoslowakei einer deutschen Variante folgten, die wenigstens zum Teil unabhängig von der Politik des Staates war. 28 Das grundlegende Muster der Verbitterung und Enttäuschung war freilich durch spezifische sudetendeutsche Topoi ergänzt. Hierzu gehörte die Wahrnehmung der eigenen Misere in den Kategorien deutsch-tschechischer Konflikte ebenso wie der Verweis auf die besseren Gesetze für Kriegsgeschädigte in der Weimarer Republik. Dass die Kriegsgeschädigten in der Weimarer Republik dennoch weder glücklich noch zufrieden waren, lässt diesen Verweis ex post absurd 28

Vertiefende Forschungen zu dieser Frage stehen noch aus. Es gibt jedoch Hinweise darauf, dass die Kriegsveteranen in den 30er Jahren bei der Konstruktion des Geschichtsbildes der Deutschen in der Tschechoslowakei eine wichtige Rolle spielten, vgl.: Zückerl, Memory of War, 119.

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4. Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Zwischenkriegszeit

erschienen. Die Misere der deutschen Kriegsgeschädigten in der Tschechoslowakei speiste sich auf der Grundlage der Nachkriegsordnung aus den Kriegsdeutungen und aus den habsburgischen wohlfahrtsstaatlichen Traditionen. Während f ü r die Tschechen die alten Institutionen zu Instanzen der neuen Gemeinschaftlichkeit werden konnten, blieben sie f ü r die Deutschen eine übergeordnete paternalistische Instanz. Als ein nachahmenswertes Instrument deutscher Kriegsgeschädigtenfürsorge galt den deutschen Kriegsgeschädigten in der Tschechoslowakei hauptsächlich die Einstellungspflicht. Dabei handelte es sich tatsächlich u m ein internationales Politikum. 1923 hatte in G e n f eine internationale Expertenrunde des Bureau International du Travail über die B e s c h ä f t i g u n g von Invaliden stattgefunden. Zahlreiche Länder hatten zu diesem Zeitpunkt Zwangseinstellungsgesetze verabschiedet, darunter Deutschland, Österreich, Italien und Polen. In Frankreich existierte eine entsprechende Gesetzesvorlage. 2 9 Darin wurden Betriebe ab einer bestimmten Größe verpflichtet, einen feststehenden Prozentsatz von Invaliden einzustellen. Die nationalen Varianten waren sowohl ihren Bestimmungen als auch ihren Ausführungen und Wirkungen nach sehr unterschiedlich. Die Expertenkommission begrüßte die obligatorische Einstellung von Invaliden und plädierte f ü r eine möglichst u m f a s s e n d e und zeitlich nicht befristete internationale Umsetzung derselben. 3 0 Z u s a m m e n f a s s e n d zeigt der internationale Vergleich, dass sozialpolitische M a ß n a h m e n als symbolische Handlungen verstanden wurden. Dies bedeutete aber nicht, dass sich der Bedarf an symbolischen Handlungen in der staatlichen Versorgung erschöpfte. Vielmehr ging es hier um einen Prozess gesellschaftlicher Akzeptanz, der in den vorgestellten nationalen Varianten in unterschiedlichem Maß staatlich gelenkt wurde beziehungsweise lenkbar war. O f f e n b a r spielten Deutungen und damit verbundene Gefühlslagen eine erhebliche Rolle für die Selbstkonzeptionen der Kriegsgeschädigten wie auch f ü r die Wahrnehm u n g derselben durch ihre Mitmenschen. Eine Kriegsverletzung konnte vor diesem Hintergrund wohl von einem britischen Geschädigten anders e m p f u n den werden als von einem deutschen. Als Kriegsinvalide Mangel zu leiden, fühlte sich in unterschiedlichen Kontexten vermutlich nicht gleich an. Schon frühere Forschungen betrachteten das Thema im Kontext der engen Verzahnung von Institutionen und Deutungen, wenngleich auch in sozialgeschichtlichen Begriffen. Ein aufschlussreicher Befund im Vergleich zwischen den bereits erforschten nationalen Varianten und den vorliegenden Ergebnissen zur Tschechoslowakei ist, dass sogar innerhalb eines Staates dieselben Gesetze unterschiedliche Deutungen durch verschiedene Volksgruppen erfuhren. Dies bestärkt die Ausgangsthese, dass die j e w e i l s gesetzte Sozialpolitik nur im

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In Frankreich wurde ein „großzügiges Gesetz" zur Arbeitsplatzsicherung noch im selben Jahr verabschiedet, vgl.: Geyer, Ein Vorbote des Wohlfahrtsstaates, 241. 30 Ebd., 279-281, vgl. auch: Sociální revue 4, 1923, 477-491.

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M e d i u m symbolischer O r d n u n g e n W i r k u n g entfaltete und d a s s sich in ihr f ü r verschiedene P e r s o n e n g r u p p e n höchst unterschiedliche M a c h t f u n k t i o n e n ausdrückten.

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg Im Folgenden geht es um die Konsolidierung des tschechoslowakischen Nationalstaates nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Kapitel intendiert einen diachronen Vergleich der Nachkriegszeiten. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf den Unterschieden in den jeweiligen Kriegsdeutungen, in der Ausgestaltung der Helden- und Opferbilder sowie in deren Niederschlag in der Sozialpolitik. Für das Verständnis der grundlegenden Deutungsmuster der zweiten Nachkriegszeit ist zunächst ein vertiefender Blick auf das Münchner Abkommen als elementarer Bruch mit der Zwischenkriegsordnung sowie auf den Charakter des Protektorats Böhmen und Mähren wie auch auf den slowakischen Staat der Jahre 1939 bis 1944 notwendig.

5.1 Kriegsdeutungen im Lichte des Münchner Abkommens und der Ereignisse während des Zweiten Weltkrieges 5.1.1 Das Münchner Abkommen als Ereignis der der internationalen und der deutschen

tschechoslowakischen, Geschichte

In der tschechischen Buchreihe „Tage, die tschechische Geschichte machten" erschien 2003 ein Band „30.1.1933. Die Machtergreifung Hitlers. Der Anfang vom Ende der Tschechoslowakei". 1 Der Titel allein ist bemerkenswert: Er gibt ein Datum der deutschen Innenpolitik als einen Tag an, der tschechische Geschichte „gemacht" hat. Darüber hinaus wird das deutsche Ereignis in der tschechischen Sicht mit dem Augenmerk auf dem „Ende" des eigenen Staates beleuchtet. Der Titel legt nahe, die staatliche Existenz und die Zerschlagung des Staates im Kontext der Machtergreifung Hitlers zu sehen. In der Konzentration auf Hitlers Macht über den tschechoslowakischen Staat greifen die gegen Deutschland gerichteten Tendenzen der Staatsgründung und ein Gefühl der Ohmacht ineinander. Die Machtergreifung Hitlers erscheint zugleich als Beweis für die Richtigkeit des gegen den „pangermanischen Expansionsdrang" gerichteten antideutschen Feindbildes der Gründungsrhetorik. 2 Das tschechische Werk über Hitlers Machtergreifung und das Ende des tschechoslowakischen Staates transportiert eine vielfach tradierte Auffassung der Entwick-

1 Antonin Klimek, 30. 1. 1933. Nástup Hitlera k moci. Zacátek konce Ceskoslovenska. Prag 2003. 2 Gegen „pangermanische" Bestrebungen polemisierte: Masaryk, Das neue Europa, 11-13. Das Konzept der gegen die deutsche konservative Übermacht gerichteten tschechischen bzw. tschechoslowakischen Befreiung griff die Londoner Exilregierung während des Zweiten Weltkrieges wieder auf.

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

lungen der deutsch-tschechischen Beziehungen auf dem Gebiet der böhmischen Länder, als deren Kulminationspunkt der Eklat des Münchner Abkommens gilt. Grundtendenz dieses tschechischen Narrative ist der sich verschärfende „Konflikt". Danach gab es in den böhmischen Ländern traditionell eine fruchtbare Atmosphäre des wirtschaftlichen und kulturellen Miteinanders zwischen Deutschen und Tschechen. Daraus entwickelte sich im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Dominanz nationaler Orientierungen eine „Konfliktgemeinschaft". Das enge Aufeinanderbezogensein der deutschen und der tschechischen Kultur in den böhmischen Ländern schwand mit dem Zerfall der Habsburgermonarchie und der Durchsetzung nationalstaatlicher Organisationsformen in Ostmitteleuropa, die Interessen drifteten auseinander. Das vormalige Miteinander wurde von einem neuen Muster überlagert: „Konflikt anstatt Gemeinschaft". Über das Münchner Abkommen mündete diese deutsch-tschechische Geschichte schließlich in der gewaltsamen Lösung der „nationalen Frage" mittels Bevölkerungstransfer. In den 1970er Jahren war es ein Projekt der oppositionellen Historiker Jan Kren, Václav Kural und Tomás Stanëk, in einer Trilogie diese Geschichte des deutsch-tschechischen Miteinanders und seiner Zerschlagung aufzuarbeiten. 3 Ausgangspunkt war auch, dass der gewaltsame Bevölkerungstransfer und seine Bedingungen eine Blindstelle in der sozialistischen Geschichtsschreibung darstellten. Für den angesprochenen Zusammenhang ist es wichtig festzustellen, dass das Verhältnis zur deutschen Minderheit im eigenen Land beziehungsweise zu den Sudetendeutschen wie auch zu Deutschland eine existenzielle Frage in der tschechischen Geschichtswahrnehmung war und ist. Der Umgang mit „dem Deutschen" erscheint als Funktion tschechischer Identität. Der entsprechende Diskurs war auf tschechischer Seite auch von innenpolitischen Friktionen flankiert, die moralisch stark aufgeladen waren. Exilhistoriker wie auch Dissidenten verurteilten die gewaltsame Aussiedlung der Deutschen als einen illegitimen Akt kommunistischer Politik. Das Schweigen darüber zu brechen galt als Ausdruck einer oppositionellen Haltung. Zudem operierte der Diskurs um die deutsch-tschechischen Konflikte und den Bevölkerungstransfer auf beiden Seiten mit „Kollektivgestalten". 4 Die Deutungen des Münchner Abkommens wurden so auf deutscher und tschechischer Seite vielfach von den Ereignissen der zweiten Nachkriegszeit und insbesondere von der gewaltsamen Aussiedlung der deutschen Bevölkerung überlagert. Der Streit darum, ob und seit wann die meisten Deutschen in der Tschechoslowakei bekennende Nationalsozialisten waren, hat bis heute eine besondere politische Brisanz. Der Vorwurf, die „fünfte Kolonne 3

Jan Kren, Die Konfliktgemeinschaft: Tschechen und Deutsche, 1780-1919. München 1996; Václav Kural, Konflikt anstatt Gemeinschaft. Tschechen und Deutsche im tschechoslowakischen Staat (1918-1938). Prag 2001; Tomás Stanëk, Verfolgung 1945: Die Stellung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien (außerhalb der Lager und Gefangnisse). 2. Aufl. Wien 2002. 4 Jan Pauer, Moralischer Diskurs und die deutsch-tschechischen Beziehungen. (Forschungsstelle Osteuropas Bremen, Arbeitspapiere und Materialen, Nr. 17.) Bremen 1998,14.

5.1 Kriegsdeutungen

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Hitlers" gewesen zu sein, wurde seit dem Ende des Krieges pauschal gegen die Sudetendeutschen erhoben und als Rechtfertigung fur deren gewaltsame Aussiedlung benutzt. Gegen diese Auslegung wurden insbesondere Rivalitäten innerhalb des konservativen sudetendeutschen Lagers zwischen den Anhängern der Ständestaatslehre Spanns und radikalen Nationalsozialisten ins Feld geführt. Durch die gründlichen und faktenreichen Studien Volker Zimmermanns und Ralf Gebeis kann nunmehr auf eindeutige Forschungsergebnisse verwiesen werden. Beide Autoren kommen zu dem Ergebnis, dass seit dem Anschluss Österreichs eine große Mehrheit der sudetendeutschen Bevölkerung für einen Anschluss an das Reich war und dass die Sudetendeutsche Partei zu dieser Zeit ein dezidiert nationalsozialistisches Programm vertrat. 5 Die Schlussfolgerung, die spätere gewaltsame Aussiedlung sei dadurch legitimiert, ist allerdings überaus undifferenziert, da sie sowohl die Kriegsereignisse als auch die Bedingungen der Aussiedlung einfach übergeht. Die politische Beurteilung der fraglichen Prozesse ist auf beiden Seiten häufig von einem unhistorischen moralischen Impetus getragen. 6 Am 30. September 1938 ging es den Verhandlungspartnern der Westmächte bei den Münchner Krisensitzungen bekanntlich vor allem um die Erhaltung des Friedens. Mit diesem Ziel einigten sie sich darauf, die „sudetendeutschen" Randgebiete der Tschechoslowakei an das Deutsche Reich anzuschließen. Hintergrund war die so genannte Sudetenkrise, ein schwelender Konflikt zwischen beiden Ländern, in dem die Nationalsozialisten die Lage der deutschen Minderheit als Vorwand für ihre Expansionspläne zu nutzen verstanden. 7 Ein Angriff der Wehrmacht auf die Tschechoslowakei hätte zu diesem Zeitpunkt den Beginn des Zweiten Weltkrieges bedeutet. Als der wichtigste Bündnispartner der Tschechoslowakei stand die französische Regierung in der Pflicht. Frankreich war wiederum mit Großbritannien verbündet. Den Vertretern beider Regierungen (Chamberlain und Daladier) lag viel daran, die Kriegsgefahr abzuwenden. Die Erinnerung an die Schrecken des Ersten Weltkrieges war bei den europäischen Völkern noch sehr lebendig, die Neigung, in einen Krieg zu ziehen, (auch im Deutschen Reich) weitaus geringer als 1914.8 Bezeichnend für 5

Gebet, „Heim ins Reich", 5 4 - 5 7 ; Zimmermann, D i e Sudetendeutschen, 144. Ronald M. Smelser, Von alten und neuen Fragestellungen, in: Bohemia 38,1997, 368 - 3 7 1 . Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich. 6. Aufl. München 2003, 4 0 - 4 3 ; Oers.. D a s vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler, 1871-1945. 2. Aufl. Stuttgart 1996, 6 5 1 - 6 6 6 . 8 Nach dem Abschluss des A b k o m m e n s fuhr der Übersetzer Schmidt mit Chamberlain durch München. Der britische Premier wurde dort vom deutschen Volk als Friedensstifter bejubelt. Schmidt meinte, deshalb eineVerstimmung bei Hitler festgegestellt zu haben, vgl.: Paul Schmidt, Statist auf diplomatischer Bühne, 1 9 2 3 - 4 5 . Erlebnisse des Chefdolmetschers im Auswärtigen Amt mit den Staatsmännern Europas. Frankfurt a.M./ Bonn 1968, 4 1 7 - 4 1 9 . Auch Zimmermann kommt zu dem Schluss, die Bevölkerung in den sudetendeutschen Gebieten habe das Münchner A b k o m m e n unter Anderem deshalb begrüßt, weil es den drohenden Krieg abwendete, vgl.: Zimmermann, Die Sudetendeutschen, 68, 7 0 f . 6

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

die Haltung der westeuropäischen Bevölkerung ist eine Äußerung vom März 1938 in der Temps, die unterstrich, man werde nicht das Leben französicher Soldaten aufs Spiel setzen, bloß weil aufgrund des letzten Friedensschlusses drei Millionen Deutsche im tschechoslowakischen Staat lebten. 9 Darin drückt sich zweierlei aus: Zum einen ging es den Verhandlungspartnern in erster Linie um die Verhältnisse im eigenen Land. Zum anderen artikuliert sich hier die Kriegsunlust. So gaben die französischen und britischen Diplomaten unter Vermittlung Mussolinis - wenn auch widerwillig - den Forderungen Hitlers im Laufe der Verhandlungen nach. Zudem hatte die Befriedungspolitik der Westmächte eine antisowjetische Komponente. 10 Die diplomatische Lösung der Sudetenkrise sollte Hitler von einem Angriff auf die Tschechoslowakei abhalten. In der britischen wie in der französischen Öffentlichkeit blieb diese Taktik nicht unwidersprochen. Viele Intellektuelle sahen in den Verhandlungen mit Hitler einen moralischen Bankrott ihrer Regierungen." Bekanntlich hielt die Vereinbarung nicht lange. Schon im März 1939 kam es zur Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren" auf dem Gebiet der „Resttschechei", kurz nachdem der slowakische Landtag seine Unabhängigkeit ausgerufen hatte. Jedoch führte auch diese Besetzung noch nicht zum Kriegsausbruch. Das Zustandekommen des Münchner Abkommens lässt sich mithin nicht im Binnenraum des tschechoslowakischen Staates erklären. Um nachzuzeichnen, was auf der internationalen Ebene geschah und wessen Interpretationen dort prominent wurden, wird hier ein Blick auf einige neuere Forschungen zur internationalen Minderheitenpolitik geworfen. Der Diskurs um die fragliche Vereinbarung erscheint dabei auch als ein zweiter Opferdiskurs, in dem es nicht mehr um die Kriegsgeschädigten, sondern um die Stilisierung der deutschen Minderheit als Opfer tschechoslowakischer Politik ging. Dieser Diskurs veränderte die Begriffe und Motive, in denen die Verhältnisse auf dem Territorium der Tschechoslowakei beschrieben werden, da sich die Machtverhältnisse zwischen den Wegbereitern des Münchner Abkommens und den tschechoslowakischen Institutionen immer weiter verschoben. Für das sudetendeutsch-tschechische Verhältnis kann von einer Umkehr der Machtkonstellation gesprochen werden. Die innerstaatlichen Konfliktmuster erlangten zudem durch die Verzahnung von Innen- und Außenpolitik eine neue Qualität. Auf dem Weg zum Münchner Abkommen agierten deutsche Politiker aus der Tschecho9

Antoine Marès, Mnichov a Francie, in: Nëmecek (Hrsg.), Mnichovská dohoda, 6 8 - 9 5 , hier 70. Diese Äußerung wurde als Ausdruck dessen, dass Frankreich und England „nur" ihre eigenen Interessen gewahrt hätten, auch zitiert in: Nase doba 46, 1938/39, 2; auch für die Briten ging es nicht vorrangig um die Tschechoslowakei und die dort lebenden Deutschen, sondern darum, nicht in einen Krieg hineingezogen zu werden, vgl.: Frank McDonough, Chamberlain and the Czech Crisis of 1939: A case. Study in the role of morality in the conduct of international relations, in: NëmeCek (Hrsg.), Mnichovská dohoda, 8 0 - 9 5 , hier 94. 10 Hildebrand, Das vergangene Reich, 657. " Ebd., 80f.; Marès, Mnichov a Francie, 75f.

5.1 Kriegsdeutungen

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Slowakei auf internationaler Ebene unter Ausnutzung der Minderheitenschutzorganisationen. Die Zerstückelung des Territoriums des nach wie vor demokratisch verfassten tschechoslowakischen Staates ist ohne diese internationale Plattform gar nicht verständlich. Die Übereinkunft, das Sudetenland an das nationalsozialistische Deutschland abzutreten, war zugleich das Ende der spezifischen Überlagerungen von nationalem Prinzip und international garantiertem Minderheitenschutz der Zwischenkriegszeit. Aus tschechoslowakischer beziehungsweise tschechischer Perspektive stellte das Abkommen einen Verrat an den Prinzipien der (nationalen und internationalen) Zwischenkriegsordnung dar. Aus deutscher Perspektive belegten der Verlauf und das Ergebnis der Sudetenkrise die Unrechtmäßigkeit dieser Ordnung. Das Abkommen manifestierte demnach das Scheitern der in Versailles ausgehandelten Friedensordnung. 12 Auch die deutschen Kriegsgeschädigten in der Tschechoslowakei gehörten nunmehr zum deutschen Diskurs um die „Schande von Versailles", um die gekränkte deutsche Ehre 13 und damit zu einem Opferdiskurs, der nicht auf die Kriegsschädigung, sondern auf eine nationale Kränkung rekurrierte. 14 Dies stellte auch die körperliche Versehrtheit in einen neuen Bedeutungszusammenhang. Alle Sudetendeutschen galten in dieser Lesart als Opfer der Versailler Ordnung (und der Errichtung des tschechoslowakischen Staates). Die Kriegsschädigung konnte - zurückgeführt in den Strom eines deutschnationalen Geschichtsflusses - (wieder) als Opfer für das deutsche Vaterland und als Ausweis für Kampfesmut (anstatt für einen mehrfachen Verlust) verstanden werden. Die Debatte um die Versailler Ordnung war in der Verknüpfung von Geo- und Minderheitenpolitik im Kern revisionistisch. Sie überschritt die Grenzen der nationalstaatlichen Institutionen in zweierlei Hinsicht: Zum einen bestritt sie die Legitimität dieser Institutionen und zum anderen entwickelte sie sich in einem über die Staatsgrenzen hinausreichenden deutschnationalen Netzwerk. Vor diesem Hintergrund markiert der zweite Opferdiskurs auch symbolpolitisch das Ende der ersten Nachkriegszeit. Er artikulierte sich nicht

12 In diesem Sinne nahm die Sudetendeutsche Landsmannschaft z . B . 1973 gegen die Unterzeichnung des Prager Vertrags Stellung, weil sie darin eine offizielle Rücknahme des Münchner Abkommens erkannte, die ihre Ansprüche auf „Heimat" gefährdete, vgl.: K. Erik Franzert, Verpasste Chancen? Die Verträge zwischen Bonn und Prag im Urteil der Sudetendeutschen, in: Bohemia 38, 1997, 85-111, hier 8 8 - 9 2 . 13 Michael Salewski, Von Ehre zur Schande - und Schande zur Ehre. Zum historischen Selbstverständnis der Deutschen nach 1945, in: Birgit Aschmann (Hrsg.), Gefühl und Kalkül. Der Einfluss der Emotionen auf die Politik des 19. und 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2005, 175-183, hier 176; Moritz Föllmer/Rüdiger Graf/Per Leo, Einleitung: Die Kultur der Krise in der Weimarer Republik, in: Moritz Föllmer/Rüdiger Graf (Hrsg.), Die „Krise" der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters. Frankfurt a.M./New York 2005, 9 - 4 1 14 Zur Wichtigkeit der Frontkämpfermythen für die Sudetendeutschen vgl.: Kural, Konflikt, 165f.; Zuckert, Zwischen Nationsidee und staatlicher Realität, 2 3 4 - 2 3 6 .

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

mehr in (allgemeinen) sozialen, sondern ausschließlich in nationalen Kategorien. Daher muss die Aufmerksamkeit den Schnittstellen gelten, an denen sich am Vorabend des Zweiten Weltkrieges international legitimierte Motive der tschechoslowakischen Staatsgründung und Motive der international verhandelten Minderheitenpolitik gegenüber den Deutschen in der Tschechoslowakei überlagerten. Die deutschen Erwartungen an die Nachkriegsordnung artikulierten sich in Anlehnung an die Deklarationen Wilsons in den moralischen und völkerrechtlichen Begriffen von Recht und Gerechtigkeit. 1 5 Die „moralischen" Kriegsziele des amerikanischen Präsidenten - die Durchsetzung von Demokratie und des Selbstbestimmungsrechts der Völker 1 6 - sollten auch f ü r die Verlierer des Krieges gelten. Die in den Pariser Vororten abgeschlossenen Friedensverträge folgten nicht allein diesen Prinzipien, sondern auch dem (insbesondere französischen) Wunsch nach E i n d ä m m u n g der deutschen Macht und der Angst vor dem Bolschewismus. 1 7 Letztere begünstigte die Verhandlungsposition der polnischen und tschechoslowakischen Emissäre, die sich darüber hinaus auf das Selbstbestimmungsrecht beriefen. 1 8 Außerdem behauteten die Gründungsmotive der Tschechoslowakei eine besondere moralische Qualität, die sich aus der Geschichte und einer demokratischen Mission speise. In den Konflikten zwischen dem tschechoslowakischen Staat und den Angehörigen der deutschen Minderheit spielten daher moralische Urteile eine besondere Rolle. Die politischen Vertreter der deutschen Minderheiten entwickelten eine Strategie, den moralischen Impetus der Staatsgründung gegen die tschechoslowakischen Akteure zu wenden, indem sie ihnen die Verfehlung der eigenen Ideale nachwiesen. Einen prominenten Platz nimmt in diesem Z u s a m m e n h a n g die Behauptung ein, die Tschechen hätten die Slowaken missbraucht, um mit Hilfe der Doktrin des Tschechoslowakismus ein größeres Staatsvolk zu bilden. 1 9 Die Slowaken stellten demnach eine unterdrückte Minderheit im neuen Staat dar. In diesem Sinne führten die Nationalsozialisten nach der U m s e t z u n g der Münchner Verträge die slowakischen Unabhängigkeitsbestrebungen ins Feld, um als Schutzmacht (für das zweite von den Tschechen unterdrückte Volk auftreten) zu können. Diese Behauptung sollte die Legitimation f ü r die Errichtung des Protektorats liefern. 2 0 Als Beweis f ü r das parallele Schicksal des deutschen und des slowakischen Volkes galt neben der Agitation der slowakischen

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Diilffer, Frieden schließen nach einem Weltkrieg?, 32. Parafinowicz, Mit amerykanski i amerikanizacja Czechostowacji; Dies., Restoration of Poland and Czechoslovakia. 17 Diilffer, Frieden schließen nach einem Weltkrieg? 18 Müller, Staatsbürgerschaft und Minderheitenschutz, 3. 19 Diese Denkfigur findet sich auch in der älteren Forschung, vgl. z.B.: Hermann Raschhofer, Völkerbund und Münchner Abkommen. Die Staatengesellschaft von 1938. München/Wien 1976, 129 f. 20 Mastny, The Czechs under Nazi Rule, 32-37. 16

5.1 Kriegsdeutungen

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Nationalisten in der Perspektive der Sudetendeutschen die Tatsache, dass die Slowakei unmittelbar nach dem Abschluss der Verhandlungen in München ihre Autonomie erklärt hatte. Das Münchner Abkommen habe auch den Slowaken zur Verwirklichung des „Selbstbestimmungsrechts" gedient. Bezeichnend fur die Adaption slowakischer Erfahrungen ist etwa die Argumentation des sudetendeutschen Sozialdemokraten Wenzel Jaksch gegen eine Revision des Abkommens aus den späten 30er Jahren. Er berief sich auf die negativen Erfahrungen der Slowaken mit den Autonomieversprechungen der Tschechen während des Ersten Weltkrieges. Die Tatsache, dass im Vertrag von Pittsburgh (Mai 1918) eine slowakische Autonomie innerhalb des zu gründenden tschechoslowakischen Staates deklariert, diese aber letztlich nicht umgesetzt worden sei, galt nunmehr als Beleg dafür, dass man sich auf „tschechische" Garantien nicht verlassen könne. 21 Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die Figur Beness als Träger einer kontinuierlich zentralstaatlichen Politik. In dieser Rolle wurde er zur Zielscheibe verschiedenster Klagen. 22 Sowohl die Verdammung des Tschechoslowakismus als auch die Tatsache, dass den Deutschen nicht in vollem Umfang gewährt wurde, was ihnen nach den Minderheitenschutzverträgen zustand 23 , mündeten in der Rede von der „verfehlten tschechoslowakischen Minderheitenpolitik". Das Münchner Abkommen erschien als logische Folge einer solchen Politik. In der Rezeption der Sudetenkrise wird oftmals gar nicht mehr erläutert, worin denn die „verfehlte Minderheitenpolitik" bestanden habe. Zimmermann benutzt den Begriff ebenso wie Gebel unkommentiert und ohne den Sachverhalt auch nur ansatzweise zu beschreiben. 2 4 Wie beide Autoren einräumen, sei es überaus schwer festzustellen, ob beispielsweise die Nichtberücksichtigung deutscher Bewerber bei der Vergabe von Staatsaufträgen gegen diese als Deutsche gerichtet war. 25 Es gibt keinen Beweis dafür, dass der tschechische Staat Angehörige der deutschen Minderheiten in diskriminierender Absicht sozial schlechter gestellt hat als tschechische Bürger. 26 Solche Behauptungen gehörten indes zum festen

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Brandes, Großbritannien, 55; vgl. auch: Wenzel Jaksch, Europas Weg nach Potsdam. Schuld und Schicksal im Donauraum. Stuttgart 1958, 1 9 8 - 2 0 3 . 22 Ebd., 4 8 f . 23 Insbesondere bezüglich der Sprachregelungen und der Gemeindeverwaltung sahen sich die Angehörigen der deutschen Minderheit benachteiligt. In diesen Bereichen kam es Mitte der 20er Jahre zu Gesetzesänderungen, die sich zuungunsten der deutschen Minderheit auswirkten. Strittig war auch die Frage, ob die Sudetengebiete einen Autonomiestatus erhalten sollten. Fraglich ist, ob eine Besserbehandlung der Deutschen vor dem geschilderten Hintergrund zu einer grundsätzlichen Akzeptanz tschechoslowakischer Herrschaft geführt hätte. Eine Z u s a m m e n f a s s u n g der in den 20er Jahren kritischen Punkte vgl.: Kitrai, Konflikt, 1 2 9 - 1 3 5 ; vgl. auch: Scheuermann, Minderheitenschutz: 151-167. 24 Zimmermann, Die Sudetendeutschen, 68; Gebel, „Heim ins Reich", 57. 25 Zimmermann, Die Sudetendeutschen, 68 f. 26 Vgl. auch: Kural, Konflikt, 147; Jaworski, Vorposten oder Minderheit?, 4 8 - 5 5 .

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

Repertoire der sogenannten negativistischen (gegen den tschechoslowakischen Staat eingenommenen) sudetendeutschen Agitation. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Deutschen im tschechoslowakischen Staat immer gerecht behandelt wurden. 2 7 Nicht aber die Behandlung von einzelnen Bürgern oder Gruppen, sondern die Wahrnehmung einzelner Maßnahmen als ungerecht und die Einbringung dieser Sicht in einen national gefassten Opferdiskurs liefern eine Erklärung, warum das vermeintliche oder tatsächliche Unrecht international wenigstens vordergründig einen hinreichenden Grund zur territorialen Beschneidung eines souveränen Staates darstellen konnte. Die Vorstellung, man könnte durch den Nachweis von „Unrecht" im tschechoslowakischen Staat dessen Legitimität widerlegen, gehört in den spannungsreichen Zusammenhang von Moral und Machtentfaltung, von „Wilson" und „Versailles". In dem Diskurs über das Münchner Abkommen ging es aber in erster Linie nicht um Rechte und schon gar nicht um eine universelle Gerechtigkeit, sondern darum, dass die politischen Vertreter der deutschen Minderheit gegen den demokratischen Staat, dem sie als Bürger angehörten, mit den Mitteln der internationalen Politik einen territorialen Anschluss an das nationalsozialistische Deutschland betrieben. 2 8 Die Behauptung der verfehlten Minderheitenpolitik war ein überaus probates Mittel dieser Strategie. Sie war das Hauptargument der Henlein-Leute und wurde in der Sudetenkrise von Hitler persönlich gegenüber Chamberlain ins Feld geführt. Selbst wenn zuzugestehen wäre, dass es der Sudetendeutschen Partei tatsächlich um eine Verwirklichung von Minderheitenrechten gegangen wäre, so trifft dies auf Hitler und seine Münchner Emissäre sicher nicht zu. Vielmehr deklarierten hier antidemokratisch agierende Politiker (darunter auch Henlein) die militärische Besetzung der Sudetengebiete als Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts. 2 9 Damit trennten sie diesen zentralen Begriff des Völkerrechts von der diplomatischen Tradition der Entente, die ihn immer im Rahmen einer umfassenden Demokratisierung

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Zweifelsohne beeinflussten auch antideutsche Ressentiments die tschechoslowakische Wirtschaftspolitik. So wurde unter Anderem durch eine restriktive Ausländerpolitik versucht, den Einfluss deutscher Führungskräfte in der Wirtschaft zu schmälern. Eine eingehende Untersuchung dieses Segments kommt jedoch zu dem Schluss, dass dies nur ein Element neben anderen war. Die Unfähigkeit, die wirtschaftliche Misere der deutschen Bevölkerung einzudämmen, kann zum Teil auf die Verkrustung der politischen Strukturen zurückgeführt werden, ein ökonomischer „Masterplan" zur Bekämpfung der deutschen Minderheit kam aber niemals zur Anwendung, vgl.: Christoph Boyer, Nationale Kontrahenten oder Partner? Studien zu den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Wirtschaft der CSR (1918-1938). München 1999, 3 9 4 - 3 9 6 . 28 Dies führte schon Boris Celovsky in seiner überaus kontrovers aufgenommen Studie von 1958 an, vgl.: Boris Celovsky, Das Münchner Abkommen 1938. Stuttgart 1958; E. Franzel, Das Münchner Abkommen von 1938. Von Boris Celovsky [Rezension], in: HZ 195, 1962, 4 2 0 - 4 3 1 . 29 Den plötzliche Wechsel Hitlers von chauvinistischer zu diplomatischer Rhetorik in einem Gespräch vom 14. September beschrieb der Übersetzer und Zeuge der Szene Paul Schmidt eindrücklich: Schmidt, Statist auf diplomatischer Bühne, 397.

5.1 Kriegsdeutungen

201

Europas verstanden hatte. 30 In diesem Sinn ist der Verweis auf die Slowakei nicht stichhaltig. Allein die zunehmende Hinwendung zu faschistischem Gedankengut in der Slowakei seit 1933 stellte eine Ähnlichkeit zu den vornehmlich deutsch besiedelten Gebieten (wie auch zu anderen europäischen Ländern) dar.31 Am Zustandekommen des Münchner Abkommens hatten slowakische Politiker keinen Anteil. In der Sudetenkrise verhielt sich die slowakische Bevölkerung loyal zum tschechischen Staat. Erst mit dem Inkrafttreten der Beschlüsse von München nutzten nationalkonservative Slowaken die Gelegenheit zu einer Autonomieerklärung, die im März 1939 in die Errichtung eines „eigenen" Staates unter der Schutzmacht des Deutschen Reichs mündete. 32 Damit war eine Ordnung destruiert, die nicht nur in den Staaten Ostmitteleuropas, sondern auch in zahlreichen gesamteuropäischen Institutionen der Existenz von Minderheiten Rechnung trug. Mit der Etablierung neuer Staaten auf den Territorien der zerfallenden Großreiche hatte sich bei den Friedensverhandlungen 1918/19 ein Problem gestellt: Der Form nach sollten hier Nationalstaaten geschaffen werden, in denen die vormals „unterdrückten" Völker ihre Selbstbestimmung verwirklichen könnten. Diese idealistische Konzeption sah sich jedoch mit der Tatsache konfrontiert, dass die Völker Ostmitteleuropas nicht in klar voneinander getrennten Siedlungsgebieten lebten. Auf der Grundlage bereits tradierter Konfliktmuster entstand so eine Konkurrenz der Selbstbestimmungsoptionen. Die Verwirklichung der nationalen Ambitionen der einen Gruppe wurde von den anderen Gruppen häufig als Zurücksetzung gewertet. Um diesem Missverhältnis zu begegnen, wurde ein international kontrollierter Minderheitenschutz Gegenstand der Friedensverträge. Der französische Premier Clemenceau erläuterte dem dieser Lösung gegenüber voreingenommenen polnischen Premier Ignacy Paderewski im Sommer 1919 aus der Sicht der Westmächte die Notwendigkeit dazu. Demnach waren die Westmächte durch die veränderte Situation zur Indienstnahme neuer politischer Instrumente gezwungen. Als grundlegendes Problem beschrieb Clemenceau, dass auf den Territorien Polens und anderer neu- oder wiedergegründeter Staaten große Bevölkerungsgruppen lebten, deren Muttersprache und Ethnizität nicht die der Titularnation sei. Man gehe allgemein davon aus, dass sich diese Bevölkerungsgruppen besser mit der territorialen Neuordnung abfinden könnten, wenn ihnen von vornherein Schutz und adäquate Garantien gegen

30

Zur Konnotierung des Begriffs der „Selbstbestimmung" durch führende sudetendeutsche Politiker, vgl. auch: Hans-Henning Hahn/Eva Hahn, Die sudetendeutsche völkische Tradition: Ein tschechisches Trauma des 20. Jahrhunderts, in: Wolfgang Benz (Hrsg.), Wann ziehen wir endlich den Schlussstrich? Von der Notwendigkeit öffentlicher Erinnerung in Deutschland, Polen und Tschechien. Berlin 2004, 2 9 - 7 4 , hier 5 1 - 6 2 . 31 Kural, Konflikt, 179. 32 Dusan Kovác, Die Frage der Loyalität der Slowaken zur Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Schulze Wessel (Hrsg.), Loyalitäten, 6 1 - 6 8 ; Valerián Bystricky, Slovensko a Mnichov, in: Nëmecek (Hrsg.), Mnichovská dohoda, 164-191.

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jede Gefahr der ungerechten Behandlung und der Unterdrückung zugesichert würden. 3 3 So wurde der Schutz der Minderheiten zu einer Bedingung bei der Gründung der neuen Nationalstaaten. Die mit den einzelnen Staaten abgeschlossenen Verträge schrieben vor, dass Angehörige „ethnischer, religiöser und sprachlicher Minderheiten" ein Anrecht auf kulturelle Entfaltung hatten und nicht diskriminiert werden durften. Der Wortlaut der Einzelverträge war an den zuerst unterzeichneten polnischen Vertrag angelehnt. Der Minderheitenschutz war hier als Individualrecht definiert. Die Wahrung dieser Grundsätze wurde im Februar 1920 dem Völkerbund übertragen. Auf eine solche internationale Verankerung des Minderheitenschutzes hatten insbesondere jüdische Vertreter bei den Friedensverhandlungen gedrängt. 3 4 Poblo de Azcárate war einer der mit der Überprüfung der Minderheitenpetitionen an den Völkerbund beauftragten Kommissare. 1945 verfasste er mit Blick auf die Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg eine Expertise über den Minderheitenschutz. Im Vorwort schrieb er: How many times have I heard or read the statement - made nearly always in the tone of reproach - that the League of Nations was not able to ,resolve the problem of minorities'! As though the ,problem' of minorities (or any problems of a political or social nature) were as susceptible of solution as those of physics or mathematics. 3 5

Im Kontext der vermeintlich „fehlerhaften Friedensordnung" galt auch das „Problem" des Minderheitenschutzes als ungelöst. In dieser Sichtweise wurde die pure Existenz von Minderheiten zum Problem. Eine Lösung des Widerstreits zwischen der Gründung von Nationalstaaten in Ostmitteleuropa und den Rechten der auf deren Territorien lebenden Völker schien im Rückblick auf 1938/39 von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen zu sein. Dem praktizierten Minderheitenschutz wurde dagegen in einigen schon älteren wissenschaftlichen Urteilen eine effektive Arbeitsweise bescheinigt. 3 6 Für unseren Zusammenhang scheint eine differenzierte Analyse der Vorgänge in der tschechoslowakisch-deutschen Perspektive angebracht. Richard Veatch stellt den tschechoslowakischen Staat (im Vergleich zu anderen an beim Völkerbund ausgetragenen nationalen Konflikten beteiligten Staaten) als einen zwar mit vielen Konflikten behafteten, aber dennoch koope-

33 Zitiert nach: Richard Veatch, Minorities and the League of Nations, in: The League of Nations in retrospect. Proceedings of the Symposium organized by The United Nations Library and The Graduate Institute of National Studies Geneva, 6 - 9 November 1980. New York 1983, 3 6 9 - 3 8 3 , hier 370. 34 Christoph Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes. Berlin 1979, 18. 35 Poblo de Azcárate, League of Nations and National Minorities. An Experiment. Washington 1945, VII. 36 Veatch, Minorities, 181 f., Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren, 3 2 5 - 3 2 7 .

