Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts 9783205118572, 9783205778134


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Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts
 9783205118572, 9783205778134

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Böhlau

Böhlau

Karel Hruza (Hg.)

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Osterreichische Historiker 1900-1945 Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts

Böhlau Verlag Wien • Köln • Weimar

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 978-3-205-77813-4 Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von -Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf fotomechanischem oder -ähnlichem Wege, der Wiedergabe im Internet und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2008 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H. und Co. KG, Wien • Köln • Weimar http://www.boehlau.at http://www.boehlau.de Umschlaggestaltung: Michael Haderer Satz: Dan Slosar Gedruckt auf umweltfreundlichem, chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Druck: Druckmanagement s.r.o., Tschechische Republik

Inhalt

Vorwort des Herausgebers

9

Österreichische Historiker 1900-1945. Zum Stand der Forschung von Karel Hruza

13

Johann Loserth (1846-1936). Ein „Gelehrter von Weltruf in Czernowitz und Graz von Pavel Soukup

39

Emil von Ottenthai (1855-1931). Diplomatiker in der Tradition Theodor von Sickels und Julius von Fickers von Susanne Lichtmannegger

73

Anton Meli (1865-1940). „Homo styriacus" und „deutsches Vaterland" von Gernot Peter Obersteiner

97

Raimund Friedrich Kaindl (1866-1930). Geschichte und Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik von Alexander Pinwinkler

125

Alfons Dopsch (1868-1953). Die „Mannigfaltigkeit der Verhältnisse" von Thomas Buchner

155

Harold Steinacker (1875-1965). Ein Leben für „Volk und Geschichte" von Renate Spreitzer

191

Hans Pirchegger (1875-1973). „Der" Landeshistoriker von Alois Kernbauer

225

Wilhelm Bauer (1877-1953). Ein Wiener Neuzeithistoriker mit vielen Gesichtern. „Deutschland ist kein ganzes Deutschland, wenn es nicht die Donau, wenn es Wien nicht besitzt" von Martin Scheutz

247

Ludwig Bittner (1877-1945). Ein politischer Archivar von Thomas Just

283

6

Österreichische Historiker 1900-1945

Hans Hirsch (1878-1940). Historiker und Wissenschaftsorganisator zwischen Urkunden- und Volkstumsforschung von Andreas Zajic

307

Otto Stolz (1881-1957). Trotz Fleiß kein Preis? Der geknickte Marschallstab von Gerhard Siegl

419

Mathilde Uhlirz (1881-1966). Jenseits der Zunft. Prozesse der Selbstbehauptung in Leben und Wissenschaft von Anne-Katrin Kunde 461 Theodor Mayer (1883-1972). Sein Wirken vornehmlich während der Zeit des Nationalsozialismus von Helmut Maurer

493

Richard Heuberger (1884-1968). Mediävist und Althistoriker in Innsbruck von Julia Hörmann-Thurn und Taxis und Roland Steinacher

531

Paul Heigl (1887-1945). Ein politisch engagierter Bibliothekar des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und der Nationalbibliothek Wien von Christina Kästner

569

Leo Santifaller (1890-1974). Von Archiven, Domkapiteln und Biografíen von Hannes Obermair

597

Eduard Winter (1896-1982). „Eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der österreichischen Geistesgeschichte unseres Jahrhunderts ist in Österreich nahezu unbekannt" vonJiriNëmec

619

Heinz Zatschek (1901-1965). „Radikales Ordnungsdenken" und „gründliche, zielgesteuerte Forschungsarbeit" von Karel Hruza

677

Wilfried Krallert (1912-1969). Ein Geograf und Historiker im Dienst der SS von Michael Fahlbusch

793

Inhalt

7

Abkürzungsverzeichnis

837

Abbildungsnachweis

840

Personenregister

841

Autorinnen und Autoren

858

Vorwort des Herausgebers

Wie kam dieses Buch zustande? Als Student der Geschichte an der Universität Konstanz verfolgte ich aufmerksam den hauptsächlich in der Presse ausgetragenen bundesdeutschen Historikerstreit im Jahr 1986. Damals wurde einer breiten Öffentlichkeit bewusst, wie unterschiedlich Historiker und Philosophen Phänomene des 20. Jahrhunderts interpretieren und darstellen können. Zeitgeschichte, Erinnerungen und Erinnerungslücken beschäftigten in der Mitte der 1980er Jahre im Zuge der „Waldheim-Affäre" auch die österreichische Politik und Öffentlichkeit, und zwar dermaßen, dass eine Historiker-Kommission beauftragt wurde, die Vergangenheit der Einzelperson Kurt Waldheim zu erkunden. Einige Jahre später stieß ich in Zusammenhang mit meiner Dissertation zu einem mittelalterlichen Adelsgeschlecht auf bestimmte Werke Otto Brunners, die in der Forschung eine Renaissance erlebten. Gleichzeitig stellten Historiker Fragen an die Vergangenheit Brunners und nach der Zeitgebundenheit seiner Schriften während der 1930er und 1940er Jahre. Dies fand mein Interesse und folglich hatte eine These meines Rigorosums Otto Brunners Arbeiten zum Thema. Auf dem Deutschen Historikertag 1998 im Frankfurt am Main war ich leider nicht Hörer der inzwischen „berühmten" Sektion „Deutsche Historiker im Nationalsozialismus", von der aus, ähnlich wie von einer 1994 in Leipzig veranstalteten Sektion, der große wissenschaftsgeschichtliche Anstoß für deutsche Historiker ausging, sich verstärkt mit der Vergangenheit ihres eigenen Faches vornehmlich im 20. Jahrhundert zu beschäftigen. Ich hatte die Verpflichtung, an einer anderen Sektion teilnehmen zu müssen und konnte zumindest vernehmen, dass sich der kritische Blick zurück auf das eigene Fach und dessen Protagonisten in Historikerkreisen nicht uneingeschränkter Beliebtheit erfreute. Einige Jahre später lud mich der Prager Historiker Frantisek Smahel ein, an einer Tagung teilzunehmen, in der „Die deutsche Mediävistik in den böhmischen Ländern bis zum Jahr 1945" diskutiert werden sollte. Ich ging daran, zwei Historiker durch ihr Leben zu „verfolgen" und ihre Werke zu interpretieren und trug die Ergebnisse im Frühjahr 2004 in Prag vor. In den Diskussionen der Tagung wurde (erneut) deutlich, wie viele Verbindungen vor 1945 zwischen deutschböhmischen und (deutsch-) österreichischen Historikern bestanden hatten. Erstmals kam mir die Idee, über österreichische Historiker ein Buch herauszugeben, wie es Monika Glettler und Alena Miskovä mit ihren „Prager Professoren 1938-1948" (2001) in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts verwirklicht hatten. Der Untersuchungszeitraum sollte allerdings auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgeweitet und die Auswahl auf Historikerinnen und Historiker beschränkt werden. Die Teilnahme an der Tagung „Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer" im Herbst 2004 in Brünn ebenso wie

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Karel Hruza

die deutsche und österreichische wissenschaftsgeschichtliche Buchproduktion bestätigten meinen Eindruck der „Notwendigkeit" einer solchen Publikation und des Interesses daran, sodass ich sogleich mit der Ausarbeitung eines Konzepts und der Autorensuche begann. Mit einer Ausnahme war das Echo überwiegend positiv und ermutigend und das Autorenteam bald zusammengestellt. Allen Personen, die durch Anwerbung von Autorinnen und Autoren daran beteiligt waren, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Hervorzuheben ist, dass sich die Arbeitsstätten der aus Österreich, Deutschland und Tschechien stammenden Autorinnen und Autoren auf Graz, Innsbruck, Linz, St. Pölten, Wien, Basel, Prag, Brünn und Konstanz verteilen. Ein detailliertes Konzept zur Erstellung der Beiträge wurde allen Autorinnen und Autoren zugesandt, seine Beachtung aber nicht „eingeklagt", da einige Autoren auf ihre bereits existierenden Skizzen zurückgriffen. Gemäß dem Konzept sollte nicht ein Handbuch oder biografisches Lexikon österreichischer Historikerinnen und Historiker verwirklicht werden. Dazu hätten mehr zu porträtierende Personen in anders strukturierten Artikeln von einheitlicher Länge aufgenommen werden müssen, wobei zur Erlangung einer gleichförmigen Darstellung wenige Autoren von Vorteil gewesen wären. Im vorliegenden Buch haben stattdessen 19 „individuelle" Historikerinnen und Historiker „ihresgleichen" biografisch aufgearbeitet und dabei viel - oftmals noch unbeachtetes - Quellenmaterial zu Grunde gelegt und auch zitiert. Die letztendlich in den einzelnen Beiträgen erzielte Vielfalt in der Darstellung wird der eine Leser begrüßen, den anderen wird sie möglicherweise stören. Ich kann nur hoffen, dass letzterer zumindest den wissenschaftlichen Ertrag honorieren wird. Es freut mich sehr, dass von ursprünglich 26 geplanten und zugesagten Beiträgen 19 an dieser Stelle vorgestellt werden können, zumal dem Buch keine Tagung vorausging und der Schreibzwang für die Autorinnen und Autoren dadurch vermindert wurde. Fünf Autoren haben leider ihre Beiträge aufgrund von Arbeitsüberlastung nicht geliefert und zwei ihre Beiträge zurückgezogen, sodass die Biografíen Otto Brunners, Lothar Groß', Adolf Helboks, Gerhart Ladners, Oswald Redlichs, Heinrich von Srbiks und Hermann Wopfners fehlen. Ersatz konnte auch deswegen nicht besorgt werden, weil die Absagen teilweise so spät einlangten, dass eine Suche nach neuen Autorinnen und Autoren nicht mehr möglich war. Es liegt in der Natur der Sache, dass die vorliegende Historikerinnen- und Historikerauswahl subjektiv ist und auch ein bestimmtes Element des Zufälligen enthält: Für diese oder jene Person konnte kein Bearbeiter gefunden werden, während mancher Autor sein „Sujet" bereits mitbrachte, welches zu Beginn nicht auf der Liste stand. Nicht zuletzt war auch der Umfang des Buches zu bedenken. Neben den sieben oben genannten Ausfallen hätten noch einige andere Historikerinnen und Historiker ein Porträt verdient, ich nenne nur Taras Borodajkewycz, Wilhelm Erben, Ernst Klebel, Karl Lechner, Reinhold Lorenz, Oswald Menghin, Erna Patzelt, Otto Stowasser, Lucie Varga oder Ignaz Zibermayr. Trotz dieser Lücken wird doch eine große Zahl an individuellen, aber auch zusammenhängenden Lebensläufen und Schicksalen vorgeführt, gekoppelt an ebenfalls individuelle oder gemeinsame Wege in Forschung und Lehre. Insgesamt hoffe ich, dass ein verhältnismäßig repräsentativer biografischer Querschnitt österreichischer Historikerinnen und Historiker für die

Vorwort des Herausgebers

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Zeitspanne 1900-1945 entstanden ist, der, was als schönstes Ergebnis zu werten wäre, zu weiteren Arbeiten und Diskussionen anregen mag. Nachdem wegen finanzieller Engpässe ein geplanter professioneller Korrekturdurchgang entfallen musste, unterstützten mich etliche der Autorinnen und Autoren mit freundlicher Bereitschaft und ohne Verzug bei einer sprachlichen und inhaltlichen Durchsicht der Texte. Dank der Bereitschaft der Autorinnen und Autoren, bei der Fahnenkorrektur die für ein Personenregister relevanten Namen zu markieren, konnte auch jenes schnell erstellt werden. So wurde dieses Buch - weit mehr als es zunächst beabsichtigt war - zu einem angenehmen Teamwork. Dafür spreche ich allen Beteiligten meinen herzlichen Dank aus. Für trotzdem vorkommende Unzulänglichkeiten des Buches trägt allein Herausgeber die Verantwortung. Etliche Personen und Institutionen waren in das Buchprojekt eingebunden: Frantisek Smahel gab unbewusst den entscheidenden Anstoß. Alle involvierten Archivare und Bibliothekare im In- und Ausland standen mit Rat und Tat helfend zur Seite, wenn es um die Suche nach und die Einsicht in Akten ging. Die Autorinnen und Autoren haben trotz des anscheinend obligatorischen Zeitmangels in der Historikerzunft aus purem Interesse ihre Beiträge so zeitig ausgearbeitet, dass das Buchmanuskript nach fast drei Jahren Projektlaufzeit abgeschlossen werden konnte. Dagmar Giesriegl danke ich für die technische Betreuung der Fotografien, Dan Slosar für die Herstellung der Druckvorlage. Leo Fender (f), Hans Grimm, Paul Herold, Anne-Katrin Kunde, Renate Spreitzer, Martin Wihoda und meine Eltern Eva und Karel Hruza haben mir auf vielfaltige Weise geholfen. Unterstützung erfuhr ich auch durch die Österreichische Akademie der Wissenschaften in Wien. Monika Glettler, Gernot Heiss, Christina Köstner und Jiri Nemec aber haben mich in Gesprächen und mit Taten nicht nur unterstützt, sondern vor allem auch ermuntert, die Idee dieses Buches zu verwirklichen. Ihnen allen danke ich gerne aufs Herzlichste. Wien, im Juni 2008 Karel Hruza

Österreichische Historiker 1900-1945. Zum Stand der Forschung von Karel Hruza

I. „Kein europäisches Land, wenn man einmal von der Sowjetunion absieht, hatte sich nach 1945 mit einer so düsteren Vergangenheit zu beschäftigen wie Deutschland, keines hat sich jedoch, nach mancherlei unbestreitbarer Verzögerung, letzten Endes so rückhaltlos und umfassend dieser Vergangenheit gestellt wie Deutschland. Das gilt jedenfalls für die Bundesrepublik Deutschland. In Österreich, das ohne Frage auch zu den Nachfolgestaaten des ,Dritten Reiches' gehörte, versteckte man sich bis in die jüngste Zeit hinein hinter der Legende, nur das erste vom Nationalsozialismus besetzte Land gewesen zu sein."' Diese jüngst geäußerte Feststellung ist richtig und falsch zugleich. Eine so intensive und diskussionsfreudige Zeitgeschichtsforschung wie in der Bundesrepublik Deutschland, die fast flächendeckend die feinsten Verästelungen der politischen Systeme des 20. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen in allen gesellschaftlichen Bereichen analysiert, hat sich in Österreich nicht entwickelt bzw. etabliert. In den österreichischen Medien wird die Öffentlichkeit beispielsweise weniger mit der Geschichte des Dritten Reiches konfrontiert als in Deutschland2. Trotz dieser Beobachtungen und trotz mancher Unkenrufe existiert jedoch eine aktive und auch äußerst kritische österreichische Zeitgeschichtsforschung, die mit ihren Arbeiten seit Jahrzehnten hervortritt und ähnlich wie in anderen Staaten aus Anlass bestimmter Jubiläen oder Ereignisse eine Intensivierung erfuhr. Österreich ist vermutlich der einzige europäische Staat, in dem ein akademisch ausgebildeter Historiker im Lehramt Anlass zu einem Todesopfer innenpolitischer Auseinandersetzungen bot: Als publik wurde, dass der Historiker Taras Borodajkewycz mit antisemitischen und reaktionären Äußerungen vor seine Studenten und bei einer Pressekonferenz schließlich auch vor Fernsehkameras getreten war, kam es im Frühjahr 1965 zu Demonstrationen, in deren Verlauf der ehemalige Widerstandskämpfer Ernst 1

So Wolfgang SCHIEDER, Angst vor dem Vergleich. Warum die italienische Zeitgeschichtsforschung wenig europäisch ist, in: Nationale Geschichtskulturen - Bilanz, Ausstrahlung, Europabezogenheit. Beiträge des internationalen Symposions in der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, v o m 3 0 . S e p t e m b e r b i s 2 . O k t o b e r 2 0 0 4 , h g . v. H e i n z DUCHHARDT ( S t u t t g a r t 2 0 0 6 ) 1 6 9 - 1 9 3 , h i e r 178.

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Hierbei wäre aber etwa zu beachten, wie groß das österreichische Publikum entsprechender Sendungen deutscher TV-Anstalten ist.

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Karel Hruza

Kirchweger von einem rechtsradikalen Burschenschafter tätlich angegriffen wurde und kurze Zeit später seinen Verletzungen erlag. Die Äußerungen Borodajkewycz' wurden damals vom gegenwärtig amtierenden österreichischen Bundespräsidenten Heinz Fischer, der von Borodajkewycz gerichtlich verfolgt wurde, an die Öffentlichkeit gebracht und 1966 schließlich in Buchform publiziert3. Mitte der 1960er Jahre wurde - wohl erstmals nach 1945 - in breitester Form zur Diskussion gestellt, dass auch ein Historiker als Wissenschaftler mit den Denkmustern des Nationalsozialismus in Verbindung stehen und diese, noch 20 Jahre nach Kriegsende, in die universitäre Lehre einbringen konnte. Zumindest die drei österreichischen „Gedenkjahre" 1988, 1995 und 20054 - die Ergebnisse des gegenwärtigen „Gedenkjahres" 2008 sind noch nicht abzusehen - sowie die Krise um die Person Kurt Waldheims 1986 oder die gegenwärtig noch andauernde Diskussion um die Restitution von „Raubgut" waren und sind Eckdaten der Erinnerung und Aufarbeitung einer zuvor verdrängten und „unbewältigten" österreichischen Vergangenheit, zu denen Historikerinnen und Historiker verschiedener Richtungen mit Arbeiten aufwarteten, vermehrt Beachtung fanden und den öffentlichen sowie fachinternen Diskurs beschleunigten5. Ähnliches gilt auch für die österreichische Wissenschaftsgeschichte, die in Hinblick auf ihre Ressourcen quantitativ selbstverständlich nicht mit der deutschen Produktion konkurrieren kann, beständig aber mit Studien präsent ist. Das beste Zeugnis davon geben die in den Anmerkungsapparaten der Beiträge dieses Buches versammelten Literaturverweise. Dem internationalen Trend entsprechend sind unter den neueren österreichischen wissenschaftsgeschichtlichen Publikationen sowohl biografisch ausgerichtete als auch institutionengeschichtliche Arbeiten zu finden. Im Folgenden werden diese sowie jene der deutschen und tschechischen wissenschaftlichen Produktion angeführt, soweit das Thema des vorliegenden Buches berührt wird.

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4 5

Einer im Vordergrund: Taras Borodajkewycz. Eine Dokumentation, hg. v. Heinz FISCHER (Wien/ Frankfurt/M./Zürichl966). Siehe auch Gerard KASEMIR, Spätes Ende für „wissenschaftlich" vorgetragenen Rassismus. Die Borodajkewycz-Affäre 1965, in: Politische Affären und Skandale in Österreich. Von Mayerling bis Waldheim, hg. v. Michael GEHLER, Hubert SICKINGER (Thaur 1995) 486-501. 1988: 50 Jahre „Anschluss" Österreichs an das Dritte Reich; 1995: 50 Jahre Kriegsende und Befreiung; 2005: 50 Jahre Staatsvertrag. Zur österreichischen Zeitgeschichtsforschung siehe Gerhard BOTZ, „Eine neue Welt, warum nicht eine neue Geschichte?" Teil 1: Österreichische Zeitgeschichte am Ende ihres Jahrhunderts, Teil 2: Die „Goldenen Jahre der Zeitgeschichte" und ihre Schattenseiten, in: ÖZG 1/1 und 3 (1990/91) 49-76, 67-86, siehe auch DERS., Der Historiker als „Staatsfeind": Zeitgeschichte in Österreich, in: Zs. für Geschichtswissenschaft 54 (2006) 1068-1081. - Im Zuge der Provenienzforschung zu den während des NS-Regimes vermehrten Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek wurde die Geschichte der Bibliothek kritisch aufgearbeitet: Murray G. HALL, Christina KÖSTNER, „... allerlei für die Nationalbibliothek zu ergattern ..." Eine österreichische Institution in der NS-Zeit (Wien/Köln/ Weimar 2006).

Österreichische Historiker 1 9 0 0 - 1 9 4 5

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II. Im Jahr 2 0 0 6 haben Doris A. Corradini und Fritz Fellner ein „biographisch-bibliographisches Lexikon" österreichischer Historikerinnen und Historiker des 20. Jahrhunderts vorgelegt 6 . Als Lexikon mit kurzen Artikeln konzipiert7, enthält es sich jeder Wertung der Personen und ihrer Arbeiten, wie auch politische Mitgliedschaften und Aktivitäten nur in den wenigsten Fällen angeführt werden. Treffend bemerkte ein Rezensent: „Die Biogramme sind ein stabiles Skelett; das Fleisch allerdings, das die Personen als ganze hätte erscheinen und verstehbar werden lassen, fehlt: Es kann nur über narrative Biografíen, über Einordnungen und Wertungen hergestellt werden." 8 Einen indirekten Vorläufer findet dieses Lexikon in der Pioniertat Wolfgang Webers von 1984, dessen Lexikon ebenfalls nur knappe Angaben zu den erfassten Personen liefert9. Sind in diesen beiden umfassenden Lexika die in Frage kommenden österreichischen Historikerinnen und Historiker mehr oder weniger vollständig aufgenommen, so sieht die Situation bei anderen Lexika und Handbüchern schon anders aus. Im neunbändigen, von Hans-Ulrich Wehler 1971-1982 besorgten Werk,deutsche Historiker", dessen Autoren sich in wissenschaftsgeschichtlichen Skizzen den großen Namen der deutschen Geschichtswissenschaft widmen, sind österreichische Historiker nur mit

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Fritz FELLNER, Doris A. CORRADINI, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon ( V K G Ö 99, Wien 2006). - Zum Thema der biografischen Lexika (für die Geschichte Österreichs) siehe grundlegend Christoph MENTSCHL, Biographisch-lexikalisches Arbeiten. Gedanken zu Theorie und Praxis facherübergreifender biographischer Lexika, mit besonderer Berücksichtigung des Österreichischen Biographischen Lexikons, in: Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik, hg. v. Thomas W I N K E L B A U E R (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 40, Hom/Waidhofen a.d. Thaya 2 0 0 0 ) 4 7 - 6 7 , 6 1 - 6 7 Hinweise auf einschlägige Lexika, siehe ebenso die Literaturliste bei FELLNER, CORRADINI 2 1 - 2 7 .

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Ebd. 7f.: „Die Zielsetzung [ . . . ] war, ein Lexikon in der Art eines biographisch-bibliographischen Handbuchs zu schaffen: darin sollten nicht nur die wichtigsten Personaldaten verzeichnet sein [...], sondern es sollte durch Erfassung der Daten des familiären Hintergrunds, der Ausbildung und des Berufsweges, verbunden mit einer bibliographischen Übersicht über die wissenschaftlichen Leistungen, für jede Person das Skelett einer Gelehrtenbiographie geschaffen werden. Abweichend von den großen biographischen Handbüchern [ . . . ] verzichteten wir darauf, das lexikalische Material in ausgewählte biographische Essays über die Koryphäen der Geschichtswissenschaft umzusetzen, sondern bemühten uns vielmehr, in unserem Lexikon einen nach formalen Kriterien erfassten, möglichst großen Personenkreis in einem zeitlich klar umrissenen Rahmen mit ihren Lebens- und Werkdaten zusammenzustellen."

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Stefan J O R D A N in: Zs. für Geschichtswissenschaft 55 (2007) 7 1 - 7 3 , hier 73. Wolfgang WEBER, Biographisches Lexikon zur Geschichtswissenschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die Lehrstuhlinhaber für Geschichte von den Anfangen des Faches bis 1970 (Frankfurt/M. u. a. 1984), anschließend daran DERS., Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1 8 0 0 - 1 9 7 0 (Europäische Hochschulschriften III 216, Frankfurt/M. 2 1987). Webers Lexikon erfasst von den an dieser Stelle porträtierten Personen: Wilhelm Bauer, Alfons Dopsch, Hans Hirsch, Raimund Friedrich Kaindl, Johann Loserth, Theodor Mayer, Anton Meli, Emil von Ottenthai, Oswald Redlich, Leo Santifaller, Heinrich von Srbik, Harold Steinacker, Eduard Winter, Heinz Zatschek.

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Alfons Dopsch, Rudolf Hilferding und Heinrich von Srbik vertreten10. In einem neuen dreibändigen biografischen Handbuch zu „Europa-Historikern" ist unter den 36 von renommierten Fachvertretern in Aufsatzlänge Porträtierten mit Friedrich Heer ein einziger Österreicher (des 19. und 20. Jahrhunderts) aufgenommen11, dessen Wirkungszeit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fällt. Bei den fast gleichzeitig erschienenen 26 Porträts der vornehmlich dem 19. und 20. Jahrhunderts entnommenen „Klassikern der Geschichtswissenschaft" fehlen Vertreter aus Österreich gänzlich12. Im „Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik" Michael Grüttners von 2004 sind mit Harold Steinacker und Theodor Mayer immerhin zwei für das Thema wesentliche Österreicher enthalten, freilich entsprechen die dargebotenen „Kurzbiographien" nur knappen Lexikonartikeln13. Ähnlich verhält es sich mit dem 2002 in zweiter überarbeiteter Auflage herausgegebenen „Historikerlexikon - Von der Antike bis zur Gegenwart", dessen Porträts Alfons Dopschs, Theodor Mayers, Leo Santifallers und Eduard Winters kurze Lexikonartikel darstellen, während Heinrich von Srbik doch knappe drei Spalten gewidmet wurden (um nur die Historiker zu nennen, die auch im vorliegenden Buch behandelt werden)14. Das Vorkommen österreichischer Historiker in weiter gefassten Handbüchern wie etwa in Ernst Klees „Personenlexikon zum Dritten Reich"15, Hermann Weiß' „Biographischem Lexikon zum Dritten Reich"16 oder dessen Vorgänger „Wer war wer im Dritten Reich?"17 korrespondiert selbstverständlich mit deren Zielsetzung und den vorhandenen Vorarbeiten, scheint stellenweise aber auch mehr auf Zufallsfiinden denn auf einer systematischen Erfassung zu beruhen. Mit einer solchen ist eher bei den großen alphabetisch angelegten Unternehmen wie der „Neuen Deutschen Biographie" 10

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Deutsche Historiker 1 - 9 , hg. v. Hans-Ulrich WEHLER (Göttingen 1 9 7 1 - 1 9 8 2 ) , ebd. 7 ( 1 9 8 0 ) 3 9 - 5 4 : Hanna VOLLRATH, Alfons Dopsch; 8 ( 1 9 8 2 ) 5 6 - 7 7 : Heinz-Gerhard HAUPT, Rudolf Hilferding; 7 8 - 9 5 : Helmut REINALTER, Heinrich Ritter von Srbik. Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch 1-3, hg. v. Heinz DURCHHARDT, Malgorzata MORAWIEC, Wolfgang SCHMALE, Winfried SCHULZE (Göttingen 2 0 0 6 / 7 ) . Klassiker der Geschichtswissenschaft 1-2. 1: Von Edward Gibbon bis Marc Bloch. 2: Von Fernand Braudel bis Natalie Z. Davis, hg. v. Lutz RAPHAEL (München 2 0 0 6 ) , mit Beiträgen renommierter Historiker ebenfalls in Aufsatzlänge. Michael GRÜTTNER, Biographisches Lexikon zur nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik (Studien zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 6, Heidelberg 2004) 116 und 167. Einer Aufnahme „würdig" wäre zumindest noch Heinrich von Srbik gewesen. Historikerlexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, hg. v. Rüdiger vom BRUCH, Rainer A. MÜLLER (München 22002) 76, 215f„ 288, 314-316, 360f. Ernst KLEE, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945 (Frankfurt/M. 2003) Otto Brunner 79, Paul Heigl 238, Wilfried Krallert 334, Hans Hirsch 25, Theodor Mayer 398, Heinrich von Srbik 593, Harold Steinacker 600, Heinz Zatschek 691. Es handelt sich um sehr kurze, stellenweise mit Fehlern behaftete Artikel. Die Aufnahme verhältnismäßig vieler Historiker geht darauf zurück, dass der Verfasser bereits von den grundlegenden Publikationen seit den 1990er Jahren profitieren konnte. Hermann WEISS, Biographisches Lexikon zum Dritten Reich (Frankfurt/M. 1998), 314f. Theodor Mayer, 437 Heinrich von Srbik. Robert WISTRICH, Hermann WEISS, Wer war wer im Dritten Reich? Ein biographisches Lexikon. Anhänger, Mitläufer, Gegner aus Politik, Wirtschaft und Militär, Kunst und Wissenschaft (Frankfurt/ M. 1987), 333f. Heinrich von Srbik.

Österreichische Historiker 1900 1945

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(NDB, erster Band 1953), der „Deutschen biographischen Enzyklopädie" (DBE, 13 Bände 1995-2003), dem „Österreichischen Biographischen Lexikon. 1815-1950" (ÖBL, erster Band 1957), der „Neuen österreichischen Biographie ab 1815. Große Österreicher" (NÖB, 22 Bände 1923-1987) oder dem „Biographischen Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder" (erster Band 1979) zu rechnen. Eine gewisse Beschränkung ergibt sich jedoch aus der langen Laufzeit dieser nur in zwei Fällen abgeschlossenen Lexika, da ältere Einträge durchwegs und teilweise auch neuere Einträge grundlegende Informationen nicht anfuhren und so insgesamt in Punkto Qualität eine erhebliche Bandbreite vorherrscht18. Zu nennen sind schließlich lokal bzw. regional oder weniger umfänglich ausgerichtete Werke, in denen österreichische Historikerinnen und Historiker vereinzelt Aufnahme fanden19.

III. Die seit geraumer Zeit zu beobachtende - auch durch die Kulturgeschichte angestoßene - Zunahme des (permanent vorhandenen) Interesses an Biografíen, deren „Wert" in der Forschung wiederum ständiger Kritik ausgesetzt war und ist, wirkt auch in die Wissenschaftsgeschichte hinein20, wie zuletzt erschienene umfängliche Arbeiten beweisen, die unter anderem den einflussreichen deutschen Historikern Gerhard Ritter, Hermann Aubin, Hans Rothfels, Percy Ernst Schramm oder „den Mommsens" gewidmet wurden21. Nachdem Marc Bloch in ausfuhrlichen Studien gewürdigt wurde, 18 Siehe als Beispiel die überzeugenden Artikel zu Emil von Ottenthai und Leo Santifaller von Winfried STELZER in: N D B 19 (1999) 654f., ebd. 22 (2005) 431 f., gegenüber denen ältere Porträts abfallen, siehe die Artikel Ludwig Bittner von Taras von BORODAJKEWYCZ, in: ebd. 2 (1955) 281; Hans Hirsch von Heinz ZATSCHEK, in: ebd. 9 (1972) 214f.; Raimund Friedrich Kaindl von Gerhard G R I M M , in: ebd. 11 (1977) 33, Theodor Mayer von Karl B O S L , in: ebd. 16(1990) 554-556. Andere Personen wie etwa Dopsch, Srbik oder Steinacker wurden nicht aufgenommen. 1 9 Zum Beispiel: Robert T E I C H L , Österreicher der Gegenwart. Lexikon schöpferischer und schaffender Zeitgenossen (Wien 1 9 5 1 ) ; Biographisches Lexikon von Oberösterreich, bearb. v. Martha K H I L (Linz 1 9 5 5 - 1 9 6 8 ) ; Oberösterreicher. Lebensbilder zur Geschichte Oberösterreichs 1 - 8 , hg. v. Alois Z A U N E R , Harry SLAPNICKA (Linz 1 9 8 1 - 1 9 9 4 ) ; Felix C Z E I K E , Historisches Lexikon Wien in 5 Bänden (Wien 1 9 9 2 - 1 9 9 7 ) ; Personenlexikon Österreich, hg. v. Ernst BRUCKMUI.LER (Wien 2 0 0 1 ) . 2 0 Zur neuen theoretischen Reflexion: Thomas W I N K E L B A U E R , Plutarch, Sueton und die Folgen. Konturen und Konjunkturen der historischen Biographie, in: Vom Lebenslauf zur Biographie (wie Anm. 6) 9-46; Grundlagen der Biographik. Theorie und Praxis des biographischen Schreibens, hg. v. Christian K L E I N (Stuttgart/Weimar 2 0 0 2 ) , ebd. insbesondere 5 5 - 6 8 : Ulrich R A U L F F , Das Leben - buchstäblich. Über neuere Biographik und Geschichtswissenschaft. Der Biografik widmet sich seit nunmehr 20 Jahren das Organ: BIOS. Zs. für Biographieforschung und Oral History. Ebd. Heft 1 ( 1 9 9 0 ) 7 5 - 8 1 : Pierre BOURDIEU, Die biographische Illusion, sowie 8 3 - 8 9 und 9 1 - 9 3 Kommentare von Eckart LIEBAU und Lutz N I E T H A M M E R . 21 Christoph CORNELISSEN, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert (Schriften des Bundesarchivs 58, Düsseldorf 2001); Katja GEISENHAINER, „Rasse ist Schicksal". Otto Reche (1879-1966) - Ein Leben als Anthropologe und Völkerkundler (Leipzig 2002); Mario K E S S L E R , Arthur Rosenberg. Ein Historiker im Zeitalter der Katastrophen (1889-1943) (Köln 2003); Urs BITTERLI, Golo Mann. Instanz und Außenseiter. Eine Biographie (Berlin 2004); Peter K Ö P F , Die Mommsens. Von 1848 bis heute - die Geschichte einer Familie ist die Geschichte der Deutschen

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widerfuhr auch Georges Duby eine biografische Bearbeitung von deutscher Seite22. Gepflegt wird der biografische Zugang freilich auch in Österreich, was sich in den Biografíen Ludo Moritz Hartmanns, Friedrich Heers, Franz Huters, Hans Kramers und jüngstens Käthe Spiegels manifestiert23. Neue größere Historikerbiografien, die sich an dem relevanten, stetig steigenden Forschungsstand orientieren, liegen jedoch nicht vor. Zu den mehr oder weniger umfangreichen monografischen Biografíen treten zahlreiche verstreute Einzelstudien zu Historikerinnen und Historikern in Fachzeitschriften oder Sammelbänden24, während ein eigenes Augenmerk auf Historikerinnen und ihre Karrieren und Karrieremöglichkeiten gerichtet wurde25. (Hamburg 2004); Eduard MÜHLE, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung (Schriften des Bundesarchivs 65, Düsseldorf 2005); Ines OBERLING, Ernst Pereis (1882-1945). Lehrer und Forscher an der Berliner Universität (Bielefeld 2005); Jan ECKEL, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert (Moderne Zeit 10, Göttingen 2005); David THIMME, Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 75, Göttingen 2006); Karsten JEDLITSCHKA, Wissenschaft und Politik. Der Fall des Münchner Historikers Ulrich Crämer (1907-1992) (Ludovico Maximilianea Forschungen 21, Berlin 2006). 22 Steffen SEISCHAB, Georges Duby. Geschichte als Traum (Berlin 2004); Ulrich RAULFF, Ein Historiker im 20. Jahrhundert: Marc Bloch (Frankfurt/M. 1995); Marc Bloch - Historiker und Widerstandskämpfer, hg. v. Peter SCHÖTTLER (Frankfurt/M./New York 1999); Marc Bloch. Aus der Werkstatt des Historikers. Zur Theorie und Praxis des Geschichtswissenschaft, hg. v. Peter SCHÖTTLER (Frankfurt/M./New York 2000). 23 Günter FELLNER, Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft (Wien/ Salzburg 1985); Evelyn ADUNKA, Friedrich Heer. Eine intellektuelle Biographie (1916-1983) (Innsbruck/Wien 1995); Gerhard OBERKOFLER, Franz Huter (1899-1997). Soldat und Historiker Tirols (Innsbruck/Wien 1999); DERS., Käthe Spiegel. Aus dem Leben einer altösterreichischen Historikerin und Frauenrechtlerin in Prag (Innsbruck/Wien/Bozen 2005); DERS., Hans Kramer. Zur Erinnerung an einen alttiroler Historiker (Angerberg 2006); Volker HERHOLT, Ludo Moritz Hartmann. Alte Geschichte zwischen Darwin, Marx und Mommsen (Berlin 1999); zuletzt auch: Die geistige Welt des Friedrich Heer, hg. v. Richard FABER, Sigurd Paul SCHEICHL (Wien 2006). Aus Deutschland stammt die Studie von Annekatrin SCHALLER, Michael Tangl (1861-1921) und seine Schule. Forschung und Lehre in den Historischen Hilfswissenschaften (Stuttgart 2002). 24 Etliche Beispiele sind in den Apparaten der Aufsätze dieses Bandes zu finden. Nur als (neuere) Beispiele werden noch angeführt: Wolfgang MEIXNER, „... eine wahrhaft nationale Wissenschaft der Deutschen ..." Der Historiker und Volkskundler Adolf Helbok, in: Skolast (1990) 126-133; Otto H. URBAN, „Er war der Mann zwischen den Fronten". Oswald Menghin und das Urgeschichtliche Institut der Universität Wien während der Nazizeit, in: Archaeologia Austriaca 80 (1996) 1-24; Helmut QUARITSCH, Otto Brunner: Werk und Wirkungen, in: Staat und Recht. FS Günther Winkler, hg. v. Herbert HALLER (Wien 1997) 825-853; Reinhard BLÄNKNER, Von der „Staatsbildung" zur „Volkwerdung". Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, hg. v. Luise SCHORN-SCHÜTTE (Berlin 1999) 87-135; DERS., Nach der Volksgeschichte. Otto Brunners Konzept einer „europäischen Sozialgeschichte", in: Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, hg. v. Manfred HETTLING (Göttingen 2003) 326-366; Arnold SUPPAN, Marija WAKOUNIG, Hans Uebersberger (1877-1962), in: Osteuropäische Geschichte in Wien. 100 Jahre Forschung und Lehre an der Universität, hg. v. DENS., Georg KASTNER (Innsbruck 2007) 91-166; Gustav PFEIFER, Leo Santifaller und Franz Huter im Dienste der Archive: Ein Versuch, in: Studi Trentini di Scienze Storiche 86, Sezione I-2S (2007) 73-95. 25 Frauenstudium und Frauenkarrieren an der Universität Graz, hg. v. Alois KERNBAUER (Publikationen

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Es gab und gibt Historiker, die gegenüber den auf sie zielenden biografischen Ambitionen Dritter, Skepsis zeigten, wie etwa Michel Foucault. Er „widersetzte [...] sich einer vorschnellen Gleichsetzung des Autors als Person mit seinem Werk. Vielmehr bestehe das Werk nicht nur aus den Schriften eines Autors. Es seien die Zusammenhänge des Autorenlebens mit seinen Büchern, die das Werk ausmachten."26 Das könnte freilich auch als Appell für eine wissenschaftlich fundierte Biografie verstanden werden, in der auch die „privaten" Lebensumstände des Porträtierten wesentlich werden. Ein eigenes Genre bilden Nachrufe und ähnliche Porträts, die kurze Zeit nach dem Tod einer Historikerin oder eines Historikers in den Fachorganen erscheinen und unter dem Motto „de mortuis nil nisi bene" verständlicherweise nur in den seltensten Fällen mit Angriffen gegen mögliche wissenschaftliche oder politische Fehlleistungen der oder des Verstorbenen aufwarten27. Bis zum Erscheinen entsprechender Lexika stellen die meist von Kollegen oder engeren Freunden verfassten Nachrufe jedoch die am leichtesten erreichbare Informationsquelle über persönliche Daten des Verstorbenen dar. Biografische Arbeiten und Nachrufe bedeuten ihrer Natur gemäß ein schwieriges Terrain, auf das sich auch Autoren begeben, die in einer Schüler-Lehrer Beziehung oder gar Verehrung zur porträtierenden Person stehen. Die Sicht des Schülers auf den Lehrer, mag er unmittelbar oder auch mittelbar erlebt worden sein, mündet jedoch fast immer in apologetisch ausgerichtete Porträts. Ein deutsches Beispiel dafür ist die biografische Skizze Hartmut Boockmanns über seinen Lehrer und Kollegen Hermann Heimpel, die noch vor den großen Debatten der 1990er-Jahre verfasst wurde und wegen der vielen Retuschen und Fehlinterpretationen weder der wissenschaftsgeschichtlichen Problematik noch der eigentlichen Person Heimpels und seiner Werke gerecht aus dem Archiv der Universität Graz 33, Graz 1996); Margret FRIEDRICH, Brigitte MAZOHL-WALLNIG, Frauen und Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum, in: Annali dell'Istituto Storico Italo-Germanico in Trento 22 (1996) 349-432; Wissenschaftlerinnen in und aus Österreich. Leben - Werk - Wirken, hg. von Brigitta KEINTZEL, Ilse KOROTIN (Wien/Köln/Weimar 2002); DIES., „Männlicher Geist in weiblicher Gestalt": Frauen und Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: M1ÖG 110 (2002) 150-181; Fritz FELLNER, Frauen in der österreichischen Geschichtswissenschaft, in: DERS., Geschichtsschreibung und nationale Identität. Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft (Wien/Köln/Weimar 2002) 92-129; Elisabeth BERGER, „Ich will auch studieren." Zur Geschichte des Frauenstudiums an der Universität Wien, in: Wiener Geschichtsblätter 57 (2002) 269-290. 26 Norbert FINZSCH, Michel Foucault (1926-1984), in: Klassiker der Geschichtswissenschaft 2 (wie Anm. 12) 214-233, hier 217. 27 Einen überzeugenden Beitrag zu Nachrufen und ähnlichen Formen lieferte Pavel KoLÄfc, Katastrophenverarbeitung und Kontinuitätssicherung. Zu den Lebensdarstellungen ehemaliger Präger deutscher Historiker nach 1945, in: Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung" 1918-1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer, hg. v. Stefan ALBRECHT, Jin M A L I S , Ralph MELVILLE (Veröff. des Collegium Carolinum 114, München 2008) 1123. Als Beispiele für längere Nachrufe, Würdigungen und Erinnerungen, die wegen ihrer Apologie im Grunde mehr über den Autor als über den Porträtierten aussagen, nenne ich nur: Walter FUCHS, Anton Ernstberger 1894—1966, in: Jb. für fränkische Landesforschung 27 (1967) 1-14; Hans LIERMANN, Anton Ernstberger 22.11.1894-15.10.1966, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften Jb. 1967 (München 1967) 185-191; Karl BOSL, Theodor Mayer, in: Oberösterreicher 3 (1984) (wie Anm. 19) 135-150, siehe auch die Titel in Anm. 29.

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wird28. Für Österreich können die Porträts Heinrich von Srbiks aus der Feder einiger universitärer „Augenzeugen" angeführt werden, bei denen die mehr oder weniger postulierte persönliche Kenntnis der porträtierten und bewerteten Person geradezu als ein Hindernis auf dem Weg zu bestimmten Einsichten über diese erscheinen29. Der biografische und kulturgeschichtliche Zugang hat auch das Interesse an autobiografischen Zeugnissen bzw. „Ego-Dokumenten" drastisch erhöht. Autobiografien österreichischer Historiker sind jedoch selten30, weitaus öfter verfassten Historikerinnen und Historiker kurze Erinnerungen oder Selbstdarstellungen, wobei hier die zwei von Nikolaus Grass 1950/51 besorgten Bände herausragen, denen Jahrzehnte später ein dritter folgte31. Einen Vorgänger hatte dieses Vorhaben in den 1925/26 in Deutschland publizierten „Selbstdarstellungen" damals bedeutender Historiker32. Unter dem Aspekt, einem Geburtsjahrgang bzw. einer Generation anzugehören, gaben schließlich 1997 zwölf zwischen 1918 und 1926 geborene österreichische, schweizerische und deutsche Historikerinnen und Historiker in einer Festschrift über sich Rechenschaft ab33.

28 Harmut B O O C K M A N N , Der Historiker Hermann Heimpel (Göttingen 1990). 29 Adam WANDRUSZKA, Heinrich Ritter von Srbik t , in: MIÖG 59 (1951) 228-236; DERS., Heinrich Ritter von Srbik - Leben und Werk, in: ÖAW Anzeiger der philosophisch-historischen Klasse 115 (1978) (Wien 1979) 352-365; DERS., Einführung, in: Heinrich Ritter von Srbik. Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1912-1945, hg. v. Jürgen KÄMMERER (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 55, Boppard a. Rh. 1988) XI-XX1; Günther H A M A N N , Kriegs- und Nachkriegserinnerungen eines Studenten an Heinrich Ritter von Srbik, in: ÖAW Anzeiger (wie oben) 366-395; Fritz FELLNER, Heinrich von Srbik - „Urenkelschüler Rankes", in: DERS., Geschichtsschreibung und nationale Identität, (wie Anm. 25) 330-345. 30 Friedrich E N G E L - J A N O S I , „... aber ein stolzer Bettler." Erinnerungen aus einer verlorenen Generation (Graz/Wien/Köln 1974); Eduard W I N T E R , Mein Leben im Dienst des Völkerverständnisses. Nach Tagebuchaufzeichnungen, Briefen, Dokumenten und Erinnerungen 1 (Beiträge zur Geschichte des religiösen und wissenschaftlichen Denkens 10, Berlin 1981); Albert M A S S I C Z E K , Ich war Nazi: Faszination - Ernüchterung - Bruch. Ein Lebensbericht 1 (1916-1938) (Wien 1988); DERS., Ich habe nur meine Pflicht erfüllt: von der SS in den Widerstand. Ein Lebensbericht 2 (Wien 1989); Gerhart B. L A D N E R , Erinnerungen, hg. v. Herwig W O L F R A M (SB Wien 617, Wien 1994). Für Deutschland siehe etwa: Hermann H E I M P E L , Die halbe Violine. Eine Jugend in der Haupt- und Residenzstadt München (Neue vom Verf. durchgesehene Aufl. Wiesbaden 1958); Johannes H A L L E R , Lebenserinnerungen (Stuttgart 1960); Karl H A M P E (1869-1936) Selbstdarstellung, hg. v. Hermann DIENER (Heidelberg 1969); Friedrich M E I N E C K E , Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen (Wiesbaden 1972); Günther F R A N Z , Mein Leben (hektografiert, 1981); Gerd TELLENBACH, A U S erinnerter Zeitgeschichte (Freiburg im Breisgau 1981); Anton ALTRICHTER, Was ich im Kopfe hatte, konnten sie mir nicht nehmen, hg. v. Winfried IROANG (Rothenberg 1981); Fritz S T E R N , Fünf Deutschland und ein Leben. Erinnerungen (München 2007). 31 Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 1-2, hg. v. Nikolaus G R A S S (Schlern-Schriften 6 8 und 6 9 , Innsbruck 1 9 5 0 / 5 1 ) , mit zusammen 2 0 Selbstdarstellungen, u. a. Richard Heuberger, Hans Pirchegger, Otto Stolz, Leo Santifaller und Mathilde Uhlirz; Recht und Geschichte. Ein Beitrag zur österreichischen Gesellschafts- und Geistesgeschichte unserer Zeit. Zwanzig Historiker und Juristen berichten aus ihrem Leben, hg. v. DEMS., Hermann B A L T L , Hans Constantin FAUSSNER (Studien zur Rechts-, Wirtschafts- und Kulturgeschichte 1 4 , Sigmaringen 1 9 9 0 ) . 32 Die Geschichtswissenschaft in Selbstdarstellungen 1-2, hg. v. Sigfried STEINBERG (Leipzig 1925/26), in 1 51-90: Alfons Dopsch, und 171-205: Raimund Friedrich Kaindl. 33 Erinnerungsstücke. Wege in die Vergangenheit. Rudolf Vierhaus zum 75. Geburtstag gewidmet, hg. v. Hartmut L E H M A N N , Otto Gerhard O E X L E , (Wien/Köln/Weimar 1 9 9 7 ) .

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In Frankreich konnte Pierre Nora 1987 sieben bekannte Historikerinnen und Historiker dazu gewinnen, für die Öffentlichkeit bestimmte „Selbstbeschreibungen" abzuliefern34. Der so entstandene Text Georges Dubys, „Das Vergnügen des Historikers", gehört mit seiner 1991 erschienenen Autobiografie und mit der von Natalie Zemon Davis 1997 verfassten Schrift „Ad me ipsum" zu den derzeit bekanntesten Historiker„Ego-Dokumenten"35. Das hat in gewisser Weise ebenso Geltung für „Die seltsame Niederlage" Marc Blochs von 1940, für die Lebenserinnerungen des tschechischen Historikers Zdenek Kalista oder jene des Engländers Eric Hobsbawm36. Vergleicht man die Texte französischer, nordamerikanerischer, tschechischer und englischer Historikerinnen und Historiker mit den „Ego-Dokumenten" ihrer österreichischen und deutschen Zeitgenossen aus den zitierten Sammelwerken von 1925/26, 1950/51 und 1997, dann treten mentale, politische und letztlich auch kulturelle Unterschiede in aller Deutlichkeit hervor und wären einen eingehenden Vergleich wert. Selbstverständlich sind autobiografische Texte immer als subjektive, im Kontext ihrer Entstehungszeit zu verortende Traditionsquellen zu lesen37, die der eigenen Positionierung des Autors dienen und bei kritischer Analyse Dinge über diesen verraten, deren Preisgabe nicht intendiert war. Deswegen sind diese Quellen, auch wegen ihrer „Leerstellen", also dem Verschwiegenen, für die Wissenschaftsgeschichte von hohem Wert. Seltener als biografische und autobiografische Darstellungen wurden Editionen der von Historikern nachgelassenen Korrespondenzen und anderen Quellen erarbeitet. Während etwa ein Teil des Briefwechsels Friedrich Meineckes, Heinrich von Srbiks, Siegfried A. Kaehlers oder Wilhelm Bauers ediert wurde, ist die Korrespondenz Hermann Aubins gegenwärtig in Bearbeitung38. Autobiografischen Wert besitzen zuvorderst schließlich Werke, die verhältnismäßig offen ein politisches nationales oder gesellschaftliches Krisenbewusstsein reflektieren. Von Interesse sind hier etwa zahlreiche, nach 1918 entstandene Publikationen zur 34 Nur vier Selbstbeschreibungen wurden aber ins Deutsche übersetzt: Georges DUBY, Pierre CHAUNU, Jacques LE GOFF, Michelle PERROT, Leben mit der Geschichte. Vier Selbstbeschreibungen, hg. v. Pierre NORA (Frankfurt/M. 1989, franz. 1987). 35 Georges DUBY, Das Vergnügen des Historikers, in: Leben mit der Geschichte (wie Anm. 34) 65-99; DERS., Eine andere Geschichte (Stuttgart 1992, franz. 1991); Natalie Zemon DAVIS, Adme ipsum. Ein (nicht nur) wissenschaftlicher Lebenslauf (1997), in: DIES., Lebensgänge: Glikl, Zwi Hirsch, Leone Modena; Martin Guerre, Ad me ipsum (Berlin 1998) 75-104. 36 Marc BLOCH, Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940. Der Historiker als Zeuge (Frankfurt/M. 1995) 39-232; ZdenSk KALISTA, Po proudu zivota [Im Strom des Lebens] 1-2 (Brno 1996/97); Eric HOBSBAWM, Gefahrliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert (München/Wien 2003). 37 Siehe auch die Polemik von Albert MÜLLER, Alte Herren/Alte Meister. ,Ego-Histoire' in der österreichischen Geschichtswissenschaft. Eine Quellenkunde, in: Österreichische Zs. für Geschichtswissenschaften 4 (1993) 120-133.

38 Friedrich MEINECKE, Werke 6: Ausgewählter Briefwechsel, hg. v. Ludwig DEHIO, Peter CLASSEN (Stuttgart 1962); Srbik. Korrespondenz (wie Anm. 29); Siegfried A. KAEHLER, Briefe 1900-1963, hg. v. Walter BUSSMANN, Günter GRÜNTHAL (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 58, Boppard a. Rh. 1993); Manfred STOY, Aus dem Briefwechsel von Wilhelm Bauer. Teil 1, in: MIÖG 108 (2000) 376-398; Teil 2 in: MIÖG 109 (2001) 4 2 5 ^ 4 6 . Die Korrespondenz Aubins („Ein Ostforscher in seinen Briefen") bearbeitet Eduard Mühle.

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Standortbestimmung des (oder eines) österreichischen Staates, deren Titel in manchen Fällen bereits für sich sprechen und grundsätzlich Unzufriedenheit mit der eigenen Gegenwart ausdrückten39. Diese Postulate können wiederum durch etliche Zitate ergänzt werden, mit denen Historiker eine politische Meinung bekundeten und die nach 1945 nur ungern Erwähnung fanden. Oftmals war hierbei vor dem Hintergrund der Vorstellung eines gesamtdeutschen Staates oder Nation der Blick auf das Deutsche Reich gerichtet40. „Die Pflege, die Kunde, die Wissenschaft von Heimat und Volk" galt nicht als „toter Wissenskram, nicht antiquarische Liebhaberei, sondern [als] eine nationale Pflicht, eine Bürgschaft der Liebe und Treue zu Heimat und zu unserem deutschen Volke."41 Dementsprechend war das Arbeiten an der moralischen und geistigen Rüstung der Nation ein durchaus allgemein anerkanntes Ziel auch der historischen Forschung und Textproduktion42.

IV. Aufschlussreich für eine Biografie ist ihre Positionierung gegenüber einer Generation. Die sozialgeschichtliche und kulturgeschichtliche Untersuchung bestimmter Generationen und ihrer Spezifika gehört seit einigen Jahren zum erfolgreich angewandten Instrumentarium der Zeit- und Wissenschaftsgeschichte und wurde bereits in methodischer Reflexion behandelt43. Zuletzt wurden - ausgelöst durch Diskussionen in den Medien 39 Alfons DOPSCH, Österreichs geschichtliche Sendung (Wien 1918, abgeschlossen im Mai 1917); Edmund von GLAISE-HORSTENAU, Die Katastrophe. Die Zertrümmerung Österreich-Ungarns und das Werden der Nachfolgestaaten (Wien 1929); Viktor BIBL, Die Tragödie Österreichs (Leipzig/Wien 1937), mit der Widmung „Dem deutschen Volke"; Reinhold LORENZ, Drei Jahrhunderte Volk, Staat und Reich (Wien 1944). 40 Zwei Beispiele: Emil von Ottenthai richtete am 12.11.1919 eine erfolgreiche Bitte um Subventionierung eines neuen Bandes der MIÖG an eine staatliche Stelle, u. a. mit der Begründung, „damit unsere Brüder im Reiche sehen, daß wir wenigstens auf dem Gebiete der geistigen Kultur schon wieder mit voller Aktivität arbeiten und rüstig weiterstreben, daß wir hierin bei dem künftigen Zusammenschluß gleich leistungsfähige, vollberechtigte Glieder sein werden. Und weiter ist notwendig, unseren unglücklichen, zur Fremdherrschaft verdammten Brüdern auch auf dieser Arena einen Mittelpunkt zu schaffen für die Erhaltung und Pflege ihres bedrohten Volkstums, bis die Vereinigung auch mit ihnen möglich sein wird. Solche wissenschaftliche Aufklärung und Propaganda muß vor allem durch Zeitschriften erfolgen - es ist ja klar, daß für die dargelegten Zwecke die Geschichtswissenschaft und daher historische Zeitschriften besonders in die Waagschale fallen". Zitiert nach Alphons LHOTSKY, Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854-1954 (MIÖG Erg.-Bd. 17, Graz/Köln 1954) 339. Zu einer Arbeit Anton Mells schrieb ein Rezensent: „In jedem einzelnen Kapitel weist er auf die Zusammenhänge mit Deutschland hin und betont die sich aus der Volksgemeinschaft notwendig ergebende Gleichheit der Rechtsidee und ihrer Fortentwicklung. Damit ist ein gutes Stück geistiger Anschlußarbeit geleistet worden, wofür dem Verfasser besonderer Dank deshalb gebührt, weil sie sich ohne jede Tendenz auf dem Boden wissenschaftlich festgestellter Tatsachen bewegt." Siehe den Beitrag von Gernot Peter Obersteiner in diesem Band. 41 Oswald REDLICH, Landeskunde und Geschichtswissenschaft, in: JbLKNÖ 19 (1924) 1-9, hier 9. 42 Zum Zitat Ludwig Bittners von 1943 siehe den Beitrag von Thomas Just in diesem Band. 43

Zuletzt

Ulrike

JUREIT, G e n e r a t i o n e n f o r s c h u n g

(UTB

2856,

Göttingen

2006),

ebd.

132-144

Auswahlbibliografie; Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, hg. v.

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- nicht mehr die „umfassenderen" Generationen zum Thema, sondern sogar einzelne Geburtenjahrgänge44. Entscheidende Impulse zur Generationenforschung kamen zunächst unter anderem aus der Beschäftigung mit bestimmten machtstaatlichen und politischen Institutionen und ihren Protagonisten als Gruppe oder als Einzelperson45. Die Erträge dieser Forschungen wurden bereits umfassend rezipiert und angewandt, sei es in einer Biografíe oder in einer Studie zu einer bestimmten Generation: Überzeugende wissenschaftsgeschichtliche Zeugnisse dafür sind die Biografíen Gerhard Ritters, Hermann Aubins und Percy Ernst Schramms, allesamt Angehörige der „Frontgeneration"46, während die „Kriegsjugendgeneration" unter den deutschen Mediävisten von Anne Christine Nagel exemplarisch unter Analyse der Karrieren zwischen 1945 und 1970 behandelt und dabei auch der Sozialisation der Angehörigen dieser Generation Aufmerksamkeit geschenkt wurde47. Österreichische Historiker sind in Nagels auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkten Arbeit bis auf Otto Brunner und Theodor Mayer nicht näher thematisiert worden. Eine monografische Biografíe einer österreichischen Historikerin oder Historikers unter den Aspekten der Generationenforschung ist bisher noch nicht erarbeitet worden, wäre aber, ebenso wie auch eine Studie, die sich mit einer bestimmten Historikergeneration beschäftigt, von hohem Wert. In die kulturgeschichtliche Diskussion um Generationen gehören auch die Aspekte der Mentalität, des Habitus und der Erinnerungskultur (oder „Vergessenskultur"). Dass beides für das 20. Jahrhundert eng mit Reaktionen auf Diktaturen, Anpassungsstrategien, Opportunismus, Selbstmobilisierung, Widerstand, politischem Handeln und Verantwortung korrespondiert, muss ebenso wenig betont werden wie dass Historikerinnen und Historikern und ihren Auffassungen in diesen Bereichen eine tragende Rolle zukam, weswegen sie auch fallweise zu Objekten entsprechender wissenschaftlicher Untersuchungen wurden. Integriert sei hier auch die durch die Deutschen Historikertage 1994 in Leipzig und 1998 in Frankfurt am Main angestoßene wissenschaftsgeschichtliche Diskussion um das Wirken und die Verantwortung deutscher Historiker während der NS-Herrschaft48, wobei unter den wenigen „reichsdeutMichael WILDT (Hamburg 2 0 0 5 ) ; Ute DANIEL, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter (Frankfurt/M. " 2 0 0 4 ) 3 3 0 - 3 4 4 . 44 Jahrgang 1926/27. Erinnerungen an die Jahre unter dem Hakenkreuz, hg. v. Alfred Neven D U M O N T (Köln 2007). 45 Ulrich HERBERT, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft 1903-1989 (Bonn 1996); Michael WILDT, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes (Hamburg 2002). Grundlegend ist Robert WOHL, The Generation of 1914 (London 1980). 4 6 CORNELISSEN, Ritter (wie Anm. 21); MÜHLE, Für Volk und deutschen Osten (wie Anm. 21) 13-151; THIMME, Schramm (wie Anm. 21)21-23. Dazu siehe auch Christoph CORNELISSEN, Die Frontgeneration deutscher Historiker und der Erste Weltkrieg, in: Der verlorene Frieden. Politik und Kriegskultur nach 1918, hg. v. Jost DÜLFFER, Gerd KRUMEICH (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte N. F. 15, Essen 2002) 311-327. 4 7 Anne Christine NAGEL, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1 9 4 5 - 1 9 7 0 (Formen der Erinnerung 2 4 , Göttingen 2 0 0 5 ) . 48 Eine Auswahl: Karen SCHÖNWÄLDER, Historiker und Politik. Geschichtswissenschaft im Nationalsozialismus (Historische Studien 9 , Frankfurt/M. 1 9 9 2 ) ; Hans-Erich VOLKMANN, Deutsche Historiker DERS.,

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sehen" Österreichern nur Otto Brunner in nennenswerter Weise Erwähnung fand49. Ein Forschungsthema bilden schließlich vertriebene und emigrierte Historikerinnen und Historiker, denen wissenschaftsgeschichtliche Beachtung sowohl in den Staaten, aus denen sie vertrieben wurden, als auch in denjenigen ihrer neuen Heimat zukommt50.

V. Wesentlich tangiert werden Historikerbiografien von Geschichten der Institutionen, in denen Historikerinnen und Historiker während verschiedener Zeitspannen ihres Lebens gewirkt haben. Hierbei stehen Universitäten, Akademien, Institute und deren Teilbereiche wie Fakultäten oder Kommissionen an erster Stelle. Forschungen zu diesen Bereichen sind sehr unterschiedlich verteilt, die Literatur für den deutschsprachigen Raum insgesamt aber doch sehr reichhaltig und vielfaltig. Die Breite erstreckt im Banne des Nationalsozialismus, in: Verwandlungspolitik. NS-Eliten in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, hg. v. Wilfried Lora, Bernd-A. RUSINEK (Frankfurt/M. 1998) 285-311; DERS., Deutsche Historiker im Umgang mit Drittem Reich und Zweitem Weltkrieg 1939-1949, in: Ende des Dritten Reiches - Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine perspektivische Rückschau, hg. v. DEMS. (München 1995) 861-911; Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 19181945, hg. v. Peter SCHÜTTLER (Frankfurt/M. 1997); Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, hg. v. Winfried SCHULZE, Otto Gerhard O E X L E (Frankfurt/M. 1999), dazu siehe Werner LAUSECKER, Bericht über eine Wahrnehmung. Zur Sektion „Deutsche Historiker im Nationalsozialismus" am Deutschen Historikertag 1998 in Frankfurt am Main, in: ÖZG 10/1 (1999) 147-156; Otto Gerhard O E X L E , „Zusammenarbeit mit Baal". Über die Mentalitäten deutscher Geisteswissenschaftler 1933 - und nach 1945, in: Historische Anthropologie 8 (2000) 1-27; DERS., „Wirklichkeit" - „Krise der Wirklichkeit" - „Neue Wirklichkeit". Deutungsmuster und Paradigmenkämpfe in der deutschen Wissenschaft vor und nach 1933, in: Die Rolle der Geisteswissenschaften im Dritten Reich 19331945, hg. v. Frank-Rutger H A U S M A N N (München 2002) 1-20. Aus allgemeiner Sicht siehe Aleida A S S M A N N , Ute FREVERT, Geschichtsvergessenheit, Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945 (Stuttgart 1999). 49 Gadi A L G A Z I , Otto Brunner - „Konkrete Ordnung" und Sprache der Zeit, in: Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft (wie Anm. 48) 166-203, siehe auch DERS., Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter. Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch (Historische Studien 17, Frankfurt/M. 1996). 50 Margarete K O W A L L , Die 1938 von der Universität verwiesenen Mitglieder des akademischen Lehrkörpers der philosophischen Fakultät Wien (masch. phil. Diss. Wien 1983); Günter F E L L N E R , Die Emigration österreichischer Historiker. Ein ungeschriebenes Kapitel in der Zeitgeschichte ihres Faches, in: Vertriebene Vernunft. Emigration und Exil österreichischer Wissenschaft 1: 19301940; 2: Internationales Symposion, 19. bis 23. Oktober 1987 in Wien, hg. v. Friedrich STADLER (Wien/München 1987/88), hier 2 474-494; Dorothee M U S S G N U G , Die vertriebenen Heidelberger Dozenten. Zur Geschichte der Ruprecht-Karls-Universität nach 1933 (Heidelberg 1988); Peter Th. W A L T H E R , Von Meinecke zu Beard? Die nach 1933 in die USA emigrierten deutschen Neuhistoriker (Ann Arbor 1989); An Interrupted Past. German-speaking Refugee Historians in the United States after 1933, hg. v. Helmut LEHMANN, James J. SHEEHAN (Washington 1991); Jürgen PETERSOHN, Deutschsprachige Mediävistik in der Emigration. Wirkungen und Folgen des Aderlasses der NS-Zeit (Geschichtswissenschaft - Rechtsgeschichte - Humanismusforschung), in: HZ 277 (2003) 1-60; Deutsche Historiker im Exil (1933-1945). Ausgewählte Studien, hg. v. Mario K E S S L E R (Berlin 2005). Angekündigt ist eine Arbeit von Michael Brenner zu deutsch-jüdischen Historikern.

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sich von Gesamtdarstellungen einzelner Institutionen, sei es eine Universität oder eine Kommission, bis zu zeitlichen oder thematischen Begrenzungen. Die für die Fragestellung dieses Buches wichtigen österreichischen Universitäten in Graz, Innsbruck und Wien sind unterschiedlich intensiv zeitgeschichtlich behandelt worden, sowohl in übergreifenden51 als auch einzelnen Universitäten gewidmeten Studien52. Das gilt ebenfalls für außerhalb der Republik Österreich gelegene Universitäten, an 51 Für Österreich: Willi WEINERT, Die Maßnahmen der reichsdeutschen Hochschulverwaltung im Bereich des österreichischen Hochschulwesens nach der Annexion 1938, in: Arbeiterbewegung, Faschismus, Nationalbewusstsein. FS zum 20-jährigen Bestand des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes und zum 60. Geburtstag von Herbert Steiner, hg. v. Helmut KONRAD, Wolfgang NEUGEBAUER (Wien 1983) 127-134; Walter HÖFLECHNER, Die Baumeister des künftigen Glücks. Fragment einer Geschichte des Hochschulwesens in Österreich vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis in das Jahr 1938 (Publikationen aus dem Archiv der Universität Graz 23, Graz 1988); Brigitte LICHTENBERGER-FENZ, Österreichs Hochschulen und Universitäten und das NS-Regime, in: NS-Herrschaft in Österreich 1938-1945, hg. v. Emmerich TALOS, Ernst HANISCH, W o l f g a n g NEUGEBAUER ( W i e n 1 9 8 8 ) 2 6 9 - 2 8 2 ; B r i g i t t e LICHTENBERGER-FENZ, Ö s t e r r e i c h s

Universitäten 1930 bis 1945, in: Kontinuität und Bruch. 1938-1945-1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und Wissenschaftsgeschichte, hg. v. Friedrich STADLER (Wien/München 1988) 69-82; DIES., „Es läuft alles in geordneten Bahnen". Österreichs Hochschulen und Universitäten und das NS-Regime, in: NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch, hg. v. Emmerich TALOS, Ernst HANISCH, Wolfgang NEUGEBAUER, Reinhard SIEDER (Wien 2000) 549-569; Mitchell G. ASH, Hochschulen und Wissenschaften im Nationalsozialismus und danach - Stand der Forschung, in: Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus. Die Folgen für die naturwissenschaftliche und humanistische Lehre, hg. v. Friedrich STADLER in Zusammenarbeit mit Eric KANDEL, Walter KOHN, Fritz STERN, Anton ZEILINGER (Wien/New York 2004) 213-228. Hingewiesen sei auf das in Stuttgart seit zehn Jahrern erscheinende Jahrbuch für Universitätsgeschichte. 52 Graz: Die Universität [Graz] und 1938, hg. v. Christian BRÜNNER, Helmut KONRAD (Wien 1989). - Innsbruck: Michael GEHLER, Studenten und Politik. Der Kampf um die Vorherrschaft an der Universität Innsbruck 1918-1938 (Innsbruck 1990); Gerhard OBERKOFLER, Peter GOLLER, Geschichte der Universität Innsbruck (1669-1945) (Rechts- und sozialwissenschaftliche Reihe 14, Frankfurt/ M. 21996); DIES., Universität Innsbruck. Entnazifizierung und Rehabilitation von Nazikadern ( 1 9 4 5 - 1 9 5 0 ) ( I n n s b r u c k 2 0 0 3 ) ; M i c h a e l HEIDER, M i c h a e l a RALSER, G a b i RATH, T h o m a s SORAPERRA,

Martha VERDORFER, Die Geisteswissenschaftliche Fakultät Innsbruck zwischen 1938-1945, in: Skolast (1990) 22-117. - Wien: Albert MASSICZEK, Die Situation an der Universität Wien, März/ April 1938, in: Wien 1938 (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 2, Wien 1978) 216-229; 100 Jahre Universität am Ring. Wissenschaft und Forschung an der Universität Wien seit 1884, hg. v. Günther HAMANN (Wien 1986); Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 19381945, hg. v. Gernot HEISS, Siegfried MATTL, Sebastian MEISSL, Edith SAURER, Karl STUHLPFARRER (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 43, Wien 1989), ebd. 3-15: Brigitte LICHTENBERGERFENZ, Österreichs Universitäten und Hochschulen - Opfer oder Wegbereiter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft? (Am Beispiel der Universität Wien); Kurt MÜHLBERGER, Dokumentation Vertriebene Intelligenz 1938. Der Verlust geistiger und menschlicher Potenz an der Universität Wien von 1938 bis 1945 (Wien 21993); Albert MÜLLER, Dynamische Adaptierung und „Selbstbehauptung": Die Universität Wien in der NS-Zeit, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997) 608FF.; Peter BERGER, Die Wiener Hochschule für Welthandel und ihre Professoren 1938-1945, in: ÖZG 10/1 (1999) 9-49; Juliane MIKOLETZKY, „Mit ihm erkämpft und mit ihm baut deutsche Technik ein neues Abendland." Die Technische Hochschule in Wien in der NS-Zeit, in: ebd. 51-70; Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, hg. v. Gernot HEISS, Margarete GRANDNER, Oliver RATHKOLB (Querschnitte 19, Innsbruck 2005). Siehe auch Erich CERMAK, Beiträge zur Geschichte des Lehrkörpers der Philosophischen Fakultät der Universität Wien zwischen 1938 und 1945 (masch. phil. Diss. Wien 1983), der unkritische Kurzbiografien der Professoren der Fakultät liefert.

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denen österreichische Historiker maßgeblich gewirkt haben. Eine besondere Stellung nimmt wegen der intensiven Wechselbeziehungen mit Wien die Universität in Prag ein53, aber auch (ehemals reichs-) deutsche Universitäten sind selbstverständlich anzuführen54. Begonnen wurden zudem Studien zu innereuropäischen Vergleichen der 53 Kurt OBERDORFFER, Die deutsche Universität in Prag - Herkunft und Schicksal, in: Die deutsche Schule in den Sudetenländern. Form und Inhalt des Bildungswesens (München 1967) 274-300 (tendenziös); (Carel LITSCH, Die Persekution der Hochschulen im sog. Protektorat Böhmen und Mähren, in: Universities during World War II, hg. v. Jösef B U S Z K O (Warszawa/Kraköw 1984) 179-185; Dejiny univerzity Karlovy 3: 1802-1918; 4: 1918-1990 [Geschichte der Karlsuniversität 3: 18021918; 4: 1918-1990], hg. v. Jan HAVRÄNEK, Frantisek K A V K A , Josef P E T R Ä N , Zdenek P O U S T A (nur Bd. 4) (Praha 1997/98); Alena M I S K O V Ä , Nemeckä (Karlova) univerzita od Mnichova k 9. kvetnu 1945 (Vedeni univerzity a obmena profesorskeho sboru) (Praha 2002), deutsche ergänzte Ausgabe: Die Deutsche (Karls-) Universität vom Münchener Abkommen bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges (Universitätsleitung und Wandel des Professorenkollegiums) (Praha 2007); Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Hans LEMBERG (Veröff. des Collegium Carolinum 86, München 2003); Teresa W R Ö B L E W S K A , Die Reichsuniversitäten Posen, Prag und Straßburg als Modell nationalsozialistischer Hochschulen in den von Deutschland besetzten Gebieten (Tortin 2003). Insbesondere ist auch zu nennen: Prager Professoren 1938-1948. Zwischen Wissenschaft und Politik, hg. v. Monika G L E T T L E R , Alena M I S K O V A (Veröff. zur Kultur und Geschichte im östlichen Europa 17, Essen 2001). 54 Nach etwas zögerlichen Anfangen „boomt" die deutsche Universitätsgeschichte derzeit, siehe Helmut H E I B E R , Universität unterm Hakenkreuz 1 - 3 (München u. a. 1991/92); Andrea W E T T M A N N , Heimatfront Universität. Preußische Hochschulpolitik und die Universität Marburg im Ersten Weltkrieg (Köln 2000); Die Philipps-Universität Marburg im Nationalsozialismus. Dokumente zu ihrer Geschichte, hg. und bearb. v. Anne Christine N A G E L , Ulrich S I E G (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 1, Stuttgart 2000); Teresa K U L A K , Mieczystaw P A T E R , Wojciech W R Z E S I N S K I , Historia Uniwersytetu Wroclawskiego 1702-2002 [Geschichte der Universität Breslau 1702-2002] (Wroclaw 2002); Hendrik EBERLE, Die Martin-Luther-Universität in der Zeit des Nationalsozialismus (Halle 2002); „Kämpferische Wissenschaft". Studien zur Universität Jena im Nationalsozialismus, hg. v. Uwe H O S S F E L D U. a. (Köln u. a. 2003); Michael G R Ü T T N E R , Die deutschen Universitäten unter dem Hakenkreuz, in: Zwischen Autonomie und Anpassung: Universitäten in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts, hg. v. DEMS., John CONNELLY (Paderborn 2003) 67-100; Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, hg. v. Karen B A Y E R , Frank SPARING, Wolfgang W O E L K (Stuttgart 2004); Die Berliner Universität in der NS-Zeit 1: Strukturen und Personen; 2: Fachbereiche und Fakultäten, hg. v. Rüdiger VOM B R U C H , Christoph JAHR (Stuttgart 2005); Sachsens Landesuniversität in Monarchie, Republik und Diktatur. Beiträge zur Geschichte der Universität Leipzig vom Kaiserreich bis zur Auflösung des Landes Sachsen 1952, hg. v. Ulrich H E H L (Leipzig 2005); Die Philipps-Universität Marburg zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, hg. y. Günter HOLLENBERG U. a. (Hessische Forschungen zur geschichtlichen Landes- und Volkskunde 45, Kassel 2006); Die Universität München im Dritten Reich 1, hg. v. Elisabeth K R A U S (Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München 1, München 2006); Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, hg. v. Wolfgang U. E C K A R T , Volker SELLIN, Eike W O L G A S T (Heidelberg 2006); Universität und Gesellschaft. FS zur 550-Jahrfeier der Universität Greifswald 1456-2006 1-2, hg. v. Dirk A L V E R M A N N , Karl Heinz SPIESS (Rostock 2006); Die Universität Greifswald in der Bildungslandschaft des Ostseeraums, hg. v. Dirk A L V E R M A N N , Nils J Ö R N , Jens E. O L E S E N , Stephanie IRRGANG (Nordische Geschichte 5, Berlin 2007); Panorama - 400 Jahre Universität Gießen. Akteure - Schauplätze - Erinnerungskultur, hg. v. Horst C A R L , Eva-M. FELSCHOW, Jürgen REULECKE, Volker ROELCKE, Corina S A R G K (Frankfurt/M. 2007); Leo HAUPTS, Die Universität zu Köln im Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik (Köln 2007); Peter A. Süss, Grundzüge der Würzburger Universitätsgeschichte 1402-2002. Eine Zusammenschau (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg 10, Insingen

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Universitäten55. Dass einzelne Fakultäten oder Universitätsinstitute bzw. -seminare monografisch abgehandelt wurden, ist dagegen eine ausgesprochene Seltenheit, zumal mancher Pioniertat keine Nachahmer im positiven Sinn folgten56. Weit weniger Aufmerksamkeit als den Universitäten wurde den Akademien der Wissenschaften zuteil, obwohl gerade auch ihnen eine wesentliche Funktion als wissenschaftliche (und politische) Entscheidungszentren und als Substrat verschiedener Netzwerke zukam57. Als eigenständige Netzwerk-Mittelpunkte fungierten ebenso zahlreiche von verschiedenen Trägern eingesetzte Kommissionen zu bestimmten Forschungsarbeiten, deren Geschichten in einem Fall geschrieben, in anderen gänzlich fehlen58. Eine Besonderheit bilden die „Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft", deren 2007); 550 Jahre Albert-Ludwigs-Universität Freiburg 3: Von der badischen Landesuniversität zur Hochschule des 21. Jahrhunderts, hg. v. Bernd MARTIN (Freiburg i. Br. 2007). 55 Kollegen - Kommilitonen - Kämpfer. Europäische Universitäten im Ersten Weltkrieg, hg. v. Trude MAURER (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 18, Stuttgart 2006). 56 Walter LEITSCH, Manfred STOY, Das Seminar für osteuropäische Geschichte der Universität Wien 1907-1948 (Wiener Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas 11, Wien/Köln/Graz 1983); Osteuropäische Geschichte (wie Anm. 24). In Aufsatzform: Peter TEIBENBACHER, Das historische Seminar und das Jahr 1938, in: Die Universität [Graz] und 1938 (wie Anm. 52) 95-103. Für Deutschland etwa: Geschichte in Heidelberg. 100 Jahre Historisches Seminar - 50 Jahre Institut fur Fränkisch-Pfalzische Geschichte und Landeskunde, hg. v. Jürgen MIETHKE (Berlin 1992); Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920-1960. Mitglieder - Strukturen - Vernetzungen, hg. v. E c k h a r d WIRBELAUER, F r a n k - R u t g e r HAUSMANN, S y l v i a PALETSCHEK ( F r e i b u r g i. Br. 2 0 0 7 ) .

57 Wien: Richard MEISTER, Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien 1847-1947 (Denkschriften der Gesamtakademie 1, Wien 1947); Die Mitglieder und Institutionen der Akademie. Leitung, Mitglieder, Kommissionen, Stiftungen, Preise, Feierliche Sitzungen und sonstige Veranstaltungen, bearb. v. Ludmilla KRESTAN (Dokumentation zur Österreichischen Akademie der Wissenschaften 1947 1972 3, Wien 1972); Gerhard OBERKOFLER, Politische Stellungnahmen der Akademie der Wissenschaften in Wien in den Jahren der NS-Herrschaft, in: Arbeiterbewegung, Faschismus, Nationalbewusstsein (wie Anm. 51) 115-126; Franz GRAF-STUHLHOFER, Die Akademie der Wissenschaften in Wien im Dritten Reich, in: Acta histórica Leopoldina 22 (1995) 133-159; Herbert MATIS, Zwischen Anpassung und Widerstand. Die Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1938-1945 (Wien 1997). Prag: Spolecnost pro podporu nëmecké vëdy, umëni a literatury v Cechách (Nëmeckà akademie vëd v Praze). Materiály k déjinám a inventár archivního fondu. Die Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen (Deutsche Akademie der Wissenschaften). Materialien zu ihrer Geschichte und Inventar des Archivbestandes. 1891-1945, bearb. v. Aleña MÍSKOVÁ (Praha 1994). Für Deutschland siehe etwa: Die Königlich preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin im Kaiserreich, hg. v. Jürgen KOCKA (Berlin 1999); Martin GIERL, Geschichte und Organisation. Institutionalisierung als Kommunikationsprozess am Beispiel der Wissenschaftsakademien um 1900 (Abh. Göttingen 3. Folge 233, Göttingen 2004). 58 Siehe etwa: 100 Jahre Historische Landeskommission für Steiermark 1892-1992. Bausteine zur Historiographie der Steiermark, hg. v. Othmar PICKL (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 36, Graz 1992); 150 Jahre Historische Kommission [der ÖAW], Festvorträge, hg. v. Grete KLINGENSTEIN, Richard G. PLASCHKA, Barbara HAIDER (Wien 1997); Fritz FELLNER unter Mitarbeit von Franz ADLGASSER und Doris CORRADINI, „... ein wahrhaft patriotisches Werk." Die Kommission für neuere Geschichte Österreichs 1897-2000 (Wien/Köln/Weimar 2001). Zur Vorgeschichte der 1931/39 in eine Kommission der ÖAW überführten Regesta Imperii: Christine OTTNER, Joseph Chmel und Johann Friedrich Böhmer: Die Anfange der Regesta Imperii im Spannungsfeld von Freundschaft und Wissenschaft, in: Wege zur Urkunde - Wege der Urkunde - Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, hg. v. Karel HRUZA, Paul HEROLD (Forschungen zur

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Geschichte im Dritten Reich bereits thematisiert wurde, und die „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft" bzw.„Deutsche Forschungsgemeinschaft"59. Hier können zudem während jener Zeit neu gegründete Institute wie das „Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschland" und die „Reinhard-Heydrich-Stifitung" erwähnt werden, die in verschiedenen Graden „unabhängig" waren und „wissenschaftliche" Ziele verfolgten, deren Verwirklichung den traditionellen Lehr- und Forschungseinrichtungen nicht zugetraut wurde60. Ein solches traditionelles Forschungsunternehmen waren die 1819 als „Societas aperiendis fontibus rerum Germanicarum medii aevii" zur Grundlagenforschung eingerichteten Monumenta Germaniae Histórica in Berlin, an deren Verwaltung und Forschung österreichische Historiker seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblichen Anteil hatten. Zur älteren Geschichte dieser Einrichtung, ihren Mitarbeitern und zu ihrer Abteilung in Wien liegen Studien vor61, während eine moderne Institutsgeschichte aussteht.

Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 24, 2005) 257-291; Jan Paul NIEDERKORN, Julius von Ficker und die Fortfuhrung der Regesta Imperii vom Tod Johann Friedrich Böhmers (1863) bis zu ihrer Übernahme durch die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien (1906), in: ebd. 293-302; Christine O T T N E R , Jenes urkundliche Material ist Quelle der Erkenntniß in allen Richtungen. Zu den „Regesten Kaiser Friedrichs III." im Spiegel ihrer Wissenschaftsgeschichte, in: ÖAW Anzeiger der phil.-hist. Kl., 140. Jg. 2005 (Wien 2005) 113-129. Österreichische Historiker beruht schließlich: Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung" 19181960 (wie Anm. 27). 59 Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung 1-2, hg. v. Doris K A U F M A N N (Göttingen 2000), ebd. 437-553: „Sektion 5. Geisteswissenschaftliche Forschung und nationalsozialistische Eroberungspolitik"; Ulrich M A R S C H , Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft: Gründung und frühe Geschichte 1920-1925 (Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte 10, Frankfurt/M. 1994); und die einzelnen Bände der in Stuttgart erscheinenden Studien zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft. 60 Karel FREMUND, Heydrichova nadace - dulezity nástroj nacistické vyhlazovází politiky (Vybér dokumentü), in: Sbomík archivních prácí 14/1 (1964) 3-38, bzw. DERS., Die Reinhard-HeydrichStiftung - ein wichtiges Instrument der faschistischen Ausrottungspolitik in der Tschechoslowakei 1942-1945, in: Informationen über die imperialistische Ostforschung 3 (1965) 1-48; Stanislav SISLER, Vznik a formování nacistického „slovanského bádání" v Praze v letech 1940-1943 [Entstehung und Formierung der nazistischen „slawischen Forschung" in Prag in den Jahren 19401943], in: Cesky Lid 78 (1991) 261-271; Helmut H E I B E R , Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands (Stuttgart 1996); Andreas W I E D E M A N N , Die Reinhard-HeydrichStiftung in Prag (1942-1945) (Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung. Berichte und Studien 28, Dresden 2000); DERS., Die Reinhard-Heydrich-Stiftung als Beispiel nationalsozialistischer Wissenschaftspolitik im Protektorat, in: Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen - Institutionen - Diskurse, hg. v. Christiane B R E N N E R , K. Erik FRANZEN, Peter HASLINGER, Robert L U F T (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 28, München 2006) 157-176. Siehe auch Frank-Rutger H A U S M A N N , „Auch im Krieg schweigen die Musen nicht." Die deutschen wissenschaftlichen Institute im Zweiten Weltkrieg (Veröff. MPIG 169, Göttingen 2002). 61

Harry BRESSLAU, Geschichte der Monumenta Germaniae Histórica im Auftrage ihrer Zentraldirektion (Hannover 1 9 2 1 ) ; [Herbert G R U N D M A N N ] , Monumenta Germaniae Histórica 1 8 1 9 - 1 9 6 9 (München 1 9 6 9 ) ; Horst FUHRMANN, „Sind eben alles Menschen gewesen". Gelehrtenleben im 1 9 . und 2 0 . Jahrhundert. Dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Histórica und ihrer Mitarbeiter (München 1 9 9 6 ) ; Bettina P F E R S C H Y - M A L E C Z E K , Die Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae

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Von erheblicher Bedeutung für die Biografíen und vor allem Karrieren österreichischer Historikerinnen und Historiker war das 1854 in Wien gegründete Institut für Österreichische Geschichtsforschung (1920-1945 Österreichisches Institut für Geschichtsforschung), das - obwohl direkt dem Unterrichtsministerium unterstellt - immer in enger personeller Verflechtung mit der Universität blieb und sich zur fuhrenden Schule in Lehre und Forschung für Historische Hilfswissenschaften und damit zuvorderst für Mediävisten in Mitteleuropa entwickelte. Dank des mehrjährigen, schulisch organisierten Ausbildungslehrgangs erwuchsen am Institut geradezu musterhafte Netzwerke in und zwischen den einzelnen Kursen und zwischen diesen und den Lehrenden, die sich wiederum fast ausschließlich aus Mitgliedern des Instituts, also aus Kursabsolventen rekrutierten. Bis 1945 gelang es zahlreichen Zöglingen des Instituts, Lehrstühle - und nicht nur die mediävistischen und hilfswissenschaftlichen - in (Deutsch-) Österreich, im Deutschen Reich und auch in Prag zu besetzen. Eben bis zu diesem Jahr 1945 ist die Institutsgeschichte seit neuestem ausführlich behandelt worden, während die Zeit bis 1954 weiterhin nur in skizzenhafter Darstellung vorliegt62. An den Universitäten und im Institut für Österreichische Geschichtsforschung genossen Historikerinnen und Historiker eine hohe berufliche und wissenschaftliche Ausbildung und konnten zu wahren Experten auf ihren Fachgebieten werden. Das „schützte" jedoch viele unter ihnen nicht davor, sich seit den 1920er Jahren politischem und gesellschaftlichem Radikalismus anzuschließen. Auch eine schnell wechselnden Moden widerstehende spezialisierte Ausbildung, „Erudition" genannt, sollte deswegen nicht ohne politische und gesellschaftliche Kontextualisierung, ohne kritischen Blick auf die Wege der „Erudierten", bewertet werden63. Angeführt werden an dieser Stelle auch zwei deutsche Wissenschaftsunternehmen, denen jeweils erhebliche Bedeutung als Netzwerkmittelpunkt und Mobilisierungsforum auch für österreichische Historikerinnen und Historiker zukam, obwohl sie ohne feste institutionelle Form organisiert wurden: die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften", unter diesen insbesondere die „Südostdeutsche Forschungsgemeinschaft", und der „Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften"64. Standen diese Unternehmen Histórica am Institut für Österreichische Geschichtsforschung (1875-1990), in: MIÖG 112 (2004) 412-467.

62 Oswald REDLICH, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung, in: Forschungsinstitute. Ihre Geschichte, Organisation und Ziele 1, hg. v. Ludolph BRAUER, Albrecht MENDELSSOHN BARTHOLDY, Adolf MEYER (Hamburg 1930) 452-454; Leo SANTIFALLER, Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Festgabe zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Wiener Haus-, Hofund Staatsarchivs (Veröff. des IÖG, Wien 1950); LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 40); Manfred STOY, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929-1945 (MIÖG Erg.-Bd. 15, 2 0 0 7 ) .

63 Siehe etwa Peter JOHANEK, Die Erudition und ihre Folgen. Vom Institut fiir österreichische Geschichtsforschung und seiner Geschichte, in: MIÖG 113 (2005) 259-268. 64 Michael FAHLBUSCH, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" von

1931-1945

(Baden-Baden

1 9 9 9 ) ; DERS., D i e

„Südostdeutsche

Forschungsgemeinschaft". Politische Beratung und NS-Volkstumspolitik, in: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (wie Anm. 48) 241-264; DERS., Für Volk, Führer und Reich! Die Volksdeutschen

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bereits im Zentrum der Forschung, so wäre die weitläufige „Südostgemeinschaft", die Überschneidungen mit der SODFG aufwies, ebenfalls eine Untersuchung wert. Dasselbe kann zu den nationalen und internationalen Historikertagen und -kongressen gesagt werden, deren Akten gerade auch fur österreichische Historiker aufschlussreiches Material bieten65. Aufmerksamkeit verdient schließlich noch eine Einrichtung der Nachkriegszeit, die mit ihrer „Vorgeschichte" und ihrer Netzwerkfiinktion in die 1930er und 1940er Jahre zurückgreift: Der 1951 von Theodor Mayer am Bodensee eingerichtete „Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte", dessen Geschichte aus Anlass des Gründungsjubiläums 2001 ausführlich erforscht und dargestellt wurde66, wobei jedem Mitglied ein Biogramm gewidmet wurde, dessen Schwergewicht allerdings auf den Publikationen liegt. Vor allem bei den Geschichten der (noch existierenden) Institute und Kommissionen ist daraufhinzuweisen, dass diese oftmals von deren langjährigen Mitgliedern oder Vorständen erarbeitet wurden und daher auch als Dokumente einer (mehr oder weniger harmonisierenden) Innensicht zu bewerten sind.

VI. Im Zentrum wissenschaftsgeschichtlicher Forschung steht „Geschichte" als wissenschaftliches Fach (ebenso wie „verwandte" Fächer) bereits seit etlichen Jahren. Abgesehen von einigen älteren Studien67 ist der Großteil der Arbeiten in Österreich aus Anlass des 50. Jahrestages des „Anschlusses" 1988 und nachfolgend verfasst worden68. Forschungsgemeinschaften und Volkstumspolitik, 1931-1945, in: Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft 2 (wie Anm. 59) 468-489; Frank-Rutger HAUSMANN, „Deutsche Geisteswissenschaft" im Zweiten Weltkrieg. Die „Aktion Ritterbusch" (1940-1945) (Dresden/München 1998); DERS., Der „Kriegseinsatz" der Deutschen Geisteswissenschaften im Zweiten Weltkrieg (1940-1945), in: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus 63-86. 65 Nur einen Aspekt beleuchtet: Peter SCHUMANN, Die deutschen Historikertage von 1893 bis 1937. Die Geschichte einer fachhistorischen Institution im Spiegel der Presse (Diss. Marburg a. d. Lahn 1974); Karl Dietrich ERDMANN, Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques (Abh. Göttingen 3. Folge 158, G ö t t i n g e n 1 9 8 7 ) .

66 Traute ENDEMANN, Geschichte des Konstanzer Arbeitskreises. Entwicklung und Strukturen 19512001 (Veröff. des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte aus Anlaß seines fünfzigjährigen Bestehens 1, Stuttgart 2001); Der Konstanzer Arbeitskreis für Mittelalterliche Geschichte 1951-2001. Die Mitglieder und ihr Werk. Eine bio-bibliographische Dokumentation, bearb. v. Jörg SCHWARZ (Veröff. des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte aus Anlaß seines fünfzigjährigen Bestehens 2, Stuttgart 2001), sowie die entsprechenden Stellen bei NAGEL, Im Schatten des Dritten Reichs (wie Anm. 47). 67 Gerhard OBERKOFLER, Die geschichtlichen Fächer an der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck 1850-1945 (Innsbruck 1969); Günther RAMHARDTER, Geschichtswissenschaft und Patriotismus. Österreichische Historiker im Weltkrieg 1914-1918 (Wien 1973); Herbert DACHS, Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluß 1918-1930 (Wien/Salzburg 1974). 68 Gernot HEISS, Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus, in: Willfährige Wissenschaft (wie Anm. 52) 39-76; Kontinuität und Bruch. 1938-1945-1955. Beiträge zur österreichischen Kultur- und

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Besondere Aufmerksamkeit erfuhren zudem die Geschichtsauffassungen über den Staat, das Land und den Begriff „Österreich"69. Österreichische (bzw. 1938-1945 „reichsdeutsche") Historikerinnen und Historiker scheinen aber auch in zahlreichen deutschen Studien zur Geschichtswissenschaft auf, die - stärker als in Österreich - gemäß ihren Untergliederungen analysiert wurde. So treten zu allgemeinen, chronologisch begrenzten Arbeiten70 Spezialisierungen auf die Mittelalterforschung71, die Sozialgeschichte72, die „Volksforschung" oder „Volksgeschichte"73, die „OstforWissenschaftsgeschichte, hg. v. Friedrich STADLER (Wien/München 1 9 8 8 ) , ebd. 9 - 2 3 : DERS., Kontinuität und/oder Bruch? Anmerkungen zur österreichischen Wissenschaftsgeschichte 1938 bis 1 9 5 5 , und 1 3 5 - 1 5 5 : Günter FELLNER, Die österreichische Geschichtswissenschaft von ,Anschluß' zum Wiederaufbau; Der geistige Anschluß. Philosophie und Politik an der Universität Wien 1 9 3 0 — 1 9 5 0 , hg. v. Kurt R. FISCHER, Franz M . W I M M E R (Wien 1 9 9 3 ) ; Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 4 : Geschichte und fremde Kulturen, hg. v. Karl A C H A M (Wien 2 0 0 2 ) , ebd. 1 5 - 6 4 und 6 7 - 8 0 : Einleitung und Vorbemerkung [des Herausgebers]; 1 2 7 - 1 5 9 : Reinhard H Ä R T E L , Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften; Österreichs Umgang mit dem Nationalsozialismus (wie Anm. 5 1 ) ; Peter B R O U C E K , Kurt P E B A L L , Geschichte der österreichischen Militärhistoriographie (Köln/Weimar/Wien 2 0 0 0 ) . Siehe auch: Erika W E I N Z I E R L , Wissenschaft und Nationalsozialismus, in: Vertriebene Vernunft 2 (wie Anm. 5 0 ) 5 1 - 6 2 ; Daniela S A X E R , Die Schärfung des Quellenblicks. Die geschichtswissenschaftliche Forschungspraxis in Zürich und Wien ( 1 8 0 0 1 9 1 4 ) (Diss. Zürich 2 0 0 5 ) . 69 Aus der zahlreichen Literatur verweise ich nur auf: Probleme der Geschichte Österreichs und ihrer Darstellung, hg. v. Herwig W O L F R A M , Walter P O H L (ÖAW Veröff. der Kommission für Geschichte Österreichs 18, Wien 1991); Gernot H E I S S , Im „Reich der Unbegreiflichkeiten". Historiker als Konstrukteure Österreichs, in: ÖZG 7/4 (1996) 455^178. 70 Klaus SCHREINER, Führertum, Rasse, Reich. Wissenschaft von der Geschichte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Wissenschaft im Dritten Reich, hg. v. Peter LUNDGREEN (Frankfurt/M. 1985) 163-252; Ursula W O L F , Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie (Frankfurter Historische Abhandlungen 37, Stuttgart 1996); Georg. G. IGGERS, Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart (Wien/Köln/Weimar 1997); Lutz R A P H A E L , Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart (München 2003); Nationalsozialismus in den Kulturwissenschaften 1: Fächer - Milieus - Karrieren; 2: Leitbegriffe - Deutungsmuster - Paradigmenkämpfe. Erfahrungen und Transformationen im Exil, hg. v. Hartmut LEHMANN, Otto Gerhard O E X L E unter Mitwirkung von Michael M A T T H I E S E N , Martial S T A U B (Veröff. MPIG 200/211, Göttingen 2004), behandelt werden ebd. in Einzelstudien die Universitäten Heidelberg und Posen und die Historiker Herbert Jankuhn, Hermann Aubin, Herbert Grundmann, Ernst H. Kantorowicz, Golo Mann und Gerhard Ritter. Zuletzt siehe auch Eike W O L G A S T , Mittlere und Neuere Geschichte, in: Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus (wie Anm. 54) 491-516. 71 Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hg. v. Peter M O R A W , Rudolf SCHIEFFER (VuF 62, Ostfildern 2005). In diesem breit angelegten Sammelband wurden österreichische Historiker ohne nähere Angabe der Gründe fast nicht thematisiert. Hinzuweisen ist weiters auf N A G E L , Im Schatten des Dritten Reichs (wie Anm. 47). 7 2 Thomas ETZEMÜLLER, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit 9 , München 2 0 0 1 ) . 73 Willi O B E R K R O M E , Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101, Göttingen 1993); Klaus F E H N , Volksgeschichte im Dritten Reich als fächerübergreifende Wissenschaftskonzeption am Beispiel von Adolf Helbok, in: Kulturen - Sprachen - Übergänge. FS H. L. Cox, hg. v. Gunther HIRSCHFELDER (Köln 2000) 567-580; Volksgeschichten im Europa der

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schung" und „Westforschung"74 und weitere Spezialgebiete75. Schließlich wurden auch innereuropäische Vergleiche der nationalen Geschichtswissenschaften angestellt76. Zuletzt kamen „Geschichte" und die „Geschichtswissenschaften" als Konstrukte verschiedener sozialer und kultureller Praxis, die auch von neurobiologischen Faktoren determiniert werden, in Diskussion77. Aufschlussreich ist des Weiteren, dass manche Historiker bemüht waren, Fächer bzw. Richtungen der Geschichtswissenschaft in politische Anwendung zu bringen, die dafür - zumindest auf den ersten Blick - eher ungeeignet schienen. So erblickte ein Südtiroler Historiker 1937 in der gerade in Österreich zur Hochblüte gelangten mediävistischen Urkundenforschung ein „Mittel zur Landesverteidigung", eine „hervorragend nationale Wissenschaft", die „ihrer Führer" nicht entbehren musste78.

Zwischenkriegszeit (wie Anm. 24) u. a., ebd. 7-37: Manfred HETTLING, Volk und Volksgeschichten in Europa, und 65-95: Willi OBERKROME, Entwicklungen und Varianten der deutschen Volksgeschichte (1900-1960). - Eine zaghafte Kritik der deutschen „Volkskunde", „Volkswissenschaft" und „Rassenlehre" unternahm schon Heinrich von SRBIK, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart 2 (Salzburg [1951]) 337-364, ohne eine gewisse Verbindung zum Sujet leugnen zu wollen. 74 Eduard MÜHLE, ,Ostforschung'. Beobachtungen zu Aufstieg und Niedergang eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Z f ö 46 (1997) 317-350; DERS., Ostforschung und Nationalsozialismus. Kritische Bemerkungen zur aktuellen Forschungsdiskussion, in: ZfO 50 (2001) 256-275; Ingo HAAR, „Ostforschung" und „Lebensraum"-Politik im Nationalsozialismus, in: Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft 2 (wie Anm. 59) 437-467; DERS., Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der „Volkstumskampf im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143, Göttingen 22002); Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, hg. v. Jörg HACKMANN, Rudolf JAWORSKI (Osnabrück 2002). - Peter SCHÜTTLER, Die historische „Westforschung" zwischen .Abwehrkampf' und territorialer Offensive, in: Geschichtsschreibung als Legitimationswissensch aft (wie Anm. 48) 204-261; Hans DERKS, Deutsche Westforschung. Ideologie und Praxis im 20. Jahrhundert (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 4, Leipzig 2001); Griff nach dem Westen. Die „Westforschung" der völkisch-nationalen Wissenschaften zum nordwesteuropäischen Raum (1919-1960), hg. v. Burkhard DIETZ, Helmut GABRIEL, Ulrich TIEDAU (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas 6, Münster 2003). Siehe zu beiden Bereichen auch die entsprechenden Beiträge in: Deutsche Historiker im Nationalsozialismus (wie Anm. 48). 75 Joachim LERCHENMUELLER, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland" (Archiv für Sozialgeschichte Beiheft 21, Bonn 2001). 76 Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, hg. v. Christoph CONRAD, Sebastian CONRAD (Göttingen 2002); Annäherung an eine europäische Geschichtsschreibung, hg. v. Gerald STOURZH unter Mitarbeit von Barbara HAIDER, Ulrike HARMAT (AÖG 137, Wien 2002); Nationale Geschichtskulturen (wie Anm. 1). 77 Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, hg. v. Jan ECKEL, Thomas ETZEMÜLLER (Göttingen 2007). 78 Leo SANTIFALLER, Urkundenforschung. Methoden, Ziele und Ergebnisse (Weimar 1937) 50 Anm. 39, 7 4 f.

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VII. Aus einer Literaturschau der letzten Jahrzehnte geht in aller Deutlichkeit hervor, dass eine moderne, kohärent angelegte Sammlung wissenschaftsgeschichtlicher Porträts österreichischer Historikerinnen und Historiker nicht existiert. In der Literatur wurden jedoch ständig Hinweise auf das Wirken und die Bedeutung österreichischer Historikerinnen und Historiker gegeben, die eine kritische Beschäftigung mit ihren Biografíen und Werken als sehr wünschenswert erscheinen lassen. Ziel des vorliegenden Buches ist eine Sammlung wissenschaftsgeschichtlicher Porträts ausgewählter österreichischer Historikerinnen und Historiker, die weit über den Umfang der Skizzen in biografischen Lexika hinausgehen79. Als Aufnahmekriterium gilt, dass die Person in Österreich, das heißt in der Habsburgermonarchie geboren wurde, nach 1918 die österreichische Staatsbürgerschaft besaß oder erwarb und ihre entscheidende Wirkungsphase zwischen 1900 und 1945 durchlebt oder danach nicht wesentlich übertroffen hat. Alle Personen sollten als Historiker ausgebildet worden sein, auch wenn sie später als Archivare oder Bibliothekare tätig waren, und zudem solche bleibenden Spuren in der Wissenschaft oder in anderen Bereichen hinterlassen haben, dass die Auseinandersetzung mit ihrer Biografíe lohnende wissenschaftsgeschichtliche Ergebnisse erwarten lässt. Die in diesem Buch präsentierten Porträts decken die wichtigsten biografischen Daten ab, gehen in den meisten Fällen aber weit darüber hinaus, weil von den Autoren relevante Quellen in den Archiven ausgewertet wurden, um soziobiografische Faktoren aufzeigen zu können. Die Archivrecherchen kamen zudem der Frage nach Mitgliedschaften in wissenschaftlichen und politischen Verbänden und politischen Parteien sowie der Tätigkeit in der Lehre, bei Fachkonferenzen und Einzelvorträgen zugute. Die Durchsicht der Nachlässe und der Korrespondenzen erbrachte schließlich zahlreiche Belege und Hinweise zu politischen Meinungen und Tätigkeiten und offenbarte die Ausdehnung der wissenschaftlichen Netzwerke, in die österreichische Historikerinnen und Historiker eingebunden waren. Zentral ist die wissenschaftsgeschichtliche Einordnung des Œuvres der Porträtierten. Herausgearbeitet wurde auch die Zeitgebundenheit der Schriften, ihre Positionierung und Abhängigkeit von der damaligen Gegenwart. Dass viele Historiker durch „äußere" Einflüsse wie die Kriegsniederlage 1918 oder den „Anschluss" 1938 bedingt einen Perspektiven- oder Paradigmenwechsel in der eigenen Forschung vollzogen, ist ebenso ersichtlich wie bei anderen eine Resistenz gegen politisch bedingte Änderungen bei der eigenen wissenschaftlichen Arbeit. Beherrschend war nach 1918 in damaligen Historikerkreisen jedoch das Bewusstsein, sich in einer tiefen nationalen Krise zu befinden, aus der der „Anschluss" endlich eine Erlösung bringen sollte. Auch die fünf Jahre zwischen 1933 und 1938, in denen österreichische Historikerinnen und Historiker Zeit hatten, die Errichtung und Etablierung des NS-Regimes in Deutschland „von außen" zu be-

79 Ein Vorbild hat dieses Buch in der Sammlung 27 wissenschaftsgeschichtlicher Porträts, die 2001 von Monika Glettler und Alena Miskovä herausgegeben wurde, siehe Präger Professoren (wie Anm. 53).

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obachten, ließen anscheinend keine Angst oder gar Abscheu vor dieser Diktatur aufkommen. Zahlreich sind dagegen die Schriften „großer" Historiker, die in einer Phase der Anschlusseuphorie verfasst wurden80. Als der österreichische Historiker Albert Massiczek Jahrzehnte später über seine eigene Hinwendung zum Nationalsozialismus 1932/33 in Österreich reflektierte, formulierte er knapp und treffend: „Wir wollten aus einem Zustand heraus, den wir als Sumpf empfanden. Natürlich griffen wir in den Schlamm."81 Hohe schulische Bildung und elitäre universitäre Ausbildung schützten ihn und einige andere Historiker nicht davor, sich extremem politischen Radikalismus anzuschließen, wobei kaum ein Historiker nach Kriegsende seine Vergangenheit so kritisch reflektiert hat wie Massiczek. Dass von den hier porträtierten Personen vielleicht nur eine, die das Dritte Reich bis 1945 durchlebt hat, dieses - und das nur an dessen Ende - als menschenverachtende Diktatur empfunden oder sich wesentlicher Freiheiten beraubt gefühlt hat, stimmt nachdenklich. Der gewählte Zeitrahmen 1900-1945 erfasst das Wirken dreier Historikergenerationen, die sich in die „Kriegsjugendgeneration", die „Frontgeneration" und die dieser vorangehende Generation unterteilen lassen. Dieser Zeitrahmen korrespondiert gleichzeitig mit einer auch international beachteten Hochphase der österreichischen Geschichtsforschung, wie allein viele Namen der Porträtierten belegen. Zu nennen wären etwa Johann Loserth, Alfons Dopsch, Wilhelm Bauer, Hans Hirsch, Theodor Mayer und Leo Santifaller. Drei Porträtierte fallen dadurch auf, dass sie den wichtigsten Abschnitt ihrer Karriere außerhalb Österreichs verbrachten: Theodor Mayer vor 1945 in der Tschechoslowakei und im Deutschen Reich, danach nur noch in der Bundesrepublik Deutschland, Heinz Zatschek mit Unterbrechungen von 1926 bis 1945 in der Tschechoslowakei und im Protektorat Böhmen und Mähren sowie Eduard Winter vor 1945 ebenfalls in der Tschechoslowakei und im Protektorat Böhmen und Mähren und seit 1947 in der (späteren) Deutschen Demokratischen Republik. Wilfried Krallert schließlich ergriff nach seiner Ausbildung zum Historiker und Geografen weder den Historiker- noch den Bibliothekars- oder Archivarsberuf, sondern arbeitete als Angehöriger der NS-Weltanschauungselite in der Verwaltung der SS, wo er seine erworbenen Kenntnisse zielstrebig einsetzte. Unter den 19 porträtierten Personen fehlen Flüchtlinge bzw. Emigranten, die aus politischen oder „rassischen" Gründen ihre Heimat verlassen mussten. Historikerinnen und Historiker mit diesem Schicksal hat es natürlich gegeben, es haben sich für ihre biografischen Porträts nur keine Autoren finden lassen. Ein porträtierter Historiker, Richard Heuberger, hat sich nach anfänglicher Sympathie für das NS-Regime dem Widerstand angeschlossen und erhebliches persönliches Risiko auf sich genommen. Weniger als zehn Historikerinnen und Historiker haben unter anderem dank offener Zustimmung zum Regime oder sogar zielstrebiger aktivistischer Teilnahme Vorteile für ihre Karriere erlangen können. Die

Als signifikante Beispiele können gelten: Heinrich von SRBIK, Das Reich, in: DERS., Gestalten und Ereignisse aus Österreichs deutscher Vergangenheit (Leipzig 1942) 5-13, und DERS., Österreichs Heimkehr, in: ebd. 6 6 - 7 0 . 81 MASSICZEK, Ich war Nazi (wie Anm. 30) 88. 80

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anderen konnten wichtige Schritte ihrer beruflichen Laufbahn in der Zeit vor dem Regime vollziehen. Der Wiener Historiker Heinrich Fichtenau postulierte 1992: „Gelehrtengeschichte verträgt keine allzu nahe Distanz."82 Deswegen ließ er seine Darstellung der Urkundenforscher mit dem 1940 verstorbenen Hans Hirsch enden. Die „Distanz" betrug also über 50 Jahre. In diesem Buch wird die „Distanz" halbiert, da der zuletzt verstorbene unter den Porträtierten 1982 verschied. Der älteste unter ihnen wurde 1846 geboren, der jüngste 1912. Der früheste Todesfall trat 1930 ein. Das erreichte Durchschnittsalter ist mit ca. 77 Jahren beachtlich, eingeschlossen auch jene zwei Historiker, die 1945 freiwillig aus dem Leben schieden. Nur ein Autor hat sein „Forschungsobjekt" noch persönlich gekannt, freilich nicht in einer Lehrer-Schüler Beziehung oder gar Verehrung. Fast alle anderen Autorinnen und Autoren entstammen Generationen, die höchstens bei den spätesten Schülern ihrer „Forschungsobjekte" hätten lernen können, was aber - soweit ich es beurteilen kann - nicht geschehen ist. Damit war die Möglichkeit nicht gegeben, dass die Autorinnen und Autoren ihrer zu bearbeitenden Person aus eigenem Erleben eine tiefe Verehrung oder sogar „Faszination" entgegenbringen, was sich deutlich in der Neutralität der Texte und einem Ausbleiben apologetischer Wertungen niedergeschlagen hat. Dass im behandelten Zeitraum 1900-1945 politische Momente von den Historikerinnen und Historikern in Leben und Werk verschieden aufgegriffen und verarbeitet wurden, kann im 21. Jahrhundert nicht mehr ausgeblendet werden und stand bewusst zur Debatte, vor allem auch, weil die meisten der Porträtierten ihre politischen Gedanken als für sich selbst wesentlich empfanden und diese nicht verheimlichten. Eben dieses im Nachhinein zu tun, würde der porträtierten Person nicht gerecht werden und sie eines wesentlichen Faktors ihres Daseins berauben. Es kann an dieser Stelle daran erinnert werden, dass Reinhart Koselleck von einem „Vetorecht" der Quellen gesprochen hat: „Streng genommen kann uns eine Quelle nie sagen, was wir sagen sollen. Wohl aber hindert sie uns, Aussagen zu machen, die wir nicht machen dürfen. Die Quellen haben ein Vetorecht. Sie verbieten uns, Deutungen zu wagen oder zuzulassen, die aufgrund eines Quellenbefundes schlichtweg als falsch oder als nicht zulässig durchschaut werden können."83 Die Verfasser der jeweiligen Nachrufe und der apologetischen Wertungen wussten das nur zu gut, darum gingen sie - auch nach Sichtung der Werke und Korrespondenz des Porträtierten - einen zielgerichteten Weg: den des Verschweigens und Nicht-Thematisierens unliebsamer Dinge. Die Quellen behielten dabei ihr „Vetorecht", indem diese im Diskurs bewusst nicht beachtet wurden. Die an dieser Stelle Porträtierten wurden ungeachtet ihrer innovativen, umstrittenen oder sogar „fehlgeleiteten" Arbeiten und Impulse aufgenommen. Sie müssen 82 Heinrich FICHTENAU, Diplomatiker und Urkundenforscher, in: MIÖG 100 (1992) 9 49, hier 9: „Mit ihm [Hans Hirsch f l 9 4 0 ] soll dieser Überblick beendet werden, denn Gelehrtengeschichte verträgt keine allzu nahe Distanz." 83 Reinhart KOSELLECK, Standortbestimmung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: DERS., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten (Frankfurt/M. 1989 ['1979]) 176-207, hier 206.

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demnach nicht als „Klassiker" weiterwirken, sondern können im Fach bereits „vergessen" sein. Auch gab es keine thematische Begrenzung ihrer Arbeitsbereiche: Sie müssen nicht als „Allgemeinhistoriker", „Neuzeithistoriker", „Urkundenforscher", „Wirtschaftshistoriker" oder „Europa-Historiker" usw. einzuordnen sein. Das könnte als Nachteil empfunden werden, da kein Blick auf ein einheitliches Forschungsfeld geworfen wird und dadurch kaum weitgespannte Vergleiche innerhalb der Disziplin möglich sind. Dafür kommen andere Gemeinsamkeiten ans Tageslicht. So zeigt sich, dass durch bestimmte Schülerkreise und Netzwerke vor allem in der oder durch die Universität Wien und das dortige Institut fur Österreichische Geschichtsforschung eine speziell österreichische Wissenschaftskomponente (auch international) bestand, was damaligen Zeitgenossen durchaus bewusst war. Ein Ergebnis des Buches liegt in einer „Leistungsschau" österreichischer Historikerinnen und Historiker, die wesentliche Forschungen zur europäischen Geschichtswissenschaft beigetragen haben, die teilweise bis in die Gegenwart nachwirken und diskutiert werden. Mit Alfons Dopsch wird ein Historiker porträtiert, dem durchaus ein internationaler „Klassiker"-Status zugesprochen werden darf. Wurden in etlichen Lexika - wie oben gezeigt - innovative und „positiv" arbeitende Historikerinnen und Historiker porträtiert, werden im vorliegenden Band nicht nur diese vorgestellt, sondern auch jene, die sich wissenschaftlich und politisch auf Irrwege begaben. Insgesamt entsteht also ein Profil und Querschnitt der österreichischen Geschichtswissenschaft 1900-1945, in dem auch Archivare und Bibliothekare berücksichtigt wurden. Georges Duby stellte seinem „Ego-Dokument" „Das Vergnügen des Historikers" unter anderem folgende Worte voran: „Um es gleich vorweg zu sagen: Ich erzähle nicht mein Leben. Es ist vereinbart, daß ich in dieser Selbstbeschreibung nur einen Teil von mir bloßlege: das ego laborator, wenn man so will, oder das ego faber. Weil ich zum Beispiel nicht über Malerei, Theater oder Musik spreche, weil ich nichts über diejenigen sage, die ich liebe, liegt es auf der Hand, daß hier das Wesentliche verschwiegen wird. Ich werde also über mein öffentliches Leben sprechen und aufzuzeigen versuchen, wie das, was man eine Karriere nennt, in einer kurzen Phase der allgemeinen Geschichte vor sich gegangen ist. Man sollte meinen, das sei einfach. Es ist es nicht. Denn sicherlich habe ich mich in diesem oder jenem Augenblick angepaßt, habe laviert, mich durchgemogelt, den Platz eines anderen eingenommen. Warum sollte ich mir nicht die schöne Rolle geben? Ego faber gloriosus"M. Einerseits enthält dieses Bekenntnis auch fur das gewöhnlich „sichtbare" Leben anderer Historikerinnen und Historiker viel Wahres. Andererseits kann Dubys Aussage zugleich als Imperativ gelesen werden, bei der wissenschaftsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Œuvre und der Person einer Historikerin oder eines Historikers eben auch das „Wesentliche" zu suchen, das sich zuvorderst nicht im „öffentlichen" Leben der oder des zu Porträtierenden finden lässt.

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DUBY,

Das Vergnügen des Historikers (wie Anm. 35) 65f.

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Es ist demnach der biografische, neue Quellen erschließende Zugang, der ein historisches Werk erst erklärbar und interpretierbar macht und so eine Annäherung an Werk und Person gestattet85, und der das Erfassen gleich- und verschiedenartiger Dimensionen persönlicher Erfahrungen in ihrer Zeitgebundenheit ermöglicht, deren Schnittmengen sich zu kollektiven Erfahrungen verdichten können. Diese wiederum werden erst richtig relevant, wenn sie in einem internationalen Rahmen verglichen werden und so dazu dienen, nationale Determinanten zu erkennen.

85 Erinnert sei daran, dass bei der Analyse und Interpretation eines literarischen, musikalischen, bildnerischen oder filmischen Werkes seit langem das gesamte (zuvorderst auch private) Leben seines Schöpfers herangezogen wird.

Johann Loserth (1846-1936) Ein „Gelehrter von Weltruf in Czernowitz und Graz von Pavel Soukup

Abb. 1: Johann Loserth

I. Das Vorwort eines schmalen Buches, das der Historische Verein für Steiermark Johann Loserth, dem „Nestor der Historiker des Steierlandes", zu seinem allerdings nicht mehr erreichten 90. Geburtstag 1936 widmete, hebt die Verdienste dieses Historikers im Bereich der steirischen Landesgeschichte hervor. Laut jener Laudatio sei der aus Mähren stammende Loserth „nicht nur der dem Land Steiermark geltenden gelehrten Arbeiten wegen immer mehr der Unsere geworden" 1 . Die zahlreichen Beiträge anlässlich Loserths Jubiläen, übersichtliche bibliografische Forschungsberichte sowie die Nachrufe pflegten auf die Breite seines wissenschaftlichen Blickwinkels hinzuweisen. So erscheint Loserth nicht nur allein als ein Fachmann für innerösterreichische Religionsgeschichte der frühen Neuzeit. Die Ehre, ihn zu den Klassikern ihrer Geschichts1

Studien zur mittleren und neueren Geschichte vornehmlich der Steiermark. Johann Loserth zum 90. Geburtstage gewidmet (Blätter für Heimatkunde 14, Heft 4/6, Graz 1936). - Für eine sprachliche Korrektur meines Beitrages danke ich Karel Hruza.

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forschung zu rechnen, nahm nicht nur die Steiermark für sich in Anspruch, sondern auch Böhmen oder sogar England. Als 1927 James P. Whitney einen Überblick über die Leistungen der Londoner Wyclif Society verfasste, musste er Loserth den „Löwenanteil an der Herausgabe" von Wyclifs Schriften zuerkennen und meinte: „Ein so prächtiger Beleg fortwährender, wenn auch schlecht belohnter Mühe viele Jahre hindurch spricht für sich selbst und verdient die höchste Dankbarkeit"2. Im selben Jahr gab auch der tschechische Historiker Josef Pekar eine Wertung der Werke Loserths aus böhmischer Sicht ab: „Die wissenschaftliche Bedeutung der Arbeiten und Editionen Loserths [...] reiht seinen Namen unter die vordersten Forscher unserer Geschichte in den letzten 55 Jahren, besonders was ihre religiösen Inhalte anbelangt3." Diese Worte sind umso mehr eine anerkennende Geste gewesen, als die national-tschechische Geschichtsschreibung, als deren Großmeister Pekar damals schon galt, Loserths Thesen und Ansichten seit mehreren Jahrzehnten hart bekämpft hatte4. Im Folgenden wird die Frage, welchem Land Loserth wirklich „gehört" hat, nicht beantwortet werden können. Allerdings würde ich auch den eventuellen Versuch, Loserth aufgrund seiner Tätigkeit in Nordmähren, Wien, Czernowitz (Cernivci, Cernäu^i) und Graz als eine Integrationsfigur in Ostmitteleuropa auffassen zu wollen, für wenig zielführend halten. Vielmehr möchte ich die Themenwahl und die Methode seiner Forschungen, zu denen bedeutende Arbeiten über mittelalterliche Geschichtsquellen Böhmens, über Wyclif und den böhmischen Wyclifismus und über die Reformation in den habsburgischen Ländern zählen, in Zusammenhang mit seinem Werdegang und seiner beruflichen Laufbahn betrachten5. Genauso wie man innerhalb seiner zahlreicher 2

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„The lion's share of editing was taken by Dr. Loserth with thirteen volumes." - „Such a noble record of continuous but badly requited labour over many years speaks for itself and claims the greatest gratitude." James Pounder WHITNEY, A Note on the Work of the Wyclif Society, in: Essays in History presented to Reginald Lane Poole, ed. H. W. C. DAVIS (Oxford 1927) 98-114, hier 98-99. „Vcdecky vyznam praci a edici Loserthovych [...] stavi jmeno jeho mezi pfedni vzdelavatele nasich dejin v poslednich 55 letech, v torn zejmena jejich obsahu näbozenskeho - tfebas by, jak pochopitelno, stanovisko jeho nekrylo se vzdy s nazory ceskych historiku", Jfosef] P[EKAR], Profesoru Janu Loserthovi bylo 1. zan lonskeho roku 80 let [Professor Johann Loserth wurde am 1. September des vorigen Jahres 80 Jahre alt], in: Cesky casopis historicky 33 (1927) 212-213, hier 213. Zu der zitierten Stelle fügte Pekar die Bemerkung an, es sei ganz verständlich, dass sich Loserths Standpunkt nicht mit dem der tschechischen Historiker decke. Johann Loserth wurde 1846 im nordmährischen Fulnek geboren. Eine umfangreiche Auswahlbibliografie Loserths bieten Wilhelm ERBEN, Anton KERN, Johann Loserth als Geschichtsforscher. Eine Übersicht seiner wissenschaftlichen Werke, in: ZHVSt 22 (1926) 5-30; Nachträge bei Anton KERN, Johann Loserth, in: ZHVSt 32 (1938) 148-153. Von den zahlreichen festlichen Lebensschilderungen und Nachrufen seien genannt: Mathilde UHLIRZ, Johann Loserth zum achtzigsten Geburtstage (1. September 1926), in: Zs. des Vereines für die Geschichte Mährens und Schlesiens (= ZVGMS) 28 (1926) 1-8; Heinrich von SRBIK, Johann Loserth, in: Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien 87 (1937) 281-290; Karl HAFNER, Johann Loserth, in: Grazer Tagespost vom 31.08.1936; weitere Biogramme in: ÖBL 5 (1972) 328-329; Biographisches Lexikon zur Geschichte der böhmischen Länder 2, hg. v. Heribert STURM (München 1984) 501-502; Fritz FELLNER, Doris A. CORRADINI, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon (VKGÖ 99, Wien 2006) 262. Die Dissertation Ingeborg PETTIN, Johann Loserth (masch. Diss. Graz 1950), bietet nicht viel mehr als Zusammenfassungen der Hauptarbeiten Loserths und einen kurzen Lebenslauf; ein kurzes Porträt liefert Marie MACKOVÄ,

Johann Loserth (1846-1936)

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Veröffentlichungen bestimmte geschlossene Themenkreise leicht entdecken kann, können diese in Verbindung mit Strategien der Karrierenbildung gebracht werden, welche Loserth, darin allerdings weniger erfolgreich als bei der eigentlichen historischen Arbeit, bewusst oder unbewusst angewandt hat. Nicht zuletzt muss man bei einer solchen Persönlichkeit wie Loserth, der seinerzeit viele Kontroversen angeregt hat und bis heute als Vertreter einer bestimmten Richtung in der Erforschung des Hussitentums zitiert wird, auf seine Motive und auf die Wege achten, auf denen er zu seinen Schlussfolgerungen gelangt ist. Bei der kaum übersehbaren thematischen Breite und chronologischen Dimension seiner gelehrten Abhandlungen - zwischen seiner ersten und letzten Buchveröffentlichung liegen 62 Jahre - erscheint ein Zugriff unter dem Gesichtspunkt der Verflechtung von Themen- und Methodenwahl und Karriere als geeignetes Mittel zu seiner Wertung.

II. Nach Gymnasialstudien in Troppau (Opava) und Kremsier (Kromeriz) immatrikulierte sich der zwanzigjährige Loserth 1866 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien und besuchte Vorlesungen und Übungen in Philosophie, Geschichte, Germanistik und Geografie6. Zu seinen wichtigsten Lehrern gehörten Joseph von Aschbach (Altertum), Albert Jaeger (österreichische Geschichte), Ottokar Lorenz (vornehmlich Geschichte des Mittelalters sowie Quellenkunde) und Theodor von Sickel (historische Hilfswissenschaften). Seit Oktober 1869 war Loserth ordentliches, ein Stipendium erhaltendes Mitglied des 8. Ausbildungskurses des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Den Kurs absolvierte er mit einer Staatsprüfung im Juli 1871, wobei er als Thema seiner Hausarbeit die Chronik des so genannten „Bernardus Noricus" aus Kremsmünster wählte7. Inzwischen hatte er das achte Semester seines Universitätsstudiums abgeschlossen und 1870 legte er die Lehramtsprüfungen in den Fächern

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Johann Loserth 1846-1936, in: Historiografie Moravy a Slezska 1 [Die Historiographie Mährens und Schlesiens 1], hg. v. Ivo BARTECEK (Olomouc 2001) 109-117. Zuletzt siehe Pavel SOUKUP, Johann Loserth a cesky stfedovëk [Johann Loserth und das böhmische Mittelalter], in: Nèmeckâ medievistika v ceskych zemich do roku 1945 [Die deutsche Mediävistik in den böhmischen Ländern bis zum Jahr 1945], hg. v. DEMS., Frantisek SMAHEL (Prâce z dëjin vëdy 18, Praha 2004) 251-272; Pavel SOUKUP, Pocâtky vëdecké drâhy Johanna Losertha a prazskâ univerzita [Die Anfange der wissenschaftlichen Laufbahn Johann Loserths und die Prager Universität], in: Acta Universitatis Carolinae - Historia Universitatis Carolinae Pragensis 44/2004 (2006) 19-44. Troppauer Abiturzeugnis, Wiener Immatrikulationsdiplom sowie Universitätsindexe im StLA Graz, NL Johann Loserth (= JL), K. 1, Heft (= H.) 1-2. StLA, NL JL, K. 1, H. 2; Leo SANTIFALLER, Das Institut für österreichische Geschichtsforschung. Festgabe zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (Veröff. des IÖG 11, Wien 1950) 103; Alphons LHOTSKY, Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854-1954 (MIÖG Erg.-Bd. 17, Graz/Köln 1954) 138f. Zu Loserths Thema siehe DERS., Quellenkunde zur mittelalterlichen Geschichte Österreichs (MIÖG Erg.-Bd. 19, Graz/ Köln 1963) 284-288; Paul UIBLEIN, Die Quellen des Spätmittelalters, in: Die Quellen der Geschichte Österreichs, hg. v. Erich ZÖLLNER (Schriften des Institutes fur Österreichkunde 40, Wien 1982) 97f.

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Geschichte, Geografie und Deutsch ab. Seit November desselben Jahres unterrichtete er als Aspirant am Leopoldstädter Gymnasium in Wien, nach einem Jahr wurde ihm eine Lehrstelle am Gymnasium an der Landstraße zugewiesen8. Neben seinen Lehrverpflichtungen widmete er sich weiterhin der historischen Forschung. Wie schon zur Zeit seiner Universitätsstudien, zeigte sich auch hier der Einfluss Ottokar Lorenz' als maßgebend. Die hilfswissenschaftlichen Kenntnisse sowie die Grundsätze der historischen Kritik hatte Loserth zwar von Sickel erworben, Lorenz richtete seine Aufmerksamkeit jedoch auf erzählende Quellen des Mittelalters. Aus dem Seminar kannte Lorenz Loserths Analysen der Geschichtsquellen von Kremsmünster, die er für ausreichend zur Erlangung der Doktorwürde hielt. Diese erwarb Loserth wegen eines damals in Wien erforderlichen mathematischen Rigorosums, dem er ausweichen wollte, 1871 in Tübingen, erst drei Jahre später unterzog er sich der Doktorprüfung auch in Wien. Es war auch Lorenz, der seinen begabten Schüler zur Drucklegung der Ausgabe der Kremsmünsterer Geschichtsquellen aufforderte und das Buch mit einem Vorwort versah9. Auch nachfolgend beschäftigte sich Loserth vornehmlich mit narrativen Quellen des Mittelalters. Im Programm seines Gymnasiums veröffentlichte er eine Arbeit, die zu einem Teil seinen Institutsforschungen entsprang, zum anderen aber schon ein neues Feld seines Interesses ankündigte, nämlich die böhmische Chronik aus dem Kloster Königsaal (Zbraslav)10. Man kann nur vermuten, was Loserth den Anlass für seine bohemikalen Studien gab, die sein Schicksal in den kommenden Jahrzehnten prägen sollten. Manche Kurzbiografien machen darauf aufmerksam, dass Loserth ein Landsmann seines Lehrers war, da auch Lorenz aus Mähren, nämlich aus Iglau (Jihlava) stammte. Meines Erachtens aber kann man im patriotischen Verhältnis zu den Ländern der böhmischen Krone keinen Hauptgrund seiner historischen Spezialisierung erblikken. Loserths Arbeiten zur Geschichte der nordmährischen Region bilden innerhalb

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StLA, NL JL, K. 1 ; vgl. dazu Loserths Autobiografie, in: PETTIN, Johann Loserth, Anhang [getrennte Paginierung] 5-6 (weiterhin zitiert als Autobiografie). Loserths kurzgefasste Lebensschilderung, bis 1875 gefuhrt, stellte der Verfasserin Anton Kern zur Verfugung (vgl. PETTIN I). Im NL JL ist das Manuskript nicht aufzufinden, und da Kerns NL in der UB Graz ungeordnet ist, bleibt Pettins Abschrift die einzige erreichbare Fassung. Die Datierung der Autobiografie durch Pettin auf 1919-1920 (in Zusammenhang mit der Ernennung Loserths zum korrespondierenden Mitglied der Akademie) ist unhaltbar, da Loserth korrespondierendes Mitglied bereits 1896 und wirkliches Mitglied 1933 wurde und weil im Text die feierliche Erneuerung seines Tübinger Doktorates nach 50 Jahren, also 1921, erwähnt ist (Autobiografie 5). Eine alternative Datierung zu etwa 1926 bleibt meinerseits blosse Vermutung, die auf den Ähnlichkeiten des Stils und Umfangs zwischen Loserths Autobiografie und der von Sigfrid Steinberg herausgegebenen Selbstdarstellungen von Historikern fußt. In den zwei erschienenen Bänden kommt Loserths Biografie nicht vor, laut dem Herausgeber befanden sich jedoch weitere Bände in Vorbereitung, siehe: Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 1-2, hg. v. Sigfrid STEINBERG (Leipzig 1925/26), hier 2 III.

Die Geschichtsquellen von Kremsmünster im XIII. und XIV. Jahrhundert, hg. v. Johann LOSERTH (Wien 1872); zur Entstehung der Arbeit vgl. Autobiografie (wie Anm. 8) 5. 10 Johann LOSERTH, Beiträge zur Kunde österreichischer Geschichtsquellen. I. Der angebliche Bernadus Noricus. II. Petrus von Zittau und die Cosmashandschrift zu Donau-Eschingen, in: Drittes Programm des k. k. Real-Obergymnasiums auf der Landstraße in Wien (Wien 1872) 1-26.

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seiner Bibliografie nämlich eine unbedeutende Randgruppe". Ab und zu spürt man zwar in seinen Texten ein Sentiment gegenüber seiner ursprünglichen Heimat, es geht jedoch nur um vereinzelte Bemerkungen, die bereits in die Zeit von Loserths Reife und Greisenalter gehören. Als 81 -jähriger schrieb er: „ [ . . . ] je weniger es mir vergönnt war, der teuren Heimat zu dienen, um so inniger habe ich ihrer gedacht", in einer Festschrift seiner Geburtsregion Kuhländchen (Kravarsko) waren andere Worte aber kaum zu erwarten 12 . In seinen bohemikalen Studien stilisierte sich Loserth manchmal als Deutschböhme, man kann dabei jedoch zumeist einen äußeren Anlass zu diesem Gedenken an die Heimat finden. Im Vorwort zu seiner Herausgabe des St. Pauler Formulars aus der Zeit König Wenzels II. von Böhmen sprach er zum Beispiel von einer „Bereicherung unserer vaterländischen Geschichte" durch diesen Quellenfimd, was aber insofern passend war, als die Publikation durch den Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen erfolgte 13 . Seiner Abstammung verdankte Loserth wohl die passive Kenntnis der tschechischen Sprache, die ihm bei seinen Forschungen zur böhmischen Geschichte zugute kam 14 . Einen ausdrücklichen deutschmährischen Landespatriotismus hat er aber in seinen Lehrjahren nicht vertreten. Seinen Ausgangspunkt für geschichtliche Forschung bildete denn auch keine Heimatliebe, sondern ein auf wissenschaftlicher Grundlage ruhendes Streben nach Ermittlung der Vergangenheit. Mehr als die gemeinsame Landsmannschaft mit Lorenz zeigt sich hier die Schulung durch Sickel ausschlaggebend, dessen am urkundlichen Material erarbeitete kritische Methoden Loserth auf mittelalterliche Chronistik anzuwenden versuchte 15 . Seine Weltanschauung formierte 11 Vgl. beispielsweise Johann LOSERTH, Das Archiv der Stadt Fulnek. Materialien zur Geschichte der deutschen Ansiedlungen im nördlichen Mähren, in: M V G D B 18 (1880) 8 1 - 1 0 8 , 240; DERS., Zur Geschichte des Landskroner Teiles der Schönhengster Sprachinsel, in: ebd. 27 (1889) 1 9 3 235 (Studie für einen nicht realisierten Sammelband des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen über deutsche Siedlungsgebiete in den böhmischen Ländern, vgl. Ludwig Schlesinger an Loserth, 07.08.1885, StLA, NL JL, K. 8, H. 438). 12 Johann LOSERTH, Heimgedenken, in: Kuhländer Heimatfest in Neu-Titschein, hg. v. Josef ULLRICH (Neu-Titschein 1927) 57-59, Zitat 57. Mit ähnlichem Bedauern äußerte er sich schon 1913, dass es die „widerwärtige(n) Erfahrungen und die Unmöglichkeit an einem von der mährischen Heimat soweit entfernten Platz intensiv für die Sache zu wirken" waren, die ihn am Studium der böhmischen Geschichte hinderten: MIÖG 34 (1913) 340. Die Bezeichnung „treuer Sohn seiner Kuhländer Heimat" im Nekrolog von Josef ULLRICH in: Das Kuhländchen 13 (1938) 2-5, hier 5, drückt eher einen Wunsch des Verfassers als die eigentliche Sachlage aus. 13 Das St. Pauler Formular. Briefe und Urkunden aus der Zeit König Wenzels II., hg. von Johann LOSERTH (Prag 1896) Vorwort. 14 Noch kurz vor Abschluss seiner Tätigkeit in Graz meinte er, die Kenntnis der tschechischen oder ungarischen Sprache sei Bedingung für eine Professur für österreichischen Geschichte, vgl. Heinrich von Srbik an Wilhelm Bauer, 21.05.1914, in: Heinrich Ritter von Srbik. Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1 9 1 2 - 1 9 4 5 , hg. v. Jürgen KÄMMERER (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 55, Boppard a. Rh. 1988) 33. 15 Dass LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 7) 116 Anm. 20, Loserths Herausgabe der Geschichtsquellen von Kremsmünster als „keineswegs glücklichen Versuch" bezeichnete, stützt sich eben auf eine Stellungnahme im Streit um die Auffassung von Geschichtswissenschaft zwischen Lorenz und Sickel. Obwohl Loserth am Institut auch Sickel hörte, wurde er von diesem 1894 als Zögling der älteren, das heißt im Grunde „vorsickelschen" Institutsperiode angesehen: Walter

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sich damals im breiteren Rahmen einer deutschnationalen Fortschrittsbewegung, vor allem aber in den so genannten burschenschaftlichen Abenden der Wiener Arminia und Teutonia. In der Spur seines Freundes und Mentors Viktor von Kraus schlug Loserth den Weg zur „reformierten" Burschenschaft ein, die sich mehr auf die politischen Debatten als auf Kneipe und Fechten ausrichtete. Dem nationalen burschenschaftlichen Gedanken blieb Loserth auch als „alter Herr" der Arminia in Czernowitz und Graz treu16. Und in Loserths eigenem Rückblick spielten sich die Anfange seiner wissenschaftlichen Tätigkeit im selben Kontext ab: Lorenz forderte ihn zur Herausgabe der Kremsmünsterer Geschichtsquellen auf einem Festkommers zur Feier der Gründung des Deutschen Reiches 1871 auf, zur Chronik von Königsaal führte ihn wiederum ein „Couleurbruder", der selber mit dem Prüfungsthema nicht zurechtkommen konnte17. Loserth kam mit der Chronik sehr wohl zurecht und widmete ihr schließlich mehrere Jahre seines fachlichen Lebens. Seine Erörterung der Textschichten und der Autorschaft veröffentlichte die Wiener Akademie der Wissenschaften 1873 im Archiv für österreichische Geschichte, womit Loserths Name endgültig in die wissenschaftlichen Kreise eingeführt wurde. Zwei Jahre später erschien dann die Edition der Königsaaler Geschichtsquellen in den Fontes rerum Austriacarum18. Loserths Untersuchungen der böhmischen Annalen und erst recht die Edition der Königsaaler Chronik erweckte naturgemäß das Interesse der Historiker in Böhmen. Die Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen druckten Besprechungen von Loserths Arbeiten ab, zu welchen neben den genannten auch Studien zu Benes von Weitmühl und der Krönungsordnung Karls IV. zählten19. Auch der Redakteur der tschechischsprachigen Zeitschrift des böhmischen Museums, Josef HÖFLECHNER, Die Vertretung der historisch-mediävistischen Hilfswissenschaften an der Universität Graz, in: ZHVSt 70 (1979), 21^44, hier 40 Anm. 75. Zur Bedeutung Sickels und des Instituts vgl. Autobiografie (wie Anm. 8) 4, und Loserths Aussage im Lebensbild seines Kommilitonen Viktor von Kraus: „Dieses Institut wurde die Pflanzstätte für angehende Universitätsprofessoren. Zu seinen ersten Zöglingen gehörten Männer, die der historischen Wissenschaft bald zu hoher Zierde gereichten. Wer in dieses Institut als Zögling aufgenommen wurde - nur die tüchtigsten Studenten erreichten bei der sorgsamer Auswahl dies Ziel sah eine sichere Zukunft vor sich [...]". Johann LOSERTH, Viktor von Kraus, in: Hundert Jahre Deutscher Burschenschaft. Burschenschaftliche Lebensläufe, hg. v. Herman HAUPT und Paul WENTZKE (Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung 7, Heidelberg 1921) 247-256, hier 248. 1 6 LOSERTH, Viktor von Kraus (wie Anm. 1 5 ) 2 5 0 . Ein Glückwunsch Grazer Arminia zum Loserths 8 5 . Geburtstag erwähnt unschätzbare Dienste, die Du der Burschenschaft und dem nationalen Gedanken geleistet hast und der unwandelbaren Treue, die Du deinen Jugendidealen, die über die Jahrzehnte hinaus auch die Ideale der heutigen Jugend geblieben sind, bewahrt hast. Grazer akademische Burschenschaft Arminia an Loserth, Graz 1. 9. 1931, StLA, NL JL, K. 1, H. 6. 17 Autobiografie (wie Anm. 8) 5-6. 1 8 Johann LOSERTH, Die Königsaaler Geschichtsquellen. Kritische Untersuchung über die Entstehung des Chronicon Aulae Regiae, in: AÖG 51 (1873) 449-499; Die Königsaaler Geschichtsquellen. Mit den Zusätzen und der Fortsetzung des Domherrn Franz von Prag, hg. v. Johann LOSERTH (FRA 1/8, Wien 1875). 19 Johann LOSERTH, Die Chronik des Benesch Krabice von Weitmühl. Beitrag zur Kritik derselben, in: AÖG 53 (1875) 301-333; DERS., Die Krönungsordnung der Könige von Böhmen, in: AÖG 54 (1876) 9-36. Vgl. MVGDB 14 (1876), Literarische Beilage 19-21, 41^42, 69-70; ebd. 15 (1877), Literarische Beilage 42.

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Emier, referierte über Loserths Analysen, merkwürdigerweise hat er aber keine umfangreichere Kritik seiner Quellenedition verfasst. Es war nämlich Emier selbst, der im Rahmen der Reihe Fontes rerum Bohemicarum nur neun Jahre nach Loserth zur Herausgabe der Königsaaler Chronik schritt20. Der Hauptunterschied zwischen den beiden Editionen besteht in der grundsätzlichen Auffassung über das Geschichtswerk. Wie bereits angedeutet, war Loserths Domäne die kritische Analyse, die Entstehung, Autorschaft und Quellen einer Chronik erörtern sollte. Die Königsaaler Chronik sah er deshalb als eine Zusammenstellung von Geschichtsschilderungen an und betrachtete das Werk des Prager Domherrn Franz als ihre Fortsetzung. Von Franz' Text druckte er in extenso lediglich die abschließenden Passagen ab, die von diesem Chronisten selbst verfasst worden sind, und dessen Bearbeitung der Königsaaler Vorlage nahm er nur in den Apparat als Varianten zum Text des Peter von Zittau auf. In den Fontes rerum Bohemicarum erschien die Chronik des Franz von Prag dagegen als ein selbstständiges chronikalisches Werk, was in etwa dem heutigen Zugang zu Quelleneditionen entspricht. Bemerkenswert dabei ist, dass selbst Emier die Lösung Loserths für angemessener hielt und zum separaten Abdruck beider Chroniken nur mit Rücksicht auf den Charakter der Editionsreihe herantrat21. Ähnlich sah die Sache auch Franz Mayer in seiner Besprechung für die HZ, während der Rezensent der MVGDB seine Bedenken gegenüber der Auffassung Loserths sowie der Bezeichnung Königsaaler Geschichtsquellen äußerte22, wobei aber auch der Ton dieser Besprechung für Loserth grundsätzlich günstig ausfiel. Es galt schließlich eine neue Arbeitskraft im Bereich der mittelalterlichen Geschichte Böhmens zu begrüßen und der Rezensent - vermutlich Matthias Pangerl - wünschte Loserth zudem eine baldige Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen über die böhmischen Geschichtsquellen.

III. Eine für ihn geeignete Wirkungsstätte erblickte der junge Loserth in den 1870er und zu Beginn der 1880er Jahre in der Prager Universität. Gegen Ende des Jahres 1874 wurde er zwar als Gymnasialprofessor definitiv gestellt, trotzdem war es augenscheinlich, dass er eine Universitätskarriere verfolgte, und bald erschien sein Name unter den Kandidaten für den Lehrstuhl für historische Hilfswissenschaften in Prag23. Das war ein Ergebnis von 20 Casopis Musea Krälovstvi ceskeho 50 (1876) 180; ebd. 51 (1877) 524. Vgl. Fontes rerum Bohemicarum IV, hg. v. Josef EMLER (Praha 1884). 21 Fontes rerum Bohemicarum IV (wie Anm. 20) XXII. 22 HZ 36 (1876) 198-203, hier 199; MVGDB 14 (1876), Literarische Beilage 70 (unterschrieben mit der Chiffre -sp-). 23 Zur Wiederbesetzung des Prager Lehrstuhls für Hilfswissenschaften siehe immer noch: Heinz ZATSCHEK, Die Anfange der Lehrkanzel für historische Hilfswissenschaften an der Prager Universität, in: ZGS 7 (1944) 254-288, hier 264-273; kurzgefasst bei DEMS., Das Wiener Institut für österreichische Geschichtsforschung und die Entwicklung der historischen Hilfswissenschaften in den Sudetenländern (Abh. Prag Heft 14, Prag 1944) 8 - 9 54-55; weiters Karel KAZBUNDA, Stolice dSjin na prazske univerzite 2 [Der Lehrstuhl für Geschichte an der Prager Universität] (Praha 1965) 175-

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Loserths Elan, mit welchem er sich in die böhmische Geschichte vertieft hatte, zugleich aber auch seiner bewussten Pflege nützlicher fachlicher wie auch freundschaftlicher Kontakte. Als er sich 1874 an den Prager Professor Constantin Höfler mit einer Anfrage zur Vita des ersten Prager Erzbischofs Ernst von Pardubitz wandte, fugte er dem Schreiben auch einen Sonderdruck seiner Abhandlung über die Königsaaler Chronik bei. Höfler war über die Arbeit sehr beeindruckt und da der erste Fakultätsvorschlag zur Besetzung der vakanten hilfswissenschaftlichen Lehrkanzel durch das zuständige Ministerium soeben abgelehnt worden war, warf Höfler in seiner Antwort an Loserth die Möglichkeit von dessen Kandidatur auf24. Loserth übersandte dann Passagen der Königsaaler Edition, an der er zu jener Zeit arbeitete. Höfler fand seine Art, die Chronik herauszugeben, recht passend und gut und versicherte ihm seinen Beistand in der Sache der Professur25. Der Vorschlag, den die Prager philosophische Fakultät am 10. März 1875 nach Wien schickte, kann jedoch als Niederlage Höflers gegenüber den Professoren Anton Gindely und Vaclav V. Tomek gewertet werden: primo loco wurden Josef Emier und Matthias Pangerl, secundo loco Karl Rieger und Johann Loserth genannt. Die Möglichkeit einer Ernennung Loserths von zweiter Stelle aus war verschwindend gering. Nichtsdestotrotz kam ihm allein die Präsenz im Prager Vorschlag und die Unterstützung Höflers zu gute26. Als er im selben Jahr unter die Anwärter auf eine Lehrkanzel an der neu gegründeten Universität in Czernowitz gezählt wurde, war er im Wiener Ministerium für Unterricht bereits bekannt. Mochten wir Sie dem Ministerium für Prag in Vorschlag gebracht, werden Sie doch für Czernowitz passen, beteuerte ihm Höfler und intervenierte für ihn beim Sektionschef Karl von Lemayer27, und am 30. Juli 1875 wurde Loserth zum außerordentlichen Professor für allgemeine Geschichte an der Franz-Josephs-Universität Czernowitz ernannt. Froh wie ein Schneekönig zog ich mit meiner Familie f...] in das ferne Buchenland, blickte Loserth nach Jahren zurück28. Ob auch die Familie, das heißt vor allem seine Frau Flora, so glücklich über die Umsiedlung war, ist fraglich29. Pangerl, der einstige erfolgreichere Konkurrent Loserths

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179; Ivan HLAVÄCEK, Prehledne dejiny pomocnych v£d historickych v ceskych zemich. Se zvläätnim zfetelem ke stolici oboru na filozoficke fakulte Univerzity Karlovy [Geschichte der historischen Hilfswissenschaften in den Böhmischen Ländern im Überblick unter besonderer Berücksichtigung des Lehrstuhls an der philosophischen Fakultät der Karlsuniversität], in: 200 let pomocnych ved historickych na filozoficke fakulte Univerzity Karlovy v Praze [200 Jahre Historische Hilfswissenschaften an der philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag] (Praha 1988) 13-134, hier 49-50. Mitgroßem Vergnügen habe ich Ihre Abhandlung über die Königsaaler Chronik gelesen. TheilenSie mir doch etwas über Sie selbst mit, vielleicht bin ich im Stande, da unsere Vorschläge auf Besetzung einer Professur der historischen Hilfswissenschaften kein günstiges Gehör finden, einmal etwas für Sie zu thun. Höfler an Loserth, 22.11.1874, StLA, NL JL, K. 5, H. 229. Höfler an Loserth, 30.01.1875, ebd. Machen Sie doch Besuche im Ministerium, schrieb Höfler am 30.01.1875, legen Sie Ihre Arbeiten vor und machen Sie sich bemerklich. Wenn ich nach Wien komme, so werde ich sehr gerne mich für Sie anwenden. Ebd. Höfler an Loserth, 19.05.1875, ebd., vgl. die Briefe vom 28.05. und 31.08.1875. Autobiografie (wie Anm. 8) 7. Eine Ehekrise deutet ein Brief der Schwiegereltern Loserths an: Wilhelm und Flora Heinz an Loserth, 18.10.1875, StLA, NL JL, K. 2, H. 14.

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um die Prager hilfswissenschaftliche Lehrkanzel und dann sein eifriger Brieffreund, schrieb bald nach dem Semesteranfang: Wenn es Ihrer lieben Frau, der ich mich unbekannter Weise bestens empfehlen lasse, in Cz[ernowitz] nicht gefällt, so kann ich das wohl begreifen. Als ich zu seiner Zeit zu meinem eigenen lieben Hauskreuz sprach: Falle ich in Praha durch, dann geht 's nach Cz[ernowitz] - entgegnete sie: Gut, dann sind wir geschiedene Leute30. Während der Reise von Wien via Brünn (Brno), Krakau (Krakow) und Lemberg (Lwöw, Lwiw) nach Czernowitz dürfte Loserth große Genugtuung empfunden, gleichzeitig aber auch eine wenig erfreuliche Wirklichkeit wahrgenommen haben. Der Publizist Karl Emil Franzos beschrieb den Weg durch das östliche Galizien in seinem Essay „Von Wien nach Czernowitz" aus eben dem Jahr 1875 wie folgt: „Der Zug wand sich durch ödes, ödes Heideland. Zuweilen war ein abscheuliches Hüttchen zu sehen; das modrige Strohdach stand dicht über der Erde auf: eine rechte TroglodytenHöhle. Zuweilen ein Ochs vor einem Karren oder ein Haufen halbnackter Kinder. Und wieder die unendliche Öde der Heide, und der graue Himmel hing trostlos darüber"31. Im Vergleich mit anderen Orten der Bukowina war Czernowitz wohl eine Kultur-Oase, die besonderen Verhältnisse der Czernowitz 'er Universität gab jedoch selbst das Ministerium für Kultus und Unterricht zu32. Man darf vermuten, dass die Mehrheit der Kollegen Loserths auf dem Weg in die „Metropole" der Bukowina hoffte, dass die dortige Francisco-Josephina für sie lediglich ein Sprungbrett zur Erlangung von Professuren an namhafteren Bildungsanstalten der Monarchie bedeuten würde. Gerade im Hinblick auf solche Aussichten war aber für die meisten Privatdozenten und Gymnasiallehrer eine Lehrkanzel, sei sie auch an der entlegensten Universität Cisleithaniens verankert, doch eine willkommene Stufe in ihrer Karriere. Ähnlich ging es Loserth. Während der Direktor des Landstraßer Gymnasiums in Wien seine Lehrkräfte förmlich ausquetschte und überbürdete, konnte Loserth in Czernowitz, wo die Zahl der Studenten pro Unterrichtenden zwischen 7 und 9 schwankte, mehr Raum für seine eigenen Studien finden33. Im Gegensatz zum anderen in Czernowitz wirkenden Geschichtsprofessor Ferdinand Zieglauer von Blumenthal, der sich in der Bukowina völlig eingelebt hatte, hegte Loserth keine großen Ambitionen, sich in der

30 Harald BACHMANN, Briefe Matthias Pangerls an Johann Loserth aus den J. 1875-1878, in: Ostdeutsche Wissenschaft 6 (1959) 254-281, hier 258 (Brief vom 27.10.1875). Zur Geschichte der Czernowitzer Universität siehe: Glanz und Elend der Peripherie. 120 Jahre der Universität Czernowitz, hg. v. Ilona SLAWINSKI, Joseph P. STRELKA (Bern 1998), und die unten angeführte Literatur. 31 Karl Emil FRANZOS, AUS Halb-Asien. Kulturbilder aus Galizien, der Bukowina, Südrußland und Rumänien 2 (Halb-Asien. Land und Leute des östlichen Europa 2, Stuttgart/Berlin 2 1901) 189. 32 So die Erläuterungen zur Ernennung, 18.08.1875, StLA, NL JL, K. 1, H. 4; über Kultur-Oase spricht FRANZOS, Halb-Asien (wie Anm. 31) 248. Zur Geschichte der Bukowiner Hauptstadt vgl. Czernowitz. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Stadt, hg. v. Harald HEPPNER (Köln/Weimar/Wien 2000). 33 Autobiografie (wie Anm. 8) 7; Emanuel TURCZYNSKI, Czernowitz als Beispiel einer integrativen Universität, in: Die Teilung der Prager Universität 1882 und die intellektuelle Desintegration in den böhmischen Ländern, hg. v. Ferdinand SEIBT (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 12, München 1984) 189-202, hier 198-202.

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Landes-, Kommunal- oder Universitätspolitik durchzusetzen34. Allem Anschein nach widmete er seine ganze Zeit der Forschung. Im Fokus seiner wissenschaftlichen Tätigkeit blieben die Czernowitzer Periode hindurch Studien zur böhmischen Geschichte, denn anscheinend war es auch im entfernten Dnjestrgebiet möglich, ein „deutschböhmischer" Historiker zu sein. Während der Ferien machte sich Loserth gewöhnlich auf den Weg in Bibliotheken und Archive in Österreich, Böhmen, Mähren, Schlesien oder auch Sachsen und ließ sich dann die einschlägigen Handschriften nach Czernowitz zusenden. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass er sich die ganzen 1870er und 1880er Jahre weiterhin mit böhmischen Chroniken befasste, zur Königsaaler Chronik traten jene des Kosmas von Prag, des Benes von Weitmühl und die Vita Caroli (IV.)35. An diese Quellenstudien knüpften seine Beiträge zur älteren böhmischen Landesgeschichte an36. Seine Aufmerksamkeit wandte er aber allmählich von den chronikalischen Quellen weg zum Thema des böhmischen Wyclifismus, mit dem er während seiner Arbeit an den Beiträgen zur Geschichte der hussitischen Bewegung konfrontiert worden war. Die ersten drei Teile dieses Editionsprojekts der Jahre 1877-1880, mit welchen die Briefe Johanns von Jenstein, Materialien zum Adalbert Ranconis und der Tractatus de longevo schismate des Ludolf von Sagan publiziert wurden, stellen bis heute eine bedeutende Quellenbasis für die Geschichte des böhmischen Reformbewegung im 14. und an der Schwelle zum 15. Jahrhundert dar. Als Loserth 1889 und 1895 zwei abschließende Bände herausgab, galt seine Aufmerksamkeit schon ganz dem Einfluss Wyclifs auf den Hussitismus37. Im Laufe der 1880er Jahre stieg er zum international anerkannten 34 Zu Zieglauer siehe Hans PRELITSCH, Ferdinand Zieglauer von Blumenthal und seine Zeit, in: Alma mater Francisco Josephina. Die deutschsprachige Nationalitäten-Universität in Czernowitz. Festschrift zum 100. Jahrestag ihrer Eröffnung 1875, hg. v. Rudolf WAGNER (München 1979) 289292; Die k.k. Franz-Josephs-Universität in Czernowitz im ersten Vierteljahrhundert ihres Bestandes. Festschrift hg. v. Akademischen Senate (Czernowitz 1900), XLVI, XLIX, LVIII, LXXVI; LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 7) 43. 35 Zu den in Anm. 18 und 19 angeführten Arbeiten ist nachzutragen: Johann LOSERTH, Studien zu Cosmas von Prag. Ein Beitrag zur Kritik der altböhmischen Geschichte, in: AÖG 61 (1880) 1 32; DERS., Studien zu böhmischen Geschichtsquellen. I. Die vita Karoli IV. imperatoris. Kritische Untersuchung über das Entstehen derselben, II. Ueber die verloren gegangene Chronik des Notars O t t o , in: e b d . 5 3 ( 1 8 7 5 ) 1^12.

36 Johann LOSERTH, Die Herrschaft der Langobarden in Böhmen, Mähren und Rugiland, in: MIÖG 2 (1881) 353-364; DERS., Kritische Bemerkungen über einige Punkte der älteren Geschichte Böhmens, in: MVGDB 19 (1881), 256-270; DERS., Das angebliche Senioratsgesetz des Herzogs Bfetislaw I. und die böhmische Succession in der Zeit des nationalen Herzogthums, in: AÖG 64 (1882) 1-78; DERS., Der Sturz des Hauses Slawnik, in: ebd. 65 (1884) 19-54; DERS., Kritische Studien zur älteren Geschichte Böhmens, in: MIÖG 4 (1883) 177-191, ebd. 5 (1884) 366-377; DERS., Beiträge zur älteren Geschichte Böhmens, M V G D B 21 (1883) 2 8 1 - 2 9 9 , ebd. 2 3 (1885) 1 - 2 0 .

37 Johann LOSERTH, Beiträge zur Geschichte der husitischen Bewegung. 1. Der Codex epistolaris des Erzbischofs von Prag, Johann von Jenzenstein, in: AÖG 55(1877) 265-400; 2. Der Magister Adalbertus Ranconis de Ericinio, in: ebd. 57 (1879) 203-276; 3. Der Tractatus de longevo schismate des Abtes Ludolf von Sagan, in: ebd. 60 (1880) 343-561; 4. Die Streitschriften und Unionsverhandlungen zwischen den Katholiken und Husiten in den Jahren 1412 und 1413, in: ebd. 75 (1889) 287^113; 5. Gleichzeitige Berichte und Actenstücke zur Ausbreitung des Wiclifismus in Böhmen und Mähren von 1410 bis 1419, in: ebd. 82 (1895) 327^*18. Vgl. auch DERS., Beiträge zur Geschichte der hussi-

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Kenner der Lehren von Wyclif und Hus auf. Das Schlüsselwerk, das seinem Autor ein europäisches Renommee besorgte und ihn für Jahrzehnte an die Erforschung und Herausgabe der Schriften Wyclifs band, trägt den Titel „Hus und Wiclif. Zur Genesis der husitischen Lehre". Trotz der Jahresangabe 1884 erschien das Buch bereits im Herbst 188 338 und löste ein außerordentliches Echo aus: Die erste Auflage erlangte beinahe fünfzig Besprechungen39. Nur eine sei hier ausdrücklich genannt, nämlich die Josef Kalouseks in Prager Athenaeum. Sie diente Tomás G. Masaryk, dem nachmaligen tschechoslowakischen Präsidenten, als Grundlage für seine eigene Rezension im Londoner Athenaeum, durch welche er die wohlwollende Aufnahme des Loserthschen Buches in England zu bremsen versuchte40. Das geschah allerdings vergebens, denn um einen entsprechenden Widerhall seines Werkes kümmerte sich auch Loserth selbst. Wieder lohnte sich die kollegiale Zusendung von Publikationen: Der Leipziger WyclifForscher Gotthard Lechler erhielt Loserths Neuveröffentlichung bereits im Oktober 1883. Gleich nach der Lektüre empfahl er den Czemowitzer Professor der Wyclif Society zu London als geeigneten Herausgeber der Schriften des Oxforder Theologen41. Und bereits am 15. November bedankte sich F. J. Fumiwall, Vorstand der Society, bei Loserth für die Übersendung seines Buches. Dessen Schlussfolgerungen über eine tiefgreifende geistige Abhängigkeit Hussens von Wyclif schmeichelten den Mitgliedern der Vereinigung. Und obwohl Furniwall nicht imstande war, das deutsche Buch zu lesen, sah er die Juxtapositionen der Texte Wyclifs und Hussens durch und bekannte sich erstaunt und erfreut zugleich, indem er sah, wie tief der große böhmische Reformer dem Engländer verpflichtet war42. Zu jener Zeit war Loserth dabei, die Herausgabe

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tischen Bewegung. Nachträgliche Bemerkungen zu dem Magister Adalbertus Ranconis de Ericinio, in: MVGDB 17 (1879) 198-213. Johann LOSERTH, H U S und Wiclif. Zur Genesis der husitischen Lehre (Prag/Leipzig 1884). Zur Entstehungschronologie des Werkes vgl. DERS., Neuere Erscheinungen der Wiclif- und Huß-Literatur, in: ZVGMS 20 (1916) 258-271, hier 261. Johann LOSERTH, HUSS und Wiclif. Zur Genesis der hussitischen Lehre (München/Berlin 21925) III. Kalouseks Besprechung in: Athenaeum. Listy pro literaturu a kritiku vëdeckou 1 (1884) Nr. 6, 188— 191, diejenige Masaryks in: The Athenaeum. Journal for English and Foreign Literature, Science, the Fine Arts, Music and the Drama, No. 2951 (17 May 1884) 625-626. Da Sie Wiclif sehe Handschriften kennen und zu lesen verstehen, so habe ich mir bereits erlaubt, Sie dem Comité der Wiclif Society in England zu Empfehlen, falls sie noch Männer brauchen zur Herausgabe der unedirten Werke Wiclif 's. Ich hoffe, Sie werden mir dies zu gute halten. Lechler an Loserth, 18.10.1883, StLA, NL JL, K. 6, H. 306. I have been astonished (and gratified) to see how deeply the great Bohemian reformer was indebted to our English man. You have done Wyclifs memory a very great service [...] Furniwall an Loserth, 15.11.1883, StLA, NL JL, K. 4, Hefl 162. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Besprechung des Loserthschen Buches in The Spectator, die einen umsichtigen Blick von Aussen einbringt: „A work of this sort has to be received with caution. The party feeling between Czech and German is very strong indeed in the Austrian Empire. What can be more delightful to a German living among Slavs than to show that a religious hero of Bohemia is a second-rate person, a mere disciple of a Teutonic teacher? [...] but we are bound to say that this book does not bear the stamp of party feeling. We will not go so far as to say that he never overstates a point; such impartiality in a controversial writer would be hardly human; but he brings a goodly array of proofs, which are amply sufficient to

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von Wyclifs „De ecclesia" für die Society zu übernehmen43. Die Schrift, einer Art Kronzeuge im Urteil über Hussens Abhängigkeit von Wyclif, kannte Loserth besonders gut und beabsichtigte auch die Edition des gleichnamigen Traktats aus der Feder des Jan Hus44. Bald machte er sich auch mit weiteren Wyclif-Werken innig vertraut: unmittelbar nach „De ecclesia" begann er mit der Herausgabe der „Sermones" und bis 1922 edierte er insgesamt 14 Bände der lateinischen Schriften Wyclifs 45 . Das lebendige Interesse an Wyclif in England im Jahr 1884 war eine Konsequenz der 500. Wiederkehr seines Todestages46. Im literarischen Ertrag des Jubiläumsjahres befanden sich auch englische Übersetzungen der Werke dreier deutscher und deutschböhmischer Historiker: Gotthard Lechler, Rudolf Buddensieg und Loserth. Sein Buch erschien unter dem invertierten englischen Titel „Wiclif and Hus"47. Loserth war sich der Bedeutung seiner Arbeit für die spätmittelalterliche Religionsgeschichte Europas durchaus bewusst, einen noch größeren Einfluss erwartete er aber auf die Geschichtsforschung in Böhmen. Seitens deutschböhmischer Historiker wurde sein Buch als ein Beitrag zu deutsch-tschechischen Kontroversen auf dem Gebiet der älteren Landesgeschichte empfunden. Ludwig Schlesinger, den Loserth über sein Vorhaben informiert hatte, schrieb ihm seit dem Dezember 1882 mehrmals, wie außerordentlich gespannt er auf das Buch sei48. Vor den tschechischen Historikern aber hatte Loserth seine Arbeit geheim gehalten. Die Ursache dafür, dass seine jüngeren Kollegen und

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support his main thesis." The Spectator (28 June 1884) 851-852, Zitat 851, siehe den Ausschnitt in StLA, NL JL, K. 15, H. 704. Bis Ende des Jahres wurden alle Bedingungen geklärt, vgl. F. D. Matthew an Loserth, 17.12.1883, StLA, NL JL, K. 6, H. 324. Der Prager Verlag Tempsky bevorzugte 1884 die Veröffentlichung durch die Wyclif Society oder eine Mitherausgabe mit den Engländern, zur Publikation kam es aber nie. G. Freytag an Loserth, 09.01.1884, StLA, NL JL, K. 10, H. 539. Iohannis Wyclif Tractatus de ecclesia (Wyclifs Latin Works 8, London 1886); Iohannis Wyclif Sermones I-IV (Wyclifs Latin Works 11-14, London 1887/1890); Iohannis Wyclif De eucharistia tractatus maior (Wyclifs Latin Works 18, London 1892); Iohannis Wyclif Opus evangelicum I—II, III-IV (Wyclifs Latin Works 24-25, London 1895/1896); Iohannis Wyclif De civili dominio II—IV (Wyclifs Latin Works 4-6, London 1900/1904); Johannis Wyclif Tractatus De potestate pape (Wyclifs Latin Works 32, London 1907); Johannis Wyclif Opera minora (Wyclifs Latin Works 34, London 1913); Johannis Wyclif Tractatus De mandatis divinis. Tratatus De statu innocencie 1-2 (Wyclifs Latin Works 35, London 1922) (alle Bände hg. v. Johann LOSERTH, der letztgenannte in Verbindung mit F. D. MATTHEW). Loserth überarbeitete auch das obsolet gewordene Verzeichnis von Wyclifs Schriften: Shirley's Catalogue of the Extant Latin Works of John Wyclif, revised by Johann LOSERTH (London 1925). Einen Überblick über die Historiographie liefert Geoffrey MARTIN, Wyclif, Lollards, and Historians, 1 3 8 4 - 1 9 8 4 , in: Lollards and their Influence in Late Medieval England, hg. v. Fiona SOMMERSET, Jill C. HÄVENS, Derrick G. PITTARD (Woodbridge 2003) 237-250. Gotthard Victor LECHLER, John Wycliffe and His English Precursors (London 1884); Rudolf BUDDENSIEG, John Wycliff, Patriot and Reformer. Life and Writings (London 1884); Johann LOSERTH, Wiclif and Hus (London 1884). Die Übersetzung war bereits gegen Ende des Jahres 1883 vereinbart, wie es die Korrespondenz Loserths mit seinem Prager Verlag andeutet: StLA, NL JL, K. 10, H. 539. Schlesinger an Loserth, 08.012. 1882; vgl. auch die Briefe vom 22.02.1883 {Wann wird doch Ihr Husitenbuch erscheinen?) und 24.04.1883 (Es wundert mich wirklich, dass es bei Tempsky so langsam geht). StLA, NL JL, K. 8, H. 438.

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Korrespondenzpartner ihm Manuskriptexzerpte aus Prager Bibliotheken verschafften, ohne angeben zu dürfen, dass diese für Loserth bestimmt sind, kann man in der Tatsache erblicken, dass Loserth seit längerem in der böhmischen Fachpresse als strenger Parteimann der deutschböhmischen Geschichtsauffassung auftrat49. Nicht ohne Bedeutung in diesem Zusammenhang ist, dass er schon 1879 mit dem Skriptor der Prager Universitätsbibliothek Ferdinand Tadra in einen literarischen Streit geraten war. Während Loserth in seinen Rezensionen - selbst in negativen, wie in der Kritik an Josef Jireceks Herausgabe der Dalimil-Chronik von 1878 - meistens die wissenschaftliche Sachlichkeit beibehielt, nahm er in Polemiken - genannt seien nur mehrere Auseinandersetzungen mit Josef Kalousek - die Maske akademischer Korrektheit ab und wagte sich auf das dünne Eis persönlicher Anspielungen und Ironie50. Als Tribüne für seine polemischen Auftritte nutzte er die MVGDB. Die Historiker des deutschböhmischen Vereines stellten ftir Loserth während seiner Zeit in Czernowitz eine Verbindung zu Böhmen dar51. Der umfangreichen Korrespondenz in Loserths Nachlass kann man entnehmen, dass eben die deutschen Historiker als seine Informanten und Fürsprecher in Prag wirkten. Einen erheblichen Nachteil stellte dabei der Umstand dar, dass die Vertreter des Vereins ihre Wirkungsstätte meistens außerhalb der Prager Universität fanden. Die Prager Geschichtsprofessoren Constantin Höfler und Adolf Bachmann, obwohl auch sie Mitglieder des Vereins, standen diesem einigermaßen fern. Eine Ausnahme bildete jedoch Matthias Pangerl, der eine wichtige Rolle als Vermittler in Loserths Bemühungen spielte, eine Stelle in Prag zu finden. Nach Pangerls Tod 1879 fiel diese Rolle Ludwig Schlesinger zu. Loserth hatte Pangerl, der als Schriftleiter der MVGDB fungierte, bereits vor seiner Abreise aus Wien nach 49 Um Hilfe beim Handschriftenstudium in Prag bat Loserth den jungen Germanisten Wendelin Toischer sowie den tschechischen Geschichtsstudenten Josef Teige, die sich beide auf ihn in der betreffenden Zeitspanne mit einer fachlichen Nachfrage gewandt hatten. Vgl. Teige an Loserth, 10.06.1883, StLA, NL JL, K. 10, H. 540 (ich habe geschrieben, dass ich für mich selbst die Signaturen brauche); Toischer an Loserth, 07.01.1884, ebd., K. 10, H. 530 ([...] um das Vorhandensein einer Handschrift eines bestimmten Werkes constatieren, müßte ich mir alle diese herbeischleppen lassen und das geht nicht an, ohne den Bibliotheksbeamten den Zweck anzugeben. Da Sie das selbst nicht wünschten, habe ich dies unterlassen). 50 Rezension des entsprechenden Teiles der Fontes rerum Bohemicarum III in: MVGDB 16 (1878), Literarische Beilage 49-56; Polemik mit Tadra unter dem Titel Unbefangene Geschichtsforschung in: ebd. 17 (1879) Literarische Beilage 31-32, 55-56 (Tadra publizierte in: Politik Nr. 36 vom 05.02.1879 und Nr. 71 vom 12.03.1879). Die Auseinandersetzungen mit Kalousek erstreckten sich über mehrere Jahre: Johann LOSERTH, Über die Nationalität Karl's IV., in: MVGDB 17 (1879) 291305; Josef KALOUSEK, Über die Nationalität Karls IV., in: Politik, Nr. 91-94 vom 01.-04.04.1879; Johann LOSERTH, Der Umfang des böhmischen Reiches unter Boleslaw II. Ein Beitrag zur Kritik der älteren böhmischen Geschichte, in: MIÖG 2 (1881) 15-28; Josef KALOUSEK, Über den Umfang des böhmischen Reiches unter Boleslav II., in: SB der Königlichen böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften in Prag (1883) 26-37. 51 Zum Verein siehe Michael NEUMÜLLER, Der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen ein deutschliberaler Verein (von der Gründung bis zur Jahrhundertwende), in: Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern, hg. von Ferdinand SEIBT (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 13, München 1986) 179-208. Zur deutschböhmischen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert vgl. zuletzt: Nemeckä medievistika (wie Anm. 5), dazu die Besprechung von Jin Peäek in: Bohemia 46 (2005) 496 510.

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Czernowitz kennen gelernt und wurde von ihm zum Beitritt in den Verein eingeladen. Schon im November 1875 versicherte der Prager Professor für Hilfswissenschaften brieflich seinem Kollegen in der Bukowina seinen Beistand, falls sich dieser um die soeben erledigte altgeschichtliche Lehrkanzel in Prag bewerben wollte52. Obwohl die Antike keineswegs im Zentrum Loserths bisheriger Forschungsinteressen stand, waren hierbei vor allem eventuelle Aussichten auf den Lehrstuhl Höflers von Bedeutung. Loserth kündigte in Czernowitz Lehrveranstaltungen aus der alten Geschichte an und Pangerl hielt im Prager deutschen Kasino mehrere Reden zu seinen Gunsten. Die Verhandlungen fanden in der ersten Hälfte des Jahres 1876 statt, die meisten beteiligten Herren waren jedoch Loserth nicht geneigt. Seine Kandidatur hatte daher nur geringe Chancen und Loserth trat mit einer solchen auch nie offiziell hervor. Ähnlich schilderte die Lage auch Höfler: laut dem Ministerium sei Loserth in Czernowitz unabkömmlich, und Höfler konnte zumindest dessen Beförderung zum Ordinarius veranlassen53. Auch der letzte, allerdings ebenso wenig erfolgreiche Versuch Loserths nach Prag umzusiedeln, spielte sich nach dem bekannten Szenarium ab. Bereits im Frühjahr 1880 deutete Höfler in einem Brief an Loserth eine eventuelle Kandidatur an: Auch mir wäre es sehr lieb, wenn wir uns in einem mündlichen Verkehr befinden könnten. Ich sehe aber, so wie die Verhältnisse bei uns sind, keine andere Möglichkeit voraus, als daß - Sie mein Nachfolger werden54. In den nachfolgenden Jahren, die durch Verhandlungen um die Teilung der Prager Universität in eine tschechische und in eine deutsche Universität geprägt waren, wuchs Höflers Resignation und Überdruss an der Hochschulpolitik und er wandte sich von Loserths Berufung ab. Der entschiedenste Befürworter Loserths, Ludwig Schlesinger, Schriftleiter der MVGDB, konnte zwar seine politischen Kontakte einbringen, war aber kein Mitglied der Fakultät55. Die übrigen Partner im regen Briefwechsel versicherten Loserth immer wieder ihrer Gunst, in der Tat förderten sie aber meistens andere Kandidaten und suchten nachträglich Gründe, warum Loserths Berufung unmöglich gewesen sei. Pangerl an Loserth, 2 8 . 1 1 . und 1 0 . 1 2 . 1 8 7 5 , in: B A C H M A N N , Briefe (wie Anm. 3 0 ) 2 6 0 - 2 6 1 . Zur altgeschichtlichen Professur 1 8 7 3 - 1 8 7 7 siehe K A Z B U N D A , Stolice 2 (wie Anm. 2 3 ) 1 4 0 - 1 4 3 , und ausführlich S O U K U P , Pocätky (wie Anm. 5 ) 3 2 - 3 3 . 53 Höfler an Loserth, 27.01.1877, StLA, NL JL, K. 5, H. 229. Die Ernennung zum ordentlichen Professor erfolgte am 08.04.1877, ebd., K. 1, H. 4. 54 Höfler an Loserth, 06.04.1880, StLA, NL JL, K. 5, H. 229. Details zur Höflers Nachfolge bieten Harald B A C H M A N N , Adolf Bachmann. Ein österreichischer Historiker und Politiker (München 1962) 46—48, und S O U K U P , Pocätky (wie Anm. 5) 35-38, summarisch auch Michael N E U M Ü L L E R , Die deutsche philosophische Fakultät in Prag um 1882 und die Geschichtswissenschaft, in: Teilung der Prager Universität 1882 (wie Anm. 33) 111-126, hier 119, und K A Z B U N D A , Stolice 2 (wie Anm. 23) 237. Jüngstens befasste sich mit der institutionellen Entwicklung der historischen Lehrstühle Pavel K O L Ä R , Die Geschichtswissenschaft an der Deutschen Universität Prag 1882-1938: Entwicklung der Lehrkanzeln und Institutionalisierung unter zwei Regimen, in: Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Hans L E M B E R G (Veröff. des Collegium Carolinum 86, München 2003) 85-114. 55 Seien Sie überzeugt, dass wir Sie gerne hier haben möchten und dass wir mit allen Mitteln für Sie eintreten werden, versicherte er Loserth. Fällt inzwischen das Ministerium, so werden wirs alsdann bequemerhaben. Schlesinger an Loserth, 19.10.1881, StLA, NL JL, K. 8, H. 438. 52

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Im Jahr 1882 galt es, zwei historische Lehrkanzeln an der „neuen" (deutschen) Universität zu besetzen. Höfler wurde aus Altersgründen emeritiert und Emier hatte für die tschechische Universität optiert, so dass auch die hilfswissenschaftliche Lehrkanzel vakant war. Als Favorit des Professorenkollegiums avancierte der Münchner Historiker August von Druffel, das Wiener Ministerium hielt aber am Vorrang einheimischer Lehrkräfte fest. Für den Lehrstuhl für historische Hilfswissenschaften, verbunden mit der Geschichte des Mittelalters, wurde der Präger Dozent Emil Werunsky in breiter Übereinstimmung ausgewählt, wogegen man für allgemeine Geschichte vergebens einen Kandidaten aus der Habsburgermonarchie suchte. Bachmann, Professor für österreichische Geschichte und Berichterstatter des zuständigen Komitees, äußerte in einem Brief an Loserth, dass dessen Verdienste entsprechend berücksichtigt werden müßen; in einem Gutachten zum zweiten Fakultätsvorschlag reihte er ihn dennoch nur unter jene Historiker ein, deren Leistungen den Anforderungen nicht entsprechen, die es [das Komitee] an den Vertreter einer so wichtigen wissenschaftlichen Disciplin stellen zu müssen glaubte'6. Auch diesmal konnte der Kenner des böhmischen Wyclifismus seine erträumte Lehrkanzel in Prag nicht erlangen, denn nach längeren Verweigerungen seitens des Ministeriums wurde im Juni 1883 der Neuzeithistoriker und Loserths Freund August Fournier zum Professor ernannt.

IV. Es ist bezeichnend, dass die Anhänger der Berufung Loserths nach Prag aktive Mitglieder des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen waren, so neben Schlesinger auch der damalige Dekan Gustav Laube57. Die Pflege von Kontakten zwischen dem Czernowitzer Professor und dem deutschböhmischen Verein war für beide Seiten von Vorteil. Die deutschböhmischen Historiker erblickten in Loserth einen tüchtigen Mitstreiter im ideologischen Kampf mit der nationaltschechischen Auffassung der Landesgeschichte, in welcher die Ansätze Frantisek Palackys weiterentwickelt wurden58. Für das geeignete Instrument im Wettbewerb mit der rasch fortschreitenden tschechischen Geschichtsforschung hielt man fachgebundene Kritik und sachgemäße 56 Bachmann an Loserth, 03.07.1882, StLA,NL JL, K. 2, H. 43; Vorschlag Bachmanns als Berichterstatters des Komitees dem Professorenkollegium vom 14.12.1882, UAP, Fond Philosophische Fakultät DU, PA von August Foumier. 57 Laube war Geologe und Forschungsreisender sowie Amateurhistoriker und Heimatkundler. In seinem Brief an Loserth vom 04.07.1882 hieß es: Ich muß gestehen, daß mir die Interessen des Vereines flir Geschichte der Deutschen in Böhmen, aus dessen Schriften ich bisher allein die Gelegenheit hatte Sie kennen zu lernen, es vor Allem wänschenswerth erscheinen ließ, Sie unter uns zu haben, was, wie Sie zu denken können, mit Freund Schlesinger vielfach erwogen wurde. StLA, NL JL, K. 6, H. 305. 58 Vgl. die Äußerung Pangerls vom 28.02.1876, nach dem Scheitern seiner Pläne zur Berufung Loserths auf die Stelle nach Hirschfelds Abgang und bezüglich des Vorschlages des Reichsdeutschen Gardthausen: In Ihnen aber glaubte ich einen Mann zu verlieren, welcher weil mit österreichischen Verhältnissen vollkommen vertraut und mit Herz für seine Landsleute ausgestattet ein wackerer Vorkämpfer der Deutschtums sein werde. BACHMANN, Briefe (wie Anm. 30) 265.

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Interpretation der Quellen. Der Verein fand aber in den 1870er Jahren seine personelle Grundlage vornehmlich im Milieu landstädtischer Intelligenz, Mittelschullehrer und lokaler Heimatforscher. Den verantwortlichen Vereinsleitern wurde die Notwendigkeit bewusst, ein Gegengewicht zur amateurhaften Regionalforschung im Bereich der professionellen Geschichtswissenschaft suchen zu müssen59. Loserth als Universitätsprofessor konnte bald angemessenere Publikationsmöglichkeiten finden und veröffentlichte in den MVGDB eher kleinere Arbeiten und Miszellen. Wie gezeigt, war jedoch der ständige Briefverkehr mit den Hauptfiguren des Vereins auch für ihn von Bedeutung. Gerade wegen gemeinsamer geschichtlicher und politischer Ansichten sahen die Prager deutschliberalen Historiker die geeignete Wirkungsstelle für Loserth nicht in Czernowitz, sondern wie er selbst in Prag60. Ähnlich wie die Mehrheit der damaligen deutschböhmischen Historiker, vertrat auch Loserth eine Geschichtsauffassung, die durch eine nationale und eine liberale Linie geprägt war. Loserths „Weltanschauung" hatte sich bereits zur Zeit seiner Studien in Troppau und Wien formiert, zu einer Zeit, die laut seinen Erinnerungen durch lebendiges Vereinswesen, nationalen Sinn und Begeisterung für parlamentarisches Leben geprägt wurde61. Auch die Deutung der Hussitenzeit sowohl in Fachkreisen als auch im allgemeinen gesellschaftlichen Verständnis war seit dem Streit Palacky-Höfler äußerst politisiert bzw. nationalisiert62. Wieder wandte sich Loserth einem Thema zu, das ihm die Türen historischer Institutionen zu öffnen vermochte, und zwar nicht mehr lediglich in Böhmen, sondern europaweit. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Loserth keine Professur in Böhmen erhielt und sich nach dem Scheitern seiner Hoffnungen auf die Höfler-Nachfolge dem Gedanken hingab, mit seinen Arbeiten zur böhmischen Geschichte aufzuhören63. Die begonnenen Studien über Hus und Wyclif führte er jedoch zum Abschluss, und das Buch über die Genese der hussitischen Lehre muss man als bedeutendste wissenschaftliche Leistung seines Czernowitzer Aufenthaltes bezeichnen, ungeachtet der hellen Begeisterung der deutschen und der entschiedenen Ablehnung der tschechischen Historiker gegenüber dem Werk. War das riesige Echo auf sein Buch über Wyclif und Hus nun das Ergebnis einer glücklicher Themenwahl, NEUMÜLLER, Fakultät (wie Anm. 5 4 ) 122. 60 Vgl. SRBIK, Johann Loserth (wie Anm. 5) 284: „Es ist ihm immer in schmerzlicher Erinnerung geblieben, daß seine Hoffnungen auf eine Berufung an die deutsche Universität in Prag, für deren geschichtswissenschaftliche Aufgaben er wie kein zweiter geeignet war, nicht erfüllt worden sind. Sein ,Mißgeschick' war es, so schrieb er 1916, als er siebzig Jahre alt wurde, daß er .ganze siebzehn Jahre, die besten meines Lebens, in Tomi, das heißt in dem heute so viel genannten Buchenland, sitzen mußte'." 61 LOSERTH, Viktor von Kraus (wie Anm. 1 5 ) 248. 62 Eduard MIKUSEK, Palacky, Höfler und seine Schüler Schlesinger und Lippert, in: Die böhmischen Länder in der deutschen Geschichtsschreibung seit dem Jahre 1 8 4 8 Teil I, hg. v. Michael NEUMÜLLER (Acta Universitatis Purkynianae 1996, Slavogermanica 3, Üsti nad Labem 1996) 127-134; Peter C. A. MOREE, Jan Hus as a Threat to the German Future in Central Europe: The Bohemian Reformer in the Controversy between Constantin Höfler and Frantiäek Palacky, in: The Bohemian Reformation and Religious Practice 4, hg. v. Zdenek V. D A V I D , David R. HOLETON (Prague 2002) 295-307 (siehe auch Online-Versionen der Tagungsbände unter ). 59

63 Schlesinger an Loserth, 08.12.1882, StLA, NL JL, K. 8, H. 438.

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eines neuen Zugangs zur Traktatliteratur oder einer voreingenommenen Ideologie, die den tschechischen Nationalhelden Hus aller Originalität berauben sollte? Obwohl sich Loserth als unermüdlicher Editor etablieren konnte, begnügte er sich nicht nur mit der Erschließung neuer Quellen, sondern strebte auch ihre Auswertung an. Unter den Fragen, welche sich der Anhänger des Historismus stellte, dominierten diejenigen nach Urheberschaft, Archetyp, Redaktionen und Vorlagen der mittelalterlichen Texte. Die Vorgangsweise, die er an chronikalischen Werken des 13. und 14. Jahrhunderts erprobte, wandte er auch in seinem Buch über Wyclif und Hus an. Die Methode war daher nicht neu, nur die handschriftlichen Quellen, welche er analysiert hat, waren mit ihr bisher noch nicht bearbeitet worden. Aus Loserths Formulierungen dringt auch die Überzeugung durch, dass er der erste (und zugleich der letzte) sei, der sich der Problematik rein wissenschaftlich widmet, und die Frage nach Hussens Wyclifismus wäre so gut wie beantwortet64. In Loserths Schilderung der böhmischen Reformbewegung sind zwar seine Ausgangspunkte erkennbar, nämlich eine geringe Sympathie für den Hussitismus und eine Abneigung gegen die Ausdrücke des tschechischen mittelalterlichen Nationalismus, aber an keiner Stelle deutlich in Form vordergründiger Publizistik vorzufinden. Umso mehr fallen seine thesenartigen Äußerungen zu Hussens Originalität auf, die er oft der Schilderung hinzugefügt hat. Loserth sah die mittelalterliche gelehrte Literatur unter dem Blickwinkel des „geistigen Eigentums" an und benutzte negative Ausdrücke wie „dürftiger Auszug" oder „vollständige Aneignung einzelner Traktate"65. Die Ursachen der regen Aufmerksamkeit, die Loserths Buch erweckte und bis heute erweckt, sind daher auch in der Schärfe zu erblicken, mit welcher er seine Resultate formulierte. Trotzdem ist es nicht angemessen zu vermuten, dass er a priori an die Arbeit herantrat, um Hus als flauen Plagiator abzuurteilen. Als er sich aber in Hussens Traktate eingearbeitet hatte, war er über das Ausmaß der Entlehnungen von Wyclif überrascht und erstaunt. Detaillierte Gegenüberstellungen brachten weitere Beweise und Loserth wurde klar, dass er vor der vielleicht größten wissenschaftlichen Entdeckung seines Lebens stand. Dass seine Ergebnisse als Angriff auf die Bedeutung des Hussitentums verstanden werden konnten und auch wurden, war für Loserth wohl nur eine Draufgabe. Man könnte vermuten, dass es seine heimliche Absicht gewesen war, seinen Helden Wyclif über Hus hinaus zu bejubeln. Aber auch das trifft nicht zu. Wer das Buch mit Loserths späteren Studien über die Quellen der Lehre Wyclifs vergleicht, stellt fest, dass hier die Abhängigkeit des Oxforder Gelehrten von seinen Vorgängern mit genau derselben Technik und sogar Phraseologie bewiesen wurde, als es in der Hus-Monografie der Fall war. In den grundlegenden Studien „Johann von Wiclif und Guilelmus Peraldus" sowie „Johann von Wiclif und Robert Grosseteste" aus den Jahren 1916 und 1918 enthüllt sich Wyclif, wie es Loserth formuliert, als

64 „Die folgenden Blätter sollen diesen Gegenstand in endgiltiger Weise erledigen." LOSERTH, HUS und Wiclif (wie Anm. 38) 24. 65 Ebd. 108 und 136. Nach Loserths Meinung sollte von nun an „von einer systematischen husitischen Lehre nicht gesprochen werden," ebd. 12.

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auf den Schultern dieser Autoren des 13. Jahrhunderts stehend66. Das schränkt gewissermaßen auch den Anteil der Befangenheit in Loserths Hussitenstudien ein - für Loserth war es erstrangig, neue Erkenntnisse zur Textkritik und zur Geschichte des Ideenaustauschs zu liefern. Der Schematismus in Loserths Ausführungen wuchs aber an, wenn er den Boden der komparativen Textkritik verließ und seine Thesen zu einzelnen Textstellen im Hussens Oeuvre auf die hussitische Lehre allgemein ausdehnte. Die Ignoranz gegenüber der einheimischen böhmischen Reformtradition, die ihm seitens tschechischer Historiker weitgehend zu Recht vorgeworfen wurde, führte in Loserths späteren Arbeiten zur Ableitung des gesamten hussitischen Programms von den Lehrsätzen Wyclifs. Im Übrigen hat sich Loserth nach Erscheinen seiner Hus-Monografie mehr in Wyclifs Arbeiten als in Spezialstudien zum Hussitismus vertieft und sein Interesse gänzlich dem wyclifistischen Aspekt der böhmischen Reformbewegung gewidmet67. Die Ergebnisse seiner mit der Herausgabe der Wyclif-Schriften verbundenen Forschungen sind in den Einleitungen der einzelnen Bände enthalten; einige wurden in überarbeiteten deutschen Fassungen publiziert68. Die Arbeit an der Wyclif-Ausgabe band Loserth an dieses Thema und selbst ein mit seiner Übersiedlung nach Graz verbundener Interessenswandel brachte ihn von Wyclif nicht völlig ab. Seine Antrittsvorlesung in Graz widmete Loserth der Überführung wyclifscher Reformgedanken nach Böhmen69. Der publizierte Vortrag gibt ein gutes Zeugnis darüber, wie sich Loserths Hauptgedanke zwischen der ersten und der zweiten Auflage seines Buches (1925) zuspitzte und verknöcherte. Den Makel der Nachahmung erkannte Loserth nun auch bei den Taboriten. Diese sollten sich die Lehren Wyclifs in konsequentester Weise angeeignet, die Reform jedoch mit einer von ihrem englischen Urheber unbeabsichtigten furchtbaren Konsequenz 66 Johann LOSERTH, Johann von Wiclif und Guilelmus Peraldus. Studien zur Geschichte der Entstehung von Wiclifs Summa Theologiae (SB Wien 180, Abh. 3, Wien 1916) 3-4; DERS., Johann von Wiclif und Robert Grosseteste, Bischof von Lincoln (SB Wien 186, Abh. 2, Wien 1918) 36. 67 Vgl. die zwei abschließenden Teile der Beiträge zur Geschichte der husitischen Bewegung (wie Anm. 37) sowie die Studien Johann LOSERTH, Zur Verpflanzung der Wiclifie nach Böhmen, in: MVGDB 22 (1884) 220-225; DERS., Ueber die Versuche, wiclif-husitische Lehren nach Oesterreich, Polen, Ungarn und Croatien zu verpflanzen, in: ebd. 24 (1886) 97-116; DERS., Urkunden und Traktate betreffend die Verbreitung des Wiclifismus in Böhmen, in: ebd. 25 (1887) 329-346; DERS., Simon von Tischnow. Ein Beitrag zur Geschichte des böhmischen Wiclifismus, in: ebd. 26 (1888) 221245; DERS., Über die Beziehungen zwischen englischen und böhmischen Wiclifiten in den beiden ersten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, in: MIÖG 12 (1891) 254-269; DERS., Zur Geschichte des Wiclifismus in Mähren, in: ZVGMS 17 (1913) 190-205. 68 Mit der Edition von De ecclesia hängt die Studie zusammen: Johann LOSERTH, Wiclifs Buch „Von der Kirche" (De Ecclesia) und die Nachbildungen desselben in Böhmen, in: MVGDB 24 (1886) 381-418, mit der Herausgabe der Sermones die Abhandlung: DERS., Die lateinischen Predigten Wiclifs, die Zeit ihrer Abfassung und ihre Ausnützung durch Huss, in: Zs. für Kirchengeschichte 9 (1887) 523-564, mit De eucharistia der Beitrag: DERS., Die Wiclif sehe Abendmahlslehre und ihre Aufnahme in Böhmen, in: MVGDB 30 (1892) 1-33, und mit De potestate pape der Aufsatz: DERS., Wiclifs Lehre vom wahren und falschen Papsttum, in: HZ 99 (1907) 237-255. 69 Johann LOSERTH, Die kirchliche Reformbewegung in England im XIV. Jahrhundert und ihre Aufnahme und Durchführung in Böhmen. Akademische Antrittsrede, gehalten am 2. Mai 1893 (Vorträge und Aufsätze aus der Comenius-Gesellschaft 1/3, Leipzig 1893).

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in die Wirklichkeit umgesetzt haben 70 . Im Gegensatz zu seinem Buch von 1884 fiel hier auch endlich das Wort, das seit längerem schon in der Luft lag: „Plagiat". Diese Bezeichnung, sogar „mattes Plagiat", galt Hussens „De ecclesia", einem Werk, das am stärksten von Wyclif beeinflusst gewesen sein soll und über das die Lehre des Engländers den Taboriten vermittelt wurde 71 . Das Thema Wyclifismus mit seinen internationalen und komparativen Aspekten verhalf Loserth in seinen Grazer Anfängen, seinem Lehrfach „allgemeine Geschichte" gerecht zu werden 72 . Rasch konnte er sich jedoch als Fachmann für innerösterreichische Kirchengeschichte der frühen Neuzeit profilieren. Ungleich der Bukowina, deren Regionalgeschichte er nur geringste Aufmerksamkeit gewidmet hatte, arbeitete sich Loserth tief in die Vergangenheit seiner neuen Heimat, der Steiermark, ein 73 . Auch daran lässt sich ersehen, wie bedeutend für Loserth ein Ruf in den westlichen Teil der Habsburgermonarchie war. Sein wissenschaftlicher Werdegang war in gewissem Sinn typisch für Czernowitz: er kam dorthin als Privatdozent aus Wien, so wie die Hälfte der dorthin berufenen Lehrkräfte, und nach einem wissenschaftlichen „Reifeprozess" in der relativen Stille der Stadt wurde er zum geeigneten Kandidaten für Rufe aus dem Westen. Denn es war wieder fast die Hälfte der Professorenschaft, die aus Czernowitz an andere Hochschulen abging (vornehmlich eben nach Prag, Graz und Innsbruck), und nur ein Viertel harrte bis zur Emeritierung aus74. Der Zeitraum von achtzehn akademischen Jahren, die Loserth in Czernowitz verbracht hat, war im Rahmen der regen peregrinatio académica schon etwas Außerordentliches. Loserths einstiger Lehrer Ottokar Lorenz warf dies der österreichischen Hochschulverwaltung in einem privaten Schreiben an Loserth vom Juli 1892 sogar als niederträchtig vor 75 . Das war allerdings bereits zu einer Zeit, als wieder Bewegung in Loserths Karriere eingetreten war.

70 Vgl. etwa Johann LOSERTH, Der Kirchen- und Klostersturm der Hussiten und sein Ursprung, in: Zs. für Geschichte und Politik 5 (1888) 259-290, gekürzter Nachdruck in LOSERTH, HUSS und Wiclif (wie Anm. 39)213-222. 71

LOSERTH, R e f o r m b e w e g u n g ( w i e A n m . 6 9 ) 1 2 - 1 3 .

72 Ebd. 1-2. 73 Der buchenländischen Geschichte ist der Beitrag Johann LOSERTH, Deutsch-böhmische Colonien, in: M V G D B 23 (1885) 373-384, gewidmet.