5.1 Kriegsdeutungen

203

rativen Verhandlungspartner dar. 37 Das, was Veatch als Kooperationsfahigkeit ansieht, beurteilt Martin Scheuermann sehr kritisch. In der Diplomatie Beness sieht er nichts als geschickte Täuschungsmanöver. Letztlich habe in der Tschechoslowakei der Minderheitenschutz die Form eines „Gnadenerweises" gehabt. 3 8 Überaus aufschlussreich für die Analyse der Genese des Münchner Abkommens ist die Studie von Sabine Bamberger-Stemmann über den europäischen Nationalitätenkongress. Der europäische Nationalitätenkongress wurde 1925 als Instrument einer internationalen Minderheitensolidarität gegründet. Generalsekretär war bis 1935 der Deutschbalte Ewald Ammende. Danach nahm der konservativ-völkische Deutschbalte Werner Hasselblatt eine dominante Stellung in dieser Institution ein. Wie Bamberger-Stemmann detailliert nachweist, wurde der europäische Minderheitenkongress schon Ende der 20er Jahre zum Instrument einer revisionistischen deutschen Politik, da sich Deutschland unter Stresemann zur Schutzmacht der deutschen Minderheiten erklärte. Der Kongress war von einer massiven Kritik an der mangelnden Effektivität der Petitionsverfahren des Völkerbundes und einer zunehmenden Hinwendung zum Konzept der Dissimilation geprägt, wie die strenge Abgrenzung von Mehrheits- und Minderheitsvolk genannt wurde. 3 9 Als Grundsatz einer erfolgreichen Minderheitenpolitik trug die Dissimilation völkische Züge. Gegenstand der konnationalen Politik von reichsdeutschen und Minderheitenorganisationen waren die „deutschen Volksgruppen", die als Kulturträger definiert wurden. Dabei arbeitete man eng mit ungarischen und ukrainischen Gruppen zusammen. Ein maßgebliches Argument der deutschen Minderheitenpolitiker zur Durchsetzung ihrer Forderungen in den internationalen Organisationen war der Hinweis darauf, dass die ungelösten Minderheitenprobleme zum Auslöser eines neuen Krieges werden könnten. Dieses Argument machte vor allem auf britische Diplomaten Eindruck. 4 0 Das Scheitern des Kongresses als einer internationalen Minderheitenorganisation setzte nach der Machtergreifung Hitlers ein. Der Nationalitätenkongress konnte sich 1935 nicht dazu durchringen, die nationalsozialistischen Rassegesetze gegen „Juden" zu verurteilen. Dabei berief man sich auf die Theorie der Dissimilation. 41 Dies führte zu einem Ausscheiden der jüdischen Vertreter. Die Rolle sudetendeutscher Vertreter in dieser Institution war bis zu diesem Zeitpunkt eher marginal. Auf einer Tagung in Gablonz/Jablonec wurde jedoch 1935 die Führung des Verbandes deutscher Volksgruppen und des Europäischen Nationalitätenkongresses Vertretern der

37

Veatch, Minorities, 175 f. Scheuermann, Minderheitenschutz, 195. 39 Sabine Bamberger-Stemmannn, Der europäische Nationalitätenkongreß 1925 bis 1938. Nationale Minderheiten zwischen Lobbyistentum und Großmachtinteressen. Marburg 2000, 2 5 2 - 2 5 4 . 40 Ebd., 4 f . , 361, 370. 41 Ebd., 2 7 4 - 2 8 2 . 38

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Sudetendeutschen Partei übertragen. Bamberger-Stemmann spricht in diesem Zusammenhang von einer „Machtergreifung". 4 2 Nachdem Deutschland 1933 aus dem Völkerbund ausgetreten war, entfaltete Henlein nach der genannten Tagung in Absprache mit reichsdeutschen Stellen eine geschickte Diplomatie in Großbritannien. Die zitierte Studie kann nachweisen, dass das Foreign Office in völliger Unkenntnis der näheren Umstände in Henlein einen gemäßigten, konzilanten Minderheitenvertreter erblickte. Im Lichte der ins Stocken geratenen internationalen Verhandlungen galt er als alternativer Partner. Von britischer Seite wurde er weder mit der Agitation Hasselblatts gegen den Völkerbund 4 3 , noch mit Hitlers internationalen Machtambitionen und auch nicht mit dem Nationalitätenkongress in Verbindung gebracht. Die britische Diplomatie strebte angesichts der „Krise" der internationalen Minderheiteninstitutionen nunmehr eine „Lösung der sudetendeutschen Frage auf bilateralem Wege" an. 44 Als Hintergrund macht Bamberger-Stemmann „eine merkwürdig antitschechische Haltung" aus. Sie bezeichnet es als „Ironie der Geschichte", dass die britische Appeasement-Politik ausgerechnet einen Minderheitenvertreter als Verhandlungspartner auf bilateraler Ebene zuließ, dem es eben nicht um eine „Befriedung Europas" ging. 4 5 Dieser Blick auf die internationalen Verzahnungen macht deutlich, dass die Gründe für die Beschlüsse von München eben nicht vorrangig in der tschechoslowakischen Politik zu suchen sind. Überaus wichtig sind vielmehr die Geschichte des Völkerbundes, des Europäischen Nationalitätenkongresses und der Destruktion der internationalen Minderheitenorganisationen durch eine zwischen Deutschem Reich und deutschen Minderheiten koordinierte Volkstumspolitik sowie die Orientierung der britischen Diplomatie. Auch Politiker der Sudetendeutschen Partei spielten eine herausragende Rolle in diesem Prozess, und zwar nicht, weil ihre Lage in der Tschechoslowakei im Vergleich zu der von Minderheiten in anderen Ländern besonders schlecht gewesen wäre, sondern weil es hier um die Durchsetzung völkischer Politik ging. Das Münchner Abkommen ist nicht im Kontext einer internationalen Minderheitensolidarität nicht zu erklären. Es war ein Resultat nationalsozialistischer Großmachtpolitik. Die jüdischen Organisationen, die am Ende des Ersten Weltkrieges auf die Etablierung eines internationalen Minderheitenschutzes hingearbeitet hatten, waren auf der organisationsgeschichtlichen Ebene das erste Opfer dieser Politik. 46 Das zweite Opfer war der tschechoslowakische Staat. Der Völkerbund konnte sicher das „Minder-

« Ebd., 267. « Ebd., 361-364. 44 Ebd., 273 f. (Hervorhebung im Original). « Ebd., 371 f. 46 Aus diesem Grund bemühten sich Vertreter der jüdischen Gemeinde bei britischen Diplomaten, das Münchner Abkommen abzuwenden, vgl.: Avigdor Dagan, „München" aus jüdischer Sicht, in: Peter Glotz (Hrsg.), München 1938: Das Ende des alten Europa. Essen 1990, 345 [Hervorhebung im Text], 355.

5.1 Kriegsdeutungen

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heitenproblem" nicht zur Zufriedenheit aller lösen. Eine solche „totale" Lösung des „Problems" wäre vermutlich nur durch die Nichtexistenz von Minderheiten herstellbar gewesen (wie man sie im und nach dem Zweiten Weltkrieg in Form nationaler Homogenisierung gewaltsam durchsetzte). Der Minderheitenschutz sollte aber Interessen ausgleichen und Konflikte ausbalancieren, und zwar auf der Grundlage eines nie absolut umsetzbaren Konzepts der „Gleichheit". Darauf verwies de Azcárates Bemerkung: dass Politik anders als Mathematik keine glatten, logischen, sauberen und unumstößlichen Formeln und Lösungen bieten könne. Die zitierte Expertise zielte auch darauf, den Bevölkerungstransfers als Mittel der Friedensstiftung nach dem Zweiten Weltkrieg abzuwenden. 4 7 In krassem Gegensatz zur narzisstischen Kränkung der Sudetendeutschen als Ausdruck ihrer vermeintlichen Ohnmacht galt Deutschland in der tschechischen beziehungsweise tschechoslowakischen Wahrnehmung während der ganzen Zwischenkriegszeit als ein großer, teils latent, teils manifest bedrohlicher Nachbarstaat. Eine Gefahr sah man daher auch in der deutschen Minderheit. In Hitler und Henlein fand die tschechische Angst vor dem Wiedererstarken Deutschlands ihre Projektionsfiguren. Sie entsprach dem Gefühl der eigenen Kleinheit und Gefährdung, das sich aus der geopolitischen Lage wie aus historischer Erfahrung speiste. Zu dem deutsch-tschechischen Konflikt als einer tschechischen Seinsfrage kommt im Kontext des Münchner Abkommens der Komplex hinzu. Die Tatsache, dass sich die Tschechen kampflos dem „Münchner Diktat" unterwarfen, gibt diesem Komplex Anlass und Muster. 48 Die Kapitulation vor den erdrückenden internationalen Bedingungen und der eigenen militärischen Machtlosigkeit erschien wie ein Bekenntnis zur eigenen Kleinheit und wie ein Beweis von moralischem Kleinmut. Das an die Beschlüsse von München gebundene Autostereotyp ist trefflich in den Worten des Exilhistorikers Vojtech Mastny wiedergegeben: The Czech's response testified to their uncertainty about the use of power, an uncertainty typical of a small nation. A middle-class people par excellence, they owed their greatest achievements to industrious and peaceful work rather than to the use of arms. 49

Angesichts der Machtdemonstration des gewaltbereiten und hochgerüsteten größeren deutschen Nachbarn waren die Behauptung politischer Macht und der Gebrauch von Waffen identisch geworden. An diesem Punkt versagte die sprichwörtliche kleine Nation. Die Einsicht in die Realitäten kam einer Absage an heroische Muster gleich. Die Entscheidung, nicht zu kämpfen, forderte vom Volk keinen Heldenmut, sondern Einsicht in die eigene Machtlosigkeit, in das 47

De Azcárate, League of Nations, 7 f. Kren, Die Tradition der tschechischen Demokratie, 192; vgl.: Tesar, komplex. 49 Mastny, The Czechs under Nazi Rule, 20. 48

Mnichovsky

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Scheitern der national tradierten Ideale angesichts einer scheinbar ausweglosen politischen Lage und eines übermächtigen Feindes. Diese Einsicht entsprach weder der Logik des Militärs noch der der kommunistischen Partei. Wenn letztere behauptete, das „Volk" wolle kämpfen, 5 0 so war die kampflose Aufgabe der staatlichen Souveränität für die Angehörigen des Militärs (insbesondere für die Legionäre) eine moralische Katastrophe. Sie baten den Präsidenten in einem dramatischen Appell um einen Kampfbefehl. 5 1 Die Frage „Hätten wir kämpfen sollen?" stellten schon die Zeitgenossen wie auch spätere Kommentatoren immer wieder und mit Nachdruck. 5 2 In militärhistorischer Perspektive wurde wiederholt gefragt: „Hätten wir uns verteidigen können?" 5 3 Beide Fragen transportieren einen latenten moralischen Vorwurf an die damaligen Entscheidungsträger. Eine nicht geringe Bedeutung für die nachträgliche Beurteilung des unheroischen tschechischen Verhaltens spielen auch antisozialistische Denkmuster. Die Unterzeichnung des Münchner Abkommens erscheint so als Moment der Aufgabe nationaler Souveränität und Vorbote der Einverleibung der Tschechoslowakei in den sowjetischen Einflussbereich. Jenseits der Einschätzung militärischer Manövriermasse wie Truppenstärke und Material bleibt auch die Frage, welche Motive für eine „Verteidigung ohne Verbündete" hätten in Anspruch genommen werden sollen. Die Übernahme der kommunistischen antifaschistischen Parolen hätte einer außenpolitischen Hinwendung zur Sowjetunion entsprochen. Dies wäre die logische Konsequenz aus dem Verrat der westlichen Bündnispartner gewesen. Diese Reaktion auf die Beschlüsse von München und ihre Konsequenzen wurde erst im Laufe des Krieges zu einer tatsächlichen Option. Offen ist, ob eine militärische Mobilisierung der Gesellschaft in der nötigen Größenordnung möglich gewesen wäre und um welchen Preis. Das Legionärsideal trug nicht in einem solchen Maße, dass es die Bevölkerung zu einem riskanten heroischen Kampf motivieren konnte. 5 4 Es bot für einen solchen Kampf kein Vorbild (im Gegensatz zur polnischen Gesellschaft, wo die heroische Tradition der Aufstände in Anspruch genommen 50

Christiane Brenner, Zwischen Staat, Nation und Komintern: Loyalitätsbezüge der KPTsch 1921-1938, in: Schulze Wessel (Hrsg.), Loyalitäten, 87-111, hier 107f. 51 Mastny, The Czechs under Nazi Rule, 19. 52 Jaroslav Valenta, Die Tschechoslowakei am Vorabend des Ersten Weltkrieges, in: Klaus Hildebrand/Jürgen Schmädeke/Klaus Zernack (Hrsg.), 1939. An der Schwelle zum Weltkrieg. Die Entfesselung des Zweiten Weltkrieges und das internationale System. Berlin/New York 1990, 151-160, hier 152. 53 Václav Kural, Vojensky moment cesko-nëmeckého vztahu ν roce 1938, in: Ders./Jan Anger/Klaus-Jürgen Müller (Hrsg.), Rok 1938: Mohli j s m e se bránit? Prag 1992; Ivan P f a f f , Die Modalitäten der Verteidigung der Tschechoslowakei 1938 ohne Verbündete, in: M G Z 57, 1998, 2 3 - 7 7 . 54 Die geringen Mobilisierungspotenziale der tschechoslowakischen Armee untersucht: Oswald Kostrba-Skalicky, Bewaffnete Ohnmacht. Die tschechoslowakische Armee 1918-1938, in: Karl Bosl (Hrsg.), Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 24. bis 27. November 1977 und 20. bis 23. April 1978. München 1978, 4 3 9 - 5 2 7 , hier 4 4 1 - 4 4 3 .

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werden konnte 5 5 ). O f f e n b a r müssen die unterschiedlichen Begründungen für die Kapitulation stets im Lichte früherer und späterer Ereignisse sowie ideologischer Dispositionen gelesen werden. Unter dem Z w a n g des „Münchner Diktats" und dem Eindruck der eigenen Schwäche wurden während des Zweiten Weltkrieges und in der Nachkriegszeit die Deutungsmuster teils radikalisiert, teils modifiziert. Die Reaktion auf die Münchner Forderungen erfolgte in dieser Logik nicht unmittelbar, sondern in Gestalt der „Zweiten Befreiung". Darauf wird z u r ü c k z u k o m m e n sein. Die Frage, ob als Ursache f ü r die Krise auch eine Schwäche der Demokratie auszumachen sei, ist besonders im Hinblick auf die Zweite Republik (1938/1939), die kommunistische Machtübernahme im Februar 1948 und auf die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 aus der Emigration aufgegriffen worden. 5 6 Dort wurde das Bild eines kleinmütigen tschechischen Nationalcharakters gezeichnet, der f ü r seine Ideale und Errungenschaften nicht zu k ä m p f e n bereit sei. In dieser kulturpessimistischen Lesart ging es auch um die Schuld der tschechischen Bevölkerung am Ende der Ersten und der Zweiten Republik. Die Kritik an der Kleinmütigkeit des Volks ist aber auch als ein Reflex auf die Agitation der kommunistischen Partei verstehbar, welche am Ende des Zweiten Weltkrieges die vormalige Kapitulation vor den deutschen Ansprüchen diskreditiert und durch heroische kommunistische Muster konterkariert hatte. In der Phase der „Normalisierung" (nach 1968) lag es nahe, diesen Mustern einen vermeintlich demokratischen Idealtyp der Ersten Republik entgegenzuhalten. 5 7

5.1.2 Benes und die staatsrechtliche

Kontinuität

Wenn oben der tschechoslowakische Staat als Opfer der koordinierten internationalen Politik Henleins und Hitlers bezeichnet wurde, so fällt dieser Befund bei der Analyse der Zweiten Republik und der Zeit des Protektorats nicht so eindeutig aus. Nach der Umsetzung des Münchner A b k o m m e n s wurde in dem verbleibenden Rumpfstaat die Zweite Tschecho-Slowakische Republik errichtet, n u n m e h r mit Bindestrich und weit reichender Autonomie der Slowakei. Die konservativen Träger der Regierung der Zweiten Republik unter dem Katholiken Emil Hácha kooperierten im Bemühen um die Wahrung tschechischer Interessen mit d e m Dritten Reich. Das führte zu massiven Eingriffen in 55

Dieses Grundmotiv verfolgt z.B.: Norman Davies, God's Playground. A History of Poland. Bd. 2: 1795 to the Present. Oxford 1981. 56 Josef Harna, Vnitropolitické souvislosti Mnichova. Κ diskusím o „krizi demokracie" ν Ceskoslovensku, in: Nëmecek (Hrsg.), Mnichovská dohoda, 192-200; Stanisiav Kokoska, Mnichov a ceská spolecnost, in: Nëmecek (Hrsg.), Mnichovská dohoda, 4 1 - 5 5 ; Christiane Brenner, Jiz nikdy Mnichov/Nie wieder München! „München" im tschechischen politischen Denken: Peroutka, Tigrid, Patocka, in: Fritz Taubert (Hrsg.), Mythos München, Le Mythe de Munich, The Myth of Munich, München 2002,175-202, hier 196-200. 57 Brenner, Jiz nikdy Mnichov, 200f.

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

das Parteiensystem sowie Beschneidungen politischer und ziviler Rechte. 5 8 Im März 1939 wurde das „Protektorat Böhmen und Mähren" errichtet, unter dem die Tschechen den Zweiten Weltkrieg verbrachten; die Slowakei wurde nunmehr komplett abgetrennt. Die territoriale Einheit war damit mehrfach gebrochen. In der Slowakei herrschte unter Jozef Tiso ein Regime mit einem konservativ-klerikalen Gepräge. 5 9 Hier fiel die antisemitische Propaganda der Nationalsozialisten auf fruchtbaren Boden. Die schrittweise Beschneidung der Rechte der jüdischen Bevölkerung galt als ein Weg zur „Verbesserung der sozialen Situation breiter Schichten der Bevölkerung". 6 0 Die Stellung der Protektoratsregierung unter Emil Hácha zwischen Kollaboration und Widerstand ist schwerer zu bestimmen als die des Marionettenstaates Slowakei und Gegenstand von Kontroversen. Dies betrifft auch die Frage des allgemeinen Charakters des Protektorats. In der nationalsozialistischen Konzeption war es integraler Bestandteil des Reichs mit interner Autonomie. Für die Rüstungsindustrie sollte es wirtschaftlich ausgebeutet werden. Das rassistische Urteil der Nationalsozialisten über die Tschechen fiel zweischneidig aus. Ein großer Teil galt als „eindeutschungsfähig". Der andere, „slawische" Teil sollte nach dem Krieg umgesiedelt oder vernichtet werden. 61 In der Kontinuität der Zweiten Republik ging es Angehörigen der Protektoratsregierung um die Wahrung tschechischer Interessen unter den Bedingungen der Okkupation. 6 2 Man wollte die noch vorhandenen Spielräume nutzen. In Zusammenarbeit mit der Exilregierung gelang so auch eine Unterstützung des Widerstandes. Erst 1942 wurden diese informellen Strukturen von der Gestapo aufgedeckt. Mit der Einsetzung Heydrichs als Reichsprotektor wurde der Widerstand weitgehend ausgehoben. Nach dem Attentat auf ihn (27. Mai 1942) und seinem Tod wenige Tage später verstärkte sich der nationalsozialistische Terror. Erst mit dem Slowakischen Aufstand im August 1944 und dem Prager Aufstand im Mai 1945 trat der Widerstand wieder auf den Plan. 63 Gleichzeitig kam es zu einer Wiederannäherung slowakischer und tschechischer Politik.

58 Mastny, The Czechs under Nazi_Rule, 56f.; Jan Gebhart/Jan Kuklík, Pocátky národního sourucenství ν roce 1939, in: Cesky casopis historicky 91,1993, 4 1 7 - 4 4 2 ; Feinberg, Gender and the Politics of Difference. 59 Tönsmeyer, Das Dritte Reich und die Slowakei. 60 Ivan Kamenec, Ked' striel'ajú aj slová. Funkcia, metódy a cíele antisemitskej propagandy na Slovensku ν rokoch 1938-1945, in: Valerian Bystricky/Jaroslava Rogul'ová (Hrsg.), Storocie propagandy. Slovensko ν osídlach ideológií, Bratislava 2 0 0 5 , 1 0 3 - 1 2 0 , hier 103. 61 Ralf Gebel, Die tschechische Gesellschaft unter deutscher Besatzungsherrschaft im Protektorat Böhmen und Mähren, in: Maier (Hrsg.), Tschechen, Deutsche und der Zweite Weltkrieg, 2 3 - 3 7 . 62 Gebhart/Kuklík, Pocátky národního sourucenství. 63 Václav Kural, Kollaboration und der tschechische Widerstand im Protektorat, in: Maier (Hrsg.), Tschechen, Deutsche und der Zweite Weltkrieg, 5 7 - 6 6 ; Detlef Brandes, Kollaboration und Widerstand im Protektorat Böhmen und Mähren, in: Maier (Hrsg.), Tschechen, Deutsche und der Zweite Weltkrieg, 6 7 - 7 7 .

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Ein kritischer Punkt bei der Wahrung tschechischer Interessen unter den Bedingungen des Protektorats war die Umsetzung der antijüdischen Gesetze. Der Legende nach stemmte sich die Protektoratsregierung dagegen. Neuere Forschungen haben jedoch ergeben, dass diese der Weisung, die nationalsozialistische Rassenpolitik im Protektorat eigenständig umzusetzen, ohne weiteren Druck Folge leistete. 64 Nach der Errichtung des Protektorats und der Emigration Beness nach London im Oktober 1938 war es ein vorrangiges Ziel der Exilregierung, eine Annullierung des Münchner Abkommens herbeizuführen. Mit dem Angriff der Wehrmacht auf Polen waren die Grundsätze der Appeasement-Politik gründlich widerlegt. Das Kalkül, dass durch die Abtretung des Sudetenlandes der nationalsozialistische Expansionsdrang eingedämmt und ein Krieg verhindert werden könnte, war nicht aufgegangen. Damit waren die wesentlichen Gründe für die Münchner Einigung substanzlos geworden. Die britische Regierung erkannte nach längeren Diskussionen dem Abkommen im August 1942 seine Gültigkeit ab. 65 Benes kehrte zu den bewährten Mustern der Exilpolitik zurück. Symbolpolitisch stützte sich diese auf zweierlei: auf die Kontinuität des tschechoslowakischen Staates und auf eine Wiederholung der Nationsgründung im Krieg. In einer seiner ersten Rundfunkansprachen aus dem Exil an die „tschechoslowakischen Bürger" legte Benes im November 1939 dar, „warum wir heute wieder um unsere Freiheit und unsere Republik kämpfen": Heute weiß jeder von uns zu Hause und in der Fremde, was er verloren hat. Heute kann jeder von uns, wenn er seine Heimat wieder mit dem Barbarismus, mit den moralischen und materiellen Verwüstungen und den sadistischen Gewalttätigkeiten vergleicht, welche die Naziinvasion über diese brachte, [ . . . ] erst wirklich schätzen, was unsere Republik für Tschechen und Slowaken, für Deutsche, Ungarn und Ruthenen, für all ihre Bürger ohne Unterschied war. Deshalb nämlich kämpfen wir wieder um diese unsere Republik und sagen uns, dass wir sie uns wieder gesund und sicher, fortschrittlich und demokratisch, gerecht und vorbildlich verwaltet erkämpfen werden. 6 6

Hier wurden die Muster der gegen den deutschen Expansionsdrang gerichteten Staatsgründung in Anspruch genommen. Mit Blick auf die geplante Wiedererrichtung des Staates kam es auch zur Umdeutung der Münchner Ereignisse. Nach der Annullierung des Abkommens und der Anerkennung der Londoner Exilregierung erklärte diese nun, dass seit der Errichtung des Protektorats der Kriegszustand zwischen der Tschechoslowakei und dem Dritten Reich herrsche. Neben den Legionären galt dabei besonders der Widerstand in der Heimat als

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Miroslav Kárny, Der Holocaust und die Juden in Böhmen und Mähren, in: Robert Maier (Hrsg.), Tschechen, Deutsche und der zweite Weltkrieg. Von der Schwere geschichtlicher Erfahrungen und der Schwierigkeit ihrer Aufarbeitung. Hannover 1997, 3 9 - 5 6 , hier 4 8 - 5 0 . 65 J a n Kuklik, The Validity of the Munich Agreement; Brandes, Großbritannien. 2 2 8 243. 66 Edvard Benes, Sest let exilu a druhé svêtové války. Reci, projevy a dokumenty ζ r. 1 9 3 8 - 4 5 . Prag 1946,73.

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

Träger des K a m p f e s gegen den Nationalsozialismus. Der Hinweis auf den K a m p f des tschechischen und slowakischen Volkes gegen die Besatzung und f ü r die Wiedererrichtung des tschechoslowakischen Staates milderte den Vorw u r f ab, im September 1938 nicht g e k ä m p f t zu haben. Es war j a gerade Benes, dem als Staatspräsidenten diese Entscheidung zur Last gelegt worden war. Auf diplomatischem Wege gelang ihm nun eine Revision der Unterzeichnung. Jetzt k ä m p f t e n wieder tschechoslowakische Legionäre im Verbund mit den Westmächten f ü r eine Befreiung der Republik. Benes stand wieder an der Spitze der Exilregierung und vertrat die tschechischen beziehungsweise tschechoslowakischen Interessen auf dem internationalen Parkett. Somit w u r d e er in positiven wie auch in negativen Bewertungen zu einer Verkörperung der Kontinuität tschechischer Staatlichkeit mit all ihren Implikationen zwischen M ü n c h n e r und Potsdamer A b k o m m e n . 6 7 Dies k o m m t deutlich in der Rezeption der so genannten Benes-Dekrete zum Tragen. 6 8 In Analogie zur Kontinuitätsbehauptung der Exilregierung galt der Präsident als allein verantwortlich f ü r die Entscheidungen (Dekrete) der Exilregierung und die Entwicklung der Nachkriegspolitik. Gerade in der Deutung der sudetendeutschen L a n d s m a n n s c h a f t wurde er daher z u m „ D ä m o n " stilisiert. 6 9 Im tschechoslowakischen Staat wurde die Kontinuitätskonzeption Beness erst im Februar 1946 rechtlich anerkannt. 7 0 Die Hinwendung der tschechoslowakischen Außenpolitik zur Sowjetunion war in dieser Perspektive eine späte Lehre aus den Münchner Erfahrungen. Dasselbe gilt f ü r den gewaltsamen Bevölkerungstransfer. Anders als es die sudetendeutsche Rezeption der Dekrete der Exilregierung unterstellte, ging die Entscheidung zum Transfer der deutschen Bevölkerung nicht allein auf diese zurück. Vielmehr hatten Vertreter insbesondere des kommunistischen Widerstandes daran großen Anteil. Die Orientierung an der Sowjetunion muss dabei auch im Lichte einer traditionell am Ausgleich zwischen Ost- und Westeuropa interessierten tschechoslowakischen Außenpolitik gesehen werden. 7 1

67

Kural, Kollaboration, 63-66. Beppo Beyerl, Die Benes-Dekrete. Zwischen tschechischer Identität und deutscher Begehrlichkeit, Wien 2002; Václav Pavlicek, Über die Dekrete des Präsidenten der Republik in der Kontinuität von Staat und Recht, in: Mohnhaupt/Schönfeldt (Hrsg.), Normdurchsetzung, Bd. 4, 23-75; Karel Jech/Jan Kuklik/Vladimir Mikule (Hrsg.), Die Deutschen und Magyaren in den Dekreten des Präsidenten der Republik. Studien und Dokumente 1940-1945. Brno 2003. 69 Eva Hahnovà/Hans H. Hahn, Démon Edvard Benes. Lobby vyhnancü se podarilo prosadit ν Nëmecku jednostranny pohled na druhého ceskoslovenského prezidenta, in: Lidové noviny, 3. 3. 2004,13. 70 Právník 84, 1945, 285-293, 136-153. 71 Vgl.: Peter Bugge, „Land und Volk" - oder: Wo liegt Böhmen?, in: GG 28, 2002, H. 3, 404-434, hier 433 f. 68

5.2 Die Jahre 1944/45 bis 1948

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5.2 Die Jahre 1944/45 bis 1948 Die Erforschung der Jahre 1944/45 bis 1948 in der Tschechoslowakei richtet sich vorrangig an zwei Grundmustern aus: 1. an der Vorstellung einer kontinuierlich voranschreitenden „Sowjetisierung" der Tschechoslowakei. 2. an der Theorie der gewaltsamen „nationalen Homogenisierung" als dominierendes Merkmal dieser Zeit. Unter Sowjetisierung versteht man angesichts der Spaltung Europas in zwei feindlich gesinnte Blöcke von 1948/49 bis 1989 die Übertragung des politischen Systems der Sowjetunion auf die Länder, die nach dem Potsdamer Abkommen als deren Einflussgebiet galten. Dabei gibt die Hegemonie der Sowjetunion nach den kommunistischen Staatsstreichen der späten 40er Jahre in den entsprechenden Ländern den Interpretationsrahmen auch für die unmittelbaren Nachkriegsjahre ab. Insbesondere politologische Studien reduzieren die Zeit zwischen der Befreiung vom Faschismus und dem Beginn des Stalinismus auf eine Phase sukzessiver Machtausdehnung sowjetischen Typs. 72 Dabei erhielten zwei wesentliche Faktoren zu wenig Aufmerksamkeit: erstens die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den jeweiligen Ländern und zweitens die Grenzen der sowjetischen Machtentfaltung. Neuere Forschungen können hier zu einer detaillierteren Betrachtung beitragen. Eine genaue Analyse dieser Nachkriegsphase in den befreiten Ländern weist zunächst auf die durch Krieg und Umbruch hervorgerufenen chaotischen Zustände und infolgedessen auf die Grenzen sowjetischer Durchherrschung. Die Einflussnahme der Sowjetunion beschränkte sich auf einige wesentliche Punkte. Dies betraf in erster Linie die obligatorische Einsetzung von Volksfrontregierungen. Die Sowjetunion achtete außerdem streng auf die Wahrung ihrer außenpolitischen Interessen. Dabei passte sie sich durchaus flexibel den kulturellen und politischen Traditionen der einzelnen Länder an. 73 Als Spezifikum der tschechoslowakischen Nachkriegszeit ist gerade auch mit Blick auf die Systemtransformation von 1948 bekannt, dass die grundlegenden Veränderungen in der politischen und ökonomischen Ordnung sowie die zentralen Rolle der Sowjetunion als Befreierin vergleichsweise großen Zuspruch in der Bevölkerung fanden. 74 Dies wurde vielfach im Lichte der ausgeprägt 72

Vgl.: Michael Reiman, „Sowjetisierung" und nationale Eigenart in Ostmittel- und Südosteuropa. Zu Problem und Forschungsstand, in: Hans Lemberg (Hrsg.), Sowjetisches Modell und nationale Prägung. Kontinuität und Wandel in Ostmitteleuropa. Marburg 1991, 3 - 9 , hier 3; Peter Heumos, Der Februarumsturz 1948 in der Tschechoslowakei. Gesichtspunkte zu einer strukturgeschichtlichen Interpretation, in: Bernd Bonwetsch (Hrsg.), Zeitgeschichte Osteuropas als Methoden- und Forschungsproblem. Berlin 1985, 121-135, hier 121 f. 73 Stefan Creuzberger/Manfred Görtemaker, Das Problem der Gleichschaltung osteuropäischer Parteien im Vergleich. Eine Synthese, in: Dies. (Hrsg.), Gleichschaltung unter Stalin?, 4 1 9 - 4 3 4 , hier 4 2 0 - 4 2 5 . 74 Kocian, Vom Kaschauer Programm zum Prager Putsch, 3 0 4 - 3 0 7 .

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

linken Zwischenkriegstraditionen wie auch der Enttäuschung durch die Westmächte im Umfeld des Münchner Abkommens erklärt. Karel Kaplan betont jedoch, dass die linke Orientierung der tschechoslowakischen Nachkriegsrevolution nicht geradlinig auf die spätere Blockbindung zuführte. In den fraglichen Jahren hielten die sozialliberalen und sozialdemokratischen Kräfte eine autonome Entwicklung der Tschechoslowakei für möglich. Nur für die Kommunisten war die Hinwendung zum Sozialismus gleichbedeutend mit einer umfassenden Sowjetisierung. Die übrigen an der Volksfrontregierung beteiligten Kräfte orientierten sich an der Idee der „sozialen Gleichberechtigung" und strebten eine „sozialisierende Demokratie" an. 75 Ihre linken Grundüberzeugungen standen eher in einer westeuropäischen Tradition, als sie sich der sowjetischen Ausprägung des Sozialismus verpflichtet zu fühlten. Tragende Säulen der tschechoslowakischen Wirtschafts- und Sozialpolitik waren 1945 die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien, Banken und Versicherungen (Nationalisierung) und die Bodenreform. Die am 26. Mai 1946 gewählte Gesetzgebende Nationalversammlung gab am 28. Oktober 1946 einen Zweijahresplan als Aufbauprogramm heraus. Ab dem 1. Januar 1947 sollte innerhalb von 24 Monaten die wirtschaftliche Produktivität um zehn Prozent über das Vorkriegsniveau gehoben werden. 7 6 Ein Kernstück des Plans war die Mobilisierung aller Arbeitskräfte (zu einem „gerechten" Lohn) auf der Grundlage von Arbeitsrecht und Arbeitspflicht. Auf freiwilliger Basis sollten Menschen mit eingeschränkter Arbeitsfähigkeit und bislang nicht erwerbstätige Frauen einbezogen werden. Diese Maßnahmen galten als im volksdemokratisch und revolutionär. Dass sie nicht den bislang praktizierten kapitalistischen Wirtschaftsformen entsprachen, diskutierten die sozialpolitischen Medien ausführlich. 7 7 Die erhöhten Anstrengungen zur wirtschaftlichen Mobilisierung des Volkes hingen unmittelbar mit der Zwangsaussiedlung der deutschen Bevölkerung zusammen, deren Arbeitskraft es zu ersetzen galt. Dieses Argument wurde zur Motivierung der Bevölkerung benutzt. 7 8 Nationalisierung, Bodenreform und Mobilisierung wurden (wie auch die Aussiedlungspolitik) allgemein als notwendige einschneidende Neuerungen im Interesse der nationalen Konsolidierung begrüßt. 7 9 Die nationale, am „Volk" ausgerichtete Nachkriegspolitik galt nicht nur als Wiederholung, sondern als Vollendung der Staatsgründung von 1918/19.80 Wirtschaftspolitik und staatliche Lenkung wurden zu Mitteln 75

Kaplan, Der kurze Marsch, 20 f. Jart M. Michal, Die wirtschaftliche Entwicklung der Nachkriegszeit, in: Victor R. Mamatey/Radomir Luza (Hrsg.), Geschichte der Tschechoslowakischen Republik, 1918 — 1948. Wien/Köln/Graz 1980, 4 5 6 - 4 9 1 , hier 473 f. 77 Sociální revue 21, 1946, 2 2 4 - 2 2 9 , 331-335; Nase doba 54, 1947/48, 111-116. 78 Národní osvobozeni, 27. 10. 1946, 1 - 2 ; 30. 10. 1946, 1; Svobodné slovo, 30. 10. 1946; Právo lidu, 30. 10. 1946. 79 Kaplan, Der kurze Marsch, 41. 80 Christiane Brenner, Perspektivy roku 1945, in: Kokoska/Kokosková/Kocian (Hrsg.), Ceskoslovensko na rozhrani dvou epoch nesvobody, 2 5 7 - 2 6 3 , hier 258. 76

5.2 D i e Jahre 1944/45 bis 1948

213

einer staatlichen Umverteilung, die auf die Herstellung sozialer Gerechtigkeit und eine Angleichung der Lebensverhältnisse zielte. 81 Lenka Kalinková weist d a r a u f h i n , dass der sozialpolitische Umbau zur fraglichen Zeit auch in den traditionsreichen liberalen Staaten große Bedeutung gewann. Eine Eindämmung kapitalistischer Marktmechanismen erschien allgemein als eine logische Konsequenz aus der ökonomischen Krise der 30er Jahre. Staatliche Eingriffe in die Wirtschaftsordnung entsprachen auch der Theorie des Keynesianismus und des New Deal. In Großbritannien wie auch in den USA setzte sich angesichts der Weltwirtschaftskrise seit den 30er Jahren die Einsicht durch, dass auch die Marktwirtschaft der staatlich geregelten gesellschaftlichen Solidarität bedurfte. Massenarbeitslosigkeit und Massenelend sollten durch den Ausbau des Sozialversicherungswesens sowie in Abkehr vom Prinzip des laissez faire durch staatliche Interventionen in der Wirtschaft bekämpft werden. 8 2 Die tschechoslowakische Sozialdemokratie und Politiker im Umfeld der Londoner Exilregierung standen diesen Ideen nahe und favorisierten daher die staatliche Lenkung der Wirtschaft. 8 3 In den Nachkriegsjahren wurden sie unter dem Einfluss sowjetischer Maximen und durch die Suche nach einem Konsens mit den Kommunisten radikalisiert. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine Kopie des Sowjetsystems. Wie in der Forschung zur frühen Sowjetunion 8 4 , wird auch für die Phase der Systemtransformation nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend von einer Eskalation der Gewalt gesprochen, die sich vom Krieg und/oder Bürgerkrieg in die Etablierung totalitärer Herrschaft fortsetzte und vielfach als Kennzeichen der Nachkriegsepoche, wenn nicht des Jahrhunderts angesehen wird. Die These von Gewalt als Kennzeichen totalitärer Herrschaft ist in der Auseinandersetzung mit dem stalinistischen und nationalsozialistischen Regime entwickelt worden. Inwieweit und in welchen Punkten sie auf die Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg übertragen werden kann, bedarf eingehender Reflexion. Die folgenden Ausführungen möchten hierzu einen Beitrag leisten. Dabei gehe ich von Jörg Baberowskis und Anselm Doering-Manteuffels Essay „Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium" aus. Die darin zusammengefassten Überlegungen über den Charakter von Gewaltherrschaft im 20. Jahrhundert sollen auf ihre Tauglichkeit zur Erklärung der zweiten tschechoslowakischen Nachkriegszeit geprüft werden. Baberowski und Doering-Manteuffel arbeiten die Gemeinsamkeiten des stalinistischen und des nationalsozialistischen Systems heraus. Der Leitgedanke ist, dass beide Regime ihre wahnhaften Zukunftsentwürfe in der Abkehr von traditionellen Hemmungen gewaltsam durchsetzten. In beiden Fällen kam es zu 81

Sociální revue 22, 1947, 267; P é í e o mládez 27, 1948, 33. Lenka Kalinková, Vychodiska, oóekáváni a realita poválecné doby. Κ déjinám ceské spolecnosti ν letech 1 9 4 5 - 1 9 4 8 . Prag 2004, 1 5 - 2 4 . 83 Ebd., 2 5 - 4 0 . 84 Plaggenborg, Gewalt und Militanz. 82

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

einer „Ethnologisierung" der politischen Rhetorik. 8 5 Das Primat der „ K l a s s e " im einen und der „ R a s s e " im anderen Fall ließ alles F r e m d e als bedrohlich erscheinen. Die Autoren halten die gewaltsame Herstellung eines „handlungso f f e n e n Feldes" als grundlegend f ü r die Entfaltung von Terror und Gewalt. Dieses als Imperium charakterisierte Feld w a r in der Vorstellung der Technokraten eine Verfügungsmasse. Statt von „ L ä n d e r n " und „ L e u t e n " handelte ihr Skript von „ R a u m " und „Volk". 86 Die Gewaltexzesse gegen ganze Völker geschahen im Z u s a m m e n h a n g mit (imperialen) Eroberungen. Der eroberte Raum galt als frei von staatlicher O r d n u n g und als rechtsfrei. Er bot sich als Ort zur Verwirklichung von Großmachtphantasien und radikal neuen Gesellschaftsentwürfen an. Die den entsprechenden Plänen im Wege stehenden Völker wurden als feindlich und minderwertig stigmatisiert und konnten im R a h m e n eines finalen K a m p f e s ohne Skrupel Objekt von Gewalt werden. Bevölkerungstransfers und Völkermord hatten darin einen gemeinsamen N e n n e r (sie können selbstverständlich deshalb nicht gleichgesetzt werden), der auch den Terror gegen die Zivilbevölkerung mit d e m Holocaust verbindet. D e m Völkermord an den Juden ist damit seine Singularität nicht genommen. Die Autoren betonen, dass Antisemitismus in der Sowjetunion nicht denselben ideologischen Stellenwert hatte wie im Dritten Reich. Insbesondere die Errichtung von industriell betriebenen Vernichtungslagern war eine allein nationalsozialistische Praxis. Baberowski und Doering-Manteuffel befassen sich nicht mit der Nachkriegsgeschichte der Länder, die im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht und der Roten A r m e e besetzt und schließlich von der Roten A r m e e befreit w u r d e n . Die Darstellung bleibt in gewissem Sinne der imperialen Perspektive verhaftet. Daher wäre eine Analyse der Nachkriegstschechoslowakei entlang dieser Gewalttheorie durchaus problematisch. N e b e n der Beurteilung von Ausmaß und Charakter der Nachkriegsgewalt ist nach deren jeweiligen Ursachen zu fragen. Einen Berührungspunkt zwischen der Genese totalitärer Gewalt und den Problemen der Nachkriegsjahre ergeben die „ethnischen Säuberungen". Einen ambitionierten Versuch, ethnisch motivierte Gewalt als Kennzeichen des europäischen 20. Jahrhunderts darzustellen, unternimmt der amerikanische Historiker N o r m a n N a i m a r k in seiner Studie „Flammender H a s s " (Fires of Hatred). 8 7 Dieser Versuch lässt sich an die Überlegungen Baberowskis und DoeringManteuffels anschließen. N a i m a r k fügt die gewaltsame Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen und der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg in eine Reihe ethnischer Säuberungen ein, die vom armenischen 85

Jörg Baberowski/Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzesse und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium. Bonn 2006,17. 86 Ebd., 21, 38, 90. 87 Norman M. Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberungen im 20. Jahrhundert. München 2004; zu Gewalt, Krieg und Totalität: Ebd., 231-239. Die Studie ist 2006 auch in tschechischer Übersetzung erschienen.