74 Das letzte Viertel schließt diejenigen ein, die in Czernowitz verstorben sind oder bis zu Ende der deutschsprachigen Universität 1919 blieben. Berechnet nach Angaben bei Erich PROKOPOWITSCH, Gründung, Entwicklung und Ende der Franz-Josephs-Universität in Czernowitz (Clausthal-Zellerfeld 1955) 32-35, und Alma mater (wie Anm. 34) 126-129. 75 Ihre Lage in Czernowitz habe ich mir häufig vorgestellt, wenn ich mir dachte, dass man mir doch wenig gutes im Leben gegönnt hat. Da habe ich immer an Sie denken müssen, denn so niederträchtig, wie an Ihnen gehandelt worden ist, - dies ist doch auch eine Seltenheit. Dass ich für Oesterreich nicht schwärme, kann man mir nicht verdenken. Lorenz an Loserth, 16.07.1892, StLA, NL JL, K. 6, H. 318.

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V. Der Lehrstuhl für allgemeine Geschichte in Graz wurde im Sommer 1892 durch den überraschenden Tod des im Jahr zuvor ernannten Arnold Busson vakant. Für Loserth begann sein letzter und diesmal erfolgreicher Versuch, seinen Wirkungsort zu wechseln76. Den Korrespondenzen zufolge standen bereits in Oktober 1892 seine Chancen sehr gut. Lorenz hatte damals von Jena aus für Loserth bei Franz von Krones, der führenden Persönlichkeit unter Grazer Historikern, brieflich interveniert77. Allerdings war das nicht nötig, denn Loserth hatte sich mit „Vater Krones" zuvor in Verbindung gesetzt 78 . Und wieder bewährte sich eine alte Brieffreundschaft: Krones befand sich seit 1874 unter den Adressaten von Loserths ersten Sonderdrucken und nachfolgend haben die beiden mehrmals Details aus der älteren böhmischen Geschichte besprochen. Der Grazer Geschichtsforscher trat als Verfechter der Berufung Loserths auf: Im Kommissions- sowie Fakultätsvorschlag vom 5. Dezember 1892 erschien jedoch Loserth nur an zweiter Stelle. Krones bemühte sich unter anderem mit Hilfe einiger lateinischen Zitate, Loserth die Lage darzulegen. Medium tenuere beati, hieß es in seinem vertraulichen Brief, wo er die Zusammenstellung der Terne Mühlbacher - Loserth - Ottenthai mitteilte 79 . Man rechnete nämlich fest damit, dass Mühlbacher Wien nicht verlassen würde. Das versicherte auch Loserths Czernowitzer Schüler Raimund Friedrich Kaindl, der im Wintersemester 1892 am Wiener IÖG arbeitete und welchen Loserth als Auskunftsquelle nutzte80. Der Professor für klassische Philologie Alois Goldbacher, der Loserth in seinem Weg von Czernowitz nach Graz elf Jahre vorausgegangen war, schloss seine Mitteilung über die Fakultätssitzung mit den optimistischen Worten: Also auf frohes Wiedersehen in Graz!S] 76 Walter H Ö F L E C H N E R , Vom Historischen Institut der Karl-Franzens-Universität Graz, in: Forschungen zur Landes- und Kirchengeschichte. Festschrift Helmut J. Mezler-Andelberg zum 65. Geburtstag, hg. v. Herwig E B N E R , Walter H Ö F L E C H N E R , Othmar PICKL, Annelies R E D I K , Hermann W I E S F L E C K E R , Inge W I E S F L E C K E R - F R I E D H U B E R (Graz 1988) 209-222, hier 216-217; DERS., Vertretung (wie Anm. 15) 37; Ferdinand G. S M E K A L , Alma universitas. Die Geschichte der Grazer Universität in vier Jahrhunderten (Wien 1967) 240-243. 77 Lorenz an Loserth, 31.10.1892, StLA, NL JL, K. 6, H. 318; vgl. auch den Brief vom 18.12.1892. 78 Die in Anführungszeichen stehende Bezeichnung des Nestors der Grazer Historiker führt Friedrich Wilhelm K O S C H , Zur Geistesgeschichte von Alt-Graz, in: ZHVSt 6 7 ( 1 9 7 6 ) , 2 1 - 5 5 , hier 3 7 , ohne Quellenangabe an. 79 Die Tema lautet nämlich: 1. Mühlbacher (sapienti sat) 2. Loserth 3. Ottenthai. Ich glaube in diesem Falle sagen zu können: Medium tenuere beati. Mühlbacher, der im Besetzungsvorschlage 1891 Busson folgte, wird Wien nicht verlassen, wenn er auch offiziell nicht ablehnte. So blieben streng genommen nur Sie und Ottenthai übrig, und Ihre ungleich größeren Verdienste um die Wissenschaft werden wohl den A usschlag geben, wenn auch die anerkannte Tüchtigkeit Ottenthals als Diplomatiker nicht zu überschätzen ist. Ich rechne mit Bestimmtheit auf Ihre Ernennung und freue mich, Sie persönlich kennen zu lernen. Krones an Loserth, 07.12.1892, StLA, NL JL, K. 6, H. 292. 80 Laut Kaindl äußerte sich Mühlbacher selbst noch vor der Veröffentlichung des Vorschlages günstig über Loserths Aussichten in Graz. Kaindl an Loserth, 20.11.1892, StLA, NL JL, K. 5, H. 260; am 10.12.1892 antwortete Kaindl auf Loserths Ansuchen, die Stellung Mühlbachers zur möglichen Ernennung zu ermitteln. 81 Goldbacher an Loserth, 07.12.1892, StLA, NL JL, K. 4, H. 174.

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Loserths Ernennung durch das Ministerium ließ jedoch auf sich warten, so dass selbst Krones ungeduldig wurde und dies am 25. März 1893 dem wartenden Kandidaten anvertraute. Am liebsten wäre es mir allerdings, wenn, während dieser Brief den Weg nach Czernowitz einschlägt, ihre Ernennung vollzogen würde. In diesem Punkt erfüllte sich sein Wunsch, denn an jenem Tag wurde Loserth mit allerhöchster Entschließung zum Professor der allgemeinen Geschichte an der Universität Graz ernannt82. Er durfte große Genugtuung empfinden, und auch seiner Familie mag der Wechsel nach Graz willkommen gewesen sein83. Loserths Freunde drückten ihre Glückwünsche und Begeisterung aus. Nur eine Gratulation, und zwar eines Sachkundigen, sei zitiert. Der ehemalige Czernowitzer Professor für romanische Philologie Alexander Budinszky sandte Loserth eine Visitenkarte mit dem lakonischen Text: Alexander Budinszky gratulirt zur endlichen Erlösung. Bereits im April 1893 zog der neue Professor nach Graz. Eine Zeit lang fesselten ihn zum Teil noch Czernowitzer Universitätsangelegenheiten, vor allem die Regelung seiner Nachfolge, schnell begann er sich aber in die steirischen Forschungseinrichtungen zu integrieren85. Noch im Frühjahr 1893 wurde Loserth ordentliches Mitglied des Historischen Vereins für Steiermark und hielt seit diesem Jahr auch Vorträge im Akademischen Verein deutscher Historiker. Mit Fleiß arbeitete er in der unlängst gegründeten Historischen Landeskommission für Steiermark, in deren Publikationsreihe er mehrere Bände seiner Quellenstudien und -editionen herausgab86. Zu seinen Lehrverpflichtungen an der Universität gehörte eine fünfstündige Vorlesung über sein Nominalfach, nebst den öffentlichen Kollegien und Übungen, die er als Mitvorstand des Historischen Seminars durchzufuhren hatte. Darüber hinaus las Loserth seit 1895 gegen eine besondere Remuneration auch historische Hilfswissenschaften, da es in Graz damals keine hilfswissenschaftliche Lehrkanzel gab. Seit 1905 wurde dieses Fach von Karl Uhlirz betreut, nach seinem Tod 1914 übernahm die Lehrveranstaltung wieder Loserth und unterrichtete die Hilfswissenschaften bis zu seiner Emeritierung. Seit 1912 wirkte 82 Vgl. die Zuschrift des Unterrichtsministeriums vom 27.03.1893, StLA, NL JL, K. 1, H. 5. 83 Mögen Sie und die Ihrigen sich recht glücklich fühlen, es wird doch eine grosse Verbesserung des Lebens sein, schrieb Lorenz an Loserth, 07.04.1893, StLA, NL JL, K. 6, H. 318. 84 Budinszky an Loserth, 30.03. 1893, StLA, NL JL, K. 3, H. 92. 85 Zur Czernowitzer Professur vgl. beispielsweise die erhaltene Korrespondenz mit Ferdinand Zieglauer oder mit Sigmund Herzberg Frankel, der Loserths Nachfolger wurde: StLA, NL JL, K. 11, H. 589 und K. 5, H. 213. Loserth findet Erwähnung in Arbeiten zur Grazer Gelehrtengeschichte, wie KOSCH, Geistesgeschichte (wie Anm. 78) 40, oder Nikolaus von PRERADOVICH, Sudetendeutsche Gelehrte an der Universität Graz, in: Bohemia 3 (1962) 384—401, hier 395-396, die jedoch von den quellenbasierten Beiträgen von Höflechner (siehe Anm. 15 und 76) überholt wurden. 86 Günter CERWINKA, 150 Jahre Historischer Verein für Steiermark, in: Festschrift 150 Jahre Historischer Verein, hg. v. Gerhard PFERSCHY, Karl SPREITZHOFER ( Z H V S t 91/92, Graz 2000/2001) 2 1 - 3 9 ; DERS.,

Der Akademische Verein deutscher Historiker in Graz. Zur hundertsten Wiederkehr seiner Gründung, Blätter für Heimatkunde 51 (1977) 97-110; Othmar PICKL, 100 Jahre Historische Landeskommission für Steiermark 1892-1992, in: 100 Jahre Historische Landeskommission für Steiermark 1892-1992. Bausteine zur Historiographie der Steiermark, hg. v. Othmar PICKL (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 36, Graz 1992) 17-70 (vgl. das Publikationsverzeichnis ebd. 382385).

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in Graz als Extraordinarius für allgemeine Geschichte Heinrich von Srbik, der zur Entlastung Loserths den Schwerpunkt Mittelalter übernehmen sollte. Im Jahr 1913 wurde Loserth auf sein Ansuchen hin von der Tätigkeit im Turnlehrerbildungskurs (Vorlesung Geschichte und Literatur des Turnwesens) befreit sowie von den volkstümlichen Vorträgen an der Universität, welche den jüngeren Lehrkräften überlassen wurden 87 . Die Berufung nach Graz führte zu einem neuen Kapitel im Werk Loserths. Er passte seine Themenwahl der neuen Situation an und nutzte die vorhandenen institutionellen Strukturen, indem er sich der Erörterung von Reformation und Gegenreformation vornehmlich in der Steiermark und der Ermittlung einschlägiger Quellen widmete. Er konnte den Umstand ausnutzen, dass seine Venia, allerdings in dieser Zeit schon anachronistisch, auf den ganzen Zeitraum der allgemeinen Geschichte lautete. Dies geschah zwar im Widerspruch zu den Vorstellungen der Fakultät, doch erst nach Loserths Emeritierung konnte ein Ordinariat für mittelalterliche Geschichte verwirklicht werden 88 . Gemäß seinem Lehrauftrag konnte sich Loserth frei zwischen den Epochen bewegen. Der frühneuzeitlichen Thematik hatte er sich bereits vor der Ernennung nach Graz zugewandt, nämlich der radikalen Reformation in seinem Geburtsland. Sein erster Aufsatz über mährische Wiedertäufer stammte von 1884, aber erst seit 1891 begannen sich seine Studien zur Reformation des 16. Jahrhunderts zu mehren 89 . Anregend haben wohl die Akten zur Geschichte des Anabaptismus aus dem Nachlass Josef von Becks gewirkt, die Loserth über den Grazer Historiker und Bibliothekar Hans von Zwiedineck-Südenhorst, der mit dem verstorbenen Beck verschwägert war, während einer Ferienreise, die ihn aus seinem halbasiatischen Exil in die Stadt an der Mur führte, erwarb. Als Zwiedineck-Südenhorst im Januar 1893 Loserths Arbeit über Anabaptismus in Tirol übersandt erhielt, konnte er schon mit einer Zusammenarbeit mit dem Verfasser in der steirischen historischen Landeskommission rechnen 90 . Vor Dazu HÖFLECHNER, Vertretung (wie Anm. 1 5 ) 37—41, DERS., Institut (wie Anm. 7 6 ) 2 1 4 und 2 1 7 sowie die Akten in StLA, NL JL, K. 1, H. 3 und K. 2, H. 13. Den Turnlehrerkurs übernahm Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 14) 35 (ein schönes Geschenk Loserths [...] Nobel, nicht wahr?). 88 Walter HÖFLECHNER, Metamorphosen und Konsequenzen. Zur Auflösung der Allgemeinen Geschichte an der Universitäten Wien, Prag und Graz, in: Geschichte und ihre Quellen. Festschrift für Friedrich Hausmann zum 70. Geburtstag, hg. v. Reinhard HÄRTEL (Graz 1987) 289-298, hier 294; DERS., Institut (wie Anm. 76) 217. 89 Johann LOSERTH, Zur Geschichte der Wiedertäufer in Mähren, in: Zs. für allgemeine Geschichte, Kultur-, Literatur- und Kunstgeschichte 1 (1884) 438-457; DERS., Die Stadt Waldshut und die vorderösterreichische Regierung in den Jahren 1523-1526. Ein Beitrag zur Geschichte des Bauernkrieges und der Reformation in Vorderösterreich, in: AÖG 77 (1891) 1-149. Zu Böhmen und Mähren vgl. DERS., Deutschböhmische Wiedertäufer. Ueber das Auftreten dieser Secte in Böhmen und in Mähren, in: MVGDB 30 (1892) 404-422; DERS., Der Communismus der mährischen Wiedertäufer im 16. und 17. Jahrhundert. Beiträge zu ihrer Geschichte, Lehre und Verfassung, in: AÖG 81 (1895) 135-322; DERS., Der Kommunismus der Huterischen Brüder in Mähren im 16. und 17. Jahrhundert, in: Zs. für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 3 (1895) 61-92. 90 Zwiedineck-Südenhorst an Loserth, 16.07.1889 und 14.01.1893, StLA, NL JL, K. 11, H. 592 (die - im Übrigen geläufige - ungünstige Bezeichnung für Loserths Wirkungsstätte stammt von ZwiedineckSüdenhorst). Vgl. Johann LOSERTH, Der Anabaptismus in Tirol von seinen Anfängen bis zum Tode Jakob Huters (1526-1536). Aus den hinterlassenen Papieren des Josef R. v. Beck, in: AÖG 78 (1892) 87

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Loserths Ankunft in Graz erschien noch das Buch über Balthasar Hubmeier, das ebenso aus dem Beckschen Nachlass schöpfte und das Ottokar Lorenz besprechen wollte, um Loserth einen Willkomm in Graz zu bereiten91. In der Steiermark vollendete sich schließlich Loserths Zuwendung zur österreichischen Geschichte der frühen Neuzeit92. Die Wiedertäufer führten seine Aufmerksamkeit von Mähren zu den Alpenländern und sein Forschungsfeld dehnte sich von radikalen reformatorischen Strömungen auf die gesamte Religionsgeschichte des 16.-17. Jahrhunderts aus. Das Grazer Landesarchiv sowie andere aufgesuchte Archive boten ihm eine unendliche Fülle von Material, das er mit beständiger Beharrlichkeit herausgab und auswertete. Noch im gesegneten Alter von über 80 Jahren forschte er im Landesarchiv und sein Fleiß wurde geradezu sprichwörtlich. Als ein vergeudetes Genie der Dichtkunst in einer Kneipzeitung des akademischen Historikervereines die Benutzer des Archivs festgesaugt an der Brust der Göttin Diana schilderte, bedachte er Loserth mit folgendem Distichon: „Hofrat Loserth, der trinkt in langen bedächtigen Zügen, / setzt er sich schreibend dann hin, bald wird ein Büchlein daraus"93. In der Tat vermochte Loserth aus seinen unermüdlichen Archivstudien eine beachtliche Reihe von Veröffentlichungen zu gewinnen. Die erste Etappe seiner Forschungen auf dem Gebiet der Reformation und Gegenreformation schloss mit den bedeutsamen Publikationen des Jahres 1898, und bis zu seinem Tode machte sich Loserth mehr und mehr um die Erschließung einschlägiger Quellen verdient.

VI. Das gründliche Studium der innerösterreichischen Religionsgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts begann Loserth im Auftrag und als Mitglied der Historischen Landeskommission für Steiermark. Seine ursprüngliche Absicht zielte auf eine steirische Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte unter Erzherzog Karl II. und dessen Sohn Ferdinand II., denn vornehmlich dem Ständewesen und der Verwaltung sollten die Bemühungen der 1892 gegründeten Kommission gelten. Wie üblich, zeigte es sich aber bald, wie viele Vorarbeiten vor Erfüllung einer solchen Aufgabe zu leisten wä427-604; DERS., Der Anabaptismus in Tirol vom Jahre 1536 bis zu seinem Erlöschen. Aus den hinterlassenen Papieren von Josef R. v. Beck, in: ebd. 79 (1893) 127-276; dazu Günter C E R W I N K A , Johann Loserth, Hans von Zwiedineck-Südenhorst und die Herausgabe des „Huldigungsstreites", in: Blätter für Heimatkunde 48 (1974) 123-131, hier 124-125. 91 Lorenz an Loserth, 07.04.1893, StLA, NL JL, K . 6, H. 318. Vgl. Johann L O S E R T H , Doktor Balthasar Hubmaier und die Anfänge der Wiedertaufe in Mähren. Aus gleichzeitigen Quellen und mit Benutzung des wissenschaftlichen Nachlasses des Hofrathes Dr. Josef Ritter v. Beck (Brünn 1893). Becksche Archivalien übergab Loserth im Herbst 1893 an die Landesarchive in Tirol und Mähren (siehe StLA, NL JL, K. 2, H. 13), beutete diese jedoch noch jahrzehntelang aus. 9 2 E R B E N , K E R N , Johann Loserth (wie Anm. 5 ) 1 1 - 1 3 . 9 3 Zitiert von C E R W I N K A , Der Akademische Verein (wie Anm. 8 6 ) 1 0 4 . Zum geselligen Zusammenleben von Studenten und Professoren im Akademischen Verein vgl. auch die Erinnerungen von Hans P I R C H E G G E R , [Selbstdarstellung], in: Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 1 - 2 , hg. v. Nikolaus G R A S S (Innsbruck 1 9 5 0 / 5 1 ) , hier 1 7 7 - 8 7 , bes. 7 9 - 8 0 .

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ren94. Loserth erkannte rasch, dass er eine Monografie über die Verwaltungsgeschichte der Steiermark 1564-1619 nicht ohne weiteres erarbeiten konnte und widmete seine Kräfte dem Quellenstudium der Reformation und Rekatholisierung. 1896 konnte er die Edition und die Abhandlung zu einem Dokument vorlegen, das in seiner Auffassung eine zentrale Stellung einnahm, nämlich der Brucker Religionspazifikation von 157895. Zwei Jahre später folgte der erste Band seiner umfangreichen Quellensammlung im Rahmen der Fontes rerum Austriacarum zu diesem Thema, der Akten und Korrespondenzen zur Geschichte der Gegenreformation in Innerösterreich enthielt, gleichzeitig brachte er die grundlegende Darstellung „Die Reformation und Gegenreformation in den innerösterreichischen Ländern im XVI. Jahrhundert" heraus96. Der eigentlichen Schilderung der gegenreformatorischen Vorgänge ging in der Darstellung ein Überblick über die Ausbreitung des Protestantismus in den innerösterreichischen Ländern voran. Dessen Höhepunkt sah Loserth im erwähnten innerösterreichischen Generallandtag von Bruck 1578. Seine Wertung kann insoweit als überschätzt gelten, als man kurz nach der Veröffentlichung Loserths Ansicht, die Einschränkungen der Zugeständnisse an die Lutheraner seitens des Landesfursten seien eine spätere Fälschung, widerlegt hat97. An dem unterschiedlichen Verständnis der Brucker Pazifikation nährten sich weitere historische Religionsauseinandersetzungen. Loserth verfolgte diese bis zum Tod Karls II. im Jahre 1590. Eine gewisse Fortführung seines Buches stellte die ebenso 1898 erschienene Abhandlung über den Huldigungsstreit 1590-1592 dar. Die Verhältnisse unter der nominellen und wirklichen Regierung Ferdinands II. schilderte er in den umfangreichen Vorworten seiner Editionen einschlägiger Akten in den Fontes rerum Austriacarum98. In zusammenfas-

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Landeskommission (wie Anm. 8 6 ) 2 2 - 2 4 ; Berthold SUTTER, Die Steirischen Landtagsakten Ein Beitrag zur Geschichte der Erforschung der steirischen Landtage, in: 1 0 0 Jahre Historische Landeskommission (wie Anm. 8 6 ) 2 4 3 - 2 6 4 , hier 2 5 2 - 2 5 8 . Die steirische Religionspacification 1572-1578. Nach den Originalen des steiermärkischen Landesarchivs herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Johann LOSERTH (Veröff. der Historischen Landeskommission für Steiermark 1, Graz 1896). Johann LOSERTH, Die Reformation und Gegenreformation in den innerösterreichischen Ländern im XVI. Jahrhundert (Stuttgart 1898); Acten und Correspondenzen zur Geschichte der Gegenreformation in Innerösterreich unter Erzherzog Karl II. (1578-1590), hg. v. Johann LOSERTH (FRA II/50, Wien 1898); vgl. dazu Johann LOSERTH, Nachträge zu den Akten und Korrespondenzen zur Geschichte der Gegenreformation unter Erzherzog Karl II., in: Jb. für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 23 (1902) 176-182. LOSERTH, Reformation (wie Anm. 96) 274-275; die These wurde vonLoserth in einerSpezialabhandlung ausgearbeitet: DERS., Eine Fälschung des Vizekanzlers Wolfgang Schranz. Kritische Untersuchung über die Entstehung der Brucker Pazifikation von 1578, in: MIÖG 18 (1897) 341-361. Zur Kritik vgl. Karl SCHELLHASS, Zum richtigen Verständnis der Brucker Religionspacifikation vom 9. Februar 1578, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 17 (1914/1924) 266-276. Johann LOSERTH, Der Huldigungsstreit nach dem Tode Erzherzog Karls II. 1590-1592 (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark II/2, Graz 1898); Akten und Korrespondenzen zur Geschichte der Gegenreformation in Innerösterreich unter Ferdinand II. 1: Die Zeiten der Regentschaft und die Auflösung des protestantischen Schul- und Kirchenministeriums in Innerösterreich. 1590-1600 2: Von der Auflösung des protestantischen Schul- und PICKL,

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sender Form hat Loserth jedoch nur die Zeit Erzherzog Karls behandelt. Der Grund dafür lag in seiner Überzeugung, wichtige Grundlinien der Rekatholisierung seien bereits unter Karl II. festgelegt worden, obwohl deren endgültige Ausfuhrung in die Zeit seines Sohnes fiel. Ob hier Loserths Vorliebe für Ursprünge und Originalität zum Vorschein kam, wie sie schon sein Herantreten an die Wyclif-Hus-Problematik verriet, sei dahingestellt. Von Bedeutung ist vielmehr, dass die chronologische Abgrenzung nicht das einzige war, wofür Loserth Kritik erntete. Die Besprechung aus dem Feder Erich Brandenburgs kennzeichnete ein ziemlich scharfer Ton. Vor allem hielt er dem Grazer Historiker vor, dass dieser auf eine Schilderung des Zusammenhangs kirchlicher Fragen mit sozialen Verhältnissen sowie mit damaliger Machtpolitik und auf die Suche nach Ursachen des protestantischen Untergangs im breiteren Rahmen der Reformationsgeschichte verzichtet hatte". Offensichtlich kam da ein Konflikt der Grundsätze historischer Arbeit zum Ausdruck, der den methodologischen Hintergrund Loserths einigermaßen erleuchtet. Loserth erlernte sein Handwerk und arbeitete sein Leben lang im Umfeld des Historismus des 19. Jahrhunderts. Geschichtliche Ereignisse sah er als einzigartig an, woraus eine Unlust und Behutsamkeit gegenüber Generalisierungen und unhistorischen Vergleichen resultierte100. Bestes Zeugnis von Geschichte legen doch die Quellen selbst ab, und daher ist es auch sachgemäß, die Zeitgenossen sprechen zu lassen. Dies war für Loserth ein Zeichen der Unbefangenheit, wie er selbst im Vorwort zum Huldigungsstreit betonte: „[Ich] kann hier noch besonders daraufhinweisen, dass ich den Grundsatz audiatur et altera pars genau befolge, und zwar so, dass ich die entgegengesetzten Parteien mit ihren eigenen Worten vorführe."101 Einerseits war der Satz als ein Seitenhieb gegen den Bischof von Graz-Seckau Leopold Schuster gemeint, der als Landeskommissionsmitglied die Drucklegung von Loserths reformationsfreundlicher Schrift gewisse Zeit hindurch blockiert hatte. Die Interpretation Loserths, die auf eine positive Bewertung der Politik der lutherischen Stände gegenüber der habsburgischen Herrschaft zielte, zu akzeptieren war Schuster nicht bereit102. Andererseits aber findet sich in demselben Satz eben Loserths historistisches Bekenntnis, dessentwegen ihn

Kirchenministeriums bis zum Tode Ferdinands II. 1600-1637, hg. von Johann LOSERTH (FRA 11/58 und 60, W i e n 1906/1907).

99 Erich BRANDENBURG, Zur Geschichte der deutschen Reformation und Gegenreformation, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur 3 (1900) 55-75, hier 55-62. Zu Hintergrund und Wirkungsgeschichte von Loserths Auffassung der Gegenreformation siehe Arno STROHMEYER, Konfessionszugehörigkeit und Widerstandsbereitschaft: Der „leidende Gehorsam" des innerösterreichischen Adels in der religionspolitischen Auseinandersetzungen mit den Habsburgern (ca. 1570-1630), in: Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt im Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Winfried Eberhard zum 65. Geburtstag, hg. v. J o a c h i m BAHLCKE, K a r e n LAMBRECHT, H a n s - C h r i s t i a n MANER ( L e i p z i g 2 0 0 6 ) 3 3 3 - 3 5 4 , h i e r 3 3 6 341.

100 GeorgG. IGGERS, DeutscheGeschichtswissenschaft. Eine KritikdertraditionellenGeschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart (Wien/Köln/Weimar 1997) 11-42. 101 LOSERTH, Huldigungsstreit (wie Anm. 98) V-VL. 102 CERWINKA, H e r a u s g a b e ( w i e A n m . 9 0 ) 1 2 5 - 1 3 0 .

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Brandenburg als Opfer des ,,Kleben[s] an Aktenexzerpten" bezeichnete103. Wie berechtigt auch Brandenburgs Kritik aus dem heutigen Blickwinkel erscheinen mag, erst unter Berücksichtigung der Zielsetzung Loserths kann man seine Leistung im Bereich der Erschließung des ungedruckten und oft unbekannten Aktenmaterials werten. Sicher war er kein Sozial- oder Kulturhistoriker im heutigen Sinne, was man damals von ihm aber auch nicht erwarten konnte104. Kennzeichnend fiir seine Leistung ist schließlich, dass die Geschichtsforschung hundert Jahre lang keine Synthese hervorbrachte, die Loserths narrativen Zugriff paradigmatisch überholt hätte105. Es gehörte zu Loserths Auffassung von Geschichtswissenschaft, dass er überzeugt war, immer objektiv und neutral vorzugehen. Dass bereits die Themen- und Quellenwahl eine mehr oder weniger subjektive Interpretation bedeutet, räumte er nicht ein. Seine politischen und religiösen Ansichten meinte er in den Hintergrund drängen zu können106. Er war und blieb ein Matrikelkatholik, seine Zuneigung zu den reformierten Kirchen ist aber leicht zu erkennen. Natürlich wird sie in seinen Arbeiten nirgends explizit ausgedrückt, obwohl sein geschicktes Manövrieren gegenüber den bischöflichen Zensurversuchen im Fall des Huldigungstreites deutlich auf eine Distanz zu ultramontanen Tendenzen hinweist107. Der Wortlaut seiner Arbeiten hielt an der Pose eines unbefangenen Meisters der Quellenkritik fest. Die kritisch untersuchten Archivalien stellten für ihn eine sichere Materie dar, um die historische „Wahrheit" zu finden. Deshalb finden sich in Loserths Schriftenverzeichnis 103 B R A N D E N B U R G , Reformation (wie Anm. 99) 62. 104 Mir ist unverständlich, in welchem Sinn „Loserth und seine Schule" in der einschlägigen Forschung „manchen Weg verstellt" haben sollen, wie dies H. Mezler-Andelberg gesehen haben will: Helmut J . M E Z L E R - A N D E L B E R G , Erneuerung des Katholizismus und Gegenreformation in Innerösterreich, in: Südostdeutsches Archiv 13 (1970) 97-118, hier 98. Dass Loserths „materialreiche Behandlung des Themas [...] für die neuere Forschung eher ein Hemmnis als eine Hilfe" sei, so France M. D O L I N A R , Maximilian L I E B M A N N , Helmut R U M P L E R , Die Gegenreformation in Innerösterreich als politisches, kirchenpolitisches und theologisches Problem, in: Katholische Reform und Gegenreformation in Innerösterreich 1564-1628, hg. v. DENS., Luigi T A V A N O (Klagenfurt/Ljubljana/Wien 1994) 11-18, Zitat 17f., geht zu Lasten dieser neueren Forschung, nicht Loserths. Schwerwiegender ist aus der hier gewählten Perspektive der Vorwurf der Subjektivität in der Auswahl von abgedruckten Quellen, siehe S U T T E R , Landtagsakten (wie Anm. 94) 256. 105 In der jüngsten Monografie zum Thema wird Loserths Buch als „pioneering work" bezeichnet: Regina PÖRTNER, The Counter-Reformation in Central Europe. Styria 1580-1630 (Oxford 2001) 5. Vgl. dagegen die Kritik an Loserths Überschätzung der lutherischen Theologie sowie an seiner Abtrennung der Religionsfragen von ständischer Politik bei STROHMEYER, Konfessionszugehörigkeit (wie Anm. 99), und DEMS., Konfessionskonflikt und Herrschaftsordnung. Widerstandsrecht bei den österreichischen Ständen (1550-1650) (Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. für Universalgeschichte 201, Mainz 2006) 31, 390. 106 Allerdings geriet Loserth mit seiner angestrebten Objektivität und seiner nationalen Gesinnung in eine Aporie: „[Die Objektivität] wird erreicht durch gewissenhafte, streng vorurteillose Forschung und eine Darstellung, die nichts Fremdes in den Stoff hineinträgt und Personen und Handlungen an den Maßstäben ihrer Zeit misst. Dass dabei Volks- und Staatszugehörigkeit nicht verleugnet zu werden brauchen, steht fest." Johann LOSERTH, Eine „Geschichte der Kroaten", in: Österreich. Zs. für Geschichte 1 (1917/1919) 267-272, hier 269. 1 0 7 C E R W I N K A , Herausgabe (wie Anm. 9 0 ) 1 2 8 - 1 3 0 . STROHMEYER, Konfessionszugehörigkeit (wie Anm. 99) 341, betont die Affinität der Ansichten Loserths zur Los-von-Rom-Bewegung.

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etliche Miszellen, die auf dem einen oder anderen glücklichen Quellenfund basieren und diesen wiedergeben. Die Ergebnisse seiner Archivforschungen füllten die Zeitschriften der historischen Vereine in Böhmen, Mähren und Schlesien, Steiermark, Kärnten, Salzburg, Tirol, Niederösterreich, Preußen oder Siebenbürgen. Umfangreiche Zitate, Nebeneinanderstellungen und Quellenanhänge enthalten auch Loserths grosse Arbeiten. Aber auch als unermüdlicher Editor begnügte er sich keineswegs mit der bloßen Quellenwiedergabe. In seinen wichtigsten Arbeiten werden immer auch Ergebnisse historischer Forschung formuliert. Wie zugespitzt man seine Thesen über Hussens mangelnde Originalität oder über die Loyalität der protestantischen Stände gegenüber Karl II. auch ansehen mag, so besaß er unzweifelhaft die Fähigkeit, seine Hauptergebnisse klar und deutlich auszudrücken. Loserth selbst meinte, eine allgemeine Geschichtskenntnis ginge ihm über alle hilfswissenschaftlichen Methoden108. Die Worte Srbiks über Loserths „Drang zur Synthese" werden zwar gerne zitiert, zugleich aber wird Loserths universalgeschichtlicher Ansatz mit Bedenken angeführt109. Der Grund dafür ist darin zu erblicken, dass auch unter Loserths allgemeingeschichtlichen Fragestellungen Themen wie Autorschaft, Textabhängigkeiten oder Fälschungen dominierten. Ein Etikett für sein wissenschaftliches Ideal wäre „quellenmäßige Geschichte". Zu den Anforderungen an eine solche zählte Loserth eine „vollständige Zusammenfassung und voraussetzungslose Kritik der einschlägigen Quellen, richtiges Urteil und ansprechende Darstellung. Das Schwergewicht wird man auf die erste der drei Forderungen zu legen haben, dem Grundsatz entsprechend, daß niemand ein guter Geschichtschreiber sein kann, der nicht zuvor ein guter Geschichtsforscher gewesen ist." Diese Einstellung verband sich mit einem Etatismus und einer Antipathie gegenüber der vordringenden Kulturgeschichte: „Die Geschichte hat," so Loserth, „ihren Blick auf das Verhältnis des Menschen zum Staat zu richten, und tut sie das, so löst sie auch die Aufgaben, die der sogenannten Kulturgeschichte gestellt sind."110 In der Quellenkritik vermochte Loserth scharfsinnige, wenn auch nicht immer allgemein akzeptierte Thesen vorzulegen; in seiner Geschichte des späteren Mittelalters 1197-1492 aus dem Jahr 1903 schlug sich eher seine faktografische Präferenz nieder111. In einem Nachschlagewerk, geschrieben für die Reihe „Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte", war allerdings auch strenge Sachlichkeit erwünscht. Die „Tatsachen" dominierten die Schilderung, meistens ohne jegliche Wertung oder Bestimmung allgemeinerer Trends, so dass es angemessen erscheint, in den Worten 108 PETTIN, Johann Loserth (wie Anm. 5) 13. 1 0 9 S R B I K , Johann Loserth (wie Anm. 5) 285, vgl. L H O T S K Y , Geschichte des Instituts (wie Anm. 7 ) 138; Heinrich von SRBIK, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart 2 (München/Salzburg 2 1964) 108, schreibt, Loserth war „dem innersten, Rankeschen Trieb nach Universalhistoriker". Daselbst sowie bei Alphons L H O T S K Y , Österreichische Historiographie (Wien 1962), 193 kritische Äußerungen über Loserths Geschichte des späteren Mittelalters, vgl. jedoch die positive Wertung des Buches in DERS., Geschichte des Instituts (wie Anm. 7) 138. 1 1 0 LOSERTH, Geschichte der Kroaten (wie Anm. 1 0 6 ) 2 6 7 und 2 6 9 . 1 1 1 Johann LOSERTH, Geschichte des späteren Mittelalters von 1 1 9 7 bis 1 4 9 2 (Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte I I / [ 4 ] , München/Berlin 1 9 0 3 ) .

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des Verfassers eher von einer Enzyklopädie als von einer Synthese zu sprechen. Von ausschließlicher Behandlung politischer Geschichte bewahrte den Autor aber sein Interesse für kirchliche Angelegenheiten und religiöse Bewegungen. Das Angebot Friedrich Meineckes und Georg von Belows zu diesem Buch, erstmals 1880 ausgesprochen und von Loserth aus Mangel an Vorarbeiten abgelehnt, nahm er schließlich als Gelegenheit wahr, seine Lieblingsthemen in einen breiteren Kontext einreihen zu können. Für die wichtigsten historischen Erscheinungen hielt er kirchenpolitische Umwälzungen: bis zum abendländischen Schisma des 14. Jahrhunderts dominiert das Papsttum seine Schilderung, während die Zeit nach 1378 durch Konziliarismus und Humanismus gekennzeichnet ist. Das Studium kirchenpolitischer Vorgänge des Spätmittelalters führte Loserth auch an der Universität Graz fort. Die Herausgabe der Wyclif-Schriften zog sich bis 1922 hin. Der Schwerpunkt der Forschungen Loserths wandelte sich allmählich von der Rezeptionsgeschichte des Wyclifismus in Böhmen zu Wyclifs Leben und Werk selbst. Die Veröffentlichungen in den Sitzungsberichten der Wiener Akademie enthalten grundlegende Erkenntnisse zu Wyclifs Schriften, deren Quellen sowie zur damaligen englischen Kirchenpolitik112. Seit die Vollendung der Wyclif-Ausgabe in sein Blickfeld trat, beschäftigte Loserth der Gedanke an eine neue Auflage seines Klassikers von 1884, und 1917 wandte er sich allerdings erfolglos an den ursprünglichen Verleger113. Erst 1925 konnte das Werk in einer stark überarbeiteten Fassung im Oldenbourg-Verlag erscheinen114. Ihren Scharfsinn an dem Werk konnte anschließend bereits die zweite Generation tschechischer Rezensenten üben115. Die Zweitauflage war jedoch eher eine Enttäuschung, denn die Verweise auf die neuen Editionen zu Wyclif sind beinahe deren einziger Vorteil, inhaltlich brachte sie wenig grundsätzlich Neues. Loserth verschärfte seine Grundthese, ohne neue überzeugende Belege zu liefern, und kam als fast achtzigjähriger Historiker mit der neueren Literatur nicht mehr zurecht. Vor allem die tschechischsprachige Forschung hatte seit der Jahrhundertwende über das HusJubiläum 1915 hinaus erhebliche Fortschritte gemacht. Loserth kommentierte zwar die Neuerscheinungen der Hus- und Wyclifliteratur, sein letzter Bericht in der HZ erschien

112 Johann LOSERTH, Studien zur Kirchenpolitik Englands im 14. Jahrhundert. 1. Bis zum Ausbruch des grossen Schismas (1378), 2. Die Genesis von Wiclifs Summa Theologiae und seine Lehre vom wahren und falschen Papsttum (SB Wien 136, Abh. 2, und 156, Abh. 6, Wien 1897/1907); DERS., Die ältesten Streitschriften Wiclifs. Studien über die Anfänge der kirchenpolitischen Tätigkeit Wiclifs und die Überlieferung seiner Schriften (SB Wien 160, Abh. 2, Wien 1909); DERS., Wiclifs Sendschreiben, Flugschriften und kleinere Werke kirchenpolitischen Inhalts (SB Wien 166, Abh. 6, Wien 1910). Vgl. auch die in Anm. 67 zitierten Arbeiten, sowie Johann LOSERTH, The Beginnings of Wyclifs Activity in Ecclesiastical Politics, in: The English Historical Review 11 (1896) 319-328. 113 Tempsky an Loserth, 25.01.1917, StLA, NL JL, K. 10, H. 539. 114 Laut dem Brief Oldenbourgs an Loserth vom 20.12.1924, StLA, NL JL, K. 7, H. 382, bot Loserth dem Verleger das Werk schon 1921 an. 1926 sondierte ein Verlag die Modalitäten einer italienischen Ausgabe, zu der es aber nicht kam: Oldenbourg an Loserth, 15.06.1926, ebd.. Um die Drucklegung machte sich Srbik verdient, vgl. Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 14) 203-204 und 242-243. 1 1 5 Die wichtigste ist die umfangreiche Kritik von Vaclav NOVOTNY in: Casopis Matice moravske 4 9 (1925) 702-717.

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jedoch 1916. Nicht nur wichtige tschechische Titel zum Thema, sondern auch Hussens alttschechisches Schrifttum blieb gänzlich außerhalb Loserths Blickwinkel116. Loserths Wertung des Hussitismus lebte im frühen Werk seiner Schülerin Mathilde Uhlirz fort. Das ihr übertragene Dissertationsprojekt sollte die Abhängigkeit der so genannten Vier Prager Artikel, also des Kernprogramms der Hussiten, von den Gedanken Wyclifs beweisen. Die Arbeit erfuhr eine besondere Betreuung, Loserth setzte ihren Druck in einer Schriftenreihe der Akademie durch und verlangte für die Doktorandin eine Promotion sub auspiciis Imperatoris117. Man darf annehmen, dass auch die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Familien eine Rolle spielten, denn Mathilde war die Tochter Karl Uhlirz', der seit 1903 als Loserths Kollege an der Universität Graz wirkte. Zugleich muss man aber bemerken, dass Loserth zu seinen Studenten allgemein ein gutes und zuweilen auch kameradschaftliches Verhältnis pflegte118.

VII. Die Geschichtswissenschaft erfuhr damals eine weitere Spezialisierung, der man in Graz durch neue Kompetenzregelung der historischen Lehrstühle gerecht zu werden versuchte. 1912 wurde Srbik als Extraordinarius für allgemeine Geschichte nach Graz berufen, die Absicht war jedoch, die allgemeine Geschichte in Mittelalter einschließlich der Hilfswissenschaften und Neuere Geschichte inklusive Wirtschaftsgeschichte zu teilen119. Die österreichische Geschichte betreute seit 1903 in der Nachfolge Krones' Uhlirz, dessen Berufung Loserth gegen den langjährigen Grazer Privatdozenten Zwie116 Loserth kannte von den tschechischen Publikationen fast ausschließlich nur Editionen, vgl. Johann L O S E R T H , Neue Erscheinungen der Wiclif- und Huss-Literatur, in: HZ 116 (1916) 271-282; DERS., Zur Kritik der lateinischen Schriften des Huß, in: MVGDB 42 (1904), Literarische Beilage 53-62; DERS., Neuere Erscheinungen 1916 (wie Anm. 38) 258-271. 117 Mathilde UHLIRZ, Die Genesis der vier Präger Artikel (SB Wien 175, Abh. 3, Wien 1914); vgl. die Erinnerungen von Mathilde UHLIRZ, [Selbstdarstellung], in: Österreichische Geschichtswissenschaft 2 (wie Anm. 93) 233-242, hier 238. Über ihre Promotion Alois K E R N B A U E R , Dissertationsgutachten als wissenschaftshistorische Quelle. Anhand der Gutachten zu den Schülerarbeiten am Grazer Historischen Seminar bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges, in: Geschichtsforschung in Graz. Festschrift zum 125-Jahr-Jubiläum des Instituts für Geschichte der Karl-Franzens-Universität Graz, hg. v. Herwig E B N E R , Horst HASELSTEINER und Ingeborg WIESFLECKER-FRIEDHUBER (Graz 1990) 395-402, hier 396; über die Person Uhlirz' Fritz FELLNER, Frauen in der österreichischen Geschichteswissenschaft, in: Ders., Geschichtsschreibung und nationale Identität. Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft (Wien/Köln/Weimar 2002) 92-128, hier 97-98; Peter TEIBENBACHER, Mathilde Uhlirz - Ein Fall, in: Grenzfeste Deutscher Wissenschaft. Über Faschismus und Vergangenheitsbewältigung an der Universität Graz (Graz 1985) 88-93, und der Beitrag zu Uhlirz in diesem Band. 118 So wird Loserths Hingabe an die Lehre anhand seiner Dissertationsgutachten gewertet von K E R N B A U E R , Dissertationsgutachten (wie Anm. 117) 401. Gute Beziehungen bezeugen auch mehrere Glückwünsche von Studenten zu Loserths 70. Geburtstag 1916, StLA, NL JL, K. 1 H. 7, oder z.B. der Neujahrsgruß seines Schülers Jurinka von der 7. k. und k. Skikompanie vom 27.12.1915, ebd., K . 5, H. 258. 119 Vgl. Srbik an Emil von Ottenthai, 22.06.1914, in: Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 14) 39.

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dineck-Südenhorst bevorzugt hatte120. Mit Uhlirz knüpfte Loserth ein gutes Verhältnis an, laut Srbik stand er in akademischen Fragen [...] ganz unter Uhlirz Einfluß111. Auch mit Srbik verband Loserth eine Freundschaft, die jedoch verschiedene Peripetien durchmachte und ihre besten Zeiten während der Anfange Srbiks in Graz und dann wieder nach Loserths Emeritierung erlebte. Die Erteilung der Professur für österreichische Geschichte nach Uhlirz' vorzeitigem Tod 1914 wurde durch die Kriegsereignisse beeinflusst, und 1915 gelangte Raimund Friedrich Kaindl, einstiger Schüler Loserths, nach Graz, dessen Abgang aus Czernowitz sonst nicht zu erwarten gewesen wäre122. In Nachfolge Loserths kam 1917 schließlich Wilhelm Erben als Professor der mittelalterlichen Geschichte nach Graz, während Srbik zum Ordinarius der Neueren und Wirtschaftsgeschichte ernannt wurde. Die Lehrverpflichtungen vermochten Loserth in seiner Arbeitsamkeit keineswegs zu hemmen, denn man konnte damals in Graz mit etwa zehn Hörern pro Veranstaltung rechnen123. Laut Srbik verlor Loserth allerdings im hohen Alter den Überblick in den akademischen Geschäften: seine Gutachten zu Lehrkanzelbesetzungen beschrieb Srbik als sachlich recht schwach und voll von Unrichtigkeiten und Torheiten124. Dennoch publizierte er ungebrochen125. Neben Studien und Akteneditionen zu kirchlichen Fragen der Zeit kamen auch Arbeiten zur Geschichte des Grafengeschlechtes von Stubenberg oder zum protestantischen Schulwesen vor, des weiteren eine umfangreiche Edition des bedeutenden Werkes des Wiedertäufers Pilgram Marbeck; die letzte große Veröffentlichung Loserths war „Innerösterreich und die militärischen Maßnahmen gegen die Türken" von 1934126. 120 Dazu CERWINKA, Herausgabe (wie Anm. 90) 130. 121 Srbik an Hans Hirsch, 27.02.1913, in: Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 14) 7. 122 Raimund Friedrich KAINDL, [Selbstdarstellung], in: Geschichtswissenschaft der Gegenwart 1 (wie Anm. 8) 171-205, hier 199; Alexander BLASE, Raimund Friedrich Kaindl (1866-1930). Leben und Werk (Wiesbaden 1962) 34, und der Beitrag zu Kaindl in diesem Band. 123 PIRCHEGGER, Selbstdarstellung (wie Anm. 93) 79, gibt 5-10 Studenten an, Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 14) 15, 12-15 Hörer in Vorlesungen von Ordinarien. 124 Es ist ein Jammer, seufzte er in einem Brief an Wilhelm Bauer, 08.06.1916, in: Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 14) 66, vgl. auch 39 und 45. 125 Siehe ERBEN, K E R N , Johann Loserth (wie Anm. 5) 23-27; Anton K E R N , Zur neueren Literatur über die Reformation und Gegenreformation in Innerösterreich. Die Werke von Hofrat Prof. Dr. Johann Loserth, in: ZHVSt 6 (1909) 83-97. Eine ausführliche Bibliografie zur Geschichte der innerösterreichischen Gegenreformation von 1994 nimmt 32 Arbeiten von Loserth auf: Katholische Reform und Gegenreformation (wie Anm. 104) 754—756. 126Nur auswahlweise vgl. Johann LOSERTH, Salzburg und Steiermark im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts. Briefe und Akten aus der Korrespondenz der Erzbischöfe Johann Jakob und Wolf Dietrich von Salzburg mit den Seckauer Bischöfen Georg IV. Agricola und Martin Brenner und dem Vizedomamte zu Leibnitz (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark V/2, Graz 1905); DERS., Die Reformationsordnungen der Städte und Märkte Innerösterreichs aus den Jahren 1587-1628, in: AÖG 96 (1907) 99-190; DERS., Das Kirchengut in Steiermark im 16. und 17. Jahrhundert (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark VIII/3, Graz/Wien 1912); DERS., Das Tagebuch des steiermärkischen Landschaftssekretärs Stephan Speidl, gefühlt bei der innerösterreichischen Reichshilfsgesandtschaft am Regensburger Reichstage 1594 (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark X/4, Wien/Graz 1931); DERS., Das Archiv des Hauses Stubenberg 1-2 (Veröff. der Historischen Landeskommission

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Loserths Alter und seine sich mehrenden wichtigen Publikationen brachten wissenschaftliche und gesellschaftliche Ehrungen mit sich. Er wurde zum Ehrenmitglied zahlreicher historischer Vereine ernannt und 1906 mit dem Titel eines Hofrates ausgezeichnet. 1908 wurde er zum auswärtigen Mitglied der Königlichen böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften gewählt und 1933 endlich zum wirklichen Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Wien. Eine außergewöhnliche Ehrung kam 1930 hinzu, als der Gemeinderat von Graz-Waltendorf einer dortigen Straße den Namen Johann-Loserth-Gasse zuwies127. Loserth beklagte sich seit der Mitte der 1920er Jahre über einen Mangel an befriedigender Arbeit, dennoch ging er aber in den Bibliotheken und Archiven ein und aus, und das trotz erheblicher Sehschwäche bis etwa 1933128. Oft war der alte Herr mit Vorträgen und ähnlichem beschäftigt, was er wie folgt kommentierte: Dinge, die man nicht gut ablehnen kann, weil es meist das nationale hier sehr darniederliegende Moment betrifft129. Ein deutschnationales Bewusstsein blieb sicherlich auch weiterhin die Achse seiner Weltanschauung. Seine politischen Ansichten zur Zeit des Zusammenbruchs Österreich-Ungarns und danach sind jedoch nur schwer zu ermitteln, da er es vermied, sie in seinen historischen Arbeiten zu äußern. Jedenfalls blieb er der alten Monarchie und der gesamtösterreichischen Staatsidee treu130. Noch gegen Ende des Ersten Weltkrieges schloss er sich einer Gruppe von Historikern an, die sich an der Seite Wilhelm Bauers in der Zeitschrift „Österreich. Zeitschrift für Geschichte" bemühten, die Bedeutung altösterreichischer Kultur aufzuzeigen. In seinem Beitrag über die Abdankung Ferdinands I. und Thronbesteigung Franz Josefs I. begnügte er sich jedoch mit einer Untersuchung und Mitteilung unbekannter Schriftstücke: Auch im Fall der Akten zum österreichischen Thronwechsel 1848 entzog sich Loserth gänzfür Steiermark 22, Graz 1906); DERS., Geschichte des altsteirischen Herren- und Grafenhauses Stubenberg (Graz/Leipzig 1911); DERS., Die protestantischen Schulen der Steiermark im sechzehnten Jahrhundert (Monumenta Germaniae paedagogica 55, Berlin 1916); DERS., Pilgram Marbecks Antwort auf Kaspar Schwenckfelds Beurteilung des Buches der Bundesbezeugung von 1542. (Quellen und Forschungen zur Geschichte der oberdeutschen Taufgesinnten im 16. Jh. 1, Wien/Leipzig 1929); DERS., Innerösterreich und die militärischen Maßnahmen gegen die Türken im 16. Jahrhundert. Studien zur Geschichte der Landesdefension und der Reichshilfe (Forschungen zur Verfassungsund Verwaltungsgeschichte der Steiermark XI/1, Graz 1934). Nebst der Neuausgabe von „Hus und Wiclif' war auch eine zweite Auflage des Buches über Hubmaier und Wiedertäufer in Mähren vorgesehen, zu welcher es aber nicht kam: Loserth an Srbik, 20.01.1924, in: Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 14) 203-204. 127StLA, NL JL, K.l, H. 6. Aus dem Brief des Waltendorfer Bürgermeisteramtes an Loserth stammt auch die schmeichelhafte Bezeichnung „Gelehrter von Weltruf', die in den Untertitel dieses Beitrages aufgenommen wurde. 128 Briefe Loserths an Srbik vom 20.01.1924 und 26.05.1926, in: Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 14) 203-204 und 280-281; Bernhardt Seuffert an Srbik, 22.12.1932, ebd. 388-389. Vgl. SRBIK, Johann Loserth (wie Anm. 5) 281. 129 Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 14) 203. 1 3 0 S R B I K , Geist (wie Anm. 1 0 9 ) 1 0 8 ; zu dieser Mehrheitsposition unter österreichischen Historikern siehe Günther R A M H A R D T E R , Geschichtswissenschaft und Patriotismus. Österreichische Historiker im Weltkrieg 1 9 1 4 - 1 9 1 8 (Wien 1 9 7 3 ) , und Herbert D A C H S , Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluß ( 1 9 1 8 - 1 9 3 0 ) (Wien/Salzburg 1 9 7 4 ) 2 7 - 3 9 .

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lieh einer eigenen Stellungnahme sowie jeglicher politisch brisanten Äußerung und widmete sich hauptsächlich dem Verhältnis erhaltener Schriftstücke und Konzepte zueinander131. Gleich fast allen österreichischen Universitätshistorikern war Loserth nach 1918 einem Anschluss der als provisorisch angesehenen Republik Österreich an das Deutsche Reich zugeneigt132. Dies zeigte sich im Streit um Kaindls Buch „Österreich, Preußen, Deutschland: Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung" von 1926, in dem Loserth auf der Seite Srbiks und nicht auf der seines Schülers Kaindl stand. Srbik und Loserth positionierten sich von einem „gesamtdeutschen" Standpunkt her gegen kleindeutsche politische Lösungen, ohne dabei jedoch Kaindls Methode und seinen Hass gegenüber der kleindeutschen Schule zu teilen. Ich fürchte eben, daß es den Gegnern der Anschlußbewegung eine willkommene Waffe sein werde, schrieb Loserth über das neueste Produkt Kaindls. Srbik erwiderte, daß das Buch, dem ein geringer wissenschaftlicher Wert innewohnt, nationalpolitisch nur den schwersten Schaden anrichten kann. Anstatt die Kluft Österreich — Preußen zu überbrücken, reißt es sie nur klaftertief wieder auf33. Freilich engagierte sich Loserth eher in nationaler Kulturarbeit und Volksbildung als in der Politik. Das Verständnis für nationale Fragen und Auseinandersetzungen ist bei einem Mann, der in Mähren geboren wurde, über böhmische Geschichte arbeitete, in der Bukowina und in der Steiermark wirkte und so stets mit den slawischen Bewohnern Altösterreichs und deren Forderungen in Kontakt gelangte, begreiflich. Trotzdem ist der Gedanke einer deutschen Kulturträgerschaft in seinen Arbeiten höchstens spürbar, nie aber explizit ausgedrückt. Als Begleiterscheinung seiner historischen Forschungen sah Loserth schwere literarische Kämpfe mit dem Tschechentum, was aber immerhin Berührung und Diskussion und keine Separation bedeutete134. In Loserths Umgebung nahm die Tendenz zur nationalen Abgrenzung jedoch zu: Die Radikalisierung der deutschnationalen Studentenschaft im akademischen Historikerklub zu Graz war nur ein Zeichen für eine allgemeinere Entwicklung135. Freilich sind die anschlussfreundlichen Aussagen in der 1920er Jahre anders zu werten als solche aus der Zeit nach Hitlers Machtübernahme in Deutschland 1933136. Vermutlich passt auch zu Loserth die Beobachtung, dass damals die alten Professoren bei allem Nationalismus mehr131 Johann LOSERTH, Zur Abdankung Kaiser Ferdinands I. und zur Thronbesteigung Franz Josefs I., in: Österreich. Zs. für Geschichte 1 (1917/1919) 475-485. Zur Zeitschrift RAMHARDTER, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 130) 6 1 - 6 2 .

132 DACHS, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 130) 57 und 91; Gernot HEISS, Im „Reich der Unbegreiflichkeiten". Historiker als Konstrukteure Österreichs, in: ÖZG 7 (1996) 4 5 5 ^ 7 8 , hier 458-468.

133 Loserth an Srbik, 26.05.1926, in: Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 14) 280-281; Srbik an Loserth, 01.06.1926, ebd. 284-285. Zur Auseinandersetzung zwischen Kaindl und Srbik siehe BLASE, Raimund Friedrich Kaindl (wie Anm. 122) 51-63, und den Beitrag zu Kaindl in diesem Band. 134 Autobiografie (wie Anm. 8) 8. 135 RAMHARDTER, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 130) 171, vgl. die Sammelbände: Grenzfeste Deutscher Wissenschaft (wie Anm. 117); Die Universität und 1938, hg. v. Christian BRÜNNER, Helmut KONRAD (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 11, Wien 1989). 136 DACHS, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 130) 87.

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heitlich doch zu liberal gesinnt waren, als dass sie sich dem Nationalsozialismus unbedingt angeschlossen hätten137. Für die Biografie Johann Loserths fällt allerdings die Problematik des Nationalsozialismus nicht mehr so stark ins Gewicht. Er starb am 30. August 1936, zwei Tage vor seinem 90. Geburtstag, in einem noch selbständigen Österreich.

137 CERWJNKA, Der Akademische Verein (wie Anm. 86) 101.

Emil von Ottenthai (1855-1931) Diplomatiker in der Tradition Theodor von Sickels und Julius von Fickers1 von Susanne Lichtmannegger

E M I L V. OTTENTHRL BESCHICHTE Abb. 2: Emil von Ottenthai

In seiner Rede zum Antritt des Rektorats an der Universität Straßburg im Jahr 1904 konstatierte Harry Bresslau (1848-1926), dass die Geschichte des Mittelalters aus der Mode gekommen sei: Die Geschichte der deutschen Kaiserzeit habe an Aktualität verloren, zudem könne die mittelalterliche Forschung keine aufregenden Quellenfunde wie Altertum und Neuzeit vorweisen. Trotzdem sei die Arbeit des Mediävisten noch lange nicht getan. Durch die Methode der mittelalterlichen Quellenkritik, insbesondere die der Urkundenlehre, könnten den vorhandenen Quellen neue und wichtige Ergebnisse abgewonnen werden. Die Arbeit an mittelalterlichen Quellen sei aufgrund ihrer eigentümlichen Beschaffenheit mühevoll und schwierig: „Diese Schwierigkeiten können nur durch redliche und entsagungsvolle Kleinarbeit bewältigt werden."2 1

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Bei der Abfassung dieses Aufsatzes haben mich Peter Goller vom UAI und Paul Herold vom IÖG in vielfaltiger Hinsicht unterstützt, wofür ich mich herzlich bedanke. Bei Horst Schober bedanke ich mich für die Fotos Emil von Ottenthals. Harry BRESSLAU, Aufgaben mittelalterlicher Quellenforschung. Rede zum Antritt des Rektorats der Kaiser-Wilhelms-Universität Strassburg (Rektoratsreden der Universität Strassburg, Strassburg 1 9 0 4 ) 3 , 26.

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Ferdinand Kaltenbrunner (1851-1902)3, Absolvent des IÖG und seit 1881 Professor für Historische Hilfswissenschaften in Innsbruck, bemerkte über die Mitarbeit am Quellenwerk der MGH: Eine stille, selbstlose Arbeit ist es, welcher sich ein Mitarbeiter der Monumenta Germaniae undspeciell der Diplomata, bei denen nur der Herausgeber hervortreten kann, unterziehen muss. Zahlreiche gelehrte Untersuchungen stecken oft in einer kurzen Note, eine Fülle von Wissen und Können wird vorausgesetzt und muss gewonnen werden, ohne daß sich dasselbe der Oejfentlichkeit gegenüber documentiren kann4.

Zu den Historikern, die sich mittelalterlichen Quellen widmeten und der mühevollen Aufgabe deren Edition unterzogen, zählte Emil von Ottenthai. Als er seine Ausbildung zum Historiker begann, waren bedeutende Editionsvorhaben im Gange, für die gut ausgebildete Hilfswissenschaftler benötigt wurden. Die dafür notwendigen Kenntnisse eignete sich Ottenthai während seines Studiums an den Universitäten Innsbruck, Wien und Berlin an. Die Einführung in die Geschichtswissenschaft erhielt Ottenthai an der Universität Innsbruck, wo er die ersten vier Semester verbrachte. Er nahm an Lehrveranstaltunge von Alfons Huber (1834-1898), Arnold Busson (1844-1892), Franz Wieser (1848-1923), Anton Zingerle (1842-1910), Julius Jung (1851-1910) sowie 3

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Vgl. den Nachruf Emil von OTTENTHALS in: MIÖG 24 (1903) 182-184, und knapp Fritz FELLNER, Doris A. CORRADINI, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographischbibliographisches Lexikon (VKGÖ 99, Wien/Köln/Weimar 2006) 210. Kaltenbrunner am 16.12.1883, Akten der Philosophischen Fakultät, UAI. Vgl. ebenso Alfons Huber, Briefe (1859-1898). Ein Beitrag zur Geschichte der Innsbrucker Historischen Schule um Julius Ficker und Alfons Huber, hg. v. Gerhard OBERKOFLER, Peter GOLLER (Innsbruck/Wien 1995) 493f.

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Julius von Ficker5 (1826-1902) teil. Ficker las damals an der Juridischen Fakultät „Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte" und „Anleitung zur Forschung auf dem Gebiete der deutschen Rechtsgeschichte", an der philosophischen Fakultät, Anleitung zur historischen Kritik". Ottenthai erinnerte sich daran später so: „Von seinen Vorlesungen kennen wir jüngere Schüler alle nur mehr das Kolleg über deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte, und ich wüßte keinen, der seinen Inhalt nicht als einen Schatz betrachtet hätte."6 1875 ging Ottenthai nach Wien und wurde zunächst als außerordentliches, nach ergänzendem Unterricht in Paläografie durch Theodor von Sickel (1826-1908) persönlich als ordentliches Mitglied am IÖG aufgenommen7. Über Ottenthals Leistungen wurde nach Innsbruck Positives berichtet: Ottenthai läßt sich sehr gut an u(nd) verspricht den Innsbruckern viel Ehre zu machen; er ist außerordentlich fleißig u(nd) dürfte die übrigen nicht nur bald einholen, sondern auch überholen. Täusche ich mich nicht, so ist er auch bereits Sickels Liebling u(nd) er verdient es vor allen andren8. Die Institutsprüfung legte er 1877 erfolgreich ab. Ottenthai verband daher die zwei großen österreichischen historischen Schulen, die rechtsgeschichtlich ausgerichtete Innsbrucker Schule, begründet durch Ficker, und die Wiener Schule der modernen Urkundenforschung Sickels. Darüber hinaus konnte sich Ottenthai an der Universität Berlin bei Georg Waitz (1813-1886) ausbilden, womit er die drei wichtigsten Schulen in mittelalterlicher Geschichte der damaligen Zeit kennenlernte9.

I. Die Affäre O. Die Zugehörigkeit zum Umkreis Sickels bescherte Ottenthai bei der Promotion einige Schwierigkeiten. Als Dissertation reichte Ottenthai in Innsbruck dieselbe Arbeit ein, die er eigentlich als Abschlussarbeit am IÖG verfasst hatte10. Diese an und für sich nicht vorgesehene, aber zeitsparende Vorgangsweise hatte Ottenthai offenbar mit Huber in Innsbruck abgesprochen". Der erste Referent, Karl-Friedrich Stumpf-Brentano 5

Zu Ficker vgl. Julius J U N O , Julius Ficker ( 1 8 2 6 - 1 9 0 2 ) . Ein Beitrag zur Deutschen Gelehrtengeschichte (Innsbruck 1 9 0 7 ) und zuletzt FELLNER, CORRADINI, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 3 ) 1 2 2 . 6 Emil von O T T E N T H A L , Julius von Ficker f 10. Juli 1902. Rede bei der vom Akademischen Senat der Universität Innsbruck am 13. Dezember 1902 veranstalteten Gedächtnis-Feier (Innsbruck 1903) 18. 7 AlphonsLHOTSKY,GeschichtedesInstitutsfürÖsterreichischeGeschichtsforschungl854-1954(MIÖG Erg.-Bd. 17, Graz/Köln 1954) 170. Zu Sickel zuletzt FELLNER, CORRADINI, Geschichtswissenschaft (wie Anm.3) 379f. 8 Engelbert Mühlbacher an Huber am 22.11.1875, zitiert nach Huber, Briefe (wie Anm. 4) 241 -242. 9 Hans HIRSCH, Emil von Ottenthal, in: MIÖG 45 (1931) 271 -277, hier 272. 1 0 Der Titel lautete: Untersuchungen über eine Gruppe Urkunden Ottos I. für Chur. Vgl. L H O T S K Y , Geschichte des Instituts (wie Anm. 7) 170 Anm. 23. Grundlage der Arbeit war eine Archivreise in die Schweiz im Sommer 1876, vgl. dazu Briefe Ottenthals an Sickel in: Theodor von Sickel, Römische Erinnerungen. Nebst ergänzenden Briefen und Aktenstücken, hg. v. Leo SANTIFALLER (Veröff. des IÖG 3 , Wien 1 9 4 7 ) 3 6 6 - 3 6 9 . 11 Andrerseits sehe ich se[h]r wohl ein, daß die weitere Ausarbeitung der Dissertation am fiiglichsten in Wien geschehe, kann mir aber nicht verhehlen, daß ich hoffe, mit den in Wien bereits gemachten weitern Vorarbeiten im Ganzen auszureichen; ich wurde darin umso mehr bestärkt, da sich Prof.

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(1829-1882), lehnte die von Sickel entwickelten Methoden der Urkundenforschung rundweg ab und zerpflückte Ottenthals Arbeit, die auf der Sickelschen Methode beruhte, in einem über 18 Seiten langen Gutachten12. Ottenthals These von der Identität von Schreiber und Diktator sowie sein Zurückgreifen auf Konjekturen und Hypothesen verwarf Stumpf als irrig, die Untersuchungsweise als unmethodisch13: [Der] Referent kann übrigens nicht umhin zu versichern, daß die angestellte Prüfung ihn aufs neue in der Überzeugung bestärkt habe, auf welch' schwankend unsichern Boden sich überhaupt das ganze vielfach durch bloße Schriftvergleichung ge- und oft auch verleitete Unterscheidungsverfahren bezüglich Schreiber und Dictatoren und deren allfälligen Identität bewege und daß hier vor allem Behutsamkeit und Vorsicht in viel höherm Grade als heutigen Tags zu geschehen pflegt, Noth thue14. Der Zweitreferent Ficker nahm seinen Schüler Ottenthai in Schutz. Viele der Einwände Stumpfs seien ungerechtfertigt und gegen die Ansichten der Schule Sickels gerichtet, für die Ottenthai aber nicht persönlich verantwortlich gemacht werden könne: Es handelt sich dabei zum grossen Theil um Dinge, bei welchen auch der Gefertigte den Widerspruch des Referenten als berechtigt anerkennen würde, so bezüglich der Neigung, Dictat und Schrift derselben Person zuzuweisen, der Heranziehung des Protokoll für die Beurtheilung des Dictat, der Hinstellung der Beglaubigungsformel als besonders werthvollen Haltpunktes für die Scheidung der Dictate. Gerade diese Verhältnisse sind nun aber für die vorgelegte Arbeit von besonderer Wichtigkeit und der Verfasser geht dabei durchweg von den Anschauungen der Schule aus, welcher er angehört. Wenigstens der Gefertigte ist nun der Ansicht, daß daraus dem Verfasser in keiner Weise ein Vorwurfgemacht werden darf. Es ist nicht möglich für eine wissenschaftliche Einzelarbeit beschränkten Umfanges alle für die Untersuchung nöthigen Voraussetzungen selbständig zu ergründen und zu gestalten, man wird ihm da immer gestatten müssen, sich an das anzulehnen, was von ihm maßgebenden Autoritäten auf dem Gebiete seiner Wissenschaftfür richtig anerkannt wird. Wenn jemand, wie hier, von Voraussetzungen ausgeht, die durch den Namen Sickels und seiner Schule gedeckt sind, so ist damit allerdings die Richtigkeit derselben nicht erwiesen; aber wenigstens der Gefertigte würde sich, so sehr er im Einzelfalle persönlich von der Unrichtigkeit überzeugt sein möchte, nichtfür berechtigt halten, solche Voraussetzungen schlechtweg als unzulässig zu erklären15.

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Huber, dem ich die Rezension meiner Prüfungsarbeit mitteilte, äußerte, daß sie dann jedenfalls als Dissertation hinreichen würde. Ottenthai an Sickel am 27.08.1877, zitiert nach Sickel, Römische Erinnerungen (wie Anm. 10) 370. Huber, Briefe (wie Anm. 4) 52 sowie 56-57. Ebd. 491. Vgl. dazu ausführlich Gerhard OBERKOFLER, Die geschichtlichen Fächer an der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck 1850-1945 (Forschungen zur Innsbrucker Universitätsgeschichte 6, Veröff. der Universität Innsbruck 39, Innsbruck 1969) 71-73. Gutachten über die Inaugural-Dissertation Ottenthals verfasst von Karl-Friedrich Stumpf-Brentano, Februar 1878, zitiert nach Huber, Briefe (wie Anm. 4) 489. Gutachten des Koreferenten Ficker über die Inaugural-Dissertation Ottenthals, 15.03.1878. Ebd. 476f.

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Stumpf habe seine sehr beachtenswerten Einwände gegen die Annahmen der Sickelschen Schule nicht öffentlich gemacht, insofern hätte Ottenthai auf diese nicht eingehen können. Die von Stumpf geforderte Beschränkung auf die Feststellung der rein tatsächlichen Verhältnisse teilte Ficker nicht, habe er bei seinen eigenen Arbeiten überwiegend die festgestellten tatsächlichen Verhältnisse durch Konjekturen zu erklären versucht und würde sich in einer solchen Arbeit die Aufstellung von Konjekturen zur Erklärung von Auffälligkeiten geradezu erwarten. Der Wert von Konjekturen sei es, über die unmittelbar erkennbaren tatsächlichen Verhältnisse hinauszugehen. Abgesehen von diesen fachlich abweichenden Ansichten weist Ficker Stumpf in einer Reihe von Fällen nach, Ottenthai unrichtig zitiert oder wiedergegeben zu haben. Nicht zuletzt der überaus geringschätzige, selbst höhnische Ton des Referats lasse die Arbeit Ottenthals unberechtigterweise in sehr ungünstigem Licht erscheinen.16 Bestätigung und Aufmunterung kam von Engelbert Mühlbacher (1843-1903), der sich Anfang 1878 ebenfalls bei Stumpf in Innsbruck habilitiert und mit Ottenthai das IÖG absolviert hatte17. Mühlbacher hielt die Reprobation der Arbeit für vollkommen ungerecht. Am 13. März 1878 schrieb er Ottenthai aus Wien: Das ganze ist also nur persönliche Rancüne gegen Sickel. Ich habe St(umpJ) zwar nie mehr recht getraut, eines solchen Verhaltens hätte ich ihn aber doch nicht jur fähig gehalten und mir klingt es jetzt fast unbegreiflich, daß er meine Habilitationsarbeit approbirte. Und gerade der Vorwurf von zu geringer Selbständigkeit klingt sehr sonderbar; er muß ja wissen, wie deine Arbeit entstand u(nd) in welchem Verhältnis sie zu Sickels Beiträgen VI steht. Als ich bei Stumpf zu Kaffee war, kam auch auf Sickels Arbeiten die Sprache. Ich bemerkte geradezu, daß S(ickel) die jüngeren Leute .ausbeute', sie umfassende Vorarbeiten machen lasse, die er dann für sich verwende u(nd) dabei nur die Mühe habe sie zu überprüfen; als speciellen Belegführte ich deine Arbeiten für Chur u(nd) Sickels Beitr(äge) VI an u(nd) detaillierte deren Verhältnis. Ich habe St(umpf) sogar etwas in Verdacht, daß er S(ickel) von dieser ,Ausbeutung' direkte oder indirekte Mittheilungen gemacht oder machen wird u(nd) daß daher vielleicht auch theilweise unsere gespannten Beziehungen datiren. Jetzt würde mich eine etwaige Indiskretion wenig wundern. Ich bin nur begierig, was S(ickel) zu der Geschichte sagen wird. Gleichgültig kann er sie nicht hinnehmen, es hieße das sich ohrfeigen lassen. In der Beurteilung der beiden Lehrer erwies sich Mühlbacher ganz als Schüler Fickers: Ficker steht nicht in dem Rufe, daß sein Urteil sich durch Parteinahme beeinflussen lasse; an der Ehrlichkeit seiner Überzeugung können selbst seine Gegner nicht rühren. Ich glaube kaum, daß man von St(umpf) dasselbe rühmen kann. Wägt man die beiden als Männer, so kann kaum ein Zweifel bestehen, welchem sich der billig denkende anschließen muß. Nicht minder gilt das, wenn man ihre wissenschaftliche Tüchtigkeit in Betracht zieht. F(icker) steht doch weit u(nd) hoch über St(umpf). Ich wenigstens zweifle nicht, daß F(icker)s Urteil über deine Arbeit, dem dann auch noch Sickels zur Seite steht, maßgebend sein wird, daß sich diesem auch Huber - diesem kann man, wie 16 Ebd. 475-491, hier 481. 17 Vgl. den Nachruf Oswald REDLICHS in: MIÖG 25 (1904) 201-207. Zu Mühlbacher zuletzt FELLNER, CORRADINI, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 3) 290.

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ich glaube, entschieden trauen - u(nd) Busson, sowie die Majorität der Fakultät sich anschliessen werde. Damit scheint mir die Approbation der Arbeit doch gesichert18. In einen weiteren Schreiben deutete Mühlbacher an, dass Sickel für Ottenthai interveniert habe19, und dass er selbst Sickel auf die Sache angesprochen hätte: Sickel interessierte sich dafiir aufs lebhafteste u(nd) er bemerkte, ihm sei es sehr angenehm, den Ausgang der Affaire zu erfahren, bevor er mit Stumpf in Berlin zusammentreffe. Über Stumpf fällte er - wenn auch in diplomatischer Form - dasselbe Urteil wie ich, es sei dasselbe Gebühren u(nd) Verfahren von der Rezension der Beiträge an bis zur Kritik dieser Arbeit. Daß ich mit meiner Meinung nicht hinter dem Berge hielt, kannst du dir denken u(nd) so wurde St(umpf) förmlich eingestampft20. Ottenthai selbst bedankte sich bei Sickel für dessen Eintreten21. Ficker äußerte sich gegenüber Mühlbacher so: Die Affaire O. hat mich seiner Zeit sehr erzürnt u(nd) hätte ich in der Sache nicht einen gewissen Rückhalt an dem früheren Gutachten S(ickel)s gehabt u(nd) wäre in dem Gutachten St(umpf)s nicht manches so ungerechtfertigt gewesen, daß sich das auch einem Laien klar machen ließ, so hätte ich schwer gethan dem Fachprofessor so bestimmt entgegenzutreten11. Stumpf lenkte schließlich ein und Ottenthai wurde nach Ablegung der Rigorosen am 27. Mai 1878 zum Dr. phil. promoviert. Das Promotionsprotokoll vermerkt: über Geschichte in Verbindung mit lateinischer Philologie strenge geprüft und mit dem Calcul .ausgezeichnet' per vota unanimia approbiert23. Die Kritik von Stumpf hat Ottenthai offenbar nicht sehr beeindruckt, er blieb zeitlebens ein überzeugter Anhänger der Schule Sickels.

II. Dozentur und wichtige Forschungsarbeiten Mühlbacher hatte Ottenthai empfohlen, nach dem Rigorosum nach Paris zu gehen, eine größere Arbeit anzufangen und so über die Geschichte Gras wachsen zu lassen, und er drängte Ottenthai zur Habilitation in Innsbruck: Ich setze bestimmt voraus u(nd) habe es auch Ficker geschrieben, daß du dich in Innsbruck habilitieren wirst. Neben mir ist Platz genug u(nd) wie ich glaube neben Stumpf für uns beide. Ich denke die Hilfswissenschaften der Reihe nach zu nehmen, um hier sattelfest zu werden u(nd) Kollegienhefte zu haben. Es liegt aber in meinem Plan, wie du weißt, mich gelegentlich auch für Deutsche Geschichte, zunächst des Mittelalters zu habilitieren. Wir könnten uns also bestens theilen. Ich bin schließlich doch nur ein Stück Diplomatiker; Diplomatik 18 Mühlbacher an Ottenthai am 13.03.1878, IÖG, Archiv. Am 27.03.1878 schreibt Mühlbacher: Für Stumpfs Gebühren fehlt der parlamentarische Ausdruck, im gewöhnlichen Leben nennt man das charakterlos. [...] bei Stumpf wundert mich auch dieser schmähliche Rückzug nicht mehr u(nd) es wird mich von ihm überhaupt nichts wundern. IÖG, Archiv. 19 Mühlbacher an Ottenthai am 27.03.1878, ebd. 20 Mühlbacher an Ottenthai am 04.04.1878, ebd. 21 Sickel, Römische Erinnerungen (wie Anm. 10) 375f. 22 Mühlbacher an Ottenthai am 17.04.1878, IÖG, Archiv. 23 Zitiert nach Huber, Briefe (wie Anm. 4) 550.

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allein gibt genug zu thun; sie gestattet allgemeine u(nd) specielle Kollegien auch über Urkundenkritik, Fälschungen, Privaturkunden u(nd) d(ergleichen) u(nd) Uebungen; wir stünden uns also nicht im Wege, wenn wir beide Diplomatik treiben u(nd) lehren würden; Konkurrenz wollen u(nd) werden wir uns ja nie machen. Paläographie und Chronologie könntest du dann [... ] als deine Domäne betrachten. Für sich selbst hingegen sah Mühlbacher in Innsbruck keine Zukunft: Ich glaube in Innsbruck nicht persona grata zu sein. Ich begegne in neuester Zeit einer so eigentümlichen Zurückhaltung u(nd) gerade auch von Seite Fickers - daß ich nicht umhin kann hier Absicht zu vermuten. Und diese erstaunt nicht nur, sie erbittert aufs tiefste, mag ich sie auch theilweise selbst verschuldet haben. Meines Bleibens wird also in Innsbruck nicht sein, nicht sein können. Der Platz ist im eigentlichen Sinne dir reserviert u(nd) ich betrachte mich nur als Platzaufheber. Du siehst, dass ich ohne alle u(nd) jede freudige Hoffnung die Dozentur antrete24. Tatsächlich wurde Mühlbacher 1881 zum Professor für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien ernannt25. Auf Rat Fickers und Sickels entschied sich Ottenthai dafür, zwei Semester in Berlin anzuhängen und hörte dort Lehrveranstaltungen von Waitz, Wilhelm Wattenbach (1819-1897) und vor allem Karl Wilhelm Nitzsch (1818-1880)26. Gleichzeitig arbeitete er an seiner Habilitationsschrift „Das friaulische Parlament. I. Die Entwicklung der patriarchalen Macht nach außen und nach innen", dessen Thema von Ficker angeregt worden war. Dieser hatte Ottenthai geraten, für die Habilitationsschrift ein historisches Thema zu wählen und so die Lehrbefahigung für Geschichte und Hilfswissenschaften zu erhalten27. Die Arbeit, in der Ottenthai die Entstehung und Ausbildung eines geistlichen Fürstentums am Beispiel Friauls unter den Patriarchen von Aquileja schildert, wurde von den Gutachtern Huber und Busson ohne weiteres approbiert. Im Habilitationskolloquium prüfte Huber über die Mark Friaul in der karolingischen Periode und die Mark Verona in der deutschen Kaiserzeit, Busson befragte Ottenthai zu hilfswissenschaftlichen Themen, nämlich zu den wichtigsten Werken über christliche mittelalterliche Chronologie, den verschiedenen Jahresanfängen des Mittelalters, der Indiktion und der Era Hispanica28. Im Juli 1880 erhielt Ottenthai die Lehrbefugnis für allgemeine Geschichte. 1884 wurde die venia legendi auf Historische Hilfswissenschaften erweitert29. Sein damaliger Kollege am Österreichischen Historischen Institut in Rom und außerordentlicher Professor für Historische Hilfswissenschaften an der Universität Innsbruck, Kaltenbrunner, befürwortete die Ausdehnung der venia uneingeschränkt: Ich stehe keinen Augenblick an, das Gesuch des Dr. v(on) Ottenthai auf's wärmste zu befürworten. Derselbe hat 24 Mühlbacher an Ottenthai am 31.01.1878, IÖG, Archiv. Mühlbachers nicht-zölibatärer Lebenswandel passte nicht in damalige Denkschemata. Vgl. Huber, Briefe (wie Anm. 4) 87. 25 O B E R K O F L E R , Geschichtliche Fächer (wie Anm. 13) 67. 26 Ebd. 7 3 ; L H O T S K Y , Geschichte des Instituts (wie Anm. 7 ) 1 7 1 . 27 Sickel, Römische Erinnerungen (wie Anm. 10) 376-377. 28 Huber, Briefe (wie Anm. 4) 492. 29 Vgl. O B E R K O F L E R , Geschichtliche Fächer (wie Anm. 1 3 ) 7 4 , sowie Huber, Briefe (wie Anm.

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durch einige Jahre unter Hofrath Dr. Th(eodor) Sickel in Wien für die Ausgabe der Diplomata in den Monumenta Germaniae gearbeitet; ich kann mich erinnern, welchen Werth Hofrath Sickel darauf legte, Dr. v(on) Ottenthai als Mitarbeiter zu gewinnen, und ich weiß, wie sehr derselbe den auf ihn gesetzten Erwartungen entsprochen hat. [...] Seine Arbeit steckt eben in dem bisher erschienenen Theile der Diplomata, und wird noch weiter lange Zeit in der ausgiebigsten Weise benützt werden. Übrigens hat Dr. v(on) Ottenthai im jüngst erschienenen Ersten Ergänzungshefte der Mittheilungen des Instituts für österr(eichische) Geschichtsforschung einen diplomatischen Excurs veröffentlicht, der eben so durch seine Genauigkeit wie gelungene Darstellung sich würdig an einen ähnlichen Sickels anreiht. Dr. v(on) Ottenthai hatferner im verflossenen Jahre, nach seinem Ausscheiden als Mitarbeiter der Monumenta Germaniae, in Rom Untersuchungen über das Register- und Kanzleiwesen der Curie vorgenommen, welche, wie ich mich aus seinen hierüber erstatteten Berichten und aus mündlichen Verkehr überzeugen konnte, gewiss erfreuliche Resultate und Anerkennung der Fachgenossen gewinnen werden. Da Dr. v(on) Ottenthai so von der Zeit ab, wo er selbstthätig auftreten konnte, sich hauptsächlich mit Arbeiten befasst hat, die die Kenntniß der historischen Hilfswissenschaften einerseits voraussetzen, andererseits selbst gefördert und erweitert haben, finde ich es ganz natürlich und gerechtfertigt, wenn nun sein Streben dahin geht, auch vom Lehrstuhle aus dieses sein erworbenes Wissen zu verbreiten, und befürworte somit nochmals aufs wärmste sein diesbezügliches Gesuch [...]30. Die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts waren literarisch die fruchtbarsten Ottenthals. Seine erste Publikation, ein Abdruck und Kommentar einer Handschrift aus dem 14. Jahrhundert, die er im Archiv des seiner Familie gehörenden Schlosses Kasten bei Schlanders gefunden hatte, erschien 1879 in der Zeitschrift für deutsches Altertum31. In den darauffolgenden Jahren veröffentlichte Ottenthai eine Reihe von Arbeiten auf dem Gebiet der (Süd) Tiroler Landesgeschichte, darunter etwa die Herausgabe der - ebenfalls im Schlossarchiv Kasten aufbewahrten - ältesten Rechnungsbücher der Herren von Schiandersberg aus dem 14. und Anfang des 15. Jahrhunderts, die Ottenthai mit wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Hinweisen verband32. 1888 legte er gemeinsam mit Redlich das erste Heft der Archiv-Berichte aus Tirol vor, aufgrund der zahlreichen neuen, interessanten Funde folgten bis 1912 drei weitere Hefte33. Die als „Wegweiser durch die kleinern tirolischen Archive"34 gedachte Publikation bot eine systematische Aufstellung und Beschreibung des Inhalts der Gemeinde- und Kirchenarchive sowie von 30 Kaltenbrunner an den Dekan der Philosophischen Fakultät Innsbruck am 16.12.1883, Akten der Philosophischen Fakultät, UAI. Vgl. auch Huber, Briefe (wie Anm. 4) 493f. 31 Emil von OTTENTHAL, Ein Fragment aus Dietrichs Flucht, in: Zs. für deutsches Altertum und deutsche Literatur 23/Neue Folge 11 (1879) 336-344. 32 Emil von OTTENTHAL, Die ältesten Rechnungsbücher der Herren von Schiandersberg, in: MIÖG 2 (1881) 551-614. 33 Emil von OTTENTHAL, Oswald REDLICH, Archiv-Berichte aus Tirol. 1. Heft (Mittheilungen der dritten [Archiv-]Section der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale I. Band, Wien 1888). 34 Ebd. 3.

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bedeutenderen Privatarchiven. Gerade auch die kleinen, wenig bekannten und so dem Verlust ausgesetzten Archive sollten erfasst werden, zeitlich lag das Hauptgewicht auf den mittelalterlichen Urkundenbeständen bis 1400/1450. Redlich hatte die Nordtiroler, Ottenthai die Südtiroler Archive bearbeitet35. Die Archiv-Berichte wurden nicht nur zu einem wichtigen Handbuch für jeden Landeshistoriker, sondern auch Vorbild für eine Reihe ähnlicher landesgeschichtlicher Unternehmungen36. Huber zeigte sich sowohl vom Ergebnis als auch von der „musterhaftigen Genauigkeit und Bündigkeit" in der Durchführung des Werks angetan: „Es zeigt, wie viel geschichtliches Material auch die kleineren Archive Tirols trotz aller Verschleuderungen und Verschleppungen noch immer bergen."37 Ebenso positiv überrascht von den reichhaltigen Funden zeigte sich Hans von Voltelini38. Die von Ottenthai und Redlich begonnene Erfassung der Tiroler Archive findet heute noch Resonanz39. Ein wichtiges Arbeitsgebiet Ottenthals zu dieser Zeit bildete die „deutsche Kaisergeschichte". 1875, in Ottenthals erstem Jahr am IÖG, war in Wien eine eigene Abteilung der 1819 gegründeten MGH zur Herausgabe der Kaiserurkunden des 10. Jahrhunderts eingerichtet und Sickel mit der Leitung beauftragt worden. Ottenthai, der zu den bevorzugten Schülern Sickels gehörte, erhielt 1879 die Möglichkeit, mitzuarbeiten. Schon zwei Jahre zuvor hatte Sickel ihm die Mitarbeit angetragen, Ottenthai hatte damals aber Bedenken, dass sich seine Habilitation verzögern könnte40. Ottenthai beteiligte sich an diesem bedeutenden Forschungsunternehmen in den Jahren 1880 bis 1882 in Form von Reisen und literarischen Vorarbeiten und bearbeitete insbesondere die Schweizer, einen Teil der Magdeburger und beinahe alle italienischen Urkunden Ottos I.41 Ottenthai erinnerte sich: „Von 1879-1893 edierte er [Sickel] mit seinen Gehilfen in zwei Bänden die Diplome von 911-1002. Das Schwergewicht lag von vorneherein nicht in der Erschließung noch unbekannter Urkunden, sondern in der Art der 35 Über eine als Hilfskraft Ottenthals unternommene Wanderung zu Südtiroler Archiven 1886 berichtet Wilhelm ERBEN, Meine erste Bekanntschaft mit Emil v. Ottenthai, in: Der Sehlem 6 (1925) 166-169. 36 Vgl. Leo SANTIFALLER, Emil von Ottenthai, in: Der Schiern 3 (1922) 188-192, hier 189. 37 Rezension Alfons H U B E R S , in: MIÖG 9 (1888)522f, hier 523. 38 Rezension Hans von VOLTELINIS, in: MIÖG 19 (1898) 368-371. 39 Vgl. Hannes O B E R M A I R , Ottenthal-Redlichs,.Archiv-Berichte aus Tirol" - ein unvollendetes Projekt, in: Denkmalpflege in Südtirol 1989/90 (Bozen 1995) 333-336. 4 0 Vgl. Sickel, Römische Erinnerungen (wie Anm. 1 0 ) 3 7 0 - 3 7 1 . Mühlbacher, mit dem Ottenthai in der Sache korrespondierte, schreibt am 3 1 . 0 1 . 1 9 7 8 : Wie ich schon fiiiher bemerkt, bedaure ich es der Sache wegen, daß du nicht zu den Monumento gehen konntest; anderseits meine ich, daß du so besser fahren wirst. Sickel vermied und vermeidet es absichtlich diesen Punkte auch nur zu berühren. IÖG, Archiv, NL Ottenthai. Zur Geschichte der MGH in Wien siehe die relevanten Stellen bei Harry BRESSLAU, Geschichte der Monumenta Germaniae histórica (NA 4 2 , Hannover 1 9 2 1 ) ; für die Zeit ab 1 9 0 0 / 1 9 2 0 Bettina P F E R S C H Y - M A L E C Z E K , Die Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Histórica am Institut für Österreichische Geschichtsforschung ( 1 8 7 5 - 1 9 9 0 ) , in: MIÖG 1 1 2 ( 2 0 0 4 ) 412-467.

41 Die Edition: MGH Die Urkunden der deutschen Könige und Kaiser 1. Die Urkunden Konrad I., Heinrich I. und Otto I., hg. v. Theodor Sickel (Hannover 1879-1884). Zu Ottenthai siehe BRESSLAU, Geschichte der Monumenta (wie Anm. 40) 590; LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 7) 171; Huber, Briefe (wie Anm. 4) 492; SANTIFALLER, Ottenthai (wie Anm. 36) 189.

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Veröffentlichung. Durchaus sollte auf die beste Überlieferung zurückgegangen werden. Das 1876 für die Bearbeitung veröffentlichte ,Programm und Instruktion' zeigt in lehrreicher Weise, wie gründlich und umfassend die Archivforschung gemacht werden sollte und soweit als möglich hielt er sich daran; seine , Kaiserurkunden in der Schweiz' und sein VI. Beitrag zur Diplomatik geben Beispiele für die Art der Untersuchung einzelner unter sich zusammenhängender Gruppen. Der ganze Stoff wurde so durchgearbeitet, dass eine abschliessende Spezialdiplomatik gewonnen wurde, von deren Ergebnissen schon früher die Rede war; es sei nur noch hinzugefügt, dass neben der Schriftvergleichung die Diktatuntersuchung eine besonders wichtige Rolle spielte."42 Ebenfalls zu dieser Zeit beteiligte sich Ottenthai an einem weiteren bedeutenden Forschungsunternehmen, den Regesta Imperii. Dieses von Johann Friedrich Böhmer begonnene Werk wurde seit 1863 von Ficker geleitet. Ottenthai übernahm das große Vorhaben einer Neubearbeitung der Böhmerschen Regesten für die Ottonen43 und konnte den Band zu Heinrich I. und Otto I. zu einem Ende bringen44. Der von Ottenthai abgedeckte Zeitraum war allerdings durch vorhergegangene Untersuchungen bereits gut erschlossen, bot also kaum Neues, sodass es primär darum ging, zu überprüfen und zusammenzufassen. Die große Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit in der Sammlung und Behandlung des Materials, die scharfsinnige Kritik und die „musterhaften" Regesten wurden dennoch anerkannt45. Nach dem Tod Mühlbachers ging die Gesamtleitung der Regesta imperii auf Ottenthai über, der sie bis 1929 innehatte46. Die Mitarbeit an der MGH unter der Leitung Sickels und den Regesta imperii führte zu weiteren methodisch hervorragenden Aufsätzen Ottenthals in den MIÖG47. Nachdem Papst Leo XIII. das vatikanische Archiv für die Forschung geöffnet hatte, entsandte Sickel Ottenthai 1882/83 erstmals als Stipendiaten an das neu gegründete Österreichische Historische Institut in Rom, weitere Aufenthalte folgten. Die Tätigkeit 42 Emil von OTTENTHAL, Theodor von Sickel. (18. Dezember 1826-21. April 1908) Ein Nachruf (Innsbruck 1908) 11. 43 Leo SANTIFALLER, Bericht über die Regesta Imperii (1829-1967) (Anzeiger der phil-hist. Klasse der ÖAW 106, 1969) 302; Heinrich FICHTENAU, Diplomatiker und Urkundenforscher, in: MIÖG 100 (1992) 9-49, hier 38 mit der wenig schmeichelhaften Formulierung: „[...] Ficker hatte ihm die Regesten der Ottonenzeit übertragen, von denen er freilich nur ein erstes Heft lieferte." 44 J. F. Böhmer, Regesta imperii II. Sächsisches Haus 919-1024 1. Abt. Die Regesten des Kaiserreichs unter Heinrich I. und Otto I. 919-973, nach Johann Friedrich Böhmer neu bearb. v. Emil von OTTENTHAL (Innsbruck 1893). 45 Rezension Karl UHLIRZ', in: MIÖG 16 (1895) 665-673. 46 Vgl. Leo SANTIFALLER, Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Festgabe zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (Veröff. des IÖG 11, Wien 1950) 38f., sowie Jan Paul NIEDERKORN, Julius von Ficker und die Fortfuhrung der Regesta Imperii vom Tod Johann Friedrich Böhmers (1863) bis zu ihrer Übernahme durch die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften in Wien (1906), in: Wege zur Urkunde - Wege der Urkunde - Wege der Forschung. Beiträge zur europäischen Diplomatik des Mittelalters, hg. v. Karel HRUZA, Paul HEROLD (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 24, Wien/Köln/Weimar 2005) 293-302, hier 301. 47 Vgl. das Veröffentlichungsverzeichnis in: FS zu Ehren Emil von Ottenthals (Schlern-Schriften 9, 1925) 491 f.

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in Rom gab Ottenthals wissenschaftlicher Arbeit eine neue Richtung. Er wandte die Methode Sickels nun auf das Urkunden- und Registerwesen der spätmittelalterlichen Päpste an. Ottenthai untersuchte die päpstlichen Registerbände für die Geschichte der Habsburger und erforschte das Urkunden-, Register- und Kanzleiwesen der Päpste des 13.-15. Jahrhunderts48. Die damals entstandenen Publikationen sind grundlegend für die Geschichte der päpstlichen Kanzlei im 14. und 15. Jahrhundert und förderten seine weitere Karriere49. Bresslau hat Ottenthals Arbeiten für die Darstellung des päpstlichen Kanzleiwesens ausgiebig benützt und insbesondere dessen Regulae cancellariae als „ausgezeichnetes Buch" gelobt50. Die langfristige Bedeutung der erstmaligen Sammlung der päpstlichen Kanzleiregeln durch Ottenthai für die Erforschung der spätmittelalterlichen Kirchengeschichte zeigte sich auch daran, dass andere Historiker ebenfalls über Kanzleiregeln zu arbeiten begannen und gegenwärtig eine Neuedition der spätmittelalterlichen päpstlichen Kanzleiregeln in Planung ist51. Schon 1890 hatte die Wiener Fakultätskommission zu den Kanzleiregeln ausgeführt: Ergibt sich schon aus diesem, daß Ottenthai sich mit allen Theilen der Diplomatik vertraut gemacht hat, so ist er nebenbei auch auf Fragen der Palaeographie und der anderen Hilfswissenschaften eingegangen. Aber seit seinen wiederholten Aufenthalten in Rom sind es besonders die Einrichtungen, Gebräuche und Leistungen der päpstlichen Kanzlei, welche er eingehender verfolgt hat. Diesem Gebiete gehört auch das 366 Seiten starke Buch Regulae cancellariae apostolicae an, welches nicht allein in der gelehrten Welt, sondern auch in den jetzigen vatic(anischen) Ämtern ungetheilte Anerkennung gefunden hat. Hier ist auf diese Arbeiten noch aus einem anderen Grunde hinzuweisen. Die Diplomatiker aller Länder haben sich seit der Eröffnung der Vaticanischen Archive mit Vorliebe dem Kanzleiwesen der Päpste des späteren Mittelalters zugewandt, nicht allein weil es an sich von Bedeutung ist, sondern auch weil es von geistlichen wie weltlichen Fürsten nachgeamt worden ist. Und wird dieses Thema noch geraume Zeit auf der Tagesordnung stehen, so verspricht Ottenthai, welcher gerade in dieser Specialität bereits hervorragendes geleistet hat, dem Studium der Diplomatik an unserer Universität eine neue Richtung und einen neuen Aufschwung zu geben52. 48 Vgl. OBERKOFLER, Geschichtliche Fächer (wie Anm. 13) 74. SANTIFALLER, Ottenthai (wie Anm. 36) 190.