5.2 D i e Jahre 1944/45 bis 1948

215

Völkermord von 1915 über sowjetische Gewalt gegen nichtrussische Völker sowie nationalsozialistische Bevölkerungstransfers und den Holocaust bis zum Krieg im ehemaligen Jugoslawien führt. Ethnische Säuberungen versteht er als politisch intendierte „nationale Homogenisierung", welche die als anders definierten nationalen Gruppen gewaltsam ausgrenzt. Naimark betont dabei die enge Verknüpfung von Kriegsgeschehen und ethnischen Säuberungen ebenso wie die internationale Akzeptanz nationaler Homogenisierungen als Mittel der Befriedung. Dieser Ansatz ist deshalb interessant, weil er die Frage der Kontinuität von Politik und Gewalt außerhalb der nationalen Bezugssysteme beantworten könnte. Naimark hält sich jedoch an teilweise recht zweifelhafte Sekundärliteratur und argumentiert mit überholten Generalisierungen. 8 8 Es fällt außerdem auf, dass Naimark gerade die Tschechen an den Pranger der Geschichte stellt. Dabei bedient er sich des Vergleichs mit Polen. Dieser Vergleich findet sich in den Quellen wie auch in der Sekundärliteratur häufig und er dient fast immer dazu, den Opferstatus des tschechischen Volkes zu relativieren. Bei Naimark liest sich das wie folgt: Die polnischen und die tschechischen Fälle sind interessant, weil sie die moralische Perspektive umkehren, durch die wir ethnische Säuberungen betrachten. Die deutschen Verbrechen in der Tschechoslowakei und in Polen führten dazu, dass nur ein paar Außenseiter Mitleid mit den Vertriebenen empfanden. Die moralischen Kategorien werden auch durch die Brutalität komplizierter, mit der Polen und Tschechen die j e w e i l i g e deutsche Minderheit vertrieben. Im Fall der Polen kann man die Brutalität verstehen, wenn auch nicht rechtfertigen, schließlich hatten die Deutschen etwa 6 Millionen polnischer Bürger umgebracht. Die eine Hälfte polnische Katholiken, die andere Juden. Die N a z i s erniedrigten die Polen systematisch, um sie zu Heloten zu machen, die niedrige Arbeiten für Industrie und Landwirtschaft des Reichs verrichteten. Die Tschechen wurden ganz anders behandelt, relativ w e n i g e starben während des Krieges. Der tschechischen Industrie ging es gut, e b e n s o den Arbeitern, und direkte Angriffe auf tschechische Bürger waren selten. D e n n o c h zeigten die Tschechen bei der Rache an den Deutschen die gleiche wenn nicht größere Brutalität. 8 9

Diese Aussagen sind undifferenziert und suggestiv. Der Hinweis etwa auf die drei Millionen polnischen Juden schlägt diese Opfer dem polnischen Volk zu, während die in den polnischen Vernichtungslager umgekommenen tschechischen und slowakischen Juden unterschlagen werden. Unklar bleibt auch der Zusammenhang von Todesopfern und den Verhaltensmustern der Lebenden. Der Wortlaut macht nicht klar, ob die Lebenden die Toten rächen wollten oder sich selbst für am eigenen Leib erlittene Erniedrigungen. Es wird ohne weite-

88 Eva Hahn/Hans Henning Hahn, Alte Legenden und neue Besuche des „Ostens". Über Norman M . N a i m a r k s Geschichtsbilder, in: ZfG 54, 2 0 0 6 , H. 7/8, 6 8 7 - 7 0 0 , Zitat 699, zu den Zahlen vgl. 6 9 2 f . Die Opferzahlen werden zu einem Politikum, nachdem in der Ausstellung der Vertriebenenverbände die überhöhten Opferzahlen aus den 1950er Jahren zitiert wurden, vgl.: Ingo Haar, Hochgerechnetes Unglück. Die Zahl der deutschen Opfer nach dem Zweiten Weltkrieg wird übertrieben, in: Süddeutsche Zeitung, 14. 11.2006, 13. 89 Naimark, Flammender Hass, 2 4 f.

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

res unterstellt, dass die Zahl der Toten und das Ausmaß an Erniedrigung der Überlebenden mit der gewalttätigen Reaktion der Letzteren in logischer Weise korrelierten. Schließt man sich aber der gängigen Vorstellung an, dass das Protektorat eine milde Form von nationalsozialistischer Herrschaft gewesen sei und sieht man zugleich die gewaltsame Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus der Nachkriegstschechoslowakei als eine Reaktion auf die Besatzungsherrschaft, so drängt sich der Eindruck auf, dass Naimarks Kausalitätsmuster diesen spezifischen Fall eben nicht trifft. Naimarks Beobachtung lädt dann gerade dazu ein, den Topos der Rache zu hinterfragen. 90 Gab es nicht eine Form der Erniedrigung, die sich eben nicht in Toten rechnen lässt? Und welche Funktion konnte die Vertreibung im Übergang vom Krieg zur Nachkriegszeit jenseits von Rache haben? Eine differenzierte Beantwortung dieser Fragen würde den Vergleich mit Polen auf eine völlig andere Ebene heben. Angesichts der Einverleibung des Protektorats in das Reich erklärt der Vergleich zwischen dem Wohlergehen der deutschen und der tschechischen Bevölkerung (den „Reichsdeutschen" und den „Protektoratsangehörigen") während des Krieges zudem wesentlich mehr als der schiefe Vergleich mit dem Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete. Auch sollte in Betracht gezogen werden, ob in der sich konsolidierenden Tschechoslowakei nicht tatsächlich kaltes staatspolitisches Kalkül für eine Aussiedlung der Deutschen sprach, ob es sich also nicht wenigstens zum Teil um eine zweckrationale Entscheidung handelte, und nicht nur um einen explosiven Ausbruch von Hass, Rache und Gewalt. Bei aller Kritik an Naimarks Darstellung provoziert sie doch die Frage, ob und inwiefern die Mittel der Beherrschung und die Formen der Gewalt nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft in der Praxis und Mentalität der neuen Machthaber fortbestanden. Auf diesen Zusammenhang verweist eher das Konzept der Studie als ihre Ausführung. Es schließt gewissermaßen an die Idee Baumans vom gardening state an, auf die sich auch Baberowski und Doering-Manteuffel stützen. Bauman konstatiert in der Absicht, den Holocaust in die Geschichte des europäischen Aufklärungsprojekts einzufügen, der moderne Staat als Herrschaftsinstanz tendiere im Namen der allumfassenden Ordnung zu einer gewalttätigen Bekämpfung all dessen, was als „anders" klassifiziert wird. Das Klassifizieren sei moderner Herrschaft eigen. Das derart konstruierte Andere gilt Bauman als Symbol der Ambivalenz von Ordnung und Chaos (also dessen, das sich der Klassifizierung entzieht). In der Verbindung von Macht und Ordnung sei im modernen Staat die Möglichkeit angelegt, das Chaos (das Nichtbeherrschbare, das Andere) mit Gewalt zu bekämpfen, wie der Gärtner das Unkraut jätet und auszurotten ver-

90

Es ist bislang nicht bewiesen, dass „Rache" die gewaltsame Aussiedlung motivierte. H i e r a u f h a b e n hingewiesen: Hahn/Hahn, Alte Legenden, 689f.

5.2 Die Jahre 1944/45 bis 1948

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sucht. Dies funktioniere über Zuschreibungen und Ausschluss. 91 Man kann diese Vorstellung von staatlichem Handeln auch auf die gewaltsame Aussiedlung der Deutschen und Magyaren aus der Nachkriegstschechoslowakei beziehen. In der Wiedererrichtung des Staates nach 1945 in Form eines zunehmend homogenen tschechoslowakischen Nationalstaates erblickt der tschechische Soziologe Havelka eine an das alte Konzept von der Auslandsrevolution angelehnte Radikalisierung des Nationsgründungsprozesses. 9 2 Historiographisch ist an der Übertragung der Idee eines gardening state auf die Tschechoslowakei der kausale Nexus zur nationalsozialistischen Herrschaft und zum Holocaust heikel. Denn der gewaltsame Transfer der Deutschen nach dem Krieg muss im Kontext der vorangegangenen nationalsozialistischen Verbrechen gesehen werden. 93 Dies kann aber durchaus auf zwei Ebenen geschehen. Oberflächlich geht es darum, dass die begangenen Verbrechen den Grund für den Transfer darstellen. Die Vertreibung wäre in dieser Logik eine Strafe für die Verbrechen der Deutschen und Magyaren. Das entspricht der Auffassung der Zeitgenossen, auf beiden Seiten mit unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Es steht jedoch ein zweiter Nexus zwischen Besatzungsherrschaft und Nachkriegszeit zur Diskussion, der bislang noch wenig Beachtung gefunden hat. Dabei geht es um die Kontinuität der Mittel der Gewaltausübung und der Herrschaftsinstitutionen jenseits des Machtwechsels. Die Frage lautet: Wurde nicht von der Volksfrontregierung einiges von dem fortgeführt, was die Nationalsozialisten begonnen hatten, wenn auch unter umgekehrten Vorzeichen? Der Bevölkerungstransfer wurde in dieser Sichtweise sowohl logistisch (in der Umkehr der Feindrhetorik) als auch ideologisch durch die immensen Bevölkerungsverschiebungen während des Zweiten Weltkriege begründet und ermöglicht. 94 Der tschechische Historiker Tomás Stanëk zieht die Vorstellung der Eskalation von Gewalt zur Erklärung der ungeregelten (wilden) Vertreibung heran. Unmittelbar im Anschluss an die Befreiung (Mai bis Juli 1945) kam es in den tschechischen Ländern in vielen Orten zu spontanen Gewaltausbrüchen gegenüber der deutschen Bevölkerung. In einer regionalen Perspektive interpretiert Stanëk diese als eng an die jeweilige Stimmung und Bedingungen der Befreiung gekoppelt. Die antifaschistische beziehungsweise antideutsche Politik der neuen Machthaber - insbesondere die Absicht zur Enteignung der „Verräter" - bot den Exzessen einen übergeordneten Begründungsrahmen, darf aber nicht als Handlungsanweisung für die lokalen Ereignisse missverstanden

91

Bauman, Modernity and Ambivalence, 1,4, 8, 20. Havelka, Ceské myslení, 25. 93 Vgl. exemplarisch die Beiträge in: ZfG 51, 2003, H. 1 (Jürgen Danyel/Philipp Ther [Hrsg.]: Flucht und Vertreibung in europäischer Perspektive). 94 Zu den nationalsozialistischen Bevölkerungsverschiebungen vgl.: Götz Aly, „Endlösung". Völkerverschiebung und der Mord an den europäischen Juden. Frankfurt a.M. 1995; diese Gedanken äußern auch: Baberowski/Doering-Manteuffe!, Ordnung durch Terror, 83. 92

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

werden. Die lokalen, nicht aber die nationalen Entscheidungsträger konnten die Exzesse anfachen oder eindämmen. 9 5 Der gewaltsame Bevölkerungstransfer lässt sich weder machtpolitisch noch logisch im Sinne der Sowjetisierungsthese erklären. 9 6 Eher ist es angebracht, das Überdauern der Gewaltmittel und der rhetorischen Muster aus der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft in die Zeit der Volksfrontregierung zu verfolgen. Dafür ist in Anlehnung an Baberowski und Doering-Manteuffel die Vorstellung von „Volk" und „Raum" von entscheidender Bedeutung. Für die weiteren Überlegungen ist ausschlaggebend, dass das Territorium der Tschechoslowakei während des Krieges nur zum Teil ein „gestaltungsoffenes Handlungsfeld" bot. Weder das Protektorat noch der slowakische Vasallenstaat waren durch Krieg eroberte Gebiete. Der nationalsozialistische Terror verbreitete sich unter der Oberfläche einer zwar mehrfach gebrochenen, aber dennoch weiterhin gepflegten staatlichen und rechtlichen Kontinuität. Es gilt in dieser Hinsicht, die Herrschaftspraxis auf diesen Territorien gerade in ihrer Ambivalenz zu erfassen.

5.3 Zweierlei Kontinuitäten: Bürger, Bevölkerung und Volk als Objekt der Politik der Exil- und der Protektoratsregierung Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gewannen in der Tschechoslowakei die Militärs und die Kommunisten mehr Einfluss als sie in den späten 30er Jahren hatten. Diejenigen Kräfte, die 1938 widerstrebend die Waffen gestreckt hatten, bestimmten nun wesentlich die Bedingungen der zweiten Konsolidierung. Anders als in Polen waren in der Tschechoslowakei durch die Umstände der Okkupation die konservativen und insbesondere die katholischen Kräfte diskreditiert. Die Hácha- und die Tiso-Regierung repräsentierten die Bereitschaft, mit den Nationalsozialisten zu kooperieren und nach den Maßstäben der nunmehr geltenden Maxime ihr eigenes Volk zu verraten. Dabei hatten die katholischen und die konservativen Parteien nationale Interessen als Argumente ins Feld geführt. Die jetzt zur Macht kommenden liberalen und linken politischen Kräfte konstruierten vor dem Hintergrund der territorialen Zersplitterung und der faktisch doppelten Herrschaft von Besatzungsmacht und Exilregierung während des Zweiten Weltkrieges eine neue tschechoslowakische Einheit, die einen nicht mehr konservativen Nationalismus stiftete. Umverteilungsstrategien, die sozialpolitisch begründet wurden, spielten dabei eine wesentliche

95

Tomás Stanék, Poválecné „excesy" ν ceskych zemích ν roce 1945 a jejich vysetrování. Prag 2005, 13-63. 96 Die sozialistische Rhetorik wie auch die stalinistischen Herrschaftsmethoden wurden von Angehörigen des Moskauer Exils mitgebracht, kamen aber erst 1948 zu ihrer vollen Entfaltung.

5.3 Zweierlei Kontinuitäten

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Rolle. Seinen Angelpunk besaß der Nachkriegsnationalismus im antifaschistischen Widerstand, weswegen die (Wieder-)Herstellung der nationalen Einheit mit der Neudefinition des Volkes einherging. Dabei war der U m g a n g mit den (vormaligen) Minderheiten ein wesentliches Problem der Kontinuitätskonzeption, denn die Praxis der Aussiedlung widersprach der Verfassung und der Politik der Zwischenkriegszeit. 9 7 Die Aussiedlung der deutschen Bevölkerung war zugleich eng mit der sozialpolitischen Erneuerung verbunden. 9 8 Gegenstand der staatlichen Bemühungen waren nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend nicht mehr die Staatsbürger, sondern das antifaschistische tschechoslowakische Volk. Diese Umdefinition war an kollektiv gezeichneten heroischen Mustern ausgerichtet. Aber nicht nur das Objekt staatlicher Beherrschung, sondern auch der Staat als Machtinstanz selbst wurde neu gesetzt. Dieser Prozess soll im Folgenden mit Blick auf die Bedeutung von Helden- und Opfermustern nachvollzogen werden. Die eingangs formulierten Thesen, dass erstens die Tschechoslowakei am Ende des Zweiten wie schon am Ende des Ersten Weltkriegs von den Trägern der Auslandsregierung erst zu einer Kriegspartei gemacht wurde und dass zweitens im Rahmen der zweiten Konsolidierung die Helden- und Opfermuster identisch wurden, erfahren eine vertiefende Betrachtung. In den neuen Helden- wie Opferbegriffen kam insofern eine grundlegend andere Vorstellung vom Volk und von der nationalen Gemeinschaft zum Ausdruck, als dass das Volk als solches selbst zum O p f e r erklärt und heroisiert wurde. Darum geht es zunächst um die Frage, welchen Veränderungen die tatsächliche Bevölkerung wie auch die Vorstellung vom Volk in der Zeit des Zweiten Weltkrieges unterworfen war. Besonderes Augenmerk liegt auf der Genese von sozialer Wohlfahrt als einem Bürgerrecht und als Mittel der Beherrschung bis 1948. Abschließend wird im Spiegel der Verfassung von 1948 die volksdemokratische Setzung von Staatsbürgerschaft reflektiert, um dann kurz den Charakter der stalinistischen Kriegsopferpolitik aufzuzeigen.

5.3.1 Rechtliche

Kontinuitäten

Aus antisozialistischer beziehungsweise postsozialistischer Sicht wie auch in den nationalen Gedenkkulturen gelten die während des Zweiten Weltkrieges besetzten späteren Satellitenstaaten der Sowjetunion als O p f e r der Geschichte des Zweiten Weltkrieges und der Teilung des Kontinents sowie als Objekte

97

Eva Broklová, Politicky system ν Ceskoslovensku 1 9 4 5 - 1 9 4 8 , in: Kokoska/ Kokosková/Kocian (Hrsg.), C e s k o s l o v e n s k o na rozhrani dvou epoch nesvobody, 7 8 - 8 5 , hier 80. 98 Jiri Pernes, Kontinuita a diskontinuita ve vyvoji treti republiky, in: Kokoska/ Kokoáková/Kocian (Hrsg.), C e s k o s l o v e n s k o na rozhrani dvou epoch nesvobody, 139 — 144, hier 142.

220

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

nationalsozialistischer und sozialistischer G e w a l t h e r r s c h a f t . " In dieser Auffassung fungiert das als nationale G e m e i n s c h a f t definierte Volk als der Träger von Widerstand. Die fremdstaatliche Herrschaft erscheint von ihm völlig losgelöst. Im tschechischen Falle sind Widerstand und Nationalstaatlichkeit besonders eng verknüpft. Die selbstverständliche Rede vom „zweiten Widerstand" (druhy odboj) macht deutlich, dass der Widerstand gegen den Nationalsozialismus die Wiedererrichtung des eigenen Staates z u m Ziel hatte. Die so bezeichnete Bewegung beschwor die Tradition des am Ende des Ersten Weltkrieges errichteten tschechoslowakischen Staates und stützte sich auf dessen Gründungsmotive.' 0 0 Im Lichte dieser Gedenktradition scheint es zwecklos, nach den Herrschaftsinstitutionen als Vermittlungsinstanzen zwischen dem tschechischen Volk und der deutschen Macht zu fragen. Gerade das Recht verlor angesichts von Unrechtsherrschaft seinen Charakter als positiver Bezugspunkt der Gemeinschaft. Anders als dies die nationale Gedenktradition impliziert, n a h m j e d o c h auch das Ordnungssystem der nationalsozialistischen Okkupanten spezifische Kontinuitätslinien in Anspruch und begründete dies in legitimatorischer Absicht. Das hing unmittelbar mit dem Charakter der Protektoratsherrschaft z u s a m m e n , die sich gerade nicht als ein durch Krieg erzwungenes Gewaltregime darstellen wollte. Die neuen Machthaber bemühten 1939 vielmehr ihrerseits tradierte Berechtigungsmuster f ü r die Festigung ihrer Herrschaft und sie übernahmen und benutzten die alten Institutionen. Für die Einverleibung der tschechischen Länder nahmen sie die Idee eines großdeutschen Reichs in Anspruch. In der Propaganda der Nationalsozialisten galt das Experiment der Gründung eines tschechoslowakischen Staates als gescheitert. Die Errichtung des Protektorats gaben sie dagegen als Rückkehr zu der Tradition gemeinsamer deutsch-tschechischer Territorialität aus. Dieses Klischee formulierte der „Erlass des Führers und Reichskanzlers über das Protektorat B ö h m e n und Mähren vom 16. März 1939" wortreich: Ein Jahrtausend lang gehörten zum Lebensraum des deutschen Volkes die böhmischen Länder. Gewalt und Unverstand haben sie aus ihrer alten historischen Umgebung willkürlich gerissen und schließlich durch ihre Einführung in das künstliche Gebilde der Tschecho-Slowakei den Herd einer ständigen Unruhe geschaffen. Von Jahr zu Jahr vergrößerte sich die Gefahr, dass aus diesem Raum heraus [...] eine neue ungeheuerliche Bedrohung des europäischen Friedens kommen würde. Denn dem tschechoslowakischen Staat und seinen Machthabern war es nicht gelungen, das Zusammenleben der in ihm willkürlich vereinten Volksgruppen vernünftig zu organisieren und damit das Interesse aller Beteiligten an der Aufrechterhaltung ihres gemeinsamen Staates zu

99

Vgl.: Wilma Iggers, Tschechoslowakei/Tschechien. Das verlorene Paradies, in: Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen 1945, 774-798; Beata Kosmala, Polen. Lange Schatten der Erinnerung. Der Zweite Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis, in: Flacke (Hrsg.), Mythen der Nationen 1945, 510-540. 100 Josef Bartos, Historická terminologie svëtovych válek a odboje, in: Gebhart/Sedivy (Hrsg.), Ceská spolecnost, 103-114, hier 103.

5.3 Zweierlei Kontinuitäten

221

erwecken und zu erhalten. [ . . . ] Es entspricht daher dem Gebot der Selbsterhaltung, wenn das Deutsche Reich entschlossen ist, zur Wiederherstellung der Grundlagen einer vernünftigen mitteleuropäischen Ordnung entscheidend einzugreifen und die sich daraus ergebenden Anordnungen zu treffen. Denn es hat in seiner tausendjährigen geschichtlichen Vergangenheit bereits b e w i e s e n , dass es dank sowohl der Größe als auch der Eigenschaften des deutschen Volkes allein berufen ist, diese Aufgaben zu lösen. 1 0 1

In s e i n e m Kern ist dieses D o k u m e n t ein Besetzungserlass. Es gehört zu d e m Prozess brutaler Okkupation. In seiner B e g r ü n d u n g aber illustriert es die Macht der Besatzer nicht in einem g e w a l t s a m e n , sondern in einem paternalistischen Bild. Die B e s a t z u n g wird als Wohltat f ü r das Volk b e s c h r i e b e n , das es vor der Falschheit und Unfähigkeit der Tschechoslowaken zu schützen gelte. Der tschechoslowakische Staat erscheint als eine unwesentliche und leicht zu beseitigende Episode in der Geschichte grandioser deutscher M a c h t e n t f a l t u n g . Der nationalsozialistische B e s e t z u n g s a k t präsentiert sich wie eine R ü c k k e h r zu alten und besseren Traditionen, wie die Verwirklichung konservativer Träume, nicht aber wie die E i n s e t z u n g eines m o d e r n e n G e w a l t r e g i m e s . Die Republik gilt in dieser Logik als schlecht, die deutsch-österreichische H e r r s c h a f t als gut. Die Tätigkeit der tschechischen Protektoratsregierung basierte auf diesem Legitimationsmuster. 1 0 2 Sie betrieb nationale Politik im R a h m e n der B e s a t z u n g s herrschaft. In der F o r s c h u n g wird vielfach betont, dass die B e v ö l k e r u n g dieses A r r a n g e m e n t als vorläufig betrachtete und auf bessere Zeiten wartend in gewisser Weise daran vorbei lebte. 1 0 3 D e n n o c h ist überaus f r a g w ü r d i g , ob die L e g i t i m a t i o n s m u s t e r der Besatzer und die auf ihrer Grundlage e i n g e f ü h r t e n Ideologeme tatsächlich so w e n i g R e s o n a n z fanden, wie dies den Anschein hatte. Dass die O k k u p a n t e n 1940 b e h a u p e t e n , das Protektorat sei „das friedlichste und sicherste Land in Europa" 1 0 4 , w a r z w a r zynische Propaganda, da j a die Nationalsozialisten selbst die Verursacher des Krieges in den anderen europäischen Gebieten waren, aber d e n n o c h agierte die nationalsozialistische H e r r s c h a f t durchaus mit Begrifflichkeiten und Versprechungen, die gerade angesichts vollendeter Tatsachen zahlreiche Tschechen wenigstens teilweise in die nationalsozialistisch definierte G e m e i n s c h a f t einbanden. Die B e g r i f f lichkeiten der nationalsozialistischen H e r r s c h a f t determinierten trotz ihrer Unrechtmäßigkeit die Vorstellungswelt der Bevölkerung. Die entsprechenden K l a s s i f i z i e r u n g e n verschwanden nicht automatisch mit d e m Regimewechsel von 1944/45 und k o n n t e n - wenn auch neu gewendet - weiterwirken. Dies gilt nicht nur f ü r das Protektorat, sondern auch f ü r die Slowakei. Erst mit Ausbruch des Aufstands im August 1944 konnte der A n t i f a s c h i s m u s zu einer vorherrschenden B e z u g s g r ö ß e f ü r die slowakische Bevölkerung werden.

101

Sbírka zákonü a narízení Republiky c e s k o s l o v e n s k é 1939, 373. Rata/, Das Deutschlandbild im Protektorat. Im Volksmund hieß das Protektorat e n t s p r e c h e n d p r o t e n t o k r á t (für dieses Mal): vgl.: Gebe!, Die tschechische Gesellschaft, 29. 104 Gebhart/Kuklik, Dramatické i vsední dny protektorátu, 132. 102

103

222

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

Die von Benes im Exil stark gemachte Idee einer staatsrechtlichen Kontinuität hatte für die Protektoratsbevölkerung wie auch für die slowakische Bevölkerung in ihrem Alltag kaum Bedeutung. In dieser staatsrechtlichen Kontinuität lebte sie erst ex post. Während des Krieges waren die Tschechen und Slowaken dem Recht beziehungsweise dem Unrecht der Besatzer verpflichtet respektive ausgeliefert. Zudem deklarierte dieses Regime für sich ebenfalls eine historische Kontinuität sowie eine anthropologisch begründete Überlegenheit. Neben der Rechtsordnung der Exilregierung, der im Nachhinein kontinuierliche Geltung zugesprochen wurde, galt im Protektorat ebenso wie im slowakischen Staat jeweils eine eigene Rechtsordnung. 1 0 5 Zwar blieben in den tschechischen Ländern wie in der Slowakei die Gesetze der Republik (die zum Teil noch aus der Zeit der Monarchie stammten) in Kraft, solange sie nicht geändert oder durch neue ersetzt wurden 1 0 6 , jedoch kann die Vorstellung einer letztlich unveränderten Basis der Rechtsinstitutionen angesichts der gewaltigen Veränderungen der Machtverhältnisse wie auch der Rechts- und Wirtschaftsordnung kaum Bestand haben. Rechtssicherheit gab es fur die tschechische und slowakische Bevölkerung keine. Dennoch wurde auch die Praxis der Gewaltherrschaft rechtlich geregelt. Der einschneidendste Eingriff in die Rechtsordnung war die Ausgrenzung der Juden aus dem politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben. 1 0 7 Angesichts der nationalsozialistischen Herrschaft in der Heimat konnte die Kontinuität der demokratischen Regierung im Exil zunächst nur als Bezugsrahmen für den Widerstand gelten. Exil und Widerstand waren durch Funk verbunden und in der Heimat durch das Medium des Rundfunks präsent. Die Ansprachen des Exilpräsidenten während des Krieges stifteten in ihrer Tendenz eine Kontinuität des Nationalstaates. 1 0 8 Auch die Nationalsozialisten benutzten freilich den Rundfunk zu Propagandazwecken. Es gelang ihnen auch, die Funkverbindungen zwischen Heimat und Exil zu stören und zeitweise lahmzulegen. Eine detaillierte Analyse über die Funktion des Rundfunks gibt es fur das Protektorat noch nicht. Studien zu verwandten Themen verweisen jedoch wenigstens indirekt auf die große Bedeutung dieses Mediums. Die Funk- sowie die Radioverbindung waren eine wichtige Informationsquelle

ios pavei Marsálek, Od restituce k revoluci: k právní obnovë ν poválecném Ceskoslovensku, in: Kokoska/Kokosková/Kocian (Hrsg.), Ceskoslovensko na rozhraní dvou epoch nesvobody, 118-125, hier 118. 106 Sbírka zákonú a narízení Republiky ceskoslovenské 1939, 23, 373; Hoensch (Hrsg.), Dokumente der Autonomiepolitik, 251-259. 107 John G. Lexa, Anti-Jewish Laws and Regulations in the Protectorate of Bohemia and Moravia, in: Avigdor Dagan (Hrsg.), The Jews of Czechoslovakia. Historical Studies and Surveys, Bd. 3. New York 1984, 7 5 - 1 0 3 ; Ladislav Lipscher, The Jews of Slovakia: 1939-1945, in: Dagan (Hrsg.), The Jews in Czechoslovakia, Bd. 3, 165-256, hier 1 6 5 168, 173-184. 108 In dieser Funktion durchziehen Zitate aus den Ansprachen von Benes z . B . die Darstellung: Gebhart/Kuklik, Dramatické i vsední dny protektorátu.

5.3 Z w e i e r l e i K o n t i n u i t ä t e n

223

nicht nur für die tschechische Bevölkerung in der Heimat und im Exil. Auch die anderen Exilregierungen sowie die britische Regierung profitierten davon. 109 Erst mit der Niederlage der Nationalsozialisten und der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität der Tschechoslowakei erlangte die Rechtsauffassung der Exilregierung für die Bevölkerung in der Heimat Gültigkeit. Erst im Mai 1945 setzte sich mithin die Vorstellung durch, die demokratische Regierung habe de jure weiter bestanden. Auf dieser Grundlage verfolgte die Regierung nun die während des Krieges begangenen Verbrechen. Die Niederlage der Nationalsozialisten erschien in dieser Konzeption als zwangsläufig. Tatsächlich muss jedoch für die Zeit des Zweiten Weltkrieges von einer Koexistenz unterschiedlicher rechtlicher und ideeller Bezugssysteme ausgegangen werden. Aufgrund der territorialen Zersplitterung waren sie j e nur für einen Teil der vormaligen tschchoslowakischen Bevölkerung gültig. Daher war die Reetablierung eines einheitlich nationalstaatlichen Bezugssystems die wesentliche Aufgabe „tschechoslowakischer" Politik während des Zweiten Weltkrieges sowie danach. Der parallele Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten in den besetzten Gebieten und der Tschechoslowaken im Exil gab diesem Prozess die Koordinaten. Die Kontinuitätskonzeption der Exilregierung ging mit der schrittweisen Entlegitimierung der Besatzungsherrschaft Hand in Hand. Die Besatzung selbst wie auch ihre Herrschaftspraxis wurden als Unrecht bloßgelegt. Das vielfach wiederholte Rechtfertigungsmuster erklärte der Präsident vor dem Staatsrat im Exil im Dezember 1940 folgendermaßen: U n s e r e p r o v i s o r i s c h e S t a a t s o r d n u n g ist vor allem v o m G r u n d s a t z der Kontinuität g e p r ä g t . D i e s e r G r u n d s a t z ist der e n t s c h e i d e n d e P u n k t u n s e r e s g a n z e n B e f r e i u n g s p r o g r a m m s , und von d i e s e m G r u n d s a t z leitet sich u n s e r g e s a m t e s politisches Widers t a n d s p r o g r a m m ab [und] wird a u c h weiterhin [ . . . ] all u n s e r e T ä t i g k e i t abgeleitet w e r d e n . Wir haben vor allem d a s M ü n c h n e r A b k o m m e n n i e m a l s a k z e p t i e r t und n i e m a l s a n e r k a n n t . Alles, w a s mit d i e s e m A b k o m m e n v e r b u n d e n ist, w a r eine Verletzung der bis d a h i n b e s t e h e n d e n und uns b e t r e f f e n d e n internationalen Verträge und u n s e r e r sämtlichen V e r f a s s u n g s - und a n d e r e n innerstaatlichen G e s e t z e . N i c h t s von all d e m , w a s sich vor und n a c h M ü n c h e n e r e i g n e t e , g e s c h a h u n s e r e r s e i t s f r e i w i l l i g o d e r e n t s p r e c h e n d den geltend e n innerstaatlichen w i e a u c h internationalen R e c h t s n o r m e n und Vorschriften. 1 1 0

Auf dieser Grundlage konnte eine internationale Akzeptanz der Exilregierung durchgesetzt werden. Der Herrschaftsanspruch der Exilregierung stand also insofern mit der Besatzungsherrschaft in einer engen Beziehung, als dass sie diese ablösen wollte. Er war in dieser Hinsicht eine Antwort auf die Besatzung und eben nicht bloß eine Wiederholung tradierter Herrschaftsansprüche.

109 Der N a c h r i c h t e n d i e n s t galt als die „starke S e i t e " d e s t s c h e c h i s c h e n W i d e r s t a n d e s , vgl.: Kural, K o l l a b o r a t i o n , 62. 110 Jech/Kuklik/Mikule (Hrsg.), Die D e u t s c h e n und M a g y a r e n , 421.