49 Emil von OTTENTHAL, Die Bullenregister Martin V. und Eugen IV., in: MIÖG Erg.-Bd. 1 (1885) 401 589; DERS., Die Kanzleiregister Eugens IV., in: MIÖG Erg.-Bd. 3 (1890-94) 385-396; Regulae cancellariae apostolicae. Die päpstlichen Kanzleiregeln von Johannes XXII. bis Nikolaus V. Gesammelt und hg. v. Emil von OTTENTHAL (Innsbruck 1888, ND Aalen 1968). Vgl. dazu die Rezension Michael TANGLS in: MIÖG 11 (1890) 337-342, sowie Hans KRAMER, Das Österreichische Historische Institut in Rom 1881-1931. Denkschrift zu seinem fünfzigjährigen Bestände (Rom 1932) 9. 50 Harry BRESSLAU, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 1 (Leipzig 2 1912) 351. 51 Vgl. Andreas MEYER, Emil von Ottenthal revisited: Unterwegs zu einer erweiterten Neuedition der spätmittelalterlichen Regulae cancellariae apostolicae, in: ZRG KA 122 (2005) 218-236, sowie DERS., Die geplante neue Edition der spätmittelalterlichen päpstlichen Kanzleiregeln, in: Stagnation oder Fortbildung? Aspekte des allgemeinen Kirchenrechts im 14. und 15. Jahrhundert, hg. v. Martin BERTRAM (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 108, 2005) 117-131. 52 Vorschlag zur Berufung Ottenthals als außerordentlicher Professor für Geschichte und deren Hilfswissenschaften, 03.07.1890, AUW.

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Ottenthals Schwerpunkt blieb klar die mittelalterliche Geschichte, in einigen wenigen Arbeiten befasste er sich aber auch mit der Neuzeit53. Als Lehrer zeigte sich Ottenthai vielseitig. Er las etwa Geschichte des italienischen Städtewesens, des Papsttums, der deutschen „Reichskanzlei", über das merowingische und karolingische Reich, deutsche Verfassungsgeschichte, über allgemeine Geschichte des Mittelalters, über Siegelkunde und Paläografie und hielt eine Einfuhrungsvorlesung in das Studium der Geschichte54. Im Wintersemester 1901/02 kündigte Ottenthai entsprechend seinem Vorbild und Lehrer Ficker eine „Anleitung zur historischen Kritik" an55.

III. Innsbrucker Jahre im Lichte des Konflikts mit den Ultramontanen Trotz seiner Leistungen und wiederholten Bemühungen der Philosophischen Fakultät der Universität Innsbruck kam Ottenthals Karriere nach der Habilitation nicht in Gang56. Immer wieder machte sich Ottenthai Hoffnungen auf eine Berufung nach Wien, Graz oder Czemowitz (Cernivci, Cernauti), die sich letztlich aber stets zerschlugen. Am liebsten bliebe er in Innsbruck, gestand er 18 8 857. Als er dort 1889 erneut zum wirklichen außerordentlichen Professor für allgemeine Geschichte vorgeschlagen wurde, fasste Busson die gescheiterten Anläufe Ottenthals, an der Universität Fuß zu fassen, zusammen: Daß wir neulich im Professoren-Collegium Dr. E(mil) von Ottenthai einstimmig dem Ministerium zur Ernennung zum a.o. Professor in Vorschlag gebracht haben, wird dir schon bekannt sein. Hoffentlich hat die Sache Erfolg, was ich dem strebsamen jungen Mann von Herzen wünschen möchte, da er bisher wirklich außerordentliches Pech gehabt hat. Als er sich im Juli 1880 bei uns habilitirt hatte, begann im Winter darauf jene Action, welche zur Ernennung von Extraordinarien für Hilfswissenschaften neben den Ordinarien in Wien und Innsbruck, zur Gründung einer Canzelfür Hilfswissenschaften in Graz führen sollte. In Folge derselben wurde dann 1881 Mühlbacherfür Wien, Kaltenbrunner, der damals Dozent in Graz war, für Innsbruck ernannt, während in Graz die beabsichtigte Kanzel nicht errichtet wurde. Erst 1883 wurde dann in Graz Kaltenbrunner für Hilfswissenschaften, Bauer für Alte Geschichte vorgeschlagen. Nur Bauer wurde ernannt, der andere Vorschlag blieb unerledigt. Wäre damals Kaltenbrunner für Graz ernannt, so wäre wol ohne Zweifel Ottenthai bei uns vorgeschlagen und, da außerdem Anfang 1882 unser C(arl) Stumpf gestorben war, wol ganz gewiß ernannt worden. Das Pech verfolgte ihn aber weiter. Als in Czemowitz Budins[z]ky abgieng, der romanische Philologie und Hilfswissenschaften

53 Emil von OTTENTHAL, Curialistische Finanzpläne für Kaiser Leopold I., in: MIÖG 11 (1890) 86-100; DERS., Zur Geschichte der Gegenreformation in Österreich, in: MIÖG 11 (1890) 322-326. 54 Vorlesungsverzeichnisse der Universität Innsbruck, UAI. 55 Ebd. 56 OBERKOFLER, Geschichtliche Fächer (wie Anm. 13) 75. 57 Huber, Briefe (wie Anm. 4) 159.

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vertreten hatte, wurde nurfür ersteres Fach eine Ernennung vorgenommen, während für Hilfswissenschaften die Supplentur durch Loserth eintrat. Auch bei uns gab es bei der Ernennung Hirns zum a.o. Professor zuerst für tirolische, dann nach deinem Abgang für oesterreichische Geschichte und der Pastors zuerst zum ao. dann o. Professor keine Apertur, aus der Ottenthai ein Nutzen hätte erwachsen können. So ist der Mann 34 Jahre alt geworden, hat 8 Jahre mit bestem Erfolg als Dozent gelehrt, dabei fleißig gearbeitet, ohne daß ihm auch nur wie jedem beliebigen Practicanten die zurückgelegten oder die in gleicher Stellung zurückzulegenden Dienstjahre zählen würden. [...] Ich kann nämlich beifugen, daß, so erwünscht natürlich für Ottenthai ein Gehalt, wenn auch nur ein kleiner, wäre, ihm die Hauptsache ist, doch einmal ein Dienstalter zu bekommen, und er daher ganz zufrieden wäre mit einer Ernennung zum wirklichen Extraordinarius auch ohne Gehalt5*. Auch Ottenthai selbst bat Huber, sich fiir ihn beim Ministerium zu verwenden: Es mag ja fraglich sein, ob das Ministerium dem Antrag vollständig beistimmt, aber wenigstens das hoffe ich zu erreichen, was mir mit Rücksicht auf meine 34 Jahre das allerwichtigste u(nd) dringendste erscheint, daß mir endlich einmal die Dienstjahre zählen, ich endlich einmal in eine konsolidirte Stellung komme, wenn es auch zunächst ohne Gehalt sein müßte. [...] Im Vertrauen auf die liebenswürdige Förderung, deren ich mich bei Ihnen stets zu erfreuen hatte, wage ich es Ihnen die große Bitte vorzutragen, ob nicht Herr Profeßor die Güte hätten einen solchen Schritt bei Davicß9 für mich zu machen, denn Ihr Wort wäre in dieser Angelegenheit von doppeltem Gewichte, weil zu Ihrer Stellung in Wien noch die volle Kenntniß der Sachlage u(nd) der hiesigen Verhältnisse käme! Niemand sonst könnte mit solchem Nachdruck auf meine lange Dienstzeit (seit Sommer 1880) hinweisen, während welcher ich nie einen Kreuzer oder Anerkennung vom Ministerium bezog, daß es nicht meine Schuld sei, wenn die früher von der Universitätfür mich gemachten Vorschläge nicht angenommen wurden u(nd) noch weniger, daß die Posten für Hilfswißenschaften in Graz und Czernowitz noch immer nicht besetzt seien, daß mir unter solchen Umständen auch mit einer Verleihung des Titels nicht geholfen wäre60. Dass Ottenthai eine Ausbildung zum Historiker bei den hervorragendsten Mediävisten seiner Zeit genießen und die lange Durststrecke bis zu einer bezahlten Anstellung durchhalten konnte, verdankte er der Unterstützung seiner Familie, dem Südtiroler Geschlecht der Ottenthaler von Ottenthai, das im 17. Jahrhundert zu Grundbesitz gelangt und in den Adelsstand erhoben worden war. Ottenthals Vater Franz von Ottenthai (1818-1899) war angesehener praktischer Arzt und Abgeordneter zum Tiroler Landtag.61 Engelbert Mühlbacher hatte diesen Umstand schon früher an58 59 60 61

Zitiert nach Huber, Briefe (wie Anm. 4) 147. Benno David, Sektionschef im Unterrichtsministerium. Zitiert nach Huber, Briefe (wie Anm. 4) 160f. Ottenthai war im Vorlesungsverzeichnis der Universität Innsbruck als „Tiroler Landmann" verzeichnet und besaß den Ansitz Neumelans in Sand in Taufers (Pustertal) und das alte Schloss Kasten bei Schlanders (Vinschgau). Otto STOLZ, Emil v. Ottenthai f , in: Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung 1 Heft 5 (o. J.); SANTIFALLER, Ottenthai (wie Anm. 36) 188; Paul Freiherr von

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gesprochen: Du bist nicht der arme Teufel, der nur als Lohnarbeiter sich verwenden lassen kann. Und dieses Gefühl hat etwas sehr Drückendes62. Erschwert hat Ottenthals Karriere der an der Innsbrucker Philosophischen Fakultät offen ausgetragene Konflikt zwischen den ultramontan-katholischen Historikern und den einer quellenkritischen Methode verpflichteten Vertretern der Innsbrucker Historischen Schule63. Zu letzteren zählte neben Ficker, Huber, Busson, Kaltenbrunner und Mühlbacher auch Ottenthai, die wichtigsten Exponenten der konservativ-klerikalen Historiker waren der Papsthistoriker Ludwig von Pastor (1854-1928), der Professor für Österreichische Geschichte Josef Hirn (1848-197) und der Direktor des Tiroler Landesarchivs, Professor für Neuere Geschichte und spätere Bundeskanzler Michael Mayr (1864-1922). Beide Lager vertraten nicht nur methodisch unterschiedliche Standpunkte, sondern torpedierten auch jeweils die Initiativen und Ernennungsgesuche der Gegenseite. Ottenthai war zunächst Leidtragender, mischte aber später aktiv mit. Während die Historiker um Ficker und Huber sich beim Ministerium gegenüber den Ultramontanen benachteiligt fühlten und ein Monopol der Ultramontanen verhindern wollten, setzte sich der Tiroler Landeshauptmann Theodor Kathrein beim damaligen Unterrichtsminister Paul Freiherr von Gautsch erfolgreich für die Berufung klerikaler Gelehrter ein, um den Einfluss der liberalen Kräfte an der Innsbrucker Universität zurückzudrängen. Die Jugend werde - so Kathrein - unter dem Einfluss einer kirchenfeindlichen und gottesleugnerischen Wissenschaft geistig und sittlich degeneriert. Um diesem „Zersetzungsprozess" entgegenzuarbeiten, wurde ab 1886 eine Reihe von geisteswissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Lehrkanzeln vom Ministerium in katholischem Sinne besetzt. Die Ernennung Hirns ad personam zum Extraordinarius für Tiroler Geschichte 1886, zum Ordinarius für Österreichische Geschichte und die ebenfalls ohne Befragung der Innsbrucker Fakultät erfolgte Ernennung von Pastor, der sich 1881 in Innsbruck habilitiert hatte, zum unbesoldeten Extraordinarius 1883, zum wirklichen außerordentlichen Professor 1886 und ein Jahr später zum Ordinarius für allgemeine Geschichte, waren Teil einer größer angelegten Strategie der Klerikalen64. Die ministerielle Förderung Pastors machte Ottenthals Karrierepläne, insbesondere seine Hoffnung auf eine Stellung in Czernowitz, zunichte65. 1891, nach dem Abgang Bussons nach Graz, standen sich Pastor und Ottenthai in der Frage der Aufteilung des Historischen Seminars in eine Abteilung für Mittelalterliche und Neuere Geschichte in verschiedenen Lagern gegenüber. Gegen Hirns Vorschlag, Pastor alleinig mit dem

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S T E R N B A C H , Emil v. Ottenthai zu seinem 70. Geburtstag, in: Der Schiern 6 (1925) 141-146; H I R S C H , Ottenthai (wie Anm. 9) 272. Vgl. auch Winfried S T E L Z E R in: NDB 19 (1999) 654f. Mühlbacher an Ottenthai am 31.01.1878, IÖG, Archiv. Vgl. Huber, Briefe (wie Anm. 4) 82-87. Vgl. Theodor Freiherr von Kathrein (1842-1916) Landeshauptmann von Tirol. Briefe und Dokumente zur katholisch-konservativen Politik um die Jahrhundertwende, hg. v. Richard S C H O B E R (Innsbruck 1992) 24-26 und 281. Ottenthai hatte damit gerechnet, dass Johann Loserth (1846-1936) als Nachfolger Hubers nach Innsbruck berufen werde und er die freiwerdende Stelle an der Universität Czernowitz bekommen könnte. Vgl. Huber, Briefe (wie Anm. 4) 404 405 und 433.

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Seminar für Allgemeine Geschichte zu betrauen, wurde von Seiten der Fakultät, auch von Busson selbst, heftig agitiert. Hirn schrieb dazu an Kathrein: Man sagt unter der Hand auch ganz ungeniert: Es handle sich nur darum, zu verhindern, daß nicht zwei gleichgesinnte Seminardirektoren walteten; als ob Busson und Huber nicht gleich -freilich anders - gesinnt waren66. Hirn und Pastor unterlagen in der entscheidenden Fakultätssitzung schließlich mit sieben zu zwölf Stimmen. Neben der von Hirn geleiteten Abteilung für Österreichische Geschichte wurden entgegen dem Wunsch des Duos Pastor/Hirn zwei Abteilungen für Allgemeine Geschichte eingerichtet, Ottenthai wurde zum Vorstand der Abteilung für Mittelalterliche Geschichte, Pastor für Neuere Geschichte67. Das gegenseitige Misstrauen spricht auch aus einem Schreiben Hirns an Ottenthai, in dem es um die Supplierung von Hirns Lehrkanzel für Österreichische Geschichte geht. Hirn, der damals im Ministerium Dienst tat, zeigt sich von einem Besetzungsvorschlag der Innsbrucker sehr verletzt. Die Innsbrucker verhandelten über seine Lehrkanzel, als ob er bereits darauf verzichtet hätte oder definitiv woanders wäre: oder wollt Ihr mich denn mit Erstattung genannten Vorschlages wirklich fiir abgesetzt erklären?6* 1901, nach der Bestellung Pastors zum Direktor des Österreichischen Historischen Instituts in Rom, gerieten Pastor und Ottenthai über die Frage, wer die Lehrveranstaltungen Pastors während seiner Abwesenheit übernehmen sollte, erneut in einen Konflikt69. Am 18. Mai 1889 erhielt Ottenthai eine feste, allerdings nach wie vor unbezahlte außerordentliche Professur für Allgemeine Geschichte und Historische Hilfswissenschaften an der Universität Innsbruck. Die Nachricht der Ernennung hob Ottenthai eine wahre Zentnerlast vom Herzen10. Ab dem Studienjahr 1890/91 bewilligte das Ministerium dann auch ein Honorar. Sickel verlegte seinen Arbeitsplatz in diesen Jahren zunehmend an das Österreichische Historische Institut in Rom und wandte sich 1890 an das Ministerium mit der Bitte, Ottenthai als zweiten Extraordinarius für Historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien zu bestellen. Der Antrag Sickels blieb wegen des Widerstands der Fakultät genauso erfolglos wie der Vorschlag der Philosophischen Fakultät 1892, der Ottenthai vor Redlich für ein Extraordinariat für historische Hilfswissenschaften an der Universität Wien nannte71. Das Extraordinariat wurde 1893 mit Redlich besetzt, da Ottenthai die in Aussicht stehende Lehrkanzel seines Lehrers Ficker vorzog72. Tatsächlich wurde Ottenthai 1893 in Innsbruck zum Vgl. SCHOBER, Kathrein (wie^Anm. 6 4 ) 2 9 2 . Ebd. 290 294; OBERKOFLER, Geschichtliche Fächer (wie Anm. 1 3 ) 94f. 68 Hirn an Ottenthai 04.07.1898, IÖG, Archiv. Alfons Dopsch, der in dem besagten Vorschlag eine Rolle spielte, betonte gegenüber Ottenthai, dass er gerne einem Ruf nach Innsbruck Folge leisten würde, aber aus Rücksicht auf Mühlbacher zu strengster Passivität verpflichtet sei: Ich müsste es doch als fiir mich und meine jetzige Stellung peinliche Zurücksetzung auffassen, wenn in einem eventuellen Besetzungsvorschlag speciell M(ichael) Mayr vor mir genannt würde. Dopsch an Ottenthai am 22.07.1898, IÖG, Archiv. 66 67

69 OBERKOFLER, Geschichtliche Fächer (wie Anm. 13) 95f. 70 Huber, Briefe (wie Anm. 4) 162. 7 1 LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 7 ) 2 0 3 und 7 2 Vgl. FICHTENAU, Diplomatiker (wie Anm. 4 3 ) 3 8 .

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Ordinarius ad personam ernannt und erhielt damit den Lehrstuhl Fickers. Er übernahm akademische Funktionen und amtierte 1900/01 als Dekan der Philosophischen Fakultät oder wirkte in der Bibliothekskommission und der Baukommission der Universität mit. 1897 verfasste Ottenthai für die Philosophische Fakultät ein Gutachten zur Frage des Frauenstudiums. Während Ottenthai in seinem Gutachten explizit davon absah, die Frauenfrage im Allgemeinen zu erörtern, befürwortete er die „Zulassung weiblicher Hörer" zu den Universitätsstudien. Dies weniger aus theoretischer Überzeugung in einer noch vielfach streitigen Frage, sondern um die Probe auf ihre Erspriesslichkeit zu machen. Weder dürfe das bisherige wissenschaftliche Lehrziel gedrückt, noch dürften die Rechte der männlichen Hochschüler durch die Neuerung eingeschränkt werden. Es sollten nur solche Frauen zugelassen werden, welche neben der durch die allgemeinen Vorschriften verlangten Vorbildung auch im übrigen diejenigen Eigenschaften besitzen, welche für ein ernstes, lediglich wissenschaftliche oder didactische Ziele verfolgendes Streben Gewähr bieten. Andersgeartete Bewerberinnen würden unbedingt fern zu halten sein. Um ferner eine Gefährdung der bisherigen Lehrerfolge durch Unzukömmlichkeiten, wie sie sich aus gemeinsamen Unterricht oder gemeinsamem Studium ergeben könnten, möglichst hintanzuhalten, wären geeignete Vorkehrungen zu treffen. Die Zulassung zu und Benützung von Instituten und Seminaren, die neben dem wissenschaftlichen Zweck auch der Ausbildung von Beamten des öffentlichen Dienstes bestimmt seien, liege im Ermessen des Dozenten, männliche Bewerber hätten aber Vorrang vor den weiblichen73. Die Sorge um die beruflichen Chancen der jungen Männer und um deren uneingeschränkte Konzentration auf das Studium hat Ottenthai auch noch später bewegt, als sich eine Frau zur Ergänzungsprüfung am IÖG anmeldete. Ottenthai erbat in dieser Frage Weisung vom Ministerium, da durch die Zulassung von Frauen die „geistige Leistungsfähigkeit" fallen würde74. Dass Ottenthai den späteren Schriftsteller Heimito von Doderer wegen Damenbesuchs aus dem Institutskurs 1923 ausschloss, ist nicht gesichert, Ottenthals verkrampftes Verhältnis zu Frauen wurde aber schon bei seiner Verabschiedung aus Innsbruck 1904 von Kollegen aufs Korn genommen75. Antisemitische Bemerkungen finden sich in der Korrespondenz unter den einzelnen Wiener und Innsbrucker Historikern wiederholt, unter anderem auch von Ottenthai. So meinte Ottenthai zu zwei jüdischen Kandidaten als Nachfolger

73 Gutachten der Philosophischen Fakultät Innsbruck vom 09.03.1897, zitiert nach Maria S T E I B L , Frauenstudium in Österreich vor 1945. Dargestellt am Beispiel der Innsbrucker Studentinnen (Diss. masch. Innsbruck 1985) 36f. Vgl. auch O B E R K O F L E R , Geschichtliche Fächer (wie Anm. 13) 76f. 74 L H O T S K Y , Geschichte des Instituts (wie Anm.7) 299f. 75 „Er hat stets seine ganze Kraft/Gewidmet der Pflicht und Wissenschaft/Und darum auch Verführerin Weib/Gehalten ängstlich sich vom Leib [...] Allein so fest auch die Maximen/Des Hagestolzen mögen sein/ Soll er sich doch zu früh nicht rühmen/In seinem Leben nicht zu frei'n/Denn siegreich ist der Venus Macht/Und wer's am wenigsten gedacht/Wird durch ein holdes Weiblein doch/ Zuletzt gespannt ins Ehejoch [...]", Hans S E M P E R , Abschiedsgruß an Prof. Dr. Emil v. Ottenthai, 09.03.1904, Landesmuseum Ferdinandeum. Ober Doderers Verhältnis zum IÖG vgl. Elisabeth L E B E N S A F T , Die Eskapade in die Wissenschaft. Materialien zum Geschichtsstudium Heimito von Doderers, in: MIÖG 92 (1984) 407-440, hier 418f.

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des Historikers Hirn in Innsbruck, dass die beiden Juden trotz aller Tüchtigkeit hier wirklich unmöglich wären76.

IV. Nachfolger und Bewahrer der Sickel-Schule 1904 erfolgte schließlich Ottenthals Berufung nach Wien. Nach dem Tod Mühlbachers im Juli 1903 hatte Redlich zunächst die Institutsleitung inne, trat dann aber zugunsten Ottenthals zurück. Die Übertragung der Institutsleitung an Ottenthai entsprach dem Wunschszenario Sickels, dessen bevorzugter Schüler Ottenthai immer gewesen war 77 . Im Berufungsvorschlag vom 19. Oktober 1903 stand Ottenthai an erster Stelle, an zweiter Stelle waren ex aequo Michael Tangl und Karl Uhlirz und an dritter Stelle Wilhelm Erben genannt 78 . Mit Wirkung vom 1. April 1904 wurde Ottenthai zum ordentlichen Professor für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften ernannt, wenige Tage später übernahm er die Direktion des IÖG 79 . Die Berufungspolitik der Wiener Philosophischen Fakultät erregte beim klerikalen Lager Kritik. Aus Anlass von Ottenthals Berufung erschien eine Polemik in der Wiener Reichspost, die von den Neuen Tiroler Stimmen aufgenommen wurde. Während gegen Hirn, der 1899 unter Umgehung des Professorenkollegiums zum Ordinarius in Wien ernannt worden war 80 , von Seiten der Professoren und deutschradikalen Studentenschaft demonstriert worden sei, habe es gegen die ebenfalls ohne Befassung des Kollegiums zustande gekommene Ernennung des Judenliberalen Professors August Fournier" 81 keine Protestaktionen gegeben. Die seinerzeitige Kritik an Hirn, er habe wissenschaftlich zu wenig geleistet, um an der „ersten Universität des Reiches" lehren zu können, träfe in weit größerem Ausmaß auf Ottenthai zu. „Man sieht deutlich, auf die Leistungen kommt es weniger an, Hauptsache ist und bleibt, der Klique anzugehören, die Stellen vergibt, denn sonst hätten im Vergleiche zu Ottenthai doch Pastor und Hirn es viel eher verdient, in die Reihen der Akademiker aufgenommen zu werden." Ottenthai habe kaum Publikationen vorzuweisen:, Als Privatdozent in Innsbruck gab er die päpstlichen Kanzleiregeln heraus; dann begann er mit der Bearbeitung der Regesten der Ottonenzeit; es erschien jedoch nur ein einziges Heft und seit zwei Dezennien liest man nichts als kleine Aufsätze 76 Huber, Briefe (wie Anm. 4) 89 und 165. Redlich bemerkt in einem Schreiben an Ottenthai: Wenn Bresslau nicht ein Jude wäre, wäre die Frage des Vorsitzes einfacher. Aber Mon. Germaniae und Bresslau wird sich nicht gut reimen? 17.09.1914, IÖG, Archiv. Im Zusammenhang mit der ErbenNachfolge an der Universität Innsbruck 1917 bat Ottenthai Alfons Dopsch und Hans von Voltelini, nicht nur über Hans Hirschs wissenschaftliche Kompetenz, sondern auch über dessen arische Abstammung zu berichten. Vgl. Manfred STOY, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1 9 2 9 - 1 9 4 5 ( M I Ö G Erg.-Bd. 50, W i e n / M ü n c h e n 2 0 0 7 ) 2 6 A n m . 2 8 .

77 Vgl. Huber, Briefe (wie Anm. 4) 388, FICHTENAU, Diplomatiker (wie Anm. 43) 39. 78

PFERSCHY-MALECZEK, Diplomata-Edition ( w i e A n m . 4 0 ) 4 1 5 f . ; LHOTSKY, Geschichte d e s Instituts

(wie Anm. 7) 2 9 1 . 79 LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 7) 291. 80 OBERKOFLER, Geschichtliche Fächer (wie Anm. 13) 100. 81 August Fournier (1850-1920), Professor für Geschichte in Prag und Wien. Siehe FELLNER, CORRADINI, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 3) 127f.

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und Rezensionen über das , Werk' das schon in seinem ersten Hefte erschienen ist. Im Verein mit Professor Redlich gab dann Ottenthai die ,Archivberichte aus Südtirol' [!] heraus, die in der deutschen Literatur-Zeitung von Professor Mayr82 abfällig besprochen wurden. Die nächste ebenso wertvolle Arbeit war, daß Ottenthai vor sieben Jahren es übernahm, die Geschichte Tirols zu schreiben: Europas Staatengeschichte, herausgegeben von Heeren und Ukert. Professor Hirn, der vor allem hiezu berufen gewesen wäre, wurde natürlich übergangen und Ottenthals Hauptverdienst bestand darin, daß er vor Jahresfrist die Arbeit in die Hände des Professors Voltelini zurücklegte. Das ist der Gelehrte, der nach dem Willen der Clique an der Wiener Universität zu Ehren kommen soll." Dazu bemerken die Tiroler Stimmen: „Wir wüßten mancherlei sehr Bezeichnendes für die ,objektive' Tätigkeit der Clique hier und in Wien hinzuzufügen, versparen es aber lieber auf eine andere Gelegenheit, denn wir möchten den Abgang von Ottenthai hier in keiner Weise behindert wissen."83 Die Philosophische Fakultät der Universität Innsbruck wies die Angriffe der Reichspost und der Neuen Tiroler Stimmen als durch nichts gerechtfertigten Angriff auf ihre wissenschaftliche Überzeugung zurück84, der Innsbrucker Akademische Historiker-Klub sprach sich gegen die Herabwürdigung der Verdienste Ottenthals aus85. Ottenthai und seine Fakultätskollegen revanchierten sich offenbar mit einer Initiative gegen die Betrauung des katholisch-konservativen Mayrs, ebenfalls Absolvent des IÖG und außerordentlicher Professor für Neuere Geschichte in Innsbruck, mit der nach Ottenthals Abgang vakant gewordenen Innsbrucker Lehrkanzel86. Aufgrund eines von Ottenthai verfassten vollkommen negativen Gutachtens über Mayrs wissenschaftliche Qualifikation sprach sich die Fakultät entschieden gegen eine auch nur zeitweise Vertretung von Ottenthals Lehrkanzel durch Mayr aus. In einem achtzehnseitigen Separatvotum setzte sich Mayr gegen die abfälligen, galligen Bemerkungen und absichtliche Gehässigkeiten durch Ottenthai zur Wehr87. Spitze Bemerkungen über Ottenthals stockende Arbeit an den Böhmerschen Regesten und angeblich von Ottenthai gesponnene Intrigen bewogen den Dekan dazu, das Sondergutachten zunächst nicht ans Ministerium weiterzulei-

Michael Mayr ( 1 8 6 4 - 1 9 2 2 ) , Professor für Neuere Geschichte in Innsbruck. F E L L N E R , C O R R A D I N I , Geschichtswissenschaft (wie Anm. 3) 274f. 83 Neue Tiroler Stimmen Nr. 10, 14.01.1904, 1. 84 Dekan Rudolf von Scala und Prodekan Heider an das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht, Januar 1904, Akten der Philosophischen Fakultät, UAL Mayr gab in der Fakultätssitzung zu Protokoll, dass er dem erwähnten Pressprodukte, in welchem sein Name auch genannt wird, gänzlich ferne steht und bedauert, dass die Beurteilung wissenschaftlicher Leistung in solcher Weise in Tagesblättern erscheint. Dekan Scala und Prodekan Heider an das k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht, Januar 1904, Akten der philosophischen Fakultät, UAI. 82

85 Tiroler Tagblatt Nr. 16, 21.01.1904, 3. Die Neuen Tiroler Stimmen reagierten darauf mit der Bemerkung, die Kundgebung der Schüler für den Lehrer würde den akademischen Klub ehren, wenn sie nicht „künstlich" zustande gekommen wäre. Neue Tiroler Stimmen Nr. 17, 22.01.1904, 2. 86 O B E R K O F L E R , Geschichtliche Fächer (wie Anm. 13) 102f. Vgl. auch Hermann J . W . K U P R I A N , Bundeskanzler Michael Mayr und Tirol. Historiker - Archivar - Politiker, in: Tiroler Heimat. Jb. für Geschichte und Volkskunde 51/52 (1987/88) 109-127, hier 1 lOf. 87 Sondergutachten Mayrs vom 12.03.1903, Akten der Philosophischen Fakultät, UAL

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ten88. Nachdem Mayr sein Papier allen Fakultätsmitgliedern zukommen ließ, reagierte

Ottenthai scharf: Gegen Jemanden aber, welcher es mit der Wahrheit sowenig genau nimmt, wie das hier geschehen ist, glaube ich der Widerlegung und Zurückweisung auch aller andern behaupteten unrichtigen oder verdrehten Thatsachen und mir in die Schuhe geschobenen Meinungen und Absichten überhoben zu sein. Vielleicht darf ich noch bemerken, dass ich keinen Anlass habe die Ansicht, welche ich persönlich mir seit langem gebildet habe, zu korrigieren, auch nicht nach dem panegyrischen Gutachten, welches H(err) Mayr über sich selbst abgegeben hat, bei dessen Lesung sich vielleicht mancher an das alte Sprichwort erinnert: Selbstlob - riecht nicht gufi9. Noch 1908 machte die Reichspost Stimmung gegen Harold Steinacker anlässlich seiner Ernennung zum Extraordinarius für Allgemeine und Österreichische Geschichte an der Universität Innsbruck90.

Abb. 4: Emil von Ottenthai

Ottenthals Führung des IÖG wird unterschiedlich bewertet. Als Aufrechterhaltung des Status quo, starres Festhalten an der Sickelschen Tradition und mangelnde Innovation fasst Alphons Lhotsky die Ära Ottenthai zusammen91. Lhotsky und Heinrich Fich-

88 Scala an Mayr am 26.03.1904 (Konzept), ebd. 89 Ottenthai an den Dekan am 14.04.1904, ebd. 90 Redlich an Ottenthai am 15.10.1908, IÖG, Archiv. 91 LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 7) 289-293, 342.

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tenau attestieren Ottenthai eine gewisse Kleinlichkeit und Beamtenmentalität92. Im Vergleich zu seinen Vorgängern, insbesondere Redlich, hätte Ottenthai die Chancen für Positionierung und Profilierung des Instituts kaum genützt. Kritisiert wird unter anderem die offenbar von Ottenthai an den Tag gelegte sparsame Amtsführung, die zwar dem staatlichen Budget, nicht aber dem Institut zum Vorteil gereichte. Die Institutsberichte und Festschrift zum 50jährigen Jubiläum des Instituts spiegelten das bescheidene, zurückhaltende und sachliche Auftreten Ottenthals wider. Hierzu muss bemerkt werden, dass das Institut während Ottenthals Ära den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegsjahre zu bewältigen hatte93. Milder urteilt eine neuere Arbeit, die Ottenthal als „Mann des Ausgleichs, der über ein klares Urteil verfügte und [...] dem universitären Tratsch abhold war, in wichtigen Dingen jedoch durchaus seine Interessen zu wahren wusste."94 Gleich zu Beginn der Amtszeit Ottenthals wurde dem Institut die Herausgabe der - bis dahin kaum bearbeiteten - Urkunden Lothars III. und der älteren Staufer-Könige und Kaiser bis 1197 im Rahmen der MGH übertragen, womit dem Institut weiterhin eine wichtige Rolle im Arbeitsplan der MGH gesichert war95. Ottenthai wurde zum Leiter der Edition der Stauferurkunden bestimmt und Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta. Neben Reisen zur Sammlung des zerstreuten Materials durch Deutschland, die Niederlande, Belgien, Frankreich und Italien96 bemühte sich Ottenthai darum, die Edition der Stauferurkunden als dritte Diplomata-Abteilung in Wien zu halten und deren Finanzierung auch während der schwierigen Nachkriegszeit zu sichern97. Mehrmals streckte Ottenthai die Mitarbeiterhonorare aus eigener Tasche vor98. Sozialpolitische Anliegen der Arbeiterbewegung und der Sozialisten stießen in der bürgerlichen Gedankenwelt Ottenthals auf Unverständnis. So beklagte er 1920 beispielsweise die „unter dem Druck der sozialistischen Verbände" notwendig gewordene Schließung des IÖG an Sonntagen99. Während des Ersten Weltkriegs besorgte Ottenthai die Arbeit allein, da die anderen Mitarbeiter eingezogen waren100. FICHTENAU, Diplomatiker (wie Anm. 4 3 ) 4 1 4 3 . 93 Der Frage nach Ottenthals politischer Haltung während des Ersten Weltkriegs und nach der Abtrennung Südtirols, so wie sie sich in seiner Korrespondenz zeigt, konnte im Rahmen dieser Arbeit nicht genau nachgegangen werden. Die kriegerischen Ereignisse werden in den eingesehenen Briefen indirekt (Fronteinsätze von Kollegen, Lebensmittelversorgung, Reiseschwierigkeiten) sichtbar. 1915 schreibt Ottenthai an Wilhelm Bauer aus Kufstein, wo er in den Kriegsjahren den Sommer verbringt: Vom Krieg sieht man hier nicht viel, was sich schreiben lässt: russische Gefangene als Arbeiter, italienische) Verwundete die mit ihrem Bersagliere-Fahnenhut ins Spital einrücken. 12.09.1915, ÖAW Archiv, NL Wilhelm Bauer. Für das in den Räumen der Wiener Universität errichtete Verwundetenspital spendete Ottenthai 100 Kronen monatlich. 29.08.1914, IÖG, Archiv (Briefe an Ottenthai 1914-1917). 9 4 P F E R S C H Y - M A L E C Z E K , Diplomata-Edition (wie Anm. 4 0 ) 4 1 7 . 95 Ebd. 416f.; BRESSLAU, Geschichte der Monumenta (wie Anm. 40) 717. 96 SANTIFALLER, Ottenthai (wie Anm. 36) 190. 9 7 P F E R S C H Y - M A L E C Z E K , Diplomata-Edition (wie Anm. 4 0 ) 4 2 4 4 2 7 . 98 Ebd. 417 und 433. 99 Vgl. LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 7) 305. Über Vorbehalte Ottenthals gegen Alphons Lhotsky wegen vermuteten Sympathisierens mit der Arbeiterbewegung berichtet Gerhard OBERKOFLER, Franz Huter (1899-1997). Soldat und Historiker Tirols (Innsbruck 1999) 40. 1 0 0 P F E R S C H Y - M A L E C Z E K , Diplomata-Edition (wie Anm. 4 0 ) 4 2 9 . 92

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Möglicherweise war das auch, neben der von Lhotsky kritisierten Übergründlichkeit und Unschlüssigkeit, mit ein Grund, warum erst 1924 mit dem Druck der Diplome Lothars III. begonnen werden konnte101. Hans Hirsch, der mit Ottenthai den Band 1927 herausgab und laut Fichtenau die Hauptarbeit leistete102, hob die Schwierigkeiten der zu bearbeitenden Periode hervor103. Als Lehrer war Ottenthai nicht gerade mitreißend oder aufregend und die Arbeit kam für ihn immer vor dem Vergnügen104. Sein Hauptinteresse galt methodischen Fragen, dem Schrift- und Diktatvergleich und Fälschungsproblemen. „Es war auch für die .Wunderkinder' des Instituts eine nicht unbeträchtliche Nervenprobe, vor Ottenthai referieren zu müssen."105 Die schwierige ökonomische Situation der Nachkriegszeit, das „Herrenbewusstsein alter Schule" der Lehrenden106 und Kleben an althergebrachten Normen mag zu der steifen Atmosphäre beigetragen haben, die Doderer das Institut in den letzten Jahren der Amtszeit Ottenthals als Ort der Vergangenheit und des Unbehagens beschreiben ließen, in dem biedere Historiker landesgeschichtliche Probleme urkundlich bearbeiteten107. Ottenthals eigene literarische Tätigkeit ging - abgesehen von der Leitung der neuen Diplomata-Abteilung zur Herausgabe der Staufer-Urkunden - mit der Übernahme der Leitung des IÖG stark zurück108. Überaus detailliert und gründlich fielen die Besprechungen von Neuerscheinungen aus, die zunehmend seine einzigen Beiträge zu den MIÖG bildeten. Ottenthals Hauptverdienst wird daher darin gesehen, das Institut und dessen wissenschaftliches Renommee über den Ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit hinweg annähernd bewahrt zu haben109. In das politische Geschehen nach dem Ersten Weltkrieg und die Südtirol-Frage schaltete sich Ottenthai Ende 1918 ein. Gemeinsam mit Voltelini verfasste er eine Denkschrift, die die Politiker der Entente über das „mehr als tausendjährige Alter des Deutschtums in Südtirol"" 0 aufklären und die das österreichische Außenministerium für die Friedensverhandlungen sowie für Öffentlichkeitsarbeit verwenden wollte111. Mit Verweis auf die geschichtliche Entwicklung und die großen 101 Ebd. 431; LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 7) 308. 102 FICHTENAU, Diplomatiker (wie Anm. 43) 41 und 48. 103 Hans HIRSCH, Das österreichische Institut für Geschichtsforschung 1854-1934, in: MIÖG 49 (1935) 1-14, hier 10. 104 Ein literarisches Zeugnis flir die anspruchsvolle und anstrengende Ausbildung am IÖG lieferte Heimito von Doderer, der 1923, also gegen Ende der Ära Ottenthals, dort studierte, siehe Heimito von DODERER, Die Dämonen. Nach der Chronik des Sektionsrates Geyrenhoff (München 3 1993) 1319. Vgl. auch Peter JOHANEK, Die Erudition und die Folgen. Vom Institut für österreichische Geschichtsforschung und seiner Geschichte, in: MIÖG 113 (2005) 259-268, hier 262. 105 LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm.7) 313. 106 Alphons LHOTSKY, Aufsätze und Vorträge 5: Aus dem Nachlass, ausgewählt und hg. v. Hans WAONER, Heinrich KOLLER (Wien 1976) 268. 107 DODERER, D ä m o n e n ( w i e A n m . 104) 2 0 2 - 2 0 4 , 6 9 4 6 9 5 . V g l . LEBENSAFT, E s k a p a d e ( w i e A n m . 75),

und JOHANEK, Erudition (wie Anm. 104) 259-268. Ähnlich fallt die Charakterisierung des IÖG durch Heinrich von Srbik aus, vgl. STOY, Institut (wie Anm. 76) 27. 108 FICHTENAU, Diplomatiker (wie Anm. 43) 41 f. 109 SANTIFALLER, Institut (wie Anm. 46) 18. 110 STOLZ, Ottenthai F (wie Anm. 61). 111 Schreiben des Außenministeriums an Ottenthai am 06.12.1918, IÖG, Archiv. Vgl. dazu Franz HUTER,

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kulturellen und wirtschaftlichen Gegensätze wird gegen eine Abtrennung Südtirols argumentiert. Niemals, auch nicht in der römischen Kaiserzeit, sei der Zentralkamm der Alpen die Grenze Italiens gewesen. „Die Deutschen und Ladiner Südtirols werden sich niemals mit der italienischen Herrschaft befreunden, die ihnen überdies den wirtschaftlichen Ruin zu bringen droht. Den deutschsüdtiroler Bauern wird niemand italienisieren. Es werden Zustände herrschen, wie in Tirol vor 1809." 1 ' 2 Zu Ottenthals 70. Geburtstag erschien eine Festschrift in den Schlern-Schriften" 3 , die Feier auf seinem Ansitz Neumelans anlässlich ihrer Überreichung beschreibt Raimund von Klebelsberg114. Nachdem er im Juni 1926 seine akademische Tätigkeit beendet hatte115, starb Ottenthai am 5. Februar 1931 in Wien. Noch gegen Ende seiner Laufbahn hob Ottenthai die Leistung Sickels „als geistiger Ahne aller modernen Diplomatiker, Bresslau eingeschlossen" hervor116. Ottenthai war ein „Musterschüler" par excellence, der die ihm gestellten Aufgaben entsprechend den Vorgaben ausgezeichnet löste, neue Impulse setzte er aber kaum117. Er konzentrierte sich auf die exakte Zerlegung der Quelle nach formalen Kriterien und steuerte hier vorbildliche Arbeiten bei. Weit ausholende Darstellungen im Sinne von „Geschichtsschreibung" waren nicht Ottenthals Sache. Seine Verteidigung der eher auf das Formale ausgerichteten, fast naturwissenschaftlichen Sickelschen Herangehensweise gegenüber der Geschichtsdarstellung wird von Redlich hervorgehoben: „Die Festhaltung dieser Tradition gewinnt um so größere Bedeutung, je mehr die ,historische Romanschriftstellerei', wie es jüngst genannt wurde, Anziehungskraft ausübt, der die Quellen und ihre Kritik Nebensache sind. Da hat Ottenthai die gute, alte Schule fortgesetzt."118 Ottenthai selbst sah sich nicht als historischer „Erbsenzähler", dessen Interesse sich in winzigen Details der Urkundenentstehung und -gestalt erschöpfte. In seiner Innsbrucker Abschiedsvorlesung fasste er sein historisches Grundverständnis zusammen. Sein oberstes Bemühen sei gewesen, „Forschungsdrang und Wahrheitsdrang" in die Jugendlich begeisterungsfahigen Herzen" seiner Studenten zu legen. Geschichte sei nicht von Quellen allein abhängig, „für ihre höchsten Aufgaben" spiele immer auch die Weltanschauung des Einzelnen mit: „Im weiten Bau der Geschichtswissenschaft ist für alle Platz; nur dass jeder mit der Überzeugung, die er nicht nur vom Hörensagen sich erworben hat, sondern die er selbst sich gebildet, hereintritt. Jeder möge seiner Zum 100. Geburtstag des großen Südtiroler Historikers Emil von Ottenthai, in: Dolomiten Nr. 134 vom 15.06.1955,3. 112 Hans von V O L T E L I N I , Emil von O T T E N T H A L , Das deutsche und ladinische Südtirol (Wien 1919) 12f. 113 F S zu Ehren Emil von Ottenthals (wie Anm. 47). Vgl. F I C H T E N A U , Diplomatiker (wie Anm. 43) 42. 1 1 4 Raimund von K L E B E L S B E R G , Innsbrucker Erinnerungen 1902-1952 (Schlern-Schriften 100, Innsbruck 1953) 372f., und DERS., Ein Festtag auf Neumelans, in: Der Schiern 6 (1925) 328f. 115 Zur Nachfolge Ottenthals vgl. S T O Y , Institut (wie Anm. 76), 21-30. 116 Rezension Emil v. O T T E N T H A L S über Bresslaus Handbuch der Urkundenlehre, in: MIÖG 39 (1923) 128-135, hier 131. 1 1 7 F I C H T E N A U , Diplomatiker (wie Anm. 4 3 ) 4 2 . 1 1 8 Oswald R E D L I C H , Emil v. Ottenthal. Ein Nachruf. Sonderabdruck aus dem Almanach der Akademie der Wissenschaften in Wien 81 (1931) 4f.

Emil von Ottenthai (1855-1931)

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Überzeugung folgen und ohne Rücksicht auf etwas anderes von diesem Standpunkte der Forschung dem Suchen der Wahrheit sich hingeben! [...] Die Wissenschaften haben nicht nur intellektuelle, sondern auch ethische Vorzüge; keine andere Wissenschaft aber wird diese so gewähren, wie die Geschichte, weil hier das Streben nach der reinen Wahrheit schwieriger ist als bei anderen Wissenschaften."119

119 Innsbrucker Nachrichten Nr. 39, 12.03.1904, 6.

Anton Meli (1865-1940) ,Homo styriacus" und „deutsches Vaterland" von Gernot Peter Obersteiner

Abb. 5: Anton Meli

„Der Verfasser dieses Buches [...] schließt sein Werk mit dem heißesten Wunsch, die Verwirklichung des Artikels 2 des Gesetzes vom 12. November des Jahres 1918: ,Deutschösterreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik', noch erleben zu dürfen, zum Heil seiner Heimat und deren treudeutschen Bevölkerung." Diese Worte stehen am Ende des Handbuches „Grundriß der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Steiermarks", erschienen im Jahre 1929 und aufgrund seines Umfanges und seiner Materialfulle ein bis auf den heutigen Tag für die Steiermark und darüber hinaus unerreichtes und unentbehrliches Opus. Für den Archivar und Historiker Anton Meli, den Schöpfer dieses Werkes, ging sein hier geäußerter Wunsch im Jahre 1938 und tatsächlich noch zu Lebzeiten in Erfüllung, allerdings unter für ihn persönlich enttäuschenden Rahmenbedingungen. Der genannte Wunsch ist im Übrigen eine der wenigen nachweisbaren „quasi-politischen" Äußerungen Anton Mells - eine Ansicht, die überwiegende Teile der österreichischen Geschichtsforschung, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft der 1920er und 1930er Jahre teilten. In der Literatur über die Exponenten der öster-

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reichischen Historiografie in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts scheint der Direktor des Steiermärkischen Landesarchivs und, bereits in vorgerücktem Alter, Ordinarius für Österreichische Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz, daher, wenn überhaupt, nur am Rande auf 1 . Während sich Fachkollegen wie etwa August Fournier (1850-1920), Heinrich Kretschmayr (1870-1939) und Alfons Dopsch (18681953) mit programmatischen Schriften in die Tagespolitik des Ersten Weltkrieges einschalteten, sind solche Aktivitäten Mells nicht bekannt. Er hielt es diesbezüglich mit anderen bedeutenden Historikern jener Zeit, wie Heinrich von Srbik (1878-1951), Alfred Francis Pribram (1859-1942) und seinem archivarischen Amtskollegen im benachbarten Kärnten August von Jaksch (1859-1932) 2 . Dennoch illustrieren Vita und wissenschaftlich-akademisches Wirken Mells die Historiografie Österreichs von der Monarchie über Erste Republik und Ständestaat bis hin zum „Anschluss" an das Dritte Reich, auch wenn die Quellen recht dürftig fließen.

Familie, Leben und Laufbahn Anton Mells „Leben begann, verlief und endete in der Vaterstadt Graz", schrieb Karl Hafner 1942 in seinem Nachruf auf den Verstorbenen3. Mells Vorfahren stammten aus den deutschbesiedelten Gebieten Böhmens, wo sie in Elbogen (Loket) bei Karlsbad nachweisbar sind. Alexander Meli (1814—1904), Hauptmann im Böhmischen Infanterieregiment Nr. 18, übersiedelte Ende der 1850er Jahre nach Graz, das sich damals bereits seinen Ruf als „Pensionopolis" für die k. u. k. Offiziere und höheren Beamten zu schaffen begann. Meli senior hatte um Versetzung in den Ruhestand angesucht, weil er sich von seinem Dienstgeber unbillig behandelt fühlte 4 . Vom staatlichen Ruhegehalt des Hauptmanns lebte die Familie in eher bescheidenen Verhältnissen; aus der Ehe Alexander Mells mit Josefine Edle von Rosenbaum (gest. 1911) waren bereits 1

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Günter RAMHARDTER, Geschichtswissenschaft und Patriotismus. Österreichische Historiker im Weltkrieg 1914-1918 (Österreich Archiv, Wien 1973) 171, nennt Meli nur im Zusammenhang mit dem Akademischen Verein deutscher Historiker. Für die Auswahl von Herbert DACHS, Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluß 1918-1930 (Veröff. des Historischen Instituts der Universität Salzburg, Wien/Salzburg 1974) war Meli offenbar ebenfalls nicht exponiert genug. RAMHARDTER, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1) 1 8 7 . - Srbik hatte 1 9 1 7 an der Universität Graz das Ordinariat fiir neuere und Wirtschaftsgeschichte erhalten. Zur Person Mells und seiner Familie siehe: Karl HAFNER, Anton Meli t , in: ZHVSt 35 (1942) 104 123; Fritz POSCH in: ÖBL 6 (Wien 1975) 213f.; Christoph Heinrich BINDER, Max Meli. Beiträge zu seinem Leben und Werk (Graz 1978) bes. 19f.; Franz Otto ROTH, A U S den Briefen Richters von Binnenthal an den jungen Anton Meli, 1881. Vom Alltag eines pensionierten k. k. Offiziers in Graz, in: Mitteilungen des StLA 39 (1989) 81-102; Gernot Peter OBERSTEINER, „Hochgeehrter Herr Archivdirektor!" Hans Pirchegger (1875-1973) und Anton Meli (1865-1940) im Spiegel ihrer Briefe und Aufzeichnungen, in: Bauern, Bürger, hohe Herren, hg. v. Josef RIEGLER (Veröff. des StLA 34, Graz 2005) 85-104; Fritz FELLNER, Doris A. CORRADINI, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon (VKGÖ 99, Wien 2006) 278f. Zentrale Archivalien bietet der NL Meli im StLA, besonders Sch. 1. BINDER, Max Meli (wie Anm. 3) 20, zitiert aus einer Erzählung des Dichters Max Meli, eines Enkels von Alexander und Neffen Anton Mells.

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die Söhne Alexander (1850-1931) und Karl (1851-1936) entsprossen, und am 7. Juni 1865 kam in Graz noch der jüngste Sohn Anton zur Welt. Der Familienname muss zunächst „Melle" gelautet haben, denn noch 1884 veranlasste der Grazer Stadtrat die Richtigstellung des 1865 in den Pfarrmatriken von St. Leonhard eingetragenen Namens „Meli" auf diese Namensform. Und als Dr. phil. Anton Meli im Jahre 1889, bereits Aspirant am Steiermärkischen Landesarchiv, um Änderung seines Familiennamens „Melle" in „Meli" ansuchte, wurde dies seitens der Behörde bei dem Abgange besonders rücksichtswürdiger Gründe abgelehnt 5 . Dennoch muss einer Berufung in der Folge stattgegeben worden sein, denn sämtliche Mitglieder der recht verzweigten Familie führten später den Namen „Meli". In Wissenschaft, Verwaltung und Kunst begegnen Träger des Namens Meli in ansehnlicher Zahl. Alexander „Sändor" Meli, Antons ältester Bruder, studierte an der Technischen Hochschule in Graz Naturwissenschaften und Chemie, ehe er in Marburg an der Drau als Gymnasialprofessor sowie an der dortigen Lehrerbildungsanstalt wirkte. 1886 wurde Prof. Alexander Meli als Leiter des Blindeninstituts in der Josefstädter Blindengasse nach Wien berufen, wo er auf vielen Teilbereichen des Blindenwesens als Pionier wirkte und internationales Ansehen genoss6. Mit der einer Grazer Lehrerfamilie entstammenden Marie, geb. Rocek, hatte Alexander Meli insgesamt neun Kinder, von denen Max Meli (1882-1971) als Dichter in der österreichischen Literaturgeschichte einen hervorragenden Platz einnimmt, Alfred Meli (1880-1962), Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 7 , zum Direktor des Heeresgeschichtlichen Museums in Wien aufstieg und Leo Meli als Jurist in die Dienste der niederösterreichischen Landesregierung trat. Tochter Mary (Goltz-)Mell (1885-1954) stand 53 Jahre als Schauspielerin im Wiener Burgtheater auf der Bühne, während Lilli Meli (1897-1986) als akademische Malerin eine gesuchte Porträtistin war. Alexander und Anton Mells mittlerer Bruder Karl Meli war ebenfalls akademischer Maler und wirkte als Professor an der k. k. Staatsgewerbeschule in Salzburg. Aus seiner Ehe mit Gabriele, geb. Andrés, stammten die Söhne Camillo Meli, Biologe und Professor, und der Schriftsteller Roman Meli. Dr. jur. Richard Meli (1881-1950) kam der Berufswahl seines Onkels Anton Meli besonders nahe, denn er war Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Kustos am Münzenkabinett des Steiermärkischen Landesmuseums Joanneum und schloss seine Laufbahn in der Steiermärkischen Landesregierung 1936 als Vorstand der Kulturabteilung und Wirklicher Hofrat ab. Ehrenmitglied der Sezession, fungierte Richard Meli auch als Präsident des Steiermärkischen Kunstvereines sowie des Volksbildungsvereines Urania 8 . 5 6 7

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StLA, A. Anton Meli, Sch. 54, H. 868. Ö B L 6 ( w i e A n m . 3)213. Leo SANTIFALLER, Das Institut für österreichische Geschichtsforschung. Festgabe zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (Veröff. des IÖG 11, Wien 1950) 125; Alphons L H O T S K Y , Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854-1954 (MIÖG Erg.-Bd. 17, Graz/Köln 1954) 286f; F E L L N E R , C O R R A D I N I , Geschichtswissenschaft (wie Anm. 3) 278. SANTIFALLER, Institut (wie Anm. 7 ) 1 2 8 ; L H O T S K Y , Geschichte des Instituts (wie Anm. 7 ) 3 4 9 ; Ö B L

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In diese Familie wurde Anton Meli also im Jahre 1865 hineingeboren. Der zehnjährige Anton trat im Jahre 1875 in das k. k. Erste Staatsgymnasium (Akademisches Gymnasium) in Graz ein und legte im Juli 1883 die Reifeprüfung ab. Die erhaltenen Schulzeugnisse weisen aus, dass Meli ein eher mittelmäßiger bis schlechter Schüler war. Nichtsdestoweniger begann er im Oktober 1883 an der Philosophischen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz das Studium der Geschichte und Deutschen Philologie, in dessen Verlauf ihn offenbar besonders die Seminare bei den Professoren Franz Krones Ritter von Marchland (1835-1902), Johann Baptist von Weiss (1820-1899), Anton Emanuel Schönbach (1848-1911) und August Sauer (1855-1926) prägten. In Krones, dem Verfasser bedeutender Handbücher zur österreichischen Geschichte9, erblickte Meli in seinen späteren Nachrichten und Aufzeichnungen stets seinen Mentor und bedeutendsten Lehrer. Nach Approbation der auf breiter Quellenbasis beruhenden Doktorarbeit zum Thema „Die historische und territoriale Entwicklung Krains vom X. bis ins XIII. Jahrhundert"10 und Ablegung der beiden Rigorosen promovierte Meli im Frühjahr 1887 zum Doktor der Philosophie. Meli war gleichzeitig mit seinem Studienbeginn dem „Akademischen HistorikerClub in Graz" beigetreten, jenem 1877 „zur Pflege des historischen Studiums und Förderung des regeren Verkehrs unter den Klubmitgliedern" ins Leben getretenen Verein11. Schon im Studienjahr 1884/85 und dann wieder 1887/88 bekleidete er die Obmannstelle und wurde 1903 zum Ehrenmitglied des „Akademischen Vereins deutscher Historiker", wie sich die Vereinigung seit 1898 nannte. In den Gründungsstatuten war 1877 noch davon die Rede gewesen, dass die Vereinsmitglieder keinerlei „religiöse, politische, nationale Tendenz" verfolgten. Doch entwickelten sich diese auch an anderen Universitäten ins Leben gerufenen Vereinigungen - jene in Innsbruck wurde 1872, der entsprechende Verein an der Universität Wien 1889 gegründet - vor dem Hintergrund des Nationalitätenstreites in der Habsburgermonarchie alsbald zu Hochburgen des Deutschnationalismus auf akademischem Boden. Meli wurde in wenigen Jahren zur dominierenden Persönlichkeit des Grazer Historikervereines, ja, er machte aus dem Fachverein „auf der Grundlage gemeinsamen akademischen Lebens und Erlebens einen Freundschaftsbund auf Lebensdauer"12. Meli, dem der Verein „das Liebste außerhalb des Familienkreises" war, blieb den Vereinsmitgliedern „allverehrter Mittelpunkt durch Dezennien", wie Hafner später schrieb13. Der Verein lud zu Vorträgen, veranstaltete Ausflüge und Besichtigungstouren und baute eine ansehn6 (wie Anm. 3) 214. Seine auf der IÖG-Hausarbeit beruhende Habilitationsschrift wurde gedruckt als: Beiträge zur Geschichte der steirischen Privaturkunde (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark 8, 1911). 9 Grundriss der österreichischen Geschichte mit besonderer Rücksicht auf Quellen- und Literaturkunde (Wien 1882); Handbuch der Geschichte Österreichs 1-5 (Berlin 1876-1879); Österreichische Geschichte 1-2 (Leipzig 1899-1900). 10 Im Jahr darauf auch im Druck erschienen. 1 1 Günter CERWINKA, Der Akademische Verein deutscher Historiker in Graz. Zur hundertsten Wiederkehr seiner Gründung, in: Blätter für Heimatkunde 51 (1977) 97-110. 12 H A F N E R , Meli (wie Anm. 3) 112. 13 Ebd. 113.

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liehe Bibliothek auf, die später an das Institut für Geschichte an der Universität Graz gelangte. Gesellige Veranstaltungen wie Faschingskneipen, zu denen humoristische, von Meli mit Zeichnungen und Karikaturen versehene Zeitschriften erschienen, und die beliebten Kegelabende ließen die Vereinsmitglieder regelmäßig im Wirtshaus zusammentreffen. Im Jahre 1894/95 konstituierte sich ein Absolventenverband, dessen „Alte Herren", zumeist in Beamtentum, Forschung und Lehre arriviert, auch späterhin noch Fühlung mit dem Historikerklub hielten. Aus Anlass seiner 30jährigen Mitgliedschaft stand Meli im Januar 1914 im Mittelpunkt eines vom Historikerverein ausgerichteten Festabends. Mitte der dreißiger Jahre aber sollte es aus ideologischen Gründen zur Entfremdung kommen. Schon während seiner Studienzeit hatte Meli in den Jahren 1885 und 1886 am Steiermärkischen Landesarchiv die paläografischen Vorlesungen des Gründers jenes Hauses, Joseph Zahn (1831-1916), gehört und auch die praktischen Übungen zur Archivwissenschaft frequentiert. Auf diesem Wege - und nicht über den Ausbildungskurs am Institut für Österreichische Geschichtsforschung - erwarb er jene Kenntnisse und Fertigkeiten, die es ihm ermöglichten, mit 1. Mai 1887 als Volontär in den Dienst des Steiermärkischen Landesarchivs zu treten. In den Jahren 1887 und 1888 absolvierte Meli auch seine militärische Dienstpflicht, 1898 schied er - vorerst - als Leutnant bei der Sanitätstruppe aus dem Heeresverband aus. Von Juli 1887 bis Jänner 1891 provisorischer und von Februar 1891 bis Mai 1893 definitiver Aspirant, rückte Meli mit 1. Juni 1893 zum Zweiten Adjunkten auf. Mit 1. Dezember 1896 erhielt Meli - nach dem Tode Theodor Ungers - die Stelle des Ersten Archivsadjunkten und war somit zum Stellvertretenden Archivdirektor avanciert. Konsequenter Weise bestellte der steirische Landesausschuss Meli nach dem Übertritt Zahns in den Ruhestand ( 1904) mit 1. Februar 1905 zum Landes-Archivar mit dem Titel eines ,Archivs-Direktors" in der VII. Rangsklasse. Die gehaltsmäßige Einstufung als Archivsadjunkt hatte es Meli ermöglicht, an eine Eheschließung zu denken. Seine Wahl fiel auf Eugenie Freyschlag Edle von Freyenstein (1870-1967), die Tochter eines Generalmajors14. Leibliche Kinder hinterließ Meli aus diesem Lebensbund nicht, doch adoptierte er Helene, die Tochter deutschrussischer Eltern15. Sie heiratete später einen Kapellmeister. Parallel zu seiner Laufbahn im Archivdienst hatte Meli auch begonnen, sich an der Universität ein zweites Standbein zu schaffen. In seiner akademischen Lehrtätigkeit sah er „sein höchstes Lebensziel, einen Lebenswunsch, für dessen Verwirklichung er keine Anstrengung, kein Opfer zu scheuen bereit war"16. Doch war Mells Weg 14 Adolf Freyschlag Edler von Freyenstein (1827-1913). Die Nobilitierang der Familie datiert bereits aus dem Jahr 1646, siehe Karl Friedrich von F R A N K , Standeserhebungen und Gnadenakte für das Deutsche Reich und die Österreichischen Erblande bis 1806 2 (Schloss Senftenegg 1970) 43. - Auch Eugenies Bruder Adolf (gest. 1933) diente in der Armee (zuletzt als Oberst), ihre Schwester Alexandra heiratete Walter Winternitz von Viharos, der im Ersten Weltkrieg fiel. Eine weitere Schwester, Adrienne, blieb offenbar unvermählt. Das Familiengrab der Freyschlag befindet sich am Grazer Leonhardfriedhof. 15 H A F N E R , Meli (wie Anm. 3) 118. 16 Ebd. 110.

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bis zur ersehnten Professur lang und von Enttäuschungen begleitet. Im August 1897 hatte er seitens der Philosophischen Fakultät der Grazer Universität die Zulassung als Privatdozent für österreichische Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der steirischen Landesgeschichte erhalten. Thema der Habilitationsschrift war „Die Lage des steirischen Untertanenstandes seit Beginn der neueren Zeit bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts", der Habilitationsvortrag befasste sich mit der „Revision des landesfürstlichen Eigengutes durch Ottokar von Böhmen" durch die ersten erhaltenen Urbare des steirischen Kammergutes17. Fünf Jahre später konnte Meli daher berechtigt hoffen, als engster Schüler zum Nachfolger seines 1902 verstorbenen Lehrers Franz Rrones auf die Lehrkanzel für Österreichische Geschichte berufen zu werden - doch endete das Berufungsverfahren zugunsten des Wiener Stadthistorikers Karl Uhlirz (1854—1914)18, und dies, obwohl mit Eduard Richter (1847-1905) eine Kapazität ersten Ranges für Meli eingetreten war. Im von Richter herausgegebenen „Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer" hatte Meli den Steiermark-Teil übernommen, dessen Bearbeitung er aber nun, gekränkt, zurücklegte; seine Vorarbeiten übergab er Hans Pirchegger (1875-1973), der den Atlas weiterführte19. Mit einem Schreiben an das Dekanat der Philosophischen Fakultät scheint Meli sogar auf die Venia legendi für Österreichische Geschichte verzichtet zu haben: Die Gründe, welche mich hiezu bewogen, liegen in den Vorgängen bei der Besetzung der Lehrkanzel für österreichische Geschichte nach Hofrat von Krones20. Immerhin erhielt Meli 1905 den Titel eines „außerordentlichen Universitätsprofessors". Über einen Mangel an Ehrenämtern und Funktionen im wissenschaftlichen Bereich konnte Meli sich indes nicht beklagen. 1898 berief ihn die Historische Landeskommission für Steiermark zum Mitglied auf Lebenszeit, von 1906 bis 1935 hatte Meli die Funktion des (geschäftsführenden) Sekretärs inne. Von 1903 bis 1906 und wieder von 1925 bis 1929 stand er dem Historischen Verein für Steiermark als Obmann vor und redigierte in dieser Zeit jeweils auch die vom Verein herausgegebene „Steirische Zeitschrift für Geschichte" bzw. „Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark". Der „Akademische Richard-Wagner-Verein in Graz" ernannte ihn 1908 zu seinem „Ehrengaste", im selben Jahr erhielt er auch das Ritterkreuz I. Klasse des königlich-württembergischen Friedrichordens. Der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen und der Geschichtsverein für Kärnten ernannten Meli 1912 zu ihrem jeweiligen Ehrenmitglied. Schon im Jahr 1900 zum Konservator der k. k. Centrai-Kommission für Denkmalpflege bestellt, erhielt Meli 1913 als ordentliches Mitglied des k. k. Archivrates für fünf Jahre den Archivschutz in den steiri17 Die Habilitationsschrift erschien 1896 in Weimar im Druck. StLA, A. Meli, Sch. 17, H. 591. 18 Hans Pirchegger schreibt in seinen Lebenserinnerungen: Der [Uhlirz] war wissenschaftlich zweifellos Meli weitaus überlegen, als Monumentist und bester Kenner der deutschen Stadtgeschichte, aber von der Geschichte Innerösterreichs hatte er keine Ahnung. Die Wiener waren froh, ihn losgeworden zu sein, denn er war wegen seiner bissigen schonungslosen Kritiken nicht beliebt. StLA, A. Pirchegger Hans, NL K. 12, H. 208. 19

OBERSTEINER, Pirchegger, Meli (wie Anm. 3) 90. - Über die wissenschaftliche Exaktheit Mells äußerte sich Pirchegger in seinen Lebenserinnerungen eher kritisch. 20 StLA, A. Meli, Sch. 2, H. 21. Konzept eines Briefes an das Dekanat.

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sehen Bezirken Bruck an der Mur, Deutschlandsberg, Graz-Umgebung, Gröbming, Judenburg, Leoben, Liezen, Murau, Mürzzuschlag, Voitsberg und Stadt Graz sowie für die autonomen Archivalien in ganz Steiermark übertragen. Die Konservatoren hatten darauf hinzuwirken, dass etwaige Übelstände in der Verwahrung und Verwaltung von Archivalien abgestellt werden und dass die Schriftdenkmale vor Vernichtung, Beschädigung undjeder Gefährdung vor Verschleppung, Verkaufan Unberufene oder in das Ausland bewahrt bleiben. 1913 verlieh ihm der Kaiser auch das Ritterkreuz des Franz-Joseph-Ordens, schon 1907 hatte Meli das Ritterkreuz I. Klasse des königlichwürttembergischen Friedrich-Ordens erhalten. Daneben war Meli noch Mitglied des Arbeitsausschusses für das österreichische Volkslied. 1911 hatte er nicht nur die Organisation der Tagung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine und des Deutschen Archivtages in Graz zu besorgen, sondern auch die Schriftleitung der qualitätvollen und umfangreichen Festschrift aus Anlass des hundertjährigen Bestandes des 1811 gegründeten Landesmuseums Joanneum. In diesem Band konnte er einen ansehnlichen Teil auch einem Rückblick auf die Ordnungs- und Aufbauleistungen im Landesarchiv während der ersten Jahre seines eigenen Direktorates widmen21. Nach dem Tod Uhlirz' 1914 entbrannte die Nachfolgediskussion über die Lehrkanzel aufs Neue, was in Meli die Erinnerung an die Enttäuschung von 1902 wachrief und ihn zu einem Schreiben an Johann Loserth (1846-1936), den Doyen der österreichischen Protestantismusforschung, veranlasste: In allerdings üblicher aber trotzdem wenig taktvoller Weise wird bereits jetzt in beteiligtem und nicht beteiligtem Kreise über die Nachfolgeschaft Prof Uhlirz' verhandelt und gesprochen. Daß dabei auch mein Name erwähnt wurde, ist wenig zu verwundern, als ich mit dem Verblichenen das gleiche Fach als Privatdozent seit dem Jahre 1897 an der Grazer Universität vortrage. [...] Um nicht, wie nach dem Tod meines Lehrers Franz von Krones in die beschämende Lage zu kommen, hören zu müssen, dass man bei der Frage nach der Besetzung der Lehrkanzel für österreichische Geschichte von vorneherein von meiner Person absehe, was zur Folge hat, dass mein Name nicht einmal honoris causa kurz erwähnt wurde, bitte ich selbst, meine Wenigkeit gar nicht in Diskussion zu stecken, und ich ermächtige Dich als künftiges Mitglied der Kommission von dieser meiner Erklärung Gebrauch zu machen. Die Kränkung, die mir damals erfuhr, kostete mich zwei Jahre von Arbeitskraft und Arbeitslust. Diese Zeit möchte ich nicht noch einmal durchleben [.. .]22. In Schreiben wie diesen schimmern doch die von Hafner in seinem Nachruf ins Treffen geführte „Gerechtigkeitsliebe" Mells und seine „gelegentlich ins Gegenteil umschlagende Empfindlichkeit" durch23. Der ihm vom Kultusministerium zugebilligte bloße Titel eines „ordentlichen Professors" (1915) war in Mells Augen wohl keine ausreichende Entschädigung. Das Grazer Ordinariat für Österreichische Geschichte erhielt Raimund Friedrich Kaindl (1866-1930). 21 Das steiermärkische Landesmuseum Joanneum und seine Sammlungen. Mit Zustimmung des steiermärkischen Landes-Ausschusses zur 100jährigen Gründungsfeier des Joanneums (Graz 1911). 22 StLA, A. Meli, Seh. 2, H. 21. 23

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Wenige Monate nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges bestätigte das Kriegsministerium im November 1914 Meli dessen frühere Charge eines Leutnants der k. k. Landwehr im Verhältnis außer Dienst. Während ein Großteil der damals an den Universitäten und Archiven wirkenden führenden Historiker unabkömmlich oder bereits an Jahren zu sehr vorgerückt waren, als dass sie noch zur Armee einberufen worden wären24, meldete sich Meli freiwillig zur Dienstleistung und wurde zunächst als Verwalter des Vereins-Reservespitals Graz-Universität eingeteilt, ehe er zwischen März 1915 und Jänner 1916 als Inspektionsoffizier im Vereins-Rekonvaleszentenhaus Gösting-Gesundbrunn bei Graz diente. Die dortige ärztliche Leitung und die Mannschaft dankten dem bereits zum Oberleutnant beforderten Meli anlässlich seiner Versetzung 1916 für seine weit über das Mass hinausgehende Pflichttreue und Fürsorge [...]. Wir haben Sie schweren Herzens scheiden gesehen, nachdem Herr Oberleutnant als Offizier und Mensch so voll und ganz Ihren Platz ausgefällt haben25. In der Folge fungierte Meli von Februar 1916 bis September 1918 als Inspektionsoffizier des VereinsRekonvaleszentenhauses im obersteirischen Schladming, wo er nebenbei auch die militärische Leitung der Firma „Erzhütte" innehatte. 1917 wurde er mit dem Goldenen Verdienstkreuz mit der Krone am Bande der Tapferkeitsmedaille ausgezeichnet. Eine dem Historiker und vor allem Archivar adäquatere Aufgabe erhielt Meli, als er im Oktober 1918 dem Heeresgruppenkommando Feldmarschall von Boroevic als „Sachverständiger im Archivfache" für die militärischen Operationen in Venetien zugeteilt war. Meli war seitens des Innenministeriums als besonders qualificiert namhaft gemacht worden. Gemäß Instruktion sollte Meli von den beiden Standorten Udine und Moggio aus die Sicherung undfachgemäße Konservierung der im italienischen Okkupationsgebiete befindlichen zahlreichen, wertvollen Archivalien durchfuhren. Dabei durfte er sich zu sämtlichen bewohnten und unbewohnten Häusern ziviler Natur Zutritt verschaffen. Oswald Redlich (1858-1944), damals provisorischer Direktor des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, der Meli offenbar vorgeschlagen hatte und mit ihm von Seiten des k. k. Archivrates brieflichen Kontakt hielt, dankte Mitte Oktober 1918 dem nunmehrigen Hauptmann für seine aufopferungsvolle Tätigkeit, klagte allerdings: Ihre Mitteilungen zeigen so recht das wenig erfreuliche Bild unserer ganzen Wirtschaft, all der unausrottbaren Indolenz und Schwerfälligkeit, die leider auch ein Weltkrieg nicht geändert hat. [...] Allerdings muß ich Ihnen ja zugeben, dass eine Archivaktion im Sinne des Archivrates und in unserem Sinne kaum mehr in vollem Maße durchfährbar sein wird. Wie werden sich überhaupt jetzt die Dinge gestalten, nach der neuesten Entwicklung der Dinge, nachdem die Räumungsfrage wirklich akut werden wird-(welch tragisches Geschick!). Ich möchte allerdings glauben, dass auch im Räumungsfalle der Archivschutz nicht überflüssig ist, im Gegenteile wohl gerade während einer Räumung, dieja ein paar Monate dauern kann, der Schutz der Archive 24

RAMHARDTER, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1 ) 183f. Heinrich von Srbik andererseits kämpfte an der Italienfront und wurde Hauptmann, Raimund Friedrich Kaindl, 1918 Prorektor der Universität Czernowitz (Cernivci, Cernäuji) und nach Wien geflohen, leitete einen Fürsorgeausschuss für Kriegsflüchtlinge, siehe ebd. 185. 25 StLA, A. Meli, Sch. 4, H. 77.

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notwendig fortgesetzt werden muß26. Die Zuweisung Mells an eine parallel errichtete Kunstschutztruppe kritisierte Redlich heftig: Die Regierungen der Mittelmächte haben mittlerweile einer Räumung der besetzten feindlichen Gebiete im Prinzip zugestimmt. Wird dieser Entschluss zur Tat, worüber die allernächste Zeit Klarheit schaffen muss, dann wird eine Schutztätigkeit von unserer Seite in diesen Gebieten bald gegenstandslos werden. Diese Voraussage traf wenige Tage später bereits zu; am 31. Oktober 1918 meldete sich Hauptmann Meli aus Chiusaforte, da Archivschutzaktion gegenstandslos, ab und reiste zu seinem vorigen Dienstort Schladming zurück. Als Angehöriger des deutschen Volkes bitte ich, meinen Übertritt zur bewaffneten Macht des Staates zu genehmigen, suchte Meli am 3. November 1918 beim Bevollmächtigten des deutschösterreichischen Staatsrates am Militärkommando in Graz an27. Am selben Tag hielt er in Schladming eine Ansprache an die ihm unterstellten Soldaten: Kameraden! Soldaten! Die Nationalversammlung hat am 31. Oktober die Regierung übernommen. Der Staat Deutschösterreich ist entstanden. Die neue Staatsfarbe ist rot-weiss-rot. Die Regierung will sofort Frieden schliessen, um dem deutschösterreichischen Volke, unserer Heimat und damit dem neuen Staate den langersehnten Frieden zu geben. Sie will Euch, Eure Lieben, Euer Heim und Euer Vermögen schützen. Ihr alle seid vollberechtigte Staatsbürger geworden. [...] Verhindert als freie Staatsbürger Plünderungen und Gewalttätigkeiten. [...]/« meine Hand, in die Hand Eures Kameraden und Vorgesetzten, werdet Ihrjetzt das Gelöbnis ablegen, treu zu den von der Volksregierung beschlossenen Gesetzen zu stehen, und dass Ihr entschlossen seid, die Schutzwehr Eurer Mitbürger in den kommenden schweren Zeiten zu sein. Der freie Staat Deutschösterreich, er lebe hoch!n Als Zivilbeamter und Direktor des Steiermärkischen Landesarchivs suchte Meli in jenen Tagen, als die Monarchie unterging und die Republik Deutschösterreich entstand, um Versetzung in den Ruhestand an und begründete dies mit einem Lungenemphysem und beginnender Arteriosklerose. Für diesen Schritt war möglicherweise aber auch mitbestimmend, dass offenbar schon 1918/19 eine Zusammenlegung des 1868 gegründeten „Landesarchivs" als Archiv der autonomen Landesverwaltung mit dem erst 1905 eingerichteten „Landesregierungsarchiv" als der landesfurstlich-staatlichen „Schwester" ins Auge gefasst wurde, wie ein Brief Hafners an Meli von August 1919 nahelegt. Dabei sprach sich Meli 1919 in einer „Denkschrift über die Vereinigung des Steiermärkischen Landesarchives und des Statthaltereiarchives zu einem Steiermärkischen Zentrallandesarchive" für eine solche Maßnahme aus, sie schien ihm als genügend gerechtfertigt, wo doch die Scheidung von landesfürstlicher und autonomer Verwaltung\...] im neuen Deutschösterreichischen Staate aufgehoben sei29. Meli beantragte, bei einer nach entsprechender Verfassungs- und Verwaltungsreform 26 27 28 29

Ebd. Ebd., Sch. 1, H. 7. Ebd., Sch. 4, H. 76. Das Heft ist von Meli selbst mit „Verfassungsumkehr 1918" betitelt. Ebd., Sch. 19, Nr. 104, fol. 2. - Die für den Stand des österreichischen Archivwesens in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts interessante Denkschrift harrt noch einer archivwissenschaftlichen Bearbeitung.

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stattfindenden Zusammenlegung einen der beiden ranghöchsten Beamten der beiden Archive z u m Direktor des Zentrallandesarchivs zu ernennen 30 . Hafner hingegen riet Meli in diesem Brief - neben der Erörterung der Möglichkeiten v o n Tabakschmuggels für den täglichen Genuss - z u r Beibehaltung der beiden Archive in getrennter Form, nicht zuletzt auch aufgrund von Rangfragen, da Staatsarchivar Ignaz Nößlböck ( 1 8 8 1 1945) v o m Landesregierungsarchiv wohl den höheren Rang und somit die Leitung des neuen Gesamtarchives beansprucht hätte 31 . A u c h Mells Freund, der Geograf Robert Sieger ( 1 8 6 4 - 1 9 2 6 ) , wandte sich im November 1918 an den Archivdirektor, da ihm Meli geschrieben hatte, er fühle sich krank und w o l l e seine Funktion zurücklegen. Hoffentlich erholst Du Dich bald, bekommst einen ausgiebigen Urlaub und übernimmst dann wieder mit fester Hand die Zügel. Ein Rücktritt wäre ein großer Verlust und würde auch Dich selbst bald reuen. In unserem Alter - Meli war damals 53 Jahre, Sieger selbst 54 Jahre alt - ist man noch nicht reif zum Pensionarius, und wenn Du auch die Muße zu fruchtbarer und Dich befriedigender Arbeit verwenden würdest, das Gefühl, in einem Hause bloß Gast und Kritiker sein zu dürfen, wo man der Herr, der Anreger und Schöpfer gewesen ist, wäre gerade für einen Tatmenschen wie Dich niederdrückend32. Tatsächlich sollte die 30 Ebd., fol.46. 31 StLA, A. Meli, Sch. 1, H. 3, Brief vom 12.08.1919. - Hafner weiter: Die materielle Lage meiner Familie, der traurige Zustand unseres Staates und die Vernichtung der wirklichen Demokratie durch Juden, Sozi und den Eigennutz sovieler innerer und äußerer Feinde des Staates drückt mich tiefer runter als das unselige „Stahlbad", das uns vor einem Lustrum verordnet wurde und das allerdings zunächst Schuld an all dem Elend ist. Hafner sollte den Akademischen Historikerverein später in nationalsozialistischem Geiste umformen, weshalb es zu einer Entfremdung mit Meli kam. - Im Nachlass Mells findet sich der undatierte Entwurf zu einer Erklärung gegenüber den Archivbediensteten: Innere und äußere Gründe haben mich bewogen, beim Steierm. Landesrate um meine Versetzung in den dauernden Ruhestand zu bitten. 31 Jahre meines Lebens habe ich dem Ausbau des steiermärkischen Archivwesens gewidmet und war bemüht, diesen Zweig öffentlicher Verwaltung und wissenschaftlicher Betätigung nach beiden Richtungen zu heben und zu fördern. Meine eigentliche Aufgabe, die Schöpfung Josefs von Zahn auszubauen, glaube ich gelöst zu haben. Die Vereinigung der beiden grossen Archive des Landes Steiermark dürfte in absehbarer Zeit erfolgen, und meine Wünsche für die Zukunft erstrecken sich nicht allein auf unser Landesarchiv, das im Jahre 1919 das fünfzigste Jahr seines Bestandes zählen darf, sondern auch auf das neue Institut, das Archiv des Landes Steiermark [...]. 32 Ebd., Sch. 6,H. 384. Brief Siegers vom 26.11.1918. Sieger war seit 1901 ao. Professor für Geografie an der Universität Wien, 1905 kurz Ordinarius, weil er wenige Wochen nach seiner Ernennung nach Graz berufen worden war. An der dortigen Universität war er 1913 Dekan, 1925/26 Rektor. 1919 verfasste er die Denkschrift des Akademischen Senates der Universität Graz, das die Zugehörigkeit der Untersteiermark zu Deutschösterreich befürwortete. Sieger war auch Sachverständiger bei der österreichischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in St. Germain en Laye. So schrieb er am 12.06.1919 aus Graz an Meli: Wenn ich nicht früher doch noch zu Renner berufen werde, so fahre ich in etwa 8 Tagen selbst nach Oberösterreich, von wo ich ja auch Anschluss nach Paris finde. Nur muss ich dann allerlei mitnehmen, was ich sonst hier ließe. (Seine Familie hatte sich nach Oberösterreich begeben.) Nach Siegers Tod wollte der Deutsche Schulverein Südmark eine „Robert Sieger Stiftung" ins Leben rufen. Am 21.11.1918 hatte Sieger an Meli geschrieben: Einer meiner jungen Freunde aus dem Unterland, der dort Archivalien aufgefunden hat und sie dem LA zuwenden könnte, fragte mich, ob diese etwa mit den Südslawen geteilt und die untersteirischen Akten ausgeliefert werden sollten. Dann täte er es nicht. Aber er fasst die Lage so auf - er kommt eben

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Vereinigung der beiden Archive erst 1927 beschlossen und im Jahre 1932 umgesetzt werden, wobei der damalige Leiter des vormaligen Landesarchivs, Max Doblinger (1873-1965), zum neuen Direktor ernannt wurde. Doch kam der Abschied vom Landesarchiv für Meli viel früher als er ahnte oder es selbst zu beeinflussen versucht hatte. Das bundesstaatliche Abbaugesetz aus den unmittelbaren Nachkriegsjahren, demzufolge in der Regel der Dienstälteste und der zuletzt in den Dienst eines Amtes getretene aus dem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis auszuscheiden hatten, traf auch Meli, der 1913 ad personam in die sechste Rangsklasse und 1921 mit dem Titel „Hofrat" noch in die fünfte Rangsklasse befördert worden war. Seit 1920 war Meli im Übrigen in der Gewerkschaft der öffentlich Bediensteten tätig und fungierte auch als Ausschussmitglied im Verein der Landesbeamten Steiermarks. Am 24. Jänner 1923 erhielt er telefonisch von der Landesamtsdirektion Nachricht von der bevorstehenden Versetzung in den Ruhestand mit Beginn des folgenden Monats Februar, und im betreffenden Dekret vom 12. Februar zeigte sich die Landesregierung dessen bewusst, mit dieser Verfügung einen Beamten getroffen zu haben, welcher mit seltener Pflichttreue und äußerster Opferwilligkeit seinem Amte vorstand und zu den tüchtigsten und angesehensten Beamten des Landes Steiermark zählte, den sie mit dem allergrößten Bedauern aus dem Amte scheiden sah33. Erst nach der Amtsübergabe an seinen Nachfolger Doblinger ließ die Landesregierung bei Meli jedoch anfragen, ob er nicht gewillt sei, ehrenamtlich weiterhin die Leitung des Landesarchives zu versehen - ein Ansinnen, das Meli postwendend als zu spät gekommen und gegenüber dem neuen Leiter des Hauses unkollegial zurückwies, nicht ohne auch den Vorwurf zu erheben, dass die Abbaukommission vor ihrer Entscheidung sich nicht einmal, wie anderswo, durch einen Besuch in der Dienststelle von den tatsächlichen Verhältnissen ein Bild gemacht hatte34. So orientierte sich Mells Blick vom Landesdienst weg in Richtung seiner akademischen Laufbahn. Dies bedeutete jedoch nicht, dass er auch die anderen neben dem Direktorat des Landesarchives innegehabten Funktionen für die Pflege von Geschichte und Kultur der Steiermark aufgegeben oder keine neuen mehr übernommen hätte. Meli fand zunächst ein Tätigkeitsfeld als Obmann des Historischen Vereines (19251928), 1927 berief ihn die Landesregierung in das Kuratorium des 1811 gegründeten Landesmuseums Joanneum - aus dem „Joanneumsarchiv" war immerhin später das aus Jugoslawien - dass die übernommenen Akten nicht nur der Benützung entzogen, sondern wahrscheinlich verschleudert oder aus Hass verdorben würden. Jedenfalls ist die Gefahr der Zerreißung einheitlicher Bestände so groß, dass ich meine, der Vorstand des LA müsste recht bald zur Stelle sein und alles mögliche vorkehren, eventuell seine Fachkollegen von der Universität mobilisieren usw. Landeshauptmann ist ja Kaan, der im Grazer Joanneum nur eine Last und Quelle von Ausgaben sieht. Da muss man wohl bald vorbeugen [...]. 33 Ebd., Sch. 1,H. 1. 34 Ebd., Sch. 1, H. 1. - Jahre später behauptete der zuständige Personallandesrat Hiebler offenbar, Meli habe 1923 der Landesregierung „alles hingeworfen". Meli seinerseits legte in einem Brief an Prof. Bienerth die Angelegenheit aktenmäßig fundiert klar und wies darauf hin, dass ihn Hiebler nicht einmal vorgelassen habe, als er die Entlassung eines weiteren Archivbeamten, des schwer kriegsversehrten Dr. Viktor Theiss, verhindern habe wollen.

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Landesarchiv hervorgegangen und als Geschäftsführender Sekretär leitete er bis 1935 die Historische Landeskommission für Steiermark. 1928 wählte die Akademie der Wissenschaften in Wien Meli zum korrespondierenden Mitglied der philosophisch-historischen Klasse. Soeben komme ich von der Wahlsitzung der Akademie der Wissenschaften heim, schrieb Heinrich von Srbik (1878-1951), selbst von 1912 bis 1922 in Graz Ordinarius für Neuere und Wirtschaftsgeschichte, im Juni 1928 an Meli: Ein kleiner Teil der Dankesschuld, die wir Alle Ihnen für die früchtereiche wissenschaftliche Arbeit von Jahrzehnten schulden, ist nun abgestattet. Die Grazer, ehemalige und heutige, haben sehr zusammengehalten und zum Siege des Antrags, den Dopsch gestellt hat, wesentlich beigetragen35. Im November 1929 ernannte Srbik, nunmehr als Bundesminister für Kultus und Unterricht, den Privatdozenten und Titular-Ordinarius zum unbesoldeten außerordentlichen Professor für Verfassungsund Verwaltungsgeschichte an der Universität Graz. Die Weichen waren somit gestellt. Als Kaindl, dem Meli 1914 unterlegen war, 1930 starb, war die Ernennung des bereits 66jährigen Meli im März 1931 zu dessen Nachfolger gleichsam eine Formsache36. Seit Oktober 1934 fungierte Meli als Senator der Universität Graz, im Dezember jenes Jahres erfolgte seine Wahl in die ständige Kunstkommission des Akademischen Senates. Im Studienjahr 1934/35 gehörte Meli dem Disziplinarsenat für Universitätsbeamte als Mitglied an. Mit Erreichen der Altersgrenze von 70 Jahren musste Meli seiner Emeritierung zustimmen, ein „Ehrenjahr" erhielt er nicht zugebilligt. Die Lehrkanzel übernahm der Benediktinerpater Hugo Hantsch (1895-1972) 37 .

35 StLA, A. Meli, Sch. 51, H . 851; Richard M E I S T E R , Geschichte der Akademie der Wissenschaften in Wien 1847-1947 (Wien 1947) 280. 36 Die Universität Graz hatte in ihrem Dreiervorschlag Meli an die erste, Hans Pirchegger an die zweite und den Wiener Privatdozenten Josef Karl Mayr an die dritte Stelle gereiht. Pirchegger schrieb noch Jahre später frustriert in seinen Lebenserinnerungen, dass die Professoren Kurt Käser (allgemeine und Wirtschaftsgeschichte), Adolf Zauner (Romanist und angeblich ein Keglerfreund Mells) sowie der Philosoph Carl Siegel in der Berufungskommission den Ausschlag gegeben hätten. Damit hatte er die Mehrheit der Stimmen, zumal [Wilhelm] Erben nicht gerade der glücklichste Anwalt für mich war [...]. Man erwartete allgemein, dass Meli mit seinen 65 Jahren mir den Platz überlassen werde, doch ich schrieb damals (18. August) in mein Tagebuch: „M. ist ungeheuer ehrgeizig und gönnt mir die Lehrkanzel nicht." StLA, A. Pirchegger Hans, NL K. 12, H. 242, Lebenserinnerungen 19261955. 37 Pirchegger bringt in seinen Lebenserinnerungen eine angebliche Äußerung Mells: Dieser Saupfaff wird nicht nach Graz kommen, solange Meli etwas zu reden hat! Ebd. - Hantsch wurde von den Nationalsozialisten nach 1938 abgesetzt und kam ins Konzentrationslager Buchenwald, die Lehrkanzel für Österreichische Geschichte hatten bis 1945 Hans Pirchegger und Mathilde Uhlirz inne. 1945 kehrte Hantsch als Ordinarius nach Graz zurück, wo er bis 1947 blieb. Nachfolger Hantsch' wurde 1947 Hermann Wiesflecker, siehe Hermann W I E S F L E C K E R , Die Grazer Lehrkanzel und Abteilung für Österreichische Geschichte seit ihrer Wiedererrichtung 1945. Kritische Erinnerungen, in: Geschichtsforschung in Graz. FS zum 125-Jahr-Jubiläum des Instituts für Geschichte der KarlFranzens-Universität Graz, hg. v. Herwig E B N E R , Horst HASELSTEINER, Ingeborg W I E S F L E C K E R FRIEDHUBER (Graz 1990) 443-453; Peter TEIBENBACHER, Das Historische Seminar und das Jahr 1938, in: Die Universität und 1938, hg. v. Christian B R Ü N N E R , Helmut K O N R A D (Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek 11, Wien/Köln 1989) 95-103.

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Anlässlich seines 70. Geburtstages erhielt Meli 1935 vom Bundespräsidenten das Komturkreuz des österreichischen Verdienstordens verliehen. „Landeshauptmann Dr. Stepan hat an Hofrat Dr. Meli ein Schreiben gerichtet, in dem er im eigenen sowie im Namen des Landes Steiermark dem Jubilar die herzlichsten Glückwünsche aussprach und hiebei mit besonderer Dankbarkeit der großen Verdienste gedachte, die sich Hofrat Meli als Archivar für die Erhaltung und Sammlung steirischen Kulturgutes sowie durch seine literarische Tätigkeit erworben hat", schrieb die Tagespresse38. Die Karl-Franzens-Universität überreichte ihrem ehemaligen Professor und Senator am 17. Jänner 1937 in feierlichem Rahmen das Goldene Doktordiplom39, die Landeshauptstadt Graz ernannte Meli zu ihrem Ehrenbürger40. In jenen Jahren hatte bei Meli bereits Siechtum eingesetzt - er litt zunehmend an Urämie, einem Leberleiden und Arterienverkalkung. 1936 legte er die Kuratorenstelle des Joanneums zurück. Schon 1935 musste ein „Mell-Festabend" im Großgasthof Weitzer in Graz abgesagt werden, weil der Jubilar, dem der Historische Verein für Steiermark zum 70. Geburtstag eine Ehrengabe zugedachte, erkrankt war. Doch konnte er mit seinem Leiden auch die Nicht-Teilnahme am 60-Jahr-Jubiläum des Historikervereins begründen, die ihm die politische Entwicklung dieses „seines" Vereines in Richtung Nationalsozialismus vergällte, worüber noch zu berichten sein wird. Als ihm der „Verein deutscher Historiker" im Juni 1940 ein von „Vereinsfuhrer" Hafner mit „Heil Hitler!" geschlossenes Glückwunschschreiben zum 75. Geburtstag übermittelte, vermochte Meli schon nicht mehr schriftlich zu antworten. Über Burkhard Seuffert, seinen Nachfolger als Sekretär der Historischen Landeskommission, ließ er Hafner seinen Dank ausrichten. Herr Hofrat Meli ist recht schlecht, aber er lächelte, als ich von Ihnen sprach und erzählte. Vielleicht können Sie ihn nun besuchen. Ich möchte so gerne, dass er freundlich von Allem scheidet. Er sieht einen oft finster an, erkennt nicht immer. Vielleicht haben Sie Glück. Ich wünsche es Ihnen und ihm herzlich, schrieb Seuffert an Hafner nach einem Besuch bei Meli im Oktober 194041. Wenige Wochen darauf, am 14. Dezember 1940, starb der Landesarchivdirektor und Universitätsprofessor in seiner Wohnung im Haus Mozartgasse 8 in Graz42.

38 Orden und Zeitungsausschnitt in StLA, A. Meli, Sch. 47, H. 821. Originalschreiben Stepans vom 07.06.1935 an Meli ebd., Sch. 50, H. 850. 39 Pirchegger verlieh seinem offensichtlichen Neid über Mells Ehrungen in seinen Lebenserinnerungen Ausdruck. Das Ehrendoktorat habe Meli nur erlangt, nachdem er Max Rintelen [Rektor 1932/32] jahrelang um den Bart gegangen war. [...] Andere, die ähnlich taten, hatte er stets „ Mastdarmtouristen " genannt. [...] So hatte er das Ziel seines Ehrgeizes erreicht. Doch die Lehrkanzel zahlte drauf und 1935 erhielt sie der Melker Benediktiner Hantsch. Hätte ich sie 1930 bekommen, so wäre sie bis 1945 in meiner Hand geblieben. StLA, A. Pirchegger Hans, NL K. 12, H. 242. 40 Im wenig mondänen Grazer Stadtbezirk Straßgang, erst 1939 „Groß-Graz" eingemeindet, trägt ein Sträßchen seit 1951 den Namen „Anton-Mell-Weg". 41 StLA, A. Verein deutscher Historiker, K. 6, H. 1756. 42 Der spitzzüngige Pirchegger in seinen Lebenserinnerungen: Meli hatte sich stets offen als Atheist bekannt, auf dem Sterbelager ließ er sich doch den Theologieprofessor [Andreas] Posch kommen. StLA, A. Pirchegger Hans, NL K. 12, H. 242.

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Archiv, Forschung und Lehre Meine Heimat ist das Land Steiermark, mein Geburtsort Graz, Mein heimatliches Empfinden - man könnte es vaterländisches nennen - ließ mich zunächst auf die geschichtliche Vergangenheit Steiermarks mein Hauptaugenmerk werfen und so wurde ich auch in wissenschaftlicher Arbeit ein „ homo Styriacus ", meinte der 69jährige Meli, Rückschau haltend, im Juni 1934 in einer Ansprache vor dem Historischen Verein für Steiermark43. In der Tat blieb das Oeuvre Mells auf die Steiermark und die innerösterreichische Ländergruppe beschränkt, erreichte aber eine auf breiter Quellenbasis beruhende Tiefe, die künftigen Forschergenerationen erst den Weg wies. Krones hatte das Interesse des Studenten Meli gegen Ende von dessen Studium auf die österreichische Geschichte gelenkt. Mangelnder finanzieller Rückhalt ließ ein auswärtiges Studium für Meli nicht in Griffweite kommen, auch nicht eine Absolvierung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung in Wien. Seine hilfswissenschaftliche Ausbildung erhielt Meli beim Gründer und damaligen Direktor des Steiermärkischen Landesarchivs Zahn, der ihm auch die Aufnahme in dieses landesgeschichtliche Forschungsinstitut ebnete. Ferdinand Bischoff (1826-1915), Arnold Luschin von Ebengreuth (1841-1932), Franz Ilwof (1831-1916), Johann Loserth, Hermann Ignaz Bidermann (1831-1892) und Eduard Richter nannte Meli später immer wieder als die - nach Krones und Zahn - seine Laufbahn und seine Forschungsschwerpunkte prägenden Persönlichkeiten aus dem historischen Fach. Zugute kam Meli besonders seine umfangreiche Ordnungs- und Erschließungsarbeit im Landesarchiv, durch die er sich zwanglos eine seltene Quellenkenntnis aneignete. Die Handschriftenreihe (gedruckter Katalog 1898), zahlreiche Sonderarchive, weite Teile der Allgemeinen Urkundenreihe und besonders das Archiv der steirischen Landstände mit seinem bis ins 12. Jahrhundert zurückreichenden Urkundenbestand tragen bis heute Mells Signaturen. Das Landschaftliche Archiv verdankt ihm das grundlegende Ordnungskonzept und das erste gedruckte Inventar überhaupt44. Desgleichen inventarisierte er die mehrere tausend Bände umfassende Reihe der von den Landes-, Kreis- und Bezirksgerichten dem Landesarchiv übergebenen Urkundenbücher der grundherrschaftlichen Gerichte der Steiermark vor 1848, die Akten und Fassionen der Theresianischen Steuerrektifikation von 1748/55 sowie die Protokolle zum Franziszeischen Kataster, die für das Erbland Steiermark in den Jahren 1820 bis 1825 aufgenommen wurden, erweitert durch die ersten flächendeckenden Riedkarten mit genau vermessenen Bau- und Grundparzellen. In der Nachfolge Zahns 1905 zum Archivdirektor ernannt, ließ sich Meli die weitere Übernahme, Erschließung und Bereitstellung des umfangreichen Quellenmaterials am Steiermärkischen Landesarchiv besonders angelegen sein. Durch seine „Öffentlichkeitsarbeit" und - gegenüber der Ära Zahns - die von ihm vergleichswei43 StLA, A. Meli, Sch. 56, H. 892. 44 Das Archiv der steirischen Stände im steiermärkischen Landesarchive. Bericht über die vorläufige Ordnung desselben (Veröff. der Historischen Landes-Kommission für Steiermark, Graz 1905).

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se liberal gestalteten Benützungsbedingungen für amtliche und private Nutzer der Archivbestände trug Meli wesentlich dazu bei, dass das Landesarchiv sich binnen weniger Jahre in der österreichisch-ungarischen Monarchie an die Spitze der vergleichbaren Institutionen auf Länderebene setzte. Die Zahl der Gäste im Lesesaal und der amtlichen Aktenanforderungen stieg in der Zeit Mells, wie er selbst nicht ohne Genugtuung schrieb, auf das Zwanzigfache an45. Auf diese Weise erfuhr auch die landesgeschichtliche Forschung wesentliche Impulse. In Zeiten, als die mühselige und zeitraubende Abschrift die übliche Möglichkeit war, historisches Quellenmaterial zu exzerpieren, ließ Meli - großteils auf eigene Kosten - im Landesarchiv eine moderne Lichtbildstelle einrichten. Mit besonderem Stolz verwies der Archivdirektor auf die von ihm ins Leben gerufene und mit einem ausführlichen Begleiter versehene Archivalienausstellung, die die Zimelien des Landesarchives sowie für die Landesgeschichte und deren Erforschung wichtige Dokumente in eigens angefertigten Schaukästen der interessierten Öffentlichkeit präsentierte46. Zahlreiche Herrschafts-, (Adels-)Familien- und Gemeindearchive holte Meli in das Landesarchiv, das auf diese Weise zur Zentralstelle steirischer Privatarchive wurde wie kein anderes Institut in Österreich41. Die strukturierte Bereisung der steirischen Gemeinden zur Erfassung der in den Gemeindestuben noch vorhandenen Urkunden und Akten war ein Werk Mells. Durch diese Aktivitäten sowie durch eine völlige innere Neuorganisation wurde Meli zum Schöpfer eines „neuen" Steiermärkischen Landesarchives. Der 1892 gegründeten Historischen Landeskommission für Steiermark sowie dem 1850 gegründeten Historischen Verein für Steiermark stellte Meli im Landesarchiv Räumlichkeiten zur Verfügung. Ordnungs- und Erschließungsarbeit bietet Archivaren bis heute vielfache und aus zeitlichen Gründen oft gar nicht nutzbare Möglichkeit zur Vertiefung in historische Themen und zur Publikation von Forschungsergebnissen. Schon für Meli war dies nicht anders. 121 im Druck erschienene Werke aus der Feder Mells weist das seinem Nachruf beigegebene Literaturverzeichnis aus; sie gliedern sich in die Themenbereiche Archivwesen, Historische Geografie, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Deutsche Rechtsgeschichte, Geschichte des Untertanenstandes, Wirtschaftsgeschichte, Kulturgeschichte (Deutsch-) Österreichs, Biografíen und Familiengeschichte sowie Beiträge zur Geschichte einzelner Gemeinden und Regionen. Mit seiner Dissertation über die historische und territoriale Entwicklung Krains im Mittelalter hatte sich Meli für die Mitarbeit am Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer empfohlen. Das dabei notwendige intensive Quellenstudium brachte Einzelstudien hervor, darunter „Der comitatus Liupoldi und dessen Auftheilung in die Landgerichte des 14. Jahrhunderts", erschienen 1900 in Band 21 der MIÖG. In der „Pädagogischen Zeitschrift" (1901) äußerte der Rezensent Johann Schmut den 45 StLA, A. Meli, Sch. 1, H. 1. Rechenschaftsbericht von Mells eigener Hand, wohl aus dem Jahre 1914. 46 Katalog der Archivalien-Ausstellung des Steiermärkischen Landesarchives (Graz 1911). Die Ausstellung bestand zum Teil noch bis in die 1980er Jahre. 47 StLA, A. Meli, Sch. 1, H. 1. Rechenschaftsbericht von 1914.

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Wunsch, „dass auch die übrigen Theile dieses wissenschaftlich höchst bedeutsamen Werkes in gleich trefflicher Weise ausgeführt werden"48. Starken Widerhall in Fachkreisen und darüber hinaus fanden Mells Studien über das untertänige Bauerntum und die Verbesserung dessen sozialer Lage unter Maria Theresia und Joseph II. Mells Habilitationsschrift „Die Lage des steirischen Untertanenstandes seit Beginn der neueren Zeit bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts", erschienen 1896 in Weimar, würdigte der bedeutende Rechtshistoriker Luschin von Ebengreuth als „Vorstudie für ein grösseres Werk"49, fand aber durchaus auch Anlass zur Kritik: „Wird man den vorliegenden Leistungen das Zeugnis nicht versagen dürfen, dass der Verfasser keine Mühe gescheut hat, um des ebenso spröden als umfangreichen Quellenstoffs Herr zu werden, so bleiben dem ungeachtet manche Wünsche für die ausständige Arbeit übrig." Die historischen Rechtsverhältnisse zwischen Grundherrschaften und bäuerlichen Untertanen verlangten seiner Meinung nach „ein gewisses Mass juristischer Fachbildung", und die Forschungen müssten „viel eingehender sein [...] als das, was der Verfasser bisher geliefert hat. Ausserdem wird er auch die Quellen aus dem gegnerischen Lager berücksichtigen müssen." Die Folgearbeiten zu diesem Thema, besonders „Die Anfange der Bauernbefreiung in Steiermark unter Maria Theresia und Josef II." (Graz 1901) fanden zum Teil hymnische Aufnahme: „Ein Buch für Politiker." „Allen Anforderungen, die der moderne Mensch an den modernen Historiker stellt, entspricht ein neu erschienenes Buch [...]." „Das Mell'sche Werkchen kann als Handbuch für Politiker ganz besonders empfohlen werden. Auch heute wieder befindet sich der Bauernstand in einer ernsten Krisis [...] Durch Verhetzung wird am allerwenigsten erreicht. [...] Neue Gedanken entsprießen ernster Betrachtung und fuhren vielleicht noch in diesem Jahrhundert zur Vollendung der Bauernbefreiung in Steiermark" hießen die Schlagworte eines ungenannten Rezensenten im Grazer Tagblatt50. Albert Starzer empfahl das Werk den Lesern der Wiener Abendpost sowie der Historischen Zeitschrift. Zwei Rezensenten hoben Mells Detailreichtum in quellenmäßiger Hinsicht hervor: Theodor Ludwig (Straßburg) unterstrich die „äusserst fleissige Arbeit", in der Meli die bäuerliche Verfassungsgeschichte „in allen Einzelheiten aufs gewissenhafteste" schildere, ohne dem Leser aber den „eigentlichen wirtschaftlichen Sinn der alten Einrichtungen" bewusst machen zu können51. Carl Grünberg (Wien), der das Thema der Bauernbefreiung für Böhmen behandelt hatte, bedauerte, dass Mells Studie mit dem Tode Josefs II. 1790 endete und nicht „durch die bewährte Kraft" des Autors bis zum Revolutionsjahr 1848 weitergeführt worden war. Die urkundlichen Quellen hätte Grünberg zudem lieber in einem eigenen Materialteil versammelt gesehen, und nicht im Haupttext, der durch die Originalzitate leide. Dennoch anerkannte der Rezensent, dass die Schilderung des Themas durch die Quellennähe „an Erdgeruch" gewänne.

48 Ebd., Sch. 3, H. 71. 49 Rezension in: Deutsche Zs. für Geschichtswissenschaft 7/8 (1897/98). StLA, A. Meli, Sch. 3, H. 71. 50 Grazes Tagblatt vom 24.10.1901. 51 Historische Vierteljahrsschrift (2. Heft, 1902). StLA, A. Meli, Sch. 3, H. 71.

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Ein nach wie vor hervorragendes Werk zur steirischen (Rechts-)Geschichte stellen die „Steirischen Gerichtsbeschreibungen" dar, die Meli gemeinsam mit Pirchegger 1914 im Druck vorlegte. Das Buch stellt nach ausführlichen Quellenstudien sämtliche damals erreichbaren Grenzbeschreibungen von Burgfrieden und Landgerichten zusammen. „Nicht nur dem zünftigen Geschichtsforscher, nein, auch dem seine Heimat und ihre Vergangenheit liebenden Laien wird so das Studium dieses Bandes, der gründliche Forscherarbeit und übersichtliche Darstellung eint, zu größtem Nutzen und Genuß, denn A. Meli und H. Pirchegger haben hier ein monumentales steiermärkisches Werk geschaffen", hieß es in einer zeitgenössischen Rezension im Grazer Tagblatt52. Mells Hauptwerk, gleichsam die Summe seiner reichen Arbeit mit den Quellen „seines" Landesarchivs, stellt jedoch der „Grundriß der Verfassungsund Verwaltungsgeschichte des Landes Steiermark" dar. Von der Historischen Landeskommission für Steiermark herausgegeben, erschien das 791 eng bedruckte Seiten umfassende Opus in Lieferungen beim Grazer Verlag Leuschner & Lubensky. Die herrschende Wirtschaftskrise machte das Aufbringen zusätzlicher Mittel für die Drucklegung im Wege der Subskription notwendig. Kein Geringerer als der greise Loserth warb im Februar 1928 für das Werk, das „Lehrer, Professoren an Mittel- und Hochschulen, Studierende und alle Geschichtsfreunde" willkommen heißen würden und das auch „in Landes- und anderen Ämtern und Anstalten [...] gute Dienste" tun werde53. Als „Krönung der Lebensarbeit des Verfassers und als erste zusammenfassende, wissenschaftlich brauchbare Darstellung" würdigte der Rechtshistoriker Fritz Byloff in seiner Rezension das „Standardwerk", und setzte fort: „In der Behandlung des Stoffes lässt sich eine erfreuliche Erscheinung beobachten, die in der österreichischen Geschichtsschreibung nicht immer mit solcher Deutlichkeit hervortritt. Wir meinen damit das Bestreben, die Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Steiermarks als einen wesensgleichen Teil der Geschichte Deutschlands erscheinen zu lassen. Die Steiermark als Kolonisationsgebiet Bayerns ist immer - sei es politisch oder geistig - mit Deutschland untrennbar vereint gewesen"54. Die von Meli an der Grazer Universität angebotenen Lehrveranstaltungen spiegeln ebenfalls seinen Ansatz wider, die Geschichte der Steiermark und Österreichs als Teil der deutschen Geschichte zu sehen. Der „Verfassungsgeschichte der deutschen Territorien im Mittelalter" widmete er sich u. a. im Wintersemester 1926/27, im Jahr darauf stellte er „Die soziale und politische Schichtung der Bevölkerung in den deutschen Territorien" in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Von 1928 bis 1930 las er „Geschichte der Verfassung und Verwaltung der österreichischen Alpenländer" in Mittelalter und Neuzeit, dazwischen schob er einstündige Kollegs ein zu den Themen „Abriß der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark", „Der Landtag in den deutschen Territorien", „Stände und Landesvertretung in den deutschen Territorien"55. 52 53 54 55

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

Sch. Sch. Sch. Sch.

3, 3, 3, 2,

H. H. H. H.

71. 71. Einladung zur Subskription in der Tagespost vom 24.02.1928. 71. Rezension im Grazer Tagblatt vom 28.09.1929. 19.

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Nach seiner Ernennung zum Professor für österreichische Geschichte 1930 hatte Meli in jedem Semester mindestens fünf Wochenstunden zu lesen und mindestens in jedem dritten Semester ein Collegium publicum über Spezialpartien seines Faches abzuhalten56. Seine Lehrtätigkeit umfasste in einem viersemestrigen Zyklus das Gesamtgebiet der österreichischen Reichsgeschichte von 976 bis 1867, in erster Linie bestimmt für Kandidaten des Lehrfaches „Geschichte" an Mittelschulen. Dazu hielt Meli als Mitdirektor des Historischen Seminars, Abteilung II, eine zweistündige Vorlesung zur „Einführung in das Studium der Geschichte" und bot weiters die Lehrveranstaltungen „Die mittelalterlichen österreichischen Geschichtsquellen", „Quellen zur Geschichte des öffentlichen Rechtes, der Verfassung und Verwaltung in der altösterreichischen Ländergruppe" sowie über den „Ständestaat" und über „Die Geschichte des österreichischen Archivwesens" an. Seinem Heimatland widmete er im Jahre 1935 den Sommerhochschulkurs „Von der Mark und dem Herzogtum Steier", ergänzt durch Führungen zu ausgewählten historisch interessanten Plätzen in der Stadt Graz sowie im Land. Pirchegger freilich fand rückblickend am Vortragsstil Mells bei dessen Vorlesungen keinen Gefallen. Ich wohnte einmal einer Vorlesung Mells bei. Der Stoff war mir geläufig, doch ich verstand schwer, denn es wimmelte von Fachausdrücken der Rechtsund Wirtschaftsgeschichte und von Fremdwörtern. Ich glaube, kein Hörer hat etwas davon behalten. Eine trockene, wirkliche „ Vorlesung " ohne jeden Schwungf7. Andererseits verweist auch Pirchegger auf Mells Schlagfertigkeit und pointierte Art der Formulierung im persönlichen Gespräch. Das Verhältnis zwischen dem bereits „an die Schwelle des Greisenalters Gelangte(n)" Ordinarius für Österreichische Geschichte zu seinen Studenten war Mitte der 1930er Jahre, folgt man Hafners Resümee im Nachruf, ein schwieriges. Die Hörerinnen und Hörer jener Jahre, „erfüllt von den Idealen einer neuen Zeit, durchaus politisch ausgerichtet und interessiert", seien Mells traditionalistischem Standpunkt ferne gestanden. „Der überwiegende Teil dieser studierenden Jugend lehnte gefühlsmäßig den Entwicklungsgang dieser altösterreichischen Geschichte ab, soweit er politisch war, der Lehrer dieses Fachgebietes seinerseits war [...] infolge seiner steten Abwendung von dynamischer Geschichtsauffassung und -betrachtung nicht imstande, seine Studenten mit einem wärmeren Interesse für seinen Gegenstand zu erfüllen. Das Ergebnis dieser besonderen Umstände konnte Lehrer und Schüler unmöglich befriedigen. Sie lebten gewissermaßen nebeneinander hin, nicht miteinander "58. An diese seine Hörerschaft richtete Meli im März 1935 anlässlich seiner Emeritierung persönlich gehaltene Abschiedsworte, in denen er, nicht ohne Selbstironie, Bilanz über seine Lehrtätigkeit zog: Seit 38 Jahren gehöre er dem Lehrkörper der Grazer Universität an, und ich erinnere mich immer noch gerne der Zeiten, wo ich freudig und stolz bewegt war, wenn im Hörsaal IV wenigstens in jeder Bankreihe ein Hörer oder eine Hörerin sich einfand. Die Wandlungen, die sich bei meinen [von] mir selbst gewollten Änderungen in meinem Arbeitsgebiete sich vollzo56 Ebd., Sch. 2, H. 20. 57 StLA, A. Pirchegger Hans, NL K. 12, H. 208. Lebenserinnerungen. 5 8 H A F N E R , Meli (wie Anm. 3 ) 1 1 1 .

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gen hatten, übten eine begreifliche Rückwirkung aus auf meinen Vorlesungsbetrieb: die Erweiterung meiner Vorlesung über das Gebiet heimatlicher Geschichte hinaus auf jenes der Allgemeinen österreichischen Geschichte und schließlich auf jenes der österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Diese Weiterungen entsprachen nicht allein meiner besonderen Vorliebe - ich möchte beinahe meinen, meiner Begabung - für die deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte und damit einem Teil derselben, der Geschichte des Rechtes, der Staatsbildung und der Verwaltung der altösterreichischen Erbländer; Wissensgebiete, in die einzudringen und die zu beherrschen die LAPr-Ordnung59 vom Jahre 1928 von den Kandidaten als Detail-Prüfungsfach forderte [...]. In dem 4 Semester umfassenden Vorlesezyklus versuchte ich, die Hörer der österreichischen Geschichte mit der Geschichte des Rechtes, der Staatsentwicklung und mitjener der altösterreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte bis zum Jahre 1867 vertraut zu machen. Und ich kann es mit Freude feststellen, dass gerade diesem Gegenstande die Hörerschaft lebhaftes Interesse entgegenbrachte, wenn sie auch anfangs den rechtsgeschichtlichen Belangen begreiflicherweisefremd gegenüberstanden. Im steten Zusammenhang mit den Vorlesungen wurden im österreichischen Seminar III Themen aus dem Gebiete der österreichischen Reichsgeschichte behandelt. Über Wunsch und Anregung meines leider zu früh verstorbenen Kollegen W. Erben schuf ich in meiner Vorlesung „Einführung in das Studium der Geschichte" eine Art Proseminar, und mitjener über österreichische mittelalterliche Quellenkunde glaubte ich, eine Lücke in den Vorlesungen über Geschichte ausfüllen zu müssen. Und Meli schloss: Bewahren auch Sie mir ein freundliches Gedenken an gemeinsame Arbeit und Studiengemeinschaft!60

Der „Homo styriacus" und das „deutsche Vaterland" Geboren in Graz als Sohn eines aus Deutschböhmen stammenden Offiziers in den Jahren des Ringens, ja des „deutschen Bürgerkrieges" zwischen Österreich und Preußen um die Führungsrolle in den nationalistisch aufgeheizten Territorien Mitteleuropas, gehörte offenbar auch Meli einer Generation von Gelehrten an, die politisch konservativ bis liberal gesinnt, großdeutsch und habsburgtreu eingestellt waren, sich also „zu einem habsburgischen Österreich unter politisch, kultureller und wirtschaftlicher Führung der österreichischen Deutschen" bekannten61. In diese Richtung zielt schon der Trinkspruch, den der damals 22jährige Meli als damaliger Vorstand des Historikerklubs der Festversammlung anlässlich der Dezennalfeier 1887 zurief: Hochhalten das deutsche Vaterland, hochhalten die Wissenschaft, der wir angehören, hochhalten unsere Lehrer und Freunde, sei der Wahlspruch des HC. Möge er diese Ziele stets im Auge behalten, möge er wachsen, blühen und gedeihen62. 59 Lehramtsprüfungsordnung. 60 StLA, A. Meli, Sch. 56, H. 892. Ansprache vom 29.03.1935. 6 1 RAMHARDTER, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1 ) 1 7 0 . 62 StLA, A. Meli, Sch. 51, H. 853. Rede am 10.05.1887.

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Abb. 6: Anton Meli

Wenn auch keine Tagebücher oder selbstreflektierende Aufzeichnungen Mells erhalten geblieben sind - jedenfalls nicht Eingang in seinen Nachlass fanden so dürfte doch aus den Briefen seines Freundes Sieger eine gewisse Geistesverwandtschaft sprechen. So etwa im November 1918, als der als Sachverständiger für Geografie (und somit für die künftigen Staatsgrenzen) von österreichischer Seite zu den Friedensverhandlungen in Saint-Germain-en-Laye delegierte Sieger an Meli schrieb: „ Wir!" Man mag dem alten Österreich noch so nachtrauern und die Zerreissung des natürlichen und geschichtlichen Zusammenhangsfiireine Störung in der Entwicklung, auch des deutschen Volkes und der deutschen Weltgeltung ansehen, darüber bleibt uns doch eine ungemischte Lustempfindung, dass dieses „wir"jetzt einen anderen Sinn hat, dass unser Volk nicht mehr zusammengeworfen wird mit all den Halb- und Ganzbarbaren, die uns nun freilich die Gurgel zuhalten, dass „ wir " wieder das deutsche Volk als Ganzes bedeutet. Wenn es dabei bleibt. Und eine Woche später: Auch ist es gut, wenn man in einer Zeit, wie sie uns bevorsteht undßr lange hinaus auf uns schwer lasten wird, nicht zu vielfreie Stunden zum Nachdenken über die Gegenwart hat. Der Historiker kann in die Vergangenheitflüchten, der Geograph zu den festen natürlichen Grundlagen vergangenen und künftigen Geschehens, wenn die Tagespolitiker wieder einmal meinen, Welt und Menschen aus der grauen Theorie heraus gründlichst umgestalten zu können. Ich genieße dabei die Schadenfreude, wie rasch unsere Ideologen und Pazifisten den Zusammenbruch der Wahnvorstellungen erfahren müssen, mit denen sie sich und so viele andere getäuscht haben: Wilsons ideale Selbstlosigkeit, das Entgegenkommen 63 Ebd., Sch. 6, H. 384. Brief Siegers vom 19.11.1918.

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der Entente gegen ein „ verjüngtes Deutschland", die großartige Besserung unserer Ernahrungs- und Wirtschaftsverhältnisse, die gegenseitige Duldung und Versöhnlichkeit der vormals k. u. k. Völker, die Einigkeit Deutschösterreichs, der glatte Anschluss ans demokratische Deutschland, die Beseitigung der Kapitalistenherrschaft usw. usw., alles erweist sich sofort als Hirngespinst. Uberall die Tendenz des Zerfallens in kleine, ohnmächtige, aufeinander eifersüchtige politische Gebilde!64 Als in der Katastrophenstimmung nach dem Zusammenbruch der österreichischungarischen Doppelmonarchie das Modell einer Donauföderation gescheitert war und allgemein an der Lebensfähigkeit eines zwar selbständigen, aber vergleichsweise kleinen Rest-Österreich gezweifelt wurde, „entschieden sich alle österreichischen Universitäts-Historiker, teils erleichtert, teils zögernd für eine nationale Politik, der viele schon während des Krieges zunehmend stärkeres Augenmerk geschenkt hatten"65. Zu diesen Historikern zählte auch Meli, der wie viele seiner Zeitgenossen und alle seiner Fachkollegen auch das Heil Österreichs in einem Anschluss an Deutschland suchte66. Für Meli selbst war dies zusätzlich ein Rückgriff auf seine frühen wissenschaftlichen Werke, in denen er sich mit der „Ostmark" und der „Mark Steier" im Mittelalter befasst hatte. Sieger war es auch, der Meli zur Mitarbeit bei der Begründung eines „Rates für geistige Arbeit" gewinnen wollte. In anderen österreichischen Universitätsstädten gab es nach dem Krieg ebenfalls „Überlegungen, wie man die Wissenschaft enger mit dem Leben verbinden könne", die Wissenschaftler wollten an der Gestaltung der neuen Gesellschaft mitwirken67. In Graz bildeten Paul Puntschart und Rudolf Schüßler, die Rektoren der Karl-Franzens-Universität bzw. der Technischen Hochschule, die Spitzen eines Proponentenkomitees, das Ende 1918, in dieser Zeit des Uberganges und der Gärungen, in der aus dem Boden der Heimat heraus die Grundpfeiler desjungen Volksstaates Deutschösterreich neu aufgebaut werden sollen, zur Gründungsveranstaltung einlud. Zielgruppe waren die tätigen Kräfte der geistigen Arbeiterschaft Steiermarks, die, ohne auf das Gebiet der Tagespolitik übergreifen zu wollen, zur freiwilligen und selbstlosen Mitarbeit am sittlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Wiederaufbau des Staates herangezogen werden sollten68. Sieger warb um Meli, denn kritische Mitarbeit tut not, dann überwinde ich mein Unbehagen an vielem, was im vorstehenden steht und fehlt und was in endlosen Sitzungen geredet und verschwiegen wurde, und bringe vielleicht sogar das Zeit- und Geduldopfer, mich in den endgültigen Ausschuss wählen zu lassen. Dir mache ich dort aber sofort Platz. Nachdem Sieger 1926 gestorben war, widmete Meli seinem Freund zwei Jahre später eine ausfuhrliche Würdigung in der ZHVSt, in der er die Verdienste des 64 Ebd. BriefSiegers vom 26.11.1918. 6 5 D A C H S , Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1 ) 1 1 . - Zur Anschlussidee im Nachkriegs-Österreich siehe ebd. 70f. 66 Ebd. 55. 67 Ebd. 9. 68 StLA, A. Meli, Sch. 6, H. 384. Flugblatt vom 18.12.(1918?) mit handschriftlicher Zusatzmitteilung Robert Siegers.

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Verstorbenen in der „politischen Geographie", im „Schutz des Volksbodens" sowie bei der „Vertiefung der Anschlußidee" pries69. Von eigentlicher politischer Tätigkeit Mells ist nicht viel bekannt. In den 1920er Jahren unterzeichnete er anlässlich der Grazer Gemeinderatswahl - gemeinsam mit seinem Amtsnachfolger Doblinger - Aufrufe des „Nationalen Wirtschaftsblocks", der Zusammenfassung der Großdeutschen Volkspartei, des Landbundes fiir Steiermark und der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei Österreichs (Schulz)™. Der Aufruf wandte sich besonders an die „Alt- und Jungakademiker", wobei der Nationale Wirtschaftsblock „einen starken politischen Schutz für die völkische akademische Jugend, die einmal eine bessere deutsche Zukunft erkämpfen soll", verankert wissen wollte. „Auch wenn Ihr überzeugt seid, dass das deutsche Schicksal durch keine Parlamentsbeschlüsse, durch kein demokratisches System endgültig gewendet werden kann, so dürft Ihr doch nicht grollenden Herzens auf eine heroische Lösung warten und das Tagewerk der politischen Machtbildung kampflos Euren internationalen Gegnern überlassen", hieß es in dem gedruckten Plakat, und weiter: „Wir dürfen keine nationalen Sondergruppen wählen, die nichts erreichen, keine Mandate erzielen und nur die nationale Stoßkraft schwächen wie die Hitler-Gruppe. Diese ist keine junge Bewegung; seit zehn Jahren will sie eine nationale Opposition schaffen, ist jedoch trotz guten Willens die Erfolge für das gemeinsame Hochziel schuldig geblieben und hat durch ihre Sondergänge [...] wiederholt größtes nationales Unheil angestiftet." Mitte der 1920er Jahre rezipierte Meli den programmatischen Aufsatz von Rudolf Kötzschke mit dem Titel „Nationalgeschichte und Landesgeschichte".71 In seinem Nachlass findet sich nicht nur ein ausführliches Exzerpt dieser Studie, Textbestandteile verwendete Meli in jenen Jahren auch bei Ansprachen im Rahmen der „Wanderfahrten" sowie 1925 bei der Festrede anlässlich des 75-Jahr-Jubiläums des Historischen Vereines für Steiermark72. Vom Ersten Weltkrieg als Erleben von ungeheurer Wucht, das Geist und Gemüt aufs tiefste erschütterte, ist hier die Rede, vom Zwang für die wissenschaftlichen Führer sowie das ganze Volk, sich mit geschichtlichen Fragen auseinanderzusetzen, und vom Nationsbegriff jener Zeit, der auf Blutmischung und gleicher Sprache, auf staatlichem Zusammenhang, auf Schicksalsgemeinschaft und Willenseinheit beruhe. Es gelte das Heimatgefühl zu stärken, und gerade deshalb hätten Landes- und Ortsgeschichte nach dem Krieg einen starken Aufschwung genommen. In eigens hiefür gehaltenen Vorträgen für die steirische Lehrerschaft, die Meli am Landesarchiv veranstaltete, betonte er schon 1919 die Notwendigkeit einer Verankerung des Heimatgedankens, der Heimatliebe und des Bodenständigen im Unterricht ab der Volksschule. Die Lehrpersonen rief Meli, gleichsam als Verbindung zwischen Wissenschaft und Volk, zum historischen „Anschauungsunterricht" auf und dazu, die Geschichte der steirischen Regionen und Gemeinden zu erforschen73. 69 70 71 72 73

ZHVSt 24 (1928) 125-130, hier 128-129. StLA, A. Meli, Sch. 4, H. 82. In: Thüringisch-sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 13 (1923/24) 2-22. StLA, A. Meli, Sch. 15, Nr. 60a. Ebd., Sch. 14, Nr. 52. „Lehrerschaftund heimatgeschichtliche Forschung. Die Mitarbeit des Landlehrers

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Als im März 1928 die „Freunde in Steiermark und im Burgenland der Akademie zur wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums" diese 1925 von österreichischer Seite u. a. durch Redlich, Dopsch und Julius von Schlosser mitbegründete „Deutsche Akademie" unterstützten, hielt Meli als Vorsitzender des engeren vorbereitenden Ausschusses bei der Festversammlung in Anwesenheit von Landeshauptmann Professor Hans Paul, Fürstbischof Dr. Ferdinand Pawlikowski, des Bürgermeisters der Landeshauptstadt Graz Hans Muchitsch (ein Sozialdemokrat) und weiterer Repräsentanten der höchsten Behörden von Land und Bund die Begrüßungsrede. Er zitierte den Wahlspruch der Deutschen Akademie „Aus der Nation, durch die Nation, mit der Nation, für die Nation" sowie aus den Statuten, in denen davon die Rede war, dass sich ein innerlich froh gemutes undfreies deutsches Volkstum [... ] seinen Platz an der Sonne in zäher, zielbewusster geistiger Arbeit aufs Neue erringen will, das Geltung unter den Völkern erstrebt in jeder Beziehung und das die dem deutschen Genius gebührende Teilnahme an der Gestaltung der Weltsich wieder erkämpfen will. Der seitens der Akademie angestrebte erstrebte Wiederaufstieg des Deutschtums, die Hebung des Nationalbewusstseins des Volkes, die Erziehung zu vertieftem Staatsbewusstsein getragen von dem Gefühl der Zusammengehörigkeit alljener, welche deutsch fühlen, denken und handeln, dürfen auch zu den Idealen Mells gezählt werden. Keine deutsche Landschaft dürfe - so Meli - hier zurückbleiben, so auch nicht unsere so unvergänglich schöne, durch ein ungerechtes Friedenstraktat so arg zerrissene und verstümmelte Steiermark, formulierte er und würdigte die Bedeutung der grünen Mark für das Deutschtum in der Terminologie des 16. und 17. Jahrhunderts als des Grenzlandes „Deutscher Nation", am Hofzaun des Deutschen Reiches gelegen. Im bereits zwei Jahre zuvor verstorbenen Sieger sah er den eifrigsten Mitarbeiter und Mitkämpfer in Behauptung deutscher Erde und deutscher Ehre14. Bei dieser Festversammlung traten Repräsentanten der verschiedensten politischen Lager - Christlichsoziale, Sozialdemokraten und Nationale - der Deutschen Akademie bei, einte der Einsatz für die „deutsche Nation" doch fast alle damaligen Parteien Österreichs über ihre sonstigen ideologischen Grenzen hinweg75. 1929 formulierte Meli im Nachwort zu seinem „Grundriß" denn auch den eingangs zitierten Satz mit der Hoffnung auf einen Anschluss Österreichs an Deutschland, der ein halbes Jahr vor seinem Tod, zu seinem 75. Geburtstag im Juni 1940, in die Grazer Tagespresse Eingang finden sollte:„Daß die Ostmark wieder ein Bestandteil des Deutschen Reiches werde, sprach Anton Meli 1929 an Heimatgeschichte und Heimatkunde" (Vortragsmanuskript). Dazu auch „Landesgeschichte und die historischen Landesvereine", ein undatierter Vortrag in StLA, A. Meli, Sch. 15, Nr. 60a. Im Historischen Verein für Steiermark und dessen Publikationen erblickte Meli ein Vehikel für die regionale Geschichtsforschung und die Vermittlung ihrer Ergebnisse. Vgl. auch Gerhard PFERSCHY, Aufgaben des Historikers. Theoretische Ansätze der ersten Autorengeneration des Historischen Vereines für Steiermark, in: Miniaturen zur steirischen Landesgeschichte und Archivwissenschaft (VeröfT. des StLA 35, Graz 2006) 117-123, hier 122. 74 StLA, A. Meli, Sch. 3, H. 65. - DACHS, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1), 56. In ähnlicher Weise betroffen von der Abtrennung Südtirols zeigten sich Hans von Voltelini, Hermann Wopfner und Otto S t o l z , s i e h e DACHS 5 0 - 5 3 .

75 Ebd. 11.

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in seinem großen Grundriß der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus"76. Aus Anlass von Mells 60. Geburtstag hatte die Grazer Tagespost 1925 eine von Pirchegger verfasste Würdigung gebracht - umseitig findet sich unter den Tagesneuigkeiten der Kurzbericht über eine Anschlusskundgebung des Gemeinderates der Stadt Leibnitz77. Ganz offen strich Fritz Byloff als Rezensent des „Grundrisses" im Grazer Tagblatt die politische Anschauung Mells hinsichtlich eines „Anschlusses" heraus: „Solange aber das alte Österreich als Völkerstaat mit nichtdeutscher Mehrheit bestand, da war es nicht immer willkommen, sich dieser Gemeinsamkeit und der daraus zu schöpfenden Lehren zu erinnern. Es setzte damals eine Art partikularistischer Geschichtsschreibung ein; man versuchte, die österreichischen Alpenländer in eine geschichtliche Sonderstellung zu bringen und für sie eine eigentümliche Mission in Anspruch zu nehmen, die zur Schicksalsverbindung mit den Fremdvölkern in Süden und Osten zu weisen schien. Meli hat mit dieser Methode und Auffassung hoffentlich endgültig gebrochen. In jedem einzelnen Kapitel weist er auf die Zusammenhänge mit Deutschland hin und betont die sich aus der Volksgemeinschaft notwendig ergebende Gleichheit der Rechtsidee und ihrer Fortentwicklung. Damit ist ein gutes Stück geistiger Anschlußarbeit geleistet worden, wofür dem Verfasser besonderer Dank deshalb gebührt, weil sie sich ohne jede Tendenz auf dem Boden wissenschaftlich festgestellter Tatsachen bewegt"78. „Meiner Heimat, dem Lande Steiermark gewidmet", hatte Meli seinem Werk als Dedikation voran gestellt und im Vorwort auf einen Erlass des Bundesministeriums für Unterricht aus dem Jahre 1924 hingewiesen, demzufolge „bei der Behandlung der österreichischen Geschichte in den Mittelschulen an dem Grundsatze festgehalten werden müsse, daß die Geschichte Österreichs als ein Teil der Geschichte Deutschlands zu betrachten" sei79. Den plakativen Begriff von der „Zerreißung der Steiermark", geprägt vom Rechtshistoriker Luschin von Ebengreuth80, übernahm Meli als Titel für das letzte Kapitel seines „Grundrisses". Das „sogenannte Nationalitätsprinzip" und der „Wunsch der Siegerstaaten auf möglichste Schwächung der durch die Waffen allerdings nicht Besiegten" seien die Gründe für die Teilung der Steiermark zwischen Deutschösterreich und dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gewesen. Dies, obwohl der Landtag des Herzogtums Steiermark schon 1848 in seinem Beschluss über die „Grundrechte des steirischen Volkes" den „Steiermärkern deutschen oder slowenischen Stammes die Gleichstellung ihrer Nationalitäten und die Erledigung slowenischer Eingaben in der gleichen Sprache" zugesichert hatte. Dem „Austritt aus Deutschland" 1866 folgte für Österreich sodann im Weltkrieg die „völlige Sprengung 76 StLA, A. Meli, Sch. 4, H. 84a. Tagespost, 07.06.1940. 77 In der Proklamation der Leibnitzer hieß es, „daß das deutsch-österreichische Volk nur im Rahmen des großen deutschen Mutterlandes eine Bürgschaft für seine wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung finden kann". Der Völkerbund solle endlich seine Zustimmung zur Vereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reich geben. StLA, A. Meli, Sch. 1, H. 1. 78 StLA, A. Meli, Sch. 3, H. 71. 7 9 Anton M E L L , Grundriß der Verfassungs- und Verwaltungs-Geschichte der Steiermark (Graz 1 9 2 9 ) 6. 80

Arnold LUSCHIN-EBENGREUTH, Die Zerreißung der Steiermark. Zwei Denkschriften. Mit einer Karte (Graz 1921).

Anton Meli ( 1 8 6 5 - 1 9 4 0 )

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des Reichskörpers und die Aufteilung der in Stücke gerissenen alten, historischen, politischen Individualitäten an die Nachfolgestaaten"81. Mehrere Jahre lang arbeitete Meli in der Kreisleitung des Deutschen Schulvereins Südmark mit, trat jedoch im März 1928 aus diesem Gremium aus, nicht ohne vom Verein um seine weitere Unterstützung gebeten zu werden82. Das geeignetere Vehikel zum Schutz von deutscher Sprache als Ausdruck deutschen Volkstums an den Grenzen zum slawischen und ungarischen Sprachgebiet sah Meli nun wohl in der Deutschen Akademie, woraus sich vielleicht das zeitliche Zusammentreffen zwischen der oben genannten Festveranstaltung und Mells Austritt aus dem Schulverein im März 1928 erklären mag. Seinen ideologischen Platz, seine „politische Heimat" fand Meli später in der Vaterländischen Front (VF) des Ständestaates. Im März 1934 lehnte er auf Anfrage des Hauptdienststellenvertreters der VF für die Österreichischen Hochschulen, Sektionsrat Dr. Josef Musil in Wien, die Dienststellenorganisation für den Gesamtbereich der Philosophischen Fakultät der Universität Graz zu übernehmen, jedoch ab. Da er erst seit 1931 Mitglied des Professorenkollegiums war, seien die Beziehungen zur Kollegenschaft noch lose, zudem müsse er viel Zeit für die Lehraufträge aufwenden, schrieb er. Dienststellenorganisationsleiter wurde hierauf der in Berlin geborene Professor Heinrich Felix Schmid, der an den Lehrkörper der Universität den Aufruf verteilte, in die Vaterländische Front einzutreten, in dem es hieß: Wir stehen vor dem Neuaufbau unseres Staates. Veraltete und als unbrauchbar erwiesene Formen des Staatslebens werden beseitigt. Zum Heil unseres österreichisch-deutschen Stammes wird ein christlich-deutscher Staat auf berufsständischer Grundlage unter autoritärer Führung neugeschaffen. An der Durchfuhrung dieses Werkesfällt der österreichischen Professoren-, Lehrer- und Beamtenschaft ein wesentlicher Anteil zu. Alles für ein freies, unabhängiges, mit starker Hand geführtes, deutsches Österreich in brüderlicher Zusammenfassung des österreichischen Volkes. Der Dienststellenorganisation der Vaterländischen Front für die Philosophische Fakultät trat Meli jedoch selbstredend bei. Burkhard Seuffert, Sohn des Germanisten Bernhard Seuffert (1853-1938) und nach 1935 Geschäftsführender Sekretär der Historischen Landeskommission, widmete Meli zu dessen 70. Geburtstag 1935 die Broschüre „Rankes Schrift Die großen Mächte. Betrachtungen", in der er schrieb: „Die Staaten sind auf Prinzipien gegründet, die aus verschiedenen großen Entwicklungen hervorgegangen sind. In ihrem Aufkommen, ihrer Ausbildung liegt das große Ereignis der hundert Jahre, die der französischen Revolution vorhergingen: Seither kann aber wahre Politik nur mehr von einem großen nationalen Dasein getragen werden [.,.]." 83 Es waren dies aber auch die Jahre, in denen es zum Zerwürfnis mit dem Historikerverein kam, dem Meli seit 1884 angehörte und dessen Zentralfigur er fünf 81 MELL, Grundriß (wie Anm. 79) 673. 82 StLA, A. Mell, Sch. 6, H. 374. Schreiben der Kreisleitung des Deutschen Schulvereins Südmark vom 13.03.1928. 83 StLA, A. Mell, Sch. 4, H. 84a. Das Zitat auf S. 20 der genannten Broschüre.

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Jahrzehnte lang gewesen war. Als der Vorstand des Historikervereines zusehends nationalsozialistisches Gedankengut übernahm und buchstäblich zur Führungsriege wurde, konnte und wollte Meli, zwar nach wie vor großdeutsch gesinnt, nicht mitziehen. Vielleicht gehörte er - schriftliche Zeugnisse hiezu fehlen leider - auch zu jenen österreichischen Historikern, die in den 1930er Jahren einem „Anschluss" inzwischen skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden84. Seine Krankheit lieferte ihm jedenfalls so manchen Vorwand, nicht an Veranstaltungen des Altherrenverbandes teilnehmen zu müssen. Besonders die Vorgänge rund um die Feier des 60jährigen Vereinsjubiläums 1937 kränkten Meli zutiefst. Der Hauptversammlung im November 1936, die das folgende Jubiläumsjahr vorbereiten sollte, blieb Meli fern. Er stellte jedoch zur Tagesordnung fest, dass der heutige Deutsche Historikerverein sich doch in manchem von dem früheren Akademischen Verein deutscher Historiker an der Universität unterscheide, weshalb er auf einer Postkarte beantragte, wegen dieser unterbrochenen Tradition 1937 eben kein Stiftungsfest zu veranstalten85. Da sein Antrag jedoch einstimmig abgelehnt wurde, erklärte Meli, nunmehr per Visitenkarte, im Dezember 1936 seinen Austritt aus dem einstmals geliebten Verein. Vereinsobmann Hafner konnte Meli nur mühsam zu einer Wiederannäherung an den Verein bewegen86; das Ehrenmitglied blieb dem dennoch abgehaltenen Stiftungsfest erwartungsgemäß fern, gedachte aber am Festabend in Dankbarkeit jener Zeiten [...], als ich vor mehr als 50 Jahren dem A. H. C. beitreten durfte und von da ab ein treues Mitglied dieser akademischen Fachvereinigung auf dem Boden unserer Hochschule wurde*1. Meli hatte die ideologische Orientierung der Funktionäre „seines" Akademikervereines in Richtung Nationalsozialismus richtig eingeschätzt. Vom 13. Januar 1938 datiert die von Hafner „mit deutschem Gruß" gefertigte Einladung des Altherrenverbandes des Deutschen Historikervereines Graz zu einem Altherrenabend am 19. Januar, in dem besonders das Mitglied Professor Viktor von Geramb (1884-1958), Begründer des Steirischen Volkskundemuseums, eine „Einsprache" gegen die Aufmachung der „ Weihestunde" unseres 60. Bestandsfestes am 13. November 1937 und gegen die damaligen Ausführungen des Unterzeichneten erhoben hat**. Außerdem hatte sich für diesen Abend der volkspolitische Referent der Vaterländischen Front Steiermark, Prof. Dr. Armin Dadieu, als Gast angesagt, um über eine Reihe sowohl den Verein als solchen wie auch gewiß jeden einzelnen von uns interessierender Fragen seiner 84 DACHS, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 1) 87. Zu diesen Historikern gehörten etwa Hugo Hantsch und Oswald Redlich. 85 StLA, A. Verein deutscher Historiker, K. 2, H. 597. 86 Meli an Hafner: Ein hinterfetziger Störefried war ich nie, ebenso wenig ein Streber oder Allerweltsmann. Ebensowenig ein Poseur auf Gesinnungstüchtigkeit und Gelehrtentum. Widmungen, Diplome, Auszeichnungen habe ich immer als etwas Selbstverständliches hingenommen, aber nicht die tatsächliche Undankbarkeit meiner Mitmenschen und als ein solcher die einstimmige Ablehnung meines Antrages [...]. StLA, A. Verein deutscher Historiker, IC. 2, H. 643. Brief Mells vom 05.01.1937. 87 Ebd., K. 3, H. 877, Brief Mells an Hafner vom 28.10.1937. 88 Zum Verein deutscher Historiker in jener Zeit siehe CERWINKA, Akademischer Verein (wie Anm. 10) 101.

Anton Meli (1865-1940)

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wichtigen politischen Aufgabe Aufschluß zu geben89. Wenige Wochen später, nach dem am 13. März 1938 erfolgten „Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich, war ebendieser Armin Dadieu - seit 1932 Mitglied der NSDAP und im Untergrund für diese Bewegung agitierend - Gauhauptmann des „Reichsgaues Steiermark". Hafner, der als „Führer" des „Vereins deutscher Historiker" schon im Ständestaat nationalsozialistisches Gedankengut vertreten hatte, ist in der differenzierten politischen Beurteilung seines langjährigen Kollegen und Freundes Meli ein wohl unverdächtiger Zeuge, der keine Veranlassung gehabt hätte, eine ideologische Verwandtschaft mit Meli zu verschweigen. In seinem Nachruf nennt er Meli denn zunächst einmal einen „Kulturhistoriker im weitesten Sinne dieses Wortes", sofern die von ihm durch zahlreiche Veröffentlichungen und grundlegende Studien bereicherte Rechtsgeschichte als „Geschichte der Kultur eines Gebietes oder Volkes im eigentlichen Wesenskern" betrachtet werde90. Den Akteuren der Geschichte und deren Handlungsmotiven und somit der „politischen Geschichte" habe Meli sein Interesse niemals zugewandt, denn „er hatte für das dynamische Prinzip im geschichtlichen Leben nicht viel übrig", ebenso wenig wie für das „Partei ergreifen"91. Als „Atheist" - wie er sich selbst bezeichnet habe - sei Meli kein Mann der Extreme gewesen. „Er lehnte eben die im Marxismus vollendeten extremen Konsequenzen der liberalistischen Weltanschauung genau so ab wie die mit ihrer Gotteskindschaft prunkenden Anhänger jedes Glaubensbekenntnisses." Den politischen Fragen seiner Zeit sei Meli „aus dem Wege gegangen", politischen Versammlungen blieb er fern und „mischte sich [...] nie in die Tagespolitik, verlangte nie nach einem politischen Auftrag oder griff in die Publizistik über solche Dinge ein, hielt auch nicht viel von dem, was man gelegentlich als ,Professorenpolitik' zu bezeichnen pflegt"92. Dem maria-theresianischen und josephinischen Reformzeitalter galt Mells Sympathie, ja Hafner nennt ihn gar einen „letzten Josefiner", im Sinne eines Vertreters des josefinischen Idealbildes eines Wohlfahrtsstaates93. „Er war durchaus Mensch des 19. Jahrhunderts, das ist gewiß." Dass Meli die Instrumentalisierung „seines" geliebten Historikervereines für den Nationalsozialismus und das Platz greifende „Führungsprinzip" ablehnte, gestand Hafner ebenfalls offen ein94. In der Einschätzung einer nationalen Zugehörigkeit Österreichs, so Hafner, „dachte und fühlte" Meli „durchaus deutsch", kraft seiner Herkunft „mit dem Bewußtsein der 89 StLA, A. Meli, Sch. 4, H. 83. Der Einladung fügte Meli einen Zeitungsausschnitt vom 20.01.1938 bei, in dem über eine Rede des steirischen Landesleiters der Vaterländischen Front, Dr. Alfons Gorbach, berichtet wurde. Gorbach hatte darin ausdrücklich festgehalten, dass nationalsozialistisch Gesinnte auf keinen Fall Mitglied der VF sein könnten, da die VF einen Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich kompromisslos ablehnte. Der Begriff einer nationalen Opposition habe aus dem Wortschatze unserer innenpolitischen Auseinandersetzungen zu verschwinden. 90 HAFNER, Meli (wie Anm. 3) 108. 91 Ebd. 108-109. - Diese Grundeinstellung habe Meli andererseits auch Werke schaffen lassen, „deren Beurteilung weit weniger von einer .Konjunktur' abhängig sein wird, als das eine wenn auch erfolgreiche Arbeit auf dem Felde der politischen Geschichte voraussehen läßt", stellte Hafner nüchtern fest. 92 Ebd. 116-117. 93 Ebd. 117. 94 Ebd. 113.

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stolzen kulturellen Leistung der Deutschen des sudetischen Gebietes, der Ost- und Südmark"95. Dabei habe Meli, zu unrecht und „verkürzt" mitunter als,,Austriazist" und „Nurösterreicher" abqualifiziert, niemals das Deutschtum als Gesamtes aus dem Auge verloren, wovon allein schon sein Wirken in den deutschvölkischen Schutzvereinen und bei der Gründung einer Grazer Zweigstelle der „Deutschen Akademie" Zeugnis ablegte. Diesem Urteil kann am Ende des vorliegenden Versuches einer Annäherung an die Persönlichkeit Anton Mells nur beigepflichtet werden. Und so schließt sich in gewisser Weise doch der Kreis seines zeitbedingten glühenden Bekenntnisses zu einem „deutschen" und in seinem territorialen Umfang unversehrten steirischen Heimatland, wenn demselben Band der „Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark", der den Nachruf auf Anton Meli enthält, im Hinblick auf die Annexion der 1919 slowenisch gewordenen Untersteiermark durch deutsche Truppen im Jahre 1941 ein jubelnder Leitartikel vorangestellt ist mit dem Titel: „Die Heimkehr des Unterlandes."96

95 Ebd. 117. 96 ZH VSt 35 (1942), 3. Der betreffende Text stammt wohl aus der Feder des damaligen Vereinsobmannes und Schriftleiters der „Zeitschrift" Pirchegger.

Raimund Friedrich Kaindl (1866-1930) Geschichte und Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik von Alexander Pinwinkler

Abb. 7: Raimund Friedrich Kaindl

I. Einleitung Raimund Friedrich Kaindl wurde 1866 in Czernowitz (Cernivci, Cernäu(i), der Landeshauptstadt des Kronlands Bukowina, als Sohn eines Lehrers und Fabrikanten geboren. Kaindls Großvater väterlicherseits war aus Niederösterreich in die Bukowina zugezogen. Der Vater seiner Mutter, geb. Winkler, kam ursprünglich aus Frankfurt am Main. Obgleich von seinem Vater ursprünglich zum Rechtsanwalt bestimmt, folgte Kaindl seiner „heimatkundlichen" Neigung und studierte 1885-91 Germanistik, Geografie und Geschichte an der Universität seiner Heimatstadt. 1891-93 absolvierte er als außerordentliches Mitglied den 19. Kurs des IÖG in Wien, wo er zum Hilfswissenschaftler und Archivar ausgebildet wurde. Zu seinen Kurskollegen zählten etwa Josef Teige und Max Vancsa. 1892-96 arbeitete er als Lehrer, 1896-1901 als Professor an der Lehrerbildungsanstalt Czernowitz. 1893 habilitierte er sich mit der Studie „Beiträge zur älteren ungarischen Geschichte" an der Universität Czernowitz. Im selben Jahr 1893 heiratete er die aus der Pfalz stammende Ludmilla Kisslinger. Aus der Ehe

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ging die Tochter Lili hervor. 1901 wurde Kaindl zum außerordentlichen Professor und 1904 schließlich zum ordentlichen Professor ernannt. Im Studienjahr 1912/13 bekleidete er das Amt des Rektors der Universität Czernowitz. Von 1915 bis zu seinem Tod im Jahr 1930 wirkte Kaindl als Ordinarius für Österreichische Geschichte an der Universität Graz. Wer sich mit dem Leben und dem wissenschaftlichen Werk des Historikers und Volkskundlers Kaindl näher auseinandersetzt, wird rasch erkennen, dass dieser sich einer schematisierenden „Einordnung" in wissenschaftliche Denkrichtungen oder gar „Schulen" entzieht. Kaindl verfolgte eine konzeptionell spezifische Zugangsweise zu seinen Forschungsgegenständen, die er zwischen „Geschichte" und „Volkskunde" ansiedelte. Wie sein Weg als Geschichtswissenschaftler, der teils im Spannungsfeld zwischen „kleindeutschen" und „großdeutschen" Sichtweisen der deutschen (und österreichischen) Geschichte verlief, werde ich im folgenden darlegen1. Ich werde dabei erläutern, welche historiografischen Problemstellungen im Vordergrund von Kaindls Wirken standen, und welche methodischen Zugänge und Konzepte er entwickelte, um diese Probleme zu klären. Kaindl war ein Historiker, bei dem jeder Versuch scheitern muss, bei der Einordnung seines Handelns statische Grenzen zwischen „Wissenschaft" und „Politik" und zwischen „Geschichtswissenschaft" und benachbarten kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen zu ziehen. Diese grundlegende Ambivalenz bestimmte Kaindls sozialen Habitus als politisch aktiver Gelehrter2. Welche Einschätzungen finden sich zu Kaindl in der aktuellen wissenschaftsgeschichtlichen Literatur? Welche Aspekte seines publizistischen Wirkens erweisen sich dabei am ehesten als kontrovers? Kaindls wissenschaftliche Leistungen bei der historischen Erforschung des „Karpatendeutschtums", seine ausgeprägt deutschnationale Einstellung und der damit verknüpfte politisch-zweckgerichtete Grundzug seiner Arbeiten gelten übereinstimmend als hervorstechende Merkmale seines Wirkens. Ebenso wenig ist der Befund umstritten, dass Kaindl in der deutschsprachigen Geschichtsforschung seiner Zeit eine weniger beachtete Randposition einnahm. Das wird einerseits damit erklärt, dass er bereits vor dem Ersten Weltkrieg jene in Südosteuropa verstreuten Gruppen des, Auslandsdeutschtums" untersuchte, die zu dem Zeitpunkt in den „binnendeutschen" Geschichtswissenschaften kaum Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Andererseits manövrierte er sich mit seinen teils polemischen Angriffen gegen die „kleindeutsche" Richtung der Geschichtswissenschaft nach 1918 zunehmend ins wissenschaftliche Abseits3. 1 2

Werner Lausecker und Peter Melichar danke ich herzlich für ihre kritischen Kommentare zu dem vorliegenden Artikel. Zu den Verbindungen zwischen „Wissenschaft" und „Politik" vgl. allgemein Gangolf HÜBINGER, Gelehrte, Politik und Öffentlichkeit. Eine Intellektuellengeschichte (Göttingen 2006), sowie die Beiträge in dem Sammelband Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, hg. v. Stefan FISCH, Wilfried RUDLOFF (Schriftenreihe der Hochschule Speyer 168, Berlin 2 0 0 4 ) .

3

Nennenswerte Studien zu Kaindl sind: Alexander BLASE, Raimund Friedrich Kaindl (1866-1930). Leben und Werk (Veröff. des Osteuropa-Institutes München 16, Wiesbaden 1962) hier 63, der insgesamt den Anspruch erhebt, biografische und werkgeschichtliche Aspekte gleichermaßen zu be-

Raimund Friedrich Kaindl (1866-1930)

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Im Vergleich zu diesen Bewertungen Kaindls wird der empirische Gehalt von Zuschreibungen historiografischer „Innovation", die einige Autoren dem Czernowitzer Historiker zubilligen, weniger deutlich sichtbar. Dass Kaindl einer der wenigen Historiker in Österreich war, der seit den 1890er Jahren landesgeschichtliche Ansätze mit ethnografischen Feldforschungen verknüpfte, kann kaum bestritten werden. Nach Friedrich Gottas betrat Kaindl „Neuland" „sowohl in der Aufarbeitung der bis dahin noch kaum erforschten heimatlichen Geschichte und Landeskunde als auch in der Anwendung neuer methodischer Forschungsansätze". Kaindl suchte „Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte, Verwaltungs-, Rechts- und Kulturgeschichte" miteinander zu kombinieren4. Seine dreibändige „Geschichte des Karpatendeutschtums", die gemeinhin als sein „wissenschaftliches Hauptwerk" gilt5, steht in ihrer Spezifik bis heute einzig da6. Wer aus diesem Befund aber „innovatives" Potential im Sinne methodologischer Neuerungen ableitet7, wertet seine Studien damit in einer Weise, die so nicht unbedingt stichhaltig begründet ist. Denn dass ein Historiker etwa als erster bisher unbearbeitetes

rücksichtigen. Hauke FOCKO-FOOKEN, Raimund Friedrich Kaindl als Erforscher der Deutschen in den Karpatenländern und Repräsentant großdeutscher Geschichtsschreibung (Lüneburg 1996) hier bes. 8, 48-51, und Martin Fritz KNOR, Raimund Friedrich Kaindl und die Wiener Schule (Diplomarbeit, Wien 1998), konzentrieren sich darauf, Kaindl in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung zu verorten. Gerhard GRIMM verfasste ein Porträt Kaindls in: NDB 11 (1977) 33. Gottas und Oberkrome problematisieren die potenzielle Innovationskraft einiger von Kaindls Arbeiten. Sie greifen damit eine Fragestellung auf, die in der wissenschaftsgeschichtlichen Forschung zu den Ursprüngen „volksgeschichtlicher" Traditionslinien in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft in den vergangenen Jahren zunehmend an Relevanz gewann: Vgl. Friedrich GOTTAS, WO man hinblickt, liegt Neuland. Über den „karpatendeutschen" Historiker Raimund Friedrich Kaindl (1866-1930), in: S ü d o s t d e u t s c h e s A r c h i v 3 4 / 3 5 ( 1 9 9 1 / 9 2 )

150-169, hier bes.

1 5 1 - 1 5 2 ; W i l l i OBERKROME,

Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101, Göttingen 1993) bes. 5 2 - 5 5 , 7 3 - 7 4 , 7 6 - 7 9 . - Z u K a i n d l a m I Ö G v g l . L e o SANTIFALLER, D a s I n s t i t u t f ü r ö s t e r r e i c h i s c h e

4 5

Geschichtsforschung. Festgabe zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Wiener Haus-, Hofund Staatsarchivs (Veröff. des IÖG 11, Wien 1950) 117; Alphons LHOTSKY, Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854 1954 (MIÖG Erg.-Bd. 17, Graz/Köln 1954) 266 Anm. 20. Siehe zuletzt knapp Fritz FELLNER, Doris A. CORRADINI, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon (VKGÖ 99, Wien/Köln/Weimar 2006) 208f. GOTTAS, Neuland (wie Anm. 3) 155. Diese Darstellung soll bis heute zu „den wichtigsten Arbeiten über die deutsche Siedlungs- und Kulturgeschichte im Südosten Europas" gehören, so FOCKO-FOOKEN, Kaindl (wie Anm. 3) 5. Ähnlich argumentiert Seewann, der schreibt, dass Kaindls Geschichte der Karpatendeutschen als historische Gesamtschau „bis in die Gegenwart unüberboten geblieben" sei, Gerhard SEEWANN, R. F. Kaindl, in: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas (Südosteuropäische Arbeiten 75/11, München 1 9 7 6 ) 3 1 9 - 3 2 0 , hier 319.

6

7

Raimund Friedrich KAINDL, Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern (Allgemeine Staatengeschichte, hg. v. Karl LAMPRECHT. Dritte Abt.: Deutsche Landesgeschichten 8, hg. v. Armin TILLE) 1: Geschichte der Deutschen in Galizien bis 1772 (Gotha 1907) 2: Geschichte der Deutschen in Ungarn und Siebenbürgen bis 1763, in der Walachei und Moldau bis 1774 (Gotha 1907) 3: Geschichte der Deutschen in Galizien, Ungarn, der Bukowina und Rumänien seit etwa 1770 bis zur Gegenwart (Gotha 1911). Vgl. OBERKROME, Volksgeschichte (wie Anm. 3) 52; GOTTAS, Neuland (wie Anm. 3) 155.

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Aktenmaterial untersucht, muss nicht von vornherein mit einem höheren methodologischen Reflexionsgrad einhergehen. Kaindl war einer der ersten österreichischen Historiker, der neben der Geschichte des habsburgischen Kaiserreiches bzw. der einzelnen (Kron-)Länder und den Problemen der Verfassungs-, Verwaltungs- und Rechtsgeschichte das „Volk" als wesentliche geschichtswissenschaftliche Bezugsgröße auffasste8. Dieses „Faktum" an sich ist jedoch nicht von entscheidender Bedeutung. Es sollte vielmehr untersucht werden, wie Kaindl das „Volk" zu erfassen suchte und ob seine Darstellungsweise tatsächlich als „innovativ" gelten kann9. Es ist daher danach zu fragen, ob Kaindl sich von klischeehaften Darstellungen und Wertungen dieses als „neu" betrachteten Untersuchungsfeldes erkennbar freizuhalten suchte, oder ob er das „Volk" nicht doch eher in den Dienst eines sozialromantisch grundierten Ethnonationalismus stellte. Abgesehen davon scheint mir eine weitere Forschungsfrage relevant zu sein, die im vorliegenden Beitrag allerdings ebenso nur andiskutiert werden kann wie der Problemkreis des behaupteten innovativen Gehalts von Kaindls Arbeiten: Kann der Czernowitzer Historiker und Volkskundler als ein „Vorläufer" späterer „Volksforscher" oder sogar als einer der Initiatoren der deutschen „Volksgeschichte" gelten? Präziser gefragt: Spielte Kaindls Konzeption einer Landes- und Besiedlungsgeschichte in programmatischen Überlegungen oder konzeptionellen Reflexionen deutscher „Volkshistoriker" eine Rolle? Focko-Fooken nimmt an, dass es „Querverbindungen" zwischen dem Werk Kaindls und der „völkischen" Ideologie der 1920er und 1930er Jahre gegeben habe. Er hält Kaindl für nicht so radikal und antisemitisch eingestellt, wie dies bei „völkischen" Autoren dieser Zeit oft der Fall gewesen sei10. Oberkrome sieht in dem Czernowitzer Gelehrten hingegen einen nationalistischen und zugleich in einem methodisch „innovativen" Umfeld wirkenden „Volkshistoriker", dessen antislawische „Karpatendeutsche Tagungen" der „Deutsche Schutzbund" in den 1920er Jahren zum Vorbild seiner Werbeaktivitäten genommen habe11.

8

Zur Mediävistik in Österreich vgl. Reinhard H Ä R T E L , Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften, in: Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften 4: Geschichte und fremde Kulturen, hg. v. Karl A C H A M (Wien 2002) 127-159. Oberkrome stellt Kaindl in eine Reihe mit Alfons Dopsch und Oswald Redlich als jene Fachvertreter, die im Zuge des Ausbaus der „Landesgeschichte" vor dem Ersten Weltkrieg „volksgeschichtlichen" Zugangsweisen den Weg bahnten, vgl. O B E R K R O M E , Volksgeschichte (wie Anm. 3) 49. 9 Zur Frage der methodischen „Innovation" in den Geschichtswissenschaften vgl. Werner LAUSECKER, „Bevölkerung" / „Innovation" / Geschichtswissenschaften, in: Das Konstrukt „Bevölkerung" vor, im und nach dem „Dritten Reich", hg. v. Rainer M A C K E N S E N , Jürgen REULECKE (Wiesbaden 2005) 201 235; Alexander PINWINKLER, Zur kartografischen Inszenierung von „Volk" und „Bevölkerung" in der deutschen „Volksgeschichte", in: Konstrukt „Bevölkerung" 236-254. 10 F O C K O - F O O K E N , Kaindl (wie Anm. 3) 51. Es gab (und gibt) jedoch sehr viele Ausprägungen antisemitischer Denkmuster, die sich wohl kaum bloß hinsichtlich ihrer „Radikalität" skalieren lassen, vgl. grundlegend Peter G. J . P U L Z E R , Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867 bis 1914 (Göttingen 2004) bes. 165-213. 11 O B E R K R O M E , Volksgeschichte (wie Anm. 3) 27 und 52.

Raimund Friedrich Kaindl ( 1 8 6 6 - 1 9 3 0 )

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II. Kritische Darstellung des wissenschaftlich-publizistischen Werks Ungeachtet der Tatsache, dass Kaindl unterschiedliche Forschungsthemen häufig synchron nebeneinander bearbeitete, ist hervorzuheben, dass sich diachron festzumachende inhaltliche Schwerpunkte erkennen lassen, mit denen er auf aktuelle zeitgeschichtliche Entwicklungen reagierte. So lassen sich im wesentlichen zwei Phasen seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ausmachen, die durch den Einschnitt des Jahres 1915, als Kaindl an die Universität Graz berufen wurde, deutlich voneinander getrennt werden. Vor 1915 widmete er sich vorwiegend historischen und volkskundlichen Problemen, die aus seiner Beschäftigung mit den Nationalitätenverhältnissen der Bukowina und Galiziens resultierten. Danach konzentrierte er sich auf Arbeiten, mit denen er aus einer „großdeutschen" Sicht „kleindeutschen" Geschichtsdeutungen entgegen wirken wollte12. Im vorliegenden Beitrag folgt auf die Kapitel 2.1 „Geschichte und Volkskunde" und 2.2 „Das Deutschtum in den Karpatenländern" ein Abschnitt 2.3, in dem Kaindls publizistische Befassung mit der „großdeutschen" und „kleindeutschen" Geschichtsbetrachtung skizziert wird. Diese spiegelte sich in biografischer Hinsicht in Kaindls Engagement für die nationale „Schutzarbeit" (siehe hierzu Kapitel 3).

II.l Geschichte und Volkskunde Den Gegenstand der herkömmlichen „Landesgeschichte" bildeten in Österreich meist administrative Einheiten wie die habsburgischen Kronländer. Kaindl war einer der ersten österreichischen Historiker, die diese mit „volkskundlichen" Fragestellungen und Methoden anzureichern suchten und dabei Ländergrenzen überschritten. Neben Staat/Land sollte das „Volk" als legitimer Gegenstand historischer und volkskundlicher Forschungen treten. Alltägliche Lebensverhältnisse und kulturelle Überlieferungen, die in den ethnisch-sprachlichen Mischgebieten der Bukowina und Galiziens beobachtet werden konnten, sollten historisch-statistisch erfasst und „volkskundlich" beschrieben werden. Kaindl betonte zwar unentwegt die angebliche deutsche Kulturmission in Osteuropa, schloss aber deswegen nicht deutschsprachige Nationalitäten aus seinen volkskundlichen Arbeiten nicht aus. Seine frühen Veröffentlichungen zu den kleineren Nationalitätengruppen der Rumänen, Lippowaner und Juden in Galizien und der Bukowina waren zu ihrer Zeit einmalig. Seine Monografie über die in den südöstlichen Waldkarpaten beheimateten Huzulen13, deren Drucklegung die Anthro12 Seine mediävistischen Studien, die in den 1890er Jahren wohl im Zusammenhang mit seiner Ausbildung am IÖG entstanden, klammere ich aus meiner folgenden Betrachtung aus. Das gleiche gilt für Kaindls letzte Buchpublikation: Raimund F. KAINDL, Geschichte und Kulturleben Deutschösterreichs von den ältesten Zeiten bis 1526. Auf Grundlage der „Geschichte Österreichs" von Franz Martin Mayer (Wien/Leipzig 1929) (2: Von 1526-1792 [1931]; 3: Von 1792 bis nachdem Weltkrieg [1937], bearb. von Hans P I R C H E G G E R ) . 1 3 Die Huzulen waren mit den Ruthenen (Ukrainern) sprachlich verwandt. Raimund Friedrich K A I N D L , Die Huzulen. Ihr Leben, ihre Sitten und ihre Volksüberlieferung (Wien 1893); vgl. auch ders., Haus und Hof bei den Huzulen (Wien 1896).

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pologische Gesellschaft in Wien finanziell forderte, kann als „erste volkskundliche Monografie eines Volksstammes der Österreichisch-ungarischen Monarchie"14 gelten, wenn man von den Beiträgen im sogenannten „Kronprinzenwerk" einmal absieht15. Kaindls volkskundliche Studien waren mit apologetischen Motiven verbunden und darauf ausgelegt, einerseits die entscheidende Bedeutung deutscher Kulturleistungen in den östlichen Provinzen der Monarchie aufzuzeigen, andererseits sollten sie die aus seiner Sicht verwerflichen Begründungszusammenhänge entnationalisierender ungarischer Nationalitätenpolitik verdeutlichen. Folgt man Kaindls Lebenserinnerungen, so erwachte in ihm bereits in seiner Gymnasialzeit ein Interesse für Volksbräuche und Volksüberlieferungen in der Bukowina. Er begründete sein volkskundliches Interesse mit Argumenten, in denen er einen Zusammenhang von „Deutschtum" und deutschen „Kulturleistungen" postulierte: Die besonderen kolonialen Bedingungen des „Grenzlands" ließen seiner Meinung nach „die Größe und Bedeutung deutscher Arbeit" hier besonders augenfällig erkennen16. Die ausgeprägte „Sensibilität des randlagigen Diasporabewohners" für kulturelle Diversifizierung in ethnischen Mischzonen, die Konrad Köstlin bei dem Volkskundler Arthur Haberlandt ausmacht17, und die auch Kaindl zugeschrieben werden kann, mag zwar seinen „ethnografischen Blick" geschärft haben. Doch war es gerade die Akzentuierung dieses „Blicks", die seit den letzten Jahrzehnten der Habsburgermonarchie zunehmend dazu beitrug, auch in wissenschaftlichen Diskursen nationalistischen Wahrnehmungsformen ethnisch-sozialer Beziehungsstrukturen zum Durchbruch zu verhelfen. Die „Volkskunde" bildete keine eigenständige Universitätsdisziplin, die als solche vorbehaltlos anerkannt gewesen wäre. „Volkskundliche" Quellenbestände und methodische Zugangsweisen zogen das Interesse von Literatur- und Sprachwissenschaftlern, Geografen, Anthropologen, Soziologen und Historikern auf sich. Kaindl war somit einer von vielen Gelehrten unterschiedlicher fachlicher Herkunft, die sich von derartigen Forschungen erwarteten, einen vertieften Einblick in Alltagskultur und Lebensweise der ländlichen Bevölkerung zu gewinnen. Den aus ihrer Sicht erschreckenden Krisenerscheinungen der industriellen Moderne sollte die Lebensweise der unverbildeten einfachen Menschen entgegen gestellt werden. Volkskundler interessierten sich dabei in der Regel kaum für jene Schichten der Bevölkerung, die erst aufgrund der sozialen Umwälzungen der Industrialisierung entstanden waren. Der „Moderne" hielten sie ein eher undifferenziertes Bild ländlicher Gesellschaften entgegen, das häufig ein sozialromantisch verklärtes Idealbild des „Bauern" enthielt. Die Volkskunde, spätestens mit der unter Kaindls Mithilfe 1924 erfolgten Habilitation Viktor von Gerambs in Österreich 14 So Adolf MAIS, Das Verhältnis Raimund Friedrich Kaindls zur Volkskunde, in: Raimund Friedrich Kaindl 1866-1966. Kulturhistorische Ausstellung Joanneum Graz (Graz 1966) 13-18, hier 14. 15 Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Bde. 1-24 (Wien 1886-1902). 16 Raimund Friedrich KAINDL, [Selbstdarstellung], in: Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen [1], hg. von Sigfrid STEINBERG (Leipzig 1925) 171-205, hier 187. 17 Konrad KÖSTLIN, Volkskunde: Pathologie der Randlage, in: Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften (wie Anm. 8) 369-414, hier 391.

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faktisch institutionalisiert18, entwickelte sich so zusehends zu einer „völkisch" orientierten Legitimationswissenschaft19. Eine solchermaßen wirtschaftliche und soziale Bruchlinien harmonisierende Sicht auf „Volksgeist" und „Volksüberlieferung" stand jedoch vorerst im Wettbewerb mit anderen Konzeptionalisierungen von „Volkskunde": Der Wiener Ethnologe Friedrich Salomon Krauss beispielsweise hielt es etwa für unmöglich, „die willkürlich ersonnene Scheidewand zwischen gebildeten und ungebildeten, das heißt zwischen Kultur- und primitiven Völkern aufrecht zu erhalten"20. Krauss lehnte die in Österreich gegen Ende des 19. Jahrhunderts einflussreiche ethnonationalistische Spielart volkskundlicher Forschungen ab. Er blieb jedoch ein akademischer Außenseiter, dessen Stimme kaum gehört wurde21. Sein Beispiel deutet jedoch darauf hin, dass sich „Volkskunde" vor dem Ersten Weltkrieg nicht unbedingt ausschließlich der Untersuchung „deutscher" Kulturäußerungen verschrieb. Kaindl machte zumindest in seinen frühen Studien deutlich, dass er die „Volkskunde" nicht a priori ausschließlich der Erforschung des „Deutschtums" widmen wollte. Ethnografische Feldforschungen, die ihn in den 1890er Jahren durch weite Teile Transkarpatiens führten, ließen ihn die drückende Notlage weiter Kreise der ländlichen Bevölkerung ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft erkennen, die von ihren „kapitalistischen" Arbeitgebern und von Großgrundbesitzern teils vollständig abhängig war. Seine von der Wiener Anthropologischen Gesellschaft geförderten ethnografischen Studien, die linguistische Beobachtungen und siedlungsgeschichtliche Befunde miteinander verknüpften, verband er in diesen Forschungen zudem mit der Beschreibung sozialer und wirtschaftlicher Verhältnisse. So durchwanderte er zum Beispiel die im Theissgebiet liegenden Siedlungen der ungarischen Ruthenen, die sich selbst „Rusnaken" nannten. Wiesen, Weiden und Felder gehörten, wie Kaindl notierte, „Capitalisten", „die mit eiserner Beharrlichkeit die Armuth des Volkes ausnützen."22 Kaindl glaubte für die soziale Notlage der ungarischen Ruthenen die Politik der Regierung in Budapest verantwortlich machen zu können: Dieser unterstellte er, in 18 Bereits 1894 war auf Veranlassung Michael Haberlandts in Wien der „Verein für österreichische Volkskunde" ins Leben gerufen worden. 19 Vgl. hierzu Wolfgang JACOBEIT, Vom „Berliner Plan" von 1816 bis zur nationalsozialistischen Volkskunde. Ein Abriss, in: Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. v. Wolfgang JACOBEIT, H a n n s j o s t LIXFELD, O l a f BOCKHORN ( W i e n / K ö l n / W e i m a r 1 9 9 4 ) 1 7 - 3 0 .

20 Friedrich Salomon KRAUSS, Lucian SCHERMANN, Allgemeine Methodik der Volkskunde. Berichte über Erscheinungen in den Jahren 1891-1897, in: Kritischer Jahresbericht über die Fortschritte der Romanischen Philologie IV (1899) hier 23, zitiert nach KÖSTLIN, Volkskunde (wie Anm. 17) 393. 21 Vgl. Christoph DAXELMÜLLER, Friedrich Salomo Krauss (Salomon Friedrich Kraus[s]) (1859-1938), in: Völkische Wissenschaft (wie Anm. 19) 463-476. 22 Raimund Friedrich KAINDL, Ethnologische Streifzüge in den Ostkarpathen. Beiträge zur Hausbauforschung in Oesterreich, in: Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft Wien 28 (1898) 223-249, hier bes. 226: Die Bauern mussten die Hälfte des Ernteertrags an die Grundbesitzer abliefern; ihr Vieh konnten sie nur gegen ein horrendes „Weidegeld" zur Weide bringen. Die Forstarbeiter wurden von ihren Arbeitgebern gleichfalls in extremer wirtschaftlicher Abhängigkeit gehalten. Die überhöhten Preise, die sie ihren Arbeitgebern für Lebensmittel und Kleider bezahlen mussten, konnten sie von ihrem kärglichen Lohn kaum begleichen. So verschuldeten sie sich bei den Arbeitgebern, die sie dadurch weiterhin ausbeuten konnten. Den armen Juden erging es nach Kaindls

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bewusster Magyarisierungsabsicht „die Rusnaken der Marmarosch verschwinden zu lassen". Diese würden „dem wirtschaftlichen Ruine preisgegeben, denn das Proletariat ist leichter zu entnationalisiren [sie!] als der angesessene Bauer"23. Kaindls ausgeprägtes Interesse für die überwiegend im agrarischen Sektor beschäftigten Ruthenen hatte wohl zwei Gründe: Einerseits schlössen sich diese eng an die in der Bukowina kulturell fuhrende deutschsprachige Bevölkerungsgruppe an, der ja auch Kaindl angehörte. Andererseits erwiesen sich die Ruthenen als loyale Untertanen des habsburgischen Kaiserhauses24. Umso schmerzvoller dürfte es für den deutschbewussten Kaindl gewesen sein, dass große Teile der ruthenischen Bevölkerung in Transleithanien sich an die Ungarn assimilierten. Der Magyarisierungsprozess erfasste dort besonders die ruthenischen Intellektuellen, verhieß ihnen doch die Annahme der ungarischen Sprache und Kultur einen rascheren sozialen Aufstieg. Kaindl suchte in seinen volkskundlichen Darstellungen neben ethnologischen Fragen wie gesehen auch soziale und ökonomische Zustände und Vorgänge zu behandeln. Sein Untersuchungsfokus war in diesem Kontext ethnozentrisch, d. h. er orientierte sich an der Annahme, dass „Völker" als abgrenzbare Entitäten ethnografisch gefasst werden könnten. Hier wurde die spezifische Problematik eines methodischen Zugriffs deutlich, der wesentlich auf linguistischen und geografischen Ordnungskategorien beruhte und dabei auf ethnische Eigenheiten zurückgeführte kollektive Eigenschaften normativ verabsolutierte. Kaindl ging von einem essentialistischen Volksbegriff aus. Dieser ließ ihn solche Kategorien als Variablen heranziehen, die es ihm ermöglichten, ethnische Gruppen auf verschiedenen Kulturstufen zu verorten und diese statisch voneinander abzugrenzen25. Im einzelnen ließ es sich jedoch oft schwer bestimmen, entlang welcher konkreter Grenzlinien etwa zwischen den sprachlich und familial eng miteinander verwobenen „Huzulen" und „Rusnaken" unterschieden werden sollte. Die Rusnaken an der oberen Theiss trennte, wie Kaindl selbst zugab, „fast nichts als der Name von den Huzulen"26. Kaindl räumte also ein, dass die dialektalen Differenzen zwischen diesen beiden Gruppen eher marginal seien. Gleichzeitig beharrte er aber darauf, dass diese Unterschiede für die Abgrenzung der einzelnen „Nationalitäten" von entscheidender Bedeutung seien27. Eine weitere Frage, die er kaum befriedigend beantworten Bericht nicht besser. Sie mussten „bei ihren reichen Glaubensgenossen für 20-30 kr. täglich [...] arbeiten". 23 Ebd. 24 Zu den Ruthenen vgl. Valeria HEUBERGER, Unter dem Doppeladler. Die Nationalitäten der Habsburger Monarchie 1848-1918 (Wien/München 1997) 117-129, hier 124f. 25 Vgl. Raimund Friedrich KAINDL, Die Wahrheit über die Huzulen, in: Mittheilungen der K. K. Geographischen Gesellschaft in Wien 37 (1894) 272-276, hier 272, wo Kaindl meint, dass die Huzulen einen niedrigen „Culturgrad" aufwiesen. Da sie aber „inmitten eines wohlgeordneten Staates wohnen", seien sie als „culturfahig" zu betrachten. 26

KAINDL, S t r e i f z ü g e ( w i e A n m . 2 2 ) 2 3 2 .

27 „Wie die Rusnaken an der Rika durch ihr ,u' statt ,i' scharf gekennzeichnet werden, so kann man den Rusnaken von der Theiss durch sein ,jo' und ,nit' [...] unter Tausenden erkennen." K A I N D L , Streifzüge (wie Anm. 22) 232.

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konnte, war die Feststellung des Siedlungsgebiets der galizischen „Huzulen". Hierbei erwies es sich als besonders schwierig, die Westgrenze der „Huzulen", wo sie an die „Bojken" angrenzten, zu ziehen. Kaindl war nicht der einzige Gelehrte, der Eigenund Fremdzuschreibungen zu ethnischen Gruppen nebeneinander verwendete, ohne sie ausreichend voneinander zu differenzieren. Der in Lemberg (Lwöw, Lwiw) tätige Ethnologe Ivan Franko bezeichnete etwa die „Bojken" neben den „Lemken" und den „Huzulen" als einen der drei ethnografischen „Typen" der ruthenischen Volksgruppe. Die Ethnografen übernahmen mit dieser Bezeichnung aber nur eine Gewohnheit der regionalen Spitznamengebung. Die als ,3ojken" Bezeichneten nannten sich selbst nämlich „Verchovynci" was soviel wie „Gebirgsbewohner" hieß. Dies lässt ebenso wenig a priori auf ein bei diesen Menschen vorhandenes ethnisch distinktes Gruppenbewusstsein schließen, noch sprach ihre geografisch stark zersplitterte Siedlungsweise, die Franko selbst erwähnte, unbedingt für ihre postulierte ethnische Einheitlichkeit.28 Von seiner „empirischen" Forschung her gelangte Kaindl zu einer Methodologie der Volkskunde29. Seine Einfuhrung in die Volkskunde erhielt den Untertitel „Mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den historischen Wissenschaften". Damit verdeutlichte Kaindl den eigenwilligen Ansatzpunkt, den er aufgrund seiner zweifachen wissenschaftlichen Identität als Historiker und Volkskundler diesem Leitfaden zugrunde legte. Sein Buch sollte für die Volkskunde Interesse wecken und die Methode dieser jungen Wissenschaft darlegen.30 In Kaindls wissenschaftssystematischer Verortung der „Volkskunde" werden zwei Komponenten deutlich: einerseits ihre Abgrenzung von der „Völkerkunde", andererseits ihre Charakterisierung als eine notwendige Ergänzung der „Kulturgeschichte". Die „Volkskunde" beschränke sich, so Kaindl, auf ein bestimmtes „Volk". Im Gegensatz zur „Völkerkunde" („Ethnologie"), die „alle Völker der Erde in ihrem gegenseitigen Verhältnisse und ihrer Verwandtschaft" untersuche und sie in „Rassen" und „Stämme" einteile, habe die „Volkskunde" mit Recht einen einzigen ethnischen Bezugspunkt, von dem sie auszugehen habe: „Jedes Volk hat wie seine Volkskunde so auch seine in sich bestehende Geschichte; aber ebenso gibt es eine europäische und [...] eine Weltgeschichte. Wie es die Aufgabe der letzteren ist, die weltbewegenden Faktoren zu ergründen, [...] so wird die Volkskunde auf ihrer höchsten Entwicklung die den Volksgeist [...] bewegenden allgemeinen Gefühle und Gedanken [...] zu ergründen suchen, aber doch immer wieder [...] mit Bezug auf das e i n e Volk, von dem sie ausgeht. In diesem Sinne ist die Volkskunde zwar die getreueste Gehilfin der Völkerwissenschaft, aber sie ist nicht mit ihr identisch, weil letztere auf einem höheren unbeschränkten Standpunkte steht"31.

28 Ivan FRANKO, Eine ethnologische Expedition in das Bojkenland, in: Zs. für österreichische Volkskunde 11 (1905) 17-32, hier 22-23. 29 Raimund Friedrich KAINDL, Die Volkskunde. Ihre Bedeutung, ihre Ziele und ihre Methode. Mit besonderer Berücksichtigung ihres Verhältnisses zu den historischen Wissenschaften (Wien 1 9 0 3 ) . 30 Ebd. V (Vorrede). 31 Ebd. 22.

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Indem er die „Volkskunde" in einen Kanon der Kulturwissenschaften einordnete, suchte Kaindl seine Eingrenzung potentieller volkskundlicher Forschungsobjekte auf ethnische Entitäten als einen heuristisch notwendigen Schritt darzustellen. Diesen fasste er als Teil eines Forschungsprozesses auf, der auf der Ebene der „Völkerwissenschaft" grundsätzlich in einer allgemeinen Völkerpsychologie kulminieren sollte. Seine normative Abgrenzung zwischen „Hochkultur" und „naiver Volkskultur", der in analoger Weise seine stark wertende Unterscheidung zwischen westlichen und ,rückständigen" osteuropäischen Kulturen entsprach32, war gleichzeitig Ausdruck eines elitären, auf „Bildung", „Arbeit" und „Selbständigkeit" beruhenden bürgerlichen Selbstverständnisses33. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg bekannte sich Kaindl erneut zu diesem Programm, wobei er es um das Postulat ergänzte, dass die „Volkskunde" als wissenschaftliche Disziplin politische Relevanz beanspruchen könne. Die „Volkskunde" sollte seiner Meinung nach „abgerundete Charakteristiken der einzelnen Völker" bieten. Erst auf dieser Grundlage könnten interethnische Vergleiche erfolgen. Im Unterschied zur Ethnologie, die „mehr den Soziologen und Geschichtsphilosophen interessieren" würde, richte sich die „Volkskunde", so Kaindl im Jahr 1913, als Hilfswissenschaft der Geschichte in erster Linie an Politiker und Historiker.34 Die deutsche Geschichtswissenschaft hatte zu der Zeit, als Kaindl seine „Volkskunde" veröffentlichte, den Höhepunkt ihres „Methodenstreits", der sich an Karl Lamprechts Auffassung der „Kulturgeschichte" entzündet hatte35, bereits einige Jahre überschritten. In seiner 1903 erschienenen Programmschrift sah Kaindl, ohne sich auf den Gründer des Leipziger Instituts für Kultur- und Universalgeschichte ausdrücklich zu beziehen, in der „Volkskunde" eine natürliche Verbündete einer „Kulturgeschichte", die die breite Masse des Volks in den Blick nehmen sollte: „Die Volkskunde ist [...] in der Kulturgeschichte ganz unentbehrlich. Sie ist es, welche die ursprüngliche naive Stufe der menschlichen Kultur kennzeichnet, sie allein richtig erkennen läßt und vieles, was uns in älteren Berichten unverständlich erscheint, klärt"36. „Neuartig" oder „innovativ" war Kaindl in diesem Zusammenhang wohl nur - und damit greife ich eine der eingangs gestellten Leitfragen auf - , indem er sich an eine bestimmte historiografische Strömung annäherte, die sich von der Fixierung auf hermeneutische Verfahren 32 Vgl. Raimund Friedrich KAINDL, Die Grenze zwischen west- und osteuropäischer Kultur, in: Petermanns geographische Mitteilungen 63 (1917) 6-9. 33 Vgl. hierzu u. a. Wolfgang HARDTWIG, Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 169, Göttingen 2005) bes. 7-21. 34 Raimund Friedrich KAINDL, Die Bedeutung der Volkskunde für Politik und Geschichte, in: Deutsche A r b e i t 13 ( 1 9 1 3 ) 3 3 6 - 3 3 9 , h i e r 3 3 7 .

35 Vgl. Louise SCHORN-SCHÜTTE, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 22, Göttingen 1984); Lutz RAPHAEL, Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen vom 1900 bis zur Gegenwart (München 2003) 72-77. 36 KAINDL, Volkskunde (wie Anm. 29) 54. Einen „positivistischen" Zugang zur historischen Forschung vertrat KAINDL in seinem Artikel Förderung der Geschichtsforschung in den österreichischen Alpenländern durch die moderne Volkskunde, in: ZHVSt 15 (1917) 141-147, in dem er volkskundlich relevante Überlieferungen vor allem dazu heranzog, um offene Fragen der frühmittelalterlichen Siedlungsgeschichte in Österreich zu klären.

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abwandte und breitere Bevölkerungsschichten kulturwissenschaftlich zu untersuchen beabsichtigte. Genauer sollte Kaindls komparatistisches Anliegen geprüft werden. Er machte es zur methodischen Voraussetzung, dass zuerst einzelne „Völker" nach ethnisch-kulturellen Kriterien differenziert werden müssten, ehe in einem weiteren Schritt daran gedacht werden könnte, vergleichende Analysen anzustellen. Damit begünstigte er implizit jene diskursiven Entwicklungspfade, die zur Etablierung einer „national" und „völkisch"ausschließend orientierten „deutschen Volkskunde" hin führten. Kaindl betrachtete die „Volkskunde" als eine Wissenschaft, die in Kooperation mit der Geschichtsforschung zu einer tieferen Erkenntnis volkskultureller Phänomene und Strukturen fuhren sollte. Aufgrund seiner späteren hauptsächlichen Beschäftigung mit der „kleindeutschen" und der „großdeutschen" Geschichtsauffassung, zu der ihn die politische und kulturelle Erschütterung des Ersten Weltkriegs angeregt hatte, verfolgte er dieses Arbeitsfeld nach dem Krieg jedoch nicht weiter. Eine geringere Rolle spielten genuin „volkskundliche" Zugangsweisen schon in seinem vor 1914 erschienenen karpatendeutschen Geschichtswerk, das im folgenden Abschnitt kritisch gewürdigt werden soll.

II.2 Die „Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern" Kaindls „Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern" kann für sich in Anspruch nehmen, die erste auf ausgedehnten Aktenstudien beruhende Darstellung der deutschen Siedlungsgeschichte im Karpatengebiet zu sein37. Zunächst sticht der beträchtliche Umfang dieses Werkes ins Auge, das aus drei Bänden, diese aufgeteilt in sieben Teilbände, besteht. Diese historische „Meistererzählung" wirft jedoch die Frage auf, ob ihre Einzigartigkeit sich abgesehen von Thema und Umfang auch darauf beziehen lässt, dass sie neuartige methodische Wege gewiesen hat. Armin Tille, der Herausgeber der Schriftenreihe „Deutsche Landesgeschichten", in der das Werk erschien, betonte die nationalpädagogische Zielsetzung der in dieser Serie erscheinenden Bücher. Jede einzelne „Deutsche Landesgeschichte" repräsentiere „eine besondere Variation deutschen Wesens in ihrer geographischen und geschichtlichen Bedingtheit". Erst auf dieser Grundlage sei „eine dauernde Vergleichung" der einzelnen Länder denkbar und so eine Erfassung des deutschen „Volkscharakters" möglich38. Die „Deutschen Landesgeschichten" erschienen in der von Karl Lamprecht herausgegebenen Reihe „Allgemeine Staatengeschichte". Eine Parallele zu den methodisch neuartigen Leipziger Perspektiven bestand gleichwohl nur in Kaindls Interesse an volklichen Kulturäußerungen. Ansätze zu einer im engeren Sinn kulturtheoretisch gestützten „sozialwissenschaftlichen" Analyse gesellschaftlicher Entwicklungen, wie sie die „Leipziger Schule" der Sozial- und Geschichtswissenschaften seit dem ausge37 Zum Inhalt der Kaindlschen Darstellung, auf deren ausfuhrliche Wiedergabe ich hier verzichte, vgl. BLASE, K a i n d l ( w i e A n m . 3 ) 2 2 - 2 8 ; FOCKO-FOOKEN, K a i n d l ( w i e A n m . 3 ) 1 3 - 2 0 ; KNOR, K a i n d l , ( w i e A n m . 3) 3 5 - 5 8 .

38 Armin TILLE, Vorwort des Herausgebers, in: KAINDL, Geschichte 1 (wie Anm. 6) VIII.

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henden 19. Jahrhundert in Deutschland maßgeblich vorantrieb39, blieben trotz einiger „kulturgeschichtlicher" Affinitäten in Kaindls Werk insgesamt vernachlässigbar. Zu diesem Befund scheint zu passen, dass Kaindl zwar plante, eine „historisch-statistische Darstellung über die einzelnen Ansiedlungsorte" zu verfassen, dass er diese aber nicht in sein Werk über die „Karpatendeutschen" aufnahm40. Die konzeptionellen Grundlagen der „Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern" beruhten auf dem Begriff „Karpatendeutsche". Kaindl fasste die „deutschstämmigen" Bewohner Galiziens (Polens und Rutheniens), Ungarns (einschließlich Siebenbürgens), der Bukowina, Rumäniens (Walachei und Moldau) und Bosniens so zusammen. Seit den 1920er Jahren bezog sich dieser Begriff allgemein nur auf die in der Slowakei und Karpato-Russland lebende deutsche Sprachgruppe41. Kaindl folgte einem bestimmten narrativen Muster, das seiner Darstellung Kohärenz verleihen sollte: Die karpatendeutsche Geschichte erschien solcherart als ein von den Anfängen der deutschen Besiedlung bis zur Gegenwart andauerndes Drama, in dem Blüte und Verfall „völkischen" Lebens einander zyklisch abwechselten. Die einzige historische Konstante bildeten die „Völker" des Karpatengebiets, die miteinander beständig um Boden, Raum und wirtschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten rangen. Ihre vielschichtigen Beziehungen und Konflikte, die an der „natürlichen" Überlegenheit der deutschen gegenüber der slawischen Bevölkerung nichts Grundlegendes zu verändern vermochten, bildeten den roten Faden seiner Erzählung. Die großen Einwanderungsschübe gaben ihr einen spannungsgeladenen Rhythmus: Denn „dreimal hat eine Hochflut deutschen Lebens die Karpathenländer durchströmt und hierbei stets im innigen Zusammenhange alle Teile dieses weiten Gebietes berührt"42. Die Völkerwanderung führte erstmals Goten, Gepiden und Vandalen, Heruler, Rugier und Langobarden in die Karpatenregion. Zum zweiten Abschnitt der karpatendeutschen Geschichte zählte Kaindl die „deutsche" Siedlung von der Zeit Karls des Großen bis zum 15. Jahrhundert. Der Einfall der Mongolen (1241) zerstörte zwar manche Ansiedlung, er bildete jedoch die Vorbedingung für eine auf neuerlicher Zuwanderung beruhende Blüte deutschen „Kulturlebens". Konfessionelle Zwistigkeiten unter den Deutschen im Zeitalter der Reformation und Gegenreformation, wirtschaftlicher Niedergang und die osmanische Expansion führten zum neuerlichen Abbruch der Siedlungstradition. Erst die habsburgische Herrschaft drängte äußere Bedrohungen zurück und schuf im Karpatengebiet eine gesicherte Grundlage deutscher Kolonisation43. Die Durchsetzung und regionale Verbreitung „deutschen" Rechts, das Verhältnis zwischen deutschen Siedlern, einheimischen Fürsten und den Nachbarvölkern, wirtschaftliche und soziale Strukturen der Siedler bildeten in Kaindls Darstellung thematische 39 Elfriede ÜNER, Kulturtheorie an der Schwelle der Zeiten. Exemplarische Entwicklungslinien der Leipziger Schule der Sozial- und Geschichtswissenschaften, in: Archiv für Kulturgeschichte 80 (1998) 3 7 5 - 4 1 5 , und auch A n m . 35.

40 KAINDL, Geschichte 3 (wie Anm. 6) VIII. 41 GOTTAS, Neuland (wie Anm. 3) 158. Auf die grundlegende Problematik ethnisierender Verallgemeinerungen („deutschstämmig") geht Gottas hier nicht ein; vgl. hierzu Anm. 45. 42 KAINDL, Geschichte 1 (wie Anm. 6) XI. 43 Ebd. XI-XIV.

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Schwerpunkte. Die Schilderung der historischen Entwicklung ging dabei Hand in Hand mit volkskundlichen Ausfuhrungen, beispielsweise, wenn der Verfasser Festbräuche und Lieder der Kolonisten erwähnte. In der Detailfulle der groß angelegten, auf urkundliche Überlieferungen gestützten Synthese spiegelte sich die Ausbildung ihres Verfassers im Geist des Wiener IÖG. Meiner oben angedeuteten Frage folgend, zu einer Einschätzung ihrer methodischen Relevanz zu gelangen, verweise ich im Folgenden auf drei Problemzonen dieses Werks. Sie sind deshalb für das Verständnis von Kaindls Darstellungsweise so wichtig, weil sie alle drei Bände gleichermaßen durchziehen. Sie deuten daraufhin, dass die „Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern" insgesamt stärker von einem legitimatorischen Blickwinkel geprägt ist, als in der Forschung bislang meist angenommen wurde, eine Perspektive, die „Siedlung", „Arbeit" und „Kultur" durchgängig unter „deutschen" Denkprämissen betrachtete. Erstens kann Kaindls Unterfangen, Migrationen vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart als eine einheitliche Bewegung zu deuten, die von einer über die Jahrhunderte hinweg gleichartigen „ethnischen" Substanz getragen gewesen sei, als Anachronismus betrachtet werden44. Dieser entsprach gängigen „völkischen" Geschichtskonzeptionen. Zweitens weise ich daraufhin, dass Kaindls bildkräftige Schilderungen45 hier bereits skizzierten rhetorischen Sinngebungsmustern folgten, die in der auf Kaindl bezogenen Literatur bislang kaum beachtet wurden. Kaindl verknüpfte derartige Deutungsmuster zu eng mit nationalistischen Bedrohungsbildern slawischer Unterwanderung, als dass sie als Ausdruck bloß unreflektierter Metaphorik gedeutet werden könnten, die politisch ansonsten indifferent gewesen wäre. Drittens verdient die Frage nach Kaindls Darstellungsweise und Bewertung interethnischer Beziehungen eine nähere Untersuchung. Hierzu soll seine „Geschichte der Karpatendeutschen" ansatzweise im Kontext seines politisch-publizistischen Engagements für das „Karpatendeutschtum" betrachtet werden: Bei der dritten Tagung der „Karpatendeutschen", die 1913 in Wien stattfand (siehe hierzu Kapitel 3.), erklärte Kaindl: „Wir wollen treue Söhne der Länder und Reiche sein, in denen wir wohnen, aber auch unser Volkstum unseren Kindern erhalten. Wir werden auf unserem Posten ausharren; wenn man uns im Stiche läßt, werden wir verbluten, weichen werden wir nicht."46 Kaindls bisweilen martialisch ausgemaltes „grenzlanddeutsches" Selbst- und Sendungsbewusstsein wird hier ebenso deutlich wie in seiner Kritik an jenen gesellschaftlichen Kräften, die die im Osten ausharren-

44 Sprachwissenschaftliche Argumente, für die germanischen Stämme der Spätantike und des frühen Mittelalters eine ethnische Einheit zu postulieren, problematisiert aus historischer Sicht Walter P O H L , Die Germanen (Enzyklopädie deutscher Geschichte 57, München 2000) 45-51. 45 So, wenn er beispielsweise von einer dreimaligen „Hochflut" deutscher Siedlung sprach, oder wenn er pathetisch darauf bestand, dass das „Karpatendeutschtum" „kein abgebrochener Zweig, kein verwehtes Blatt der deutschen Eiche" sei, K A I N D L , Geschichte 3 (wie Anm. 6) I X . 46 Zitiert nach Peter U R B A N I T S C H , Die Deutschen in Österreich. Statistisch-deskriptiver Überblich, in: Die Habsburgermonarchie 1 8 4 8 - 1 9 1 8 3 : Die Völker des Reiches, 1 . Teilbd., hg. v. Adam W A N D R U S Z K A , Peter U R B A N I T S C H (Wien 1 9 8 0 ) 2 6 6 .