224

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

5.3.2

Protektoratsgeschichte

Als Zäsuren der Protektoratsgeschichte gelten die Einsetzung Heydrichs zum Stellvertretenden Reichsprotektor (September 1941), das Attentat auf ihn (Mai 1942) und der darauf folgende Terror. Die Zeit bis zur Einsetzung Heydrichs stand personell und in der Ausrichtung der Besatzungs- wie auch der Protektoratsregierung in der Kontinuität der Zweiten Republik. Geennzeichnet war sie auf tschechischer Seite durch den Versuch, eine tschechische Gemeinschaft unter der deutschen Herrschaft weiterhin zu erhalten und zu pflegen. In diesem Sinne arbeitete auch das Rumpfparlament, die Nationale Gemeinschaft (Národní sourucenstvi). Die nationalsozialistischen Okkupanten ließen dies zu, soweit es nicht ihren außenpolitischen oder wirtschaftlichen Interessen entgegenstand. Dies war unter Heydrichs Vorgänger Konstantin von Neurath möglich, der als moderat galt. Die gegenseitigen Zugeständnisse zwischen den Besatzern und der Protektoratsregierung der Jahre 1939 bis 1941 schufen ein Klima, das teilweise an die Zeit des Ersten Weltkrieges erinnerte. 111 Laut Berichten des Sicherheitsdienstes hatten der niedrige Lebensstandard der 30er Jahre sowie eine gewisse Politikverdrossenheit dazu beigetragen, dass viele Menschen die Besatzung „halb unbeteiligt, halb erwartungsvoll" hinnahmen. Zahlreiche Arbeiter und Bauern begegneten den „Deutschen aus dem Altreich" mit einer „inneren Achtung". Sie erhofften sich bessere Löhne und eine „bessere Sozialpolitik". 112 Sozialpolitik bedeutete dabei vor allem die Verteilung von Lebensmitteln und anderen Gütern. Trotz mehrerer Lohnerhöhnungen scheiterte jedoch die Politik der Befriedung durch Lohn und Brot. Mit dem Krieg gegen die Sowjetunion verschlechterte sich die Ernährungslage im Protektorat drastisch. Der Hoffnung, unter dem deutschen Protektorat werde sich die soziale Situation der tschechischen Arbeiter und Bauern verbessern, war durch die Kriegswirtschaft die Basis entzogen. 113 Allerdings ist eine isolierte Betrachtung der nationalsozialistischen Verteilungspolitik ohnehin fragwürdig. Denn die Verteilungsmechanismen gründeten auf den Paradigmen der Volkstumspolitik. Nach der Verdrängung der Juden aus der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Gemeinschaft war die Unterscheidung zwischen „Volksdeutschen" und „Protektoratsangehörigen" für die Gewährung von Privilegien und die Zuteilung von Gütern entscheidend. Als Volksdeutsche galten die Deutschen aus dem Reich sowie Angehörige der deutschen Minderheit des vormals tschechoslowakischen Staates, die entweder der Sudetendeutschen Partei angehörten oder um diesen Status nachsuchten. 114 Die Protektoratsangehörigen waren deutlich schlechter gestellt. Das Okkupationsregime zeigte

111

Kural, Kollaboration, 61. Brandes, Die Tschechen unter deutschem Protektorat, T. 1, 154f. »3 Ebd., 154-159. 114 Bryant unterstreicht, dass dies längst nicht alle Sudetendeutschen taten, u.a. wegen schwelender Konflikte mit den Reichsdeutschen, vgl.: Bryant, Prague in Black, 5 2 - 5 4 . 112

5.3 Zweierlei Kontinuitäten

225

außerdem ein zunehmendes Interesse an der „Eindeutschung" vermeintlich geeigneter Tschechen, Slowaken, Ukrainer, Ungarn und Polen. Weiterhin wurde durch Ansiedlung von Deutschen aus dem Reich und den besetzten Gebieten versucht, die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung zu verändern. Trotz der Zuteilung von Boden an deutsche Siedler brachte diese Politik jedoch nicht die gewünschten Effekte. 115 Häufig war das bloße Bekenntnis, Angehöriger des deutschen Volkes zu sein, mangels anderer erhärtbarer Kriterien, ausschlaggebend für die „Eindeutschung". 116 Die „Sozialpolitik" im Protektorat war also durch die Volkstumspolitik determiniert. Außerdem war ein wesentliches Element der wirtschaftlichen Ausbeutung die Einfuhrung der Arbeitspflicht im Sommer 1939. Das Zwangsarbeitssystem hatte sehr weit reichende Konsequenzen für diejenigen, die bis dato keiner festen Beschäftigung hatten nachgehen können. 117 Die Absetzung von Neuraths und die Einsetzung Heydrichs fiel mit der Ausweitung des Krieges auf die Sowjetunion und dem Beginn der Deportation der europäischen Juden in die Konzentrationslager zusammen, für deren Planung der neue Reichsprotektor mitverantwortlich war. Drei Monate vor der Einsetzung Heydrichs war der erste Bericht darüber bekannt geworden, dass die SS in den Konzentrationslagern Juden in Gaskammern systematisch tötete." 8 Wegen der verstärkten Bekämpfung des Widerstandes im Protektorat war und blieb die Exilregierung in London ohne Informationen aus der Heimat. Es konnte kein Zweifel daran bestehen, dass sich die Lage dramatisch veränderte. Die Doppelstrategie zahlreicher Mitglieder der Protektoratsregierung scheiterte. Die Gestapo entdeckte deren Kontakte zur Exilregierung und zum Widerstand. Im Oktober 1941 wurde so der Ministerpräsident der Protektoratsregierung General Alois Elias wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Elias, der auch Legionär des Ersten Weltkrieges war, hatte in Ausnutzung seines Amtes den Widerstand unterstützt und ihn insbesondere mit Informationen versorgt. 119 Sowohl die außenpolitische Situation als auch die Einsetzung Heydrichs stellten das Kalkül der Nationalen Gemeinschaft in ein neues Licht. Das Protektorat konnte nicht länger als ein Raum - wenn auch zwiespältiger - tschechischer Teilautonomie gelten. Zusehends wurde unleugbar, dass auch das tschechische Volk zur Dispositionsmasse nationalsozialistischer Großmachts- und Vernichtungsbestrebungen gehörte. In dieser in vielerlei Hinsicht bedrohlichen Situation verübten tschechische Fallschirmspringer aus dem Umfeld der Londoner Exil-

115

Brandes, Die Tschechen unter deutchem Protektorat, T. 1, 159-170; T. 2, 3 3 - 3 8 . Bryant, Either German or Czech. 117 Gebhart/Kuklik, Dramatické i vsední dny protektorátu, 4 8 - 5 3 . ne Avígdor Dagan, The Czechoslovak Government-in-Exile and the Jews, in: Ders. (Hrsg.), The Jews of Czechoslovakia, Bd. 3, 4 4 9 - 4 9 5 , hier 464. 1,9 Gebhart/Kuklik, Dramatické i vsední dny protektorátu, 187-189. Elias' Gebeine wurden 2006 gefunden und am 7. Mai desselben Jahres mit einem Staatsbegräbnis feierlich beigesetzt, vgl.: http://www.radio.cz/print/de/77699, eingesehen am 15. 12.2006. 1,6

226

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

regierung das Attentat auf den Stellvertretenden Reichsprotektor. Heydrich starb wenige Tage später. Nach seinem Tod überzogen die Besatzer das Protektorat mit Terror. Dieser Terror wurde als Krieg gegen die Bevölkerung erlebt und offenbarte den totalitären Herrschaftswillen der Nationalsozialisten jenseits des aktuellen Arrangements. Die „Liquidation" der Dörfer Lidice und Lezáky, deren Bewohner angeblich die Attentäter unterstützt hatten, bezeugte die neue Qualität der Gewaltherrschaft. Das Massaker an den Bewohnern dieser Dörfer ist zum Symbol dessen geworden, was die Tschechen in der Zukunft (spätestens nach einem vom Deutschen Reich gewonnenen Krieg) von den Nationalsozialisten zu erwarten gehabt hätten. Auf Befehl aus einer Führerbesprechung wurden die Männer des Ortes Lidice am 6. Juni 1942 erschossen, die Frauen in Konzentrationslager gebracht und die Kinder von ihren Müttern getrennt - die „eindeutschungsfahigen" Kinder sollten deutschen Familien übergeben werden - die anderen wurden in ein Kinderlager gebracht. Wie viele von ihnen überlebt haben, ist unklar. Die Bevölkerung des Dorfes hatte aus 184 Männern, 195 Frauen und 98 Kindern bestanden sowie 15 Angehörigen zweier Familien, die zum Zeitpunkt des Massakers interniert waren und ebenfalls erschossen wurden. Lidice wurde bis auf die Grundmauern niedergebrannt, ebenfalls befehlsgemäß. 1 2 0 Auch die Bevölkerung von Lezáky wurde ermordet oder deportiert und das Dorf niedergebrannt. Durch den Terror unter und nach Heydrich verengte sich der Handlungsspielraum der tschechischen Bevölkerung rapide. Organisierter Widerstand war kaum noch möglich. Angesichts der immer brutaleren Gewaltherrschaft schien er zudem als Einzelaktion vergeblich. Jede kleine Manifestation des Tschechischseins konnte nun lebensbedrohlich werden. Daher überwogen im Protektorat die Angst und der Überlebenswillen. 121 Chad Bryant hat am Beispiel des Witzeerzählens dargelegt, dass die Haltung der tschechischen Bevölkerung der letzten Kriegsjahre kaum mehr in den Begriffen von Widerstand und Kollaboration fassbar ist. Er konstatiert, die Grenzen zwischen diesen einander eigentlich ausschließenden Dispositionen seien faktisch ständig überschritten worden. 1 2 2 Gerade das Beispiel des Witzeerzählens zeigt, dass sich das alltägliche Verhalten der Protektoratsbevölkerung kaum in die dichotomen Deutungsmuster der Nachkriegszeit einfügen lässt. Obwohl das Witzeerzählen nicht heroisch und auch nicht unbedingt ein Zeichen des Widerstandes war, wies es Merkmale der Widersetzlichkeit insbesondere gegen die Eindeutschung auf. Humor galt schon per se als ein typischer Ausdruck tschechischen Charakters (in der Tradition des „Svejkismus"). Zudem wurden die Witze vornehmlich auf Tschechisch erzählt. Das Erzählen

120

Kerstin Schicha/Frank Metzing, Die Kinder von Lidice. Das Attentat, in: Tribüne 43, 1995, H. 134,148-155; Brandes, Die Tschechen unter deutschem Protektorat, T. 1, 2 6 2 - 2 6 4 . 121 Bryant, Prague in Black, 180-191. 122 Bryant, The Language of Resistance?, 136.

5.3 Zweierlei Kontinuitäten

227

von Witzen könnte daher auch als eine Form des „Eigensinns" gewertet werden. Diesen Begriff benutzt Bryant zwar nicht, er trifft aber trotzdem gut seine Beschreibung des Phänomens. Eigensinnige Praktiken können in der Definition Alf Lüdtkes Herrschaft stützen, bergen aber auch ablehnende und widerständige Tendenzen in sich. 123 Mit dieser Vorstellung (die auf der Analyse der Widersetzlichkeiten der deutschen Bevölkerung unter dem Nationalsozialismus fußt) ist der Fokus auf die Korrelation von Herrschaft und Widersetzlichkeit gerichtet. Wenn ein Bericht des Sicherheitsdienstes 1939 anmerkte, viele Deutsche aus dem Reich würden auf das Janusgesicht der Tschechen hereinfallen, die Loyalität vorgäben und Widersetzlichkeit praktizierten, so betrifft diese Warnung genau die angesprochene Korrelation. 124 Die eine Seite des „tschechischen" Janusgesichts zeigt die Anpassung an die gegebenen Herrschaftsverhältnisse, die andere den nationalen Eigensinn. Auf dem Territorium der Tschechoslowakei fanden seit dem Inkrafttreten des Münchner Abkommens bis zur Befreiung zahlreiche Bevölkerungsbewegungen statt. Sowohl Flucht und gewaltsame Transfers als auch Einwanderung führten dazu, dass am Ende des Zweiten Weltkrieges an vielen Orten kaum mehr die gleichen Menschen lebten wie sechs Jahre zuvor. Die entsprechenden Vorgänge sind sehr vielschichtig und teilweise schlecht erforscht. Eine kursorische Aufzählung kann jedoch einen Hinweis darauf geben, dass dieses Phänomen die Geschichte der Tschechoslowakei im Zweiten Weltkrieg wesentlich prägte. Mit dem Inkrafttreten des Münchner Abkommens kam es zur Flucht zahlreicher Tschechen und Juden aus dem Sudetenland sowie zur Einwanderung von Deutschen aus dem Altreich, welche teilweise die Administration übernahmen. 1 2 5 Besonders Prag war seit 1933 eine Zufluchtsstätte für zahlreiche Juden und politisch Verfolgte aus dem Deutschen Reich geworden. Nach Errichtung des Protektorats verließen diese ebenso wie die aus dem Sudetenland geflüchteten Juden und zahlreiche Kommunisten sowie Angehörige der Intelligenz das Land. 1 2 6 Die Administration zog Deutsche aus dem Altreich wie aus dem Sudetenland ins Protektorat. Hinzu kamen die deutschen Siedler (Kolonisten). 127 Die Behörden der nunmehr faschistischen slowakischen Regierung verwiesen außerdem zahlreiche Tschechen des Landes. 128 Auch aus der Slowakei flüchte-

123 Alf Lüdtke, Eigensinn, in: Stefan Jordan (Hrsg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart 2 0 0 2 , 6 4 - 7 6 . 124 Jan Kuklik, N ë m c i oCima Cechu 1 9 3 9 - 1 9 4 3 , in: Gebhart/Sedivy (Hrsg.), Ceská spolecnost, 5 7 - 7 6 , hier 61. 125 Zimmermann, Die Sudetendeutschen, 9 0 1 0 5 ; Osterloh, Nationalsozialistische Judenverfolgung, 158 f. 126 Livia Rothkirchen, The Jews of Bohemia and Moravia, Bd. 3, 3 - 7 4 , hier 9 - 1 4 . 127 Bis Januar 1944 an die 6 0 000: Brandes, D i e Tschechen unter deutschem Protektorat, T. 1, 169.

228

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

ten Juden ebenso wie Angehörige der Intelligenz und Kommunisten. Im Protektorat sowie in der Slowakei wurden die dort verbliebenen Juden seit 1941 in Konzentrations- und mehrheitlich später in Vernichtungslager gebracht. 129 Die Internierungs- und Vernichtungspolitik betraf außerdem zahlreiche Roma. 130 Darüber hinaus sind reihenweise Angehörige der tschechischen Intelligenz und des Widerstandes von der Gestapo ermordet worden. Nach dem Slowakischen Aufstand wurden unter anderem zahlreiche jüdische Kämpfer von der SS hingerichtet. 131 Bei Kriegsende lebten hauptsächlich tschechische und slowakische Arbeiter und Bauern sowie Deutsche auf dem tschechoslowakischen Territorium. Bei den Deutschen handelte es sich teils um Angehörige der ehemaligen deutschen Minderheit der Tschechoslowakei, teils um Zugewanderte, meistens Träger der Protektoratspolitik und -Verwaltung. Mit dem Vorrücken der Roten Armee flüchteten zahlreiche Deutsche, besonders diejenigen, die in der Administration tätig gewesen waren. Zugleich kehrten vormalige Bürger der Tschechoslowakei ins Land zurück, Juden ebenso wie Tschechen und Slowaken. Die Rückeroberung des Landes begleiteten die oben angesprochenen Nachkriegsexzesse.

5.3.3 Das Kaschauer

Programm

Dass verschiedene Botschaften der nationalsozialistischen Propaganda zumindest von Teilen der tschechischen Bevölkerung bejaht wurden, befürchteten auch die tschechoslowakischen Exilpolitiker. Aus Sicht der Träger des „zweiten Widerstandes" bestand die Gefahr, dass sich „ihr Volk" den Okkupanten anschloss, dass das Programm der „Eindeutschung" aufging. 132 Die Konzeption des „zweiten Widerstandes" war vor diesem Hintergrund eine auf das Volk gerichtete Integrationsideologie. Unter dem Banner der wiederherzustellenden Tschechoslowakei versammelten sich am Kriegsende diejenigen politischen Kräfte, die nicht diskreditiert waren. Sie traten an, die Bevölkerungsteile mehrerer Territorien wieder in einem Staat zusammenzuführen. Die territoriale wie

128 Otto Zwettler, Zwangsmigration, Deportation, Emigration. Umsiedlungen und „Endlösung der Judenfrage" in der Slowakei, im Protektorat Böhmen und Mähren und in Karpatenrußland, in: Peter Heumos (Hrsg.), Heimat und Exil. Emigration und Rückwanderung, Vertreibung und Integration in der Geschichte der Tschechoslowakei. Vorträge der Tagung des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 20. bis 22. November 1992 und vom 19. bis 21. November 1993. München 2001,133-141, hier 133-135. 129 Es werden zwischen 77 000 und 8 0 0 0 0 Opfer des Holocaust für die böhmischen Länder geschätzt, vgl.: Kárny, Der Holocaust und die Juden, 45. Bis Juni 1942 waren 53 000 slowakische Juden deportiert worden, seit September 1944 bis Kriegsende weitere 12 306. Nur sehr wenige überlebten, vgl.: Lipscher, The Jews of Slovakia, Bd. 3, 200, 234. 130 Ctibor Ñecas, Holocaust ¿eskych Romü. Prag 1999, 19f. 131 Lipscher, The Jews of Slovakia, 233. 132 Bryant, The Language of Resistance?, 138.

5.3 Zweierlei Kontinuitäten

229

auch die ideelle Einheit mussten gegen große Widerstände durchgesetzt werden. Dies gelang durch die Herstellung einer antifaschistischen Einheit und durch grundlegende Veränderungen im sozialen Gefuge. Dabei verkoppelte die tschechoslowakische Politik in der Tradition „revolutionärer Autoproklamationen" die Anknüpfung an die Vergangenheit mit einer auf tief greifende gesellschaftliche Veränderungen gerichteten Rhetorik.' 3 3 Als Ausdruck dieser Konsolidierungspolitik kann das Kauschauer Programm „der neuen tschechoslowakischen Regierung der Nationalen Front der Tschechen und Slowaken" gelesen werden, das am 5. April 1945 in der bereits befreiten Stadt Kosice verkündet wurde. 1 3 4 Es bildet die Basis der Wiederannäherung zwischen tschechischer und slowakischer Politik der Widerstandesbewegungen und der Auslandsregierung. Auf seiner Grundlage übernahmen die Nationalausschüsse die Macht. Daraus wurden unter anderem die Agrarpartei und die Nationale Vereinigung sowie die Slowakische Volkspartei als vermeintlich „faschistische Parteien und Organisationen" ausgeschlossen. 135 Das verkündete Programm eines „nationalen Befreiungskampfes zum Sturz der deutschen und ungarischen Tyrannei" schloss einerseits an die Staatstradition der Zwischenkriegszeit an, schrieb aber andererseits grundlegende Veränderungen fest. 136 Dies betraf - die außenpolitische Ausrichtung: Unmissverständlich wurde die Rote Armee als Befreierin der Tschechoslowakei gefeiert und man strebte von Anfang an eine enge „militärische, politische, wirtschaftliche und kulturelle" Zusammenarbeit mit der Sowjetunion an. 137 Die Kaschauer Regierung sagte ihr größtmögliche Unterstützung beim noch nicht beendeten Kampf gegen Nazideutschland zu. Als „Vorbild" fungierten die aufständischen Slowaken und die Partisanengruppen. Für den finalen Kampf sollten tschecho-slowakische Korps rekrutiert werden, die den Kern einer „neuen, wirklich demokratischen antifaschistischen tschechoslowakischen Armee" bilden sollten, deren organisatorische und ideologische Grundsätze dem Beispiel der Roten Armee folgen würden. 1 3 8 - die Neuformulierung militärischer Tugenden: Man wollte mit der „so genannten unpolitischen' Armee ein für allemal ein Ende machen", weil man davon ausging, dass sich hinter diesem Begriff „reaktionäre, antidemo-

133 Anton Janeo, Veränderungen im System der Eigentumsverhältnisse in der ehemaligen Tschechoslowakei vom Ende des 2. Weltkriegs bis zum Februar 1948, in: Mohnhaupt/ Schönfeldt (Hrsg.), Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944-1989), 5 8 1 - 6 2 5 , hier 5 8 3 - 5 8 8 . 134 194 5^ 5. duben, Kosice. Program nové ceskoslovenské vlády Národní fronty Cechû a Slovákú, in: Cestou kvëtna. Dokumenty k pocàtkûm nasi národní a demokratické revoluce. Düben 1945-kvëten 1946. Prag 1975, 27-51. 135 Ebd.. 40 f. '36 Ebd., 27. 138 Ebd., 29.

230

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

kratische" Strömungen sowie „Tendenzen zur Kapitulation" verbargen. Gefordert war eine „eiserne, aber demokratische militärische Disziplin". Der tschechoslowakische Soldat sollte ein „bewusster Kämpfer für die Freiheit des Volkes" sein. 139 In diesem Zusammenhang wurden Säuberungen in der Armee angekündigt. 1 4 0 - den Bevölkerungstransfer: Zwar sollte die Wiedererrichtung des Staates „auf einer breiten demokratischen Grundlage" aufbauen, dies geschah aber unter dem alles umfassenden Schirm des „unerbittlichen Kampfes um die Ausmerzung aller faschistischen Elemente". 141 Vor dem Hintergrund der „schrecklichen Erfahrungen, welche die Tschechen und Slowaken mit der deutschen und ungarischen Minderheit erlebt haben" sollte den Angehörigen dieser Minderheiten, denen gerichtlich ein „Verbrechen gegen die Republik" nachgewiesen worden war, „die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft aberkannt und [sie sollten] aus der Republik für immer ausgewiesen werden". 142 Dies wurde als ein „tiefgreifender und dauerhafter E i n g r i f f wahrgenommen. 1 4 3 - die staatliche Neuordnung der Eigentumsverhältnisse: Vermögen aller Art einschließlich des Grundbesitzes des „fremden deutsch-ungarischen Adels" 1 4 4 sollten sichergestellt und unter Bevorzugung von „Partisanen, Soldaten, nationalen Untergrundarbeitern, Opfern fremden Terrors u.a." verteilt werden. 145 - die Sozialpolitik: Sie sollte auf der Grundlage der Arbeitspflicht erweitert und einer umfassenden staatlichen Kontrolle unterworfen werden, die auch die Pflichtablieferung landwirtschaftlicher Erzeugnisse einschloss. Priorität sollte die „Existenzsicherung der Opfer des Krieges und des nationalen Befreiungskampfes, der Märtyrer der faschistischen Kerker und Konzentrationslager, der Familienangehörigen der Soldaten und Partisanen, der Kriegsinvaliden wie auch der Witwen und Waisen" haben. 146 Dieses Programm beschrieb die Ziele des staatlichen Neubeginns in Erwartung der Befreiung der anderen Landesteile. Der Text illustriert die Schnittstellen zwischen den Vorkriegstraditionen und deren symbolischen Repräsentanzen, den Deutungen der Weltkriege und der politischen Praxis der Nachkriegszeit. Er zeigt, dass die politischen Einschnitte in Bevölkerungsstruktur und Eigen-

13" '4° 141 1« >«

Ebd., 30. Ebd., 31. Ebd., 34. Ebd., 38. Ebd., 37. 1 Ebd., 42. ">5 Ebd., 43. 146 Ebd., 46 f., Zitat 47; zur Sozialpolitik vgl. auch: Jirí Kocian, Sociální zákonodárství „kosické" vlády 1 9 4 5 - 4 6 , in: Zdenëk Kárník/Jan Mëchyr (Hrsg.), Κ novovëkym sociálním dëjinâm Ceskych zemí IV. Zvraty a prevraty, 1939-1992. Prag 2001, 5 7 - 6 9 . 4 4

5.3 Zweierlei Kontinuitäten

231

tumsverhältnisse sowie eine prosowjetische Politik von den politischen Akteuren aufgrund der Ereignisse des Krieges als unentbehrliche Versatzstücke des staatlichen Neubeginns angesehen wurden.

5.3.4 Der Volksbegriff: Bodenreform

und bevölkerungspolitischer

Diskurs

Die Kernstücke der Konsolidierungspolitik lassen sich plakativ unter folgenden Schlagworten zusammenfassen: Territorium zusammenfügen, Kontinuität behaupten, Einheit herstellen. Das Bindeglied zwischen diesen Elementen war die Neukonstruktion des Volksbegriffs. Das Volk wurde zusehends als eine exklusive nationale Gemeinschaft definiert. Gleichzeitig richtete sich die kollektivistische Vorstellung auf das einfache Volk, die Arbeiter und Bauern. Die „Unterschichten" hatten unter den Vorgängerregimes das Objekt von Herrschaft dargestellt, nunmehr galten sie als die Verkörperung des Tschechoslowakischen. Das so verstandene Volk bildete die nationale Substanz. Es war nicht nur Gegenstand, sondern auch Ziel staatlicher Politik. Denn es galt, die Einheit des Kollektivs im Sinne der Nachkriegsteleologie erst herzustellen. Die Existenz des tschechoslowakischen Volkes, sein Bestand und seine Einheit waren der nachträglich produzierte Sinn des Krieges. Damit bildete es zugleich den Ausgangspunkt der Nachkriegspolitik, was sich gleichermaßen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik wie auch in der Bevölkerungspolitik ausdrückte. Diese Zusammenhänge sollen hier exemplarisch anhand der Bodenreform und des bevölkerungspolitischen Diskurses beleuchtet werden. Die Bodenreform dient als Beispiel dafür, wie bestimmte Personengruppen aus dem Volk ausgeschlossen wurden. Der bevölkerungspolitische Diskurs verweist auf das gleichzeitige Definieren der Einschlusskriterien. Die Umverteilungs- und die Umsiedlungspolitik galten nach dem Zweiten Weltkrieg als Bausteine eines großen Erneuerungsprogramms. Sie wurden mit den Erfahrungen der Besatzungsherrschaft und des Krieges begründet. Der Krieg war in der Vorstellung der tragenden politischen Kräfte der Ort eines finalen Kampfes. Der Beginn und Verlauf des Krieges selbst schrieb in dieser Vorstellung die weiteren Schritte vor. Für den Staatspräsidenten Benes hatte der Zweite Weltkrieg seinen Sinn darin, den im Ersten Weltkrieg begonnenen „gewaltigen moralischen Konflikt zweier unversöhnlicher Welten", den Kampf des „Guten" gegen das „Böse", zu vollenden. Für seinen Nachfolger, Klement Gottwald (1896-1953) - seit 1929 Generalsekretär der Kommunistischen Partei und seit 1946 Ministerpräsident - war der Zweite Weltkrieg ein „gerechter Krieg, ein Volksbefreiungskrieg, ein demokratischer Krieg". 147

147 Edvard Benes, Demokratie heute und morgen. Zürich/New York 1944, 235; Kiement Gottwald, Proti fasismu a válce, za lidovou demokracii a socialistickou revoluci. Vybor ζ projevü a clánku. Prag 1986, 245.

232

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

Die neue Politik deutete den Krieg als ein letztes Gericht. Die Dekrete des Präsidenten stellten in diesem Bild das Urteil dar. Die Umverteilung sozialer Güter und die Definition eines nationalen Kollektivs gingen in einem Prozess der Bestrafung der einen und Entschädigung der anderen Hand in Hand. Eine tragende Säule war die Bodenreform von 1945. Mit Dekret Nummer 12 wurde im Juli „das landwirtschaftliche Vermögen [ . . . ] aller Personen deutscher und magyarischer Nationalität ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit" konfisziert. Dies geschah dem Rufe der tschechischen und slowakischen Bauern und Landlosen nach konsequenter Verwirklichung einer neuen Bodenreform entgegenkommend und geleitet vor allem von dem Bestreben, ein für allemal den tschechischen und slowakischen Boden den fremden deutschen und magyarischen Gutsbesitzern wie auch den Verrätern der Republik aus den Händen zu nehmen und in die Hände der tschechischen und slowakischen Bauernschaft und der Landlosen zu geben. 1 4 8

Die Bodenreform erfolgte in unmittelbarem Zusammenhang mit der Frage des „allgemeinen Transfers der deutschen und magyarischen Bevölkerung", wie Benes in einem Brief an den Ministerpräsidenten (seinerzeit der Sozialdemokrat Zdenëk Fierlinger) anmerkte. 1 4 9 Den Boden zum Eigentum von „Personen slawischer Nationalität" 1 5 0 zu machen, galt als ein „Akt historischer Gerechtigkeit" 151 und als „revolutionäre Tat" 152 . Zwar war Benes bemüht, einige radikale Wendungen dieser Politik mit Blick auf die Akzeptanz durch die Alliierten abzumildern 153 , jedoch herrschte Einigkeit darüber, dass die Enteignung der Deutschen und Magyaren die eine Seite der umfassenden Erneuerung sein sollte, soziale Gerechtigkeit gegen die mit deren Vermögen bedachten Tschechen und Slowaken die zweite. Sozialpolitisch beruhte die Reform auf der Tradition der Ersten Republik. Radikal war sie daher eher in ihrer nationalen Dimension als in ihrer sozioökonomischen Ausrichtung. Denn die neue Sozial- und Verteilungspolitik kam ausschließlich Tschechen und Slowaken beziehungsweise Slawen zugute. Ausschließlichkeit ist hier praktisch zu verstehen und lässt sich als hervorstechendes Charakteristikum der zweiten Nachkriegspolitik auffassen. Was den Anderen schadete, sollte den Slawen nützen. Die Slawen galten dabei als werktätiges bäuerliches Volk, die Deutschen und Magyaren als „Grundbesitzer" und Ausbeuter. Auf diese Art verschmolzen ethnische und soziale Kriterien. Die Ausschließlichkeitspolitik ging von der Neudefinition des Volksbegriffs aus. Bei genauem Hinsehen war dieser sehr vielschichtig. Die „deutsche und magyarische Bevölkerung" setzte sich nach der weiterhin gültigen Verfassung 148

Zitiert nach: Jech/Kuklik/Mikule " Ebd., 492. '50 Ebd., 490. >5i Ebd., 501. 152 Ebd., 490. '53 Ebd., 4 9 0 - 4 9 3 . 14

(Hrsg.), Die Deutschen und Magyaren, 471.

5.3 Zweierlei Kontinuitäten

233

von 1920 aus Bürgern zusammen, die mit Gleichheits- und Minderheitenrechten ausgestattet waren. Diese Konzeption wurde nicht erst durch die so genannten Benes-Dekrete beschädigt, sondern war schon während der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft zerstört worden (Liquidierung demokratischer Institutionen, Diskriminierung und spätere Vernichtung der Juden, Etablierung einer Zwei-Rassen-Gesellschaft von Reichsdeutschen und Protektoratsangehörigen). Die Negierung der Institution der Staatsbürgerschaft ging seit 1938/39 mit einer Auswechslung der Begriffe einher, die teilweise in die zweite Nachkriegszeit fortwirkte. Gegenstand der Politik waren nicht mehr die Bürger oder die Bevölkerung, sondern das „Volk" und dessen „Feinde". Welche „Bürger" im Sinne der Umverteilungs- und Aussiedlungspolitik aus der neuen Gemeinschaft auszuschließen seien, bestimmte ein Dekret vom 2. August 1945 (Nr. 33). Demnach verloren solche tschechoslowakischen Staatsbürger die Staatsbürgerschaft, die „nach den Vorschriften einer fremden Besatzungsherrschaft die deutsche oder ungarische Staatsbürgerschaft erworben" hatten. 154 Von dieser Regelung waren nur diejenigen ausgenommen, die nachweisen konnten, dass sie dazu gezwungen wurden oder dass „sie der Tschechoslowakischen Republik treu geblieben" waren, „sich niemals gegen das tschechische oder slowakische Volk vergangen und sich entweder aktiv am Kampf um ihre Befreiung beteiligt oder unter dem faschistischen und nazistischen Terror gelitten haben". 155 Die „übrigen tschechoslowakischen Staatsbürger deutscher oder magyarischer Nationalität" verloren die Staatsbürgerschaft, konnten jedoch innerhalb von sechs Wochen nach Veröffentlichung des Dekrets um eine Wiederverleihung nachsuchen. Anträge von Frauen und minderjährigen Kindern auf Wiederverleihung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft sollten wohlwollend beurteilt werden. 1 5 6 Die Praxis der Zwischenkriegszeit, die die Staatsbürgerschaft von Ehefrauen an jene der Ehegatten knüpfte, war damit aufgehoben. Diese scheinbar frauenfreundliche Regelung hatte vermutlich in erster Linie demographische Gründe. Zwar sollten die „Verräter" ausgeschlossen werden, zugleich aber war dem Staat an einer Steigerung der Produktivität und der Geburtenrate gelegen. Das Dekret zur Staatsbürgerschaft zitierte kein rassisches Verständnis von Nationalität. 157 Es bestimmte Nationalität vielmehr in einem ausgeprägten Freund-Feind-Schema, wobei alle, die sich einmal deutsch oder magyarisch genannt hatten, der Feindschaft verdächtig waren. Dies betraf vor allem diejenigen, die unter der Besatzungsherrschaft durch die Annahme der feindlichen Staatsbürgerschaft „untreu" geworden waren, was in der Praxis bedeutete, dass 154

Ebd., 526. '55 Ebd. 156 Ebd., 527. I5 '' Dem rassischen Verständnis nach wäre das „Volk" eine „Abstämmlings- und Schicksalsgemeinschaft", vgl.: Cornelia Schmitz-Behring, Das Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin/New York 1998, 6 4 2 - 6 4 4 .

234

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

die Zuweisungskriterien der Besatzer kopiert wurden. 1 5 8 Dennoch wurde die tschechoslowakische Konzeption von Staatsbürgerschaft nach dem Zweiten Weltkrieg nicht rassisch begründet. Freilich erinnerte sie in ihrer Radikalität und Ausschließlichkeit an die nationalsozialistische Volkstumspolitik. Im Gegensatz jedoch zum dort fundamentalen Primat des völkischen Rassengedankens haben wir es hier mit einer stark national gefärbten moralischen Definition von Staatsbürgerschaft zu tun. Tschechen und Slowaken waren „gut", Deutsche und Magyaren „schlecht". Gute Deutsche und Magyaren konnten jedoch durch Nachweis ihrer „nationalen Zuverlässigkeit" Tschechoslowaken bleiben beziehungsweise wieder werden. Die Zuweisungskriterien waren schon per Dekret von der Beurteilung der Behörden abhängig. Dass sie gegenüber Frauen und Kindern milder sein sollten, zeigt, dass „rassische" Kriterien nicht ausschlaggebend sein konnten. Diese Regelung verrät vielmehr ein Interesse daran, gerade diejenigen Personen in die tschechoslowakische Gemeinschaft einzubinden, die der impliziten Botschaft nach weniger verdächtig waren. Durch die wilden Vertreibungen wurden die Bestimmungen zur Staatsbürgerschaft teilweise konterkariert. Wie oft es tatsächlich dazu kam, dass Personen um eine Wiederverleihung der tschechoslowakischen Staatsbürgerschaft nachsuchten und wie diese Gesuche beurteilt wurden, erschließt sich aus dem gegenwärtigen Forschungsstand nicht. Festzuhalten bleibt, dass die tschechoslowakische Nachkriegspolitik ein Urteil über das Verhalten der Menschen im Krieg fallen wollte und in diesem Sinne das Volk nach moralischen und sozialen Kriterien definierte. In einer radikal antifaschistischen Wendung wurden dabei diejenigen, die für schuldig befunden wurden, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Der überaus starke moralische Impetus begründete auch die Rigorosität der Nachkriegspolitik. Gewalt war ein Mittel ihrer Durchsetzung. Die Hemmschwelle zur Ausübung von Gewalt war eben dadurch niedriger, dass die Deutschen und Magyaren als Schuldige und ehemalige Ausbeuter nicht mehr zum Volk gehören sollten. Insofern konnten die Dekrete einerseits so aufgefasst werden, dass die Deutschen und Maygaren nicht länger einen rechtlichen Schutz auf Unversehrtheit genießen sollten; andererseits ließ es die Konzeption des moralischen Volksbegriffs letztlich nicht zu, sich selbst der Mittel der „Feinde" zu bedienen. Der Begriff der Rache, wie ihn Naimark zur Erklärung der gewaltsamen Bevölkerungstransfers nach dem Zweiten Weltkrieg heranzieht, schlägt sich in der Sprache der Dekrete nicht nieder. Mit diesem Begriff können die Gewaltexzesse der tschechischen Bevölkerung am Ende des Krieges nicht erklären werden. Die radikale Wendung des Konflikts zwischen Tschechen und Deutschen betraf nicht nur die als „anders" kategorisierten Deutschen und Magyaren, sondern auch die Konzeption des tschechoslowakischen Volkes. Dies lässt sich 158

Bryant, Neither Czech nor German.

5.3 Zweierlei Kontinuitäten

235

am demographischen Diskurs nachvollziehen. Bevölkerungspolitische Argumente spielten im tschechoslowakischen Diskurs erst seit Ende der 30er Jahre und besonders ab Mitte der 40er Jahre eine wichtige Rolle. Ende der 30er Jahre sanken in der Tschechoslowakei die Geburtenraten, obwohl die Zahl der Eheschließungen zunahm. Auf 1 000 Einwohner kam 1938 nur noch ein Wachstum von vier Personen, ein Jahr zuvor hatte diese Zahl noch 4,3 und 1923 noch 12,3 betragen. 159 Daher betonte Benes in einer Rede zum Internationalen Frauentag 1938 die hohe sittliche Bedeutung des Bevölkerungswachstums fur die Nation. 160 Im Anschluss an diese Rede erschien in Péce o mládez ein Artikel unter dem Titel „Population und Wehrfähigkeit". Es handelt sich um den Abdruck eines Vortrags, den ein gewisser Universitätsprofessor Jiri Trapl vor der Abteilung für Wehrgesundheit des wissenschaftlichen Instituts der Armee gehalten hatte. Darin hieß es: „Je kleiner ein Volk, desto schwächer ist seine Verteidigung". 161 Auch konstatierte Trapl wie Benes eine „sittliche Krise" als negative Folge der Zivilisation. 162 Aufschlussreich ist, wie diese Denkfigur 1946/47 wieder aufgenommen wurde. Es sei, bemerkte 1946 ein Beitrag in Péce o mlädez mit Bezug auf einen zuvor erschienenen Artikel, „erfreulich, dass wir am Anfang unseres neuen staatlichen und nationalen Lebens dort anfangen, wo wir während der Ersten Republik aufgehört haben; bei der Sorge um den Nachwuchs" 163 . Weiter werden die niedrigen Geburtenraten der letzten Jahre vor dem Ende der Ersten Republik als ein Indiz für deren machtpolitische und militärische Schwäche interpretiert, die im Münchner Abkommen und der Einsicht in die Ausweglosigkeit eines bewaffneten Kampfes gegen Nazideutschland kulminiert wären. In einigen später erschienenen Artikeln finden sich ähnliche Äußerungen. Den Geburtenzuwachs während des Protektorats verstand man als eine „biologische Reaktion" des „nationalen Organismus" 164 , als eine „instinktive" Entscheidung für das Überleben der Nation. 165 Biologisch habe das tschechische Volk den Zweiten Weltkrieg „ungeknickt" überstanden. 166 Kurz vorher wurde an gleicher Stelle bemerkt, die Kinder seien nach Beendigung des Krieges - dank des sozialen Einsatzes vieler Bürger - weitgehend in einem guten gesundheitlichen Zustand (kaum Fälle von Rachitis und Tuberkulose). 167 Die Wichtigkeit des Bevölkerungszuwachses brachte ein Artikel von 1947 direkt mit dem odsun (Abschub) der Deutschen in Verbindung. Die Deutschen müssten nämlich zahlenmäßig ersetzt werden. 168 's» Péce o mládez 160 Ebd., 157f. ι61 Ebd.. 159. i « Ebd., 160. 163 Péce o mládez >64 Ebd., 8, 10. i « p é c e o mládez 166 Ebd. 167 Péce o mládez Péce o mládez

17, 1938, 159.