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den deutschen Kolonisten vermeintlich im Stich gelassen hatten47. Gerade in seiner Beschwörung pangermanischer Einheit wird Kaindls integrativer Anspruch deutlich: Die „christlichen" Deutschen der Bukowina sollten ihre konfessionellen und sozialen Trennlinien überwinden48. Kaindl ließ erkennen, dass er neben der ungarischen vor allem die polnische Bevölkerungsgruppe als hauptsächlichen, häufig im kollektiven Singular angesprochenen Gegner der Deutschen im Karpatenraum ansah und führte zahlreiche Belege an, die den vermeintlich ungebrochenen polnischen Hass auf die Deutschen dokumentieren sollten49. Die „Ruthenen" ließ er hingegen weiterhin in einem recht günstigen Licht erscheinen (siehe Abschnitt 2.1). Im Vergleich zum polnisch-deutschen Gegensatz, den er häufiger ansprach, thematisierte Kaindl das Verhältnis zwischen deutscher und jüdischer Bevölkerung in einem geringeren Maß. Kaindl betonte in seiner „Geschichte der Deutschen", dass die konfessionellen Identitäten der evangelischen und katholischen deutschen Kolonisten prägende soziale Bindekraft entfalteten50. Die Gruppe der jüdischen Religionsangehörigen bildete aus dieser Sicht keinen Bestandteil des als „christlich" definierten deutschen „Volkes". Und wenn er die „unheilvolle Wirtschaft" eines jüdischen Pächters von Vogteirechten im Galizien des 18. Jahrhunderts beklagte, blitzte bei ihm sogar latenter Antisemitismus auf: Den angeblich ,,dämonische[n] Charakter" dieses Pächters verglich er nämlich ostentativ mit Joseph Oppenheimer.51 Der württembergische Finanzberater Oppenheimer war 1738 Opfer eines antisemitisch motivierten Justizmords geworden und bildete seither immer wieder eine Projektionsfläche für antisemitische Hetze52. Wie bewertete Kaindl in seiner „Geschichte der Deutschen" die jüdische Assimilation an die deutsche Sprache und Kultur? Er schrieb zwar, dass „die Juden in der Bukowina in so überwiegender Majorität" sich zur deutschen „Umgangssprache" bekannten, „daß hier die Unterscheidung von christlichen und jüdischen Deutschen allgemein üblich ist"53. Damit schienen die Jüdischen Deutschen" einen Teil der deutschen Kulturgemeinschaft der Bukowina zu bilden. Um das „Deutschtum" des Karpatengebiets in seinem Bestand zu erhalten, sollten diese wenigstens zeitweise die Rolle eines politischen Aktivpostens erfüllen. Wenn Kaindl auf „die gegenwärtige Kopfzahl der christlichen (arischen) Deutschen" im Vergleich zu den „Juden, welche sich zur deutschen Umgangssprache bekennen", zu sprechen kam, verwendete er aller-

47 Vgl. hierzu auch Kaindls Ausführungen in dem bis an die Gegenwart heran reichenden Bd. 3 seiner „Geschichte der Karpatendeutschen" (wie Anm. 6) 166-184. 48 Erst der zunehmende Einfluss, den „völkische" Strömungen bei den Deutschen bzw. die zionistische Bewegung bei den Juden erlangten, könnte dieses Konzept aus der Sicht damaliger Akteure zunehmend als unrealistisch erscheinen haben lassen, vgl. hierzu auch Deutsche Geschichte im Osten Europas. Galizien, hg. v. Isabel RÖSKAU-RYDEL (Berlin 1999) 257. 4 9 KAINDL, Geschichte 3 (wie Anm. 6 ) 1 6 6 - 1 7 3 . 50 Vgl. ebd. 178. Zu den Nationalisierungstendenzen innerhalb der „ostjüdischen" Bevölkerung vgl. Heiko HAUMANN, Geschichte der Ostjuden (München 41998) bes. 150-162. 5 1 KAINDL, Geschichte 1 (wie Anm. 6 ) 5 2 . 52 Vgl. „Jud Süß". Hofjude, literarische Figur, antisemitisches Zerrbild, hg. v. Alexandra PRZYREMBEL, Jörg SCHÖNERT (Frankfurt/M./New York 2006). 5 3 KAINDL, Geschichte 3 (wie Anm. 6 ) 4 0 8 .

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dings „christlich" synonym mit „arisch"54. Die „Abstammung" kam unübersehbar als Kriterium „völkischer" Abgrenzung ins Spiel, wobei die Konfessionsstatistik als geeignetes Mittel erschien, um diese zu erfassen. Kaindls Ansicht wurde noch deutlicher, als er die Frage aufwarf, wie das „Deutschtum" am besten statistisch zu erheben sei. Er kritisierte dabei die Praxis des österreichischen Zensus, nicht die „Volkszugehörigkeit", sondern bloß die „Umgangssprache" zu erheben55. Kaindls „karpatendeutsches" Programm war im Lichte der politischen Zersplitterung der Bukowinaer Deutschen als weitgehend utopisch einzuschätzen56. In der politischen Auseinandersetzung erwies sich Kaindl freilich als einer ihrer gemäßigten Vertreter. So bedauerte er etwa, dass „das Einvernehmen mit den Juden, das für die Erhaltung des Deutschtums in der Bukowina von Bedeutung ist", „gestört" sei57. Die Ursache für diese Entwicklung erblickte er eher einseitig darin, dass jüdische Bürger sich nicht mehr nur der deutschen Sprache, sondern auch anderen Bukowinaer Landessprachen zugewandt hätten. Wenn die „Schönerianer" bei einer Debatte im österreichischen Reichsrat im Jahr 1905 erklärten, dass es in der Bukowina kein „lebenskräftiges" Deutschtum gebe, weil dieses zu neunzig Prozent aus Juden bestehe58, dürfte das seiner Denkweise allerdings kaum entsprochen haben. So scheint es kein Zufall gewesen zu sein, dass das „Bukowinaer Volksblatt", das die Christlichsozialen finanzierten, sich am 2. Juli 1911 mit einem Angriff gegen den Czernowitzer Historiker zu profilieren suchte: Diese Zeitung behauptete mit antisemitischer Spitze, dass an der von Kaindl organisierten karpatendeutschen Tagung „der größte Teil des christlich-deutschen Volkes der Bukowina nicht beteiligt" gewesen sei. Vielmehr habe es sich um eine Veranstaltung des „volksverderblichen judenliberalen Freisinns" gehandelt. Das selbe Blatt beschuldigte ferner den „Verein der christlichen Deutschen", dem Kaindl 1911-15 als Obmann vorstand, mit jüdischen Kollegen und Parteiführern zusammen zu arbeiten59.

54 Ebd. 3 87. Die rassistische und antisemitische Aufladung des Begriffs „Arier" ist eng mit Chamberlain verknüpft, der dafür eintrat das Christentum von jüdischen Anteilen zu „reinigen", vgl. Houston Stewart C H A M B E R L A I N , Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. 2., verm. Aufl. (München 1902); vgl. auch Léon Poliakov, Der arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus (Zürich 1971). 55 Vgl. K A I N D L , Geschichte 3 (wie Anm. 6) 109 und 127. Die in Österreich beliebte Praxis, die Ergebnisse der Volkszählungen als Belege fur die Verteilung der Nationalitäten heranzuziehen, stieß u. a. bei österreichischen Staatsrechtlern auf Kritik. So sprach sich z. B . Edmund B E R N A T Z I K , Übernationale Matriken (Wien 1910) bes. 26f., dafür aus, anstelle der „Umgangssprache" die „Nationalität" als ein „subjektives", kulturell zu begründendes Bekenntnis zu erheben. 56 Vgl. hierzu Michael W L A D I K A , Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k.u.k. Monarchie (Wien/Köln/Weimar 2 0 0 5 ) . 57 K A I N D L , Geschichte 3 (wie Anm. 6 ) 4 0 8 . 58 Vgl. hierzu Habsburgermonarchie 1848-1918 (wie Anm. 46) 268-269. 59 Zitiert nach: Deutsche Geschichte im Osten Europas (wie Anm. 48) 260, 266, 269. Der Verein soll 1897 selbst in Reaktion auf die Gründung der jüdischen Hasmonäa ins Leben gerufen worden sein (ebd.).

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II.3 „Großdeutsch" versus „kleindeutsch": Kaindl als unzeitgemäßer Erneuerer einer überwunden geglaubten Historikerkontroverse? „Unsere Geschichtsschreibung steht seit Jahrzehnten unter dem erdrückenden Einfluß der kleindeutsch-preußischen Richtung, die den Zweck hatte, Großdeutschland zu zerschlagen und ein Kleindeutschland unter preußischer Herrschaft zu schaffen." 60 „Genug, daß die Entwicklung seit 1866 gemeindeutscher (großdeutscher) Entwicklung wie eine Wand gegenüberstand, weil die Reichsdeutschen nicht einsahen, daß sie 1866 [...] den Deutschösterreichern eine unhaltbare Stellung überlassen hatten. [...] Vom Mutterleib losgerissen, mußten diese Deutschen und mit ihnen das von ihnen errichtete Reich verkümmern."61 In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reflektierte die Unterscheidung zwischen einer „großdeutschen" von einer „kleindeutschen" Geschichtsbetrachtung den politischen und kulturellen Antagonismus zwischen Österreich und Preußen, die gegensätzlich angelegten Konzepte eines ethnisch möglichst homogenen Nationalstaates und eines übernationalen Universalstaates62. Kaindl brachte diesen historiografischen Leitdiskurs nach 1918 neuerlich auf die Agenda der deutschen und österreichischen Geschichtswissenschaft. Fragen nach den Ursachen der Kriegsniederlage und der Konzeption für ein zukünftiges „Mitteleuropa" standen nun im Vordergrund seiner Arbeiten63. Kaindl kam in den 1920er Jahren im Kontext dieser Diskussion mehrfach auf die gegenwärtige politische Lage der deutschsprachigen Minderheiten in Ostmitteleuropa zu sprechen. Dabei verwob er in teils chauvinistischen Äußerungen, die bei ihm in dieser Form neuartig waren, Kommunistenfurcht, Slawophobie und Antisemitismus miteinander64. Sein Perspektivenwechsel war von einschneidenden biografischen Erfahrungen begleitet: Die Kriegsereignisse hatten 1915 seinen Wechsel nach Graz erzwungen. Das Verhältnis zwischen „großdeutscher" und „kleindeutscher" 60 Raimund Friedrich KAINDL, Österreich, Preußen, Deutschland. Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung (Wien/Leipzig 1926) V. 61

KAINDL, [ S e l b s t d a r s t e l l u n g ] ( w i e A n m . 16) 192 u n d 189.

62 Vgl. hierzu u. a. Fritz FELLNER, Die Historiographie zur österreichisch-deutschen Problematik als Spiegel der nationalpolitischen Diskussion, in: Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Heinrich LUTZ, Helmut RUMPLER (Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Wien 1982) 33-59; Gernot HEISS, Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus, in: Willfährige Wissenschaft. Die Universität Wien 1938-1945, hg. v. DEMS., Siegfried MATTL, Sebastian MEISSL u. a. (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 43, Wien 1989) 39-76; Gernot HEISS, Von der gesamtdeutschen zur europäischen Perspektive? Die mittlere, neuere und österreichische Geschichte, sowie die Wirtschaftsund Sozialgeschichte an der Universität Wien 1945-1955, in: Zukunft mit Altlasten. Die Universität Wien 1945 bis 1955, hg. v. DEMS., Margarete GRANDNER, Oliver RATHKOLB (Innsbruck/Wien u. a. 2005)189-210.

63 Vgl. FOCKO-FOOKEN, Kaindl (wie Anm. 3) 25-26; zu Kaindls Selbstdeutung als „großdeutscher" Historiker vgl. ausfuhrlich BLASE, Kaindl (wie Anm. 3) 47-67. 64 So, wenn er z. B. die „scheußliche Wildheit" der Slawen anprangerte und die Koalition ,judäomadjarischer" Kommunisten und „verbrecherischer Dorfpaschas" geißelte, die, durch die Friedensschlüsse ermutigt, deutsches Kulturgut enteignete. Zitiert nach OBERKROME, Volksgeschichte (wie Anm. 3) 76f.

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Geschichtsauffassung verstärkt thematisierend, trat Kaindl der Ansicht entgegen, dass die Österreicher im Vergleich zu ihren deutschen Bündnispartnern eine größere Verantwortung am Zusammenbruch der Mittelmächte hätten65. Die Kontroverse zwischen der „großdeutschen" und der „kleindeutschen" Richtung, in der es vor allem um die Deutung der jüngeren deutschen Geschichte ging, wies im Trauma der Kriegsniederlage somit eine aktuelle politische Dimension auf. Kaindl betrachtete die „großdeutsche" Einigung teleologisch als Ziel der deutschen Geschichte. Seine Kritik am vermeintlichen „kleindeutschen" Irrweg gipfelte in seinem Buch „Österreich, Preußen, Deutschland: Deutsche Geschichte in großdeutscher Beleuchtung"66. Den Niedergang der Habsburgermonarchie vermeinte Kaindl mit ihrer politischen Trennung vom Deutschen Bund ursächlich verknüpfen zu können. Diese These war deshalb so brisant, weil sie fundamental gegen die Grundlagen preußisch-deutscher Machtpolitik opponierte. Diese hatten „kleindeutsche" Historiker aus der Geschichte heraus zu legitimieren versucht. Indem das Deutsche Reich seine Großmachtambitionen in überseeischen Kolonien auslebte, vernachlässigte es aus der Sicht Kaindls seine kontinentalen Interessen. Die „Deutschösterreicher", ihres Rückhalts im kolonialpolitisch gebundenen Deutschen Reich beraubt, sahen sich im Habsburgerreich demnach einer zunehmenden slawischen Nationalisierungswelle gegenüber. Kaindl warf der reichsdeutschen Politik vor, die geostrategische und „völkische" Bedeutung der deutschen „Vorposten" außerhalb der reichsdeutschen Grenzen völlig verkannt zu haben. Die vorgeschobenen Siedlungen der Deutschen seien nach 1866 aufgrund des stetigen slawischen Vordringens immer mehr gefährdet worden. Die österreichischen „Alldeutschen" wiederum hätten in ihrem Bestreben, die slawische Mehrheit im Wiener Reichsrat unter allen Umständen zu brechen, nicht vor dem Vorschlag zurückgeschreckt, Bosnien und Dalmatien an Ungarn abzutreten und Galizien und die Bukowina vom österreichischen Reichsteil abzutrennen67. Den „Alldeutschen" (um Georg von Schönerer) warf er vor, die Bedeutung dieser deutschen „Vorposten" für das Gesamtdeutschtum nicht erkannt und die großdeutsche Einheit untergraben zu haben. Anstatt ihre soziale und konfessionelle Fragmentierung im „völkischen" Zusammenschluss zu überwinden, mussten die deutschen Kräfte sich folglich so zersplittern, dass ihre Machtstellung im Donauraum mit dem Untergang der Habsburgermonarchie 1918 endgültig verloren ging. Kaindls Anschauungen zur „deutschen Frage" können kaum in dem Sinn als „originell" angesehen werden, dass er neuartige Thesen zu den deutsch-österreichischen Beziehungen seit dem Ausscheiden Österreichs aus dem Deutschen Bund formuliert 65 Vgl. Raimund Friedrich KAINDL, War Oesterreich Deutschlands Verhängnis?, in: Eiserne Blätter 1 (1920) 751-754; DERS., Warum wir die Adria und Südtirol verloren..., in: Eiserne Blätter 2 (1921) 170-173.

66 Vgl. zum Folgenden KAINDL, Österreich (wie Anm. 60) hier bes. das Vorwort (V-X); vgl. auch DERS., 1848/49 - 1866 - 1918/19. Des deutschen Volkes Weg zur Katastrophe und seine Rettung (München 1920).

67 Siehe hierzu das „Linzer Programm" der Deutschnationalen, 1882, § 1, vgl. Österreichische Parteiprogramme 1868-1966, hg. v. Klaus BERCHTOLD (Wien 1967) 198-203, hier 199.

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hätte. Stattdessen machte er das deutsche „Volk" apodiktisch zum höchsten Gut der deutschen Geschichte. Hinsichtlich seiner „großdeutschen" Einstellung unterschied er sich zwar nicht wesentlich von vielen seiner Kollegen in der historischen „Zunft". Auch können sein forciertes Eintreten für die Persistenz bäuerlicher Bindung an die „Scholle" bei gleichzeitiger Fundamentalkritik an „Überindustrialisierung", Verstädterung und reichsdeutscher „Überseepolitik" und seine sozialdarwinistisch überformte Slawophobie durchaus in Diskursen der zeitgenössischen Antimoderne kontextualisiert werden68. Kaindls ausgesprochen polemische Haltung und Schreibweise, mit der er gegen die „kleindeutsche" Strömung ankämpfte, erregte unter Kollegen jedoch zumindest ebenso großen Unwillen wie seine methodische Vorgangsweise, die darauf ausgelegt war, monokausale historische Argumentationsmuster zu entwickeln und diese offen in den Dienst politischer Zwecke zu stellen. Der politisch motivierte Ansatzpunkt, von dem Kaindl unübersehbar ausging, wurde in seiner Forderung deutlich, den Anschluss Österreichs an Deutschland als ein „natürliches Recht" der Deutschen darzustellen, aber auch in seinem Aufruf, „Mittelund Südeuropa" „auf föderalistischer Grundlage" zusammenzufassen69. Sein Buch „Österreich, Preußen, Deutschland" konnte so mehr als eine politische Streitschrift denn als ein gelehrtes Werk eingestuft werden. In diese Richtung ging jedenfalls die Kritik von Kaindls einstigem Czemowitzer Lehrer Johann Loserth, die dieser in einem Brief an den Wiener Historiker Heinrich von Srbik äußerte70: Es ist in seinem [=Kaindls] bekannten Sinn geschrieben, gehässig gegen alles, was irgend mit der kleindeutschen Richtung im Zusammenhang steht, pamphletartig, so daß ich besorge, es werde in der jetzigen Zeit viel Schaden anrichten71. Und Srbiks Kollege Wilhelm Bauer72 glaubte in Reaktion auf dieses Buch geradezu einen Angriffsplan entwerfen zu müssen, um K. so wirksam wie nur möglich entgegenzutreten. Es sei jedoch zuallererst Grazer Ehrensache, den Kampf gegen Kaindl aufzunehmen73. In Graz kam jedoch laut Srbik deshalb keine einheitliche Front gegen Kaindl zustande, weil Hans Pirchegger74 unverbrüchlich zu ihm gehalten habe75. Kaindls Schrift „Österreich, Preußen, Deutschland" dürfte aus der Sicht vieler seiner Kollegen nicht zuletzt aus taktischer Sicht zur Unzeit erschienen sein. Die aus Christlichsozialen und Großdeutschen bestehende österreichische Regierung 68 Vgl. zu einer Systematik von Ideen und Diskursen innerhalb der antimodernen Rechten Stefan B R E U E R , Ordnungen der Ungleichheit - die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1 8 7 1 - 1 9 4 5 (Darmstadt 2 0 0 1 ) . 6 9 K A I N D L , Österreich, Preußen, Deutschland (wie Anm. 6 0 ) 3 1 9 . 70 Eine überzeugende Studie zu Srbik steht noch aus. 71 Heinrich Ritter von Srbik, Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1912-1945, hg. v. Jürgen K Ä M M E R E R (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 55, Boppard a. Rh.) 280 (Johann Loserth an Srbik, 26.05.1926). 72 Zu Bauer siehe den Beitrag in diesem Band. 73 ÖAW, Archiv, NL Wilhelm Bauer, K. 3/12, Bauer vermutlich an Srbik 29.05.1926. 74 Vgl. Hans PIRCHEGGER, [Selbstdarstellung], in: Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 1-2, hg. v. Nikolaus G R A S S (Innsbruck 1950/51) 1 77-87. 75 Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 71) 286, Bernhard Seuffert an Srbik 19.06.1926.

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begann nämlich Mitte der 1920er Jahre, den „Anschluss", der im diplomatischen Sprachgebrauch freilich euphemistisch unter „Zusammenschluss" firmierte, neuerlich aufzugreifen und durch vertrauliche Gespräche mit der deutschen Regierung zu erörtern. Zumindest kann Loserths Befürchtung, dass Kaindls tendenziös angelegtes Buch den Gegnern der Anschlußbewegung eine willkommene Waffe sein werdelb, in diese Richtung hin gedeutet werden. Die praktische Angleichungspolitik kam der Strategie des deutschen Außenministers Gustav Stresemann entgegen, Österreich als „Vorposten der deutschen Wirtschaft an der Donau" zu betrachten und über die Alpenländer wirtschaftliche Brücken zu den deutschen Minderheiten in Südosteuropa zu schlagen77. Kaindls Ausführungen lagen zwar ideologisch nahe an dieser Konzeption, konnten jedoch als kontraproduktiv erscheinen, da sie einen heiklen politischen Aushandlungsprozess zu untergraben schienen, dessen Erfolgsaussichten ohnehin als ungewiss betrachtet wurden. Die Auseinandersetzung um Kaindl zog innerhalb der Geschichtswissenschaft weite Kreise. Die Zeitschrift „Schönere Zukunft", das Organ des katholisch-nationalen Milieus in Österreich, bot Kaindls Befürwortern und Gegnern, aber auch ihm selbst ein Forum, auf dem Meinungsverschiedenheiten ausgetragen werden konnten. Srbik bekräftigte dort seine Methoden- und Terminologiekritik an Kaindl. Dieser übertrage Parteibezeichnungen wie „großdeutsch" und „kleindeutsch", die erst 1848 in der Frankfurter Paulskirche entstanden waren, auf historisch weiter zurück reichende Zeiten, die von ganz anderen Problemen bestimmt gewesen seien. Im Übrigen sei Österreichs führende Rolle in Deutschland „nicht durch Preußen allein, sondern auch durch die deutsche Nationalstaatsidee und durch das Erstarken der fremdnationalen Triebe in Österreich selbst" zugrunde gegangen 78 . Rudolf Henle, Ordinarius für römisches und bürgerliches Recht an der Universität Rostock, verteidigte Kaindl hingegen. Srbik kritisiere Kaindl zu Unrecht dafür, dass dieser aufzeige, wie die deutsche Nation ihre Entwicklung günstig gestalten hätte sollen. Gerade die „hypothetische Aufdeckung der Wege, die statt zum eingetretenen Zusammenbruche vielmehr zum Heile geführt haben würden", sah Henle nämlich als ein methodisch durchaus gerechtfertigtes kontrafaktisches Experiment an. Dem gegenüber tat er Srbiks Position als ,,schwächliche[n] Relativismus" ab79. 76 Ebd. 281, Johann Loserth an Srbik 26.05.1926. 77 Norbert SCHAUSBERGER, Der Griff nach Österreich. Der Anschluß (Wien/München 1978) 128. Ende der 1920er Jahre erreichten die Angleichungskontakte ihren Höhepunkt, als das seit 1927 lebhaft diskutierte Projekt einer Zollunion zwischen den beiden Ländern verwirklicht werden sollte und nur durch eine französische Intervention gestoppt werden konnte. 78 Heinrich von SRBIK, „Unmethodische Geschichtsbetrachtung", in: Schönere Zukunft 3 (1927) 104— 106, hier 106,105. Vgl. auch DERS., Kleindeutsch und Großdeutsch. Ein kritischer Beitrag zu Kaindls Buch „Österreich, Preußen, Deutschland", in: Archiv für Politik und Geschichte 4 (1926) 2 5 1 263. Zu Srbiks Interpretation deutscher Geschichte vgl. Karen SCHÖNWÄLDER, Heinrich von Srbik. „Gesamtdeutscher Historiker" und „Vertrauensmann" des nationalsozialistischen Deutschland, in: Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung 1-2, hg. v. Doris KAUFMANN (Göttingen 2000) 2 528-544, hier 5 3 2 540. 79

Rudolf

HENLE,

Unmethodische Geschichtsbetrachtung, in: Schönere Zukunft

3 (1927) 37-39,

hier

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Trotz des Beistands, den Kaindl von einigen Historikern erfuhr80, ist zu konstatieren, dass es Srbik gelang, Kaindl in der Historikerzunft weitgehend an den Rand zu drängen. Srbik, einer der einflussreichsten Vertreter der „Wiener Schule" der Geschichtswissenschaft, wurde dabei von angesehenen Fachkollegen unterstützt: Loserth rückte seinen ehemaligen Schüler in die ungeliebte „schwarzgelbe" und „klerikale" Ecke; der Berliner Neuzeithistoriker Arnold Oskar Meyer schmähte Kaindls Rostocker Apologeten als einen „geborenen Hannoveraner". Dessen Zugehörigkeit zur Weifenpartei sei aufgrund der Tatsache, dass er seinen Artikel „Unmethodische Geschichtsbetrachtung" auch in der „Hannoverschen Landeszeitung" veröffentlicht habe, kaum zu bezweifeln81. Beim „Deutschen Historikertag" in Graz, der im September 1927 stattfand, blieb eine offene Konfrontation der gegensätzlichen Standpunkte nicht aus. Wilhelm Mommsen hielt ein Referat, in dem er indirekt auf die Kontroverse Kaindl-Srbik-Henle einging. Mommsen suchte die unüberwindlich scheinenden Hürden, die sich zwischen einer „großdeutschen" und einer „kleindeutschen" Richtung in der Geschichtswissenschaft aufgebaut hatten, mit historischen Argumenten zu Fall zu bringen: Die „Großdeutschen" des 19. Jahrhunderts seien keine einheitliche Gruppierung gewesen; bei ihnen hätten sich vielfach partikularistische und konfessionelle „Bedenken" eingenistet. Den „Kleindeutschen" könne man umgekehrt nicht ohne weiteres vorwerfen, gemeinsame Interessen aller Deutschen vernachlässigt zu haben. Das kleindeutsche Programm sei im Gegenteil „fast stets mit großdeutschen Zukunftszielen" verknüpft gewesen82. In der sich daran anschließenden Diskussion betonte Kaindl vor allem „den großdeutschmitteleuropäischen Charakter der alten Kaiserpolitik". Er verlangte „eine gerechtere Wertung des Anteiles Österreichs an der deutschen Einheitsbewegung"83. Darauf folgte laut Bericht der HZ eine „würdige Verwahrung [Harold] Steinackers, im Namen auch anderer Fachgenossen aus Österreich, gegen die von Kaindl beliebten Methoden und Mittel"84. Steinacker85 versuchte immerhin die hoch gehenden Wogen zu glätten, indem er seine eigene „karpatendeutsche" Herkunft hervorhob. Er leitete daraus seinen Anspruch ab, „besser vielleicht als ein Binnendeutscher" Kaindls „hervorragenden Verdienste um Geschichte und Gegenwart des südöstlichen Deutschtums zu schät-

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38; ders., Im Kampf um Großdeutsch und Kleindeutsch. Relativismus und Subjektivismus in der Geschichtsauffassung, in: Schönere Zukunft 3 (1927) 265-267. Vgl. u. a. Ignaz Philipp DENGEL, Eine „Deutsche Geschichte" in großdeutscher Beleuchtung, in: Schönere Zukunft 1 (1926) 1017-1020; vgl. auch die Kaindl würdigende Äußerung des ehemaligen österreichischen Ministerpräsidenten Max von HUSSAREK, Der Deutschen Zukunft nach großdeutschem Urteile, in: Schönere Zukunft 1 (1926) 1135-1138. Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 71) 281, 304, Johann Loserth an Srbik 26.05.1926; Arnold Oskar Meyer an Srbik 07.07.1927; vgl. auch 209, 312, 322 die inhaltlich gleich lautenden Schreiben Gerhard Ritters, Karl Brandis und Willy Andreas' an Srbik. Wilhelm MOMMSEN, Zur Beurteilung der deutschen Einheitsbewegung, in: HZ 138 (1928) 523-543, hier bes. 529, 542. Bericht über die sechzehnte Versammlung Deutscher Historiker zu Graz vom 19. bis 23. September 1927 (Graz 1928) 24. K. JACOB, Allgemeines, in: HZ 137 (1928) 347. Zu Steinacker siehe den Beitrag in diesem Band.

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zen". Bei aller grundsätzlichen Übereinstimmung mit seinem Grazer Kollegen, wenn es um „eine gerechte geschichtliche Einschätzung Österreichs" gehe, sehe er jedoch „die Gefahr, daß die alte kleindeutsche Einseitigkeit durch eine neue großdeutsche Einseitigkeit abgelöst wird; das wäre eine einfache Umkehrung, durch die der leidige Gegensatz nicht beseitigt, sondern verewigt würde"86. Mit dem Grazer Historikertag scheint der Streit um die „kleindeutsche" und „großdeutsche" Geschichtsauffassung seinen Höhepunkt erreicht zu haben. Er brachte auch ein gewisses Ende der Diskussion, da sich die „Wiener Schule" der Geschichtswissenschaft innerhalb der österreichischen Historikerschaft erkennbar durchgesetzt hatte. Srbiks „gesamtdeutsche Geschichtsauffassung" zielte darauf ab, die historischen Gegensätze zwischen Österreich und Preußen zu „verstehen" und sie miteinander zu „versöhnen"87. Sie hatte in reichsdeutschen Historikerkreisen ein positives Echo erfahren. Kaindls „großdeutsche" Betrachtungsweise, die Österreichs historische Rolle gegen vermeintliche Angriffe aus Deutschland verteidigen sollte, war hingegen überwiegend als unnötig polarisierend abgelehnt worden: Sie schien die zeitweise enge Kooperation zwischen den deutschen und österreichischen Historikern zu gefährden88. Über dem offensichtlich Trennenden sollte nicht vergessen werden, dass die beiden Streitparteien inhaltlich einander näher waren, als die kämpferische Schroffheit der Auseinandersetzung es suggerierte. Srbik bezeichnete sich selbst als einen Befürworter „großdeutscher" und „mitteleuropäischer" Gedanken; tendenziöse „kleindeutsche" Richtungen der Geschichtswissenschaft, insbesondere eine unkritische Verherrlichung Preußens, lehnte er unmissverständlich ab. Kaindl betonte in eben dieser Frage seine Übereinstimmung mit Srbik89. Dieser soll sogar „manche Pfeile" von seinem Widersacher abgewehrt haben, „als man ihn sogar moralisch fertigmachen wollte"90. Inhaltliche Differenzen um einander teils überschneidende Begrifflichkeiten, etwa jene von „großdeutsch" und „gesamtdeutsch"91, dürften für sich genommen 86 Harold STEINACKER, Österreich und die deutsche Geschichte. Vortrag auf dem Deutschen Historikertag zu Graz (1927), in: DERS., Volk und Geschichte. Ausgewählte Reden und Aufsätze (Brünn/München/ Wien 1943) 1-41, hier 22. 8 7 Vgl. Heinrich von S R B I K , Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8 (1930) 1 -12. Zur Ideologie der so genannten „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung" vgl. H E I S S , Von Österreichs deutscher Vergangenheit (wie Anm. 62) 45-50. 88 Sojedenfalls deutet O B E R K R O M E , Volksgeschichte (wie Anm. 3) 77, die Kontroverse. 89 Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 71) 285, Srbik an Loserth 05.06.1926; Raimund Friedrich K A I N D L , Professor v. Srbik und mein Buch „Österreich, Preußen, Deutschland". Beiträge zur Revision der kleindeutschen Geschichtsschreibung, in: Schönere Zukunft 3 (1928) 126^130, hier 128. 90 So äußerte sich jedenfalls ein Laudator Kaindls, der für ihn allerdings so eindeutig Partei ergriff, dass seine Stellungnahme nur einen begrenzten Aussagewert aufweist: Hans PRELITSCH, „Der Karpatendeutsche" Raimund Friedrich Kaindl. Zu seinem 100. Geburtstag, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 15 (1966) 198-203, hier 202. 91 Ein gewisses Ausmaß an begrifflicher Verwirrung lässt sich zumindest bei einem späteren Apologeten Kaindls erkennen, der diesen als einen „Vorkämpfer eines gesamtdeutschen [sie!] Geschichtsbewußtseins" beschrieb. Er setzte damit ausgerechnet jenen Begriff mit Kaindl in Verbindung, den Srbik für die von ihm vertretene Richtung in Anspruch genommen hatte, siehe

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den Konflikt kaum erklären92. Das grundlegende Einvernehmen darüber, dass der Geschichtswissenschaft eine „Sinn" stiftende Funktion zukomme, teilten die an der Kontroverse beteiligten Historiker ohnehin. Wilhelm Mommsen deklarierte für die Geschichtsforschung etwa das Ziel, „ein gemeinsames Geschichtsbild" zu schaffen, ungeachtet bestehender Differenzen zwischen einer „kleindeutschen" und einer „großdeutschen" Richtung93. Solche apologetischen Zugänge zur deutschen Geschichte waren durchwegs darauf angelegt, der Vollendung des deutschen Nationalstaats historiografisch vorzuarbeiten. Freilich setzten die Historiker ihre Akzente jeweils unterschiedlich: Srbik sah in einer „kleindeutschen" Sicht, aber auch in der von Bismarck „mit Blut und Eisen" vollzogenen „kleindeutschen" Lösung positive nationale Werte. Kaindl gewichtete hingegen stärker den „großdeutsch-mitteleuropäischen Gedanken" und versuchte diesem einen historischen „Sinn" zu verleihen: Er ging dabei so weit, Karl den Großen zum ersten Vollstrecker der Idee eines politisch und kulturell geeinten „Mitteleuropa" zu erklären94. Kaindl gehörte damit zu den „Erfindern" einer spezifischen historiografischen Tradition95, die dazu geeignet schien, deutsche Machtansprüche und Expansionspläne affirmativ als Teil einer angeblich notwendigen geschichtlichen Entwicklung heraus zu begreifen.

III. Eine „kämpferische" Geschichtswissenschaft? „Nationale Schutzarbeit" zwischen defensivem Besitzstandsdenken und „völkischer" Aggression Die zeitgenössische Relevanz von Kaindls historiografischen Schriften lässt sich nur dann differenziert einschätzen, wenn von der These ausgegangen wird, dass „Wissenschaft" und „Politik" bei dem Czernowitzer Historiker einander stark durchdrangen. Damit erfahren die eingangs gestellten Fragen nach seinem Volksbegriff und nach den damit verknüpften Eingrenzungs- und Ausgrenzungsmechanismen neuerlich ihre besondere Konturierung. „Nationale Schutzarbeit" figurierte als eine Chiffre, die „politische" und „wissenschaftliche" Handlungsoptionen eng aufeinander bezog und diese als Ressourcen füreinander ansah. „Schutzvereine" dienten in der Selbstsicht „völkischer" Aktivisten per definitionem der nationalen Selbstverteidigung. Die vereinsmäßig organisierte „Schutzarbeit"

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Anton Adalbert K L E I N , Raimund Friedrich Kaindl. Leben und Werk (1866-1930), in: Raimund Friedrich Kaindl (wie Anm. 14) 7-12, hier 11. Gottas nimmt an, dass die Auseinandersetzung zwischen den beiden Historikern in Kaindls Berufung nach Graz einen Hintergrund hatte. Srbik äußerte sich nämlich gegenüber Bauer wenig erfreut darüber, dass gerade Kaindl, den er als Konkurrenten „für nicht sehr gefährlich" hielt, das Amt erhalten hatte. Zitiert nach G O T T A S , Neuland (wie Anm. 3) 165f. M O M M S E N , Beurteilung (wie Anm. 82) 543. „Seit Karl dem Großen" beherrsche die Mitteleuropa-Idee „das deutsche Schicksal". K A I N D L , Österreich, Preußen, Deutschland (wie Anm. 60) IX. Vgl. hierzu Eric J . H O B S B A W M , Das Erfinden von Traditionen, in: Kultur & Geschichte. Neue Einblicke in eine alte Beziehung, hg. v. Christoph C O N R A D , Martina K E S S E L (Stuttgart 1998) 97-118.

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orientierte sich meist auf multiethnische Grenzregionen hin. Sie umfasste durchaus offensiv angelegte wirtschaftliche, politische und medial-propagandistische Aktivitäten. Vor dem Ersten Weltkrieg war Kaindl einer der rührigsten Akteure deutschnationaler „Schutzarbeit" in der Bukowina. Ethnografische und historische Veröffentlichungen, in denen Kaindl die kulturellen Leistungen deutscher Kolonisten herausstellte, deckten nur eine Seite seiner im weiteren Sinn „politischen" Aktivitäten ab. Die vermutlich weite Kreise ansprechende publizistische Seite seines aktiven Eintretens für das „Deutschtum" umfasste seine Mitarbeit an verschiedenen galizien- und bukowinadeutschen Zeitungen und Zeitschriften96, die Veröffentlichung heimattümelnder Belletristik97, vor allem aber die Konzeptualisierung und Durchführung so genannter „Karpatendeutscher Tagungen". Kaindl selbst betonte, dass die Geschichtswissenschaft die nationale „Schutzarbeit" mit historischen Argumenten unterstützen sollte: Habe ihn „früher" vor allem sein historisches Interesse dazu veranlasst, sich mit der deutschen Einwanderung zu befassen, so sei mit dem Aufkommen der deutschen „Schutzvereine" die Idee hinzugetreten, „daß diese Forschungen die Schutzarbeit fördern könnten"98. Die historische Forschung habe so „die früher bestandenen innigen freundnachbarlichen Beziehungen zwischen den Ansiedlungsgebieten" festgestellt, „die vielfach überaus gleichmäßige historische Entwicklung dieser Siedlungen" aufgedeckt und schließlich auf „die gemeinsame Abstammung der Kolonisten" hingewiesen99. Der Utopie einer deutschen „Volksgemeinschaft" folgend, die „reale" gesellschaftliche Interessenskonflikte negierte, begründete Kaindl den Sammelbegriff der „Karpatendeutschen". Das Bewusstsein für die nationale Zusammengehörigkeit der deutschsprachigen Bevölkerung, die in diesen Ländern verstreut siedelte, musste allerdings erst projektiv geschaffen werden100. Hierzu bedurfte es eines organisatorischen Rahmens - der „Karpatendeutschen Tagungen" - und vor allem einer diskursiven Selbstverständigung jener bildungsbürgerlichen Eliten, die das Projekt des „Karpatendeutschtums" ins Werk setzten. Kaindl war der Initiator dieser Veranstaltungen, die in Czernowitz (1911), in Ruma in Slawonien (1912), in Wien (1913) und in Biala in Westgalizien (1914) stattfanden. Unterstützung fand Kaindl, der 1911 in Czernowitz zum Vorsitzenden des geschäftsfuhrenden Ausschusses der „Karpatendeutschen Tagungen" gewählt wurde101, vor allem bei Aktivisten der un96 Wie z. B. am „Deutschen Volksblatt für Galizien", für das Kaindl historische Beiträge verfasste; vgl. Deutsche Geschichte im Osten Europas (wie Anm. 48) 139-140. 97 Zu den literarischen Mustern und slawophoben Stereotypen in KAINDLS Heimatromanen: Die Tochter des Erbvogts. Roman aus Krakaus deutscher Zeit (Stuttgart/Berlin 1914), und: Lose der Liebe. Roman aus den deutschen Ostmarken (München 1925), vgl. Andrei CORBEA-HOISIE, Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mittelosteuropa (Wien/Köln/Weimar 2003) bes. 131147.

98 KAINDL, [Selbstdarstellung] (wie Anm. 16) 18. 99 Raimund Friedrich KAINDL, Die Karpathendeutschen und ihre Tagungen, in: Österreichische Rundschau 36 (1913) 157-163, hier 160-161.

100 Zur primordialistischen Konzeption der Nation und den Phantasmen ihrer „Erweckung" vgl. Ernest GELLNER, Nationalismus. Kultur und Macht (Berlin 1999) 147-150. 101 Zum Obmannstellvertreter des Ausschusses wurde der deutschradikale Landtagsabgeordnete in der Bukowina Edwin von Landwehr gewählt, vgl. Deutschradikales Jb. 3 (1913) 343.

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garndeutschen Bewegung, wie zum Beispiel bei den Minderheitenpolitikern Edmund Steinacker und Rudolf Brandsch102. Kaindl stellte die Erhaltung des Deutschtums in den östlichen Ländern der Monarchie als „eine staatserhaltende Tat" dar. Daneben betonte er das „völkische" Ziel eines Zusammenschlusses der „Karpatendeutschen": Das „Karpathenland" bilde nämlich „einen wichtigen Teil der Ostgrenze des geschlossenen deutschen Siedlungsgebietes in Mitteleuropa [...] Wo auch immer diese Vorposten vernichtet werden oder weichen, beginnt das Eindringen feindlicher Elemente in das deutsche Mutterland [...] Bricht einmal dieser Damm zusammen, dann werden die begehrlichen Feinde Streifen für Streifen deutschen Besitzes zu verschlingen suchen; alle freigewordenen Kräfte und Mittel, die jetzt der Kampfan den Grenzen bindet, werden zu diesem Zweck verwendet werden". Im Übrigen pflegten auch deutsche Historiker in Bezug auf die preußischen „Ostmarken" den Mythos der deutschen „Vorposten" und beschworen die Gefahren slawischer Einwanderung: „Wer die Dämme einreißt", so etwa Dietrich Schäfer in ähnlicher Diktion wie Kaindl, „läßt die Flut ins Land"103. Dass die slawischen „Feinde" sich schon bedrohlich mitten im deutschen Kerngebiet eingenistet hatten, suggerierte Kaindl mit folgenden Worten: „Wie begehrlich treten die Tschechen schon heute im deutschen Wien auf; welche Erfolge würden sie erringen, wenn sie einmal das Deutschtum in den Sudeten niedergerungen hätten!"104 Begleitet von derartigen düsteren Warnungen und flammenden Appellen an das deutsche Gemeinschaftsgefühl, entfalteten die „Karpatendeutschen Tagungen" eine Art Leistungsschau des „Deutschtums" im Südosten der Monarchie105. Besonders gegenüber Slawen und Ungarn sollte die „völkische" Geschlossenheit der „Karpatendeutschen" veranschaulicht werden. Dahinter stand die sozialdarwinistisch grundierte Vorstellung, dass die einzelnen Nationen in einem andauernden Wettbewerb stünden. Die ritualisierte Inszenierung „völkischer" Einheit hatte eine nationalen Sinn stiftende Funktion. Kaindl beschrieb die vermeintlich erfolgreiche kulturelle Mission und deutsche, Arbeit" im früher unzivilisierten „Osten" in häufig wieder kehrenden Wendungen. Die stete Wiederholung der nur wenig variierten Botschaft war sowohl ein Charakteristikum seiner Veröffentlichungen, als auch des überregionalen und überkonfessionellen „völ-

Vgl. Edmund STEINACKER, Lebenserinnerungen (München 1 9 3 7 ) 1 9 6 . 103 Zitiert nach Steffen BRUENDEL, Volksgemeinschaft oder Volksstaat. Die „Ideen von 1914" und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg (Berlin 2003) 284; KAINDL, Die Karpathendeutschen (wie Anm. 99) 158f. 102

1 0 4 E b d . (KAINDL) 1 5 9 .

105 Hier kann und soll ein tatsächlicher „Erfolg" dieser Tagungen im Sinne ihrer gesellschaftlichen Reichweite nicht abgeschätzt werden. Dass Kaindls Absicht, das „Zusammengehörigkeitsgefühl" der Deutschen im Karpatenraum zu stärken, als „durchaus gelungen betrachtet werden" kann, gilt in der Literatur weithin als erwiesen, so z. B. SEEWANN, Kaindl (wie Anm. 5) 319. Neuere Forschungsansätze treten hingegen für eine vergleichende Analyse ein, um die tatsächliche gesellschaftliche Relevanz derartiger Strömungen einzuschätzen, vgl. hierzu Peter HASLINGER, Nationale Schutzvereine in Ostmitteleuropa. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=4891 (17.02.2006). Zur Bewertung dieser Tagungen innerhalb der „völkischen" Bewegung vgl. auch STEINACKER, Lebenserinnerungen (wie Anm. 102) 180-196.

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kischen" Zusammenschlusses, wie er in den „Karpatendeutschen Tagungen" einleuchtend zum Ausdruck gebracht werden sollte. In der Bukowina wirkte sich die Tendenz, politische Verhältnisse aus einem ethnisierenden Blickwinkel heraus zu betrachten, vergleichsweise spät gesellschaftlich aus. Jacques Le Rider konstatiert, dass vor dem Ersten Weltkrieg in dieser artifiziellsten Provinz der Monarchie ein „Fast-Gleichgewicht der Völker" existierte. Eine derartige Balance lässt sich jedoch kaum auf einer abstrakten Ebene der „Völker" ausmachen, sondern dürfte eher als Ausdruck eines Elitenkonsenses zu beschreiben sein. Ein solches - wie auch immer geartetes - zeitlich begrenztes interethnisches Einvernehmen scheint paradoxerweise die Entstehung einer territorialen Identität begünstigt zu haben, die ethnisch definierte Sonderinteressen zeitweilig zu überlagern vermochte. Als eine regionale Besonderheit erschien weiters der Umstand, dass die Bukowinaer Juden eine eigene „deterritorialisierte" „Nationalität" bildeten106. Deutschnationale „Schutzarbeit" konnte sich nicht zuletzt deshalb in der Bukowina wenigstens eine Zeitlang mit der „übernationalen" Konzeption des österreichischen Staates verbinden 107 . Dies sollte sich spätestens, allerdings erheblich mit den Umwälzungen des Ersten Weltkriegs ändern. Der Krieg entfesselte in Kreisen deutscher und österreichischer Politiker und Gelehrter eine rege bevölkerungspolitische Debatte um die ethnischen Grenzlinien in Ostmittel- und Südosteuropa. Deutsche Wissenschaftler arbeiteten umfassende Siedlungspläne aus, die den Zweck verfolgten, „durch die Aussiedlung eines Teils der polnischen Bevölkerung Raum für deutsche Siedler zu gewinnen". Diese Kolonisten sollten idealiter einen „Grenzwall" gegen die „slawische Flut" schaffen 108 . Der inzwischen in Graz tätige Kaindl, den Srbik im Jahr 1916 in einem Brief an einen Kollegen im Übrigen einen begeisterten Kriegsfreund nannte109, dürfte sich angesichts der Radikalisierung des ethnopolitischen Diskurses darin bestärkt gefühlt haben, die deutschsprachigen Bevölkerungsgruppen in Ostmitteleuropa als möglichst weiter auszubauende „Vorposten" deutscher Kultur zu betrachten. In der Schrift „Deutsche Siedlung im Osten" drückte er seine Erwartung aus, dass der „Überschuß deutscher Volkskraft", der seit der Entdeckung Amerikas nach Übersee abgeflossen und dem deutschen „Volkstum" verloren gegangen sei, nun endlich in den Raum zwischen Westkarpaten und Donaumündungen gelenkt werden könnte 110 . Der Weltkrieg habe die verbündeten Mittelmächte von ihren überseeischen Jacques L E R I D E R , Die Erfindung regionaler Identität: Die Fälle Galiziens und der Bukowina, in: Metropole und Provinzen in Altösterreich ( 1 8 8 0 - 1 9 1 8 ) , hg. v. Andrei C O R B E A - H O I S I E , Jacques L E R I D E R (Wien/Köln/Weimar 1 9 9 6 ) 1 1 - 1 6 , hier 1 5 . 107 Ebd. 16. 108 Vgl. Wolfgang J. M O M M S E N , Anfänge des ethnic cleansing und der Umsiedlungspolitik im Ersten Weltkrieg, in: Mentalitäten - Nationen - Spannungsfelder. Studien zu Mittel- und Osteuropa im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Eduard M Ü H L E (Marburg 2001) 147-162, hier bes. 152; vgl. hierzu auch Vejas Gabriel LIULEVICIUS, Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg (Hamburg 2002). 109 Srbik, Korrespondenz (wie Anm. 71) 59, Srbik an Emil von Ottenthai 10.01.1916. 110 Fast gleich lautende Vorschläge unterbreiteten in den 1840er Jahren der Ökonom Friedrich List und in den 1880er Jahren der „völkische" Theoretiker Paul de Lagarde, vgl. Wolfgang W I P P E R M A N N , 106

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Verbindungen abgeschlossen. Umso mehr sei es jetzt notwendig, die Jahrhunderte lang versäumte Gewinnung deutschen Koloniallands im Osten wieder aufzunehmen, dort neue Absatzmärkte zu erschließen und so die wahre politische Aufgabe der verbündeten Monarchien zur Geltung zu bringen. Während er wie bisher davor warnte, die „karpatendeutschen" Siedlungen aufzugeben, trat er jetzt zusätzlich dafür ein, von ihm nicht näher bestimmte „unzuverlässige Elemente" umzusiedeln und die aus Südrussland abwandernden Deutschen „in unsere Grenzgebiete" zu verpflanzen 1 ". Seine kolonialimperialistische Argumentationslinie, die wirtschaftliche Interessen mit „völkischen" Expansionsphantasien verknüpfte, behielt Kaindl trotz des für Österreich und Deutschland verlorenen Weltkrieges unverändert bei. Im Jahr 1921 erklärte er, dass die deutsche Siedlung in den Karpatenländern im höheren Interesse des gesamten Deutschtums liege. Da die „Überseepolitik" gescheitert sei, biete sich „der Osten" mehr denn je als Zielgebiet „überschüssiger" Kräfte an112. Der appellative Grundzug dieser Schriften ist ebenso deutlich erkennbar wie ihre relative praktische Unbestimmtheit. Kaindls plakative Forderungen nach einem bevölkerungspolitisch begründeten Siedlungsprogramm wurden im Ersten Weltkrieg gewissermaßen „zeitgemäß": Sie gehörten ebenso zur Agenda der Kriegszieldebatte wie die programmatische Vision eines deutsch beherrschten „Mitteleuropas"113. Die von Kaindl skizzierten Vorstellungen, wie die Bevölkerung in Ostmitteleuropa aufgrund zugeschriebener Kriterien ihrer ethnischen Herkunft umgeschichtet werden könnte, deuteten jedoch bereits auf eine solche Konzeptualisierungen weit verschärfende, ethnopolitisch radikalisierte Variante deutscher Hegemonialpolitik in Osteuropa hin. Diese sollte allerdings erst im Zweiten Weltkrieg im Zeichen nationalsozialistischer Rassen- und Bevölkerungspolitik verwirklicht werden.

IV. „Der Karpatendeutsche": Zur Rezeption Kaindls in der „Volksgeschichte" der späten Weimarer Republik und des „Dritten Reiches" Als Kaindl am 14. März 1930 in Graz verstarb, würdigte Hans Pirchegger seinen Kollegen mit folgenden Worten: „Ein aufrechter Mann, einfach, ehrlich und treu, ein Feind jeder Lüge und Intrige, voll Liebe zum deutschen Volk und Reich, so stand Kaindl vor uns und so wird er weiterleben, der Karpathendeutsche"114. Den Mythos, ein Vorkämpfer des Deutschtums im „Osten" zu sein, hatte der Verstorbene in Eigenregie Antislavismus, in: Handbuch zur „Völkischen Bewegung", hg. von Uwe PUSCHNER (München 1996) 512-524, hier 520-521. 111 Raimund Friedrich KAINDL, Deutsche Siedlung im Osten (Der Deutsche Krieg. Politische Flugschriften 34, Stuttgart/Berlin 1915) bes. 9, 10, 15, 22, 34, 36, 37. 112 Raimund Friedrich KAINDL, Deutsche nach dem Osten! Eine Denkschrift über unsere künftige Wirtschaftspolitik, in: Deutschlands Erneuerung 1/2 (1921) 34 4 0 , 94-102, hier 98. 113 Vgl. hierzu Friedrich NAUMANN, Mitteleuropa (Berlin 1915). 114 Hans PIRCHEGGER, Raimund Friedrich Kaindl, in: Deutsche Hefte für Volks- und Kulturbodenforschung 1 (1930/31) 32-34, hier 34.

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schon zu Lebzeiten zu inszenieren verstanden. Zumindest in landsmannschaftlichen Kreisen der Galizien- und Bukowinadeutschen haftete ihm seither der Ruf des unbeugsamen „Karpatendeutschen" an115. Hier soll danach gefragt werden, ob und wie Kaindls Schriften in „volksgeschichtlichen" Strömungen der 1930er und 1940er Jahre rezipiert wurden. Dabei wird die Beobachtung zugrunde gelegt, dass seine frühen ethnografischen und landesgeschichtlichen Studien sowohl methodologische, als auch thematische Affinitäten zur späteren „Volksgeschichte" aufwiesen116. Die verschiedenen Richtungen und Theoreme, die unter dem Oberbegriff einer deutschen „Volksgeschichte" gebündelt werden sollten, bildeten innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft keine homogene Strömung oder Denkschule. Verschiedene Ausprägungen „völkischer" Geschichtsforschungen wiesen gleichwohl grundlegende Gemeinsamkeiten auf, so in der permanenten Heroisierung des deutschen „Grenzkampfes" oder in der chauvinistischen Behauptung einer spezifischen deutschen Kulturmission im „Osten". Historiker des „Grenz- und Auslanddeutschtums" bezogen sich häufig auf das deutsche „Volk" als Ganzes, sie gliederten dieses aber oftmals in verschiedene ethnische Untereinheiten auf. So konnten beispielsweise die deutschen „Stämme", etwa der karpatendeutsche „Stamm", im Rahmen der deutschen „Volksgeschichte" als eigenständige historische Subjekte angesehen werden. Die Betonung von „Volk" und „Raum" bildete in derartigen Studien ein rhetorisches Kontinuum. So gliederte sich zum Beispiel die „Geschichte der ostdeutschen Kolonisation" von Rudolf Kötzschke und Wolfgang Ebert nach „Landschaften". Kaindls „Karpatenraum" kam hier nicht als eigenständige „Landschaft" vor117. Kaindls Ansinnen, die „Karpatendeutschen" als eine räumlich abgrenzbare Einheit des deutschen „Volks" zu betrachten, blieb, wenn auch nicht immer unter diesem Begriff und nicht immer in direktem Bezug auf Kaindl, in den 1930er Jahren gleichwohl nicht ohne Widerhall: So bildeten die „Karpatendeutschen" in Josef Nadlers „Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften", aber auch in dem populären Sammelwerk „Der deutsche Volkscharakter" einen von mehreren so bezeichneten deutschen „Volksstämmen"118. Josef Hanika, der für das zuletzt genannte Handbuch einen Beitrag über die „Karpatendeutschen" verfasste, beschrieb Kaindls „Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern" an anderer Stelle als wegweisend. Dieser Versuch einer Synthese habe zwangsläufig nur einen ersten Überblick über den Stoff geben können: Denn „ein lückenloses geschichtliches Gesamtbild des Deutschtums im Karpathenland wird erst gezeichnet werden können, bis die Einzelzüge herausgearbeitet sein werden"119. 115 Vgl. PRELITSCH, „Der Karpatendeutsche" (wie Anm. 90). 116 So die Argumentation von O B E R K R O M E , Volksgeschichte (wie Anm. 3) 52f. 1 1 7 Rudolf K Ö T Z S C H K E , Wolfgang E B E R T , Geschichte der ostdeutschen Kolonisation (Leipzig 1 9 3 7 ) 248f. 1 1 8 Josef N A D L E R , Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften 4 : Der deutsche Staat ( 1 8 1 4 - 1 9 1 4 ) (Regensburg 1 9 2 8 ) 9 7 5 ; Josef H A N I K A , Die Karpatendeutschen, in: Der deutsche Volkscharakter. Eine Wesenskunde der deutschen Volksstämme und Volksschläge, hg. v. Martin W Ä H L E R (Jena 1 9 3 7 ) 5 1 4 ^ 5 2 3 . 1 1 9 Josef H A N I K A , Ostmitteldeutsch-bairische Volkstumsmischung im westkarpathischen Bergbaugebiet.

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Fritz Valjavec vertrat zu Kaindl eine ähnliche Position120: Der Münchener „Südostforscher" sah in ihm einen wichtigen Pionier, „dessen geschichtliches Verdienst" es sei, „eine deutsche Südostforschung überhaupt erst in die Wege geleitet zu haben. Mochte auch seine ,Geschichte des Deutschtums in den Karpatenländern' mangels entsprechender Vorarbeiten ungenügend sein, so war immerhin durch Kaindl der Weg für die Zukunft gewiesen"121. Richard Bahr, der Kaindl als Vordenker der Deutschtumsforschung sonst hoch einschätzte, äußerte sich kritisch zu dem für dieses Werk zentrale räumliche Konstrukt: Kaindl habe, „vielleicht etwas vorschnell systematisierend", als „Entdecker" des „Südostdeutschtums" den Namen „Karpathendeutschtum" eingeführt. „Die Einheit, die Kaindl [...] im Deutschtum des Südostens zu sehen glaubte, war es nicht. Die sollte es erst werden. Immerhin ward er auch hier zum Pfadfinder und Bahnbrecher"122. Valjavec und Bahr dürften an Kaindls Begriffskonzept nicht zuletzt deshalb angeknüpft haben, um das „Karpatendeutschtum" - nun unter dem Namen „Südostdeutschtum" - neuerlich für politische Zwecke zu instrumentalisieren. Dieses sollte einen Platz in der aggressiv vorangetriebenen, nationalsozialistisch bestimmten europäischen „Neuordnung" bekommen123. Das Deutschtum in „Südosteuropa" sollte jetzt so dargestellt werden, dass es unter dem Einfluss eines erst jüngst erfolgten „völkischen" Aufbruchs, in den bereits die nationalsozialistische Ideologie stimulierend hinein gewirkt hatte, politisch geeint worden sei. Frühere Ansätze zu einer derartigen „Einigung", wie sie zum Beispiel die von Kaindl organisierten „Karpatendeutschen Tagungen" darstellten, wurden aus diesem Grund, bei aller gleichzeitigen wortreichen Anerkennung der Leistungen früherer Vorkämpfer des „Deutschtums", von der jüngeren Generation der Volkshistorie weithin negiert. In „volks-" und „siedlungsgeschichtlichen" Diskursen galt Kaindl als wichtiger historischer „Vorläufer". Besonders in der deutschen historischen „Südostforschung" eigneten sich konstruierte „Ahnen" wie Kaindl dazu, um das neue Forschungsprogramm von ersten Begründungen zu entlasten. Gleichzeitig konnten Kaindls Vorgaben als unzureichend eingestuft werden. Die damit erzeugten „Distinktionsgewinne" ließen genügend Raum, um Vorschläge für eine methodische Weiterentwicklung zu machen124. Der Volkskundler und Siedlungshistoriker Walter Kuhn beispielsweise setzte sich in seiner Studie „Die jungen deutschen Sprachinseln in Galizien" eingeDargestellt an Herkunft, Besiedlung, Recht und Mundart der Sprachinsel Kremnitz - Deutsch-Proben (Münster 1933) 6. Ähnliche Einschätzungen fanden sich schon in Rezensionen, unmittelbar nachdem dieses Werk erschienen war, vgl. u. a. Karl U H L I R Z , Besprechung Raimund Friedrich Kaindl, Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern, Bde. 1-2, in: HZ 103 (1909) 605-609, hier 606. 120 Zu Valjavec vgl. den Beitrag über Wilfried Krallert in diesem Band. 1 2 1 Fritz VALJAVEC, Wege und Wandlungen deutscher Südostforschung, in: Südostdeutsche Forschungen 1 (1936) 1-14, hier 5. 122 Richard B A H R , Deutsches Schicksal im Südosten (Hamburg 1936) 22. 123 Zum nationalsozialistischen Südosteuropa-Begriff vgl. Karl K Ä S E R , Südosteuropa. Geschichte und Geschichtswissenschaft (Wien 22002) 22. 124 Zur wissenschaftspolitischen Funktionalisierung dieser argumentativen Strategie vgl. Petra B O D E N , Müssen wir alles anders machen? URL: http://iasl.uni-muenchen.de/rezensio/liste/Boden.html (17.02.2006).

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hend mit den Arbeiten des Czernowitzer Historikers auseinander. Dabei wird die auf Quellenforschung und kartografische Darstellung gestützte Denkvorgabe erkennbar, die innere Geschlossenheit des deutschen Kultur- und Rechtsgebiets in Ostmitteleuropa zu betonen und so über Kaindls Ansätze deutlich hinauszugehen. Kuhn beanstandete unter anderem Kaindls Karte des deutschen Rechts, die im ersten Band seiner „Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern" abgedruckt war. Diese stelle nämlich „nur einen Bruchteil der mittelalterlichen Rechtsverleihungen im Westen" dar, „dagegen viele erst im 16.-18. Jahrhundert mit deutschem Recht bewidmete Städte im Osten. Dadurch wird in seiner Karte der Schwerpunkt des Rechtsgebietes nach Osten zu verschoben."125 Adolf Helbok, einer der damaligen Ordinarien der Volkstumshistorie, suchte die „Volksgeschichte" untrennbar mit einer spezifischen Auffassung von „Volkskunde" zu verknüpfen126. Kaindl hatte zwar gleichfalls eine solche Verbindung angestrebt, aber Helbok stufte sein Streben nur mehr als „historisch" interessant ein. Helbok entwarf eine anscheinend „zeitgemäße" sozialbiologische Spielart der „Siedlungsgeschichte", an der er bisher in diesem Feld entstandene Studien zu messen suchte: „Moderne siedlungsgeschichtliche Untersuchungen des Deutschtums in Ungarns", die diesen raumdeterministischen und rassistischen Ansprüchen genügten, lagen seiner Meinung nach jedoch bisher nicht vor: ,,K.[onrad] Schünemann hat dafür die früheste Zeit bis zum 12. Jahrhundert dargestellt und vor ihm R.[aimund] Kaindl [...] Alle diese Arbeiten, vor allem das Werk Kaindls [...], sind wertvolle historische Darlegungen, geben uns aber über die Siedlungsvorgänge in der von uns gemeinten Art [...] nicht befriedigende Aufschlüsse"127. Hermann Aubin meinte hingegen in einem forschungsgeschichtlichen Rückblick zur „Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern": „Was bei Kaindl wenig mehr als ein Gerippe von Ortsnamen und Jahreszahlen war, steht heute als ein gefestigtes Bild geschichtlicher Entwicklung vor uns, deren Bedingungen und Zusammenhänge faßbar sind." Die regional orientierte „volksgeschichtliche" Einzelforschung habe „das karge von Kaindl entworfene Bild bereichert und innerlich vielseitig belebt"128. Kaindl stand aus der damaligen Sicht deutscher „Volkshistoriker" am Beginn einer kontinuierlichen Entwicklung zu einer „ganzheitlichen" Betrachtung 125 Walter KUHN, Die jungen deutschen Sprachinseln in Galizien. Ein Beitrag zur Methode der Sprachinselforschung (Münster 1930) 16; vgl. auch Walter KUHN U. a., Galizien, in: Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums 3, hg. v. Carl PETERSEN U. a. (Breslau 1938) 1-47, hier 46. Kuhn würdigt Kaindl hier auch für Galizien als fuhrenden Vertreter der ,,bodenständige[n] Heimatforschung" vor dem Ersten Weltkrieg; vgl. auch R. SPEK, E. V. LANDWEHR u. a., Bukowina, in: Handwörterbuch des Grenz- und Auslanddeutschtums 1, hg. v. Carl PETERSEN u. a. (Breslau 1933) 611-644. 126 Vgl. Adolf HELBOK, Was ist deutsche Volksgeschichte? Ziele, Aufgaben und Wege (Berlin/Leipzig 1935)9. 127 Adolf HELBOK, Deutsche Siedlung. Wesen, Ausbreitung und Sinn (Halle/Saale 1938) 173f. 128 Hermann AUBIN, Das Gesamtbild der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung, in: Deutsche Ostforschung 1 (Deutschland und der Osten. Quellen und Forschungen zur Geschichte ihrer Beziehungen 20, Leipzig 1942) 331-361, hier 338 und 340. Zu Aubin jetzt ausführlich Eduard MÜHLE, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung (Schriften des Bundesarchivs 65, Düsseldorf 2005), ohne Thematisierung Kaindls.

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der deutschen „Ostsiedlung". Aubin, im „Dritten Reich" und danach einer der programmatischen Köpfe der „Volksforschung", betrachtete diese als das höchste Ziel einer Disziplinen übergreifenden deutschen „Ostforschung".

V. Zusammenfassung „Wissenschaftliche" und „politische" Zielsetzungen waren in Kaindls wissenschaftlichem Werk eng miteinander verwoben: In der Habsburgermonarchie stellte Kaindl seine publizistischen Aktivitäten in den Dienst eines gleichermaßen „großdeutsch" orientierten wie staatsloyalen Konzepts einer historisch legitimierten, gegen Assimilation und Abwanderung gerichteten Solidarisierung der „Karpatendeutschen". Diesem Zweck sollte auch seine „praktische" Tätigkeit als Begründer und maßgeblicher Organisator der „Karpatendeutschen Tagungen" dienen. Die Inszenierung „völkischer" Einheit versinnbildlichte den Anspruch des „Deutschtums", im Wettbewerb mit den slawischen Nationalitäten des Habsburgerreichs seine regionale wirtschaftliche, kulturelle und politische Vormachtstellung zu behaupten. In den 1890er Jahren begann Kaindl seine historisch-volkskundlichen Studien insbesondere zur Bukowina und Galiziens zu veröffentlichen. Damals begründete er seinen Ruf als nationalbewusster Erforscher deutschsprachiger Siedlungsgruppen dieses Gebiets. Diese Forschungen gipfelten in der dreibändigen „Geschichte der Deutschen in den Karpathenländern" (1907-11). Indem er seine rechts- und siedlungsgeschichtlichen Studien mit ethnografischen Feldforschungen verknüpfte, gelangte er zu einer in seiner Zeit ungewöhnlichen, auf das deutsche „Volk" hin zentrierten Auffassung von Landes- und Regionalgeschichte. Methodisch zwischen „Geschichte" und „Volkskunde" oszillierend, gelang es Kaindl jedoch nie, als Historiker eine über seine Wirkungsorte Czernowitz und Graz hinaus reichende Anerkennung zu finden. Mit seiner Polemik gegen die „kleindeutsche" Geschichtsbetrachtung rief er nach 1918 zudem die einmütige Ablehnung der einflussreichen „Wiener Schule" der österreichischen Geschichtswissenschaft hervor. Ihren abschließenden Kulminationspunkt erreichte die Kontroverse zwischen Kaindl und seinen Kritikern aus der österreichischen und deutschen Geschichtsforschung 1927 beim „Deutschen Historikertag" in Graz. Erst „Volksgeschichte" und „Ost-" und „Südostforschung" bezogen sich seit den 1930er Jahren erneut in legitimatorischer Absicht auf Kaindl als einen Pionier „völkischer" Forschungen und regionaler Deutschtumspolitik im Karpatengebiet.

Alfons Dopsch (1868-1953) Die „Mannigfaltigkeit der Verhältnisse" von Thomas Buchner

Abb. 8: Alfons Dopsch

I. Einleitung 1 Der Historiker Alfons Dopsch wird in Überblicksdarstellungen als „einer der angesehensten Vertreter seines Fachs in seiner Zeit"2 beurteilt, dessen größere Publikationen zu den „Hauptwerken der Geschichtsschreibung"3 zählen. Seine Arbeiten hätten „wie ein Erdbeben gewirkt und die althergebrachten herrschenden Lehren auf weite 1

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Teile der Forschungen zu Dopsch wurden im Rahmen eines von der Kulturabteilung der Stadt Wien/Wissenschafts- und Forschungsförderung geförderten Projekts zum Thema „Traditionen der Wiener Wirtschafts- und Kulturgeschichte. Alfons Dopsch und sein .Seminar' in vergleichender Perspektive" (Leitung: Prof. Dr. Josef Ehmer) durchgeführt. Ich danke Prof. Dr. Heinz Dopsch für die Möglichkeit, die in seinem Besitz befindlichen Dokumente zu Alfons Dopsch einsehen zu dürfen (zitiert als: Bestand Dopsch). Für Hinweise danke ich Josef Ehmer, Reinhold Reith, Alexander Pinwinkler und Robert Brandt. Hanna VOLLRATH, Alfons Dopsch, in: Deutsche Historiker 7 , hg. v. Hans-Ulrich WEHLER (Göttingen 1980) 39-54, hier 39. Hanna VOLLRATH, Alfons Dopsch, in: Hauptwerke der Geschichtsschreibung, hg. v. Volker REINHARDT (Stuttgart 1997) 135-138.

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Strecken zerstört"4. Auch außerhalb des Fachs wurde Dopsch Respekt gezollt: Der Ökonom Joseph Schumpeter etwa nannte Dopsch „einen der größten Wirtschaftshistoriker" des frühen 20. Jahrhunderts, der zur Kenntnis der „sozialen Institutionen und Vorgänge des Mittelalters" mehr beigetragen habe „als alle Ökonomen"5. Eine uneingeschränkte Anerkennung der Arbeiten Dopschs in der Geschichtswissenschaft lässt sich allerdings nicht erkennen. Immer wieder wurden und werden daran grundlegende Defizite betont. Verglichen mit Kulturhistorikern vom Format eines Karl Lamprecht wäre er zu konzept- und ideenlos vorgegangen, für einen Wirtschaftshistoriker von Rang habe ihm die theoriegeleitete Vorgangsweise gefehlt, kurz: Im Gegensatz zu Historikern von nachhaltiger Bedeutung habe er seine Arbeiten zu sehr auf die Grundlage traditioneller Methoden und Konzepte gestellt6. Auch seine Bedeutung für einzelne Bereiche der Geschichtswissenschaft wird weder uneingeschränkt anerkannt noch eindeutig bestimmt: Der Mediävist Theodor Mayer bemerkte, sein Doktorvater Dopsch habe „wissenschaftliche Rodungsarbeit geleistet, [...] Wege der Erkenntnis durch das Gestrüpp alter Lehrmeinungen geschlagen"7. Zugleich aber konstatierte Mayer, dass Dopsch „der geschichtlichen Landesforschung fremd gegenüberstand und kein näheres Verhältnis zu ihr fand" 8 . Demgegenüber betonte der Regionalhistoriker Ferdinand Tremel das besonders innige Verhältnis von Dopsch zur Landesgeschichte: „Die Erkenntnis vom Wert der Landesgeschichte [...] war eines der nachhaltigsten Ergebnisse der Lebensarbeit des verstorbenen Gelehrten"9. Versucht man, aus diesen widersprüchlichen Einschätzungen einen gemeinsamen Nenner zu filtern, so ist er darin zu sehen, dass Dopsch einen Historikertypus geradezu idealtypisch zu repräsentieren scheint, der zwar jene Qualitäten verkörperte, die wie die Quellenkritik dem traditionellen Kanon des historischen Fachs zugerechnet werden, dessen Stellenwert für heutige Debatten aber ob seiner Theorieferne oder gar -feindlichkeit im Gegensatz zu anderen frühen Kulturhistorikern als marginal zu erachten ist. Abseits dieses Grundkonsenses finden nur wenige Aussagen über Dopsch ungeteilte 4 5 6

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Rudolf NECK, Alfons Dopsch und seine Schule, in: Wissenschaft und Weltbild. FS für Hertha Fimberg, hg. v. Wolf FRÜHAUF (Wien 1975) 369-383, hier 369. Joseph A. SCHUMPETER, Geschichte der ökonomischen Analyse 2 (Göttingen 1965) 955 und 987. Vgl. Stefan HAAS, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880-1930. Geschichtswissenschaft zwischen Synthese und Pluralität (Münstersche Historische Studien 4, Köln/Weimar/Wien 1994) 263; Herbert HASSINGER, Die Wirtschaftsgeschichte an Österreichs Hochschulen bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, in: Wirtschaft, Geschichte und Wirtschaftsgeschichte. FS zum 65. Geburtstag von Friedrich Lütge, hg. v. Wilhelm ABEL u. a. (Stuttgart 1966) 407-429; Günter FELLNER, Ludo Moritz Hartmann und die österreichische Geschichtswissenschaft (Veröff. des Ludwig-BoltzmannInstituts für Geschichte und Gesellschaft 15, Wien/Salzburg 1985) 303. Theodor MAYER, Ein Rückblick, in: DERS., Mittelalterliche Studien. Gesammelte Aufsätze (Lindau/ Konstanz 1963) 462-503, 463; vgl. auch Alfred HOFFMANN, Alfons Dopsch und die Wiener Schule der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Wirtschaftspolitik und Arbeitsmarkt, hg. v. Hermann KELLENBENZ ( M ü n c h e n 1 9 7 4 ) 9 - 1 4 .

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Theodor MAYER, Probleme der österreichischen Geschichtswissenschaft, in: Alteuropa und die moderne Gesellschaft. FS für Otto Brunner, hg. v. Historischen Seminar der Universität Hamburg (Göttingen 1963) 346-363, hier 357. Ferdinand TREMEL, Alfons Dopsch f , in: ZHVSt 54 (1954) 195-204, hier 199.

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Zustimmung, was durchaus in der widersprüchlich anmutenden Biografie des Wiener Historikers begründet ist: Ein deutschnationaler Historiker, der die Intemationalisierung der deutschsprachigen Geschichtswissenschaften nach dem Ersten Weltkrieg vorantrieb. Ein Wissenschaftler, für den Kultur ein zentraler Begriff war, der das „Seminar für Wirtschafts- und Kulturgeschichte" gründete und im Herausgeber-Beirat der Zeitschrift,»Archiv für Kulturgeschichte" war, aber nur bedingt zu den Vorläufern der modernen Kulturgeschichte gezählt wird10. Ein aus Böhmen stammender Akademiker, der nicht müde wurde, auf die deutschen Leistungen in Ostmitteleuropa hinzuweisen, sich volkshistorischen Ansätzen aber nur teilweise annäherte und von diesen als „Vorläufer" verstanden oder bekämpft, kaum jedoch integriert wurde. Ein Historiker, der maßgeblichen Einfluss auf das akademische Feld ausübte, dem aber im Vergleich zu anderen kaum nachhaltige Wirkung im Fach zukam. Das Beispiel Alfons Dopsch eignet sich demnach besonders, um die „Mannigfaltigkeit der Verhältnisse" - ein von ihm gerne gebrauchter Begriff - in den Geschichtswissenschaften der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts deutlich zu machen.

II. Karrierewege Alfons Dopsch wurde 1868 im böhmischen Lobositz (Lovosice) geboren und entstammte dem katholischen bürgerlichen Milieu11. Seine Herkunft aus dem „deutschböhmischen" Bürgertum verband ihn nicht nur mit zahlreichen anderen Historikern seiner Zeit, zu denen auch sein Zuhörer in Wien und späterer Kontrahent Hermann Aubin zählte12, sondern war zugleich essentieller Teil seiner Selbstdarstellung sowie 10 Dopsch wurde 1927 gemeinsam mit Fritz Kern in den Herausgeberbeirat des AKG berufen; vgl. Helmut NEUHAUS, Hundert Jahre „Archiv für Kulturgeschichte", in: AKG 85 (2003) 1-27, hier 13. Keine Erwähnung findet Dopsch in zahlreichen Überblicken zu den Traditionen der modernen Kulturgeschichte, etwa bei Ute DANIEL, Kompendium Kulturgeschichte. Theorien, Praxis, Schlüsselwörter (Frankfurt/M. 2001) 195-219, oder bei Michael MAURER, Kulturgeschichte, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften 3: Sektoren, hg. v. DEMS. (Stuttgart 2004) 339-418. Ein Hinweis auf Dopsch findet sich hingegen bei Hans SCHLEIER, Historisches Denken in der Krise der Kultur. Fachhistorie, Kulturgeschichte und Anfange der Kulturwissenschaften in Deutschland (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 7, Göttingen 2000) 60. 11 Zu Dopschs Biografie vgl. seinen 1925 erschienenen autobiografischen Text: Alfons DOPSCH [Selbstdarstellung], in: Die Geschichtswissenschaft in Selbstdarstellungen, hg. v. Sigfried STEINBERG (Leipzig 1925) 51 90, im Folgenden zitiert nach dem Wiederabdruck in: Alfons DOPSCH, Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Gesammelte Aufsätze 2, hg. v. Erna PATZELT (Wien 1938, ND Aalen 1968) 277-318; vgl. ferner Herbert KNITTLER, Die Wiener Wirtschaftsgeschichte. Eine Auseinandersetzung mit Alfons Dopsch und seinem Seminar, in: JbLKNÖ NF 63/64 (1998) 325 343. Siehe zuletzt knapp Fritz FELLNER, Doris A. CORRADINI, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-bibliographisches Lexikon (VKGÖ 99, Wien/Köln/Weimar 2006) 97.

12 Vgl. Eduard MÜHLE, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung (Schriftenreihe des Bundesarchivs 65, Düsseldorf 2005), 40-44 zu Aubin in Wien 1910/11; Marc RAEFF, Some Observation on the Work of Hermann Aubin (1885-1969), in: Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, hg. v. Hartmut LEHMANN,

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auch retrospektiver Fremdinterpretationen. Heinz Zatschek etwa sah 1957 Dopsch „in einen Raum hineingestellt, in dem die Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen von den Angehörigen beider Völker höhere Leistungen verlangten"13. Diese Fremdverortung scheint zu einem gewissen Grad auch der Selbstverortung von Dopsch entsprochen zu haben14. Gerade in den Jahren im und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich Dopsch auf wissenschaftlichem, mehr aber auf publizistischem Gebiet, mit der historischen Rolle „der Deutschen" in Ostmitteleuropa auseinander, ein Interesse, das er mit Vertretern „volkshistorischer" Ansätze teilte15. Nach dem Besuch des Staatsgymnasiums Leitmeritz (Litomerice) studierte er ab 1886 an der Universität Wien, wo er Vorlesungen aus Geschichte, Philosophie, Geografie und Germanistik belegte. Sein Studium beinhaltete auch die konzentrierte Ausbildung in historischen Hilfswissenschaften als ordentliches Mitglied des 18. Ausbildungskurses 1889-1891 am IÖG, die für eine Tätigkeit im Archivdienst oder an einer Universität von Vorteil war. Dopsch promovierte 1890 mit einer Dissertation über das „Treffen bei Lobositz" und schloss den Institutskurs mit der Hausarbeit „Entwicklungsgeschichte und Kompetenz des landesfürstlichen Rates (consiliarii) in Österreich bis auf Herzog Friedrich den Schönen (1306)" ab16. Nach anfanglichen kleineren Schwierigkeiten, eine Anstellung zu finden, bot ihm Engelbert Mühlbacher eine Tätigkeit bei den MGH im Rahmen einer Edition der Karolingerdiplome an, die er 1892 auch annahm17. Parallel dazu publizierte Dopsch eine Arbeit zum österreichischen James van

HORN MELTON

(Publications of the German Historical Institute, Cambridge

1994) 239-

249.

13 Heinz ZATSCHEK, Alfons Dopsch (1868-1953), in: Grosse Österreicher 10 (Zürich/Leipzig/ Wien 1957) 160-170, hier 160. Auch Heinrich MITTEIS, Alfons Dopsch zum 70. Geburtstag, in: Forschungen und Fortschritte 14 (1938) 203-204, hier 203, betonte in seiner Würdigung zum 70. Geburtstag von Dopsch: „Er ist also Sudetendeutscher, Grenzlanddeutscher, und die kämpferische, wehrhafte Haltung dieses Menschenschlages ist für sein Lebenswerk bestimmend geblieben". 14 In DOPSCH, Selbstdarstellung (wie Anm. 11) 281, führte Dopsch seinen „kritischen Sinn", der seines Erachtens die Grundlage für die „philologisch-kritische Methode sorgsamster Quelleninterpretation" darstellt, auf seinen von „Misstrauen" geprägten Umgang mit „der slawischen Falschheit und Hinterhältigkeit" in seiner Kindheit und Jugend zurück. 15 Vgl. etwa Alfons DOPSCH, Die historische Stellung der Deutschen in Böhmen, in: Deutschböhmen, hg. v. Rudolph LODGMAN (Berlin 1 9 1 9 ) 1 7 4 9 . Dieser Beitrag ist auch als eigenständige Publikation der „Deutsch-Österreichischen Mittelstelle" auf Englisch erschienen: Alfonso [sie] DOPSCH, The historical position of the Germans in Bohemia (Berlin 1 9 1 9 ) ; vgl. auch Alfons DOPSCH, Österreichs Geschichtliche Sendung (Wien 1 9 1 8 ) . 16 Vgl. kurz Leo SANTIFALLER, Das Institut für österreichische Geschichtsforschung. Festgabe zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs (Veröff. des IÖG 11, Wien 1950) 115. Eine längere Würdigung bei Alphons LHOTSKY, Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854-1954 (MIÖG Erg.-Bd. 17, Graz/Köln 1954) 198f., 224 231, 319-322. Die Dissertation wurde publiziert als: Alfons DOPSCH, Das Treffen bei Lobositz (1. October 1753), sein Ausgang und seine Folgen. Quellenkritische Untersuchungen zur Geschichte des Kriegsjahres 1756 (Graz 1892). 17 Dopsch bemühte sich zeitweilig vergeblich um eine Anstellung im steiermärkischen Archivdienst; vgl. Fritz POSCH, Alfons Dopsch's Bemühungen um Aufnahme in den steirischen Archivdienst, in: Mitteilungen des Steiermärkischen Landesarchives 10 (1960) 27-32. Zur Diplomata-Edition vgl. Bettina PFERSCHY-MALECZEK, Die Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Historica am

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Landrecht, auf Grundlage derer er sich 1893 habilitieren konnte und die venia legendi für österreichische Geschichte erwarb18. Seine Arbeit an den Karolingerdiplomen führte Dopsch im Rahmen ausgedehnter Forschungsreisen nach Frankreich, Belgien, Italien, England, in die Niederlande und nach Spanien. Bereits 1897 war er für mehrere Professuren im Gespräch, so etwa an der Universität Innsbruck anstelle der, so Emil von Ottenthai, „beiden Juden" Josef Egger und Michael Mayr, die „trotz aller Tüchtigkeit hier wirklich unmöglich wären"19. Schließlich schaffte Dopsch aber 1898 im favorisierten Wien den Karriereschritt zum außerordentlichen Professor, dem 1900 eine Professur für österreichische und allgemeine Geschichte folgte. Parallel dazu gelang es ihm, sich in außeruniversitären Gremien zu verankern, etwa als Gründungsmitglied der seit 1897 bestehenden Kommission für Neuere Geschichte Österreichs oder als Mitglied der Akademie der Wissenschaften20. Dopsch gelang also eine rasche und relativ geradlinige akademische Karriere. Seine frühen Arbeiten wurden überwiegend lobend rezensiert, wobei seine Quellenkenntnis und sein innovativer Zugang zur Quellenkritik besonders betont wurden21. Bereits in diesem ersten Stadium seiner Karriere hatte er thematisch und zeitlich breit publiziert, wobei die größte Verbreitung die Neubearbeitung der „Österreichischen Reichsgeschichte" seines 1898 verstorbenen „Patrons" Alfons Huber fand22.

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Institut für Österreichische Geschichtsforschung (1875-1990), in: MIÖG 112 (2004) 412-467, v. a. 412-416. Dopsch hätte offenbar auch nach dem Angebot Mühlbachers den Archivdienst vorgezogen, was er in einem Brief an den steirischen Landesarchivdirektor Josef von Zahn mit der „großen Labilität" der Beschäftigungsverhältnisse im Editionsprojekt begründete; vgl. das Schreiben von Dopsch an Zahn vom 16.03.1892, in: POSCH, Bemühungen, 30f. Alfons DOPSCH, Entstehung und Charakter des österreichischen Landrechtes (AÖG 6 9 , 1 , Wien 1892).

19 Brief Ottenthals an Alfons Huber vom 19.10.1897, in: Alfons Huber. Briefe 1859-1898. Ein Beitrag zur Geschichte der Innsbrucker Historischen Schule um Julius Ficker und Alfons Huber, hg. v. Gerhard OBERKOFLER, Peter GOLLER (Innsbruck/Wien 1995) 165. Zu anderen Angeboten vgl. DOPSCH, Selbstdarstellung (wie Anm. 11) 287f. - Michael Mayr gehörte zu Dopschs Kurskollegen am IÖG und amtierte später als österreichischer Bundeskanzler. 20 Fritz FELLNER, „... ein wahrhaft patriotisches Werk". Die Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 1897-2000 (VKGÖ 91, Wien/Köln/Weimar 2001) 102, 247, hier 252. Dopsch war ab 1903 korrespondierendes und ab 1909 wirkliches Mitglied der Akademie; vgl. NECK., Dopsch (wie Anm. 4) 375. 21 Dies galt insbesondere für die von ihm besorgten Urbareditionen, die neben ausfuhrlichen Einleitungen auch Karten und Tabellen enthielten: Die landesfurstlichen Urbare Nieder- und Oberösterreichs aus dem 13. und 14. Jahrhundert, hg. v. Alfons DOPSCH (Österreichische Urbare I. Abteilung, Landesfürstliche Urbare 1, Wien 1904); Die landesfürstlichen Urbare der Steiermark aus dem Mittelalter, hg. v. DEMS. (Österreichische Urbare I. Abteilung, Landesfurstliche Urbare 2, Wien 1909); vgl. dazu KNITTLER, Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 11) 330. 22 Alfons HUBER, Alfons DOPSCH, Österreichische Reichsgeschichte. Geschichte der Staatsbildung und des öffentlichen Rechts (Wien 21901). Dieses Überblickswerk bildete die Grundlage für das Fach der „Österreichischen Reichsgeschichte", das ab 1893 als Pflichtfach in den Lehrplan des juristischen Studiums aufgenommen worden ist; vgl. Kurt EBERT, Die Einführung der Österreichischen Reichsgeschichte im Jahre 1893, in: Die österreichische Rechtsgeschichte. Standortbestimmung und Zukunftsperspektiven, hg. v. Hans Constantin FAUSSNER, Gernot KOCHER, Helfried VALENTINITSCH (Grazer Rechts- und staatswissenschaftliche Studien 47, Graz 1991) 49-73. Alfons Huber (18341898) hatte bei Dopschs Schwiegervater Julius von Ficker dissertiert und war 1887 an die Universität

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Die scheinbar problemlos verlaufenden ersten Karriereschritte des Historikers waren aber nur teilweise auf seine Arbeiten zurückzuführen. Von Gewicht war nicht zuletzt, dass sich Dopsch der deutschnational geprägten Historikerszene in Wien einordnen konnte23, in entscheidenden Fragen auf die Unterstützung deutschnationaler Studenten hoffen durfte24 und überdies durch seine Ehe mit Marie von Ficker, Tochter des renommierten Innsbrucker Historikers Julius von Ficker, seine beruflichen Netzwerke auch privat einschlägig ergänzte25. Eine Einbindung in das deutschnationale Vereinsleben lässt sich bei Dopsch bereits früh erkennen. Noch als Student war er 1889 Mitbegründer des „Akademischen Vereines deutscher Historiker in Wien", dessen Mitgliedschaft ausschließlich „Deutschen" vorbehalten war26. Dieser Verein, dem neben Historikern in universitären Positionen vornehmlich Lehrer und Archivare angehörten, organisierte ähnlich wie andere Zirkel und Vereine einflussreiche Teile der Wiener akademischen Gesellschaft, die Foren der Auseinandersetzung um soziales und kulturelles Kapital darstellten. An diesen Formen des sozialen Lebens teilzunehmen war unabdingbar, um im relevanten Feld Positionen abstecken, Beziehungen pflegen und damit Zugang zu Informationen und Netzwerken erhalten zu können, was wiederum charakteristisch für den akademischen Arbeitsmarkt dieser Zeit war. Vor dem Ersten Weltkrieg zählte Dopsch neben Oswald Redlich, Othmar Spann und Alfred Francis Pribram überdies zu den Mitgliedern der von Heinrich Friedjung initiierten „Gesellschaft für Geschichtsfreunde", gründete, aber den Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau zufolge, nach Ende des Krieges ob des jüdische[n] Charakter[s] dieses Zirkels gemeinsam mit Wilhelm Bauer und anderen eine kurzlebige Alternative27. Diese Kreise, Vereine und Zirkel waren dabei nicht zwangsläufig exklu-

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Wien berufen worden. Er formulierte die maßgebliche und wohlwollende Stellungnahme zum Habilitationsgesuch von Dopsch, was ihn nach Albert Müller als „Patron" im Rahmen einer PatronKlient-Beziehung qualifizierte; vgl. Albert M Ü L L E R , Grenzziehungen in der Geschichtswissenschaft: Habilitationsverfahren 1900-1950 (am Beispiel der Universität Wien), in: Soziologische und historische Analysen der Sozialwissenschaften, hg. v. Christian FLECK (Österreichische Zs. für Soziologie Sonderband 5, Opladen/Wiesbaden 2000) 287-307, hier 291 f. Zum Schreiben Hubers (auch im Namen der Professoren Max Büdinger und Heinrich von Zeißberg) vgl. UAW, Phil. Fak. PA Alfons Dopsch, Schachtel 40, 1020, fol. 5f. Entsprechend charakterisierten Josef E H M E R , Albert M Ü L L E R , Sozialgeschichte in Österreich. Traditionen, Entwicklungsstränge und Innovationspotentiale, in: Sozialgeschichte im internationalen Überblick. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung, hg. v. Jürgen K O C K A (Darmstadt 1989) 109140, hier 114, Dopschs Arbeiten als eine „unter deutschnationaler Perspektive betriebene Konzeption von Sozialgeschichte". Bei der Nachfolge Alfons Hubers etwa wurde dem favorisierten Dopsch der Katholik Josef Hirn vorgezogen, wogegen, so Dopsch, die „deutschfreiheitliche Studentenschaft" demonstrierte, was ihm zufolge mit verantwortlich dafür war, dass er 1900 ein Ordinariat erhielt; vgl. D O P S C H , Selbstdarstellung (wie Anm. 11) 289f. Vgl. T R E M E L , Dopsch (wie Anm. 9) 197. Walther B O G U T H , Die Gründung des akademischen Vereines deutscher Historiker in Wien vor 25 Jahren. Ein Gedenkblatt nach persönlichen Erinnerungen, in: FS des akademischen Vereines deutscher Historiker in Wien. Hg. anlässlich der Feier des 25jährigen Bestandes (Wien 1914) 3-6. Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau, 1: K. u. k. Generalstabsoffizier und Historiker, hg. v. Peter B R O U C E K (VKGÖ 67, Wien/Köln/Graz 1980) 537. Dopschs Antisemitismus wurde etwa von Wilhelm Bauer hervorgehoben, der in einem Schreiben

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siv bestimmten politischen Lagern zugeordnet. Dopsch zählte auch zu den Mitgliedern der „Deutschen Gemeinschaft", einer unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg gegründeten Vereinigung katholischer und deutschnationaler Kreise, die ein „deutsches Bündnis" gegen „Bolschewismus", „Freimaurer" und „Juden" propagierte. Auf ihrem Höhepunkt erreichte die „Deutsche Gemeinschaft" mehrere Tausend teils prominente Mitglieder, zu deren Aufgaben auch die gegenseitige Hilfestellung zählte28. Dopsch verdankte seine Stellung im österreichischen akademischen Feld demnach nicht nur fachlichen Leistungen, sondern auch seinem sozialen Kapital, das er, begünstigt durch seine weltanschauliche Kompatibilität mit vielen Wiener Historikern, inner- und außeruniversitär erworben hatte und das ihm zu einer außerordentlich einflussreichen Position in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verhalf29. Dopschs Einfluss wuchs nachhaltig durch die Resonanz auf seine jeweils zweibändigen Arbeiten zur „Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit"30 und zu den ,,Wirtschaftliche[n] und sozialen Grundlagejn] der europäischen Kulturentwicklung"31. Bei diesen in der Zeit um den Ersten Weltkrieg publizierten Arbeiten standen Fragen der Kulturkontinuität in einer als Umbruch apostrophierten Zeit im Zentrum und trafen damit im Fach ebenso den Nerv der Zeit wie Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes"32. Dopsch war sich dieses Zusammenhangs durchaus bewusst und ging darauf in seiner Inaugurationsrede als Rektor der Universität Wien im Oktober 1920 ein33: „Der große an Heinrich von Srbik davon spricht, kein Antisemit ä la Dopsch zu sein, der hinter allen möglichen Dingen [...] jüdische Macht erblickt. Schreiben Bauer an Srbik vom 19.08.1919, in: Heinrich Ritter von SRBIK, Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1912-1945, hg. v. Jürgen KÄMMERER (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 55, Boppard a. Rhein 1988) 130. Demgegenüber zählte für Bruno Kreisky Alfons Dopsch zu den wenigen Professoren, „die sich nie zu irgendwelchen [antisemitischen] Exzessen ex cathedra herbeigelassen haben". Bruno KREISKY, Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten (Wien 1986) 169. Davon abgesehen scheint der Antisemitismus im zeitgenössischen universitären Milieu jene nicht zuletzt bei Stellenbesetzungen weidlich genützte Funktion zu spielen, wie sie Bauer im eben zitierten Brief umschreibt: Er halte, so schreibt er an Srbik,/ur den besten Antisemitismus den praktischen d. h. einen innigen Zusammenhalt aller Nicht-Juden. 28 Wolfgang ROSAR, Deutsche Gemeinschaft. Seyss-Inquart und der Anschluß (Wien/Frankfürt/Zürich 1971) 29-34. Mitglieder der „Deutschen Gemeinschaft" waren u. a. auch Engelbert Dollfuß und Arthur Seyß-Inquart. 29 DafursprichtauchdergeradezuentscheidendeEinfluss,denetwaSrbikundseine Korrespondenzpartner Dopsch bei Berufungen zuschrieben. Auch die wachsende Gegnerschaft Srbiks gegen Dopsch dürfte nicht zuletzt auch in enttäuschten Erwartungen und gebrochenen Versprechen bei der Vergabe von Stellen mitbegründet gewesen sein; vgl. etwa das Schreiben von Srbik an Emil von Ottenthai vom 2 7 . 0 4 . 1 9 2 1 , in: SRBIK, K o r r e s p o n d e n z ( w i e A n m . 2 7 ) 1 7 9 - 1 8 2 .

30 Alfons DOPSCH, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit, vornehmlich in Deutschland 1-2 (Weimar 1912/13), hier zitiert nach der 2. Auflage (Weimar 1921/22). 31 Alfons DOPSCH, Wirtschaftliche und soziale Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung aus der Zeit von Caesar bis auf Karl den Großen 1-2 (Wien 1918-20), hier zitiert nach der 2. Auflage (Wien 1923/24).

32 Oswald SPENGLER, Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte 1 (Wien/Leipzig 1918). 33 Dopsch war 1920/21 Rektor der Universität Wien, nachdem er bereits 1916/17 als Dekan der Philosophischen Fakultät tätig war; vgl. NECK, Dopsch (wie Anm. 4) 375.