25, 1946, 7. 26, 1947, 183. 25, 1946, 10. 26, 1947, 217.

236

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

In dem demographischen Diskurs der zweiten tschechoslowakischen N a c h kriegszeit ging es also nicht allein um das Volk und seine rassische oder biologische Substanz, sondern auch um die Frage von Sieg und Niederlage im Krieg. Der Diskurs reflektierte die Erfahrung der Wehrlosigkeit nach dem Münchner A b k o m m e n . A m Ende des Krieges sollte nun, als Kompensation f ü r die mehr oder weniger zwangsläufig erduldete und erlittene Besatzung, ein endgültiger Sieg behauptet werden. Ein argumentativer Zirkelschluss münzte die militärische Schwäche von 1938 in einen sittlich-biologischen Sieg um und etablierte einen neueren Volksgemeinschaftsbegriff. Der Bevölkerungszuwachs galt als ein Symbol des substanziellen und moralischen Sieges über die Deutschen. In der Koppelung eines gleichermaßen ethnischen wie sozialen Volksbegriffs ließe sich der Duktus des demographischen Diskurses als klassenanthropologisch beschreiben. Die Verherrlichung des Volkes sowie seiner (moralischen und eben nicht rassischen) Qualität wird so in der Auseinandersetzung mit dem rassenanthropologischen Diskurs als eine Übertragung deselben in soziale und nationale Kategorien verstehbar. In beiden Fällen ging es um die Begründung kollektiver Überlegenheit. In der Koppelung von demographischen und moralischen Kriterien, von Volkmasse und moralischer Überlegenheit, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg im tschchoslowakischen Diskurs Entitäten z u s a m m e n gefügt, die zuvor getrennt waren, nämlich Volk, Bevölkerung und nationale Gemeinschaft. Postuliert wurde, das Volk sei zu einer Einheit verschmolzen, definiert als ein nationales Kollektiv der vormals unterdrückten Klassen. Jene Einheit habe ihren K a m p f gewonnen, weil sie nicht nur in ihrer Stärke, sondern auch moralisch überlegen gewesen sei. Das tschechoslowakische Volk war also als eine Einheit definiert, die sich sozial und national befreite. Im Sinne der unterstellten historischen und sozialen Gerechtigkeit stand ihm sein Teil am „Volkseigentum" zu. Die Umverteilungsmaßnahmen der Nachkriegszeit galten als Entschädigung des Volkes f ü r das erlittene Unrecht. Sie wirkten aggressiv nach außen 1 6 9 (gegen die zu enteignenden überwiegend andersnationalen Verräter) und paternalistisch nach innen (gegen das eigene bedürftige Volk). Dieses grundlegende Muster war gleichzeitig der gemeinsame Nenner des Moskauer und des Londoner Exils. Die Bindung von Strafmaßnahmen an den als schuldig befundenen Teilen der Bevölkerung und die Stiftung von Einheit drücken sich deutlich in der Planung und Begründung der Bodenreform aus.

169 Benjamin Frommer hat anhand der Restribution gegen Kollaborateure die Tätigkeit der tschechischen Volksgerichte untersucht. Ca. 1,5 Millionen Menschen wurden der Kollaboration angeklagt. Die Mehrzahl von Ihnen waren Deutsche, ein Teil aber auch Tschechen. In 700 Fällen wurde ein Todesurteil verhängt und vollstreckt. Frommer lehnt sich an Naimarks Definition der „ethnischen Säuberung" an. Er sieht in den Prozessen gegen Kollaborateure eine Säuberung stalinistischen Typs, die sich in erster Linie gegen die Deutschen richtete, vgl.: Benjamin Frommer, National Cleansing. Restribution Against Nazi Collaborators in Postwar Czechoslovakia. Cambridge 2004, 2f.

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

237

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder In Fortführung der Überlegungen zum Helden- und Opferdiskurs der Zwischenkriegszeit stellen sich für die zweite Nachkriegszeit folgende Fragen: Wer galt als Träger des moralischen und/oder militärischen Sieges? Wie wurde das Verhältnis von Legionärsparadigma als altem, wieder eingesetztem Heldenmuster zu den Trägern des antifaschistischen Kampfes als neuen Helden im Zuge der Konsolidierung definiert? Welche Opfergruppen repräsentierten das Leid des Zweiten Weltkrieges? Waren dies nach wie vor die Kriegsgeschädigten, oder übernahmen andere Opfer deren symbolische Position? Welche Inhalte verbanden sich mit den symbolischen Präsentationen von „Helden" und „Opfern"? Welche Rolle spielten dabei soziale Rechte und die überformten Konzepte von Gemeinschaftlichkeit? Inwieweit vermittelte sich Herrschaft über die rechtlichen und sozialpolitischen Institutionen? Diesen Fragen gehe ich im Folgenden nach. Im Mittelpunkt stehen dabei das Verhältnis von alten und neuen Konstruktionselementen einerseits und die spezifische Koppelung von Helden- und Opferbildem in der zweiten Nachkriegszeit andererseits. In Anlehnung an Maksim Gorkis Vorstellung, dass im Sozialismus jeder ein Held sei beziehungsweise werden könne, müssen fur die zweite Nachkriegszeit die Vorbilder im Kontext wechselnder Paradigmen neu bestimmt werden. 170 Der Kult des „ganz gewöhnlichen Menschen" weist auf einen Funktionswandel der Heldenbilder, die nicht mehr nur prototypisch waren, sondern zur Bekräftigung eines exklusiven Wir-Gefühls dienten. Das Wir-Gefühl der zweiten Nachkriegszeit definierte Unterschiede nicht mehr zwischen den Menschen einer Gemeinschaft, sondern zwischen „uns" und denen, die nicht (mehr) zu „uns" gehörten. Die Einheit des Volkes implizierte eine „Fixierung auf die .Grenzen'", die das Neue vom Feindlichen, Zerstörerischen und Rückwärtsgewandten trennten. 171 Die Exklusivität des Helden als einer Verkörperung der Gemeinschaft wirkte sich auch auf die Konstruktion der Opferbilder aus. Da auch die Opfer als Angehörige der Wir-Gruppe galten, kam es im Kontext des antifaschistischen Kampfes zu einer Verschmelzung von Helden- und Opferbildern. Dies fand seinen Niederschlag auch und besonders in der Sozialpolitik. Kennzeichnend für den zweiten Nachkriegsdiskurs war von vornherein ein hochgeschraubtes Pathos, das die „Helden" wie auch die „Opfer" nach stark formalisierten und normativen Klischees zeichnete. Die sozialpolitischen Neuerungen waren in das Arbeitsgebot der Volksfrontpolitik eingebettet. Diese Maßnahmen radikalisierten die Koppelung von Arbeiterstatus und Sozialpolitik,

170 Silke Satjukow/Rainer Gries, Zur Konstruktion des „sozialistischen Helden". Geschichte und Bedeutung, in: Dies. (Hrsg.), Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR. Berlin 2 0 0 2 , 1 5 - 3 4 , hier 16f. 171 Christiane Brenner/Peter Heumos, Eine Heldentypologie der Tschechoslowakei, in: Satjukow/Gries (Hrsg.), Sozialistische Helden, 2 3 5 - 2 4 3 , hier 237.

238

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

diese Politik fasste die Wir-Gruppe als eine nationale Gemeinschaft von arbeitenden Männern und Frauen auf und löste damit das liberale Staatsbürgerkonzept ab.

5.4.1

Legionäre

Das Legionärsparadigma der tschechoslowakischen Staatsgründung wurde von den nationalsozialistischen Besatzern als konstitutiv erkannt und daher entschieden bekämpft. Der Staatssekretär im Protektorat, SS-Gruppenfuhrer Karl Hermann Frank, bedauerte 1941 ausdrücklich, dass trotz der Aufforderung an das „tschechische Volk", sich „von den bekannten Legionärsideologien frei [zu] machen", Teile der tschechischen Intelligenz nach wie vor der „Befreiungslegende" anhingen. Frank erkannte richtig, dass die Exilregierung hoffte, die „gleiche Methode" werde „wieder" zur „Auferstehung" des tschechoslowakischen Staates führen. 1 7 2 Offenbar in der Absicht, das tschechische Volk und die tschechische Intelligenz zu entzweien, verwies er auf die bolschewistischen Überläufer unter den russischen Legionären, hob die Deutschfeindlichkeit der „Befreiungslegende" hervor und betonte, die Legionärsgesetzgebung stelle „ungefähr das Asozialste dar, was jemals in der Gesetzgebung europäischer Staaten entstanden ist". 173 Seine Argumentation nahm das tschechische Volk gegen die vermeintlich unsoziale Orientierung der Staatsidee am Legionärsparadigma in Schutz. Die Basis hierfür lieferte die Behauptung, Masaryk sei „mangels einer tragenden Staatsidee" auf die „Befreiungslegende" verfallen. Benes wird in der Rolle des „Schülers" beschrieben, der seinen „einstigen Meister" kopiere, 174 keineswegs als Mitautor der Konzeption. Damit wird er symbolisch klein gemacht. Dem Volk wurde also suggeriert, der tschechoslowakische Staat sei auf der Grundlage eines abenteuerlichen Hirngespinstes errichtet worden und die neuen, deutschen Machthaber verhielten sich dem Volk gegenüber sozialer als die tschechoslowakischen Eliten. Der entsprechende Artikel wurde in einer 1940 gegründeten Propagandazeitschrift veröffentlicht, deren erklärtes Ziel die Bekämpfung tschechischer Geschichtsmythen war. 175 Dies geschah vor dem Hintergrund patriotischer Manifestationen der tschechischen Bevölkerung, wie sie insbesondere in den ersten Monaten nach der Errichtung des Protektorats das Bild prägten. Viele Tschechen griffen auf widersetzliche Traditionen des 19. Jahrhunderts zurück. So besuchten sie zum Beispiel scharenweise Smetana-Konzerte, legten Blumen an den Denkmalen

172 Karl Hermann Frank, Irrtum im Grundsätzlichen. Der deutsche Standpunkt zur Frage der tschechoslowakischen Legionäre, in: Böhmen und Mähren 2, 1941, H. 1, 12-14, hier 12. Ebd., 13. 174 Ebd., 12. 175 Gebhart/Kuklík, Dramatické i vsední dny protektorátu, 131 f.

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

239

ihrer Nationaldichter nieder und versammelten sich am Hus-Denkmal. 176 Solche Formen des symbolischen Widerstandes wirkten mobilisierend, solange ihre Sprache allgemein verstanden und ihre patriotische Deutung mehrheitlich akzeptiert wurde. Dagegen trat die Protektoratsregierung sowohl mit Terrormaßnahmen als auch mit ideologischen Mitteln an. 177 In Zusammenhang mit der Bekämpfung des Legionärsparadigmas stand auch die Beseitigung des Grabmals für den Unbekannten Soldaten, das, wie oben beschreiben wurde, den Leichnam eines in der Schlacht bei Zborów gefallenen Legionärs enthielt. Dieses Grabmal wurde im Oktober 1941 von der Gestapo aus dem Altstädter Rathaus entfernt. 178 Mit der Legionärstradition bekämpften die Nationalsozialisten die symbolischen Bezugspunkte der tschechoslowakischen Staatsgründung. 179 Die sozialpolitische Kehrseite dieses Kampfes um Gedenktraditionen war das Bemühen um die Entkopplung von Legionärsparadigma und Verteilungspolitik. Mit einer Verordnung des Reichsprotektors vom 25. August 1939 hob die Protektoratsregierung sämtliche „Vorrechte und Begünstigungen" der Legionäre auf. 180 Man bezog sich dabei auf Artikel 12 des Erlasses über die Errichtung des Protektorats, der das tschechoslowakische Gesetz außer Kraft setzte, „soweit es dem Sinne der Übernahme des Schutzes durch das Deutsche Reich widerspricht". 181 Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte die staatliche Konsolidierungspolitik wieder an die Legionärstradition an. Anders als in der Zwischenkriegszeit heroisierten nunmehr auch die Kommunisten die Schlacht bei Zborów als eine „slawische" und gegen die Deutschen gerichtete. Bis zum Staatsstreich bezogen sie die Legionärsmythen in ihre Propaganda ein. Erst nach dem Februar 1948 bekämpften und verschwiegen sie die Legionärstradition. Anlass zur Verleumdung gab die Tatsache, dass die Mehrheit der Legionäre antibolschewistisch eingestellt gewesen waren und es in Sibirien 1917/18 Kämpfe zwischen der Roten Armee und den Legionsregimentern gegeben hatte. 182 In den Jahren 1945 und 1948 aber diente die Legionärstradition zur Stiftung tschechoslowakischer Einheit. Die an der Volksfrontregierung beteiligten Parteien stützten sich einmütig darauf. Die Art, wie das Legionärsparadigma in die Geschichte des Zweiten Weltkrieges eingepasst wurde, illustriert ein Aufruf der Legionärstageszeitung Närodni osvobozeni zum Tag der Befreiung am 9. Mai 1945. Darin

176

Bryant, Prague in Black, 3 6 - 4 1 , 5 8 - 6 4 . Ebd., 6 0 - 6 2 . _ Galandauer, Ceskoslovenské legie, 300. 179 Nancy Wingfield, The Battle of Zborov and the Politics of Commemoration in Czechoslovakia, in: East European Politics and Societies 17, 2003, H.4, 6 5 4 - 6 8 1 , hier 664. 180 MSP, K. 216, Nr. B-3301-6/1939. Ausdrücklich wurde auch das Tragen entsprechender Abzeichen verboten. 181 Sbírka zákonü a narízení Republiky ceskoslovenské 1939, 374. 182 Wingfield, The Battle of Zborov, 6 7 4 - 6 7 8 . 177 178

240

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

wandte sich das Legionärskommitee Legionársky „Brüder Legionäre":

vybor folgendermaßen an die

Soldaten des Ersten Weltkrieges, Ihr habt auch in diesen Jahren die schrecklichsten Prüfungen bestanden, wie sie unserem Volk gestellt wurden, auf dem Platz, welchen Euch Eurer Gewissen bestimmt hat. Aus dem Geist dieser Revolution ist ein neuer Widerstand erwachsen, und er war wie in den Jahren 1914-1918, der wahrhaftige Ausdruck des nationalen Denkens und Strebens. Deshalb richtete sich die gewalttätige politische Verfolgung [persekucní násilí] auch in erster Linie gegen Euch und deshalb sind auch Eure Reihen ausgedünnt wie vielleicht überhaupt keine anderen. Aber auch in der schlimmsten Zeit habt ihr nicht an dem schlussendlichen [konecné] Sieg des Rechtes und der Gerechtigkeit gezweifelt. Dieser Sieg ist gekommen. Wir erneuern deshalb die Legionärsfamilie, deren organisatorische Formen am Vorabend des Zweiten Weltkrieges mit dem Deutschen Protektorat zerstört worden sind, und rufen Euch wieder zusammen: zu den Aufgaben, für die Ihr in beiden Kriegen gekämpft habt, an die Arbeit, die Ihr während der zwanzigjährigen Dauer der ersten freien Republik getan habt. 183

Hier knüpfte man nahtlos an die Traditionen des Ersten Weltkrieges und der Ersten Republik an. Wie 1918, so stellten sich die Legionäre auch 1945 als Kämpfer dar, deren Sieg ihrer moralischen Überlegenheit zu danken war und die Nation legitimierte. Wieder präsentierten sie sich in der Rolle besonders opferbereiter Vorkämpfer. Der Aufruf bedient sich der allgemeinen Erneuerungsrhetorik. Dies zeigt sich unter anderem in der Bedeutung des Wortes „wieder". Dieses Wort verbindet in dem Dokument Vergangenheit und Zukunft. In der Form einer Wiederaufrichtung der zerstörten Strukturen werden so die Angehörigen der Legionärsfamilie zusammengerufen, um eben nicht etwas Neues, sondern die Fortführung einer ruhmreichen Tat anzugehen. Dies suggeriert zugleich Kontinuität und Einheit. Am 15. Mai 1946 wurde das alte Legionärsgesetz von der provisorischen Nationalversammlung wieder aufgelegt und modifiziert. Es befasste sich mit der Unterbringung und Versorgung der „Teilnehmer des nationalen Widerstandes für die Befreiung". Darunter wurden neben „Angehörigen der tschechoslowakischen Armee" (Legionären des Zweiten Weltkrieges) auch slowakische Partisanen und Teilnehmer des Slowakischen Aufstands aus den Reihen der slowakischen Armee sowie Menschen verstanden, die aus nationalpolitischen Gründen in Lagern inhaftiert waren. Ausdrücklich schloss das Gesetz „Personen deutscher oder magyarischer Nationalität und tschechoslowakischer Staatsangehörigkeit" in den Kreis der zu Begünstigenden ein, wenn sie sich nicht gegen das tschechische oder slowakische Volk oder den eigenständigen tschechoslowakischen Staat vergangen hatten. Wer in irgendeiner Art mit den Okkupanten im Protektorat oder in der Slowakei zusammengearbeitet hatte oder Mitglied einer faschistischen Organisation gewesen war, war dagegen auf jeden Fall auszuschließen. Den Teilnehmern des nationalen Widerstandes sollten laut Gesetz die Hälfte der Stellen in staatlichen Behörden, Ämtern und

183 Národní osvobození, 9. 5. 1945, 2.

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

241

Unternehmen zustehen. 184 Eine der Grundideen der alten Legionärsgesetzgebung blieb damit erhalten. Die Kämpfer für die Befreiung sollten vom Staat mit lukrativen Stellen bedacht werden und die staatlichen Behörden besetzen. Unter der Oberfläche einer Neuauflage transportierte das Gesetz zugleich wesentliche Akzentverschiebungen in der Konstruktion des Widerstandskämpfers. Zunächst umfasste es de jure nicht mehr die Kämpfer des Ersten Weltkrieges. Da jedoch zahlreiche Legionäre des Ersten Weltkrieges auch am zweiten Widerstand teilhatten, relativiert sich dieser Befund etwas. 185 Doch mussten sich die Legionäre des Zweiten Weltkrieges ihren Status nun mit anderen „Helden" teilen. Die Konzeption des zweiten Widerstandes privilegierte die Legionäre weit weniger als die des ersten. Denn sie implizierte eine antifaschistische Rekonstruktion des militärischen Prototyps beziehungsweise des kämpferischen Vorbildes. Die Legionäre stellten nur noch eine Teilmenge in der Masse der Kämpfer gegen den Faschismus dar. Analog zu diesem Bedeutungsverlust kam es auch auf der organisatorischen Ebene zu einer Preisgabe der Eigenständigkeit. 1948 verbanden sich die Legionärsvereinigungen mit den Interessenvertretungen anderer Widerstandskämpfer. Im Sinne einer volksdemokratischen Einheitsfront formierte sich im Mai der „Bund der Freiheitskämpfer" (Svaz bojovnikù za svobodu).m Ihm gehörten neben der tschechoslowakischen Legionärsgemeinde als Dachverband der Legionärsvereinigungen des ersten und zweiten Widerstandes Organisationen von „Auslandssoldaten", politischen Gefangenen der Okkupationszeit und von Hinterbliebenen der „Opfer des Faschismus" sowie von Partisanen an. 187 Vertreter der Legionärsgemeinde betonten, dass sie in die „vereinte Widerstandsorganisation gerne und ohne Vorbehalte" eintraten. 188 Die Vereinigung wurde mit einer Verlautbarung besiegelt, die nach dem Februarumsturz eine große Volksvereinigung beschwor, in die sie sich einreihe. Im Prozess der Selbstauflösung näherte sich die Rhetorik der Legionärsvereinigungen jener der kommunistischen Partei immer mehr an. Sie beschwor Einheit, gelobte Treue und ließ die Regierung sowie das Volk hochleben. 189 Der 28. Oktober galt den Legionären nach dem Zweiten Weltkrieg uneingeschränkt als Tag der Erinnerung an die Staatsgründung. Die kritischen Stimmen aus der Zwischenkriegszeit waren nicht mehr zu vernehmen. 190 Der

184

Sbírka zákonú a narízení Republiky c e s k o s l o v e n s k é 1946. Teil 2, 9 9 6 f . Val is, Osobnosti. Die Organisation besteht heute noch und unterhält eine Homepage unter der Adresse: http://www.zasvobodu.cz, eingesehen am 12. 2. 2007. 187 Lidová demokracie, 8. 5. 1948, 1. 188 Národní osvobození, 9. 5. 1948, 7. 189 Národní o s v o b o z e n í , 9. 5. 1948, 1. 190 Nach dem Februar 1948 fand eine Umschreibung älterer Überlieferungen statt, vgl. z . B . : Národní o s v o b o z e n í , 28. 10. 1948, 2. 185

186

242

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

Versuch, die Legionäre zu Vorkämpfern beider Widerstandsbewegungen zu machen, war auch in dieser Hinsicht von einem Bedeutungsverlust des alten Legionärsparadigmas begleitet. Als im Jahre 1945 der 28. Oktober das erste Mal seit der Errichtung des Protektorats wieder frei begangen werden konnte, erließ die Nationale Front der Tschechen und Slowaken ein Manifest, das zahlreiche Tageszeitungen veröffentlichten. Die Nationale Front war ein Zusammenschluss der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, der tschechoslowakischen Sozialdemokratie, der tschechoslowakischen nationalen sozialistischen Partei, der tschechoslowakischen Volkspartei, der kommunistischen Partei der Slowakei und der demokratischen Partei, also ein breites Bündnis aus linken und national orientierten Parteien. Hier wurde der für die zweite Konsolidierung maßgebliche Wiedergründungskanon festgeschrieben. Demnach war die Befreiung vom Mai 1945 eine Wiederholung der Staatsgründung vom Oktober 1918 und der 28. Oktober „das Symbol unserer Freiheit". Sowohl die Befreiung am Ende des Ersten wie auch jene am Ende des Zweiten Weltkrieges besaßen den Charakter eines Kampfes „aus der tiefsten Quelle unseres nationalen Wesens, aus dem Geist der hussitischen Wiedererstehungs- und Befreiungstradition" 191 . Die erneute Befreiung war ein Sieg, und für ihn waren „unsere besten Leute gefallen" 192 . Der Verweis auf die Opfer des erneuten Kampfes leitete zu den Pflichten beim Aufbau „unserer Heimat", zu einem auf die Zukunft gerichteten Aufbauprogramm über. Mit der erneuten Befreiung wurden als Lehre aus der Geschichte auch wesentlich neue Aufgaben formuliert, denn „diese politische Befreiung des Volkes" sollte eine „Befreiung der Arbeit und der Arbeitenden" sein. 193 In diesen Grundkonsens der Erneuerungspolitik schrieben sich auch die Legionäre ein. Dass ihnen eine herausragende Position anerkannt wurde, wurde erst durch die Einreihung in die neu formierte Gemeinschaft der Arbeitenden möglich. Der Heldenstatus konnte im Einklang mit dem, wofür gekämpft worden war, behauptet werden. War das nach dem Ersten Weltkrieg die Gemeinschaft der Staatsbürger gewesen, so war es nach dem Zweiten Weltkrieg das nationale Kollektiv.

5.4.2 Partisanen

und

Widerstandskämpfer

Partisanen und Widerstandskämpfer waren die Prototypen des antifaschistischen Kampfes. Die zentralen Motive des neuen Heldenbildes werden im Folgenden an drei bedeutenden Beispielen aufgezeigt: anhand des von den Nationalsozialisten ermordeten kommunistischen Widerstandskämpfers Julius Fucik

191

Lidová demokracie, 28. 10. 1945,1; Právo lidu, 28. 10. 1945; Svobodné noviny, 28. 10. 1945. >"2 Ebd.

'"3 Ebd.

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

243

sowie anhand der Heroisierung des Slowakischen und des Prager Aufstands als Orten des Widerstandes. Christiane Brenner und Peter Heumos bezeichnen Julius Fucik (1903-1943) als einen „stilbildenden" Helden des Widerstandes. 194 Der von der Gestapo hingerichtete antifaschistische Märtyrer war zugleich Held und Opfer des Nationalsozialismus. In der Konzeption seiner berühmten „Reportage unter dem Strang geschrieben" 1 9 5 folgte sein Opfer für die sozialistische tschechische Zukunftsgemeinschaft der Tradition christlicher Märtyrer. 196 Fucik war in der Zwischenkriegszeit als kommunistischer Journalist und Publizist bekannt. Seit 1921 Parteimitglied, übernahm er eine führende Rolle im kommunistischen Widerstand des Protektorats und gehörte dem Zweiten Illegalen Zentralkomitee an. 197 Im April 1942 wurde er verhaftet. Im ersten Teil seiner Aufzeichnungen beschrieb Fucik retrospektiv die Umstände seiner Verhaftung und die ersten Verhöre, nach denen er totgeglaubt war und eine Auferstehung erlebte. An dieser Stelle des Textes verfasste er zuerst sein Testament und begann dann mit der Beschreibung der Gefangnisgemeinschaft (unter der Überschrift „Gestalten und Figuren"). Sowohl die Gefangenen als auch das Gefängnispersonal schilderte Fucik in harten Schwarz-Weiß-Kontrasten. Als hervorstechende Charaktere beschrieb er unter anderem seinen Freund Mirek Klecan in der Rolle des Verräters und den Gefängniswärter Adolf Kolinsky, der ihm Schreibzeug brachte und die Kassiber aus dem Gefängnis schaffte, als Lichtgestalt. Das Werk gilt als Musterbeispiel des sozialistischen Realismus. 198 Einfache Menschen erschienen hier als aufrechte Kämpfer für die Gemeinschaft und eine bessere Zukunft. Ihr Heldentum erwuchs aus ihrer Opferbereitschaft im aufrichtigen Glauben an den Kommunismus, es kam ohne Schmuck und Schnörkel aus. Angesichts von Folter und Tod unterschieden sich die Guten von den Schlechten nach ihrer inneren Stärke. Der äußere Schein wirkte nicht länger: Hier schätzt man nicht, was du sagst, sondern was in dir ist. Und in dir ist nur das Hauptsächliche verblieben. Alles Nebensächliche, was die Grundzüge deines Charakters milderte, abschwächte oder verschönte, fiel ab, wurde durch den todnahen Sturm weggerissen. Es blieben nur der bloße Satzgegenstand und die Satzaussage: Der Treue hält stand, der Verräter verrät, der Spießer verzweifelt, der Held kämpft. 1 9 9

194

Brenner/Heumos, Eine Heldentypologie, 236. Die erste vollständige Veröffentlichung ist: Julius Fucik, Reportáz psaná na oprátce. První úplné, kritické a komentované vydaní. Prag 1995; die wissenschaftlich unzureichende deutsche Übersetzung: Ders., Reportage unter dem Strang geschrieben. Bonn 2000; zur Kritik: Stefan Zwicker, Julius Fucik, Reportage unter dem Strang geschrieben [Rezension], in: Bohemia 44, 2003, 2 5 3 - 2 5 6 . 196 Stefan Zwicker, Der antifaschistische Märtyrer der Tschechoslowakei Julius Fucik, in: Satjukow/ Gries (Hrsg.), Sozialistische Helden, 2 4 4 - 2 5 5 , hier 255. 197 Ebd., 245. 198 Peter Drews, Der zweifache Tod des Julius Fucik, in: Bohemia 38. 1997. 3 4 8 - 3 5 5 , hier 351. 199 Fucik, Reportáz, 41. 195

244

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

Das Besondere an Fuciks Reportage besteht darin, dass er in Erwartung des nahen Todes mithilfe des Gefängniswärters seine eigene Heldenlegende verfasste. Die Reportage ist damit ein durch Authentizität geadeltes hochdramatisches literarisches Werk, eine vom Glauben an sich selbst und das höhere Ideal getragene Selbstinszenierung. Fucik nannte am Schluss des Werkes seine Verhöre ein Theaterstück, das er mit der Gestapo verfasst habe. 2 0 0 Auch die Protagonisten, die Guten wie die Bösen, charakterisierte er wie auf einer Bühne, vorgeführt in einem dichotomen Rollenschema. Fucik lieferte damit ein tschechisches Widerstandsepos, das sein Publikum direkt ansprach, das sich expressis verbis an die Nachkriegsleser wandte und sie in die Pflicht nahm. Das Werk koppelte Martyrium und Siegesgewissheit, Opfermut und Heldentum. Seine Bildsprache war einfach und ausdrucksstark. Es leitete das neue Vorbild aus dem Widerstand ab und richtet es auf die Zukunft. Maßgebend für das Bild des Widerstandskämpfers war außerdem der Slowakische Aufstand. Anders als die Protektoratsangehörigen mussten die Slowaken laut dem mit dem Deutuschen Reich abgeschlossenen Schutzvertrag während des Krieges an der Seite dessen kämpfen. Nachdem sich die nahende Kriegsniederlage des Deutschen Reichs deutlich abzeichnete, gab es in der slowakischen Armee Tendenzen zu einer Loslösung aus dem faschistischen Kampfverbund. Der Slowakische Aufstand war vor diesem Hintergrund eine von großen Teilen der slowakischen Armee und Partisanen getragene Widerstandsaktion gegen die nationalsozialistische „Schutzmacht". Er hatte eine antifaschistische und eine nationalslowakische Komponente. Die Partisanen arbeiteten mit der Roten Armee zusammen, die über die Ukraine näher rückte. Ausgerufen wurde der Aufstand am 29. August 1944 vom Slowakischen Nationalrat. Ihm gehörten Bürgerliche, Sozialdemokraten und Kommunisten an. Innerhalb von zwei Monaten gelang es SS und Wehrmacht, den Aufstand niederzuschlagen. Vollständig wurde die Slowakei erst im Frühjahr 1945 durch die Rote Armee befreit. 201 Für die Heroisierung des Aufstands spielte der spätere Präsident der sozialistischen Tschechoslowakei Gustáv Husák (1913-1991) eine herausragende Rolle. Als Teilnehmer der Erhebung popularisierte er dessen Geschichte und prägte wesentlich seine Rezeption. Husák war slowakischer Nationalpolitiker und Kommunist und personifizierte den slowakischen antifaschistischen Standpunkt. Er war Mitglied der Volksfrontregierung. Zwar verlor er in den 50er Jahren seine Parteiämter, wurde aber 1963 rehabilitiert. Seit der Phase der Normalisierung bis zur Samtenen Revolution war Husák Staatspräsident. 2 0 2 In

zoo Ebd., 91. 201 Klaus Schönherr, Die Niederschlagung des Slowakischen Aufstandes im Kontext der deutschen militärischen Operationen, in: Bohemia 42, 2001, 3 9 - 6 1 , hier 4 4 - 5 4 . 202 Michal Barnovsky, Gustáv Husák - realita a myty, in: Krekovicová/Krekovic/ Mannová (Hrsg.), Myty nase slovenské, 2 0 7 - 2 2 3 , hier 208, 210.

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

245

den 60er Jahren veröffentlichte er einen mehrere hundert Seiten starken Zeugenbericht über den Aufstand. 203 Die Rolle des Zeugen und Kommentators spielte Husák schon während und unmittelbar nach der Erhebung. In einem Artikel vom September 1944 stellte er ihn als den Ausbruch des slowakischen Volkes aus der Sklaverei, als das Erwachen einer kämpferischen und handlungsmächtigen Nation auf dem Weg zur Volksdemokratie dar. Er konstatierte: „Ein Volk, das aus freiem Entschluß auf die Bequemlichkeit und sklavisches Abwarten verzichtet, betritt den Weg seiner Weiterentwicklung und seines Wachstums." 204 Das slowakische Volk brach nach dieser Lesart aus einer jahrhundertealten Passivität aus und nahm das Heft des Handelns selbst in die Hand. Damit erstritt es sich einen Platz unter den freien Völkern. Nach dieser Darstellung kämpfte das slowakische Volk in den Reihen der Alliierten. 205 Der Kommunist Husák folgte der marxistischen Lehre und ging davon aus, dass die Befreiung des Volkes zwangsläufig in den Sozialismus münden würde. Der Aufstand war einerseits ein nationales slowakisches Ereignis und als solches innerhalb der tschechoslowakischen Gedenktradition seit 1948 problematisch. Andererseits bekannte sich der Slowakische Nationalrat als Träger des Aufstands von vornherein zu einer Rückkehr zur staatlichen Gemeinschaft mit den Tschechen. Jedoch intendierten die slowakischen Politiker einen Autonomiestatus innerhalb des wiederzugründenden Staates. Dieser wurde dann auch im Kaschauer Programm vorgesehen, in der Verfassung von 1948 aber nicht im geplanten Umfang verwirklicht. In den Presseberichten zum 29. August der Jahre 1945 bis 1947 galt der Aufstand als ein herausragendes und zukunftsweisendes Ereignis in der slowakischen und tschechoslowakischen Geschichte. Der August 1944 war laut einem Artikel in Národní osvobození zum ersten Jahrestag „der ruhmreichste Monat der slowakischen Geschichte". 206 Der Präsident fuhr selbst nach Banská Bystrica, wo der Aufstand seinen Anfang genommen hatte und wo deshalb 1945 die Staatsfeier stattfand. Seine von großem Applaus begleitete Rede beschwor die tschechoslowakische Einheit im Sinne der Londoner Exilregierung und war voll Zukunftsoptimismus, auch was die politische Gestaltungsfreiheit des Landes betraf. Einer der zentralen Sätze seiner Rede lautete: „Die Slowaken gehören zu den Tschechen und die Tschechen zu den Slowaken." Dies liest sich wie die Weiterführung von Masaryks Diktum, die Slowaken wären Tschechen. Benes betonte nun, dass der Slowakische Aufstand die Konzeption der Exilregierung gestützt habe, welche seit März 1943 auf der formalen Weiterexistenz des Staates in den „Vormünchner" Grenzen beharrte. 207 Der Aufstand 203

Gusláv Husák, Der Slowakische Nationalaufstand. Berlin (Ost) 1972.

204

Gusláv Husák,

Die Tschechoslowakei für Sozialismus und Frieden. Ausgewählte

Reden und Aufsätze. Frankfurt a.M. 1978, 24. °5 Ebd., 30. 206 Národní o s v o b o z e n í , 29. 8. 1945, 3. 207 Vgl c ) a z u a u c h : Svobodné noviny, 31. 8. 1947, 3.

2

246

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

sei ein Beweis d a f ü r gewesen, dass die allergrößte Mehrheit der Slowaken das Tiso-Regime ablehnte und wieder in einem - n u n m e h r „brüderlichen" - tschec h o s l o w a k i s c h e n Staat leben wollte. Die Betonung der Brüderlichkeit sowie der Bindestrich stellten hier eine Abkehr von der Ideologie des Tschechoslowakismus dar. Für die Opfer, welche das slowakische Volk gebracht habe, stehe ihm nun eine gerechte Regelung des tschechisch-slowakischen Verhältnisses zu, so Benes weiter. Die „volle Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung" beider Völker nannte er „Grundsätze, über die man nicht diskutiert". Die Rede endete mit einem persönlichen Dank an das slowakische Volk, der „aus dem H e r z e n " k o m m e . 2 0 8 Z u m dritten Jahrestag bezeichnete Benes den Aufstand als das „allerschönste Kapitel der [slowakischen] Geschichte". 2 0 9 Diese Formulierung erinnert an den in den Ausführungen zum Topos der Heimkehrenden bereits zitierten Titel von Medeks Buch, worin er die Heimkehr der Legionäre in „ D a s allerschönste Land der Welt" beschreibt. 2 1 0 Auch der Slowakische Aufstand stellte in der Auslegung von Benes eine Rückkehr dar, nämlich die Rückkehr der Slowaken in die Tschechoslowakei. Diese Deutung popularisierte Benes bis z u m Ende seiner Präsidentschaft. Aus Anlass des Jahrestages regte sich in der überregionalen Presse an dieser Auslegung kein grundsätzlicher Widerspruch. Im Tenor der Presseberichte drückte sich in dem Ereignis zunächst die demokratische, vor allem antifaschistische Gesinnung des slowakischen Volkes aus. 211 In einem in mehreren Zeitungen abgedruckten Erlass des Verteidigungsministers Ludvik Svoboda z u m ersten Jahrestag hieß es z u m Beispiel, das slowakische Volk habe seit der Zerschlagung des Staates nicht aufgehört, an den Sieg der Wahrheit und die Erneuerung eines tschecho-slowakischen Staates zu glauben. Seine „antideutsche, antifaschistische" Überzeugung habe es zu verschiedenen Formen des Widerstandes, wie Sabotage, Partisanenkämpfe, einer „heldenhaften" Teilhabe an der tschechoslowakischen Auslandsarmee und schließlich z u m Aufstand motiviert. Dieser sei der erste „antideutsche und antifaschistische" Volksaufstand auf dem Gebiet der Tschechoslowakei gewesen. 2 1 2 Der Militärerlass z u m zweiten Jahrestag argumentierte sehr ähnlich und nannte in diesem Sinne den Aufstand den „allerschönsten Ausdruck des tatsächlichen Willens des slowakischen Volkes". 213 Für ihren Willen und ihren Beitrag zur tschecho-slowakischen Einheit stand den Slowaken weiter das Recht auf „Gleichberechtigung" zu und gemäß der Logik der Zeit auch der „ A b s c h u b "

208 Právo lidu, 30. 8.1945,1-2. 209 Národní osvobození, 30. 8.1947, 1; Svobodné slovo, 29. 8. 1947, 1; Svoboné noviny, 30. 8.1947, S 1. 210 Medek, Do nejkrásnéjsí zemê svëta. 211 Národní osvobození, 29. 8.1945, 1; Lidové demokracie, 29.8.1947, 1. 2 2 ' Svobodné noviny, 29. 8. 1945, 1. 213 Svobodné noviny, 28. 8. 1946, 1.