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Zusammenbruch vom Jahre 1918 [...] ließ das Schlagwort von dem Untergang des Abendlandes aufkommen und verschaffte ihm weithin auch politische Kursfähigkeit. Die Propheten solcher Kulturkatastrophe weisen gerne auf den Untergang der alten Welt auch hin und heben auffallende Ähnlichkeiten zu unserer Moderne hervor, die, damals vorhanden, auch dieser nun Unheilkünder werden sollen, da ja doch eine innere Gesetzmäßigkeit auch den Ablauf der Geschichte beherrsche"34. Allerdings, so Dopsch, sei gerade im Übergang von Antike zu Mittelalter keine „so verzehrende Kulturcäsur"35 eingetreten, woraus er schloss: „Gerade diese geschichtliche Betrachtung vermag uns, glaube ich, vielmehr frohe Botschaft zu künden"36. Es war nicht zuletzt die Resonanz auf diese „frohe Botschaft", der Dopsch 1921 eine Berufung an die Universität Berlin verdankte37. Wie sehr man Dopschs internationalen Ruf und seine einflussreiche Position an der Universität Wien in Rechnung stellte, ist daran zu ermessen, dass ihm 1922 zur Abwehr dieses Rufs und damit während der Hyperinflation vom Unterrichtsministerium die Mittel zum Aufbau eines „Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte" inklusive einer „wissenschaftlichen Hilfskraft" bewilligt wurden38. Verhandlungen zur Abwehr eines 1923 ergangenen Rufs an die Universität München erlaubten es Dopsch, sein „Seminar" ab 1924 noch besser ausgestattet zu wissen, was ihm auch die Finanzierung einer Publikationsreihe ermöglichte39. Dopschs Karriere erfuhr aber nicht nur in der deutschsprachigen Historikerlandschaft nach dem Ersten Weltkrieg einen nachhaltigen Sprung. Bemerkenswert ist vielmehr seine Rolle in der internationalen Geschichtswissenschaft, die wiederum auf seine Einbindung in europäische und globale Kommunikationszusammenhänge zurückzuführen war, und dies zu einer Zeit, als deutsche und österreichische Historiker zwischen dem Bemühen um internationale Einbindung und Selbstisolierung schwankten. 1922 wurde Dopsch in die „Commission de Cooperation Intellectuelle" beim Völkerbund in Genf gewählt, deren österreichische Landesgruppe er 1923 gründete und die sich darum bemühte, den intellektuellen Austausch im vom Ersten Weltkrieg geprägten Europa wieder in Gang zu setzen40. Dopsch war für die internationale aka34 Alfons DOPSCH, Der Wiederaufbau Europas nach dem Untergange der alten Welt. Inaugurationsrede, gehalten am 26. Oktober 1920 (Wien 1920) 3. 35 Ebd. 36 Ebd. 18. 3 7 VOLLRATH, Dopsch (wie Anm. 2 ) 3 9 . 38 Schreiben des BMU vom 30.03.1922 an das Dekanat, in: UAW, Phil. Fak. PA Alfons Dopsch, fol. 23f. Die Gründung eines vom Historischen Seminar im engeren Sinne unabhängigen „Seminars", in dem mit Studierenden Detailprobleme diskutiert wurden, entsprach durchaus dem Trend in der deutschsprachigen Mediävistik; vgl. Rudolf SCHIEFFER, Weltgeltung und nationale Verführung. Die deutschsprachige Mediävistik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1918, in: Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, hg. v. Peter M O R A W , Rudolf SCHIEFFER ( V U F 62, Ostfildern 2005) 39-61, hier 46. 39 Schreiben des BMU vom 30.03.1922 an das Dekanat, in: UAW, Phil. Fak. PA Alfons Dopsch, fol. 27r. 40 Vgl. Herbert DACHS, Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluß 1918-1930 (Veröff. des Historischen Instituts der Universität Salzburg, Wien/Salzburg 1974) 107f. In dieser Funktion legte

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demische Gemeinschaft aber nicht nur Ansprechpartner für österreichische Belange, sondern ihm kam auch eine Art Mittlerfunktion zu den nach wie vor in internationalen Gremien nicht vertretenen deutschen Historikern zu. 1924 wurde er nicht zuletzt auf Betreiben des Belgiers Henri Pirenne, den unterschiedliche Auffassungen zu ähnlichen Forschungsthemen mit Dopsch verbanden, zur Vorbereitung der Gründung des Internationalen Historikerkomitees herangezogen, dessen Vizepräsident er 1926 wurde und bis 1933 auch blieb41. Diese Einbindung in internationale Gremien bedeutete keineswegs, dass Dopsch in dieser Rolle vorbehaltlos Akzeptanz fand. Einzelne französische Historiker etwa verwiesen auf den „Pangermanismus" des Österreichers, was durch seine Publikationen im Ersten Weltkrieg und unmittelbar danach auch unübersehbar war42. Auch stand Dopsch Projekten, die eine stärkere europäische Integration intendierten, skeptisch gegenüber. Die Schaffung von Vereinigten Staaten von Europa im Sinne Richard CoudenhoveKalergis etwa hielt er 1925 weder für möglich noch für notwendig: Würden diese, so Dopsch, zustande kommen, „so wäre[n] sie nichts anderes, als eine einseitig der Entente dienende Institution"43. Gleichwohl war dem Wiener Mediävisten, wie auch den maßgeblichen Vertretern des Internationalen Historikerkomitees, bewusst, dass trotz großer Schwierigkeiten die deutschsprachigen Historiker auf lange Sicht international integriert werden mussten. Ist die Wahl Dopschs zum Vizepräsidenten des Internationalen Historikerkomitees somit auch als Geste zu verstehen, so stand doch außer Frage, dass die Grundlage für diese Wahl primär seinem wissenschaftlichen Ruf und seiner bereits vor dem Ersten Weltkrieg erkennbaren Einbindung in die internationale Forschung zu verdanken war. Dopsch 1922 einen Bericht über die Lage der geistigen Arbeit in Österreich vor: Alfons DOPSCH, Les conditions du travail et des travailleurs intellectuels (Genève 1922). 41 Vgl. Karl Dietrich ERDMANN, Die Ökumene der Historiker. Geschichte der internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques (Abh. Göttingen 3, 158, Göttingen 1987) 137-157; Halvdan KOHT, The Origin and Beginnings of the International Committee of Historical Sciences (Lausanne 1962). Pirenne war sich zwar mit Dopsch grundsätzlich darüber einig, dass zwischen Antike und Frühmittelalter kein Bruch zu sehen war, betonte aber, dass mit der islamischen Expansion und dem Einbruch der Araber eine kulturelle Zäsur erfolgt sei. Zur These Pirennes vgl. Carl August LÜCKERATH, Die Diskussion über die Pirenne-These, in: Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Jubiläumstagung der RankeGesellschaft in Essen 2001, hg. v. Jürgen ELVERT, Susanne KRAUSS (Historische Mitteilungen 46, Stuttgart 2003) 55-69; Cinzio VIOLANTE, Das Ende der .großen Illusion'. Ein europäischer Historiker im Spannungsfeld von Krieg und Nachkriegszeit, Henri Pirenne (1914-1923) - Zur Neulesung der .Geschichte Europas' (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 18, Berlin 2004)254-269.

42 Vgl. ERDMANN, Ökumene (wie Anm. 15) 138. An einschlägigen Schriften vgl. DOPSCH, Stellung (wie Anm. 14); DERS., Sendung (wie Anm. 15); DERS., Der Anschluß Deutsch-Österreichs an das Deutsche Reich, in: Deutschland, wir kommen! Stimmen aus dem geistigen Deutsch-Österreich fur den Anschluß an Deutschland, hg. v. Alfred CHRIST (Wien 1919) 22-24. 43 Alfons DOPSCH, [Antwort], in: Zs. Paneuropa 2 (1925) 24-25, hier 25. Am Ende des Ersten Weltkrieges sprach er sich für ein Mitteleuropa aus, in dem eine deutsche Hegemonie sicherzustellen wäre; vgl. Alfons DOPSCH, Mitteleuropa' - ein Problem Altösterreichs (1849-1856), in: Zs. für Geschichte (1918/19) 16-37.

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Damit einher ging eine grundsätzliche Offenheit Dopschs, die Ergebnisse der nichtdeutschen Forschung weitgehend unabhängig von politischen Konjunkturen zu diskutieren, was durch seine Sprachkompetenz erleichtert wurde44. Offenkundiger Beweis der internationalen Wertschätzung Dopschs und seiner Arbeiten sind, neben den Übersetzungen seiner Hauptwerke, die zahlreichen Würdigungen, Ehrenmitgliedschaften und Ehrendoktorate, die er im Laufe der 1920er und 1930er Jahre im Ausland erhielt45. Während Dopsch so zu einem international geachteten Historiker ersten Ranges aufgestiegen war, bedingten sein Hang zur Polemik und sein weitreichender Einfluss auch eine zahlreiche Gegnerschaft, die sich besonders in seinem engeren beruflichen Umfeld verorten lässt. Seine Akkumulation von Macht und Einfluss in Gremien und Projekten, die Etablierung eines eigenen, unabhängigen und finanziell gut ausgestatteten Seminars sowie geweckte und enttäuschte Erwartungen auf Lehrstühle oder andere Stellen führten neben inhaltlichen Differenzen offensichtlich zu einer nachhaltigen Gegnerschaft von Historikern wie Heinrich von Srbik oder Otto Brunner, die spätestens in den 1930er Jahren deutlich wurde. Dass Brunner, für den sich Dopsch im Habilitationsverfahren ungewöhnlich positiv ausgesprochen hatte46 und der in den frühen Stadien seiner Karriere durchaus vergleichbare Positionen vertrat47, ab 1936 fundamentale Kritik an seinem Fürsprecher und dessen Verständnis von Geschichtsschreibung publizierte, kann als Indiz für die zunehmend schwierigere Position Dopschs gewertet werden. Insbesondere die Schärfe der Attacken, die Brunner gegen Dopsch bis über dessen Tod hinaus vortrug, legen den Schluss nahe, dass dabei nicht nur fachliche Differenzen von Belang waren48. Bereits im Juli 1931 betonte Hans Hirsch in einem Brief an Paul 44 Dopsch sprach Französisch, Englisch und Italienisch, bezeichnenderweise aber nicht Tschechisch; vgl. Alfons DOPSCH, Die ältere Sozial- und Wirtschaftsverfassung der Alpenslaven (Weimar 1909) VII; DERS., Selbstdarstellung (wie Anm. 11) 279. 45 Dopsch erhielt Ehrendoktorate der Universitäten Oxford, Budapest, Prag und Madrid sowie der rechtsund staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Er war Mitglied der Göttinger Gelehrten Gesellschaft, darüber hinaus Mitglied der österreichischen, der bayerischen sowie der norwegischen, dänischen, niederländischen, polnischen und ungarischen Akademien der Wissenschaften, ferner Mitglied der American Historical Society, der Medieval Academy of America, gehörte als damals einziger Österreicher der britischen Royal Historical Society an und war Offizier der Ehrenlegion. Die „Grundlagen der europäischen Kulturentwicklung" (siehe Anm. 31) wurden 1927 ins Russische und 1937 ins Englische übersetzt; vgl. NECK, Dopsch (wie Anm. 4) 375; TREMEL, Dopsch (wie Anm. 9 ) 203F.

46 Robert JÜTTE, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus. Der Beitrag Otto Brunners zur Geschichtsschreibung, in: Tel Aviver Jb. des Instituts für Deutsche Geschichte 13 (1984) 237-262, hier 243. 47 So etwa die gemeinsame Ablehnung von Karl Büchers Wirtschaftsstufenlehre; vgl. etwa Otto BRUNNER, Aufgaben der Wiener Stadtgeschichte (Sonderdruck aus Monatsblatt des Vereins für Geschichte der Stadt Wien 12, Wien 1930) 9. 48 Dem Protokoll einer Sitzung, bei der u. a. Bauer, Srbik und Hans Hirsch anwesend waren, ist zu entnehmen, dass das Historische Seminar und das IÖG finanziell von der frühzeitigen Pensionierung Dopschs und der Auflösung seines Seminars in der bisherigen Form profitierten. In Bezug auf Karrieremöglichkeiten scheint besonders Brunner Nutzen aus dieser Situation gezogen zu haben: Er wurde in dieser Sitzung als möglicher Nachfolger von Dopsch gehandelt; überdies sollte er Teile des Lehrdeputats von Dopsch erhalten; vgl. UAW PA Alfons Dopsch, fol. 28-31. Zu Brunners Kritik an Dopsch vgl. Otto BRUNNER, Zum Problem der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: Zs.

Alfons Dopsch ( 1 8 6 8 - 1 9 5 3 )

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Kehr, dem Präsidenten der Zentraldirektion der MGH, dass Brunner als Nachfolger von Dopsch gehandelt werde, was, so Hirsch, dazu führe, dass sich dieser um eine Position für Brunner außerhalb Wiens bemühe49. Jede Verzögerung der Pensionierung Dopschs musste daher angesichts der knappen Ressourcen auch die Karrieremöglichkeiten Brunners in Wien hemmen. Zum Zeitpunkt der frühen Brunnerschen Angriffe war bereits klar, dass Dopsch altersbedingt bald in den Ruhestand treten musste. Zugleich betrieben schwer zu identifizierende Kreise eine vorzeitige Pensionierung des Historikers. Dopsch und sein unmittelbares Umfeld, insbesondere der engere Kreis seines Seminars sowie seine Assistentin und Lebensgefährtin Erna Patzelt, führten dies primär auf Bemühungen aus katholisch-konservativen Kreisen zurück, die im Umfeld des „Ständestaatregimes" erstarkten. Wiewohl ein erster Versuch, Dopsch zu pensionieren und das „Seminar für Wirtschafts- und Kulturgeschichte" in seiner bisherigen Form aufzulösen, durch die Mobilisierung internationaler Kontakte abgewendet werden konnte, war damit nur etwas Zeit gewonnen50.1936 wurde Dopsch endgültig pensioniert und ein Jahr später das Seminar mit Brunner als neuem Leiter dem Historischen Seminar angegliedert51. Es war aber erkennbar, dass Dopsch zu diesem Zeitpunkt nicht mehr jene zentrale Rolle auf der akademischen Bühne spielte, die er noch in den 1920er Jahren einnehmen konnte. Zentrales Indiz dafür ist, dass er in den neuen Großprojekten wie den Forschungsgemeinschaften, die wesentliche Aktivitäten „volkshistorischer" Ansätze bündelten, nicht oder nur marginal präsent war52. Gleichwohl stellte seine Pensionierung auch nicht das Ende aller Ambitionen dar. Nach dem „Anschluss" Österreichs 1938 schöpfte er noch einmal die Hoffnung, zumindest eine Entschädigung für seine frühzeitige Pensionierung erhalten zu können; entsprechende Bemühungen im April 1938, bei denen der nahezu 70-jährige Dopsch auf seine Nähe zum neuen

für Nationalökonomie 7 (1936) 671-685; DERS., Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: MÖIG Erg.-Bd. 14 (1939) (= FS Hans Hirsch) 513-528; DERS., Nachruf Alfons Dopsch, in: ZRG GA 72 (1955) 455-458, hier 456f., wo Brunner betonte, Dopschs Bücher „gehören nicht einem Typus an, der als dauernde historische Leistung lange lebendig bleibt", er schreibe „in einem wenig gepflegten Stil" und lasse „Gesamtzusammenhänge außer Acht". Brunner porträtierte Dopsch auch in: NDB 4 (1959) 77. 49 Manfred STOY, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929-1945 (MIÖG Erg.-Bd. 50, W i e n / M ü n c h e n 2 0 0 7 ) 64.

50 Patzelt hatte in einem Brief an das Büro des Internationalen Historikerkomitees im Januar 1935 um Unterstützung gebeten. Die Mitglieder des Büros (nicht das Büro als Organisation) verfassten daraufhin einen entsprechenden Protestbrief an Bundeskanzler Schuschnigg; vgl. ERDMANN, Ökumene (wie Anm. 41)228. 51 Neck verweist in diesem Zusammenhang auch auf die mangelnde Unterstützung Dopschs durch die Philosophische Fakultät; vgl. NECK, Dopsch (wie Anm. 4) 377f. 52 Dopsch war zwar 1931 bei der Gründung der Alpenländischen Forschungsgemeinschaft beteiligt, spielte dort in der Folge aber nur eine marginale Rolle; vgl. Michael FAHLBUSCH, Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" von 1931-1945 (Baden-Baden 1999) 298-310; vgl. auch Ingo HAAR, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und der .Volkstumskampf im Osten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 143, Göttingen 2 2002) 111.

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Regime verwies, scheiterten jedoch 53 . Seine bestehende Einbindung in außeruniversitäre Gremien und Netzwerke blieb jedoch unabhängig davon intakt. So zählte er zu den aktivsten Mitgliedern der Wiener Akademie der Wissenschaften und war dabei u. a. auch in jener Kommission tätig, die im März 1938 mit der Ausarbeitung einer den Machtverhältnissen entsprechenden Satzung beauftragt worden war54. Auch blieb Dopsch das internationale Aushängeschild der österreichischen Geschichtswissenschaft und konnte noch 1941 im ersten Band der renommierten „Cambridge Economic History of Europe" publizieren55. Gerade die anlässlich des 70. Geburtstags Dopschs erschienene Festschrift zeigt die Ambivalenz von Einbindung und partieller Distanzierung unmittelbar nach seiner Pensionierung56. Patzelt, deren Karrierechancen als Historikerin an der Wiener Universität vom Schicksal ihres Mentors Alfons Dopsch abhingen, zeichnete für die Auswahl der Artikel verantwortlich. Mit Ausnahme ihres eigenen Beitrags wurden ausschließlich nichtösterreichische Autoren aufgenommen, die Dopschs Rolle als Historiker von internationalem Format unterstreichen sollten. Wenn auch große Namen wie Marc Bloch, Werner Sombart oder Theodor Mayer letztlich doch nicht wie vorgesehen in diesem Band publizierten - Bloch aufgrund politischer Bedenken57, Sombart ob der „sehr abfalligen Kritik"58 Dopschs an seinem Werk und Mayer aufgrund tiefsitzender Animositäten mit dem Jubilar59 - ist das internationale Spektrum des Bandes doch beeindruckend. Wie groß die Differenzen zwischen Dopschs engstem Kreis und seinem 53

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Gernot HEISS, Von Österreichs deutscher Vergangenheit und Aufgabe. Die Wiener Schule der Geschichtswissenschaft und der Nationalsozialismus, in: Willfahrige Wissenschaft. Die Universität Wien 1 9 3 8 - 1 9 4 5 , hg. v. DEMS., Siegfried MATTL, Sebastian MEISSL, Edith SAURER, Karl STUHLPFARRER (Österreichische Texte zur Gesellschaftskritik 4 3 , Wien 1 9 8 9 ) 3 9 - 7 6 , hier 4 3 . Herbert MATIS, Zwischen Anpassung und Widerstand. Die Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1938 - 1945 (Wien 1997) 23. Neben Dopsch waren dort u. a. seine „Gegner" Srbik, Redlich und Hirsch Mitglieder. Bemerkenswert ist, dass Dopsch - wie im Übrigen auch Hermann Aubin - noch im 1942 in zweiter Auflage erschienenen ersten Band der „Cambridge Economic History of Europe" publizieren konnte; vgl. Alfons DOPSCH, Agrarian Institutions of the Germanic Kingdoms from the fifth to the ninth century, in: The Cambridge Economic History of Europe. From the Decline of the Roman Empire, Vol. I: The Agrarian Life ofthe Middle Ages, hg. v. John H. CLAPHAM, Eileen POWER (Cambridge 2 1 9 4 2 ) 1 6 9 - 1 9 3 . Die beiden Herausgeber John Clapham und Eileen Power zählten zu dem Kreis internationaler Historiker, die gegen die frühzeitige Pensionierung Dopschs protestiert hatten. Vgl. Lorenz MIKOLETZKY, Materialien zu Alfons Dopsch, in: Erfahrung der Moderne. FS ffir Roman Sandgruber zum 60. Geburtstag, hg. v. Michael PAMMER, Herta NEISS, Michael JOHN (Stuttgart 2 0 0 7 ) 4 8 3 4 8 9 , hier 4 8 8 . Wirtschaft und Kultur. FS zum 70. Geburtstag von Alfons Dopsch, hg. v. Gian Piero BOGNETTI u. a., (Baden/Leipzig 1938). Heinz DOPSCH, Marc Bloch et les mélanges en l'honneur d'Alphons Dopsch. Reflexions sur une lettre de Marc Bloch datant de l'Anschluss, in: Marc Bloch aujourd'hui. Histoire comparée et sciences sociales, hg. v. André BURGUICRE, Hartmut ATSMA (Paris 1990) 65-71; Peter SCHÔTTLER, Die Annales und Österreich in den zwanziger und dreißiger Jahren, in: Österreichische Zs. für Geschichtswissenschaften 4 (1993) 74-99, hier 79f. Schreiben Werner Sombarts an Patzelt vom 14.12.1936 (Bestand Dopsch). In einem Brief an Bauer vom 30.05.1937 meinte Mayer, es habe ihn wirklich ergötzt, dass er zur Mitarbeit an der Festschrift für Dopsch mißverständlicherweise aufgefordert worden sei. OÖLA, NL Wilhelm Bauer. Zu Mayer und zu Bauer siehe die Beiträge in diesem Band.

Alfons Dopsch (1868

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weiteren Umfeld waren, lässt sich daraus erahnen, dass kein einziger Historiker der Wiener Universität, also jenes Bereiches, in dem Dopsch sein gesamtes akademisches Leben verbracht hatte, als Autor vertreten war. Dahinter stand auch die Politik Patzelts. Srbik etwa beklagte im Juni 1937, er sei „aus der Festschriftangelegenheit von Anbeginn bis zu Ende vollständig ausgeschaltet worden"60. Zumindest aber findet sich sein Name auf der Liste der Gratulanten, gemeinsam mit zahlreichen internationalen Historikern und Institutionen, während man die Namen seiner Wiener Kollegen Brunner und Redlich vergeblich sucht. Auch eine Würdigung, die im deutschen Wissenschaftsblatt „Forschungen und Fortschritte" erschien, wurde nicht von einem unmittelbaren Kollegen publiziert, sondern vom Rechtshistoriker Heinrich Mitteis, der 1935 bis 1938 an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Wiener Universität tätig war61. An diesem Bild ändert sich in den verbleibenden Lebensjahren Dopschs nur wenig. Nach seiner letzten, 1939 erschienenen Monografie wurde die Publikationstätigkeit des Historikers spärlicher. Sein akademisches Umfeld verhielt sich ihm gegenüber weiterhin so ambivalent wie zuvor: Während anlässlich des 85. Geburtstags von Redlich 1943 in „Forschungen und Fortschritte" eine Gratulation aus der Feder Srbiks erschien, fand Dopschs 75. Geburtstag im selben Jahr keine Erwähnung62. Zugleich aber beantragte die Philosophische Fakultät der Universität Wien im selben Jahr die Verleihung der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft an Dopsch und war durchaus bereit, bis nach Kriegsende bei der Erleichterung seines Alltags zu helfen63. Wie bereits 1938, so versuchte Dopsch auch 1945 noch einmal, die Gunst der veränderten Umstände zu nützen und seinen Einfluss geltend zu machen. In der Wiener Akademie der Wissenschaften beantragte er im Juni 1945 - allerdings vergeblich - , alle NSDAP-Mitglieder von der Akademie auszuschließen, was u. a. auch das Ende der Mitgliedschaft seines alten Kontrahenten Srbik bedeutet hätte64. In der zeitgenössischen Wahrnehmung - etwa von Bauer und Mayer - wurde Dopsch allerdings zunehmend zu einem Instrument in Händen seiner Lebensgefährtin Patzelt, die nach 1945 versuchte, das „Seminar für Wirtschafts- und Kulturgeschichte" und damit auch 60 Schreiben Srbiks an Patzelt vom 03.06.1937 (Bestand Dopsch). Dopsch selbst hat sich hingegen durchaus an der im selben Jahr erschienenen Festschrift für Srbik beteiligt; vgl. Alfons DOPSCH, Die Weststaatspolitik der Habsburger im Werden ihres Großreiches (1477-1526), in: Gesamtdeutsche Vergangenheit. Festgabe für Heinrich Ritter von Srbik zum 60. Geburtstag am 10. November 1938, hg. v. Wilhelm BAUER U. a. (München 1938) 55-62. 61 Zu Mitteis vgl. Georg BRUN, Leben und Werk des Rechtshistorikers Heinrich Mitteis unter besonderer Berücksichtigung seines Verhältnisses zum Nationalsozialismus (Rechtshistorische Reihe 83, Frankfurt/M. 1991). 62 Vgl. Heinrich Ritter von SRBIK, Oswald Redlich zum 85. Geburtstage, in: Forschungen und Fortschritte 1 9 ( 1 9 4 3 ) 2 7 1 . 63 Vgl. UAW, Phil. Fak. PA Alfons Dopsch, fol. 41-51. Ob Dopsch die Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft erhielt, ist nicht erkennbar. An alltäglichen Erleichterungen sind insbesondere mehrere Bestätigungen für Dopsch zu nennen, in denen etwa die Ausstellung einer Arbeiter-Lebensmittelkarte an ihn empfohlen wurde und ein umfangreicher Raumbedarf Dopschs für seine wissenschaftlichen Arbeit mit der offensichtlichen Absicht bestätigt wurde, damit Einquartierungen Fremder zu verhindern. 64

MATIS, A n p a s s u n g ( w i e A n m . 5 4 ) 6 5 .

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sich selbst wieder zu etablieren65. Zugleich dokumentiert dies den nach wie vor vorhandenen Einfluss des Forschers, der sich auch daran ablesen lässt, dass er nun für die internationale scientific Community wie bereits nach dem Ersten Weltkrieg der Ansprechpartner für die Reintegration der österreichischen Geschichtswissenschaft im Internationalen Historikerkomitee war66. Eine letzte Aufmerksamkeit erfuhr der mittlerweile 85-jährige Gelehrte mit der Verleihung des Ehrenrings der Stadt Wien 1953. Alfons Dopsch starb am 1. September desselben Jahres in Wien.

III. Kontinuität und Heterogenität: Dopsch und seine Forschung Dopsch entwickelte seine Arbeiten in Auseinandersetzung mit bestehenden Interpretationsangeboten, die er in bewusster Überspitzung als „herrschende Lehre" apostrophierte. Gegen ihre scheinbare Geschlossenheit setzte er das durch den Verweis auf „die" Quellen legitimierte „konkret pulsierende Leben jener Zeiten", das „viel reicher und mannigfaltiger" gewesen sei als angenommen67. Die kontinuierlich radikale Polemik gegen prominente Autoren, Begriffe und Synthesen, die Negation alles Einheitlichen, Homogenen, lässt die Arbeiten von Dopsch als bemerkenswerte Attacke gegen den - so Otto Gerhard Oexle - nach 1918 erkennbaren „Hunger nach Ganzheit" erscheinen68. Hermann Wopfner allerdings verwies 1920/21 in einer Rezension auf eine zweite Lesart dieses Aspekts: Dopsch zwinge den Leser, „ihm bald dahin, bald dorthin zu folgen, um Zeuge zu sein des Kampfes gegen die .herrschende' Meinung und ihre Vertreter. An Übersichtlichkeit gewinnt die Darstellung dadurch nicht, daß die Polemik auch im Text so sehr in den Vordergrund tritt"69. Dopschs Arbeiten erscheinen vielfach spröde und ähneln in vielerlei Hinsicht Sammelrezensionen und Quellenerörterungen, die, so ein zeitgenössischer Rezensent, im Stil eines „Anwaltsschriftsatzes"70 verfasst waren, was ihre breite Rezeption wie auch ihre eindeutige Inanspruchnahme erschwerte71. 65 Theodor Mayer etwa betonte in mehreren Briefen nach 1945 den Einfluss Patzelts als übles Weib bzw. übles Frauenzimmer auf Dopsch. Bauer bestätigte dies; vgl. die Schreiben Mayers an Bauer vom 01.10.1951 und vom 03.04.1953, sowie Bauer an Mayer am 06.01.1953, alle in: OÖLA, NL Wilhelm Bauer. 66 ERDMANN, Ökumene (wie Anm. 41) 262. 67 DOPSCH, Wirtschaftsentwicklung 1 (wie Anm. 30) IV. 68 Otto Gerhard OEXLE, Das Mittelalter und das Unbehagen an der Moderne. Mittelalterbeschwörungen in der Weimarer Republik und danach, in: DERS., Geschichtswissenschaft im Zeitalter des Historismus (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 116, Göttingen 1996) 137-162, hier 142. Alphons LHOTSKY, Alphons Dopsch (14. Juli 1868 - 1. September 1953). Gedächtnisrede gehalten am 11. November 1953 (Biographien österreichischer Historiker 2, Wien 1955) 9, nahm auch auf Dopschs Polemik Bezug: „Manche meinen, es sei ihm [Dopsch] nur um das Zerstören zu tun, um das Rechthaben, um den Krieg an und für sich". 69 Hermann WOPFNER, Rezension zu DOPSCH, Grundlagen 1 (wie Anm. 31), in: Historische Vierteljahresschrift 2 0 (1920/21) 4 7 - 6 4 , hier 63.

70 Walther MERK, Rezension zu Alfons DOPSCH, Die freien Marken in Deutschland. Ein Beitrag zur Agrar- und Sozialgeschichte des Mittelalters (Baden/Wien/Leipzig/Brünn 1933), in: ZRG GA 54 (1934) 319-325, hier 320. 71 Karl HAFF, Rezension von DOPSCH, Wirtschaftsentwicklung 1 (wie Anm. 30), in: ZRG GA 33 (1912)

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Jenes Thema, das Dopsch im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere immer wieder aufnahm, mit neuen Facetten anreicherte und das indirekt Bezugspunkt nahezu aller seiner Arbeiten bildete, war die Frage der Kontinuität, insbesondere jener zwischen Antike und Mittelalter. Der Historiker suchte dabei jene These zu belegen, der zufolge die im 19. Jahrhundert systematisierten Annahmen72 vom Verfall der römischen Zivilisation während der Völkerwanderung und die Neuorganisation der europäischen Kultur zu Zeit der Karolinger einer Bestätigung durch die verfugbaren Quellen entbehre73. Diese wiederum legen unter Berücksichtigung der Ergebnisse benachbarter Disziplinen ein sehr viel stärkeres Maß an Kontinuität und Mischverhältnissen im Übergang von Antike zu Mittelalter nahe, was wiederum Auswirkungen auf nachfolgende Perioden hatte. Dieses Thema zählte nicht nur zu den klassischen Debatten der Geschichtsforschung, sondern hatte auch per se eine europäische Dimension. Dopschs internationales Ansehen begründete sich darum nicht zuletzt auch auf Diskussionen bei internationalen Historikerkongressen, wo er Sektionen mit Henri Pirenne und anderen Größen des Fachs bestritt74. Was diesem Thema aber eine über den unmittelbaren historischen Zusammenhang hinausreichende Relevanz verlieh, war, dass zentrale Annahmen der historischen Schulen in Rechtswissenschaft und Nationalökonomie auf der Frage von Kontinuität und Zäsur basierten75 und der Übergang von Antike zum Mittelalter auch einen wesentlichen Bezugspunkt für „volksgeschichtliche" Zugänge darstellte. Für die historische Rechtswissenschaft wie für die historische Nationalökonomie stand die Frage, ob das Ende des weströmischen Reiches eine Kulturzäsur dargestellt habe, in engem Zusammenhang mit zentralen Annahmen, die im 19. Jahrhundert systematisiert worden

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524-543, hier 543, meinte 1912, die besten Passagen in Dopschs „Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit" bestünden aus vielen „mosaikartig aneinandergereihten, eine Übersicht allerdings sehr erschwerenden Untersuchungen". Dopsch verwies dabei auf die Rezeption Darwinscher Theorien: „Wie jene [Darwinsche Theorie] einen steten Fortschritt von niederen Arten zu höheren Entwicklungsformen annahm und eine Stufenfolge dieses Aufsteigens nachwies, so glaubte diese neue Richtung auch eine Entwicklung der verschiedenen Völker nach Kulturstufen in dem Sinne systematisieren zu können, dass ein Durchlaufen von der kulturärmsten zur entwickeltsten Form für alle gleichmäßig anzunehmen sei". D O P S C H , Grundlagen 1 (wie Anm. 31) 40. Zu Traditionen dieser Debatte mit zahlreichen Hinweisen vgl. in Kurzform Alexander D E M A N D T , Erklärungsversuche zur Auflösung des Römischen Reiches, in: DERS., Geschichte der Geschichte. Wissenschaftshistorische Essays (Köln/Weimar/Wien 1997) 106-118. Vgl. LÜCKERATH, Diskussion (wie Anm. 41); V I O L A N T E , Ende (wie Anm. 41); D E R S . , The Middle Ages at the 5th International Congress of Historical Sciences, Brüssels 1923, in: Nachdenken über Geschichte. Beiträge aus der Ökumene der Historiker in memoriam Karl Dietrich Erdmann, hg. v. Hartmut B O O C K M A N N , Kurt JÜRGENSEN (Neumünster 1991) 257-268. Eine neuere Einschätzung bietet Michael M C C O R M I C K , Origins of European Economy. Communications and Commerce, A.D. 300900 (Cambridge 2001). Vgl. zum Kontext Reinhold R E I T H , Abschied vom ,Prinzip der Nahrung'? Wissenschaftshistorische Reflexionen zur Anthropologie des Marktes, in: Nahrung, Markt oder Gemeinnutz. Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk, hg. v. Robert B R A N D T , Thomas BUCHNER (Bielefeld 2004) 37-66. Zur Rechtsgeschichte vgl. Andrea N U N W E I L E R , Das Bild der deutschen Rechtsvergangenheit und seine Aktualisierung im „Dritten Reich" (Fundamenta Jurídica. Hannoversche Beiträge zur rechtswissenschaftlichen Grundlagenforschung 31, Baden-Baden 1996).

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waren und zumindest teilweise das Selbstverständnis dieser Fächer auch noch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bestimmten. Die von Dopsch heftig kritisierten Arbeiten von Karl Lamprecht, Karl Bücher, Werner Sombart oder Heinrich Brunner gaben, wenn auch Einzelergebnisse vielfach bereits kritisiert waren, nach wie vor einen relevanten Interpretationsrahmen ab. Dieser Rahmen bezog sich auf zentrale Probleme der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte, die von der Frage der Eigenart des germanischen Rechts und seiner Veränderung durch römische Einflüsse bis hin zur Aussagekraft von Stufentheorien und ökonomischen Evolutionsmodellen reichten. Für Forscher wie Aubin oder Otto Höfler wiederum war die Frage der Kontinuität in erster Linie mit Fragen nach der Rolle und dem „Wesen" des „germanischen" Elements in der Geschichte verbunden. Insofern verband Dopschs Werk indirekt so unterschiedliche Zugänge wie „Höflersche Phantastereien"76 mit Büchers Ausführungen zur „geschlossenen Hauswirtschaft". Eine seriöse Geschichtsbetrachtung konnte für Dopsch nur auf induktiv gewonnenen Ergebnissen beruhen, der Königsweg dorthin war für ihn in einer umfassenden Quellenkritik zu sehen, die er direkt an theoretische Erkenntnismöglichkeiten band. Er wandte sich dabei neben dem argumentum e silentio insbesondere gegen die retrograde Methode77. Von Quellen jüngeren Datums auf ältere Zustände schließen zu können, sei ein methodischer Irrweg, den er Nationalökonomen und Juristen zu gleichen Teilen ankreidete. Durch diese methodischen Missgriffe, durch die falsche Einschätzung und unzureichende Berücksichtigung von Quellen, denen gegenüber die „alte Lehre" vielfach „Vogel-Strauß-Politik" getrieben habe, wären, so Dopsch, die deduktiv gewonnenen Modelle nur unzureichend belegt78. Ein Kern falscher theoretischer Annahmen, die auf einer unzureichenden und voreingenommenen Quelleninterpretation beruhten, lag für Dopsch in den gängigen Postulaten über die ältere germanische Zeit, die vielfach aus einer verkürzten oder falschen Interpretation von einschlägigen Angaben bei Cäsar und Tacitus herrühre79. Darauf beruhte vielfach die These, germanische Stämme wären nomadisierende Gruppen mit egalitären Sozialformen, symbolisiert etwa in der Annahme einer ursprünglichen germanischen Gleichheit und Freiheit. Demgegenüber betonte Dopsch die Existenz sozial und ökonomisch differenzierter Gemeinwesen in permanenten

76 Frantisele GRAUS, Verfassungsgeschichte des Mittelalters, in: HZ 243 (1986) 529-589, hier 561. 77 Vgl. VOLLRATH, Dopsch (wie Anm. 2) 42. Zur retrograden Methode vgl. Alfons DOPSCH, Zur Methodologie der Wirtschaftsgeschichte, in: DERS., Verfassungs- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters (Wien 1928, N D Aalen 1968) 543-564, hier 544f. 78 Alfons DOPSCH, Herrschaft und Bauer in der deutschen Kaiserzeit. Untersuchungen zur Agrar- und Sozial-Geschichte des hohen Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung des südostdeutschen Raumes (Jena 1939, hier zitiert nach der Ausgabe Stuttgart 2 1964) 160. 79 Besonders Tacitus' „Germania" kam in Mutmaßungen über das ältere germanische Wesen traditionell eine Kronzeugenfunktion zu; vgl. Karl KROESCHELL, Die Germania in der deutschen Rechtsund Verfassungsgeschichte, in: DERS., Studien zum frühen und mittelalterlichen deutschen Recht (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen NF 20, Berlin 1995) 89-110; Allan A. LUND, Germanenideologie im Nationalsozialismus. Zur Rezeption der .Germania' des Tacitus im „Dritten Reich" (Heidelberg 1995).

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Siedlungen80. Bereits zu Tacitus' Zeiten waren keineswegs mehr „Republiken mit gleichen Rechten aller Freien vorhanden und diese auch nicht mehr eine sozial undifferenzierte Masse"81. Auch lassen sich aus den vorhandenen Quellen weder Gemeineigentum noch Agrarkommunismus, sondern vielmehr Sondereigentum und sogar Grundherrschaft erkennen82. „Die Formel von der Freiheit und Gleichheit aller Germanen wird für die Zeiten des Cäsar und Tacitus nicht mehr aufrechterhalten bleiben können und damit zugleich auch der auf ihr basierenden Theorie von dem Gesamteigentum an der gemeinen Mark der Boden entzogen"83. Aufbauend auf dieser differenzierten Ausgangslage stellte sich auch die Völkerwanderung in anderem Lichte dar. Diese war für Dopsch ein Prozess langer Dauer, bei dem Wanderungsbewegungen „aus innerer Notwendigkeit heraus, um die mangelnden Lebensbedingungen zu schaffen" von „künstlich" verursachter Migration zu unterscheiden waren84. Darunter verstand er Wanderungen, die von den Römern selbst hervorgerufen worden sind, sei es durch Anwerbung germanischer Stämme zur Grenzsicherung oder zur Arbeit in den Städten. Dopsch vertrat also ein breites Verständnis von Völkerwanderung, das von einem friedlichen Einsickern und Durchmischen ausging. Jene „römisch-germanischen Mischstaaten", die in Italien, Gallien und anderswo im 5. Jahrhundert entstanden sind, seien „nur der Abschluss des großen Prozesses, der lange vor Cäsar bereits eingesetzt hatte"85. Die Betonung von Vermischung, Vermengung und gegenseitiger Beeinflussung stellt ein zentrales Kennzeichen der Arbeiten Dopschs dar. Immer wieder hob er die Existenz und produktive Bedeutung von „Mischkulturen" hervor: Die Schlüsse der älteren Forschung, „als ob zwischen den beiden Völkermassen [der Römer und Germanen] ein förmlicher Vernichtungskrieg, ein Kampf auf Leben und Tod geführt worden sei", beruhe auf Missverständnissen86. Auch für die Alpenländer verwies Dopsch auf „eine Sprach-, beziehungsweise Völkervermischung, die bereits mit der Völkerwanderung einsetzte"87. Die „Durchmischung von Römern und Franken" war lange vor der Völkerwanderung bereits im Gange88, es dominierte eine „Mischkultur, welche aus der Verbindung des Romanischen mit dem Germanischen in diesen neuen Staaten zustande gekommen ist"89. Die alpenländische „Mischkultur" umfasste im Frühmittelalter nicht nur germanische und römische Elemente, sondern auch Slawen, die in der Steiermark und Kärnten mit den Baiern ,Rieben und durcheinander" wohn-

80

81 82 83 84 85 86 87 88 89

Grundlagen 1 (wie Anm. 3 1 ) 5 2 - 6 3 . 2 82. 1 84 und 346. 90. 93f. 100. 187. 123. 225. DOPSCH, Wiederaufbau (wie Anm. 34) 15. Zur „Mischkultur" vgl. auch frühen Mittelalters, in: Forschungen und Fortschritte 9 (1933) 90f. DOPSCH,

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

DERS.,

Der Kulturzustand des

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ten90. Auch hier „erfuhren die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse durch die Slawen keinen Abbruch oder Abstieg zu primitiven Formen"91. An anderer Stelle betonte er noch weiter reichende Kultureinflüsse: „Wie der Kaufmann mit seinen Waren aus Vorderasien und dem Pontus über Rußland, Polen und Ostdeutschland nach Gotland und Schweden zog, so sind auch die geistigen Entwicklungen auf denselben Wegen ausgeübt worden"92. Diese Skepsis gegenüber Annahmen eines ursprünglichen oder eigentlichen Wesens von Völkern wurde zeitgenössisch durchaus wahrgenommen. Carl Brinkmann etwa folgerte 1919: „Bei äußerster Durchfuhrung dieser Skepsis verfiele die vermeintliche Eigenart des germanischen Volkstums sozusagen einer Aufteilung in einer Gruppe von Merkmalen, die zwar ursprünglich, ihm aber mit einer Reihe entwicklungsgeschichtlich entsprechender Kulturen gemeinsam, und in eine andre, die weder ursprünglich noch ihm eigentlich, sondern aus der reifen Kultur Spätroms übernommen wäre"93. Insgesamt stand für Dopsch fest: „Die römische Welt ward von innen heraus durch die Germanen allmählich gewonnen, indem sie längst durch Jahrhunderte von ihnen friedlich durchsetzt, ihre Kultur durch sie übernommen, ja auch ihre Verwaltung vielfach bereits auf sie übergegangen war, so dass die Beseitigung der politischen Herrschaft nur mehr die letzte Konsequenz dieses langwährenden Wandlungsprozesses gewesen ist, gewissermaßen die Richtigstellung einer Firma, deren alter Name tatsächlich längst nicht mehr den wirklichen Träger der Geschäfte bezeichnete"94. Dopsch verstand dabei Kontinuität nicht als „Konservierung bereits erstarrter römischer Formen", sondern als „eine Umbildung und Neuschöpfung durch die Germanen [...], welche ihren Bedürfhissen und der anders gerichteten Einstellung ihrer neuen Staatengründungen entsprach"95. Kontinuität war für ihn demnach ein Prozess produktiver Aneignung, der sowohl regional als auch nach der „geistigen" und der „materiellen Kultur" zu differenzieren war. Die Landnahme germanischer Bevölkerung als Anpassung an Bestehendes hing nicht zuletzt damit zusammen, dass nicht „in geschlossenen Massen" gesiedelt wurde96. Anpassungen und Veränderungen konstatierte Dopsch dabei insbesondere im politischen Aufbau 97 . Allerdings wurde weder das Städtewesen noch die bestehende 90 Alfons DOPSCH, Die ältere Wirtschafte- und Sozialgeschichte der Bauern in den Alpenländern Oesterreichs (Instituttet for sammenlignende Kulturforskning, Serie A: Forelesninger, Oslo 1930) 38. 91 Ebd. 42. 9 2 DOPSCH, Kulturzustand (wie A N M . 8 9 ) 9 1 . 93 Carl BRINKMANN, Rezension zu DOPSCH, Grundlagen 1 (wie Anm. 31), in: ZRG GA 40 (1919) 289298, hier 290; vgl. zu neueren Einschätzungen etwa Patrick J. GEARY, Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen (Frankfurt/M. 2002); Herwig WOLFRAM, Die Germanen (München 41999); Jochen MARTIN, Spätantike und Völkerwanderung (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 4, München 42001). 9 4 DOPSCH, Grundlagen 1 (wie Anm. 3 1 ) 3 9 9 . 9 5 Alfons DOPSCH, Vom Altertum zum Mittelalter - das Kontinuitätsproblem, in: AKG 1 6 ( 1 9 2 6 ) 1 5 9 182, hier 181. 9 6 DOPSCH, Grundlagen 1 (wie Anm. 3 1 ) 1 9 8 . 97 Ebd. 2 lf.

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kirchliche Organisation zerstört98. Dies hatte auch weitreichende Folgen für die mittelalterliche Wirtschaftsgeschichte. Gingen etwa ältere Ansichten davon aus, dass mit der Zerstörung der römischen Kultur wieder eine bedarfsorientierte Wirtschaft Platz gegriffen hätte, stellte Dopsch dies mit seiner Betonung der Kontinuität in Abrede. Er wandte sich dabei insbesondere gegen die hofrechtliche Theorie, die gewerbliche Betätigung im Frühmittelalter vornehmlich im Rahmen großer Grundherrschaften sah, wie auch gegen Büchers als entwicklungshistorische Wirtschaftsstufe konzipierte Annahme einer „geschlossenen Hauswirtschaft", in der Eigenproduktion und Tauschlosigkeit dominierten: „Die weitverbreiteten Anschauungen von dem primitiven Charakter der germanischen Wirtschaft in der vorkarolingischen Zeit sind doch heute absolut nicht mehr haltbar und bloß eine rein theoretische Konstruktion, die mit dem Befunde der gleichzeitigen Quellen schlechterdings unvereinbar ist"99. Auch in vorkarolingischer Zeit seien Städte ebenso wie ein relevantes Maß an Konsum erkennbar gewesen100. Der Handel dieser Zeit wäre weder überwiegend von „Fremden" betrieben worden, noch sei er auf Luxuswaren beschränkt gewesen. „Diese allgemein vorherrschende Anschauung ist mehr der Ausfluss theoretischer Konstruktionen in nationalökonomischer und rechtsgeschichtlicher Beziehung als das Ergebnis der historischen Quellenuntersuchung"101. Folglich könne auch keine reine Naturalwirtschaft geherrscht haben; vielmehr sei eine Koexistenz mit Geldwirtschaft vorauszusetzen102. Die Karolingerzeit wäre demnach vor einem breiten historischen Kontext zu interpretieren. Vieles, dessen Beginn man in der Zeit der Karolinger vermutet hatte, war für Dopsch nur die Fortentwicklung bekannter Formen. Die Bildung großer Grundherrschaften etwa schien ihm zwar für diese Periode belegt, doch bestritt er sowohl die Neuartigkeit dieses Phänomens als auch die planmäßige Erweiterung der Eigenwirtschaft. Vielmehr wären auch hier die Verhältnisse differenzierter zu betrachten, wozu insbesondere ein „vielgestaltiges Nebeneinander von kleineren und größeren Höfen" zählte103. Die Forschung habe vielfach übersehen, „wie ganz kolossal die Mobilisierung des Grundeigentums in der Karolingerzeit fortgeschritten war"104. Insgesamt habe man sich die Wirtschaft dieser Zeit als zu primitiv vorgestellt, herrschte doch eine „mannigfach abgestufte Besitzverteilung" wie auch Produktion für den Markt105. Wie schon in der Spätantike und der Völkerwanderungszeit sei demnach auch hier „eine größere Mannigfaltigkeit der Verhältnisse" anzunehmen106. Aus der Auseinandersetzung mit Spätantike und Frühmittelalter heraus entwickelte Dopsch im Anschluss an seine „Hauptwerke" in den Folgejahren Fragestellungen, die das Hoch- und Spätmittelalter mit einbezogen als auch zeitlich übergreifend waren. 98 Ebd. 195f. und 344^100. 99 Ebd. 404f. 100 Ebd. 409 und 419. 101 Ebd. 447. 102 Ebd. 476-513. 103 DOPSCH, Wirtschaftsentwicklung 1 (wie Anm. 30) 151. 104 Ebd. 251. 105 Ebd. 308. 106 Ebd. 332.

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Im Gegensatz zu diesen Arbeiten fanden Dopschs Monografien der 1930er Jahre nur wenig Beachtung und wurden vielfach als Spätwerke eingestuft, die nur mehr teilweise auf der Höhe der Zeit standen107. 1933 griff Dopsch mit der Frage der spätmittelalterlichen Markgenossenschaft ein Thema auf, mit dem er sich bereits in den Jahren zuvor beschäftigt hatte und das, so Dopsch, in älterer wie jüngerer Forschung als Ausweis des „germanischen Wirtschaftslebens" betrachtet wurde108. „Die immer noch in den meisten Darstellungen übliche Schilderung war ja einfach genug. Anfanglich in der germanischen Urzeit, waren alle Siedlungsgenossen frei und gleich gestellt, ja es herrschte lange Zeit ein Agrarkommunismus. Die freien Marken waren die Hauptstütze für diese Theorie. Dann seien mit der Ausbildung der großen Grundherrschaften, welche viele Rechtsund Wirtschaftshistoriker immer noch in die Karolingerzeit setzen, die Grundherren in die Markgenossenschaftsverbände eingedrungen und hätten diese immer mehr von sich abhängig gemacht. Indem die Masse der Gemeinfreien allmählich von den Grundherrschaften abhängig wurden, ja ihre Freiheit verloren, wurden auch die Marken nach und nach diesen Untertan. [...] Jedoch hätten sich noch zur Zeit der Rechtsbücher und später sehr viele freie Leute auf eigenem bäuerlichen Besitztum und auch eine bedeutende Zahl ganzer Mark- und Dorfgemeinden erhalten, welche sich die gemeine Freiheit wahrten"109. Dahinter stehe im Grunde die Annahme, „dass die ländliche Wirtschaftsweise innerhalb des alten Volksgebietes durch Jahrhunderte dieselbe geblieben sei"110. Dopsch betonte demgegenüber, wie differenziert die Verfügungsrechte über Marken im Hoch- und Spätmittelalter waren, was er auf Entwicklungen seit der Karolingerzeit zurückführte. Damit unterstrich er erneut die seines Erachtens unterschätzte Dynamik der mittelalterlichen Wirtschafts- und Rechtsgeschichte. Ähnliches führte er in seinem 1939 erschienenen Buch über „Herrschaft und Bauer in der deutschen Kaiserzeit" fort111. Dopsch ging es darin um die Flexibilität des Begriffs Grundherrschaft sowie um eine differenzierte Betrachtung ihrer Entwicklung, ohne sie nicht zwangsläufig mit zunehmender Unfreiheit oder Abhängigkeit der Bauern in Verbindung zu bringen112. Seine Schlussfolgerung lautete vielmehr, dass das 10. bis 107

Vgl. etwa den Nachruf von LHOTSKY, Dopsch (wie Anm. 6 8 ) , in dem nach Dopschs „Hauptwerken" faktisch keine Arbeit des Historikers mehr Erwähnung findet, oder MERK, Rezension (wie Anm. 70) 321-325.

1 0 8 DOPSCH, Marken ( w i e A n m . 7 0 ) 8.

109 Ebd. 96-98. 110 Ebd. 7. 111 DOPSCH, Herrschaft (wie Anm. 78). Das Manuskript dieses Buchs war offenbar Ende 1938 abgeschlossen, so dass Dopsch die ebenfalls 1939 erschienene Arbeit von Brunner über „Land und Herrschaft" nicht mehr berücksichtigen konnte. Bemerkenswert ist, dass Brunner das Buch von Dopsch, das viele auch von ihm diskutierte Themen behandelte und das auch rezensiert worden war, weder in der ersten noch in der 1942 erschienenen ergänzten zweiten Auflage erwähnt; vgl. Otto BRUNNER, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter (Veröff. des IÖG 1, Brünn/München/Wien 2 1942). 112 Dieter SCHELER, Grundherrschaft. Zur Geschichte eines Forschungskonzepts, in: Vom Elend der Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, hg. v. Hans MOMMSEN, Winfried SCHULZE (Geschichte und Gesellschaft Bochumer Historische Studien 24, Stuttgart 1981) 142-157,

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13. Jahrhundert „die Blüteperiode des deutschen Bauernstandes im Mittelalter" gewesen sei" 3 . Der Historiker wies differenzierte historische Entwicklungsformen nach, für die der Begriff Grundherrschaft „nur irreführend wirken kann"114. Grundherrschaft sei demgegenüber „nicht nur ein Konglomerat verschieden gearteter Rechte, sondern auch der Zeit nach verschieden und hat deshalb auch keinen für alle Zeiten gleichen Inhalt"115. Die Herrschaftsgewalten leiteten sich auch nicht zwangsläufig aus dem Grundbesitz ab, was für Dopsch durch die Existenz zahlreicher freier Bauern ohne Herrschaftsgewalten und unfreier Grundbesitzer hinlänglich bewiesen schien. Daraus ist auch keine zeitlich eindeutige Entwicklung von Eigenwirtschaft zu Lohnarbeit bzw. von Frondiensten zu Geldabgaben zu folgern: „Wir haben demnach eine Koexistenz der beiden Wirtschaftsformen festzustellen. Es war weder so, dass die Auflassung der einen (Eigenbau) die Ursache war für das Aufkommen der anderen (Lohnarbeit), noch auch umgekehrt, dass durch Ablösung der Frondienste die Notwendigkeit für die Auflösung ersterer gegeben war"116. Auch die Gutsherrschaft, in der zeitgenössischen Wirtschaftsgeschichte ein Beispiel fiir die Entstehung kapitalistischer Betriebsformen in der Landwirtschaft, sei keine Erfindung des 16. Jahrhunderts und auch regional sehr viel weiter verbreitet als angenommen. Denn schon die Grundherrschaft des Mittelalters war nicht auf Deckung des Eigenbedarfs beschränkt. Die Grenzen zwischen Guts- und Grundherrschaft waren demnach fließend, mit der Folge, dass sich typologische Unterscheidungen als problematisch erweisen111. Insgesamt führte Dopsch seine Skepsis gegenüber zentralen Annahmen der Wirtschafts- und Rechtsgeschichte fort. Statt grober Typologisierungen ging es ihm um eine differenzierte, quellenbasierte Auseinandersetzung, die eine deutlich größere Dynamik der Geschichte, basierend auf Vermischung und Koexistenz, anerkannte, als dies vielfach angenommen worden war. Verlaufstypen oder Stufentheorien, an deren Ende der moderne Kapitalismus stand, waren Dopsch suspekt118. Rationalisierung der Wirtschaftsführung und rechnerischer Geist als zeitgenössisch angeführte Symptome des Kapitalismus waren für ihn ein im Mittelalter allenthalben und besonders bei der Kirche anzutreffendes Phänomen119. Auch die Tauschbeziehungen waren eindeutig intensiver als bisweilen vermutet: Im Gegensatz zur Annahme Max Webers war der „wirtschaftliche Verkehr hier 149, bemerkte zu Dopschs Ausfuhrungen: „Seine Arbeiten - entstanden aus der Kenntnis eines immensen Urkundenmaterials - sind bis heute nicht voll ausgewertet, obwohl Dopsch darin fast jede gängige Aussage über Grundherrschaft quellenmäßig in Frage gestellt hat"; vgl. auch Alfons DOPSCH, Herrschaft und Bauer in der Deutschen Kaiserzeit, in: Forschungen und Fortschritte 16(1940)42-43; DERS., Die Grundherrschaft im Mittelalter, in: Abhandlungen zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte. FS Adolf Zycha zum 70. Geburtstag am 17. Oktober 1941 (Weimar 1941) 87-102. 113 DOPSCH, Herrschaft ( w i e A n m . 78) 2 4 2 .

114 Ebd. 1. 115 Ebd. 3. 116 Ebd. 128. 117 Ebd. 164-173. 118 Vgl. auch seine Auseinandersetzung mit Sombart: Alfons DOPSCH, Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus, in: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 8 (1919) 330-382. 119 DOPSCH, Herrschaft ( w i e A n m . 78) 211 f.

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an Lehensgütern ungemein rege"120. Man müsse, so Dopsch, „eine viel größere Beweglichkeit und Anpassungsfähigkeit der Wirtschaft an die jeweils vorhandenen natürlichen Bedingungen sowie eine Vielfalt der Wirtschaftsformen annehmen"121. Die tief verwurzelte Skepsis des Wiener Historikers gegenüber verallgemeinernden Aussagen auf Basis deduktiver Annahmen war aber kein durchgängiges Motiv seiner Geschichtsbetrachtung. Insbesondere bei seiner Auseinandersetzung mit einzelnen Aspekten der mittel- und osteuropäischen Geschichte neigte er teilweise dazu, Vorbehalte, die er an anderer Stelle wohl vorgebracht hätte, hintanzustellen. 1930 etwa glaubte er für die Alpenländer nach dem Ende der Karolingerzeit einen starken wirtschaftlichen Verfall zu erkennen, der nicht zuletzt auf die Einfalle der Ungarn zurückzuführen gewesen sei und solange anhielt, bis „Deutschland von dieser langwährenden Bedrohung befreit" werden konnte122. Es folgte die „Germanisierung der Alpenslaven", das „deutsche Kulturwerk drang damals bis an den Südrand der Alpen"123 vor, eine Entwicklung, die für Dopsch auf einer Stufe mit der ,,allergrößte[n] deutsche[n] Kulturtat des Mittelalters", der ,,gewaltige[n] Kolonisation und Germanisierung des Ostens"124 stand. Trotzdem dominiert in den Arbeiten Dopschs die Perspektive einer differenzierten und dynamischen „Kulturgeschichte", zu der er sowohl die „materielle" wie die „geistige Kultur" rechnete125. Der Suche nach dem eigentlichen Wesen eines Phänomens erteilt er großteils eine Absage, ebenso wie vorschnellen Typenbildungen. Zugleich lässt sich damit der heterogene Charakter von Dopschs Arbeiten nicht verwischen. Vorbehalte gegenüber verallgemeinernden Aussagen ohne Grundlage in den Quellen finden sich neben Pauschalurteilen, insbesondere in Bereichen, die auch zu den bevorzugten Bezugspunkten der „Volksforschung" zählten. Aus seiner Skepsis gegenüber theoretischen Angeboten ein Unverständnis gegenüber Theorien oder gar Theoriefeindlichkeit, wie bis heute vielfach moniert, ablesen zu wollen, wäre aber verfehlt. Dopsch betonte die Anregungen, die etwa soziologischen Theorien zu entnehmen waren. Die Soziologie habe „gerade in jüngster Zeit 120 Ebd. 199. 121 Ebd. 163; vgl. ausführlicher: Alfons DOPSCH, Naturalwirtschaft und Geldwirtschaft in der Weltgeschichte (Wien 1 9 3 0 ) . 122 DOPSCH, Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 90) 68. 123 Ebd. 75. 124 Alfons DOPSCH, Der deutsche Staat des Mittelalters, in: Das Mittelalter in Einzeldarstellungen, hg. v. Otto BRUNNER, U. a. (Wissenschaft und Kultur 3, Leipzig/Wien 1930) 218-230, hier 230; vgl. auch Alfons DOPSCH, Die deutsche Kulturwelt des Mittelalters (Deutsche Hausbücherei 98, Wien 1924) 48. 125 Dopsch führt sein Verständnis von Kulturgeschichte an keiner Stelle detailliert aus. Gleichwohl lässt sich aus seinen Arbeiten ein umfassender Begriff der Kulturgeschichte erkennen. 1907 definierte er in einem nicht publizierten Text „Culturgeschichte" als „die geistige und materielle Kultur sowie die durch jene bewirkten sozialen und verfassungsmäßigen Ordnungen". Zitiert nach Ernst BRUCKMÜLLER, Wissenschaft und Schulbuch. Eine Intervention von Alfons Dopsch beim k. k. Ministerium für Kultus und Unterricht, in: Brennpunkt Mitteleuropa. FS für Helmut Rumpier zum 65. Geburtstag, hg. v. Ulfried B U R Z , Michael DERNDARSKY, Werner DROBESCH (Klagenfurt 2000) 595612, hier 599.

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der Wirtschaftsgeschichte immer mehr Neuland erschlossen"126 und „so mancher Erscheinung der Wirtschaftsgeschichte eben durch die gesellschaftliche Einordnung erst den richtigen Platz angewiesen und als typische Form bestimmter ökonomischer Vorbedingungen erkannt, was man früher als spezifische Eigenart einzelner Völker und Zeiten hingestellt hatte"127. Die Soziologie arbeite demnach, was Dopsch als positiv hervor strich, ihrem Wesen nach „übervölkisch"128. Seine Skepsis richtete sich weniger gegen Theorien an sich als vielmehr gegen den Prozess der Theoriebildung in den historischen Schulen der Nationalökonomie und Rechtswissenschaft, den er weniger als historisch-induktiv sondern vielmehr als deduktiv interpretierte. Entsprechend kam seiner Ansicht nach in diesen Ansätzen historischen Quellen weniger die Funktion der Prüfung einer Annahme als vielmehr jene der Verschleierung vorwissenschaftlicher Ansichten zu. Quellen dienten jedoch nicht dazu, „für wenn auch geistvolle Konzeptionen theoretischer Art eine historische Verbrämung zu gewähren, sondern [...] es gilt aus ihnen selbst heraus ein festes Gerüst zu gewinnen"129. Daraus lässt sich kein simpler Gegensatz von deskriptiver Geschichte und theorieorientierter Ökonomie konstruieren. Dopsch betonte wiederholt, dass eine moderne Geschichtswissenschaft nicht bei deskriptiver Vorgangsweise stehen bleiben konnte130. Vielmehr verwies er mit seiner Kritik auf ein grundsätzliches Problem der Wirtschaftsgeschichte, das auch von anderen Zeitgenossen bemerkt wurde: Der Soziologe und Nationalökonom Hans Proesler etwa verwies 1928 auf die Gefahr, dass „der Wirtschaftshistoriker die von ihm erst zu erforschenden und demgemäß zu formulierenden Entwicklungsgesetzmäßigkeiten131 aus der Werkstatt des Wirtschaftstheoretikers fertig bezieht. Die Versuchung hierzu ist um so größer, als diese Maßstäbe dort in der Regel greifbar vorliegen, oft eine stark suggestive Wirkung auszuüben vermögen, und als schließlich der Sozialökonom an ihrer Weiterverwendung selber lebhaft interessiert ist; ein Musterbeispiel dafür bietet das Schicksal der Wirtschaftsstufentheorien!"132. Auch Nationalökonomen sahen dieses Problem und rekurrierten dabei immer wieder auf den Wiener Historiker. Alfred Müller-Armack etwa sah durch die Kritik von Historikern wie Dopsch die „Unmöglichkeit" der Lehren von den Wirtschaftsstufen als „hinlänglich bewiesen"133. Vernachlässigte Quellenkenntnis und -interpretation führten für Dopsch demnach zu einer verzerrten Repräsentation von Geschichte. Die derart gewonnenen Modelle wiederum wurden durch das theoretische Postulat des „Evolutionismus" in eine Logik ge126 DOPSCH, Methodologie (wie ANM. 77) 556. 127 Ebd. 557. 128 Ebd. 129 DOPSCH, Wirtschaftsentwicklung 1 (wie Anm. 30) 27. 130 Vgl. etwa DOPSCH, Grundlagen 1 (wie Anm. 31) VHIf. 131 Proesler trennt „Gesetzmäßigkeiten" als eine induktiv gewonnene Erkenntnis von „Tendenzen" explizit gegen deduktiv entwickelte „Gesetze" ab. Hans PROESLER, Die Wirtschaftsgeschichte in Deutschland, ihre Entwicklung und ihre Probleme (Nürnberg 1928) 20f. 132 Ebd. 21. 133 Alfred MÜLLER-ARMACK, Genealogie der Wirtschaftsstile. Die geistesgeschichtlichen Ursprünge der Staats- und Wirtschaftsformen bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts (Stuttgart 1944) 13.

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zwängt, deren Eigengesetzlichkeit der Geschichte eine spezifische Ordnung aufzwängt. So folge auf das „Primitive" zwangsläufig das „Entwickelte", die „Geldwirtschaft" folge der „Naturalwirtschaft" usw. Diesem selbstreferentiellen Charakter etwa der Wirtschaftsstufenlehre stellte Dopsch aber keine alternativen Konzepte entgegen. Zwar deutete er Überlegungen an, die als „Pluralitätstheorie"134 weiter entwickelt werden sollten, doch verfolgte Dopsch diese Ansätze nicht weiter. Der Wert von Theorien maß sich für ihn primär an ihrer Anwendbarkeit auf die Geschichte und ihrer Kompatibilität mit „den Quellen".

IV. Alfons Dopsch und die „Volksgeschichte" Ein nicht nur stilistischer, sondern über weite Strecken auch struktureller Aspekt der Arbeiten von Dopsch war sein Kampf gegen „die herrschende Lehre". Wenn auch, wie bereits Zeitgenossen anmerkten, die von ihm kritisierten Ansichten nur bedingt als einheitliche Lehre zu bezeichnen waren und nur mehr teilweise die Debatte beherrschten, wurde ihm doch zumindest zugute gehalten, bislang unverbundene Stränge der Kritik zusammenzuführen135. In seiner Kritik an Konzepten, Modellen und Begriffen des 19. Jahrhunderts, etwa den Wirtschaftsstufentheorien, ist ein verbindendes Element zu volksgeschichtlichen Zugängen zu sehen, die in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft der 1920er und 1930er Jahre zu einem zentralen Orientierungspunkt wurden136. Dopsch teilte also Ansatzpunkte mit manchen Volksforschern, mit vielen von ihnen konnte er sich weltanschaulich verständigen und seine - wenn auch nicht dominante - Beschäftigung mit der deutschen Rolle in der osteuropäischen Geschichte hatte er ebenfalls mit vielen von ihnen gemein. Methodisch verband ihn mit Vertretern der „Volksgeschichte" die frühe Anwendung von Karten und Tabellen, obgleich er diese Hilfsmittel außerhalb seiner Quelleneditionen nicht verwendete. Ähnlich wie Dopsch forschten auch Aubin, Höfler und andere zu Fragen von Kontinuität und Zäsur im Übergang von Antike zu Mittelalter. Trotz dieser Gemeinsamkeiten waren die Publikationen Aubins, aber auch Otto Brunners, Theodor Mayers oder anderer von einer eher ablehnenden Auseinandersetzung mit Dopsch geprägt, was der sonst so streitlustige Historiker kaum kommentierte. Der Modus der Auseinandersetzung mit ihm lässt sich dabei als komplexes Wechselspiel von Kritik und selektiver Aneignung umschreiben. Systematische inhaltliche Kritik, aber auch spezifische Rezeption inhaltlicher Positionen sind insbesondere beim Problem der Kontinuität im Übergang von Antike 134 DOPSCH, Naturalwirtschaft (wie Anm. 121) 17. 135 Vgl. etwa Rudolf KÖTZSCHKE, Grundzüge der deutschen Wirtschaftsgeschichte bis zum 17. Jahrhundert (Leipzig/Berlin 21923) 34f. 136 Vgl. Willi OBERKROME, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101, Göttingen 1993); FAHLBUSCH, Wissenschaft (wie Anm. 52); HAAR, Historiker (wie Anm. 52). Für die österreichische Geschichtsforschung fehlt eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der „Volksgeschichte".

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zum Mittelalter erkennbar. Ausgehend von seinen landesgeschichtlichen Forschungen formulierte Aubin grundsätzliche Zweifel an der Kontinuitätsthese Dopschs137. Bemerkenswert daran ist nicht nur, dass der Wiener Historiker nie ausfuhrlich auf die Kritik Aubins geantwortet hat, sondern auch, dass Aubin dieses Thema von den frühen 1920er Jahren bis nach dem Zweiten Weltkrieg immer wieder aufgegriffen und variiert hat. Bereits in seinen frühen Arbeiten zur rheinischen Landesgeschichte wandte sich Aubin gegen Ansichten einer „allzu stark betonten und schematisch dargestellten Kulturkonstanz von der Antike zum Mittelalter"138. Aubin betonte die Notwendigkeit regionaler Differenzierung. Im Falle der Rheinlande wäre antikes Kulturgut „so vollständig assimiliert, dass es in germanische Gestalt umgegossen erscheint"139. Die Völkerwanderung war für ihn dementsprechend als Phase der Germanisierung erkennbar. Durch die Landnahme von Franken und Alemannen war alsbald das linke Rheinufer in den germanischen Kulturkreis hineingezogen, die „mit germanischem Wesen durchsäuerte Zone"140 reichte aber weiter. Seines Erachtens galten drei Hauptbedingungen für eine Kulturübemahme. Zum einen müsse das übernehmende Volk „bildungsfähig" sein, die neuen Kulturträger dürften kulturell zum Zeitpunkt der Übernahme nicht zu tief unter und zu weit entfernt von den alten Kulturträgern stehen und zum dritten müssten „vermittelnde Bestandteile der älteren Bevölkerung übrig bleiben"141. Während für Aubin die erste Bedingung erfüllt war, galt dies für die zweite und die dritte nicht im vollen Umfang. Zwar seien „vorgermanische Bevölkerungsreste" erhalten geblieben, doch gehörten diese den unteren Schichten an und konnten den Germanen daher nur „Errungenschaften der täglichen Lebensführung" vermitteln142. Darüber hinaus - hier bestätigte Aubin die Forschungen Dopschs - wäre zwar das germanische Kulturniveau zu Zeit der Völkerwanderung höher gewesen als lange angenommen, allerdings war jenes der Römer zu diesem Zeitpunkt bereits dem Verfall preisgegeben143. Bereits die Römer hätten also für einen Tiefstand an römischer Kultur gesorgt, zugleich waren die Germanen „entschlossen, ihre eigene Art zu behaupten"144, was für Aubin mit einer Übernahme römischer Kultur kaum kompatibel war. Eine Rezeption römischer Kultur konzedierte er für die Rheinlande nur in Form Zu Positionen der Landesgeschichte vgl. Matthias W E R N E R , Zwischen politischer Begrenzung und methodischer Offenheit. Stationen deutscher Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert, in: Deutschsprachige Mediävistik (wie Anm. 3 8 ) 2 5 1 - 3 6 4 . M Ü H L E , Für Volk und deutschen Osten (wie Anm. 12), geht nicht genauer auf die Kritik Aubins an Dopsch ein. 1 3 8 Hermann A U B I N , Theodor FRINGS, Josef M Ü L L E R , Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden. Geschichte, Sprache, Volkskunde (Bonn 1926) 30. Die hier und im Folgenden zitierten Passagen stammen von Aubin. 139 Ebd. 28. 140 Ebd. 35. 141 Hermann A U B I N , Maß und Bedeutung der römisch-germanischen Kulturzusammenhänge im Rheinland, in: DERS., Von Raum und Grenzen des deutschen Volkes - Studien zur Volksgeschichte (Breslau 1938) 35-56, 212-221, hier 38. 142 Ebd. 41. 143 Diesen Aspekt betonte Aubin besonders nach dem Zweiten Weltkrieg; vgl. Hermann A U B I N , Vom Absterben antiken Lebens im Frühmittelalter, in: Antike und Abendland 3 (1948) 88-119. 137

1 4 4 AUBIN, M a ß ( w i e A n m . 1 4 1 ) 4 5 .

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der „karolingischen Renaissance": vom stärker römisch geprägten Gallien wäre im Frühmittelalter Kulturgut übernommen worden145. Aubin versuchte also, auf regionaler Ebene systematische und differenzierte Kritik an Dopsch zu üben146, wenn dieser auch nie von einer allgemeinen Kulturkontinuität gesprochen hatte. Zugleich vertrat Aubin eine Position, die von einer grundsätzlichen Unterscheidbarkeit des römischen und germanischen „Wesens" ausging. Auch bei äußerer Vermischung, die er teilweise durchaus anerkannte, blieb für Aubin im Gegensatz zu Dopsch ein „germanischer" Kern erhalten, der die produktive Quelle historischer Entwicklung darstellte. Neben den Thesen Dopschs und Aubins lässt sich in der zeitgenössischen Auseinandersetzung eine weitere Variation des Themas erkennen, die sich unter dem von Höfler besetzten Schlagwort der „germanischen Kontinuität" zusammenfassen lässt. Höfler, seit 1938 Ordinarius für Germanische Philologie und Volkskunde in München147, griff den Kontinuitätsgedanken Dopschs und anderer auf, unterschied sich in seinen Schlüssen aber signifikant vom Wiener Mediävisten148. In einem Vortrag beim 19. Deutschen Historikertag in Erfurt 1937 interpretierte Höfler das gängige Verständnis von Kontinuität als „Fortbestehen von kulturellen Schöpfungen bei einem Wechsel der Träger"149. Höfler zufolge legte es dieses Verständnis nahe, zwar keinen grundsätzlichen Bruch zwischen Antike und Mittelalter zu sehen, wohl aber zwischen germanischer Antike und germanischem Mittelalter: „Denn in dem selben Maß, wie sich das germanische Mittelalter als geistige, kulturelle und zivilisatorische Fortsetzung des klassischen Altertums erwies, im selben Maße rückte es ab vom germanischen Altertum"150. Höfler plädierte dagegen für ein alternatives Verständnis von Kontinuität, in dem die „Träger" im Vordergrund standen: „Sieht man hingegen in den kulturerzeugenden und immer wieder neu zeugenden Völkern das eigentlich Eigenlebige der Geschichte, so wird man nur insoweit von Kontinuität sprechen, als sich eine organische Eigenständigkeit in der Entwicklung der völkischen Lebensformen (denn nur in diesem weiten Sinne möchte ich das Wort, Kultur' hier anwenden) geltend macht"151. Höfler stellte somit zwar Kontinuität in den Vordergrund, wollte diese aber nur dort sehen, wo „völkische Substanz und ihre Schöpfungen ungebrochen weiterleben"152. Für die Germanen sah er eine vierfache Kontinuität gegeben, jene 145 Ebd. 146 Vgl. auch Paul K I R N , Zum Problem der Kontinuität zwischen Altertum und Mittelalter, in: AUF 10 (1928)128-144. 1 4 7 Zu Höfler vgl. Olaf B O C K H O R N , Von Ritualen, Mythen und Lebenskreisen: Volkskunde im Umfeld der Universität Wien, in: Völkische Wissenschaft. Gestalten und Tendenzen in der deutschen und österreichischen Volkskunde in der ersten Hälfte des 2 0 . Jahrhunderts, hg. v. Wolfgang JACOBEIT, Hannjost L I X F E L D , Olaf B O C K H O R N (Wien/Köln/Weimar 1 9 9 4 ) 4 7 7 - 5 2 6 , v. a. 4 8 2 4 8 6 ; mit biografischen Details, aber unkritisch Peter W I E S I N G E R , Daniel S T E I N B A C H , 1 5 0 Jahre Germanistik in Wien. Außeruniversitäre Frühgermanistik und Universitätsgermanistik (Wien 2 0 0 1 ) 1 0 3 - 1 1 4 . 148 Ähnliche Gedanken wurden bereits von Wopfner geäußert; vgl. W O P F N E R , Rezension (wie Anm. 69) 63. 1490tto H Ö F L E R , Das germanische Kontinuitätsproblem, in: H Z 157 (1938) 1-26, hier 1. 150 Ebd. 151 Ebd. lf. 152 Ebd. 2.

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der „Rasse, der Sprache, des Raums und des Staates" 153 . Diese Neuinterpretation des Kontinuitätsgedankens war für Höfler nicht nur eine „theoretische Frage der wissenschaftlichen Begriffsbildung", sondern vielmehr hing für ihn das „Grundgefüge unseres historischen Selbstbewusstseins" davon ab154. An anderer Stelle ergänzte Höfler dieses Verständnis um die „soziale Kontinuität". Damit wandte er sich gegen Anschauungen etwa des französischen Philosophen und Ethnologen Lucien Levy-Bruhl155, wonach der „Volkskörper selbst in zwei wesensmäßig getrennte Teile zerfalle" und innerhalb von Gegensatzpaaren wie kollektiv - individuell, persönlich - unpersönlich usw. aufgeteilt werde 156 . Soziale Kontinuität entspricht also der Frage, „wieweit von einer sozialen Einheit des gegliederten Volkskörpers gesprochen werden" kann und ist somit eine Ergänzung zur Frage nach der historischen Kontinuität157. Eine der ersten, die Höflers Thesen aufgriff, war Erna Patzelt. In ihrem Beitrag zur 1938 erschienenen Festschrift für Dopsch resümierte sie die Thesen ihres Mentors und versuchte, diese mit den Überlegungen Höflers in Einklang zu bringen 158 . Patzelt konzentrierte sich in ihren Ausfuhrungen auf den Nachweis eigenständiger „germanischer Formen". Die Arbeiten Dopschs, seine Betonung des Fortbestehens römischer Kultur dürfen demnach,glicht dahin falsch gedeutet und missverstanden werden, als sei das Kontinuitätsproblem mit der Beantwortung der Frage erschöpft, in welcher Weise und in welchem Umfang etwa die Germanen Fortsetzer der römisch-antiken Traditionen gewesen seien? Das hieße die Problemstellung durchaus verschieben und verkennen. Es handelt sich doch nicht - und das ist entscheidend für das ganze Problem der Kontinuität vom Altertum zum Mittelalter - allein um die Kultur der Römer im engeren Sinne des Wortes, sondern um die Verhältnisse und die Kultur, die wir in den Zeiten der sogenannten Völkerwanderung antreffen, also ganz ebenso um das Problem der germanischen Kontinuität" 159 . Diese bemerkenswerte Anstrengung, das Höflersche Verständnis von Kontinuität mit jenem von Dopsch zu versöhnen, lässt sich als ein Versuch interpretieren, Dopschs inhaltliche Position gegenüber Aubin und anderen auf neuer Grundlage zu stärken. Gerade diese Festschrift, erschienen zu einem Zeitpunkt, als noch Möglichkeiten zu bestehen schienen, das Lebenswerk Dopschs zu sichern, war dafür ein gut gewählter Ort. Gleichwohl ist darin nicht nur ein forschungstaktischer Schritt zu sehen. Patzelt konnte sich in ihrem Versuch, die Positionen Dopschs mit jenen Höflers in Einklang zu bringen, durchaus auf Argumente aus den Arbeiten ihres Mentors stützen, was nahe legt, dass dessen Werk durchaus sehr divergente Interpretationen zuließ. Dies wird umso deutlicher, als auch Brunner, der um deutliche Abgrenzung von Dopsch 153 Ebd. 5. 154 Ebd. 2f. 155 Vgl. Lucien LEVY-BRUHL, Die geistige Welt der Primitiven (München 1927). 156Otto HÖFLER, Volkskunde und politische Geschichte, in: HZ 162 (1940) 1-18, hier lf. 157 Ebd. l f . 158 Erna PATZELT, Die Kontinuitätsfrage, in: Wirtschaft und Kultur (wie Anm. 56) 18-33. Inwieweit bei Patzelts Thesen ihre Affinität zum Nationalsozialismus eine Rolle spielte, kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden. 159 Ebd. 23.

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bemüht war, sein Buch „Land und Herrschaft" ausdrücklich in den Kontext von Höflers „germanischer Kontinuität" stellte160. Neben den von Höfler vorgetragenen Beispielen verwies Brunner darauf, dass das „Wesen von Land und Herrschaft [...] trotz tiefgreifender Wandlungen nur aus germanischen Wurzeln verstanden werden" 161 könne. Höflers Überlegungen zur „germanischen Kontinuität" erwiesen sich während des Nationalsozialismus als durchwegs anschlussfähiges Konzept und schienen geeignet, Interpretationen zu stützen, die einen maßgeblichen germanischen Einfluss auf weite geografische Räume, Zeiten und Kulturen nachweisen wollten. Ernst Petersen etwa, Prähistoriker und SS-Mitglied, setzte neben die von Höfler zunächst ins Spiel gebrachte Siedlungskontinuität die „Kontinuität der Blutströme" 162 . Diese erlaube es, das Germanentum im Osten bis weit in das 5. und teilweise bis ins 6. Jahrhundert hinein als „politisch und kulturell alleinherrschende[n] Faktor" festzustellen 163 . Doch auch für die folgenden Jahrhunderte bis zur deutschen „Ostsiedlung" erschien es Petersen berechtigt, den Osten als „germanisches Kraftfeld" 164 zu bezeichnen, was die germanische Kontinuität nachhaltig unterstreiche. Diese Konjunktur an Kontinuitäten wurde von Aubin heftig kritisiert165. Insbesondere bemängelte er das Unvermögen der „popularisierenden Volksgeschichtsdarstellungen", der Komplexität germanischer Kultur gerecht zu werden, womit Aubin nicht zuletzt die Rolle von Wanderung und Vermischung bei der Entstehung des „Germanentums" meinte 166 . Das Schlagwort der „germanischen Kontinuität" solle am besten fallen gelassen werden und „das Kontinuitätsproblem möchte von dem schweren Makel der Entartung, des Volksverrates, befreit werden, den eine ungenügende Einsicht in die ewigen, natürlichen Wege der Menschheitsentwicklung allzu leicht auf jede Kulturübernahme wirft" 167 . Die Wurzel der verkürzten Darstellungen und Überlegungen zur Kontinuitätsfrage sah Aubin freilich bereits bei Dopsch, der die Kontinuität zu einem „wissenschaftlichen Schlagwort" gemacht hatte, obwohl dieser deren Analyse „nicht grundsätzlich in Angriff genommen [hat], so sehr auch seine Schlussfolgerungen danach klingen" 168 . Obgleich also Aubin Höfler und seinen 160 BRUNNER, Land und Herrschaft (wie Anm. 111) 499f. 161 Ebd. 500. 162 Ernst PETERSEN, Die germanische Kontinuität im Osten im Lichte der Bodenfiinde aus der Völkerwanderungszeit, in: Deutsche Ostforschung. Ergebnisse und Aufgaben seit dem ersten Weltkrieg 1, hg. v. Hermann AUBIN, U. a. (Leipzig 1942) 179-205, 182; vgl. auch Ernst PETERSEN, Der ostelbische Raum als germanisches Kraftfeld im Lichte der Bodenfunde des 6.-8. Jahrhunderts (Leipzig 1939). 163 PETERSEN, Kontinuität ( w i e Anm. 162) 201.

164 „Denn gerade der vorstehend entwickelte völkergeschichtliche Sachverhalt wird besonders zutreffend durch den der Physik entnommenen Begriff des .Kraftfeldes' bezeichnet, das die verschiedenen germanischen .Kraftlinien' überziehen". Ebd. 203. 165 Hermann AUBIN, Rezension zu PETERSEN, Der ostelbische Raum (wie Anm. 162), in: VSWG 33 (1940) 235f. 166 Hermann AUBIN, Zur Frage der historischen Kontinuität im allgemeinen, in: HZ 168 (1943) 229-262, hier 231 f. 167 Ebd. 261. 168 Ebd. 237f.

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Exegeten eine Absage erteilte und sie in direkte Tradition zu Dopsch stellte, was Aubin paradoxerweise in die Nähe des Beitrags von Patzelt rückte, hatte er sich trotz weiterhin geäußerter systematischer Kritik am Kontinuitätsdenken dennoch Versatzstücken aus Höflers Überlegungen angenähert. Und obwohl Aubin an den Grundzügen seiner Argumentation aus den 1920er Jahren festhielt, spielte jetzt die „Rasse" eine größere Rolle. Eine Voraussetzung für kulturelle Kontinuität war für ihn u. a. in der „rassemässig bedingten Art des übernehmenden Volkstums" zu sehen169. Was Dopsch grundsätzlich von anderen Autoren unterschied, war die positive Bewertung von „Mischkultur" als produktives und dynamisches Element der Geschichte. Dies trennte ihn von Höfler, im Kern aber auch von Aubin, wenn dieser auch „Verschmelzung" oder „Vermischung" als Teil der germanischen Geschichte anerkannte. Neben der im engeren Sinne inhaltlichen Debatte lässt sich ein zweiter, subtilerer Strang der Kritik erkennen, der am Wiener Historiker seine internationale Selbstverortung, vor allem seine Rezeption nichtdeutschsprachiger Literatur bemängelte. Die europäische Ausrichtung Dopschs war auf allen Ebenen wissenschaftlicher Arbeit deutlich erkennbar. Er forschte zu Themen mit europäischer und teils globaler Dimension, frequentierte internationale Historikerkongresse, bestritt Gastvorträge in ganz Europa, stand als einer der wenigen deutschsprachigen Historiker nicht nur in Kontakt mit Vertretern der französischen Annales170, sondern auch mit polnischen Historikern171 und zog ein breites Spektrum internationaler Literatur heran. Gerade dieser letzte Punkt stieß immer wieder auf teils harsche Kritik seitens deutscher Fachkollegen. Im Rahmen einer 1926 erschienenen Polemik etwa kritisierte der Berliner Rechtshistoriker Ulrich Stutz auf vier Druckseiten, dass sich Dopsch auf den französischen Historiker Fustel de Coulanges stützt: „Hat denn dieser [Dopsch] wirklich nicht gemerkt, worauf der Franzose abzielt, was der Zweck seines heißen Bemühens war: nachzuweisen, dass das mittelalterliche und spätere Frankreich nichts oder doch nichts Erhebliches, geschweige denn Gutes von dem Einbrüche der Barbaren davongetragen habe. [...] Hat Dopsch nicht beachtet, dass die Stimmung, welche die Ereignisse von Königgrätz und Sedan in dem damaligen bzw. ehemaligen Straßburger Professor hervorriefen, seine Geschichtschreibung [sie!] und seine Auffassung der Germanen entscheidend beeinflußt hat? [...] Dafür, dass ein deutscher Historiker, dazu noch heute, so urteilt und solche Verstiegenheiten nachbetet, fehlt mir die wissenschaftliche Erklärung. Wer solchen Anschauungen huldigt und auf solche Gewährsmänner schwört, von dem braucht man sich nicht zu wundern, wenn ihm die Sauberkeit, Gewissenhaftigkeit und Solidität unserer rechtshistorischen 169 Ebd. 235. 170 Vgl. SCHÖTTLER, Annales (wie Anm. 57); DERS., Marc Bloch in Deutschland, in: Marc Bloch. Historiker und Widerstandskämpfer, hg. v. Peter SCHÖTTLER (Frankfurt/M./New York 1999) 33 71, v. a. 48 und 56; Steffen KAUDELKA, Rezeption im Zeitalter der Konfrontation. Französische Geschichtswissenschaft und Geschichte in Deutschland 1920-1940 (VeröfT. MPIG 186, Göttingen 2003) 129-240. 1 7 1 Vgl. Marceli HANDELSMAN, Die frühmittelalterlichen Forschungen der Warschauer Schule, in: Wirtschaft und Kultur (wie Anm. 56) 680-683.

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Forschung ein Dorn im Auge ist"172. Dopsch wiederum sah darin den „Gipfelpunkt der persönlichen Verdächtigung" und eine „politische Vernaderung", durch die Stutz ihn als „nationalen Hochverräter" dargestellt habe173. Zugleich aber blieb seine Replik defensiv: Schließlich habe er, so Dopsch, keiner „für die deutsche Kultur abträglichen Bemerkung Fustels zugestimmt, oder sie auch nur entfernt herangezogen"174. Gleichwohl war Dopsch nicht bereit auf die Stützung seiner überwiegend gegen deutschsprachige Forscher gerichteten Thesen durch ausländische Literatur zu verzichten. Symptomatisch dafür ist, dass er in einem 1940 erschienenen Beitrag die Aussage, das - während des Nationalsozialismus' wieder stärker debattierte - Reich Karls des Großen „war kein nationaler Staat", mit einem Verweis auf den polnischen Historiker Maijan Henryk Serejski stützte175. Dieser wie auch andere Autoren haben diese Ansicht „gegenüber den älteren Forschern zutreffend betont, die zum Teil eine zielbewusste Vereinigung der germanischen Stämme darin sehen wollten, gewissermaßen die beabsichtigte Gründung eines großgermanischen Reiches"176. Wie provokativ Dopschs Rezeption polnischer oder französischer Literatur wirkte, lässt sich aus einer 1940 von Mayer publizierten Rezension von Dopschs Monografie „Herrschaft und Bauer in der deutschen Kaiserzeit" erkennen. Mayer beklagte darin einerseits, Dopsch habe neuere Literatur nur „in beschränkter Auswahl" herangezogen, wobei er ausschließlich deutschsprachige Autoren erwähnte (Aubin, Brunner, Franz Steinbach usw.). Zugleich habe Dopsch den unbefriedigenden Stand der deutschen Forschung über die sozialen Fragen im Mittelalter bemängelt „und fuhrt dagegen die französische ins Feld, wobei er die Arbeiten von Marc Bloch zitiert. Die Arbeiten Blochs gehören einer vergangenen Zeit an und sind heute von der französischen und noch mehr von der deutschen Literatur weit überholt"177. Als Beispiele moderner französischer bzw. belgischer Geschichtsschreibung nannte Mayer Robert Latouche oder François-Louis Ganshof: „Sie und nicht Marc Bloch repräsentieren die französische oder belgische Wissenschaft"178. Dopschs Verhältnis zur „Volksgeschichte" oder besser: Das Verhältnis der „Volksgeschichte" zu Dopsch blieb stets ambivalent. Einerseits war der Wiener Historiker Teil eines Diskurses, der in zunehmendem Maße von volkshistorischen Ansätzen dominiert wurde179. Dopsch wurde also nicht „totgeschwiegen", wenn er 172 Ulrich STUTZ, Alfons Dopsch und die deutsche Rechtsgeschichte, in: ZRG GA 46 (1926) 331-359, hier 350 und 352. 1 7 3 A l f o n s DOPSCH, E r k l ä r u n g , in: Z R G G A 4 7 ( 1 9 2 7 ) 8 8 4 - 8 9 1 , h i e r 8 9 0 .

174 Ebd. Vgl. auch die Replik von Ulrich STUTZ, Gegenerklärung, in: ZRG GA 47 (1927) 892-895. 175 Alfons DOPSCH, Der Reichsgedanke zur Zeit der Karolinger, in: Das Reich. Idee und Gestalt. FS fur Johannes Haller. Zu seinem 75. Geburtstag, hg. v. Heinrich DANNENBAUER, Fritz ERNST (Stuttgart 1940) 133-144, hier 135. 176 Ebd. 177 Theodor MAYER, Rezension zu DOPSCH, Herrschaft und Bauer (wie Anm. 78), in: ZRG GA 60 ( 1940) 411—414, hier 413f. 178 Ebd. 414. Die zeitgenössische Kritik, dass Dopschs Arbeiten der 1930er Jahre nicht am Stande der Zeit wären, ist natürlich auch im Zusammenhang mit seiner Verwendung der „falschen" Literatur zu sehen. 179 Bemerkenswert ist, dass Dopsch das letzte Kapitel seiner letzten, 1939 erschienenen, Monografie

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auch überwiegend auf - wiewohl unterschiedlich motivierte - Kritik stieß. In vielen Bereichen folgte Dopsch zwar dem zeitgenössisch gängigen Bild, beispielsweise was die so genannte „Ostkolonisation" betraf, doch war sein Ansatz grundsätzlich eingespannt zwischen dem „Evolutionismus" des 19. Jahrhunderts und den Annahmen einer „germanischen Kontinuität", die, so Frantisek Graus, auf einem konservativen Argument basierten, denn: „höchstens eine Verwässerung der ,Ursprünglichkeit' konnte stattfinden - d.h., es handelt sich um eine Variante der Dekadenztheorien"180. Dopschs Ansatz enthielt trotz seiner Kontinuitätsannahme ein Geschichtsbild, dessen Dynamik auf einer Skepsis gegenüber vorschnellen Systematisierungen basierte. Dies machte das Grunddilemma seiner inhaltlichen Positionierung in den deutschsprachigen Geschichtswissenschaften der 1920er bis 1940er Jahre aus.

V. Das ,Seminar für Wirtschafts- und Kulturgeschichte' Im Gegensatz zu anderen Historikern gelang es Dopsch nur in Teilbereichen, über seinen Tod hinaus die Geschichtswissenschaft zu beeinflussen. Dies mag auf seine Skepsis gegenüber Systematisierungen zurückzufuhren sein, oder auf den diskursiven Kontext seiner späteren Arbeiten wie auch auf die sehr unterschiedlichen Aneignungen seiner Überlegungen. Zugleich aber kann dies nur Teil einer Erklärung sein, insbesondere, wenn man sich den institutionellen Rahmen seiner Arbeit vor Augen hält. Durch die Abwehr von Berufungen aus Berlin und München war ihm die Ausstattung eines „Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte" ermöglicht worden, das es ihm nicht nur erlaubte, konzentriert mit Studierenden zu arbeiten, sondern auch elf181 daraus erwachsene Arbeiten in einer eigenen Reihe zu publizieren. Aus dieser Perspektive wären also die Voraussetzungen günstig gewesen, eine stärkere nachhaltige Verankerung zu erreichen. Warum ist dies aber offensichtlich nicht geglückt? Bemerkenswert am Seminar sind zunächst vier Aspekte: Zum ersten schien Dopsch weltanschaulichen Belangen bei der Teilnahme am Seminar keine große Bedeutung beigemessen zu haben. Beim deutschnationalen Historiker studierten spätere Nationalsozialisten ebenso wie Sozialdemokraten oder Kommunisten. Zum zweiten galt diese Offenheit auch für die Teilnahme von Frauen. Vier von elf in der Seminarreihe publizierten Arbeiten stammten aus der Feder von Frauen182 und „Zusammenfassung der Ergebnisse. Bedeutung derselben für die Deutsche Volksgeschichte" nannte. Im Kapitel selbst verwendete er den Begriff „Volksgeschichte" aber nicht und erwähnt auch nur einmal eine „völkische Bewegung sozialer Art", die darin bestand, dass sich in der deutschen Kaiserzeit „die unfreien Bevölkerungsklassen [...] aufschwangen und ein starkes Freiheitsstreben überall ersichtlich wird". Siehe DOPSCH, Herrschaft und Bauer (wie Anm. 78) 222. 1 8 0 GRAUS, V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e ( w i e A n m . 7 6 ) 5 6 5 .

181 Zwar umfasst die Seminarreihe zwölf Bände, die Arbeit von Hermann WIESSNER, Sachinhalt und wirtschaftliche Bedeutung der Weistümer im deutschen Kulturgebiet (Veröff. des Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien 9/10, Baden u. a. 1934), ist jedoch als Doppelband erschienen. 182 Anna JANDA, Die Barschalken. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Mittelalters (Veröff. des Seminars

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mit Patzelt hatte überdies eine Frau die einzige, dem Seminar zugeordnete wissenschaftliche Stelle inne. Zum dritten wandte Dopsch didaktische Methoden an, die auf Arbeitsgruppen und der intensiven Diskussion von Quellen und Forschungsproblemen beruhten183. Dies förderte die für zeitgenössische Maßstäbe hohe Qualität der im Seminar entstandenen Arbeiten, die wiederum, als vierten Aspekt, eine Fortführung von Detailbereichen seiner Arbeiten darstellten. Das Seminar wies demnach ein spezifisches Gepräge auf, das von seinem Gründer und Leiter bestimmt war; seine Teilnehmerinnen und Teilnehmer bildeten das engere Umfeld Dopschs, wurden als solches identifiziert und begriffen sich offenbar auch so184. Interpretiert man die Teilnahme am Seminar als Investition in eine akademische Karriere und überblickt man deren langfristiges Ergebnis, so fallt das Resümee aber ambivalent aus. Zwar war eine Reihe jener, die ihre Arbeit in der Seminarreihe publizieren konnten, auch später beruflich im historischen Feld tätig, doch gelang es kaum jemandem, sich universitär zu etablieren. Zu jenen, die außerhalb einer Universität geschichtswissenschaftlich tätig wurden, zählten etwa Hermann Wiessner, nachmaliger Direktor des Kärntner Landesarchivs, oder Bernhard Poll, späterer Leiter des Aachener Stadtarchivs185. Außerhalb historischer Institutionen im engeren Sinne standen etwa Anna Janda, die im Schuldienst tätig wurde, oder Lucie Varga, die zwar enge Kontakte zu Marc Bloch unterhielt, aber bis zur ihrem frühen Tod eine schwierige Existenz führen musste186. Engere Bindungen an den universitären Bereich konnte zum einen nur Karl Wührer unterhalten, der sich 1936 bei Dopsch habilitierte und 1940 als Dozent an der Universität Wien den ersten Teil eines Werks über „Germanische Zusammengehörigkeit" publizierte187. Zugleich war damit aber keine universitäre Anstellung verbunden; Wührer blieb von 1928 bis zu seiner Pensionierung 1963 Lehrer188. Eine längerfristige, wiewohl für Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien 2, Baden u. a. 1926); Erna PATZELT, Die fränkische Kultur und der Islam. Mit besonderer Berücksichtigung der nordischen Entwicklung. Eine universalhistorische Studie (Veröff. des Seminars für Wirtschafte- und Kulturgeschichte an der Universität Wien 4, Baden u. a. 1932); Lucie VARGA, Das Schlagwort vom , Finsteren Mittelalter' (Veröff. des Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien 8, Baden u. a. 1932); Hertha HON-FIRNBERG, Lohnarbeiter und freie Lohnarbeit im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Ein Beitrag zur Geschichte der agrarischen Lohnarbeit in Deutschland (Veröff. des Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien 11, Baden u. a. 1935). 1 8 3 V g l . NECK, D o p s c h ( w i e A n m . 4 ) ; HOFFMANN, D o p s c h ( w i e A n m . 7 ) .