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

247

der ungarischen Minderheit. 214 Der Kommunist Gottwald, seinerzeit Ministerpräsident der Volksfrontregierung, reiste regelmäßig zu den Feierlichkeiten in die Slowakei. Er deutete den Aufstand ähnlich wie Husák als ein Zeichen des Fortschritts „auf dem Weg in eine glückliche Zukunft". 215 Schließlich galt das Ereignis als ein Ausdruck „slawischer Solidarität", ein Begriff, der aber in diesem Zusammenhang trotz seiner eindeutig prosowjetischen Konnotation recht vage blieb. 216 Die Ambivalenz des tschechisch-slowakischen Verhältnisses kam in den öffentlichen Verlautbarungen der Jahre 1945 bis 1947 nicht zum Ausdruck. Die starke Betonung der Einheit des tschechoslowakischen Volkes verweist jedoch implizit auf diese Problematik. Sie trägt in dieser Hinsicht den Charakter einer Beschwörung. Dies drückt sich exemplarisch in der Formel „Dem Vermächtnis des Slowakischen Aufstands bleiben wir treu" aus, welche Národní osvobození 1946 als Überschrift benutzte. 217 Ein solcher ritualisierter Gebrauch von Beschwörungsformeln war - wie noch zu zeigen sein wird besonders für die Maifeierlichkeiten charakteristisch. Nach der Samtenen Revolution und dem Ende des Sozialismus wird der Slowakische Aufstand in der Öffentlichkeit vorrangig als ein Ausdruck der demokratischen Grundüberzeugungen des slowakischen Volkes verstanden. 218 Zugleich wurden auch verschiedene kritische Stimmen laut. 219 Einige Wissenschaftler sehen in seiner heroischen Attitüde ein sinnloses Blutvergießen. Dieses Argument wiegt besonders schwer, da der Aufstand den Anlass zu der zweiten großen Deportationswelle der jüdischen Bevölkerung aus der Slowakei gab. Ultranationale Kräfte kritisieren den Aufstand dafür, dass er die slowakische staatliche Eigenständigkeit preisgegeben habe. Ein dritter Kritikpunkt am Aufstand ist, dass er die Entwicklung hin zum Staatssozialismus eingeleitet habe. Alle drei Kritikpunkte entspringen der postsozialistischen nationalslowakischen Perzeption. In den tschechischen Presseberichten zum Tag der Befreiung erschien der Slowakische Aufstand als das Gegenstück zum Prager beziehungsweise zum tschechischen Aufstand vom Mai 1945. Obwohl ersterer eine weitaus größere militärische Bedeutung hatte als der Prager Aufstand, verschmolzen beide Ereignisse tendenziell zu einer gemeinsamen Tat des antifaschistischen tschechoslowakischen Widerstandes. Seit dem 5. Mai 1945 hatten große Teile der

214

Národní osvobození, 30. 8. 1946, 1. Národní osvobození, 29. 8. 1947, 1. B e n e s benutzte diesen Ausdruck in der Grußadresse zum zweiten Jahrestag, vgl.: Lidová demokracie, 29. 8.1947, 1. 217 Národní osvobození, 30. 8. 1946, 1. 218 Maria Dobríková, Miesto Slovenského národního povstania ν slovenskych dejinách, in: Historicky ústav SAV, Slovensko ν rokoch druhej svetovej vojny, 155-157. 219 Zu den unterschidlichen Kritikpunkten vgl.: Ivan Kamenec, Dvojsecnost' mytov o S l o v e n s k o m národnom povstaní, in: Krekovióová/Krekovic/Mannová (Hrsg.), Myty nase slovenské. Bratislava 2005, 1 9 9 - 2 0 6 . 215

216

248

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

Prager Bevölkerung in Straßenkämpfen gegen die Besatzer sowie gegen die deutsche Bevölkerung gekämpft. Teile der Vlasov-Armee (Deserteure der Roten Armee, die bis dahin an der Seite der Nationalsozialisten die Sowjetunion befreien wollten) kamen ihnen als „unerwartete Verbündete" zu Hilfe. 220 Am 9. Mai wurde die Stadt schließlich von der Roten Armee befreit. Die Aufstände wurden in der Folge zum Ort des tschechoslowakischen Sieges stilisiert. Sie symbolisierten ein Heldentum des Volkes jenseits von Legionärstradition und Exilregierung, welches besonders die Presseberichte zum 9. Mai als dem Tag der Befreiung reflektierten. Am 9. Mai 1945 zitierte Národní osvobození die am Vortag unterzeichnete Kapitulationsurkunde. Im Kommentar dieser Legionärszeitung hieß es dazu, die „tschechische Metropole" habe „aus eigener Kraft" den „Sieg [ . . . ] erkämpft". 221 Dies war die grundlegende Deutung, die in späteren Jahren um weitere Komponenten ergänzt wurde. Die Tage vom 5. bis zum 9. Mai 1945 wurden fortan jährlich als „Mairevolution" 222 oder „unsere Revolution" 223 mit Massendemonstrationen gefeiert. Die Maifeierlichkeiten hatten zwei zentrale Bezugspunkte: die Behauptung des tschechoslowakischen Sieges über die Okkupanten und die Rolle der Roten Armee als Befreierin. Vor 1948 wurde die Rote Armee zwar als Befreierin geehrt, im Zentrum der Feierlichkeiten stand aber die Betonung des eigenen Anteils an der Befreiung vom Faschismus. Erst seit 1948 dominierte der Aspekt der Befreiung durch die Rote Armee die Gedenkveranstaltungen. Analog stand nunmehr der 9. Mai als Tag des Einzugs der Roten Armee nach Prag im Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Tage des Aufstands, die der Befreiung vorausgegangen waren, traten dahinter zurück. Der 9. Mai 1948 war zugleich der Tag der Verabschiedung der volksdemokratischen Verfassung. 224 Das Andenken an die Befreiung und die Bindung an die Sowjetunion wurden so im Jahr des kommunistischen Staatsstreichs zu einer sozialistischen Legende verwoben. In den Jahren 1946 und 1947 standen mithin die Maifeierlichkeiten in einer nationalen antifaschistischen Gedenktradition. Im Zweiten Weltkrieg hätten sich, so führte Benes 1946 aus Anlass des ersten Jahrestages der Befreiung aus, zwei unversöhnliche Konzepte gegenübergestanden: „Unser Konzept der Gerechtigkeit und des Glaubens an die Menschlichkeit hat gesiegt." Den Sieg stellte er als ein Resultat der ideellen Einheit des Volkes dar. Während des Prager Aufstands habe „das ganze Volk" gekämpft, „geleitet von dem einen einzigen großen Ideal der Freiheit, geleitet von der jahrhundertealten nationa220

Zum Prager Aufstand: Stanislav Kokoska, Praha ν kvëtnu 1945. Historie j e d n o h o povstání. Prag 2005, 156-184. 221 Národní osvobození, 9. 5.1945,1. 222 Lidová demokracie, 6. 5.1947, 1. 22 3 Právo lidu, 6. 5.1947, 1. 224 Právo lidu, 8. 5.1948,1; Lidová demokracie, 8. 5.1948, If.; 9. 5.1948,1 ; Národní osvobození, 11. 5. 1948, If.

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

249

len Tradition und geleitet von dem Glauben an den unveräußerlichen Wert der wahren Menschlichkeit". 225 Die Überlegenheit des Volkes lag in seinem Freiheitsdrang, in seiner Kampfesbereitschaft und in seinem Opfermut begründet. Nur solange es durch diese Eigenschaften geadelt war, blieben ihm die Früchte des Kampfes sicher - das war die zentrale Botschaft. In diesem Sinne wurde das Volk zeremoniell auf die Gemeinschaft eingeschworen. Bei der Maidemonstration 1946 schwor „das Volk" feierlich den Gefallenen des „zweiten Widerstandes" seine Treue. Der Schwur erfüllte die Funktion der Gemeinschaftsbildung in Kampf und Trauerarbeit. Er lautete: Im heiligen Gedenken an die Brüder und Schwestern, die im Kampf gegen den deutschen Faschismus gefallen sind, schwören wir: Wir bleiben dem Vermächtnis der Mairevolution treu, aus der unsere geliebte tschechoslowakische Republik zu neuem Leben erstanden ist; wir bleiben dem Volk treu, für dessen Ehre und Ruhm wir unsere besten Kräfte in der Arbeit und im Kampf zu geben bereit sind; wir bleiben unserem Staat treu, in dessen volksdemokratischer Errichtung wir die Garantie eines würdigen Lebens eines jeden von uns erblicken. Verbunden in der Liebe zu den slawischen Brüdern, im Glauben an den Fortschritt und in der Achtung vor dem Menschen, werden wir dem Vaterland und der Wahrheit dienen. Das schwören wir! 2 2 6

Das Vermächtnis der Opfer, die Ehre und der Ruhm des Volkes waren damit im Staate als Verkörperung der höchsten Ideale verankert. Der Treueschwur des tschechoslowakischen Volkes ist zu einem grundlegenden Motiv des Andenkens an die Opfer des siegreichen antifaschistischen Befreiungskampfes geworden. In Anknüpfung an diese Befreiungsrhetorik wurde auch 1947 das „Vermächtnis der Revolution" beschworen. 2 2 7 Die ritualisierte Reihung dieser Insignien der Trauer um die Helden sollte nach dem Krieg das Volk in der Beschwörung des Kampfes und des Sieges einen. Die antifaschistischen Kämpfer waren die Garanten fur die Teilhabe des tschechoslowakischen Volkes am Zweiten Weltkrieg und am Sieg „des Guten". Der Schwur erweist sich als eine neue Form der Beherrschung des Volkes. Er suggeriert, dass Staat und Volk mit einer Stimme sprächen. Die öffentliche Beschwörung definierte die Massen als durch die Vergangenheit zu einem Ganzen verbunden. In dieser Konzeption durften zwischen dem Staat und seinen Bürgern keine unterschiedlichen Vergangenheitskonzepte kommuniziert werden. Die Schwurgemeinschaft ließ keine eigenständigen Positionen zu, von denen aus unterschiedliche Vorstellungen artikuliert werden könnten. Dies trifft besonders für das Opferbild zu.

225

Právo lidu, 5. 5.1946, 1. Právo lidu, 7. 5. 1946, 1. 227 Právo lidu, 6. 5. 1947, 1; Svobodné slovo, 6. 5. 1947, 1; Lidová demokracie, 6.5. 1947, 1; Národní o s v o b o z e n í , 6. 5.1947. 226

250

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

5.4.3 Das alte Opfermuster und seine Kriegsopfer nach dem Zweiten

Überschreibungen: Weltkrieg

Während die Legionäre zur Zielscheibe nationalsozialistischer antitschechischer Propaganda wurden, war die Besatzungspolitik gegenüber den Kriegsgeschädigten in das Programm der sozialen Befriedung eingebettet. Die Landesämter für Kriegsgeschädigtenfürsorge arbeiteten bis zum Kriegsende weiter, jedoch unter einer veränderten administrativen Struktur. Mit der Errichtung des Protektorats wurde das Verteidigungsministerium aufgelöst und das Ministerium für Sozialfürsorge mit dem Gesundheitsministerium zusammengelegt. Alle Kriegsgeschädigtenangelegenheiten (also auch die der Legionärsinvaliden) fielen nun in die Zuständigkeit des neuen Ministeriums für Gesundheitsund Sozialfürsorge. 228 Am 14. Januar 1942 legten die Nationalsozialisten im Zuge der Maßnahmen gegen die letzten autonomen Institutionen des Protektorats weitere Ministerien zusammen. Die Aufgaben des vormaligen Ministeriums für Sozialfürsorge erstreckten sich jetzt nur noch auf öffentliche Gesundheitspflege, allgemeine soziale Arbeit und Sozialfürsorge sowie auf Sozial- und Bauangelegenheiten. Parallel dazu wirkte seit dem 22. Juli 1940 in London das Ministerium für Sozialfürsorge der tschechoslowakischen Exilregierung. Dessen Fortwirken wurde am 2. April 1945 mit dem Präsidentendekret zur neuen Herrschaftsorganisation bestätigt. Im Juni 1945 benannte man das Amt in Ministerium für Arbeitsschutz und Sozialfürsorge um. Seit Juli 1949 hieß es wieder Ministerium für Sozialfürsorge. 229 Die Kriegsgeschädigtengesetzgebung wurde in dieser Zeit zweimal verändert, namentlich durch die „Regierungsverordnung vom 8. September 1943 über die Versorgung der Kriegsgeschädigten (Protektoratsversorgungsverordnung)" 230 und durch das „Gesetz vom 18. Juli 1946 über die Sorge für Militär- und Kriegsgeschädigte und Opfer des Krieges und der faschistischen Verfolgung" (Zákon ze dne 18. cervence 1946 o péci o vojenské a válecné poskozence a obëti války a fasistické persekuce).m Auf eine Nachbesserung der Kriegsgeschädigtengesetze hatte der Leiter des böhmischen Landesamtes für Kriegsgeschädigtenfürsorge in einem Brief an das Ministerium für Soziale und Gesundheitliche Angelegenheiten schon Anfang 1941 gedrängt. Ihm ging es vor allem um eine Anhebung der Renten und um die Sicherstellung eines reibungslosen Ablaufs bei der Umstellung. 232 Die mehr als zwei Jahre später erfolgte Neuerung entsprach zwar der Forderung beziehungsweise Notwendigkeit der Anhebung der Bezüge, jedoch im Rahmen der Ordnungsvorstellungen der Besatzer. Jüdischen Kriegsgeschä228 229 230 231 232

NMSP, K. 363, Nr. 331. Národní archiv ν Praze, Státní ústrední archiv, Inventár 411, X f . Sbírka zákonu a narízení Protektorátu Cechy a Morava 1943, 1225-1252. Sbírka zákonü a narízení Republiky ceskoslovenské 1946, 1099-1122. MSP, K. 363, Nr. 0 8 - 2 1 / 2 .

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

251

digten wurde die Erhöhung nicht gewährt (§ 83). Die Rentenzahlung ruhte völlig, wenn ein Kriegsgeschädigter in Lagern und Gefangnissen saß oder sich „reichsfeindlich" betätigt hatte (§ 69). Gegenstand der Verordnung waren weiterhin die Opfer sowie „Nachkriegsopfer" des Ersten Weltkrieges (§ 1). Im Jahre 1940 waren dies laut Berechnungen der Landesämter 54 835 Protektoratsangehörige. 233 Darüber hinaus waren nunmehr neben Ehefrauen, auch Gefahrtinnen und uneheliche Kinder in das Bezugssystem eingeschlossen. Die Bezüge der Invaliden waren in eine Grundrente und verschiedene Zulagen differenziert. Die Grundrente bemaß sich nach wie vor am Grad der Minderung der Arbeitsfähigkeit. Sie betrug jährlich zwischen 1410 Kronen für ab 25 Prozent Geschädigte und 9 4 8 0 Kronen für ab 85 Prozent Geschädigte (§ 11). Hinzu kamen gegebenenfalls eine Pflegezulage (4 800 bis 13 200 Kronen pro Jahr) sowie eine für Frauen und Kinder (jeweils 10 Prozent der Rente) (§ 12,13, 14). Die Witwenrente betrug jährlich 3 240 Kronen, die Waisenrente zwischen 1680 und 2 640 Kronen (§ 3 2 , 4 3 ) . Kriegsinvaliden und -witwen bezogen außerdem eine Zusatzrente, deren Höhe sich nach dem Wohnort und dem Grad der Kriegsschädigung bemaß (hier allerdings nur in zwei Gruppen gestaffelt) und für die Witwen außerdem grundsätzlich geringer war als für Invaliden (§ 53). Ergänzend gab es Härtefallregelungen. Zuständig für Bemessung und Auszahlung der Renten waren in der Sprache der Verordnung die „Protektoratsversorgungsämter" (protektorátní zaopatrovací úrady), also faktisch die Landesämter für Kriegsgeschädigtenfursorge (§ 67). Infolge der Neuregelung und aufgrund der Praxis der Untersuchungskommissionen wurden während des Protektorats zahlreiche Rentenansprüche neu überprüft. In vielen Fällen führte dies zur Minderung der Prozente oder zur Aberkennung des Rentenanspruchs. 234 In der Nachkriegszeit kam es zu weiteren grundlegenden Veränderungen in der Kriegsgeschädigtenpolitik. Das Gesetz aus dem Jahre 1946 erweitere den Kreis der „Opfer" wesentlich. Neben die Geschädigten des Ersten Weltkrieges traten nunmehr eine ganze Reihe von Opfern der Besatzungsherrschaft wie auch des antifaschistischen Kampfes, nämlich Personen, die unter folgenden Umständen einen körperlichen Schaden oder die Verschlimmerung einer körperlichen Beeinträchtigung erlitten hatten: - im milititärischen Dienst, nämlich seit der Mobilmachung von 1938 in der tschechoslowakischen Armee oder in einer verbündeten Armee, in Partisaneneinheiten, bei der Teilnahme am Prager oder am Slowakischen Aufstand 233

MSP, K. 44, Jahresbericht 1940, 7. Dies geht aus den Akten des Stální tirad pro válecné poskozence ν Praze hervor (Staatliches Zentralarchiv Prag). Dieser Bestand wurde zwar nicht systematisch ausgewertet, eine oberflächliche Durchsicht desselben zeigt jedoch deutlich, dass die Einstufungspraxis während des Protektorats sehr harsch gehandhabt wurde. Da der Bestand alphabetisch geordnet ist, können einzelne Fälle leicht über eine längere Zeitspanne verfolgt werden. 234

252

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

oder bei anderen antifaschistischen militärischen Aktionen oder bei der Unterstützung derselben oder im sanitären Dienst für solche Einheiten, - in Gefangenschaft, bei der Verschleppung, in Konzentrationslagern oder aufgrund ihrer Teilhabe am odboj im Gefängnis inhaftiert sowie - in Ausübung von Zwangsarbeit. Auch deren Hinterbliebene oder Angehörige wurden in diesen Kreis einbezogen (§ 2). Diesen Personen konnten nach einer provisorischen Verordnung vom Juli 1945 verschiedene Hilfeleistungen gezahlt werden. Im Mittelpunkt einer entsprechenden Verlautbarung des Ministeriums stand der Dank, den das Volk den Opfern des Widerstandes schuldig war. 235 Die Kehrseite der Erweiterung des Opferbegriffs auf Beteiligte des Widerstandes wie auch auf Opfer politischer und rassischer Verfolgung bestand in einer scharfen Abgrenzung der Bezugsberechtigen von denjenigen, die grundsätzlich nicht als Opfer des Zweiten Weltkrieges gelten sollten. Dazu zählten nach den Präsidentendekreten vom 19. Juni 1945 und vom 24. Januar 1946 rechtskräftig verurteilte faschistische Verräter, Freiwillige der gegen die Verbündeten der tschechoslowakischen Republik kämpfenden Armeen, sowie Personen, die staatsfeindlicher Betätigung überführt wurden, die sich dem Dienst in der tschechoslowakischen Armee entzogen hatten, die in der Zeit seit Inkrafttreten des Münchner Abkommens bis zum Tag der Befreiung freiwillig einer Arbeit in den der Republik feindlichen Staaten nachgegangen waren, und deren Hinterbliebene (§11). Diese Regelung war nicht expressis verbis, aber faktisch vorrangig gegen die deutschen und magyarischen „Helfershelfer" gerichtet. Das neue Kriegsgeschädigtengesetz war damit viel deutlicher als das alte gegen diejenigen gerichtet, die im Kriege als tatsächliche oder vermeintliche Feinde agiert hatten, und bedachte nur diejenigen mit staatlicher Unterstützung, die auf der richtigen Seite gekämpft hatten. Dies kam auch in der neu eingeführten Regelung zum Ausdruck, dernach Invaliden mit einer Verringerung der Arbeitsfähigkeit ab 45 Prozent ein Recht auf Beschäftigung hatten. Invaliden, die im odboj geschädigt worden waren, waren dabei gegenüber anderen Schwerbehinderten ausdrücklich vorzuziehen (§ 96). Neu war auch, dass die Renten nunmehr unabhängig von anderen Einkommen jedem Geschädigten ausgezahlt wurden. 2 3 6 Dies entsprach einer alten Forderung der Kriegsgeschädigten, die in dieser Hinsicht in der Zwischenkriegszeit erfolglos auf eine Gleichstellung mit den Legionären gedrängt hatten. Das neue Gesetz brachte in den genannten Regelungen eine klare Bewertung des persönlichen Verhaltens zum Ausdruck. Die Anerkennung eines in Ausübung einer Kampfeshandlung auf der „feindlichen" Seite erbrachten Opfers war nicht länger möglich. Ambivalenzen, wie sie aus der Gesetzgebung der Zwischenkriegszeit resultierten, ließ die Neu-

235 Sociální revue 20,1945, H. 1-2, 23f. 236 Novy zivot 30, 1946, Nr. 7,1.

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

253

regelung nicht zu. Der Kampf der Tschechoslowaken gegen Besatzung und Faschismus wurde in der zweiten Nachkriegszeit unzweifelhaft als ein Kampf zweier streng entgegengesetzter und voneinander getrennter Lager dargestellt. Wer in das als feindlich definierte Lager gehörte, hatte demnach kein Recht auf Anerkennung seines Leids und seiner Bedürftigkeit und kein Recht auf soziale Leistungen. Bei der Zuteilung der Arbeitsmöglichkeiten galt außerdem das Opfer für den zweiten Widerstand mehr als das im Ersten Weltkrieg erbrachte Opfer. Nach Informationen des Svaz bojovnikù za svobodu beschied man 80000 Invaliden und 113 000 Hinterbliebenen ihren Neuantrag auf Kriegsopferrente positiv. Um eine Weiterzahlung alter Rentenansprüche bemühten sich 28 000 Invaliden und 76000 Hinterbliebene erfolgreich. 237 Das macht für 1948 insgesamt 297 000 Rentner des ersten und zweiten Widerstandes. Der Anteil der Opfer des Ersten Weltkriegs war dabei relativ gering. Die Konzeption des neuen Gesetzes steht in einem spannungsreichen Verhältnis zu den administrativen Kontinuitäten insbesondere zwischen den Protektorats- und den Nachkriegsinstitutionen. Die Landesämter für Kriegsgeschädigtenfiirsorge wurden zwar in Staatsämter für Kriegsgeschädigte umbenannt (Státní úrady pro válecné poskozence), blieben aber darüber hinaus als Institutionen wie zuvor erhalten (§ 69). Zugleich fanden zahlreiche Neuerungen aus der Verordnung von 1943 Eingang in das Nachkriegsgesetz. Dazu gehört die Berücksichtigung von Gefahrtinnen und unehelichen Kindern (§ 3) und die nach Wohnort differenzierte Rentenzulage (§ 18) sowie die Zahlung einer Pflegezulage (nunmehr zusätzlich durchweg an Blinde gewährt) (§ 19). Die Renten wurden weiterhin nach Grad der Arbeitsunfähigkeit gestaffelt. Ein Vergleich mit den Bestimmungen von 1943 bietet sich vor allem bezüglich der Relation der einzelnen Leistungen zueinander an. Es ist davon auszugehen, dass der Anstieg der verschiedenen Renten die höheren Lebenshaltungskosten kaum ausglich. Zwar wurde im Zuge der Währungsreform vom November 1945 die Krone eins zu eins umgetauscht, jedoch stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel um das Dreifache, nämlich das angebliche Niveau der Schwarzmarktpreise. 238 Nunmehr nicht mehr jährlich, sondern monatlich berechnet, veränderte sich die Relation der unterschiedlichen Rentenarten zueinander doch nur in einem Punkte wesentlich: Witwen erhielten nun vergleichsweise mehr. 239 Insgesamt stiegen die Renten noch einmal. Der Höchstsatz für Invaliden betrug jetzt 1500 Kronen monatlich (8 520 Kronen jährlich mehr als seit 1943), die niedrigste Satz 150 Kronen (390 jährlich Kronen mehr als seit 1943) (§ 17). Für Ehefrauen und Kinder von Invaliden wurden weiterhin

237 Hlas revoluce 1, 1948, Nr. 26, 4. 238 Michal, Die wirtschaftliche Entwicklung, 467. 239 Kurz nach Februar 1948 wurden die Witwen- und Waisenrenten noch einmal erhöht, besonders j e n e für Witwen von Widerstandskämpfern des Zweiten Weltkrieges, vgl.: Hlas revoluce 1, 1948, Nr. 26, 4.

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

jeweils 10 Prozent der Rente gezahlt (§§ 20, 21). Witwen erhielten 600 Kronen monatlich (3 960 Kronen mehr im Jahr), Waise 270 Kronen (600 beziehungsweise 1560 Kronen jährlich mehr) (§§ 34, 44). Wie schon während der Zwischenkriegszeit, so galten auch ab 1943 beziehungsweise 1946 die Rentenregelungen ebenfalls fur Eltern von Invaliden oder Gefallenen. Ebenso wurde den Invaliden de jure durchgängig kostenlose Heilfürsorge gewährt. Mit der deutlichen Anhebung der Renten kamen sowohl die Protektorats- als auch die Volksfrontregierung einer Kernforderung der Kriegsgeschädigten nach. Das Wesentliche der Nachkriegsneuerungen war die Erweiterung des Opferbegriffs und der Ausschluss derjenigen, die an Krieg und Besatzung für schuldig befunden wurden. In der Verschmelzung von Helden- und Opferkategorien orientierte sich auch die oben vorgestellte Bodenreform zugunsten der Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft und der Kämpfer dagegen. Damit veränderten sich zugleich die Hierarchie der Kriegsopfer untereinander sowie ihre Position in der neu definierten Gemeinschaft. Die Aufwertung der Opfer führte nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl zum Wegfall der Einkommensgrenzen als auch zur Anhebung der Renten wie besonders zur Einführung der Beschäftigungsverpflichtung. Diese Maßnahmen weisen auf einen Sonderstatus der Kriegsopfer hin, der auf dem Nachweis ihres Einsatzes im antifaschistischen Kampf basierte. Gerade in diesem Zusammenhang wurde den Veteranen des Widerstandes ein Vorrecht verliehen. Damit ist zugleich das grundlegende Hierarchisierungsmerkmal unter den Geschädigten angesprochen. Denn die Geschädigten des Ersten Weltkrieges spielten eine zusehends untergeordnete Rolle im neuen Opferdiskurs. Juristisch stellten sie zwar die Ausgangsgruppe der Kriegsgeschädigten dar, die nun lediglich um die Opfer des Zweiten Weltkrieges ergänzt werden musste, die Definition dieser zweiten Opfergruppe basierte jedoch auf einem heroisch gezeichneten, moralisch überhöhten Prototyp, dem die Geschädigten des Ersten Weltkrieges nicht entsprachen. Nicht zuletzt kam hierin auch ein Generationenwechsel zum Ausdruck. Die Gefolgschaft der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigten setzte auch nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Arbeit fort. In Analogie zum neuen Kriegsgeschädigtengesetz erweiterte sie ihren Wirkungskreis auf die - wie die neue Redewendung lautete - „tschechoslowakischen Opfer des Ersten und des Zweiten Weltkriegs". Das Gefolgschaftsorgan Novy zivot erschien bis 1951. Laut dessen Angaben war die Gefolgschaft 1947 die mitgliederstärkste unpolitische Organisation in der Republik. Sie hatte 100000 tschechische und 52 000 slowakische Mitglieder. 240 Unter den tschechischen Mitgliedern befanden sich 80000 Geschädigte des Ersten Weltkrieges. 241 Damit wäre gemessen an den oben genannten Zahlen zu den Rentenansprüchen (1948 bezogen demnach 28 000 Invaliden und 76 000 Hinterbliebene des Ersten Weltkrieges Renten) der 24° Novy zivot 31, 1947, Nr. 11,1. N o v y zivot 31, 1947, Nr. 4,1.

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

255

Organisationsgrad bei den Geschädigten des Ersten Weltkrieges sehr hoch und derjenigen der Opfer des Zweiten Weltkrieges sehr niedrig gewesen. Man könnte aufgrund dieser Zahlen auch vermuten, dass nicht alle Geschädigten des Ersten Weltkrieges einen Rentenantrag stellten beziehungsweise dass dieser in vielen Fällen negativ beschieden wurde. Demnach wären in der Gefolgschaft zahlreiche Geschädigte des Ersten Weltkrieges organisiert gewesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg keine Renten bezogen. Die Gefolgschaft blieb in erster Linie eine Vereinigung der Veteranen des Ersten Weltkrieges. Die Vereinigung war in mehrfacher Hinsicht bemüht, sich in die neuen Begründungszusammenhänge einzuschreiben. An erster Stelle des neuen Kanons stand der Schulterschluss der Opfer des Ersten und des Zweiten Weltkrieges. Gefolgschaftsfunktionäre behaupteten, sie hätten sich fur die Einbeziehung der Opfer des Zweiten Weltkrieges in das neue Gesetzeswerk starkgemacht und zugleich auf die „Gleichberechtigung" der alten und neuen Geschädigten wie auch auf den Wegfall der Einkommensgrenzen hingewirkt. 2 4 2 Zahlreiche Artikel des Novy zivot unterstrichen die gute Zusammenarbeit mit den Regierungsbehörden. Dabei bedienten sie sich einer an den umdefinierten Volksbegriff angelehnten nationalen und sozialen Rhetorik. Insbesondere betonte das Organ den Patriotismus der Kriegsgeschädigten sowie die Einheit unter ihnen. 243 Jedwede Differenzierung des Opferbegriffes wurde streng vermieden. Die Einschreibung in den Kanon der Konsolidierungspolitik wie auch das deutlich hochgeschraubte Pathos des Opferdiskurses der zweiten Nachkriegszeit kam beispielhaft in dem Artikel „Der Jahrestag des ruhmreichen Aufstands des tschechischen Volkes" zur Sprache. 244 In revolutionärer Rhetorik beschwor er den „einheitlichen Willen" des tschechischen und slowakischen Volkes sowie die „Solidarität" der Volksgemeinschaft. Die Opfer für den Widerstand werden nicht mehr nur als heldenhaft (hrdinsky), sondern nun als heroisch (heroicky) dargestellt. Der Aufstand als „heroische Tat der revolutionären Tage" sei und bleibe auch für die kommende Generation ein „brennendes Beispiel der Opferbereitschaft". 2 4 5 Im Sinne des Einheitsparadigmas wurden der Aufstand und die Tätigkeit der Londoner Exilregierung parallelisiert. Zugleich stellten sich die Opfer des Ersten Weltkrieges denen des Zweiten Weltkrieges zur Seite und suggerierten einen generationenübergreifenden Schulterschluss: Das Andenken an alle Helden ist für unser ganzes Volk die erste Verpflichtung, aber auch der Wegweiser, um unsere zukünftige Entwicklung nicht mehr mit dem germanischen Imperialismus zu kreuzen. Die Voraussetzung dazu ist unerschütterliche nationale Solidarität, Achtung des einen vor dem anderen, von der Demokratie erforderte Dis-

2 « N o v y zivot 30, 1946, Nr. 7,1 ; Nr. 10,1. 2 « N o v y zivot 30, 1946, Nr. 9, 1; Nr. 10, 1; 31,1947, Nr. 11,1. N o v y zivot 30, 1946, Nr. 2, 1. 2 « Ebd.

256

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

ziplin und ein glühender, unnachgiebiger Patriotismus. Nur nach diesen Grundsätzen bauen wir uns ein neues, besseres Leben im befreiten Vaterland. 246

Diese Verlautbarung illustriert eine drastisch formulierte und emotional aufgeladene überindividuelle Ausrichtung der Opferpolitik. Die Kriegsopfer ordneten sich mit diesen Worten in den Erneuerungsprozess ein, ohne dort eine eigenständige Position wahren zu können. Der mit Worten wie „glühend" und „unnachgiebig" bezeichnete Patriotismus erscheint für sie als der einzige Weg in die neue Gemeinschaft. Die Opfer des Ersten Weltkrieges präsentierten sich nach dem Zweiten Weltkrieg weniger als Vorkämpfer denn als ältere Opfer, die für die Fortführung der sozialpolitischen Maßnahmen bereit sein mussten, die Priorität der Deutungsmuster des zweiten Widerstandes anzuerkennen. Die Anlehnung der Gefolgschaft an die Motive der Konsolidierungspolitik drückte sich auch in der Propagierung eines aufgewerteten, heroisierten Mutterbildes aus. Mutterschaft wurde nun allgemein mit Opferbereitschaft (obëtavosi) gleichgesetzt. 247 Die Witwen-Mütter stellte Novy zivot zum internationalen Frauentag 1948 nun nicht mehr als Kriegsopfer, sondern als Verkörperung des „Heldentums der Mütter" dar. Dieses Heldentum lag in einer neuen, kollektivistischen Ausrichtung des Begriffs begründet: Die Mutterschaft ist freilich auch eine Aufgabe des ganzen nationalen Kollektivs, das im Interesse der Bevölkerungspolitik Rücksicht auf den wohlgeordneten Staat und das ganze Volk nehmen muss. Ohne gute Mütter würde es kein gesundes und sittlich veranlagtes Volk geben. Es würde keine guten Staatsbürger geben, die mit gleichem Atem und mit reinem Herzen sehr anhänglich an die Heimat und die ganze Volksfamilie wären. 248

Am Beispiel der Mutterschaft zeigt sich eine eindimensionale Ausrichtung der Begriffe auf den Staat, an den das „Volk" deutlich fester gebunden wurde, weil zwischen dem Einzelnen und dem Staat die Zwischenglieder ausgelassen oder zu bloßen Übergansinstanzen gemacht wurden. So fällt insbesondere die Familie als eine eigene Binnenstruktur aus dieser Anschauung heraus. Die Kinder stellt der Artikel faktisch als Kinder des Staates vor. Die Ausrichtung an bevölkerungspolitischen Paradigmen tritt deutlich zutage. Während man sich jedoch die Kriegerwitwe auch nach dem Zweiten Weltkrieg durchweg als Mutter vorstellte, bleibt unklar, ob sie zugleich auch eine Arbeiterin war beziehungsweise sein sollte. Die Maßnahmen zur Einbindung der Kriegsopfer in die Arbeitsgemeinschaft des Volkes richteten sich nach wie vor vorrangig auf die Invaliden. In der Begründung des Anrechts auf Arbeit fiel jedoch nun der Bezug auf den Ernährerstatus schwächer aus als in der Zwischenkriegszeit. Dagegen geriet auch hier das Kollektiv zum ersten Referenzpunkt des Kriegsopfers. Nach wie vor wurde der gesellschaftliche Wert eines Mannes an der Ableistung von 246 247 248

Ebd. Ebd. N o v y zivot 32,1948, Nr. 5,1.

5.4 Alte und neue Helden- und Opferbilder

257

Erwerbsarbeit gemessen. Jedoch galt er nun weniger als Familienoberhaupt denn als ein Teil des großen Ganzen, fur das es etwas zu leisten galt und das ihm die Leistung in der Münze der Zugehörigkeit, des Einschlusses in das Kollektiv, vergalt. Die Einstellungsverpflichtung begründete eine engere Bindung der bedürftigen Invaliden an den Staat, zumal dieser den Arbeitsmarkt stärker regulierte als vor 1945 und in den meisten Fällen als Arbeitgeber auftrat. 249 Die Verbindung von Sozialleistung und Machtausübung wurde hier evident. Entsprechend devot war die Verlautbarung der Invaliden aus Anlass der Verabschiedung des neuen Gesetzes: „Wir danken dankbar [vdécné dékujeme]". Weiter heiß es: „Die Kriegsinvaliden wollen arbeiten, sofern sie können. [ . . . ] Sie wollen auch bei einer Minderung der Arbeitsfähigkeit anerkannte [platny] Glieder der menschlichen Gemeinschaft sein." 250 Auf der Einhaltung der Einstellungspflicht wollten die Kriegsopfer ungedingt bestehen. Dabei diente der Arbeitskräftebedarf nach „dem endgültigen Abschub der Deutschen" 251 als ein Argument, das für ihre Einstellung sprach. Die Kriegsopfer klagten nach eigenem Bekunden nicht nur ein Recht ein, sondern wollten auch ihre „Bürgerpflicht" erfüllen und sich am gesellschaftlichen Aufbau beteiligen. 252 Dabei bezogen sie sich auf den Zweijahresplan. 2 5 3 Die Kriegsinvaliden forderten damit im Kern, in die allgemeine Arbeitspflicht einbezogen zu werden. Die neue Begründung des Arbeitswillens lautete: „Arbeit ist ihnen [den Kriegsinvaliden] ein Mittel zur Befriedigung der Lebensberufung, des Lebensunterhalts der Familie und des kollektiven Strebens nach dem allerbesten wirtschaftlichen Aufstieg des Volkes." 254 Erst in dieser Reihung persönlicher und kollektiver Bedürfnisse konnte sich die neu bestimmte soziale Gerechtigkeit entfalten. Zu solchen ideologischen Parolen gesellte sich meist der Hinweis auf diejenigen Kriegsinvaliden, die durch Alter und körperliche Befindlichkeit tatsächlich an der Teilhabe am Arbeitsleben gehindert seien. 255 Damit waren vermutlich vor allem die Veteranen des Ersten Weltkrieges gemeint, die sich so gesehen den neuen Paradigmen entzogen und sich tatsächlich auf ihr Altenteil zurückziehen konnten. Die jungen Opfer des zweiten Widerstandes entsprachen per definitionem dem kollektiven Heldenbild des Volkes. Die Opferpolitik der zweiten Nachkriegszeit war insofern am Heldenbegriff ausgerichtet, als eine Anerkennung als Opfer nur noch dann möglich war, wenn die Geschädigten auf der Seite des „heldenhaften Volkes" gekämpft oder einen auf dieser Seite Kämpfenden verloren hatten. Obwohl Arbeit die Matrix des

249

Nach der Nationalisierung waren 60 Prozent der Werktätigen in staatlichen Betrieben beschäftigt, vgl.: Kaplan, Der kurze Marsch, 41. 250 Novy zivot 30, 1946, Nr. 7,1. 251 Novy zivot 31,1947, Nr. 1,1. 252 Ebd. 2 » Novy zivot 30,1946, Nr. 5/6,1. 254 Novy zivot 32,1948, Nr. 4,1. 255 Novy zivot 31,1947, Nr. 1,1.

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

zweiten Konsolidierungsprogramms war, war die Opferpolitik dennoch nicht mehr so stark wie in der Zwischenkriegszeit auf die Figur des Arbeiters und Familienernährers fixiert. Vielmehr richtete sich das neue Idealbild auf ein nationales Kollektiv, das als Arbeitsgemeinschaft definiert war und dem fraglos jeder angehörte, der nach der Bestrafung und Vertreibung der „fremden Verräter" noch als Angehöriger des tschechoslowakischen Volkes galt. Die wirtschaftlichen Belange des Einzelnen schienen in diesem Kollektiv aufgehoben. Dies schmälerte den Stellenwert der Familie als Ort der umfassenden Versorgung des Einzelnen. Zugleich sollten die Frauen in die Reihen der Arbeitenden eintreten. Der Begriff der Arbeit war damit von den Lebensverhältnissen der einzelnen Menschen abstrahiert. „Arbeit" war ebenso allgegenwärtig wie unkonkret. Damit trat auch die Bedeutung der Arbeitsunfähigkeit für die soziale Interaktion der Invaliden in den Hintergrund. Die Allgegenwart der Arbeit illustriert zum Beispiel eine Zeichnung der Tageszeitung Lidová demokracie aus Anlass der Verabschiedung des Zweijahresplans. Sie zeigt im Vordergrund je einen Arbeiter, Bauern und Akademiker. Diese erscheinen universalisiert, da die drei Männer das Volk an sich verkörpern. Diese Botschaft wird durch eine nach rein produktionsbezogenen Gesichtspunkten gestaltete Landschaft im Hintergrund verstärkt. Sie zeigt eine Fabrik und ein Feld. Nicht nur das Volk, auch der Raum erscheint so als Operationsmasse der nationalen Planwirtschaft. 256 Unter der Abbildung ist ein Schwur des tschechischen Volkes auf den Zweijahresplan abgedruckt. Dieser inszeniert das Volk als Einheit, die „aus ganzem Herzen" den „großen Aufbauplan" zu erfüllen verspricht. Der Schwur verbindet Patriotismus mit Zukunftsgewissheit, Ehre und Gemeinschaftsgefühl. Er demonstriert Kraft und Zuversicht. Arbeit wurde auf diese Weise teleologisch aufgeladen. Eine simple Bildsprache nivellierte die Komplexität der sozialen Verhältnisse. Die Darstellung der Arbeit entsprach allein einer überhöhten, auf die Zukunft gerichteten Sollvorstellung. Zusammengefasst behaupteten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren sowohl die Legionäre als Helden als auch die Kriegsgeschädigten als Opfer ihren Status. Im Rahmen der staatlichen Erneuerung wurden jedoch beide Paradigmen tendenziell von neuen abgelöst. Die zweite Befreiung und die Bewertung des Kriegsgeschehens orientierten sich am Vorbild des Widerstandskämpfers. Dieser galt als Träger des finalen Sieges. In der Konzeption eines moralischen Sieges über den Faschismus verschmolzen Helden- und Opfermuster. Beide Muster waren stark an das Konzept eines national und sozial einheitlichen Volkes angelehnt. Die Legionäre wie die Kriegsopfer artikulierten sich in den Phrasen der volksdemokratischen Politik. Dies war dem Bemühen geschuldet, sich den neu definierten Vorbildern einzupassen.

256

Lidová demokracie, 27. 10.1947,1.

5.5 Volksdemokratische Hierarchisierung

259

5.5 Volksdemokratische Hierarchisierung: Die Verfassung vom Mai 1948 Durch die Okkupation der Tschechoslowakei und die damit verbundene Unterbrechung der Rechtskontinuität erschien es nach dem Ende von Krieg und Besatzung notwendig, eine neue Verfassung auszuarbeiten, die dem wieder konsolidierten Staat seine volle Souveränität und Legitimität zurückgab. Denn die Gültigkeit der Verfassung von 1920 war unter dem Einfluss der im Zweiten Weltkrieg in Gang gesetzten Prozesse sowie durch die Politik der Auslandsregierung teilweise überlagert worden. Dies fand seinen Ausdruck in der Institution der Präsidentendekrete, die zwar Rechtsgültigkeit besaßen, jedoch ihrer Form nach eine Zwischenlösung darstellten. Daher oblag es der im Mai 1946 gewählten Nationalversammlung, innerhalb von zwei Jahren eine Verfassung ausarbeiten, die den geänderten Rahmenbedingungen (insbesondere auch dem neu zu definierenden tschecho-slowakischen Verhältnis) Rechnung trug. 2 5 7 Nach dem Wahlsieg der kommunistischen Parteien (sie hatten im selben Jahr knapp 38 Prozent der abgegebenen Stimmen erhalten 2 5 8 ) stand das entsprechende Aufbauprogramm im Zeichen volksdemokratischer Grundsätze. Als sich schließlich das tschechoslowakische Volk zum dritten Jahrestag der Befreiung am 9. Mai 1948 eine neue Verfassung gab, geschah dies bereits nach dem Februarumsturz. In diesem Unterkapitel sollen die grundlegenden Setzungen dieser Verfassung im Lichte der Staatsbürgerschafts- und Wohlfahrtsstaatsforschung analysiert werden. Damit möchte ich klären, wie die nach der kommunistischen Machtübernahme verabschiedete Verfassung Staatsbürgerschaft im Rahmen ziviler, politischer und sozialer Rechte organisierte. Dieses Vorgehen fußt auf der Überlegung, dass die zur Erklärung kapitalistischer Regime erarbeiteten Analysekriterien auch zum Verständnis sozialistischer Wohlfahrtsregime beitragen können. Die Frage der Systemtransformation kann vordergründig als eine wirtschaftsgeschichtliche betrachtet werden. Kapitalismus und Sozialismus hatten vor allem unterschiedliche Wirtschaftsformen. Die Organisation von Staat und Gesellschaft orientierte sich jeweils an den Erfordernissen der Markt- beziehungsweise der Planwirtschaft. Eine Besonderheit des sozialistischen Systems war die staatliche Lenkung und die damit verbundenen Möglichkeiten, über die Wirtschaft soziale Prozesse grundlegend zu gestalten. Weder die soziologische Erschließung des Zusammenhangs von politischen, sozialen und zivilen Rechten durch Marshall noch die differenzierte Analyse kapitalistischer Wohlfahrtsregime von Esping-Anderson geben einen expliziten Hinweis auf die Charakteristika sozialistischer Wohlfahrtspolitik. Eine ambitionierte Refle-

257 Vgl.: N a s e doba 52, 1945/46, 337. 258 J ö r g K. Hoensch, Geschichte der Tschechoslowakei. 3. Aufl. Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 131.

260

5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

xion des Problems unternimmt Susan Zimmermann in ihrem Aufsatz „Wohlfahrtspolitik und staatssozialistische Entwicklungsstrategie in der ,anderen' Hälfte Europas". Darin interpretiert sie die Genese der sozialistischen Wohlfahrtsstaaten als einen Prozess „nachholender Entwicklung". Im Bemühen um die „Überwindung der Peripherisierung" hätten die sowjetischen Machthaber Wirtschafts- und Sozialpolitik in einer Weise aneinander gebunden, die den spezifischen Verflechtungen von regionalen, nationalen und transnationalen Faktoren entsprochen habe. 2 5 9 Die tragenden Säulen der seit den 30er Jahren in der Sowjetunion etablierten Politik waren Arbeitsrecht und Arbeitspflicht, ein dichtes Netz von Unterstützungs- und Versorgungsmaßnahmen (häufig auf der Ebene der Betriebe angesiedelt) sowie die Gestaltung von Verbraucherpreisen. 260 Zimmermann konstatiert, dieses Modell sei seit den späten 1940er Jahren auf die „Satellitenstaaten" übertragen worden. Einer eingehenden Analyse unterzieht sie die Entwicklung in Ungarn und Polen. Für den tschechoslowakischen Fall stellt sich die Frage, inwiefern die Wohlfahrtspolitik der zweiten Nachkriegszeit einer Fortführung nationaler Traditionen entsprach und inwieweit es sich um eine Kopie des sowjetischen Systems handelte. Zimmermann geht davon aus, dass die Sozialpolitik der Stalinzeit nicht im strengen Sinne sozialistischen Maximen entsprach, sondern in erster Linie den skizzierten Erfordernissen der nachholenden Entwicklung. Damit steht die Frage der Systemübertragung in einem spannungsreichen Verhältnis zwischen den lokalen Bedingungen und dem vermeintlich sozialistischen, sowjetischen beziehungsweise stalinistischen Modell. Der Text der Maiverfassung kann in wesentlichen Punkten als Ausdruck von „Sowjetisierung" verstanden werden. Die Ähnlichkeiten der tschechoslowakischen volksdemokratischen Ordnung mit dem sowjetischen Modell war dabei nicht nur ein Zeichen sozialistischer Orientierung, sondern nunmehr auch der Abhängigkeit von der Sowjetunion. Die tschechoslowakischen Kommunisten bauten bei ihrer „Revolution" vom Februar 1948 wesentlich auf die Unterstützung aus Moskau sowie auf ihre im Moskauer Exil gewonnenen Kenntnisse. Die Präambel der neuen Verfassung erklärte das Land zu einer „Volksdemokratie" auf dem „Weg zum Sozialismus": Wir, das tschechoslowakische Volk, erklären, dass wir fest entschlossen sind, unseren befreiten Staat als eine Volksdemokratie aufzubauen, die uns einen friedlichen Weg zum Sozialismus sichert. Wir sind entschlossen, mit all unseren Kräften unsere nationale und demokratische Revolution gegen jedwede Bestrebungen der einheimischen und ausländischen Reaktion zu verteidigen, wie wir [auch] wieder vor der ganzen Welt durch unser Einschreiten für die Verteidigung der volksdemokratischen Ordnung im Februar 1948 bewiesen haben. Wir schwören uns gegenseitig, dass wir für dieses große Werk gemeinsam und unsere

259 Zimmermann, 260 Ebd., 219.

Wohlfahrtspolitik, 212-215.

5.5 Volksdemokratische Hierarchisierung

261

beiden Völker Hand in Hand arbeiten und so an die fortschrittliche und humane Tradition unserer Geschichte anknüpfen werden.

Im nächsten Abschnitt werden Tschechen und Slowaken als „Brudervölker, Glieder einer großen slawischen Familie" definiert. 2 6 ' Die Grundpfeiler der nationalen Revolution bekamen hiermit Verfassungscharakter. Die volksdemokratische war ebenso wie die demokratische Verfassung von 1920 eine legitimierende Absichtserklärung, die Staat und Bürger beziehungsweise Volk definierte. Auffallig ist, dass der Text den Februarumsturz über das Wort „wieder" in die Tradition der Umwälzung von 1918 und der Mairevolution von 1945 einreiht. Der „Weg zum Sozialismus" erscheint damit als einzig mögliche Fortführung der nationalen Befreiungstradition. Diese Konstruktion macht die legitimierende Funktion des Textes überdeutlich. Die Verfassung ist damit eine die staatliche Ordnung und das Volk konstituierende Sprechhandlung, die mit einer Einengung der Sinndeutungen einherging. 2 6 2 Eindimensionale Deutungen lösten die Paradoxa ab, wie sie laut Marshall durch die Gleichzeitigkeit von bürgerlicher Gleichheit und sozialen Unterschieden in demokratischen Marktwirtschaften produziert werden. Wie organisierte nun die Maiverfassung politische, zivile und soziale Rechte und was sagt das über den Charakter der sich manifestierenden Herrschaft aus? Der Gleichheitsgrundsatz sowie das Primat der Arbeit stellten die fundamentalen Versatzstücke der Neuordnung dar. Während das universelle demokratische Gleichheitsgebot an eine zugrunde gelegte Vorstellung von Freiheit gekoppelt war, stellte der Sozialismus programmatisch die Gleichheit über die Freiheit. Dabei kam es zu einer Überbetonung sozialer, bei gleichzeitiger Einschränkung ziviler und politischer Rechte. Das Axiom der Gleichheit war so gesehen ein Ausdruck der Bekämpfung von Pluralität im Prozess der staatsrechtlichen Erneuerung. Dadurch wurde auch die individuelle Freiheit scharf begrenzt. Das Gleichheitsgebot funktionierte nicht mehr auf der Basis unterstellter Unterschiede, sondern in der Absicht, Unterschiede zu eliminieren. Staatsbürgerschaft wurde nicht länger über „Rechte und Pflichten" definiert, sondern als eine „soziale Funktion". 263 Die Bürger gehörten nicht mehr zu verschiedenen Klassen, sondern sie erschienen als arbeitendes Volk geeint. Bei der Proklamation des Stimmrechts wurde das Gleichheitsgebot des Vorläufertextes nicht wiederholt. Es hieß lediglich, dieses Recht sei „allgemein und gleich" (Artikel 4). 2 6 4 Dass hier das Stimmrecht eben nicht zu einem universellen Bürgerrecht erklärt wird, weist auf dessen Abwertung. Die Ausführungsbestimmungen zur Verfassung im Kapitel „Rechte und Pflichten der Bürger" erklärten die Gleichheit folgendermaßen: „Alle Bürger sind vor dem Gesetz

261

Kopecky (Hrsg.), Ostava 9. kvëtna, 17. 262 f r e v e n . Neue Politikgeschichte. Konzepte, 16. 2 « NaSe doba 52, 1945/46, 340. 264 Kopecky (Hrsg.), Ústava 9. kvëtna, 22.

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

gleich." Der zweite Absatz führte aus: „ M ä n n e r und Frauen haben die gleiche Stellung in der Familie und in der Gesellschaft und den gleichen Z u g a n g zur Bildung und zu allen Berufen, Ämtern und Würden." 2 6 5 Bei der Durchsetzung des Arbeitsgebots k a m der „Verteilung des Familienlohns auf zwei Arbeitskräfte" allgemein eine wesentliche Funktion zu. Insbesondere durch die „Verbetrieblichung" der Sozialleistungen konnte im Sozialismus ein grundlegend anderes Verhältnis zwischen Sozialpolitik und Erwerbsarbeit begründet werden als in den Marktwirtschaften. Sozialpolitik wurde im Staatssozialismus zu einem probaten materiellen Druckmittel. 2 6 6 Die Arbeitspflicht schrieb in der Tschechoslowakei nicht erst die volksdemokratische Verfassung fest, sondern schon der Zweijahresplan von 1946. Schon die Untersuchung der Legionärs- und der Kriegsopfergesetze aus demselben Jahr verweist auf den überragenden Stellenwert des Arbeitsgebots im Prozess der staatlichen Konsolidierung. Das Arbeitsparadigma war, wie an den genannten Beispielen dargelegt, eng mit der gewaltsamen Aussiedlung der Deutschen verk n ü p f t gewesen. Im Mai 1948 wurde es j e d o c h in den Rang eines Verfassungsgrundsatzes erhoben, der sich an das sowjetische Modell anlehnte. Damit erscheint die Arbeitspflicht einerseits als eine Fortschreibung der Grundsätze des Zweijahresplans (wobei das damalige Arbeitsgebot auch in der Kontinuität der nationalsozialistischen Politik gesehen werden kann), andererseits als eine Kopie des sowjetischen Modells. Die Maiverfassung schrieb nun in Artikel 3 fest: „Die volksdemokratische Republik erkennt keine Vorrechte an. Arbeit zum Nutzen des Ganzen und die Beteiligung an der Verteidigung des Staates sind bürgerliche Pflichten." 2 6 7 Die bürgerlichen Pflichten waren eine Funktion der sozialen Gleichheit. Arbeit und Verteidigung des Staates knüpfte der Text semantisch aneinander. Sie galten als Ausweis der bürgerlichen Teilhabe am Ganzen. Das Sozialrecht (Artikel 26) legte weiterhin fest, dass „allen Bürgern das Recht auf Arbeit z u k o m m t . " Dazu gab es eine geschlechtliche Spezifizierung: „Frauen haben mit Rücksicht auf Schwangerschaft, Mutterschaft und der Sorge f ü r Kinder Anspruch auf besondere Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen". 2 6 8 Artikel 3 garantierte außerdem Chancengleichheit: „Der Staat garantiert all seinen Bürgern, Männern und Frauen, die Freiheit der Person [ . . . ] und sorgt dafür, dass alle gleiche Möglichkeiten und gleiche Chancen erhalten." 2 6 9 Der zweite Halbsatz geht deutlich über den alten Verfassungstext hinaus, indem er Chancengleichheit verspricht. Dieses Versprechen war an den Prozess der Verstaatlichung gekoppelt. Der proklamierte u m f a s s e n d e Einschluss der Frauen in die G e m e i n s c h a f t des Volkes als rechtlich und sozial

2« Ebd., 27. 266 Zimmermann, Wohlfahrtspolitik, 219-221. 267 Kopecky (Hrsg.), Ustava 9. kvëtna, 21. 2 «s Ebd., 35. Ebd., 22.

5.6 „Freiheitskämpfer" im Stalinismus

263

gleichgestellte Glieder der Gemeinschaft korrespondiert mit der Vorstellung eines paternalistischen sozialistischen Staates. Die ungarische Soziologin Zsuzsa Ferge macht die wichtige Beobachtung, dass es eine große Ähnlichkeit zwischen den kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten sozialdemokratischen Typs und den sozialistischen Wohlfahrtregimen in der Beziehung zwischen Arbeit und Wohlfahrt gab. In dieser Hinsicht lässt sich die enge Anlehnung der tschechoslowakischen Sozialpolitik der Zwischenkriegszeit an das Idealbild des Arbeiters durchaus als ein Vorläufer der mit der Arbeitspflicht verbundenen staatssozialistischen Wohlfahrtspolitik verstehen. 270 In dieser Lesart hätten wir es mit einem bruchlosen Übergang vom sozialdemokratischen zum sozialistischen Wohlfahrtsmodell zu tun. Zugleich aber stellte das volksdemokratische Regime die Staatsbürgerschaft in einen völlig neuen Legitimationszusammenhang. Die isolierte Betrachtung der Sozialpolitik hat daher nur einen begrenzten Erklärungswert. Die Grundzüge dieses neuen Legitimationszusammenhangs lassen sich abschließend folgendermaßen beschreiben: Die Verwerfung der Klassengesellschaft führte zu einer dogmatischen Orientierung der Politik am Gleichheitsgrundsatz. Der soziale und ökonomische Erneuerungsprozess war hieran eindimensional ausgerichtet. Im tschechoslowakischen wie auch im Falle zahlreicher anderer Satellitenstaaten ging dies mit einer gewaltsamen Eliminierung ethnischer Diversität einher (in der Kontinuität des Weltkrieges). Diese Variante des Gleichheitsdogmas erscheint nicht als eine Funktion der Sowjetisierung, sondern als eine Reaktion auf die nationalsozialistische Volkstums-, Transfer- und Vernichtungspolitik. Die Maiverfassung wurde am Ende dieses Prozesses ausgerufen und markierte bereits den Übergang zu einer Phase tschechoslowakischer Staatlichkeit, deren Matrix Einheit und Einheitlichkeit war.

5.6 „Freiheitskämpfer" im Stalinismus: Svaz bojovnikù za svobodu 1948 stellt wie 1938 einen elementaren Bruch in der innen- und außenpolitischen Ordnung der Tschechoslowakei dar. Man kann von da an bis zum Beginn der 1960er Jahre von einer stalinistischen Phase sprechen, in der das Sowjetsystem von der nun allein herrschenden KPTsch in vielerlei Hinsicht kopiert wurde. Das charakteristische Kennzeichen des tschechoslowakischen Stalinismus waren Säuberungen und Schauprozesse. Diese sowjetischen Instrumente der Diktatur und des Terrors, die allgemein den 1930er Jahren zugeordnet werden, entfalteten sich in den 50er Jahren in dem westlichsten Satellitenstaat noch einmal, und zwar in einem weitaus größeren Stil als etwa in Ungarn oder Polen. Nach Kaplan wurden zwischen 1948 und 1952 in dem 270

Ferge, Social Policy Regimes, 206.

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5. Nach dem Zweiten Weltkrieg

kleinen Land 4 0 0 0 0 bis 4 5 000 Bürger in politischen Prozessen zu einer Haftstrafe von durchschnittlich zehn Jahren verurteilt, 232 Todesurteile verhängt, von denen 178 vollzogen wurden, und zahlreiche weitere Menschen von den Bezirks-, Kreis- und Militärgerichten zu kürzeren Haftstrafen verurteilt. 2 7 1 In den 1960er Jahren galt das Bemühen um Aufklärung des Unrechts und um Rehabilitierung der O p f e r als Ausgangspunkt einer Erneuerung der Gesellschaft im Sinne eines tschechoslowakischen Sozialismus. Der Reformsozialismus des „Prager Frühlings" fand hierin einen frühen Ausdruck. Diese Entwicklung war mit der Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 j ä h beendet. Die in den frühen 60er Jahren in Auftrag gegebenen Berichte verschiedener von der Partei eingesetzter Kommissionen wurden dann vorerst nur im Westen veröffentlicht. Z u r Begründung f u r das Ausmaß der stalinistischen Prozesse führte der 1968 emigrierte Reformsozialist Jifí Pelikán im Vorwort eines solchen Berichts 1972 an: Die Brutalität der Repressionen in der Tschechoslowkei, der Terror, der weit schlimmer war als in den anderen osteuropäischen Ländern, erklärt sich gerade daraus, dass es hier, in einem Land mit einer starken Tradition parlamentarischer Demokratie und einer starken legalen Kommunischen Partei, besonders schwer war, das sowjetische Modell' durchzusetzen und den faktischen und potentiellen Widerstand zu brechen. 272 Pelikán bemerkte weiter, die Tschechoslowakei sei aufgrund ihrer „Struktur, Mentalität und Tradition" f u r eine Kopie des Sowjetsystems nicht geeignet gewesen. 2 7 3 Hier stoßen wir wieder auf j e n e Argumentationsfigur, mit welcher bereits Kaplan zitiert wurde, die besagt, sehr viele Tschechen und Slowaken seien in den Jahren 1945 bis 1948 zwar prosowjetisch und kommunistisch eingestellt gewesen, hätten aber keine „Sowjetisierung" angestrebt. Der gewaltsam ausgetragene K a m p f um die richtige Linie, gepaart mit der überaus stark ausgeprägten Wahnvorstellung von Spionage, Unterwanderungen und Konterrevolution, wäre demnach der Grund für das Ausmaß des Terrors in der Tschechoslowakei. In dieser Hinsicht war das Szenario tatsächlich dem der Sowjetunion in den 30er Jahren sehr ähnlich. Zugespitzt kann man sagen: Der Terror war in der Tschechoslowakei gerade deshalb so umfassend, weil es dort eine starke kommunistische Tradition gab. In dieser Lesart war der K a m p f gegen „Unterschiedlichkeiten" eine „Säuberung". 2 7 4 Dabei richteten sich die

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Karel Kaplan, „Massenungesetzlichkeit" und politische Prozesse in der Tschechoslowakei 1948 bis 1953, in: Wolfgang Maderthaner/Hans Schafranek/Berthold Unfried (Hrsg.), „Ich habe den Tod verdient". Schauprozesse und politische Verfolgung in Mittel- und Osteuropa. Wien 1991, 37-56, hier 50f. 272 Jirl Pelikán, Einleitung, in: Ders. (Hrsg.), Pervertierte Justiz. Bericht der Kommission des ZK der KPTsch über die politischen Morde und Verbrechen in der Tschechoslowakei 1949-1963. Wien 1972,13. 2 " Ebd., 12. 274 Im Kampf gegen Differenz und Unordnung zeigt sich der stalinistische Charakter, wie er in der vormals zitierten Studie Baumans dargestellt und von Baberowski und Doering-Manteuffel charakterisiert wurde.

5.6 „Freiheitskämpfer" im Stalinismus

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Prozesse nicht ausschließlich gegen Parteiangehörige. Von großer Bedeutung waren (nach den Prozessen gegen die Angehörigen der Protektoratsregierung 1946 und gegen Tiso 194 7 2 7 5 ) auch Prozesse gegen die ehemaligen Bündnisparteien der Volksfrontregierung. Der größte davon richtete sich gegen führende Sozialdemokraten mit Milada Horáková als Hauptangeklagter (1950). 276 Die Schauprozesse dienten zum einen zur Bekämpfung von vermuteten oder tatsächlichen Gegnern. Zum anderen waren sie ein Herrschaftsinstrument, welches auf eine Einbindung des nunmehr stummen Volkes in die stalinistische Gemeinschaft zielte. In Bratislava wurden 1963 erstmals die „Verbotenen Reportagen" von Ladislav Mftacko veröffentlicht. Seine anrührenden Darstellungen von Opfern des stalinistischen Terrors trafen auf ein überaus reges Interesse der Leser. Die erste Reportage schildert das Schicksal eines slowakischen Partisanen, der nach Erfrierungen an den Zehen nur noch an Stöcken laufen konnte und in der Ausübung eines Parteiamts, zu dem man ihn „überredet" hatte, später „irrtümlich" konterrevolutionärer Machenschaften beschuldigt und monatelang unter üblen Bedingungen gefangen gehalten wurde. Von seinen Genossen war er nach dem Krieg mit folgenden Worten an die Parteiarbeit gerufen worden: „Du, Kommandant, Held, Kommunist, ruhe nicht auf Lorbeeren aus, Ärmel hoch, Arbeit gibt es schrecklich viel, und auch zu kämpfen gibt es schrecklich viel, und wer soll denn den Kampf zu Ende führen, wenn nicht Du und Deine Genossen?" 2 7 7 Wie in diesem essayistischen Beitrag wurden die Kämpfer des „zweiten Widerstandes" nach dem Krieg auf eine Weiterfuhrung ihrer Aufgabe eingeschworen. Oft waren es genau jene Kämpfer, die wie der beschriebene Partisan nach 1948 Opfer des Terrors wurden, denn sie galten als potenzielle Feinde. Diejenigen, die am „nationalen B e f r e i u n g s k a m p f teilgenommen hatten, stellten nämlich das Bild der Sowjettruppen als alleinige Befreier Osteuropas in Frage und wurden der Gegnerschaft zum Regime verdächtigt. 278 Zu der besonderen Situation dieser Gruppe bemerkte Pelikán, auf seine Gespräche mit dem aus der Haft entlassenen früheren Außenminister Arthur London Bezug nehmend: [I]ch habe ihn und mich viele Male gefragt, wie es möglich war, dass Menschen, die die Härte des Kampfes gewohnt waren und den Foltern der Gestapo getrotzt hatten, gebrochen wurden und fiktive Verbrechen gestanden. In den Gesprächen mit London und später mit anderen Opfern ist mir klar geworden, dass die geistigen Martern, denen sie ausgesetzt waren, nicht minder grausam waren als die physischen Folterungen. Während sie in der Gestapohaft gewusst hatten, daß sie sich in der Hand des Feindes befanden und für ihre Überzeugungen litten, wurden sie hier verhört, gedemütigt, geschlagen und

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Kare! Kaplan, Die politischen Prozesse in der Tschechoslowakei, 1 9 4 8 - 1 9 5 4 . München 1986, 1 6 - 2 7 . Ebd., 1 2 9 - 1 3 5 . 277 Ladislav Mñacko, Der Rote Foltergarten. Verbotene Reportagen. Köln 1963, 26. 278 Pelikán, Einleitung, 16; Kaplan, Die politischen Prozesse, 115. 276

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mißhandelt von Angehörigen ihrer eigenen Partei, die sich zur selben Ideologie bekannten, ja im Namen dieser Ideologie des Sozialismus und des Kommunismus, der sie ihr Leben geweiht hatten. 279

Die Schauprozesse folgten einer peniblen Regie: Die Geständnisse waren eingeübt, die Stellungnahmen der Anwälte und Richter wie auch die Urteile vorab mit der Partei abgesprochen, Probeaufnahmen bekam Gottwald persönlich auf der Burg präsentiert. 2 8 0 Das „Theater", welches Fucik vorgab mit der Gestapo gespielt zu haben, solches Theater spielte nun das Politbüro mit hochrangigen Parteimitgliedern und ehemaligen Widerstandskämpfern. Im Gegensatz zur nationalsozialistischen Weltanschauung, welcher die Tschechen und Slowaken niemals massenhaft erlegen waren, grub sich so diejenige der herrschenden Kommunisten tief in die Köpfe der Bevölkerung ein. Sie war - wie Pelikan für die Prozessopfer darlegte - ihre eigene. Die Bevölkerung wusste damals nicht, wie die Geständnisse erpresst worden waren, selbst wenn ein Teil es sicher ahnte. Vermutlich glaubten viele Menschen den Anschuldigungen wie auch insbesondere den Geständnissen, selbst wenn sie die Opfer kannten. Dennoch oder gerade deshalb musste die Bevölkerung die Schauprozesse als einen Ausdruck von kompromissloser Machtentfaltung erfahren, da sie in der Beschwörung einer Gefahr - im Sinne der „Verschärfung der Klassengegensätze" - und in der Rolle des Zuschauers selbst mit in die Szene hineingezogen wurden. 281 Der Kampf war in der Inszenierung der Machthaber so umfassend, dass sich ihm niemand entziehen konnte. Es war gerade jene Mischung aus Terror und Indoktrination, welche den Charakter des tschechoslowakischen Stalinismus ausmachte. Plakativ macht dies die Grußadresse Klement Gottwalds zum vierten Jahrestag des Slowakischen Aufstands deutlich. Darin wurde der Sieg über „die faschistische Reaktion" gefeiert und zugleich vor einer neuen „Reaktion" gewarnt, die „weiterhin versuchen wird, den Aufbau unserer Heimat zu stören, Unfrieden zu verbreiten und die verlorene Position wiederzuerlangen". In diesem Sinne grüßte der Präsident „alle antifaschistischen Freiheitskämpfer". 2 8 2 Diese freilich hatten die potenziellen „Reaktionäre" in ihren eigenen Reihen. Der Verteidigungsminister Svoboda, ein Legionär des Ersten Weltkrieges und im Zweiten Weltkrieg Kommandant der im Verbund mit der Roten Armee kämpfenden Svoboda-Armee, feiert in einer Ansprache 1948 noch „den Sieg der Mai- und Februarrevolution", dank deren „alle Postulate erreicht [sind], für die wir im Ersten und im Zweiten Weltkrieg gekämpft haben". 2 8 3 Zwei Jahre später trat er von seinem Amt zurück. Vier Jahre später wurde er für einige Wochen inhaftiert. Der sowjetischen Militärführung schien er nicht vertrauens-

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Pelikán, Einleitung, 21. 80 Ebd., 23 f. 281 Kaplan, „Massenungesetzlichkeit", 37f. 282 Svobodné slovo, 29. 8. 1948, 1. 2" Ebd., 3. 2

5.6 „Freiheitskämpfer" im Stalinismus

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würdig, weil er weiterhin Kontakt zu Legionären pflegte. 284 Dass er in seinem Amt die Legionärstradition verschwieg, 285 genügte nicht, um seine Vergangenheit weniger verdächtig zu machen. So stellt Svoboda ein gutes Bindeglied zum Svaz bojovniku za svobodu dar. Wie bereits erwähnt, wurde 1948 die Einreihung der Legionärsverbände in diesen Zusammenschluss der Kämpfer des „ersten und zweiten Widerstandes" vollzogen. Gründungsvorsitzender war Jan Vodicka, ein tschechoslowakischer Rotarmist des Ersten Weltkrieges. Zum vierten Jahrestag des Slowakischen Aufstands schlossen sich außerdem in Kosice Legionäre und andere Freiheitskämpfer feierlich zum (slowakischen) Sväz l'udovych protifasistickych bojovnikov (Bund der Volksfreiheitskämpfer) zusammen. 2 8 6 Mit dieser institutionellen Neuformierung ging eine strikte Abkehr von der Legionärstradition einher, die völlig im Einklang mit der neuen offiziellen Linie stand. 287 Zudem kam es seit 1949 zur schrittweisen Vereinheitlichung der Arbeit des tschechischen und des slowakischen Verbandes. 288 Wenn also schon die Geschichte der Gründung der erwähnten Verbände eine tief greifende Zäsur der Weltkriegsdeutungen und der damit korrespondierenden Vorbilder darstellte, so soll nun abschließend das Bild des Widerstandskämpfers im Stalinismus anhand der ersten Jahrgänge ihrer jeweils 1948 gegründeten Zeitschriften Hlas revoluce (Die Stimme der Revolution, Prag) und Bojovnik (Der Kämpfer, Bratislava) nachgezeichnet werden. 289 Im Gegensatz zu den bisher analysierten Periodika ließen diese Zeitschriften in den ersten Jahren ihres Bestehens keinen eigenständigen Standpunkt und keinen Willen zur Vertretung der spezifischen Interessen ihrer Klientel erkennen. Dies drückte sich in einer stark verklausulierten Sprache aus, die in vielen Fällen die bloße Wiederholung offizieller Ideologeme war. In diesem sprachlich-ideologischen Korsett ließ sich ein Sonderstatus kaum behaupten. Die Widerstandskämpfer sprachen daher in ihren Organen selten über sich oder für sich. Vielmehr erscheint jeder Gegenstand bis zur Unkenntlichkeit abstrahiert und auf Linie gebracht. In der Aneinanderreihung von erstem und zweitem Widerstand galten nun beide Bewegungen als Schritte auf dem Weg zur „Februarrevolution" und im Sinne des historischen Materialismus als notwendige Vorstufe zum Sozialismus. Hlas revoluce titelte am 28. Oktober 1949 „1917 - 1918 - 1945 - 1949". Es wurde erklärt, dass der Ausgangspunkt der Entwicklung des tschechoslowakischen Volkes die (russische) Oktoberrevolution gewesen sei. Die Legion des Ersten Weltkrieges hätte nur „inmitten des russischen Volks" entstehen können. „Die Jahre 1918-1945" bildeten mithin einen Übergang zur „schlussendlichen Befreiung der Tschechoslowakei aus der 2

85 Galandauer, 2. 7. 1917, 147. 286 Bojovnik 1, 1948, Nr. 21, 3. 287 Ebd., 142. 288 Hlas revoluce 2, 1949, Nr. 13, 1; 5, 1952, Nr. 7, 1. 28« Von Bojovnik konnte aus technischen Gründen nur der erste Jahrgang eingesehen werden.

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Abhängigkeit von den westlichen Imperialisten, die mit dem Faschismus und Nazismus verbunden" seien. Daran habe das Volk seit der Staatsgründung 1918 „weiter gearbeitet". Das Nationalisierungsdekret vom 28. Oktober 1945 habe „einen großen Schritt vorwärts" bedeutet und nun gelte es, „weitere Aufbauarbeit" zu leisten. Der Artikel endet mit einem Ruhmesgruß auf die Erkämpfer der Republik (von 1918) und auf S t a l i n . ^ Das neue Schlüsselwort in der Konzeption des fortschreitenden Kampfes war „weiter", anstelle des „Wieder", welches für die Kontinuitätskonzeption von Benes charakteristisch war. Vorbild und Lehrmeisterin war in dieser auf die historische Notwendigkeit konzentrierten Konzeption zwingend die Sowjetunion. Dies war das Denkmuster, in welches jede Äußerung über die „Helden" des Ersten und Zweiten Weltkrieges eingebettet sein musste. So hieß es nun zum Beispiel im Bojovnik über den Slowakischen Aufstand: Wer führte und organisierte das slowakische Volk in der ruhmreichsten Epoche seiner Geschichte? [ . . . ] Auf diese Frage gibt es nur eine einzige Antwort: Das war die Kommunistische Partei, welche die einzige organisierte sittliche Kraft wurde, die sich der faschistischen Brutalität entgegensetzte [ . . . ] und es war die Idee und das Vorbild des heldenhaften sowjetischen Volkes [ . . . ] . Jede andere Antwort ist unwahr und lächerlich. 291

Die Leser eines derart doktrinären Textes lernten schnell, dass nicht mehr gelten konnte, was noch kurz zuvor als richtig erachtet wurde, weil eine neue Zeit angebrochen war, die ihre eigenen Wahrheiten mit Suggestion und Gewalt durchsetzte. Es macht den Eindruck, als kommuniziere hier nicht mehr ein Interessenverband mit dem Staat oder der Öffentlichkeit, sondern als würden die Funktionäre den Verbandsmitgliedern auf diesem Wege die neuen Wahrheiten zum Auswendiglernen diktieren, diese vielleicht sogar warnen. Die Akteure waren nun nicht mehr der Staat und das Volk, sondern das Volk und die Reaktion. 292 Volk und Staat gerieten zu einer von innen und außen bedrohten Einheit. Als „Helden" galten nur noch die Angehörigen der Roten Armee. Tschechische und slowakische Widerstandskämpfer und Partisanen konnten nunmehr allein in einer unterstützenden Rolle Anerkennung finden. Die konkreten Interessen der Widerstandskämpfer wurden - wenn überhaupt - nur noch auf dem Feld der Sozialpolitik thematisiert. Was die soziale Unterstützung von Kriegsopfern betraf, blieb das Gesetz von 1946 in Kraft. Da nun in der „Entwicklung zum Sozialismus" der Staat die Sozialpolitik monopolisierte, habe diese laut Hlas revoluce eine enorme politische Bedeutung. Es sei unbedingt nötig, dass sich alle Sozialreferenten des Svaz diese Bedeutung bewusst machten. Erst nach dieser Ermahnung informierte man über die Be-

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Hlas revoluce 2,1949, Nr. 43,1 ; zur Verdrehung des Legionärsmythos vgl. auch: Hlas revoluce 1, 1948, Nr. 5, 1 ; Nr. 9, 1 ; Nr. 23, 1 ; 3, 1950, Nr. 4, 1, 3, 8. ζ»· Bojovnik 1, 1948, Nr. 20, 3. 292 Vgl. auch: Hlas revoluce 2, 1949, Nr. 8, 1.

5.6 „Freiheitskämpfer" im Stalinismus

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ratungstätigkeit des Verbandes. 293 Der Verweis auf ein steigendes Versorgungsniveau wurde oft mit der Erinnerung an die Not des Krieges eingeleitet. Dass sich „die Situation gebessert" habe, sprach allein schon fur das Regime. 2 9 4 In dieser Hinsicht geißelte Hlas revoluce auch die kapitalistischen Länder, in denen die alten Eliten herrschten und das Los der Widerstandskämpfer den Gesetzen des Marktes unterworfen werde. 2 9 5 Ein Artikel vom Januar 1952 ermahnte seine Leser, man dürfe sich auch angesichts der besseren Zeiten nicht der Sorglosigkeit hingeben, denn die „amerikanischen Imperialisten" bedrohten die Errungenschaften des tschechoslowakischen Volkes. 296 Der zum Jahresbeginn erschienene Artikel verwies in den ersten Sätzen darauf, dass es mehr Geschenke unter dem Weihnachtsbaum gegeben habe. Fast wird der Eindruck erweckt, die „Imperialisten" wollten diese stehlen. Auffällig ist, dass die stalinistischen Prozesse sowie der Terror auch gegen ehemalige Legionäre in Hlas revoluce nicht direkt erörtert wurden. Das Blatt schrieb noch nicht einmal verfälschend über das, was seine Leser tatsächlich interessieren musste. So lässt sich nur in dem wenigen, was überhaupt auf die Prozesse hinweist, etwas von dem Dilemma ablesen, in welchem sich der Bund der Freiheitskämpfer befand. Kurz vor dem Februar 1948 verurteilte ein Artikel unter der Überschrift „Kämpfer und Kämpfer" die Aktivisten der Zweiten Republik hart. Sie seien bereit gewesen, mit „den Deutschen" zusammenzuarbeiten, und sollten daher keinesfalls den Status von Widerstandskämpfern genießen. 2 9 7 Schon hier ist ein Ausgrenzungsmuster benannt, das sich jedoch noch im Stil der ersten Nachkriegsjahre gegen die „Helfershelfer" der Nationalsozialisten wendete. Seit dem Februar 1948 behauptete das Blatt immer wieder, die Widerstandskämpfer wären im Ersten und Zweiten Weltkrieg für die Februarrevolution ins Feld gezogen und hätten im September 1938 an der Seite der Roten Armee gegen das Münchner Abkommen kämpfen wollen. 2 9 8 Nun diente der Hinweis auf das München Abkommen zur Verknüpfung von Antifaschismus und Sowjetisierung. Das Feindbild konnte in dieser Logik um alle erweitert werden, die im Verdacht standen, der neuen Linie nicht richtig zu folgen. Auf dem Höhepunkt der Schauprozesse erklärte ein zweiseitiger Artikel in Hlas revoluce das Prinzip der „revolutionären Wachsamkeit". Es wurde beschworen, dass es um alles gehe, wofür man gekämpft habe. Die Bemerkung, der Verband der Freiheitskämpfer habe angesichts der Bedrohung besondere Aufgabe zu erfüllen, kündigte implizit Säuberungen im Verband an. Darauf deutet auch der Hinweis, dass alle Widerstandskämpfer, also auch die „bürger2« Hlas 294 Hlas 295 Hlas » Hlas 297 Hlas 298 Hlas

revoluce revoluce revoluce revoluce revoluce revoluce

2, 1949, Nr. 2, 1949, Nr. 2, 1949, Nr. 5, 1952, Nr. 1, 1948, Nr. 1, 1948, Nr.

2, 6. 12, 1. 16, 3. 1, 1. 1, 1, 3. 15, 1 ; Nr. 23, 1 ; 3, 1950, Nr. 1, 1 f.

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liehen", in dem Verband organisiert seien. In diesem Zusammenhang war von Agenten des Kapitalismus, Spionen und anderen elementaren Gefahren für die Republik die Rede. 2 9 9 Einige Wochen später wurden die Verbandsmitglieder aufgefordert, sich um neue Mitgliedsausweise zu bemühen. 3 0 0 Es ist anzunehmen, dass diese nicht jedem ausgehändigt wurden. Vermutlich ist zudem eine gewisse Zahl der Mitglieder dieser Aufforderung nicht nachgekommen. In den folgenden Jahren mehrten sich die Aufrufe zur Selbstkritik. Ein Problem stellte offenbar die Inaktivität zahlreicher Mitglieder dar, die den Demonstrations- und Versammlungsaufrufen nicht folgten. Der Vorsitzende des Verbandes beschrieb, wie dieser „Fehler" in Zukunft vermieden werden sollte: „Freilich reicht es nicht, die Sowjetunion zu lieben. Man muss von ihr lernen und die erlangten Erfahrungen in unserer täglichen Arbeit und Tätigkeit für unser Volk und unsere Republik zur Geltung bringen." 301 Angesichts von Bedrohungsszenarien und Säuberungen war eine passive Haltung nicht mehr möglich. Aktivität aber konnte nur in der Nachahmung des sowjetischen Vorbilds vollzogen werden. Es gab kein Zurück. Die Vergangenheit war nun eine Vorstufe der Gegenwart, welche zwingend vorwärts schritt. Nationale Deutungsmuster hatten darin ebenso wenig Platz wie Angehörige des „bürgerlichen" Widerstandes, Legionäre des Ersten Weltkrieges und die jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. 3 0 2 Wenn, wie ausgeführt, die konkreten Erfahrungen und Interessen der Freiheitskämpfer allenfalls im Bekenntnis zur paternalistischen Sozialpolitik artikuliert werden konnten, so galt als das übergeordnete ideelle Interesse der Widerstandskämpfer die Wahrung des Friedens. Im Zuge des Kalten Krieges berichteten die Medien zusehends von internationalen Ereignissen. Insbesondere der Koreakrieg galt als Beweis dafür, dass von den USA und ihren Bündnispartnern eine große Bedrohung ausging. Der „Kampf gegen den Imperialismus" stellte zugleich eine Abstraktion der eigenen Situation und eine Abkehr von allem dar, was mit der Vergangenheit in Verbindung stand. Dabei wurden „die Amerikaner" immer wieder als die neuen Faschisten angesprochen. 3 0 3 Dies wertete die Rolle der Sowjetunion als Befreierin, Vorbild und Schutzmacht auf. Der vorgebliche Kampf um den Erhalt des Weltfriedens bekam so eine aggressive Note. Das drückte sich exemplarisch in der Parallelisierung von Zweitem Weltkrieg und Kaltem Krieg aus, durch welche besonders die Freiheitskämpfer mobilisiert werden sollten. Für deren Verband ging der Kalte Krieg mit der Einübung einer neuen Formel einher. Diese

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Hlas revoluce 3, 1950, Nr. 13, 6f. 30» Hlas revoluce 3, 1950, Nr. 22, 1. 301 Hlas revoluce 5, 1952, Nr. 2, 1, 3, Zitat 3. 302 Vgl. z.B. die Artikel über eine Friedensdemonstration in Auschwitz und über die „Kleine Festung" in Theresienstadt: Hlas revoluce 5, 1952, Nr. 6, 1; Nr. 10, 5; 4, 1951, Nr. 15, 11. 303 Hlas revoluce 5, 1952, Nr. 1, 1; Nr. 6, 1; Nr. 10, 9; Nr. 11, 1.

5.6 „Freiheitskämpfer" im Stalinismus

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lautete: Wie im Zweiten Weltkrieg f ü r die B e f r e i u n g , so w ü r d e n sie heute f ü r den A u f b a u des Sozialismus k ä m p f e n . Der K a m p f w a r also nicht vorbei. G e n a u das beteuerte der Verbandsvorstand z u m Beispiel in einem Brief an G o t t w a l d , der mit f o l g e n d e m Schwur endete: Wir schwören Ihnen, teurer Genösse Präsident, dass wir in dem gerechten Kampf für den Erhalt des Weltfriedens und für den Aufbau des Sozialismus in unserer Heimat nicht an Kraft sparen werden. Genauso wie wir die ersten im Kampf gegen den Faschismus waren, wollen wir die ersten im Kampf für den Frieden und den Sozialismus sein, der von der heldenhaften Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei geführt wird, die an der erstarkenden friedensliebenden antiimperialistischen und antifaschistischen Front steht und sich dabei auf die unüberwindbare Sowjetunion und den geliebten Führer und Freund aller arbeitenden Menschen auf der ganzen Welt, den Generalissismus J. V Stalin, stützt.3°4 D u r c h B e s c h w ö r u n g , Verängstigung und G l o r i f i z i e r u n g w u r d e so die „ S o w j e t i s i e r u n g " verinnerlicht. Für die „ F r e i h e i t s k ä m p f e r " k a m dies einer Ausschaltung eigenständiger Vergangenheitskonzepte gleich. D a s in den ersten N a c h k r i e g s j a h r e n national und moralisch b e g r ü n d e t e A u s s c h l u s s p r i n z i p w u r d e in einen neuen Krieg der Systeme eingepasst und somit weiter radikalisiert. Den K a m p f gegen vermeintliche und tatsächliche G e g n e r f ü h r t e das neue R e g i m e mit stalinistischen M e t h o d e n und B e g r ü n d u n g s m u s t e r n , teils absichtlich f ü r alle sichtbar. Dabei prägte A n g s t die öffentlichen Verlautbarungen: Angst vor den „Feinden"; bei den F r e i h e i t s k ä m p f e r n aber implizit auch die Angst, selbst d e m n ä c h s t als Feind zu gelten.

Hlas revoluce 5, 1952, Nr. 11, 1.

Schlussfolgerungen Die vorliegende Studie befasst sich mit der Funktion von Sozialpolitik im Prozess der Staatsgründung und mit der Bedeutung der Weltkriege für den nationalstaatlichen Institutionalisierungsprozess in der Tschechoslowakei. Der Untersuchungszeitraum umfasst die Jahre 1918 bis 1948, mit einem kurzen Ausblick auf den „Stalinismus". Sie stellt die wesentlichen Institutionen und Gründungsmotive des tschechoslowakischen Staates sowie die Relevanz von symbolischen Repräsentationen des Krieges in der Sozialpolitik anhand einer Analyse von Helden- und Opfertopoi dar. Die Untersuchung liefert wesentliche neue Erkenntnisse über die Sozialpolitik der Tschechoslowakei in den Jahren 1918 bis 1948. Dieses bislang kaum bearbeitete Forschungsthema verweist auf einen zentralen Aspekt staatspolitischer Legitimation. Es konnte gezeigt werden, dass Sozialpolitik sowohl nach dem Ersten als auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine tragende Säule in der Organisation des Staates wie in der Ausrichtung der Nachkriegspolitik bildete. Die Staatsgründung von 1918 schloss institutionell an die österreichischen und ungarischen Traditionen an. Dies gilt für Teile des Rechts wie auch für die öffentlichen und privaten Träger sozialer Wohlfahrt. Bei der Übernahme der alten Institutionen gaben die neuen Machthaber diesen nationalstaatliche Bedeutung. Die Sozialpolitik der Zwischenkriegszeit verschmolz zwei Konzeptionen: den überkommenen Staatspaternalismus und die demokratische Idee der sozialen Gerechtigkeit. Durch die Verzahnung dieser Elemente war die sozialpolitische Macht des Staates eine wesentliche Funktion von Herrschaft. Die Legitimität der neu etablierten Organe wurde in den staatlichen Institutionen und in den Interessenverbänden an ihrem Vermögen gemessen, materielle Not von den Bürgern abzuwenden. Gerade in dieser Hinsicht trat die Tschechoslowakische Republik das Erbe der Monarchie an. Damit war nicht zwangsläufig verbunden, dass die Bürger den neuen Staat in seiner nationalen und demokratischen Begründung anerkannten. Vielmehr konnte die Legitimität des Staates angezweifelt werden, wenn es ihm nicht mehr gelang, seine Bürger sozialpolitisch angemessen zu versorgen. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm die Bedeutung von Sozialpolitik weiter zu. Nach wie vor speiste sie sich aus einem ausgeprägten Staatspaternalismus und der Idee der sozialen Gerechtigkeit. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg wurde jedoch die Gemeinschaft der Bürger jetzt als eine national homogene Gemeinschaft definiert. Sozialpolitik diente daher nach dem Zweiten Weltkrieg explizit als Ausschlusselement gegenüber „Fremden" und „Feinden". Die Politik der zweiten Nachkriegszeit war eine radikalisierte Fortschreibung alter Muster. Die entsprechenden Deutungen und Topoi erwiesen sich als national begründet. Zwar folgten grundlegende Elemente der Nachkriegspolitik sowjetischen Vorbildern, zu nennen wären die Nationalisierung von Schlüsselindustrien, die

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Schlussfolgerungen

Bodenreform und das umfassende Arbeitsgebot, dennoch ist der These einer frühzeitigen Sowjetisierung der Tschechoslowakei zu widersprechen, da die tschechoslowakische Politik der Jahre 1945 bis 1947 in einem nationalen Rahmen verhandelt und durchgesetzt wurde. Erst mit der Machtübernahme durch die kommunistische Partei im Februar 1948 kann von einer unmittelbaren Beeinflussung durch die Sowjetunion gesprochen werden. Sozialpolitik diente in ihrer nationalen Ausrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg als ein Instrument des Einschlusses der Bürger in das nationale Arbeitskollektiv und des Ausschlusses all jener, die hierzu nicht mehr gezählt wurden. Enteignung und Nationalisierung waren Instrumente der Umverteilung. Die Güter der Personen, die nun national und sozial als Fremde galten, wurde zu nationalem Eigentum erklärt. Sie gehörten jetzt dem tschechischen und slowakischen (oder dem slawischen) Volk, das als eine monolithische soziale und nationale Einheit dargestellt wurde. Das Arbeitsgebot war die grundlegende Maxime der Wirtschafts- und Sozialpolitik der zweiten Nachkriegszeit. Durch Arbeit wurde das Volk in der Konzeption der Volksdemokraten zu einer sozialen Gemeinschaft. Die Weltkriege spielten für die Entwicklung der staatlichen Institutionen im Allgemeinen und die Begründung von Sozialpolitik im Besonderen eine große Rolle. Staatsgründung, staatliche Konsolidierung und Krieg waren am Ende des Ersten und des Zweiten Weltkrieges symbolpolitisch eng miteinander verbunden. Dabei boten die Weltkriege jeweils die Kulisse eines Befreiungskampfes. Die Art der Verwicklung des Einzelnen in die Kriegshandlungen wurde hinter der Folie der Gründungsmythen tendenziell unsichtbar. Die Gründung und die Konsolidierung des Staates vollzogen sich jeweils im Kontext großer ökonomischer Probleme und sozialer Umwälzungen. Die Formulierung des Staatsbürgerstatus sowie der paradigmatischen Vorbilder erfolgte in Auseinandersetzung mit dem Krieg als Ort der Befreiung und als Ursache für das soziale Elend. In der Deutung der Weltkriege vermittelten sich so soziale Positionen über symbolische Instanzen. Die Studie weist nach, wie während und nach beiden Weltkriegen durch spezifische Deutungen des Geschehens die Tschechoslowakei zur Kriegspartei gemacht wurde. Dies ging einher mit der Konstruktion nationaler Vorbilder, an denen sich auch die Opferpolitik ausrichtete. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde mit der Figur des heimkehrenden Soldaten eine Kontinuität zwischen der zurückgelassenen Heimat und der im Oktober 1918 errichteten Republik suggeriert. In diesem Bild verschwammen die Unterschiede des militärischen Engagements der heimkehrenden Soldaten. Die Legionäre galten als Vorkämpfer der Republik und damit als Vorbild. Dies prägte auch die Ausgestaltung der Sozialpolitik. Für Legionäre gab es andere und bessere Vergünstigungen und soziale Leistungen als für andere Veteranen. Die Angehörigen der Habsburgerverbände hatten zwar auf der falschen Seite gekämpft, ihre Kriegsteilnahme wurde aber dennoch den nationalen Erzählmustern einzupassen ver-

Schlussfolgerungen

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sucht. Im Zweiten Weltkrieg nahm die Exilregierung in London die Mittel und Strategien der Staatsgründung im Kriege wieder auf. Analog kämpften wieder Legionäre an der Seite der Westmächte. Neben diesen Kämpfertypus traten nun Widerstandskämpfer und Partisanen. Der Slowakische sowie der Prager Aufstand wurden zum Symbol des Widerstandes und der moralischen Überlegenheit des tschechoslowakischen Volkes über die nationalsozialistischen Besatzer. Die kommunistisch geprägte Vorstellung eines heroischen antifaschistischen Kampfes ergänzte die alten Heldenbilder und löste sie teilweise ab. In der spezifischen Konstellation einer radikalisierten Wiederholung zielte die Erneuerungspolitik auf tiefgreifende Veränderungen im sozialen und ökonomischen Gefüge. Die Enteignung und die gewaltsame Aussiedlung der deutschen und magyarischen „Helfershelfer" waren ein Bestandteil des Erneuerungsprogramms. Es ging um die Etablierung einer grundlegend neuen und antifaschistischen sozial gerechten Ordnung. In der Fixierung der Erneuerungsrhetorik auf den antifaschistischen Kampf verschmolzen Helden- und Opferbilder. Antifaschistische Helden und Opfer wurden Vorbild der nationalen Gemeinschaft. Anders als nach dem Ersten Weltkrieg basierten nach dem Zweiten Weltkrieg die paradigmatischen Vorstellungen auf einem dualistischen Verständnis von Gemeinschaft. „Gut" und „Böse" waren die grundlegenden Kategorien. Sie wurden überaus stark voneinander abgegrenzt. Das tschechoslowakische Volk galt als eine moralisch überlegende Einheit. In der moralischen Überlegenheit wurde auch der Grund für den letztlichen Sieg über Faschismus und Besatzungsherrschaft gesehen. Die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft war dabei eine unbedingte. Wer nicht dazu gehörte, wurde ausgeschlossen. Abstufungen im Opfer- und Heldenstatus waren nicht länger möglich. Nach dem Staatsstreich von 1948 verschmolzen die „Widerstandskämpfer" in ihrer Außendarstellung derart mit dem Kollektiv, dass von einer Selbstdefinition als Interessengruppe kaum noch etwas zu spüren war. Die Kriegsopferpolitik der Zwischenkriegszeit war von dem Grundsatz geleitet, dass der Staat gegenüber den Opfern des Ersten Weltkrieges Verantwortung trug. Nach der Maßgabe einer modernen Sozialpolitik sollten die Kriegsinvaliden in den Arbeitsprozess eingegliedert werden. Nicht Mildtätigkeit, sondern „Hilfe zur Selbsthilfe" war die Aufgabe der staatlichen Kriegsgeschädigtenfürsorge. Deren Institutionen waren am Vorbild des Legionärs einerseits sowie des Arbeiters und Familienvaters andererseits ausgerichtet. In der Kommunikation zwischen staatlichen Rechtsinstanzen und Behörden auf der einen sowie Kriegsopferverbänden und einzelnen Kriegsopfern auf der anderen Seite wurden dabei Bedeutungen des Krieges und korrespondierende Wertigkeiten ausgehandelt. Dieses Muster der Interaktion wurde durch die Destruktion des demokratischen tschechoslowakischen Staates im September 1938 unterbrochen und konnte nach dem Kriege nicht wieder aufgenommen werden. In den Akten des Ministeriums für Sozialfürsorge finden sich nun keine Hinweise mehr auf einen Austausch zwischen staatlichen Institutionen

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Schlussfolgerungen

und Bürgern über die Helden- und Opferbilder. Die publizierten Verlautbarungen machten ebenfalls keine differenzierten Aussagen. Vielmehr sprachen staatliche Institutionen und die Verbände der Befreiungskämpfer sowie der Opfer des Ersten und Zweiten Weltkrieges scheinbar aus einem Munde. Die Tendenz zur kollektiven Verlautbarung wird in der nunmehr beliebten Form des öffentlichen Schwurs besonders deutlich. In der eindimensionalen Ausrichtung der Leitbilder konnte nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr von einem Aushandlungsprozess zwischen staatlichen Institutionen und Kriegsopfern die Rede sein. Die Verlautbarungen der Opferverbände passten sich schon vor dem Februarumsturz phraseologisch der exklusiven antifaschistischen Heldenkonstruktion ein. Dabei organisierte das Arbeitsgebot des Zweijahresplans von 1946 auch die Stellung der Kriegsgeschädigten. Der Ernährerstatus der Familienväter verlor dabei seine Bedeutung zur Legitimation des Anspruchs auf Erwerbsarbeit. Proklamiert wurde nunmehr der Wille zur Teilhabe an der Gemeinschaft des arbeitenden Volkes. Mit dem Stalinismus traten tschechoslowakische Vorbilder hinter das große Ideal der Sowjetunion zurück; zugleich verbreitete sich mit den Säuberungen und den Schauprozessen eine Atmosphäre der Angst und der totalen Vereinnahmung. Die tschechoslowakischen Deutungen der Weltkriege waren auf die Perspektive der Errichtung und Wiedererrichtung eines eigenständigen Nationalstaates und damit jeweils gegen die deutschen und ungarischen Kriegsparteien gerichtet. Dabei wurde den Tschechen und Slowaken respektive den Tschechoslowaken eine besondere, im Ersten Weltkrieg demokratische, im Zweiten Weltkrieg antifaschistische Mission zugeschrieben. Das Kriegsende bekam so einen eschatologisch aufgeladenen nationalen Sinn. Die nationalstaatliche Rhetorik nahm die Vorstellung einer staatsrechtlichen Kontinuität in Dienst und gab gleichzeitig die „tschechoslowakische" Politik der beiden Weltkriege als gegen die deutsche und ungarische Herrschaft gerichtete revolutionäre Handlungen aus. Die Entwicklung von 1945 bis 1948 reflektierte die Deutungen des Zweiten Weltkriegs im Lichte des Gründungskanons aus dem Ersten Weltkrieg. Ein besonderer Stellenwert kommt hierbei der Rolle der deutschen Minderheit in der Ersten Republik sowie dem Münchner Abkommen zu. In dieser Perspektive war die tschechoslowakische Deutung sehr spezifisch und lässt sich nicht einfach mit der anderer „ostmitteleuropäischer" Staaten vergleichen. Was den Status der Minderheiten betrifft, hielt die Politik der Zwischenkriegszeit an der Staatskonzeption des Umbruchs von 1918/19 fest. Dies tat sie, obwohl sich schnell zeigte, dass insbesondere die deutsche Minderheit darauf mit einem Gefühl der Zurücksetzung reagierte. Darin sahen die staatlichen Institutionen zwar eine Gefahr, doch waren sie nicht bereit, sich dieser Gefahr zu beugen. Insofern war die tschechoslowakische Politik gegenüber den Minderheiten insbesondere in den 30er Jahren eine staatliche Machtdemonstration. Daher stellt das Münchner Abkommen das Scharnier zwischen deutschen und tschechischen nationalhistoriographischen Deutungen

Schlussfolgerungen

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dar. Mit der Errichtung des Protektorats und des slowakischen Staates unter nationalsozialistischer Schutzmacht war die staatliche Kontinuität gebrochen. Obgleich die Londoner Exilregierung und ihre Dekrete nachträglich anerkannt wurden, muss doch davon ausgegangen werden, dass auch die Institutionen des Protektorats nicht nur die Lebensbedingungen, sondern auch die Vorstellungen der Menschen prägten. In dieser Hinsicht ist die Kontinuitätskonzeption der Exilregierung überaus ambivalent. Sie war nämlich auf die Entlegitimierung der nationalsozialistischen Herrschaft im Protektorat und der faschistischen Herrschaft in der Slowakei ausgerichtet. So eindeutig diese Herrschaft eine Unrechtsherrschaft war, hatten dennoch Tschechen und Slowaken an der Machtausübung mitgewirkt und an den staatlichen Institutionen partizipiert. Was sich im Alltag als ein kaum entwirrbares Geflecht aus opportunistischen und widerständigen Praktiken erwies, sollte nun sauber in rechtes und Unrechtes Verhalten, in Schuld und Unschuld geschieden werden. Deshalb lag es nahe, die Aufspaltung entlang der nationalen Zuschreibungen vorzunehmen. Der Sieg der Tschechen und Slowaken korrespondierte so mit dem Ausschluss der Deutschen und Ungarn aus der nationalen Gemeinschaft. Das entsprechende antideutsche Paradigma war nach dem Zweiten Weltkrieg ein anderes als in der Ersten Republik. Nach dem Ersten Weltkrieg waren die Minderheiten ein Teil des tschechoslowakischen Volkes mit Staatsbürger- und Minderheitenrechten. Im Rahmen der staatlichen Institutionen war ihr Status gerade wegen der Anlehnung der Rechtsnormen an die Paradigmen der Staatsgründung nicht immer eindeutig. Sie waren aber zur Partizipation aufgefordert. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab man ihnen die Schuld an der Besatzung und an dem Terror. Als Ergebnis eines finalen Kampfes schien der Ausschluss der Schuldtragenden aus der Gemeinschaft als die Voraussetzung für eine gerechte Nachkriegsordnung. Anhand des Konzepts der Staatsbürgerschaft konnten die differenzierten Hierarchisierungsmuster der Zwischenkriegszeit erschlossen werden. Besonders für die Analyse der paradigmatischen Vorbilder und der Definition der Opferkategorien war der Blick auf die Ambivalenzen des demokratischen Gleichheitsgebots sehr hilfreich. Marshalls Definition der Staatsbürgerschaft als Status, der auf bürgerlichen, sozialen und zivilen Rechten beruht, half auch, das Verhältnis zwischen diesen Rechten in der Zwischenkriegszeit sowie die Spezifika der Staatsbürgerschaft im Sozialismus zu bestimmen. Für die zweite Nachkriegszeit ließ sich zeigen, dass der Staatsbürgerstatus nun gänzlich in der Gewährung sozialer Rechte aufging, während politische und zivile Rechte an Bedeutung verloren. Der synchrone und diachrone Vergleich vertiefte die Analyse der tschechoslowakischen Sozialpolitik und der dort kreierten Helden- und Opferbilder. Der synchrone Vergleich der Kriegsgeschädigtenpolitik in der Tschechoslowakei mit anderen europäischen Varianten verdeutlichte die Besonderheit des tschechoslowakischen Modells. Dazu gehörte auf der administrativen Seite die

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Schlussfolgerungen

Indienstnahme staatlicher Monopole für die Eingliederung der Invaliden in die Erwerbsgemeinschaft durch die Vergabe von Kiosk- und Kinolizenzen. In der Gegenüberstellung trat die symbolische Seite der Kriegsgeschädigtenpolitik besonders deutlich hervor. Dort bildete sich auch die symbolische Relevanz des Krieges für die Nachkriegsgesellschaften ab. Für die Position der Kriegsgeschädigten in der Gesellschaft war eben nicht allein der Umfang der sozialen Leistungen, sondern auch die soziale Anerkennung ihres Opfers von besonderer Bedeutung. Grad und Form der Anerkennung entsprachen nicht der Position der jeweiligen Nation als Sieger oder Verlierer des Krieges. Vielmehr basierte die Kriegsgeschädigtenpolitik in den einzelnen Ländern wesentlich auf den sozialpolitischen Vorkriegstraditionen und auf der nachträglichen Interpretation des Kriegsgeschehens. Der Vergleich der tschechoslowakischen Kriegsopferpolitik mit anderen nationalen Varianten trug außerdem dazu bei, die Position der deutschen Kriegsgeschädigten in der Tschechoslowakei klarer zu bestimmen. In transnationaler Perspektive erschien diese als eine spezifische Ausformung der reichsdeutschen Variante. In diesem Fall waren die Deutungen des Krieges und des eigenen Leids für das Selbstbild und für die politische Orientierung der Kriegsgeschädigten entscheidender als die staatliche Politik. Der diachrone Vergleich verfolgte die Nachkriegspolitik hinsichtlich der nationalen Kontinuität. So entstand anhand der Helden- und Opferbilder wie auch der Sozialpolitik ein differenziertes Bild der zweiten Nachkriegszeit. Nicht nur die These von der frühzeitigen Sowjetisierung der Tschechoslowakei, sondern auch die Vorstellung, dass Gewalt ein Kennzeichen dieser Periode gewesen sei, erwies sich als zu kurz gegriffen. Vielmehr ließ sich zeigen, dass die Politik der Nachkriegszeit wiederum aufs Engste an die Deutungen des Zweiten Weltkrieges gebunden war. Es ging vor allem darum, einen Sieg auch der Tschechoslowaken zu behaupten. Die Konstruktion eines Kriegszustandes zwischen dem Deutschen Reich und der Tschechoslowakei fußte auf der nachträglichen Entlegitimierung des Münchner Abkommens. Der „Sieg" unterstrich den Anspruch, letztlich doch gegen die Okkupation gekämpft zu haben. Die unmittelbare Nachkriegspolitik war dezidiert national und sie war eine radikalisierte Fortsetzung der Vorkriegstraditionen. Ihr hervorstechendes Merkmal im Zuge des finalen Kampfes wurde die Ausschließung.

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Register Personenregister De Azcárate, Pablo

Kudela, Josef

54

Benes, Edvard 34, 42, 44,171,199, 207-210, 223, 231, 238, 2 4 5 f „ 248 Braxatoris, Alexander 113

Kypr, Ondfej

64,101 f., 110,139

Capek, Karel 7 1 - 7 4 Chaloupecky, Václav Czech, Ludwig 82

Masaryk, Tomás G. 34, 42, 44, 46, 50, 60, 63, 68, 7 0 - 7 4 , 76, 85,172, 238 Masaryková, Charlotte Gurrigue 73, 85 Medek, Rudolf 65, 75f. Meissner, Alfréd 82 Ñecas, Jaromír 82,165,171 Neurath, Konstantin von 224f.

Elias, Alois

202, 205

62

225

Frank, Hermann 238 Fucik, Julius 2 4 2 - 2 4 4

Leppin, Bernhard

Pfeifer, Ferdiand Gajda, Rudolf 77 Gottwald, Klement Gruber, Josef 82

76, 231, 247

Rasin, Alois

Habrman, Gustav 82 Hacha, Emil 207f., 218 Hasek, Jaroslav 9, 77 Havel, Miloä 142 Havel, Vácslav 141 Henlein, Konrad 167, 200, 205, 207 Heydrich, Reinhard 208, 224f., 226 Horáková, Milada 265 Husák, Gustav 244f. Jaksch, Wenzel Janin, Maurice

199, 204 68, 71

Kolár, Jan 113 Koltschak (Kolcak), Alexander W. 77

104f., 108

173

81

Sámal, Premysl 44 Schieszl, Josef 82, 97 Spann, Othmar 129f. Srámek, Jan 82 Stafanik, Milan 42, 71 Steidler, Frantisek 75 Svec, Josef J. 69f. Svoboda, Ludvik 246, 266f. Tiso, Jozef Vodicka, Jan

208,218,265 267

Wilson, Woodrow 43,198 Winter, Lev 82, 85,149 69f.,

Register

302

Sachregister Altersrenten 91 Anabasis s. Sibirien Antifaschismus 35, 229, 234,266,269 Antisemitismus, antijüdische Gesetze 146,203, 208f„ 214,222,224,246,250f. Appeasement 204,209 Arbeitslosigkeit, Arbeitsvermittlung 31,90, 97,143,155,160,163,165-168,187,213 Arbeitsrecht, Arbeitspflicht 212, 225, 230, 257f„ 260-262 Armee, österreichisch-ungarische 41 f., 52, 70, 80,187 Armut 14, 23,44, 52, 83, 88,90, 92,110, 125,140,163,165,175 Aufstand, slowakischer 228f., 240, 244 247,251 f., 267f. Auslandsregierung, -revolution 43f., 45f., 63, 66, 87 Aussiedlung, gewaltsame 194f., 212, 214— 219,227f., 230, 232, 234f„ 246f., 262 Benes-Dekrete s. Dekrete der Exilregierung Bevölkerungspolitik 231,233-235, 256 Bevölkerungstransfer s. Aussiedlung, gewaltsame Bittschreiben 135f., 148-153 Bodenreform (1920/21) 79 Bodenreform (1945) 212, 231f., 236 Bolschewismus, Bolschewiki 44, 53, 70, 76,198, 238 Bund der Freiheitskämpfer 241, 253, 267-269 Bund der Kriegsverletzten, Witwen und Waisen der Tschechoslowakischen Republik 99,104-109,170-174 Bürgerkrieg, russischer 64f., 69f., 76 CIAMAC

Einstellungspflicht 190,257 Elend, soziales s. Armut Erkrankungen, seelische 133f. Exilregierung (London) 30, 34, 209,213, 218, 222f„ 225f., 236,238, 245,255 Familie 58 Februarumsturz (1948) 207,241, 259, 260, 267 Frauen s. Gleichberechtigung der Geschlechter Frieden 169-172,195f„ 270 Gefallene 13, 52, 92-104,249 Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter 64, 94, 99,116,168f., 171174,254-256 Genter System 89 Gerechtigkeit 48, 51, 81, 82, 97,141,148, 165,198,200,213, 248 Gesichtsverletzungen 133 Gleichberechtigung der Geschlechter 56f„ 67,74,122,154f„ 258,262 Grabmal des Unbekannten Soldaten 76, 239 Habsburgermonarchie 16f., 25,40 - 45, 52, 87, 89, 92,190 Hauptverein der Kriegsinvaliden, Kriegswitwen und Kriegswaisen für die Slowakei 116 Hlavny spolok välecnych invalidov, válecnych vdov a sirotpre Slovensko s. Hauptverein der Kriegsinvaliden, Kriegswitwen und Kriegswaisen für die Slowakei Holocaust 12,30,214-217

108,169,171 Invaliditätsrenten

Dekommodifikation 25,175,184 Dekrete der Exilregierung 210,232f., 252, 259 Denkmalskultur 12, 75f. Doppelverdiener 155 Druzina ceskoslovenskych välecnych poskozencû s. Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter Druzina ceskoslovenskych välecnych poskodencov pre Slovensko s. Gefolgschaft tschechoslowakischen Kriegsgeschädigter Druzina ceskych invalidù ze zemi koruny svatovâclavské s. Gefolgschaft tschechoslowakischer Kriegsgeschädigter

91

Jugend der Gefolgschaft der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigten 169 Jugendfürsorge 8 5 - 8 7 Juristen 47,51 Kapitalist 139,141,143 Karpatoukraine 59 Kaschauer Programm 228-231 Kioske s. Trafiky Kinolizenzen 94,141-145 Kollaboration 208,226 Körper 14,127,197 KPTsch, Kommunisten 206, 213, 218,239, 259, 263

Sachregister Krankenversicherung 88f. Kriegsausbruch (1914) 103f„ 170 Kriegsgeschädigte 51, 52, 90,140f. - Angehörige 93,98 - Blinde 118f.,253 - Hinterbliebene 92f. - Invaliden 92f„ 94f„ 98,126,136,155, 158,176, 252f„ 256,257 - Kinder 86f„ 98,123-126,136,169,176 - Tuberkulöse 98,119-121 - Witwen 95,122-124,136, 253 Kriegsgeschädigtengesetz 9 2 - 9 8 , 2 5 0 254, 256 Kriegsgeschädigtenpolitik, international - Deutschland 129,131,137,182-186, 188

- Frankreich 182f., 185 - Großbritannien 182f., 185-188 - Österreich 137,187 - Polen 182 - Ungarn 182 Kriegsgeschädigtenrente 95f., 137f., 159, 184f„ 187, 250-254 Landesämter fur Kriegsgeschädigtenfürsorge 94,101,106,113,127,142,160, 171,188,250,253 Legion /Legionäre 13,29,41 - 44,46, 54, 66, 68 -75,97,140f., 155f., 159,174,176, 206, 209, 225, 238-242, 250, 252,270 Legionärsgesetz 77-80, 95,108,157,188, 240 Legionärsvereinigungen 34f., 77, 51, 79, 90,169f. Legionärsinvaliden 79,147,158 Lidice 226 Machtergreifung (1933) 164,193 Maffia 45 9. Mai 1945, Tag der Befreiung 239, 248, 259 Maifeierlichkeiten 248f. Minderheiten, allgemein 26,49, 56,177, 201-203 Minderheit, deutsche 59,107,110-112, 129,138,142,164,166,168,173,177-179, 190,174f„ 196,198, 200, 205, 233,234f. Minderheitenschutz, -Organisationen 39, 57, 59,111,197,199f„ 201-203 Ministerstvo národní obrany s. Verteidigungsministerium Ministerium für Sozialfürsorge 31, 33, 81-85,93, 99,159,250 Ministerstvo sociàlnipéce s. Ministerium für Sozialfürsorge Mládez druíiny ceskoslovenskych válecnych poskozencu s. Jugend der

303

Gefolgschaft der tschechoslowakischen Kriegsgeschädigten Münchner Abkommen 28f., 39,193-207, 209f„ 212, 227 Nationalisierung s. Verstaatlichung Nationalitätenkongress, europäischer 203 f. Nationalsozialismus 189, 204, 208, 213218, 222-224, 234, 239, 250, 263 Not, soziale s. Armut Ohnmacht 9,108, 205 28. Oktober 1918, Oktoberumsturz 46, 50-55, 79, 85, 241 f., 267f. Österreich-Ungarn s. Habsburgermonarchie Památník národniho osvobození 75f. Památník odboje 75 Partisanen 12,229f„ 242-249, 251 f., 268 Penza s. Schlacht bei Penza Planwirtschaft 212, 257,258,262 Potsdamer Abkommen 210f. Prager Aufstand (Mai 1945) 247f„ 251 f., 255 Prager Frühling 28, 207, 264 Protektorat Böhmen und Mähren 30,196, 207-209, 216, 218,220-222, 224-228, 238f„ 250 Prothesen 98,160 Rechte, soziale 21 -26, 78, 84,163,178, 259 Resolutionen 135f. Roma 30,228 Rote Armee 71, 214, 229, 239, 248, 268f. Rundfunk 209,222 Sanatorien 120 Schmerz s. Körper Schauprozesse s. Stalinismus Schlacht bei Penza 69f. Schlacht bei Zborov 43, 70 Schulungen 98,160,163 Selbstbestimmungsrecht der Völker 198 201 Sibirien 54, 64, 68, 77,239 Slowakei 28f., 39,42, 52, 54f„ 58f„ 88, 98 f., 113-117,137,141,160,165,196, 198f„ 201, 207f„ 218, 222, 240, 261 Slowakisch 61,114,228 Sociální ústav s. Sozialinstitut Sowjetisierung 24, 28,211-213, 218,260, 264, 269, 271 Sowjetunion 206, 210, 219, 224f„ 229, 270 Sozialinstitut (Prag) 31

304

Register

Sozialversicherung, zentrale 91 Spolek invalidu ceskoslovenskych legii s. Verein der Invaliden der tschechoslowakischen Legionen Spolek zidovskych vâlecnych poskozencù a invalidu Ceskoslovenské republiky s. Verein der jüdischen Kriegsgeschädigten und Invaliden der Tschechoslowakischen Republik Staatsbürgerschaft 21-26,40,48f., 55, 57f„ 66f., 111,114,174f„ 184, 219, 261 Staatsdienst 98,153-159,240 Stalinismus 2l3f„ 219,260, 263-271 Subsiditätsprinzip 86,99 Sudentendeutsche Partei 106,167,170, 172-174,194,200,204 Svaz bojovnikû za svobodu s. Bund der Freiheitskämpfer Svaz ceskoslovenskych vâlecnych poskozencù krest'ansko-socialních s. Verband der tschechoslowakischen christlich-sozialen Kriegsgeschädigten Sväz l'udovych protifasistickych bojovnikov s. Bund der Freiheitskämpfer Svejk (Romanfigur) 9,226 Tabakmonopol 94f., 139 Trafiky 94f„ 139f„ 145-148 Tschechoslowakismus 47, 59-62,198f. Unfallversicherung 88f. Ungleichheit 56, 66f., 90,261 Ustrední sociálni pojist'ovna s. Sozialversicherung, zentrale Verband der tschechoslowakischen christlich-sozialen Kriegsgeschädigten 104

Verein der Invaliden der tschechoslowakischen Legionen 104 Verein der jüdischen Kriegsgeschädigten und Invaliden der Tschechoslowakischen Republik 99,112f. Verfassung (1920) 29, 55-59,219,232f„ 259,261 Verfassung (1948) 245, 259-263 Verstaatlichung 212,230 Verteidigungsministerium 34,156f., 159, 250 Vertreibung Aussiedlung, gewaltsame Vertrag von Pittsburgh 61,199 Vertrag von Trianon 52 Vertrag von Versailles 39,127f, 197, 202 Vlasov-Armee 248 Völkerbund 202-204 Volkstumspolitik s. Nationalsozialismus Währungsreform (November 1945) 253 Washingtoner Deklaration 50 Wehrpflicht 58, 67,184,188 Weiße s. Bürgerkrieg, russischer Widerstand 12,208f„ 219f„ 222,225f., 228, 242-249, 265,267-270 Wirtschaftspolitik 83 Zborov s. Schlacht bei Zborov Zemské úfady pro péci o válecné poskozence s. Landesämter für Kriegsgeschädigtenfürsorge Zweijahresplan (1946) s. Planwirtschaft Zweite Republik 207,269