184 Bemerkenswert etwa ist, dass die Mitglieder des Seminars aus eigenen Mitteln den „Alfons Dopsch Preis" auslobten; vgl. „Alfons-Dopsch-Preis. Preisausschreiben", in: ZRG GA 56 (1936) 672. 185 WIESSNER, Sachinhalt (wie Anm. 181); Bernhard POLL, Das Heimfallsrecht auf den Grundherrschaften Österreichs (Veröff. des Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte an der Universität Wien 1, Wien/Budapest 1925). 186 Zu Varga vgl. Peter SCHÜTTLER, Einleitung. Lucie Varga - eine österreichische Historikerin im Umkreis der ,Annales' (1904-1941), in: Lucie Varga, Zeitenwende. Mentalitätshistorische Studien 1936-1939, hg. v. Peter SCHÖTTLER (Frankfurt a. Main 1991) 13-110. 187 Karl WÜHRER, Germanische Zusammengehörigkeit I. Teil: Die altgermanische Zeit (bis etwa 600 n. d. Ztw.) (Jena 1940) (mehr nicht erschienen). 188 Zur Wührer vgl. Erich CERMAK, Beiträge zur Geschichte des Lehrkörpers an der philosophischen Fakultät der Universität Wien zwischen 1938 und 1945 (Diss. Wien 1980) 356f. Wührer wurde 1941

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wenig stabile Position an einer Universität konnte nur Patzelt erringen189. Sie war zunächst wissenschaftliche Hilfskraft und ab 1924 Assistentin von Dopsch. 1925 habilitierte sie sich und schaffte nach ihrer 1929 erfolgten Ernennung zum „ordentlichen Assistenten" 1932 den Karrieresprung zum „außerplanmäßigen Professor". 1938 endete ihr Dienstvertrag, das Seminar war zu diesem Zeitpunkt bereits als Abteilung dem Historischen Seminar eingegliedert worden. Es folgte eine Phase prekärer Anbindung mit einzelnen Lehraufträgen und schließlich ab 1941 mit jährlichen Diäten. 1948 wurde sie als Beamtin mit dem Titel Oberassistentin im universitären Dienst eingestellt und verblieb in dieser Position bis zur ihrem Ruhestand 1959. Diese zumindest teilweise gelungene Etablierung Patzelts an der Universität war aber nicht primär ihrer Tätigkeit im Seminar oder ihren Forschungen zu verdanken, sondern in erster Linie der Fürsprache ihres Mentors und Lebensgefährten Dopsch. Gerade ihre beruflichen Schwierigkeiten nach dessen Pensionierung unterstreichen, wie eng ihre Möglichkeiten an Dopsch gebunden blieben. Bezeichnend für diese Abhängigkeit ist zudem die Tatsache, dass sie auch noch als Professorin das Register für die Monografien Dopschs erstellte. Insgesamt gesehen war das Seminar damit trotz der dort vermittelten, qualitativ hochwertigen wissenschaftlichen Ausbildung, trotz des Renommees seines Leiters und trotz der Möglichkeiten zu publizieren keine„Kaderschmiede" für Karrieren im universitären Bereich. Dieses Bild wird bestätigt durch einen Vergleich der Absolventinnen und Absolventen des Seminars mit der Gesamtgruppe der Dissertantinnen und Dissertanten von Dopsch. Er betreute zwischen 1901 und 1937 189 Dissertationen als Hauptreferent190. Die ungewöhnlich hoch anmutende Zahl dieser Arbeiten war für zeitgenössische Verhältnisse durchaus nicht außergewöhnlich. Auffallig ist zunächst, dass der für das Seminar bekannte hohe Frauenanteil seine Entsprechung in der Geschlechterverteilung sämtlicher von Dopsch betreuten Dissertationen fand191. Von allen Dissertationen waren mehr als ein Drittel von Frauen verfasst worden, in den 1930er Jahren lag dieser Anteil sogar bei knapp 58%192. Außerdem hat Dopsch auch in

zum tit. ao. Prof. für Geschichte der germanischen Frühzeit und Skandinaviens ernannt und 1945 vom Lehramt enthoben. 189 Zu den folgenden Ausfuhrungen vgl. Brigitte M A Z O H L - W A L L N I G , ,Männlicher Geist in weiblicher Gestalt'. Frauen und Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: MIÖG 110 (2002) 1 5 0 - 1 8 1 , v. a. 167f; D I E S . , Margret FRIEDRICH, Patzelt, Erna, in: Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben - Werk - Wirken, hg. v. Brigitta K E I N T Z E L , Ilse K O R O T I N (Wien/Köln/Weimar 2002) 5 5 5 - 5 5 7 . 190 Grundlage der folgenden Ausführungen sind die Rigorosenprotokolle der Philosophischen Fakultät der Universität Wien im UAW. Durchgesehen wurden die Jahre 1893 bis 1939, also von der Habilitation Dopschs bis drei Jahre nach seiner Pensionierung. Berücksichtigt wurden nur jene Verfahren, bei denen Dopsch Hauptreferent war. 191 Dazu passt auch seine frühe offene Haltung gegenüber Frauen als Studentinnen; vgl. Alfons D O P S C H , Dreißig Jahre Frauenstudium in Österreich, in: Dreißig Jahre Frauenstudium in Österreich 1897 bis 1927. FS hg. v. Festausschuß anläßlich des dreißigjährigen Frauenstudiumjubiläums (Wien 1927) 6-8.

192 Bei Bauer betrug der Anteil von Frauen an Dissertierenden im Zeitraum 1930-1937 nur 29,7%. Zahlen nach Elisabeth S C H U L Z , Wilhelm Bauer. Studien zu Leben und Werk (Dissertationen der Universität Wien 142, Wien 1979) 274-293.

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diesem Segment weltanschauliche Offenheit walten lassen. Unter den Dissertierenden lässt sich ein breites Spektrum, vom damals in der Stadtleitung der Wiener KPÖ tätigen Arnold Reisberg193 über den Austromarxisten Max Adler194 bis hin zu zwei katholischen Ordensschwestern195, nachweisen. Zum dritten lassen die behandelten Themen eine außerordentliche Bandbreite erkennen, die sich keineswegs auf Dopschs Schwerpunkte beschränkte. Der Historiker betreute Arbeiten, die sich einem breiten Spektrum an Subdisziplinen, Zeiten und Regionen - von der Literatur- bis zur Militärgeschichte, von der Antike bis zur Geschichte des 19. Jahrhunderts, von der europäischen bis zur asiatischen Geschichte - zuordnen lassen. Ein wirtschaftshistorischer Schwerpunkt ist nicht zu erkennen. Auf den ersten Blick würde dies bedeuten, dass das Seminar nur in seiner thematischen Ausrichtung als spezifisch zu betrachten wäre. Zugleich aber ist in Rechnung zu stellen, dass etwa die weltanschauliche Offenheit im Bereich der von Dopsch betreuten Studierenden nur bedingt als Übereinstimmung mit den Befunden für das Seminar zu betrachten ist: Gerade die große Zahl an betreuten Arbeiten legt es nahe, dass man von einem „Massenbetrieb" sprechen muss, der eine nähere Spezifizierung der betreuten Studierenden und der bearbeiteten Themen kaum zuließ. Daher ist der Schluss gerechtfertigt, dem Seminar, das es Dopsch erlaubte, bei der Auswahl von Studierenden und Themen selektiv vorzugehen, doch als spezifischer zu bewerten als dies bei einem flüchtigen Blick zunächst scheint. Bei allen methodischen Schwierigkeiten lassen sich doch zumindest ansatzweise vergleichende Überlegungen zu Karriereverläufen des engeren Kreises um Dopsch sowie der anderen Dissertierenden anstellen. So weit sich dies klar erkennen lässt, gelang es auch nur einem Bruchteil der größeren Gruppe, sich an Universitäten oder vergleichbaren Institutionen zu etablieren, wobei auch hier Karrierebrüche oder Umwege kennzeichnend sind und sich einmal mehr ein breites weltanschauliches Spektrum erkennen lässt. Hierzu zählen neben dem erwähnten Mayer196 oder dem ideologisch ähnlich disponierten Reinhold Lorenz197 insbesondere Arnold Reisberg, der später am 193 Reisberg dissertierte 1927 zum Thema „Der wirtschaftliche Anschluß Österreichs an Deutschland in den Jahren 1840 bis 1848." UAW, Rigorosenprotokolle PN 9764 (1927). 194 Adlers Dissertation ist zwar bereits 1903 im Druck erschienen, er fiel aber bei der Fachprüfung durch und musste diese 1904 wiederholen; vgl. Max ADLER, Die Anfänge der merkantilistischen Gewerbepolitik in Österreich (Wien 1903). UAW, Rigorosenprotokolle PN 1660 (1903). 195 Sr. Agnes Anna Ibl dissertierte über „Die Tiroler Landesordnungen und ihr Einfluß auf die Weistümer" und Sr. Fidelis Herta Tschadek verfasste ihre Dissertation zum Thema „Der Rückgang der Besiedlung im Viertel unter dem Wienerwald im späten Mittelalter. 14. und 15. Jahrhundert". UAW, Rigorosenprotokolle PN 9288 (1926) bzw. PN 11466 (1932). 196 Zu Mayer siehe den Beitrag in diesem Band und Anne Christine NAGEL, Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945-1970 (Formen der Erinnerung 24, Göttingen 2005) 156-187. 197 Lorenz schloss 1921 sein Studium mit einer Dissertation zum Thema der „Österreichischen Staatsnation" ab, erhielt später einen Lehrstuhl für neuere Geschichte und war, so Fellner, „euphorische[r] Nationalsozialist", der 1945 vorübergehend seines Postens enthoben wurde. Günter FELLNER, Die Emigration österreichischer Historiker. Ein ungeschriebenes Kapitel in der Zeitgeschichte ihres Faches, in: Vertriebene Vernunft II. Emigration und Exil österreichischer

Alfons Dopsch (1868-1953)

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Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED in der DDR tätig war198, ferner Karl Helleiner, der 1939 nach Kanada emigrieren musste und von 1959 bis 1970 eine Professur für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Toronto bekleidete sowie Alfred Hoffmann, der ab 1961 einen Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte in Wien inne hatte. Quantitativ bedeutender ist die Gruppe der Absolventen, die in Archiven, Bibliotheken oder Museen eine Anstellung fanden, wozu etwa der spätere Leiter des Niederösterreichischen Landesarchivs Karl Lechner199, der Leiter der Wiener sozialwissenschaftlichen Studienbibliothek Fritz Brägel200, der erste Direktor des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums Wilhelm John201 und - während einzelner Phasen ihrer Karriere - auch Helleiner202 und Hoffmann 203 zu zählen sind. Die bedeutendste Gruppe besteht aus jenen Absolventinnen und Absolventen, die sich im historischen Bereich nicht nachweisen lassen und deren weitere Karrieren nur in Ausnahmen weiter verfolgt werden können, wobei auch hier ein breites Spektrum an Lebenswegen zu erkennen ist, vom späteren SPÖ-Vizekanzler Bruno Pittermann204 über die SPÖMinisterin Hertha Firnberg205 bis hin zur Psychoanalytikerin Edith Buxbaum206. Insgesamt lässt dies den Schluss zu, dass sich die Zugehörigkeit zum engsten Kreis um Dopsch weder positiv noch negativ auf eine mögliche Karriere im universitären Bereich ausgewirkt hat. Auf ein Studium bei Dopsch - sei es als Seminarist oder als gewöhnlicher Dissertierender - konnten sich offensichtlich besonders eine prominente Anzahl an Archivaren berufen. Ihnen kam nicht nur die fundierte quellenkritische Ausbildung zugute, sondern sie stellten auch die personelle Grundlage der österreichischen Landesgeschichtsforschung insbesondere zwischen den 1930er und den 1960er Jahren dar. Als „Schule" ist diese Gruppe aber freilich nicht zu bezeichnen, was mit ein Wissenschaft 1930-1940, Teilbd. I, hg. v. Friedrich STADLER (Münster 2004) 474-494, hier 482; vgl. auch UAW, Rigorosenprotokolle PN 5028 (1921). 198Zu Reisberg vgl. Arnold Reisberg zum Gedenken, in: Zs. für Geschichtswissenschaft 28 (1980) 1120. 199 Dissertation: „Die Entwicklung des Grundbesitzes der Herren von Maissau - der typische Aufstieg eines österreichischen Ministerialengeschlechts". UAW, Rigorosenprotokolle PN 4792 (1920). 200 Dissertation: „Beiträge zur Geschichte der Deutschen in Böhmen". UAW, Rigorosenprotokolle PN 5007(1921). 201 Dissertation: „Des Patriarchen Bertrand von Aquileja Beziehungen zu den Herzogen von Oesterreich (1334-1350)". UAW, Rigorosenprotokolle PN 1400 (1901). 202 Dissertation: „Geschichte der Besiedelung des Ennswaldes vom 9. bis 13. Jahrhundert". UAW, Rigorosenprotokolle PN 9060 (1925). Helleiner war 1928-1939 Stadtarchivar von St. Pölten. 203 Dissertation: „Die Privilegien der sieben landesfürstlichen Städte Oberösterreichs im Mittelalter". UAW, Rigorosenprotokolle PN 9836 (1928). Hoffmann leitete 1957-1961 das Oberösterreichische Landesarchiv. 204 Dissertation: „Die Judenpolitik der Habsburger in Wien an Hand der Judenordnungen von 14211782". UAW, Rigorosenprotokolle PN 10002 (1928). 205 Siehe die gedruckte Dissertation: HON-FIRNBERG, Lohnarbeit (wie Anm. 182). 206 Dissertation: „Beiträge zur Frage der Markgenossenschaft in Tirol, mit besonderer Berücksichtigung der Weistümer". UAW, Rigorosenprotokolle PN 8049 (1925). Vgl. auch Roland KAUFHOLD, Von Wien über New York nach Seattle/Washington. Zum 100. Geburtstag von Edith Buxbaum (1902 1982), einer Pionierin der Psychoanalytischen Pädagogik, in: Politische Psychologie 9 (2001) 221233.

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Grund für die geringe Nachhaltigkeit von Dopschs Arbeiten für die deutschsprachigen Geschichtswissenschaften insgesamt ist.

VI. Schluss Alfons Dopsch zählte zu den einflussreichen europäischen Historikern der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Dieser Einfluss stützte sich sowohl auf seine universitär wie außeruniversitär begründete Position im akademischen Feld als auch auf seine Forschungsthemen, die seine nationale Position durch eine internationale Einbindung ergänzten. Diese Forschungen ordneten sich einem europäischen Diskussionszusammenhang ein, waren zugleich aber aus einer Auseinandersetzung mit deutschen Traditionen der Wirtschafts- und Rechtsgeschichte geboren. Aus der Kritik daran entwikkelte Dopsch, der einem unbedingten Glauben an die Quellen und ihre Aussagekraft anhing, eine differenzierte und dynamische Geschichtsbetrachtung, die sich gegen die selbstreferentielle Logik etwa von Wirtschaftsstufenlehren richtete. An Dopschs internationaler Position fällt in erster Linie auf, dass sie unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg einen bemerkenswerten Schub erfuhr und in Grundzügen bis an sein Lebensende intakt blieb. Damit stärkte sie nicht nur seine Rolle in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, etwa durch die Ermöglichung des „Seminars für Wirtschafts- und Kulturgeschichte", sondern bot zugleich auch einen Angriffspunkt für die deutschsprachige Kritik an seinem Werk. Kritiker fanden sich seit den 1920er Jahren in zunehmendem Maße unter den Vertretern „volksgeschichtlicher" Ansätze, wobei inhaltliche Differenzen ebenso von Bedeutung waren wie Auseinandersetzungen um Einfluss im akademischen Leben. Eine Folge war auch, dass keine einheitliche inhaltliche Gegnerschaft zwischen Dopsch und Autoren wie Brunner, Aubin oder Höfler erkennbar ist. Dopschs Positionen waren in vielerlei Hinsicht kompatibel zu „volksgeschichtlichen" Zugängen, und seine europäische Einbindung ging Hand in Hand mit einer starken Hervorhebung der deutschen Rolle im östlichen Europa. Dennoch dominierte die Kritik einschlägiger Autoren an seinem Werk und die nachhaltige Verankerung eigener Positionen beschränkte sich auf Einzelergebnisse seiner Arbeiten. Eine umfassendere Persistenz seiner Überlegungen und Anregungen scheiterte trotz modern anmutender Ansätze wie der positiven Konnotation von „Mischkulturen" nicht nur an seinem heterogenen Werk, sondern nicht zuletzt auch daran, dass institutionelle Hintergründe einer nachhaltigen Verankerung in jener Periode, in der die „Volksgeschichte" zunehmend zu einem zentralen Orientierungspunkt geworden war, eliminiert worden sind. Dies lässt eine eindeutige Kategorisierung von Alfons Dopsch als „Vorläufer", „Protagonist" oder „Alternative" der bzw. zur „Volksgeschichte" nicht zu, sondern unterstreicht die „Mannigfaltigkeit der Verhältnisse" in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Harold Steinacker (1875-1965) Ein Leben für „Volk und Geschichte" von Renate Spreitzer

Abb. 9: Harold Steinacker 1938 in Stuttgart

I. Der Lebenslauf des Wissenschaftlers Harold Steinacker wurde am 26. Mai 1875 in Budapest geboren1. Sein Vater, Edmund Steinacker, war Sekretär der Budapester Handelskammer sowie Abgeordneter 1

Eine umfassende biografische Studie zu Harold Steinacker verfasste zuletzt Anna S C H A D E R , Harold Steinacker (1875-1965) - Sein Weg in den Nationalsozialismus (ungedr. Diss. Klagenfürt 1997). Die Seminararbeit von Barbara O B E R W A S S E R L E C H N E R , Wissenschaftler im Banne des Nationalsozialismus. Harold Steinacker (Universität Innsbruck WS 1987/88) wurde ebenfalls nicht veröffentlicht, vgl. Michael H E I D E R u. a., Deutsch ist der Forscher und deutsch seine Wissenschaft - (Geistes-) Wissenschaften im Nationalsozialismus, in: Skolast 34 (Februar/März 1990) Nr. 1/2, 79-93, hier 92 Anm. 10. Siehe weiters den ausfuhrlichen Nachruf von Franz H U T E R , Harold Steinacker, in: ÖAW, Almanach für das Jahr 1965, 115. Jg. (Wien 1966) 306-335. Vgl. auch die Nachrufe unten in Anm. 102. Werkverzeichnisse bieten Wilhelm N E U M A N N , Verzeichnis der Arbeiten von Harold Steinacker, in: Festgabe dargebracht Harold Steinacker zur Vollendung des 80. Lebensjahres 26. Mai 1955 (München 1955) 334-342; DERS., Verzeichnis der Arbeiten von Harold Steinacker, in: Gedenkschrift für Harold Steinacker (1875-1965) (Südost-Forschungen 16, München 1966) 3 5 7 367; DERS., Verzeichnis der Arbeiten von Harold Steinacker, in: ÖAW, Almanach für das Jahr 1965, 327-335; S C H A D E R , Steinacker 414—418 mit Ergänzungen zu Neumann. Siehe zuletzt Fritz F E L L N E R ,

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Renate Spreitzer

im ungarischen Parlament und setzte sich gegen die Unabhängigkeitsbewegung der Ungarn ein2. Nach seiner Pensionierung zog die Familie nach Wien, wo er 1905 die Ungarländische-deutsche Volkspartei, die sich als Bollwerk auslandsdeutscher Gesinnung verstand, gründete und als Vertrauter des Thronfolgers Franz Ferdinand galt3. Dieses „Auslandsdeutschtum" wurde später richtungweisend für Harold Steinackers Anschauungen4. Seine Mutter Auguste, Tochter des Eduard Glatz5, entstammte einer ungarndeutschen Familie aus der Zips. Harold6 wuchs, gemeinsam mit seinem älteren Bruder Roland7, in Budapest auf und besuchte das evangelisch-ungarische Gymnasium am Deäkplatz. Die Schuljahre 1888/89 bis 1890/91 verbrachte er in Jena am dortigen Karl-Alexander-Gymnasium, damit er „den geistigen Zusammenhang mit dem Muttervolk in sich stärke"8. In Budapest schließlich maturierte er im Juni 1893 mit Auszeichnung. Harold Steinacker übersiedelte nach Wien und bezog eine Wohnung im 9. Wiener Gemeindebezirk in der Erfurtergasse 11, wohin sein Vater nach seiner Pensionierung gezogen war, und inskribierte zum Wintersemester 1893/94 an der Philosophischen Fakultät der Universität Wien die Fächer Alte Geschichte und Klassische Philologie.

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Doris A . CORRADINI, Österreichische Geschichtswissenschaft im 2 0 . Jahrhundert. Ein biographischbibliographisches Lexikon (VKGÖ 9 9 , Wien/Köln/Weimar 2 0 0 6 ) 3 9 2 . - Karel Hruza danke ich für zahlreiche Hinweise. Über ihn siehe Harold STEINACKER, Edmund Steinacker 1839-1929. Lebensbild eines ungarländischen Volksfuhrers, in: Ein Leben für Kirche und Volk. Zum 90. Geburtstag des Professors der Theologie Dr. Roland Steinacker, hg. v. Desider A L E X Y (Stuttgart 1960), wieder abgedruckt in: Harold STEINACKER, Austro-Hungarica. Ausgewählte Aufsätze und Vorträge zur Geschichte Ungarns und der österreichisch-ungarischen Monarchie (Buchreihe der Südostdeutschen Historischen Kommission 8, München 1963) 312-325; Edmund STEINACKER, Lebenserinnerungen (Veröff. des Instituts zur Erforschung des deutschen Volkstums im Süden und Südosten in München 13, München 1937). Das Schlusskapitel 235-245: Lebens-Ausklang (Die politische Tätigkeit der letzten zehn Jahre) verfassten die Söhne Roland und Harold; weiters die Nachrufe Barbara G R O N E R W E G , Die Anfange der volkspolitischen Arbeit Edmund Steinacker 1867-1892 (Diss. München 1941); Friedrich PRILLER, Edmund Steinacker (1839-1929) als Journalist in der Habsburger Monarchie im Zeitalter des Dualismus (Diss. München 1950); Karl K L I E R , Zum Tode Edmund Steinackers, in: Der Auslandsdeutsche 12 (1929) 261 f. Edmund Steinackers NL befindet sich im Institut für Donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen. Nach SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 3 Anm. 10, ist darin kein Briefwechsel zwischen Vater und Sohn vorhanden. STEINACKER, Lebenserinnerungen (wie Anm. 2 ) 2 2 5 - 2 3 5 . Michael HEIDER U. a., Die Institute der Geisteswissenschaftlichen Fakultät Innsbruck, in: Skolast 3 4 (Februar/März 1990) Nr. 1/2, 96-117, hier 102. Über ihn vgl. Ruprecht STEINACKER, Eduard Glatz. Der Sprecher des deutschen Bürgertums in Ungarn vor 1848 (Veröff. des Südostdeutschen Kulturwerks D/6, München 1964). Die Eltern gaben ihren Kindern „germanische" Namen, um sie „vor der damals schon einsetzenden „Madjarisierung" der Taufnamen zu bewahren", vgl. STEINACKER, Lebenserinnerungen (wie Anm. 2 ) 61 f., 66 und 78. Ein weiterer, 1872 als Neugeborenes verstorbener Bruder hieß Guido. Vgl. Felix von SCHROEDER, Roland und Harold Steinacker und ihre Verbindung mit dem ungarländischen Deutschtum, in: Südostdeutsche Vierteljahresblätter 10 (1961) 12-16; DERS., Roland Steinacker (1870-1962), in: Südostdeutsches Archiv 7 (1964) 220; Bernhard H. Z I M M E R M A N N , Zum 100. Geburtstag von Roland A.B. Steinacker (1870-1962), in: ebd. 13 (1970) 227-232. H U T E R , Steinacker (wie Anm. 1 ) 3 0 6 .

Harold Steinacker ( 1 8 7 5 - 1 9 6 5 )

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Er verfasste eine Dissertation bei Max Büdinger und Eugen Bormann9, legte seine Rigorosen am 25. Mai 1897 und 9. Juli 1897 ab und promovierte am 11. März 1898 sub auspiciis imperatoris10. Ab dem Wintersemester 1897/98 besuchte Steinacker als außerordentliches Mitglied" den 22. Lehrgang des IÖG12. Zu seinen Lehrern zählten Engelbert Mühlbacher, Oswald Redlich, Franz Wickhoff und Alfons Dopsch. Er schloss den Kurs mit der Hausarbeit „Zur älteren Papsturkundenlehre, mit einem Exkurs über das älteste päpstliche Registerwesen" und einem hervorragenden Institutsprüfungszeugnis am 11. Juli 1899 ab13. Mit seinen Kurskollegen Emanuel Schwab und Arpad Weixelgärtner sowie mit einigen Studienkollegen, dem Philosophen Heinrich Gomperz, dem Musikwissenschafter Robert Lach, dem Mediziner Alfred von Decastello und einigen anderen bildete Steinacker einen humanistischen Klub, der sich „Sokratiker" nannte, sich untereinander griechische Namen gab und ein ganzes Leben verbunden blieb14. In den Semestern 1899/1900 bis 1900/1901 inskribierte Steinacker an der Juristischen Fakultät der Universität Wien, doch konnte er dieses Studium wegen seines Stipendienaufenthalts am Österreichischen Historischen Institut in Rom nicht weiterverfolgen. Während dieses ersten 9-monatigen Aufenthalts 1899/1900 in Rom war es seine Aufgabe, im Auftrag Theodor von Sickels, des Institutsleiters, die Edition der Kanonessammlung des Deusdedit voranzubringen, jedoch hinderten ihn Differenzen an der zufriedenstellenden Ausführung dieser Arbeiten15. Ein weiterer Aufenthalt seit dem Frühjahr 1900, der der Fortsetzung dieser Arbeiten dienen sollte, wurde durch die Ernennung zum Praktikanten an der Bibliothek der Akademie der Bildenden Künste in Wien mit 9. August 1900 vorzeitig beendet. Schließlich wurde Steinacker am 1. Juli 1901 ständiger Mitarbeiter der Quellenedition „Regesta Habsburgica", die am IÖG angesiedelt war. Bereits 1904 konnte er den ersten Teilband gedruckt vorlegen, rechtzeitig zum 50-Jahr-Jubiläum des IÖG, und gedachte bei der Feier gemeinsam mit

9

Harold STEINACKER, Das Quellenmaterial zur Geschichte der gallischen Gegenkaiser Postumus, Victorinus, Laetianus, Marius und Tetricus (Diss. Wien 1897). Die Dissertation konnte nicht aufgefunden werden. 10 Stelian MÄNDRUT, Angaben zur Promotion von Harold Steinacker an der Universität Wien (1897/1898), in: Ungarn-Jb. Zs. für die Kunde Ungarns und verwandte Gebiete 21. Jg. 1993/1994 (1995) 129-134, hier 132-134.

11 Steinacker war zu diesem Zeitpunkt noch ungarischer Staatsbürger. Die für die ordentliche Mitgliedschaft erforderliche österreichische Staatsbürgerschaft erhielt Steinacker erst 1898, da er in diesem Jahr bereits als österreichischer Staatsbürger promoviert wurde, vgl. SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 13 Anm. 51. 12 Alphons LHOTSKY, Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung (MIÖG Erg.-Bd. 17, W i e n

1954)276-279.

13 IÖG, Archiv, Institutsakten 22. Kurs 1897 1899. Ich danke Dr. Paul Herold, Leiter der Bibliothek und des Archivs des IÖG, für die Möglichkeit der Akteneinsicht. 14 SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 13f., und die „Notizen" Steinackers von 1945, abgedruckt ebd. 397f. 15 Karl RUDOLF, Geschichte des Österreichischen Historischen Instituts in Rom von 1881-1938, in: RHM 23 (1981) 1-137, hier69f.

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Renate Spreitzer

August Ritter von Loehr der verstorbenen Institutsvorstände Heinrich von Zeißberg und Engelbert Mühlbacher16. i'ortrait dea Inhabers.

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Abb. 10: Der Student Harold Steinacker

Am 3. November 1904 heiratete Steinacker Konstanze (Cona) von Ende, die Tochter eines Offiziers, die er in Rom kennen gelernt hatte. Dieser Ehe entstammten drei Söhne: Wolfgang (1906-1995) 17 , Eberhard (1907-1993) und Meinhard (1913-1939). Konstanze verstarb 1919 und Steinacker heiratete einige Jahre später, am 31. Dezember 1926, Hildegard Katsch (1888-1985), eine Kusine seiner ersten Frau, ihr gemeinsamer Sohn Ivo wurde 1928 geboren18. Hildegard Katsch war ebenfalls Historikerin, sie hatte 1918 bei Erich Mareks über dessen Lehrer Heinrich von Treitschke dissertiert und arbeitete anschließend als Lehrerin ein Jahr in Köln und danach, bis zu ihrer Heirat, in Rostock19. 16 LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 12) 294. 17 Vgl. Michael GEHLER, Wolfgang Steinacker - Obstruktion gegen die „Achse" Berlin-Rom, in: das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift Heft 46 (1989) 4548-4554. 18 SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 12. 19 Hildegard KATSCH, Heinrich von Treitschke und die preußisch-deutsche Frage von 1860-1866. Ein Beitrag zur Entwicklung von Treitschkes politischen Anschauungen (Historische Bibliothek 40, M ü n c h e n / B e r l i n 1 9 1 9 ) ; SCHADER, S t e i n a c k e r ( w i e A n m . 1 ) 1 2 A n m . 4 6 .

Harold Steinacker (1875^1965)

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Steinacker habilitierte sich 1905 an der Universität Wien und erhielt am 4. Mai die Dozentur für Allgemeine Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften20. Nachdem Hans von Voltelini 1908 von Innsbruck nach Wien berufen worden war, stand die freigewordene Stelle zur Besetzung an. Da die an erster bzw. zweiter Stelle gereihten Samuel Steinherz und Heinrich Kretschmayr ablehnten, wurden mit 2. Januar 1909 Hermann Wopfner21 und Harold Steinacker gemeinsam als Extraordinarien bestellt. Beide arbeiteten an der Innsbrucker Universität in unterschiedlichen Arbeitsgebieten freundschaftlich miteinander: Wopfner wandte sich mehr der Rechts- und Wirtschaftsgeschichte zu, während Steinacker sich der politischen und Geistesgeschichte widmete und nach der Erkrankung Johann Lechners auch die Historischen Hilfswissenschaften übernahm. Er hatte auch einen Lehrauftrag für Neuere Geschichte und hielt Vorlesungen über englische, französische und spanische Geschichte und über Vorgeschichte und Geschichte der „Orientalischen Frage", in der er für Europa ein vom Balkan ausgehendes Kriegszeitalter voraussah22. Auch nach dem endgültigen Ausscheiden Lechners 1913 scheiterten alle Bemühungen um die Hebung des Extraordinariats Steinackers, am 17. Juni 1914 wurde nur Wopfner zum Ordinarius ernannt. Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde Steinacker wegen seines Alters nicht zum Kriegsdienst eingezogen, half aber freiwillig beim Roten Kreuz mit23. Mehrmals erhielt Steinacker den Ruf an andere Universitäten, schon 1912 stand er an erster Stelle für ein Extraordinariat für Historische Hilfswissenschaften an der Universität Leipzig, an die jedoch der an zweiter Stelle gereihte Hermann Krabbo berufen wurde. 1913 wurde Steinacker an die Universität Czernowitz (Cernivci, Cernau^i) als Ordinarius für Allgemeine Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit berufen, er lehnte diese Stelle jedoch ab. Im Sommersemester 1917 erhielt Steinacker erneut einen Ruf, diesmal an die Deutsche Universität in Prag, den er annahm. Mit seiner Antrittsvorlesung im Mai 1917 begann er seine Tätigkeit als Professor für Historische Hilfswissenschaften in Prag24. Jedoch schon ein Jahr später kehrte er an 20 Thema seiner Habilitation bildete „Die Herkunft und älteste Geschichte des Hauses Habsburg", seinen Probevortrag am 04.03.1905 hielt er „Über Formelhaftigkeit im Frühmittelalter. Ein Beitrag zur frühmittelalterlichen Geistesgeschichte und zur Methode der Kritik urkundlicher wie erzählender Quellen". 21 Vgl. seine Autobiografie in: Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 1, hg. v. Nikolaus G R A S S (Schlern-Schriften 68, Innsbruck 1950) 157-201. 22 Harold STEINACKER, Aus der Geschichte und Vorgeschichte der orientalischen Frage, in: Urania. Illustrierte populärwissenschaftliche Wochenschrift 2. Jg. (1909) 573-576, 606-608, 637-640, 668-671, 699-702, 749-751, 795-798, 827-830. Die „Orientalische Frage" war das Thema der Innsbrucker Antrittsvorlesung Steinackers. 23 Günther R A M H A R D T E R , Geschichtswissenschaft und Patriotismus. Österreichische Historiker im Weltkrieg 1914-1918 (Österreich Archiv 22, Wien 1973) 184, der einen Brief Steinackers an Oswald Redlich vom 22.07.1915 zitiert. Seinen Aufsatz: Österreich und Ungarn, in: Süddeutsche Monatshefte (Oktober 1914) 66-73, versah er mit dem Untertitel: zur Zeit beim Roten Kreuz. 24 Harold STE[NACKER, Philologische und diplomatische Gesichtspunkte in den Historischen Hilfswissenschaften. Eine akademische Antrittsvorlesung, in: FS des Akademischen Historikerklubs in Innsbruck, hg. anläßlich seines fünfzigsten Stiftungsfestes 1923 (Würzburg 1923) 22-53.

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Renate Spreitzer

die Innsbrucker Universität zurück und übernahm als Nachfolger des nach Graz berufenen Wilhelm Erben das Ordinariat für Geschichte des Mittelalters und Historische Hilfswissenschaften. Seine Familie war ihm nach Prag nicht nachgefolgt, sondern in Innsbruck verblieben 25 . Weitere Vorschläge bei Besetzungen, meist an erster Stelle (1926 Köln, 1927 Göttingen, 1928 Freiburg im Breisgau, 1931 Halle/Saale, 1934 Graz, 1935 Jena) konkretisierten sich nicht zu einem Ruf, einen solchen nach Gießen 1929 lehnte Steinacker aus privaten wie auch aus „arbeitstechnischen" Gründen ab26. Außerdem kamen ihm die Innsbrucker Fakultät und das österreichische Unterrichtsministerium, das damals kurzzeitig Heinrich von Srbik leitete, materiell entgegen, was Steinackers Entscheidung, in Innsbruck zu bleiben, sicherlich beeinflusste. Letztlich wirkte Steinacker bis zu seiner Entlassimg im Juli 1945 an der Innsbrucker Universität: im Studienjahr 1924/25 hatte er als Dekan amtiert, und 1938-1942 sollte er das Rektorenamt innehaben. Nur im Sommersemester 1922 hielt er als Gastprofessor an der Universität Würzburg Vorlesungen über den „Aufbau und Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie" sowie ein Seminar über den Dritten Kreuzzug 27 , ohne jedoch seine Vorlesungen in Innsbruck aufzugeben. Eine Berufung nach Wien, die für ihn von großer persönlicher Bedeutung gewesen wäre, blieb ihm allerdings versagt. Bei der 1926 anstehenden Nachfolge Emil von Ottenthals wurden von der Berufungskommission Hans Hirsch primo et unico loco und Steinacker an zweiter Stelle als Kandidaten gereiht; dementsprechend übernahm Hirsch Ottenthals Professur, während die Vorstandschaft des IÖG an Oswald Redlich überging28. Als dann 1929 Redlich, der Lehrer Steinackers, emeritiert 25 Steinacker hatte zuerst einige Mühe, sich mit den neuen Verhältnissen in Prag zurechtzufinden. Außerdem habe er dieses Ordinariat nicht angestrebt, sei aber trotzdem über seine Berufung erfreut gewesen.- [...] Gewünscht habe ich mir, wie wir das natürlich alle tun, ein Ordinariat. [...] Aber dass für mich, der ich an meine Familie und die Bedingungen für die Entwicklung meiner drei Buben zu denken habe, Prag neben all den Vorteilen der grösseren Universität, die ich in Innsbruck zu schätzen weiss und diefür mich rein persönlich viel wert sind, auch Nachteile hat, liegt auf der Hand. [...]; Brief Steinackers an Wilhelm Bauer vom 01.07.1917, ÖAW, Archiv, NL Wilhelm Bauer. Ähnlich äußerte sich Hans Hirsch in einem Brief an Heinrich von Srbik: Er [Steinacker] weiß also ganz gut, daß seine Berufung, zu der er angeblich nichts dazu getan hat, Unstimmigkeiten hervorgerufen hat. Über Prag äußert er sich so, dass man deutlich erkennt, er möchte nicht allzu lange bleiben, er zieht auch Vergleiche mit Innsbruck. Bauer und [Alfons] Dopsch fassen den Brief auf, als wollte er nach Innsbruck zurück. Brief Hirschs an Srbik vom 07.07.1917, abgedruckt in: Heinrich Ritter von Srbik. Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1912-1945, hg. v. Jürgen KÄMMERER (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 55, Boppard a. Rh. 1988) 79. Steinacker betreute in seiner Prager Zeit keine Dissertationen. 26 Die notwendige Umstellung von einer bisher allgemeinen zu einer regionalen Arbeitsrichtung - hessische geschichtliche Landeskunde - missfiel ihm. 27 ÖAW, Archiv, PA Steinacker, Wissenschaftlicher Lebenslauf von 1964 (= WL) 4. Diese ,£elbstbiographische[n] Aufzeichnungen" wurden nach „Notizen, die sich im Nachlaß fanden, formiert und in den Anmerkungen ergänzt durch das w. Mitglied Franz Huter. [...] Anlass zur Abfassung dürfte die Wahl zum Ehrenmitglied gewesen sein, die eine wirkliche große Freude für den Verewigten war". Franz Huter handschriftlich auf dem Deckblatt dieses Lebenslaufes. Vgl. auch Herbert DACHS, Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluß 1918-1930 (Wien/Salzburg 1974) 209. 28 Sicher spielte der Einfluss der MGH-Diplomata Abteilung am Institut eine Rolle, die als ihren Leiter nur Hirsch akzeptiert hätte, vgl. Roman ZEHETMAYER, Hans Hirsch ( 1 8 7 8 - 1 9 4 0 ) . Historiker

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wurde, konnte Hirsch sowohl die mittelalterliche Abteilung des Historischen Seminars als auch das Ordinariat Redlichs an sich ziehen. Die freigewordene Professur Hirschs aber sollte nur mit einem Extraordinarius nachbesetzt werden, womit eine Berufung des Ordinarius' Steinacker als Nachfolger Redlichs, wie dies gemäß Steinacker zwischen ihm und Redlich abgesprochen war, nicht mehr möglich war. Über diese Entwicklung äußerte sich Steinacker noch in späteren Jahren sehr enttäuscht29. Als eine große Freude und willkommene Genugtuung30 empfand er aber seine Wahl zum korrespondierenden Mitglied der ÖAW 1932, die mit der Begründung erfolgte, dass er auf dem Gebiet der Urkundenforschung Großes geleistet hatte; seine Schriften zur „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung" wurden dagegen nicht erwähnt31. Seine „Geschichtsauffassung" spielte allerdings bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde der juristischen Fakultät der Universität Königsberg eine Rolle. Steinacker bekam diese Würde aus Anlass des Kant-Jubiläums mit Beschluss vom 12. Februar 1938, sie wurde mit besonderem Hinweis auf seine rechtshistorischen Arbeiten zum österreichisch-ungarischen Reichsproblem und zur Nationalitätenfrage und Urkundenforscher, in: Waldviertler Biographien 2, hg. v. Harald HITZ, Franz PÖTSCHER, Erich RABL, Thomas WINKELBAUER (Hom/Waidhofen a.d. Thaya 2004) 221-236, hier 230; Bettina PFERSCHY-MALECZEK, Die Diplomata-Edition der Monumenta Germaniae Histórica am Institut für Österreichische Geschichtsforschung, in: MIÖG 112 (2004) 411 -467, hier 423, sowie den Beitrag zu Hirsch in diesem Band. 29 ÖAW, Archiv, PA Steinacker, WL 6: Nur auf einen Vorschlag muß ich näher eingehen, weil ihm für die Bedingungen meiner wissenschaftlichen Arbeit einschneidende Bedeutung zukam. 1927 schlug mich beim Abgang von £[mil] von Ottenthai die Wiener philosophische Fakultätfür dessen Nachfolge an zweiter Stelle vor. An erster Stelle stand //[ans] Hirsch, den ich 1918 für meine Nachfolge in Prag vorgeschlagen hatte und der dann auch an Stelle Ottenthals zum Vorstand des Instituts für österreichische Geschichtsforschung ernannt wurde. Als im nächsten Jahr 0[swald] Redlich die Altersgrenze erreichte und sein Ordinariat zu besetzen war, stellte sich zu seiner Überraschung bei den Kommissionsberatungen heraus, daß Hirsch bei seiner Berufung die Bedingung gestellt und durchgesetzt hatte, daß nach dem bevorstehenden Abgange Redlichs er zu Vorstandschaft des Instituts auch die mittelalterliche Abteilung des Historischen Seminars erhalten und das Ordinariat Redlichs in ein Extraordinariat verwandelt werden solle. Dafür holte der Dekan die Zustimmung aller Kommissionsmitglieder ein, ausgenommen die von Redlich, der von dieser Vorentscheidung über seine Nachfolge nicht verständigt wurde. Damit war meiner Berufung, wie sie Redlich vorschwebte, vorgebeugt, und der Aufstieg an eine große Universität mit ihren günstigen Bibliotheksverhältnissen blieb mir auf diese Weise versagt. Zu den Hintergründen dieser Umwandlung des Ordinariats vgl. auch den Beitrag zu Heinz Zatschek in diesem Band sowie Manfred STOY, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929-1945 (MIÖG Erg.-Bd. 50, Wien/München 2007) 3 5 ^ 4 . 30 ÖAW, Archiv, PA Steinacker, WL 6. Vgl. den Brief Steinackers an Hirsch vom 05.06.1932: Die Wahl hat mich, wie ich gerne gestehe, ungemein gefreut; das ist ja bei dieser Ehrung selbstverständlich, wird aber bei mir durch besondere Umstände verstärkt. Eine solche Wahl kommt ja nicht ohne Anregung und Zustimmung gerade seitens der engeren Fachgenossen in Wien kaum zu Stande. So ist sie mir als Zeichen der Einstellung zu meiner wissenschaftlichen Persönlichkeit mit Hinblick auf frühere Vorgänge besonders wertvoll. Ich denke dabei an die Rückwirkung auf Innsbruck, wo jene Vorgänge von mancher Seite doch auf wissenschaftliche Bedenken zurückgeführt worden sind. Haben Siejedenfalls meinen herzlichen Dankfür Ihren persönlichen Anteil. IÖG, Archiv, NL Hirsch. Siehe dazu auch STOY, Institut (wie Anm. 29) 91. 31 ÖAW, Archiv, PA Steinacker, Wahlvorschlag vom 24.04.1932, den u. a. Voltelini, Srbik, Hirsch und Redlich unterzeichneten, gedruckt bei SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 387.

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begründet. Die bereits gleichgeschalteten Innsbrucker Nachrichten berichteten am 29. März 1938, dass die Ehrendoktorwürde Steinacker „als hervorragendem Gelehrten, dem die rechtsgeschichtliche Forschung in Verehrung und Dankbarkeit verbunden ist, als hoch verdientem Vertreter der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung und nicht zuletzt als unerschrockenem und unermüdlichem Vorkämpfer für die staatliche und politische Einigung des Deutschtums" verliehen wurde32. Steinacker, der viel lieber vor Publikum sprach als seine Gedanken schriftlich zu verfassen33, hielt zu vielen Gelegenheiten in den verschiedenen Gremien, denen er angehörte, wohlformulierte und hoch gelobte Reden. Seit seiner Berufung nach Innsbruck 1909 war Steinacker Mitglied des Akademischen Historikerklubs Innsbruck, dessen Ehrenmitglied er 1922 wurde, als Hugo Hantsch, einer seiner Schüler, dem Vorstand des Klubs angehörte. Steinacker nahm rege an den Klubveranstaltungen, mehrmals auch als Vortragender, teil34. Gelegenheit zu Ansprachen bot auch seine Teilnahme an den Tagungen des Deutschen Auslandsinstituts in Stuttgart, der Warburg-Stiftung in Hamburg sowie des Goethe-Hauses in Frankfurt. Von 1926-1938 fungierte er mit Alfons Dopsch als Vertreter Österreichs im Internationalen Historikerausschuss und konnte auf dem Internationalen Historikerkongress 1928 in Oslo einen viel beachteten Vortrag halten; zehn Jahre später trat er dann auf dem Internationalen Historikerkongress in Zürich als Verfechter einer „rassisch" determinierten „Volksgeschichte" auf35. Seit 32 Professor Harold Steinacker - Ehrendoktor der Königsberger Universität, in: Innsbrucker Nachrichten vom 29.03.1938; zitiert nach SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 17. 33 Siehe ÖAW, Archiv, PA Steinacker, WL 5: Ich erwähne das, weil ich mich stets mehr als eine „Red" denn als eine „ Schreibe " empfunden habe. 34 Auf die Mitgliedschaft im Historikerklub, dessen Mehrheit immer katholisch eingestellt war, bezog sich Steinacker in einem 1945 verfassten Rechtfertigungsschreiben, vgl. SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1)392. 35 Harold STEINACKER, Volk, Staat und Heimat und ihr Verhältnis bei den romanisch-germanischen Völkern, in: Bulletin of the International Comittee of Historical Sciences Vol. VII (Paris 1929) 273305. Vgl. auch Karl Dietrich ERDMANN, Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen Historikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques (Abh. Göttingen 3. Folge 158, Göttingen 1987), zum Historikerkongress in Oslo und Steinacker bes. 164-169. - Im Sommer 1938 war Steinacker (als nunmehr deutsches Mitglied des Komitees) am vom 28.08.-04.09.1938 in Zürich tagenden „VIII. Internationalen Kongress für Geschichtswissenschaft" anwesend. Er hielt zwar kein Referat, trat aber in einer Diskussion hervor, siehe: Bulletin Vol. XI (Paris 1939) 300f. (Protokoll). Steinackers Einwurf zum Vortrag „Les causes profondes de la ruine du monde antique" des polnischen Historikers Tadeusz Walek-Czernecki bezeugt seine „völkische" Sendung als Wissenschaftler: „[...] keine Kultur und kein Staat kann die Verwurzelung im Boden einer lebendigen und eigenständigen Volkspersönlichkeit aufgeben, kann über diesen Boden hinauswachsen, ohne schliesslich zum Verfall verurteilt zu sein. Auf die Volkstümer als lebendige Ganzheiten und Gemeinschaften kommt es an, nicht auf die Staaten, auf die Nationen im westeuropäischen Sinne. Und unterhalb dieser Volkstümer gibt es noch eine tiefere Schicht, das biologische Substrat, die rassischen Kräfte. Das ist freilich ein neuer Gesichtspunkt, dessen Erörterung in diesem Kreise verfrüht wäre, weil er sich erst in mühsamer monographischer Forschung wird bewähren und durchsetzen müssen. Das wird ihm zweifellos gelingen und er wird später einmal wohl eine umfassende Antwort auf die Frage des Untergangs der Antike erlauben. Heute formulieren wir Mediaevisten die Antwort so: letzte Ursache ist, wie auch der Vortragende meint, der römische Imperialismus. Aber nicht, wie er behauptet, weil er römisch war, sondern weil er Imperialismus war, d. h. eine übernationale, antinationale Ordnung, in der die lebendigen Kräfte der Volkstümer ersterben mussten. Erst mit den erobernden Germanenstämmen trat [...] das

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1936 saß Steinacker im wissenschaftlichen Beirat der Deutschen Akademie, deren Tagungen in München er ebenfalls aufsuchte. Am 12. März 1938 sandten Innsbrucker nationalsozialistische Studenten und Professoren Telegramme an das Unterrichtsministerium in Wien, in welchen die Enthebung des Rektors Karl Brunner und die Einsetzung Steinackers als dessen Nachfolger gefordert wurden36. Zwei Tage später verzichtete Brunner nach Drängen der nationalsozialistischen Professorenschaft auf sein Amt und übergab das Rektorat an Steinacker, der nur wenig später vom Ministerium in seinem Amt bestätigt wurde37. In einem an das Ministerium übermittelten Bericht über die Ereignisse dieser Tage führte Steinacker als Begründung für seine Ernennung an, Brunner sei laut der im Nationalsozialistischen Lehrerbund organisierten Hochschullehrer und laut Studenten untragbar gewesen, er selbst sei in der Reihe der möglichen Nachfolger deijenige 38 , der als erster Parteimitglied geworden war, was im Interesse der Aufrechterhaltung der Ruhe an der Universität und des Verhältnisses mit ausserakademischer Funktion dringend zu wünschen war [...], und schließlich wäre er bei der letzten Rektorswahl an der Reihe gewesen [...], doch als Nichtmitglied der Vaterländischen Front von allen akademischen Ämtern ausgeschlossen worden39. Ein anderer Bericht Steinackers, den er als Rechtfertigung am 28. August 1945 an Theodor Rittler gesandt hat40, um nach seiner aus politischen Gründen erfolgten Pensionierung die Auszahlung einer Pension zu erreichen, stellte er diese Situation freilich ganz anders dar: Die ältesten der in Frage kommenden Professoren übernahmen es, - zugleich mit gleichlaufenden Schritten der Studenten - bei der Tiroler Landesregierung und zugleich tele-

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nationale Prinzip wieder in die Weltgeschichte ein. Aus den lebendigen Kräften neuer Volkstümer ist die neue romanisch-germanische Völkerwelt entstanden." (Freundlicher Hinweis von Karel Hruza.) Bericht Steinackers an das Unterrichtsministerium in Wien, zitiert nach Michael H E I D E R , U. a., „Den Vollender der deutschen Einheit grüßt in tiefster Dankbarkeit die Deutsche Alpenuniversität". Die Universität und der Anschluß, in: Skolast 34 (Februar/März 1990) Nr. 1/2, 25-36, hier 25f. HEIDER, Vollender (wie Anm. 36) 26, mit Abbildung des Rücktrittsgesuchs Brunners und der Amtsübergabe an Steinackervom 14.03.1938. Vgl. dazu auchallgemein Willi W E I N E R T , Die Maßnahmen der reichsdeutschen Hochschulverwaltung im Bereich des österreichischen Hochschulwesens nach der Annexion 1938, in: Arbeiterbewegung - Faschismus - Nationalbewußtsein. FS zum 20jährigen Bestand des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands und zum 60. Geburtstag von Herbert Steiner, hg. v. Helmut K O N R A D , Wolfgang N E U G E B A U E R (Wien/München/Zürich 1993) 127134, hier 129f. In diesem Bericht nennt Steinacker als mögliche Kandidaten die Herren Lesky, Schatz sen., Wopfher, Haffner und sich selbst, zitiert nach S C H A D E R , Steinacker (wie Anm. 1 ) 94. Bericht Steinackers über die Rektoratsübernahme vom 14.03.1938 an das Bundesministerium für Unterricht in Wien, auszugsweise abgedruckt bei S C H A D E R , Steinacker (wie Anm. 1) 94f.; H E I D E R , Vollender (wie Anm. 36) 26 und 34 Anm. 2. Steinacker hatte es zuerst in einem Schreiben vom 01.06.1934 an den Rektor abgelehnt, der Vaterländischen Front beizutreten; der Beitritt erfolgte schließlich am 02.08.1934, vgl. S C H A D E R 69. Prof. Theodor Rittler, Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Innsbruck, wurde nach dem Anschluss entlassen und durch einen nationalsozialistischen Parteigenossen ersetzt. Im Disziplinarverfahren nach Steinackers Entlassung wurde er 1945 dessen Verteidiger; S C H A D E R , Steinacker (wie Anm. 1) 101. Der Bericht ist gedruckt bei Peter G O L L E R , Gerhard O B E R K O F L E R , Universität Innsbruck. Entnazifizierung und Rehabilitation von Nazikadern (1945 1950) (Innsbruck 2003) 45-50.

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graphisch beim Wiener Unterrichtsministerium die kommissarische Ersetzung des Rektors durch Prof. Steinacker vorzuschlagen und begaben sich nach vorläufiger Billigung durch das Landhaus zu Rektor Brunner. Ich hatte für das Rektorat auf Prof. Kofler41 hingewiesen, der aber ablehnte. Man einigte sich dann auf meinen Namen, u. zw. aus dem Grunde, weil ich 1937 nach der üblichen Anciennitätsfolge an der Reihe gewesen wäre und nach Meinung der Kollegen auch gewählt worden wäre, hätte nicht mein verspäteter Beitritt zur Vaterländischen Front das verboten. Es war also gleichsam ein Akt der Wiedergutmachung. Als in Aussicht genommener Nachfolger wollte ich an jener Abordnung nicht teilnehmen und habe erst zu einem späteren Termin die Geschäfte vom Rektor übernommen. Die ganze Aktion hat sich improvisiert erst aus der durch den Umbruch geschaffenen Situation und Stimmung heraus entwickelt [...], und an späterer Stelle in diesem Schreiben: Ich bin [...] nicht auf Grund von Parteitätigkeit und durch Initiative der Partei, sondern durch den Zufall der Anciennität und im Zuge einer Wiedergutmachung Rektor geworden. Als mir als solchem, wie allen sog. „ Behördenspitzen ", von SS und SA ein Rang angetragen wurde, habe ich mich für die SA entschieden. Das waren sozusagen automatische Vorgänge, f...] Angenommen habe ich das Rektorat, weil ich an der Reihe war und weil ich als Angehöriger der Großdeutschen Partei die Hauptpunkte unseres Programmes - Anschluß und Volksgemeinschaft - im 3. Reich verwirklicht sah42.

Abb. 11: Porträtgemälde Harold Steinackers als Rektor der Universität Innsbruck 41 Ludwig Kofler (1891-1951), anerkannter Pharmakognost, war neben Harold Steinacker maßgeblicher NS-Funktionär an der Universität Innsbruck, vgl. GOLLER, OBERKOFLER, Entnazifizierung (wie Anm. 40) 19. 42 Zitiert nach GOLLER, OBERKOFLER, Entnazifizierung (wie Anm. 40) 47f.

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Steinacker ging als neuer Rektor mit vollem Enthusiasmus an die Leitung und Umgestaltung der Universität ganz im Sinne der nationalsozialistischen Gleichschaltung43. Auch im Berliner Reichserziehungsministerium war man über die Wahl der Rektoren an den österreichischen Universitäten zufrieden, Steinacker erhielt das Prädikat „Absolut gut". „Es besteht grundsätzlich Übereinstimmung darüber, daß die Hochschulen in Innsbruck und in Graz zunächst am besten geeignet sind, im nationalsozialistischen Sinne ausgebaut zu werden, weil sie schon viele Vorbedingungen erfüllen, auch in der Zusammensetzung des Lehrkörpers, im Gegensatz zu Wien"44. Es galt nun, die Führungspositionen der Universität im Sinne des neuen Regimes zu besetzen. Es folgten Entlassungen aus „rassischen" und politischen Gründen, in die frei gewordenen Positionen rückten Parteigenossen der NSDAP nach. Zudem verfugte das Unterrichtsministerium, dass alle Personen, die zuvor wegen „nationalsozialistischen Verhaltens" entlassen worden waren, als „Wiedergutmachung" wieder einzustellen waren45. Am 22. März 1938 erfolgte die Vereidigung der Hochschullehrer auf Hitler, die in einem festlich mit Hakenkreuzfahnen und mit dem Bild des „Führers" geschmückten Hörsaal stattfand. In seiner Ansprache hob Steinacker hervor, dass diese gemeinsame Vereidigung von Professoren, Angestellten und Arbeitern, die in dieser Form erstmals an der Universität durchgeführt würde, als Ausdruck der im nationalsozialistischen Sinne geschaffenen Volksgemeinschaft zu werten sei46. Damit war die erste Phase der nationalsozialistischen Gleichschaltung an der Innsbrucker Universität abgeschlossen. Als nächster Schritt erfolgte die Konsolidierung der Macht: unliebsame Professoren wurden mit sofortiger Wirkung „beurlaubt"47, denn, so Steinacker: [...] die Philosophische Fakultät bedarf dringend der Verjüngung und des Einsatzes von Lehrkräften, die nicht nur das volle wissenschaftliche Niveau besitzen, sondern die auch generationsmässig und weltanschaulich der akademischen Jugend von heute nahe genug stehen, um auf sie stark einzuwirken und am Ausbau der Fakultät zu einer wirklich nationalsozialistischen Geistes- und Willensgemeinschaft erfolgreich mitzuarbeiten. Und die eine zweite Notwendigkeit erfiillen können, - nämlich die Mitarbeit der Universität über ihre akademische Hauptaufgabe hinaus an der Arbeit des Volksbildungswerkes und der Partez48. 43 Vgl. etwa einen Brief Steinackers an Fritz Valjavec (Südostinstitut München) vom 03.04.1938: Wir wollen die günstigen Bedingungen für einen echt nationalsozialistischen und echt wissenschaftlichen Aufbau der Hochschulen, die in Ö[sterreich] gegeben sind, energisch aufgreifen; zitiert nach S C H A D E R , Steinacker (wie Anm. 1) 97. 4 4 Zitiert nach W E I N E R T , Maßnahmen (wie Anm. 3 7 ) 1 3 1 . 45 H E I D E R , Vollender (wie Anm. 36) 28. 46 Neueste Zeitung vom 23.03.1938, zitiert nach SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) lOlf. 47 In Innsbruck war man dem Unterrichtsministerium bereits zuvor gekommen und hatte die Listen der zu „entfernenden" Professoren und Dozenten selbst angefertigt; die Leitung der Innsbrucker Universität hatte wieder als besonders zuverlässig im Sinne des Nationalsozialismus vorgesorgt, vgl. H E I D E R , Vollender (wie Anm. 3 6 ) 3 0 ; SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1 ) 1 0 5 - 1 4 2 , die einige Entlassungen bzw. Berufungen an die Universität Innsbruck unter Einflussnahme Steinackers anfuhrt; dazu auch G O L L E R , OBERKOFLER, Entnazifizierung (wie Anm. 4 0 ) passim. 48 UAI, RA 912/2, Steinacker am 26.07.1939 an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, betreffend die Kandidatur Wilhelm Ehmanns für die a.o. Lehrkanzel für

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Als Aufgabe der Hochschulen sah Steinacker, dass sie dem Studenten zu der bewährten völkischen Gesinnung nun auch die wissenschaftliche Ausbildung aller seiner geistigen Kräfte geben sollen, wie sie für den Aufbau der neuen Volksgemeinschaft, für die Erringung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit, für die Pflege und Läuterung unserer deutschen Volksart nötig sind. [...] Zu dieser allgemeinen Aufgabe treten bei jeder Hochschule die besonderen standortbedingten Aufgaben. Innsbruck ist südliche Grenzuniversität, sie ist die einzige im Inneren der Alpen gelegene, also wahrhaft alpine, deutsche Hochschule. Sie hat daher nicht nur wichtige Teile der körperlichen Ausbildung der deutschen Studentenschaft zu verwalten, sondern ist mit zahlreichen Lehrkanzeln der Medizinischen und der Naturwissenschaftlichen Fakultät an der Erforschung des Alpenraumes beteiligt, der einen wichtigen Abschnitt des gesamtdeutschen Raumes und die Südgrenze des deutschen Volksbodens bildet,9. Eine weitere Sofortmaßnahme stellte die Nachbeschafiung von Büchern dar, hauptsächlich sollte das bisher verbotene nationalsozialistische Schrifttum sowie die für die „Rassen-" und Vererbungsforschung nötige Literatur angeschafft werden50. Steinacker formulierte auch die neuen Aufgaben der Geisteswissenschaften: Die besonderen politischen und weltanschaulichen Aufgaben der Universitätfallen in den Wirkungsbereich der Geisteswissenschaften [...] und der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät. Das neue N.S. Gedankengutfruchtbar zu machen, die Jugendfür die Mitarbeit an der neuen Volks- und Staats-, Rechts- und Wirtschaftsordnung zu erziehen, ist ein Ziel, zu dessen Erreichung zweierlei gehört. Erstens eine besonders umsichtige Auswahl der neuzuberufenden Lehrkräfte. Sie sollen nicht nur in der Gedankenwelt des N.S. leben und sich bewährt haben, sondern auch durch hohe wissenschaftliche Qualitäten und eindrucksvolle Lehrtätigkeit werbend wirken. Und zweitens ein Ausbau dieser Fächer durch nochfehlende Lehrkanzeln (Urgeschichte, Volkskunde, Volkstheorie) und Institute [...]- vor allem aber durch eine bessere Ausstattung der bestehenden Lehrkanzeln51. Zum ersten Punkt konnte Steinacker bereits im Januar 1941 an das Reichserziehungsministerium melden, dass sich um den Althistoriker Franz Miltner, dem Dekan der Philosophischen Fakultät und Stellvertreter Steinackers als Rektor, eine Gruppe von regimetreuen Professoren versammelt hat, die alle, außer Miltner und Walter Del Negro, aus dem , Altreich" kamen und damit sehr wohl im NS-Gedankengut verankert waren52. Auch der zweite Punkt sollte sich erfüllen: 1940 konnte für die Volkskunde ein eigenes Institut in Innsbruck eingerichtet werden. Als erster Lehrstuhlinhaber sollte der langjährige Assistent Hermann Wopfners, Adolf Helbok, der 1934 als deklarierter

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Musikwissenschaften; Faksimile des Briefes in Kurt DREXEL, Musikwissenschaft und NS-Ideologie. Dargestellt am Beispiel der Universität Innsbruck von 1938 bis 1945 (Veröff. der Universität Innsbruck 202, Innsbruck 1994) 50-51. Harold STEINACKER, Geleitwort, in: Jb. der Deutschen Studentenschaft an den Ostmarkdeutschen Hochschulen (1938/39) 60. Aufbauprogramm der Universität Innsbruck (Denkschrift des Rektors zur Einbegleitung der Aufbauprogramme der Medizinischen, Philosophischen und Juridischen Fakultät), zitiert nach H E I D E R , Deutsch (wie Anm. 1 ) 8 5 . Ebd. Vgl. dazu SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 105-142, die einige Beispiele anführt.

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Nationalsozialist von der Universität Innsbruck beurlaubt worden war, aus Deutschland zurückberufen werden53.1942 wurde schließlich das Institut für Ur- und Frühgeschichte unter Leitung von Leonhard Franz an der Universität eingerichtet. Der Plan zur Errichtung eines „Rassenkundlich-Historischen" Institutes, den Franz Miltner schon 1938/39 ausgearbeitet hatte und der über Steinacker den zuständigen Stellen übermittelt wurde, gelangte jedoch nicht zur Verwirklichung54. Mehrere „große" Ereignisse in Innsbruck im Frühjahr 1938 gaben Steinacker die Möglichkeit, sie ganz im Sinne des Nationalsozialismus zu gestalten. So konnte er als Mitglied der Alpenländischen Forschungsgemeinschaft in seiner Rede „Aufgaben einer Volkstheorie und neuen Geschichtsauffassung" anlässlich des Besuches Hitlers in Innsbruck am 5. April 1938, der nur wenige Tage vor der Volksabstimmung am 10. April stattfand, die Beziehungen der Wissenschaft zu den neuen Machthabern untermauern. Auch die renommierten Historiker Wopfner und Otto Stolz beteiligten sich an dieser Feier55. Der Geburtstag des „Führers" am 20. April 1938 wurde auch an der Universität Innsbruck feierlich begangen. Der Akademische Senat, das Professorenkollegium und die Studentenschaft nahmen daran teil. In seiner Rede betonte Rektor Steinacker unter Hinweis auf seine 1921 und 1931 anlässlich der Gründungsfeiern des Deutschen Reiches gehaltenen Reden, dass an der Universität Innsbruck der Professorenschaft schon damals die gesamtdeutsche Auffassung [...] zu eigen war und die Innsbrucker Universität nicht erst durch diejüngsten Geschehnisse ihren Blick auf Großdeutschland gerichtet, sondern von jeher dieses tausendjährige Ideal unseres Volkes erstrebt hat. Die Verwirklichung der deutschen Einheit sei nur der Tatkraft des Führers zu verdanken. Seine Rede schloss Steinacker mit einem dreifachen Sieg Heil dem Führer!56 Mit der feierlichen Begehung des Hitler-Geburtstages war zugleich die Wiedereröffnung der Universität Innsbruck verbunden, die sich am 25. April 1938 in neuem nationalsozialistischem Glanz präsentierte. Seine Antrittsvorlesung am 13. Mai 1938 hielt Steinacker sogar in SA-Uniform, „der Hörsaal war mit Hakenkreuz und mit dem Bild des Führers als Bannerträger geschmückt. Die meisten Studenten waren in Uniform gekommen"57. Durch eine Umgestaltung sollte die Universitätsaula architektonisch die Zu Helbok und zu dieser Institutsgründung siehe Wolfgang M E I X N E R , Eine wahrhaft nationale Wissenschaft der Deutschen ... - Der Historiker und Volkskundler Adolf Helbok, in: Skolast 34 (Februar/März 1 9 9 0 ) Nr. 1 / 2 , 1 2 6 - 1 3 3 . 54 HEIDER, Deutsch (wie Anm. 1) 86-88. 55 Michael F A H L B U S C H , Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik? Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften" von 1931 1945 (Baden-Baden 1999) 319; Thomas A L B R I C H , „Gebt dem Führer euer Ja!" Die NS-Propaganda in Tirol für die Volksabstimmung am 10. April 1938, in: Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen 1918-1938, hg. v. Thomas A L B R I C H , Klaus EISTERER, Rolf STEININGER (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 3, Innsbruck 1988) 505-538, hier 528f. Siehe auch Innsbrucker Nachrichten vom 06.04.1938. 53

56 Zitiert nach Michael GEHLER, Studenten und Politik. Der Kampf um die Vorherrschaft an der Universität Innsbruck 1918-1938 (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 6, Innsbruck 1990) 412; S C H A D E R , Steinacker (wie Anm. 1) 99. Zur musikalischen Gestaltung dieser Feier vgl. D R E X E L , Musikwissenschaft (wie Anm. 48) 44—45; Innsbrucker Nachrichten vom 21.04.1938 „Feierstunde der Innsbrucker Universität". 57 Neueste Zeitung Nr. 108 vom 14.05.1938; zitiert nach HEIDER, Vollender (wie Anm. 36) 32.

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Gestalt eines griechischen Tempels annehmen. Zudem ließ Steinacker ein ca. 2m x 2m großes Mosaik anbringen, das Hitler in Ritterrüstung mit der Hakenkreuzfahne zeigte und dem bekannten Bild „Der Bannerträger" von Hubert Lanzinger nachempfunden war58. Rechtzeitig zum Kongress der Deutschen Geschichtsvereine im September 193 8 wurden die Arbeiten in der Aula abgeschlossen, Lanzinger wurde für die Umgestaltung die Ehrenmitgliedschaft der Universität Innsbruck verliehen59. Dem Rektor Steinacker wurde die „Medaille zum 13. März 1938" („Ostmarkmedaille") verliehen, und er war als Ehrengast des „Führers" auf dem Reichsparteitag 1938 eingeladen. In diesem Anschlussjubel träumte Steinacker von einer großen Innsbrucker Grenzlanduniversität im Süden des neuen Reiches60. Als Rektor nahm er seine Aufgaben und Repräsentationspflichten ernst, war bei vielen universitären Veranstaltungen präsent und hielt dabei Reden und Ansprachen, die die Verdienste des Nationalsozialismus hervorhoben61. Nicht aufgegeben während des Rektorats hat Steinacker seine Vorlesungstätigkeit. Außerdem nahm er auch an den Front-Hochschulwochen mit Vorträgen teil. Seine wissenschaftliche Tätigkeit aber trat in den Hintergrund. So konnte er etwa seinen Beitrag zur Festschrift zum 60. Geburtstag Heinrich von Srbiks trotz Terminverlängerung nicht rechtzeitig fertig stellen, zu sehr nahmen ihn das Rektorat und die damit verbundenen Aufgaben in Anspruch62. In Walter Franks Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands amtierte Steinacker seit Mai 1938 als Mitglied des Beirats und war als solcher nach Kleo Pleyer zweiter Hauptreferent für „Grenz- und Volkstumsfragen des deutschen Ostens und Südostens"63. In dieser Funktion trat er jedoch kaum in Erscheinung, konnte aber zu mehreren Gelegenheiten die Bedeutung und die Verdienste dieses Instituts für die „Volksforschung" hervorheben64. Im NS-Dozentenbund war Steinacker sehr aktiv und 58 Hubert Lanzinger (1880-1950) war durch dieses Bildnis Hitlers „Der Bannerträger" (1933/34), das der Künstler dem Porträtierten 1934 schenkte, berühmt geworden und in der Zeit des Nationalsozialismus sehr gefragt. Er erhielt am 08.12.1944 in der Deutschen Alpenuniversität Innsbruck den WolfgangAmadeus-Mozart-Preis des Jahres 1943, vgl. dazu Jan Z I M M E R M A N N , Die Kulturpreise der Stiftung F.V.S. 1935-1935. Darstellung und Dokumentation (Hamburg 2000) 177-179; FAHLBUSCH, Wissenschaft (wie Anm. 55) 118 Anm. 118, der Frühjahr 1944 für die Verleihung angibt; zum Künstler und zu seinem Werk vgl. Carl K R A U S , Hubert Lanzinger (Monographien Südtiroler Künstler 27, Bozen 2000), zum „Bannerträger" bes. 22-24. Zur Umgestaltung der Aula siehe Michael H E I D E R u. a., Die Neugestaltung der Aula, in: Skolast 34 (Februar/März 1990) Nr. 1/2, 37^10. 59 H E I D E R , Neugestaltung (wie Anm. 58) 37-39; G O L L E R , OBERKOFLER, Entnazifizierung (wie Anm. 40) 15; SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 143 Anm. 591; Brief Steinackers an Lanzinger vom 11.1938, zitiert nach K R A U S , Lanzinger (wie Anm. 58) 25f. Das Mosaik in der Aula der Universität wurde nach 1945 wieder abgenommen, ebd. 26. 60 SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 99. 61 Ebd. 27 Anm. 122. 62 Gesamtdeutsche Vergangenheit. Festgabe für Heinrich Ritter von Srbik zum 60. Geburtstag am 10. November 1 9 3 8 , hg. v. Wilhelm B A U E R U. a. (München 1 9 3 8 ) , vgl. dazu SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1 ) 3 2 . 63 Vgl. Helmut H E I B E R , Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des neuen Deutschlands (Stuttgart 1966) 3 8 9 ^ 0 0 . 64 Vgl. etwa Harold STEINACKER, Rezension zu Walter Frank, Die deutschen Geisteswissenschaften im Kriege (1940), in: Deutschlands Erneuerung 26 (1942) 54f.; Harold STEINACKER, Weg und Ziel

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reiste mehrmals zu Besprechungen nach München. So organisierte er zum Beispiel im April 1942 ein Dozentenbundlager zum Thema „Volkswerdung bei den europäischen Völkern". Im Oktober 1942 hielt Steinacker einen Vortrag „Südostraum im Allgemeinen und die Madjaren im Besonderen" in Augsburg auf dem Historikerlager des Dozentenbundes, das unter seiner Leitung stand. Nach dreijähriger Amtsführung äußerte Steinacker im Laufe des Jahres 1941 mehrmals den Wunsch, sein Rektorat auf Grund von Amtsmüdigkeit beenden zu wollen. Mit Ende November 1942 legte er sein Amt tatsächlich nieder. Sein Nachfolger wurde Raimund von Klebeisberg. In der Rede zu dessen Rektorsinauguration hielt Steinacker Rückschau auf seine eigene Amtstätigkeit. Bis zu seiner Beurlaubung und anschließenden Entlassung aus dem Dienst der Universität 1945 blieb Steinacker als Ehrensenator Mitglied des Senats65. Aufschluss über das große Ansehen Steinackers während des Dritten Reiches gibt die anlässlich seines 70. Geburtstages für 1945 geplante Festschrift, die allerdings aufgrund der Kriegsereignisse nicht mehr gedruckt werden konnte. Ein unvollständiges Manuskript ist im Innsbrucker Universitätsarchiv erhalten66. Das Vorwort von Hellmuth Rössler, Nachfolger Kleo Pleyers am Lehrstuhl für Neuere Geschichte in Innsbruck, stellt eine Würdigung Steinackers um dessen Verdienste für das „deutsche Volk" und die „Idee des völkischen Sozialismus" dar67. Weiters erfolgt in einem zweiten Vorwort die Anregung zur Errichtung eines „Harold Steinacker-Stipendiums"68. Nach Kriegsende wurde Steinacker als ehemaliger NS-Funktionär nach dem Verbotsgesetz vorerst als Belasteter eingestuft und ihm keinerlei Pension oder Entschädigung zugestanden. Steinacker verfasste im Laufe des Jahres 1945 mehrere Rechtfertigungsschreiben und beurteilte sein Rektorat folgendermaßen: Nachdem ich das Amt einmal übernommen, habe ich die Ideologie des 3. Reiches bei Kundgebungen der Universität allerdings vertreten und habe die Gesetze und Verordnungen für das Hochschulwesen angewendet. Hätte ich anders handeln können? Haben das nicht auch alle belassenen Nichtnationalsozialisten als Beamte für ihre Pflicht gehalten?69 der deutschen Geschichtswissenschaft: Staatsgeschichte, Kulturgeschichte, Volksgeschichte, in: Deutschlands Erneuerung 24 (1940) 57-68, wieder abgedruckt in DERS., Volk und Geschichte (wie Anm. 130) 149-170, hier 165. 65 SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 145; H E I D E R , Institute (wie Anm. 4) 103. 66 Volk, Staat und Reich. FS zum 70. Geburtstag Harold Steinackers (Manuskript 1945), UAI, NL Steinacker, Kt. 1. Als Manuskript lagen die Beiträge von Theodor Schieder, Geistige Wirkungen Bismarcks, Richard Heuberger, Der Eintritt des Alpenraumes in das antike Weltbild, sowie der namentlich nicht gekennzeichnete, aber Hans Joachim Beyer zuzuweisende Beitrag „Grundfragen deutscher Völkerpolitik während des ersten Weltkrieges" vor. Beiträge von Franz Miltner, Otto Stolz, Franz Huter, Hans Kinzl, Oswald Gschliesser, Burkhard Seuffert, Hermann Heimpel, Werner Körte und Hellmuth Rössler wurden im Inhaltsverzeichnis angekündigt, Aufsätze von Anton Emstberger, Eduard Winter, Reinhard Wittram und Wilhelm Engel waren zugesagt. Srbik musste seinen Aufsatz „Prinz Eugen und Leibniz" absagen. SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 39 mit Anm. 188. 67 Ebd. 39. 68 Ebd. 40. 6 9 Rechtfertigungsschreiben Steinackers Entnazifizierung (wie Anm. 40) 49.

vom

28.08.1945,

zitiert

nach

GOLLER,

OBERKOFLER,

206

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und in einem weiteren Schreiben: Als ich 38 zur Partei ging und das Rektorat übernahm (und damit die Verpflichtung, die Gesetze des 3. Reiches anzuwenden und seine Ideologie offiziell zu vertreten), da überwogen noch die Leistungen und Lichtseiten die Schatten bei weitem10. [...] Auch habe ich das Rektorat nicht äußerer Vorteile willen übernommen. Ich habe im Gegenteil in Erkenntnis der damit verbundenen Arbeitslast noch 1938 meinen Vertrag mit dem Bibliographischen Institut gelöst, der mich bis 1939/40 zur Fertigstellung meiner Deutschen Geschichte verpflichtete und mir erhebliche materielle Vorteile gesichert hätte11. Steinacker beurteilte 1945 seine ersten Maßnahmen allerdings so, dass er bei personalen Maßnahmen die Vorschriften nie verschärfend und gehässig, [... ] in vielen Fällen vielmehr, soweit mir Ungerechtigkeiten vorzuliegen schienen, mildernd eingegriffen zu haben72. Er bewertete sein Rektorat durchaus erfolgreich, verwies auf die Vermehrung der Sachmittel sowie den Neubau von Kliniken73. Außerdem betonte Steinacker, dass er nicht aus der Kirche ausgetreten sei und weiter Vertreter der evangelischen Gemeinde geblieben war74. Ferner nannte er einige, vorwiegend katholische Schüler, die ihn entlasten könnten75. Weiters bemühte er sich um den Nachweis, kein illegales NSDAP-Parteimitglied gewesen zu sein; ganz im Gegensatz zum Jahr 1938, als er nach der nationalsozialistischen Machtübernahme bestrebt war, eben seine illegale Tätigkeit nachzuweisen76. Der gleichzeitige persönliche Einsatz einiger Kollegen zu seinen Gunsten führte schließlich im Sommer 1948 zur Einstufung Steinackers als Minderbeiaster, was ihm den Bezug einer Pension ermöglichte77. In einem 1949 verfassten „Rundbrief an seine Kollegen, Schüler und Freunde berichtete er über die Komplexität des österreichischen Entnazifizierungsverfahrens und dass er endlich durch die Einstufung als Minderbelasteter wieder Einkommen und Arbeitsmöglichkeiten bekam. Er beklagte seine Einsamkeit, in der er nur Kontakt zu Heinrich von Srbik und Gunther Ipsen78 70 Ebd. 53. 71 Ebd. 49. 72 Ebd. 4 5 - 5 0 und SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 388-390. 7 3 Ebd. 1 4 4 und GOLLER, OBERKOFLER, Entnazifizierung (wie Anm. 4 0 ) 5 4 . 74 Ebd. 50. 75 Zitiert nach SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 388-392. 76 Vgl. etwa die eigenhändige Anmerkung in seinem PA Wegen Richtigstellung des Datums der Parteizugehörigkeit Schritte eingeleitet bei SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1 ) 75. 77 U. a. setzten sich Hermann Wopfner, sein langjähriger Kollege an der Innsbrucker Universität, und Hans Kinzl, Professor für Geografie an der Universität Innsbruck, für Steinacker ein. Wopfner hob in einem Brief an den Tiroler Landeshauptmann vom 20.01.1948 Steinackers maßvolle Haltung und österreichische Gesinnung hervor, seine Vorlesungen seien auch von katholischen Hörem besucht worden. Sein Beitritt zum Nationalsozialismus blieb ihm, Wopfner, unverständlich, sei Steinacker doch nach dem formellen Ubertritt zum Nationalsozialismus [...] keineswegs ein fanatischer Nationalsozialist geworden. Er habe sich durchaus auch für vom Nationalsozialismus Verfolgte eingesetzt, er blieb immer ein guter Österreicher. Deswegen sei die Einstufung als Minderbeiaster und die Zuerkennung einer Pension durchaus gerechtfertigt. Der Brief Wopfhers ist gedruckt bei GOLLER, OBERKOFLER, Entnazifizierung (wie Anm. 40) 55f.; der Brief Hans Kinzls vom 24.02.1948 ebd. 56f.; vgl. dazu SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 148-161. 78 Der Soziologe Gunther Ipsen (1899-1984) war seit 1933 Professor an der Universität Königsberg, kam mit 01.04.1939 an die Universität Wien an das Institut für Psychologie und wurde 1945

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hatte, aber trotz seiner unangenehmen Lage wollte er sich auf die wissenschaftliche Arbeit konzentrieren, in der ich nicht nur Trost und Ablenkung der persönlichen Sorgen, sondern auch Klarheit über die alle denkenden Zeitgenossen bewegenden Fragen zu finden trachte. [...] Aber meine Hauptarbeit gilt einem Buch, das „Deutung der Zeit" heissen und die Form einer Auseinandersetzung mit Ortega y Gasset und Toynbee haben soll. Wir lebenja in einem Zeitalter neuer Glaubenskämpfe. Nur handelt es sich heute nicht um den Streit zwischen kirchlichen Bekenntnissen, sondern um den zwischen weltanschaulich-politischen Systemen19. Steinacker wandte sich ungarischen und südosteuropäischen Themen zu und konnte alsbald wieder verschiedenen, in diesem Bereich tätigen Gremien angehören. So nahm er an der am 26. Juli 1951 erfolgten Neukonstituierung des Stiftungsrates des Südostinstituts in München teil80, an dessen Gründungsfeier 1930 er schon als Festredner aufgetreten war81. Seit 1936 war er Mitglied dieses Instituts und dessen Leiter Fritz Valjavec sehr verbunden. Bis 1965 fungierte er als Herausgeber der von diesem Institut herausgegebenen Zeitschrift „Das südostdeutsche Archiv". Er agierte auch als Gründungsmitglied der Südostdeutschen Historischen Kommission, die am 31. März 1957 eingerichtet wurde, und hatte deren Vorsitz bis 31. März 1960 inne. Sein Nachfolger wurde kein Geringerer als Theodor Mayer82. Der Kommission gehörte er weiterhin als Ehrenvorsitzender an und wirkte als Herausgeber von deren Buchreihe „Südostforschungen". Zu seinem 80. Geburtstag wurde ihm 1955 der 14. Band gewidmet. Steinacker würdigte die Tätigkeit Fritz Valjavec' für das Südostinstitut später mit lobenden Worten83. Er selbst erhielt in Würdigung seiner Verdienste um die Südostforschung mehrere Ehrungen. So wurden ihm 1960 vom Südostdeutschen

79 80

81 82

83

entlassen. Er wohnte nach dem Krieg einige Zeit in Götzis bei Innsbruck, vgl. Ernst K L E E , Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945 (Augsburg 2005) 278, und die zahlreichen Nennungen bei Willi O B E R K R O M E , Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918-1945 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 101, Göttingen 1993). München, Südostinstitut, Korrespondenz Steinacker-Valjavec, „Rundbrief von 02.1949, zitiert nach SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 399-401. Zur Geschichte dieses 1 9 3 0 gegründeten Instituts vgl. FAHLBUSCH, Wissenschaft (wie Anm. 5 5 ) 2 6 0 - 2 6 3 ; Südost-Institut München 1 9 3 0 - 1 9 9 0 . Mathias Bernath zum siebzigsten Geburtstag (Südosteuropa-Bibliographie Erg.-Bd. 2, München 1990) 21 ff. Peer HEINELT, „PR-Päpste". Die kontinuierlichen Karrieren von Carl Hundhausen, Albert Deckl und Franz Ronneberger (Rosa-Luxemburg-Stiftung Manuskripte 37, Diss. Marburg 2002) 131. Balduin SARIA, Zehn Jahre Südostdeutsche Historische Kommission, in: Südostdeutsches Archiv 10 (1967) 1-8, hier 3. Vgl. dort vor 1 auch ein Foto der Teilnehmer an der ersten Arbeitstagung am 22.07.1957 mit Steinacker, Mathilde Uhlirz, Theodor Mayer, Karl Kurt Klein, Franz Huter, Josef Matl, Hugo Moser, Hans Pirchegger, Balduin Saria, Fritz Valjavec und Ladislaus Weifert. ÖAW, Archiv, PA Steinacker, WL 6f.: Die damals [1936] einsetzende Zusammenarbeit mit dem jungen Münchener und Berliner Kollegen Fritz Valjavec erweiterte und vertiefte sich zu echter Freundschaft und Mitstreiterschaft [...]. Siehe auch Harold STEINACKER, Fritz Valjavec, in: Gedenkschrift für Fritz Valjavec (1909-1960) (Kleine Südostreihe 2, München 1963). Vgl. auch die Beiträge von Gerhard SEEWANN, Norbert SPANNENBERGER, Gerhard G R I M M und Krista Z A C H im Tagungsband: Südostforschung im Schatten des Dritten Reiches 1920-1960. Institutionen, Inhalte, Personen, Tagung 24.10.-26.10.2002, München, hg. v. Mathias B E E R (Südosteuropäische Arbeiten 119, München 2004).

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Kulturwerk die Müller-Guttenbrunn-Plakette und 1962 von der Südosteuropagesellschaft die Jireczek-Medaille verliehen, 1963 wurde er mit der Plakette des Ostdeutschen Kulturrates in Mainz ausgezeichnet84. Für die genannten Organisationen trat Steinacker immer wieder als Vortragender auf85. Zum 80. Geburtstag von Theodor Mayer und auch zum 60. Geburtstag von Karl Kurt Klein hielt Steinacker die Festreden für die Jubilare86. Ebenso nahm er mehrmals an den Tagungen der Ranke-Gesellschaft teil, an deren Gründung 1952 sowie an deren Zeitschrift „Das Historisch-politische Buch" er beteiligt war, und wurde 1962 mit der Ranke-Gedenkmedaille ausgezeichnet87. Den Großteil der Mitglieder der Ranke-Gesellschaft bildeten Historiker, die sich im Nationalsozialismus einen Namen gemacht hatten88. Steinacker übernahm die Teilredaktion des 5. und 10. Bandes der von Fritz Kern initiierten und nach dessen plötzlichem Tod 1950 von Valjavec fortgesetzten Historia Mundi und verfasste dazu auch zwei Beiträge89. Zu Steinackers 75. Geburtstag erschien ein von Franz Huter verfasster Beitrag in der Tiroler Tageszeitung (26. Mai 1950)90. 1952 nahm Steinacker an der Verleihung des Mozart-Preises an Josef Nadler teil91. 1955 widmete ihm das Südostdeutsche Kulturwerk, das 1951 gegründet wurde, zu seinem 80. Geburtstag eine Festschrift, die dem Jubilar anlässlich einer kleinen Feier am 25. Mai 1955 im Hörsaal des Historischen Seminars an der Innsbrucker Universität von Hellmuth Rössler und Valjavec überreicht wurde92. Die beigegebene Abbildung, die Steinacker als Rektor der Innsbrucker 84 ÖAW, Archiv, PA Steinacker, WL 7; SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 42. 85 Ebd. 46. 86 Ebd. 47; Harold STEINACKER, Ansprache an Theodor Mayer, in: Südostdeutsches Archiv 5 (1962) 1-5; DERS., Ansprache an Karl Kurt Klein, in: Ebd. 1 (1958) 5-9. 8 7 Zur Geschichte der Ranke-Gesellschaft siehe Manfred ASENDORF, Was weiter wirkt. Die „RankeGesellschaft - Vereinigung für Geschichte im öffentlichen Leben, in: 1999. Zs. für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 4 (1989) 29-61. 88 Winfried SCHULZE, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (HZ NF 10, München 1989) 205; ASENDORF, Was weiter wirkt (wie Anm. 87) 48-57. Zu den führenden Mitgliedern werden u. a. Steinacker, Srbik, Hellmuth Rössler, Hermann Aubin, Wilhelm Schüssler und Otto Brunner gezählt. Vgl. dazu auch Joachim LERCHENMÜLLER, Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift „Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland" (Archiv für Sozialgeschichte Beiheft 21, Bonn 2001) 176-178. 8 9 Harold STEINACKER, Weltgeschichtliche Einordnung des Frühmittelalters, in: Historia Mundi. Ein Handbuch der Weltgeschichte 5 , begr. von Fritz KERN, hg. v. Fritz VALJAVEC ( 1 9 5 6 ) 4 5 3 - 4 8 7 ; STEINACKER, Vom Sinn und Wesen der Geschichte, ebd. 1 0 ( 1 9 6 1 ) 7 2 1 - 7 7 4 . 90 SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1)41. 91 Ebd. Der Preis, der Nadler bereits 1941 zuerkannt worden war, wurde ihm wegen seiner ablehnenden Haltung zum Nationalsozialismus erst 1 9 5 2 überreicht, vgl. dazu auch ZIMMERMANN, Kulturpreise (wie A n m . 58) 152-164.

92 An der Feier nahmen neben dem Rektor der Innsbrucker Universität Karl Strohal, der im Namen der „Universität und der alten Kollegenschaft" dankte und dem Dekan der Philosophischen Fakultät Karl Pivec, Nachfolger Steinackers auf dem Lehrstuhl für mittelalterliche Geschichte, auch eine große Zahl von Kollegen, Freunden und Schülern Steinackers teil. Gertrud Fussenegger, Dissertantin bei Steinacker, trug ein eigens dafür verfasstes Gedicht („Clio") vor. Huter würdigte „Steinackers Lebenswerk vom fachlichen Standpunkt des Historikers in längeren Ausführungen"; vgl. Karl Kurt

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Universität in SA-Uniform zeigt, stellt das Porträt Steinackers dar, das Hubert Lanzinger ursprünglich für die Innsbrucker Rektorengalerie anfertigte93. Allerdings war das Bild für diese Festschrift verändert worden, denn das 1941 von Lanzinger angefertigte Porträt zeigte den Rektor nicht wie üblich im Amtstalar, sondern bot eine Darstellung Steinackers in SA-Uniform, die für die Abbildung retuschiert wurde. Da dieses Bild nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in der Rektorengalerie aufgehängt werden konnte, man dem ehemaligen Rektor jedoch den „Ehrenplatz" in der Rektorengalerie nicht verweigern wollte, nahm der Akademische Senat am 18. Januar 1950 mit Steinacker Kontakt auf und schlug ihm vor, ein neues Bild, diesmal in der üblichen Amtstracht, kostenlos anfertigen zu lassen. Steinacker ging auf diesen Vorschlag nicht ein und war einzig dazu bereit, das vorhandene Bild von Lanzinger mit dem Amtstalar übermalen zu lassen94. Da es aber zu keiner Einigung kam, ist Steinacker heute nicht in der Rektorengalerie vertreten. Im ursprünglich 1871 gegründeten Verein Deutscher Studenten (VDSt) in Innsbruck war Steinacker seit dessen (kurzlebiger) Wiederbegründung 1921 Mitglied. Nach einer neuerlichen Wiederbegründung am 22. Oktober 1927 gehörte Steinacker den Alten Herren an. Er hielt mehrere Vorträge zu diversen Anlässen für diesen „auf völkischen Grundlagen beruhenden" Verein. Wichtige Vereinsthemen bildeten die Südtirol-Frage, der Anschluss Österreichs an Deutschland, aber auch antisemitische Inhalte. Nach dem Krieg wurde der Alte-Herren-Bund, auch auf Initiative Steinackers, 1953 neu begründet. Steinacker genoss dort große Verehrung, und ihm zu Ehren wurde am 3. Juni 1955, anlässlich seines 80. Geburtstages, in den Innsbrucker Stiftsälen eine Feier abgehalten, in dessen Festansprache Karl Kurt Klein Steinackers „volkswissenschaftliche Leistung" und dessen Verdienste für das „Südostdeutschtum" eingehend zu würdigen wusste95. KLEIN, Vorwort, in: Festgabe Harold Steinacker zum 26. Mai 1955, hg. v. Südostdeutschen Kulturwerk (Kleine Südost-Reihe 1, München 1957) 3f. Gertrud FUSSENEGGER, Clio, ebd. 8-10; Franz HUTER, Altmeister Harold Steinacker zum 80. Geburtstag, ebd. 5-7. Steinacker bedankte sich mit einer Rede, in der er einige seiner Lehrer, seiner Studien- und Berufskollegen anführte, die mit ihm zusammen verschiedene Abschnitte seines Lebens verbracht hatten, in der er aber auch seine Familie, besonders seinen Vater, hervor hob, der als ein Führer seiner Volksgruppe, als Vertrauensmann Franz Ferdinands, als Mitarbeiter der Bewegung der europäischen Minderheiten kämpfte und verfolgt wurde. An diesen väterlichen Grundgedanken habe er festgehalten, denn sie kreisten um das Verhältnis von Volk und Staat und um das Zusammenleben der Völker und Volksgruppen. Diese Probleme sind aber überhaupt nur geschichtlich zu verstehen, betreffen sie doch die Auseinandersetzung geschichtlich gewordener Gruppen und Gebilde, vgl. Harold STEINACKER, Dankworte, ebd. 22-30, Hervorhebung nach Vorlage. Vgl. dazu auch SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 43. 93 V g l . d i e A b b . i l . 94 Michael HEIDER U. a., Warum Steinacker nicht in der Rektorengalerie der Universität Innsbruck hängt, in: Skolast 34 (Februar/März 1990) Nr. 1/2,94-95, mit dem Abdruck der Briefe vom 18.01.1950 und der Antwort Steinackers vom 22.01.1950; KRAUS, Lanzinger (wie Anm. 58) 84. Ein Amtsvorgänger Steinackers, Rektor August Haffiier wurde - im Amtstalar - 1931/32 von Lanzinger porträtiert, sein Bild hängt heute im Institut für Orientalistik der Universität Innsbruck, vgl. KRAUS 83 mit Abb. S.

22.

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SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 25f., 4 4 , 87f. Seine Rede ist abgedruckt bei: Karl Kurt KLEIN, Geschichtliches Denken aus der Ordnung des Volkes, in: Festgabe dargebracht Harold Steinacker zur Vollendung des 80. Lebensjahres 26. Mai 1955 (München 1957) 15-21.

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Auch die ÖAW überbrachte ihrem Mitglied Glückwünsche, in denen dessen besondere Verdienste auf dem Gebiet der Papsturkundenlehre, der Habsburger-Regesten sowie der Privaturkundenlehre hervorgehoben wurden, aber auch dessen Wirken auf dem Gebiet „der Neueren Zeit sowie der Gegenwartsgeschichte" gewürdigt und Beiträge angeführt wurden wie etwa „Geschichtsauffassung und Geschichtsbild", „Historia vitae magistra" und „Weg und Ziel der Geschichtsauffassung", in denen Steinacker angeblich „zu den Grundlagen und Grundfragen Ihrer Wissenschaft kritisch und wegweisend Stellung genommen [hat]"96. Am 2. Juni 1964 wurde Steinacker auf Antrag Huters zum Ehrenmitglied der philosophisch-historischen Klasse der ÖAW gewählt, was eine vollständige Rehabilitierung Steinackers als Wissenschafter ungeachtet seiner ausgeprägten NS-Vergangenheit bedeutete97. Der Generalsekretär der Akademie, Fritz Knoll, als Rektor der Wiener Universität während des Zweiten Weltkrieges Steinackers Kollege, beglückwünschte diesen, denn diese Ehrung durch unsere Akademie bedeutetfür Sie doch auch von dieser Seite eine vollständige Rehabilitierung [...]. Ich habe ja selbst Ähnliches dadurch erlebt, dass mir vor einigen Jahren [24.4.1961] der Akademische Senat der Wiener Universität einstimmig „für die mutige und ehrenvolle Führung des Rektorates in schwerer Zeit" das Rektorserinnerungszeichen verliehen hat9*. Steinacker empfand die Ehrenmitgliedschaft als die größte Ehrung und den krönenden Schlussstein meiner wissenschaftlichen Laufbahn". Und ebenfalls auf Antrag Huters war dem ehemaligen Rektor Steinacker am 12. Mai 1960 die Ehrenmedaille der Universität Innsbruck verliehen worden100. In seinem Glückwunschschreiben im August 1964 zum 65. Geburtstag Huters, dem er sehr verbunden war, sinnierte Steinacker auch über die eigene wissenschaftliche Tätigkeit: Ich habe von dem, was ich bis 1935 angeschnitten hatte, vieles unvollendet gelassen: die kurze ungarische Geschichte im Rahmen des Donauraumes und der habsburgischen europäischen Politik, - die Deutsche Geschichte im europäischen Rahmen, über die ich einen Vertrag mit dem Bibliogr. Institut hatte, und gar manche Streitfrage der Österr. Geschichte und der Urkundenlehre, zu denen ich 96 ÖAW, Almanach zum Jahr 1955 441 f. Die Glückwünsche sind unterzeichnet von Präsident und Generalsekretär Richard Meister und Josef Keil, laut einer Notiz im PA Steinacker, ÖAW, Archiv, wurde das Schreiben von Leo Santifaller verfasst. Zu den angeführten Werken Steinackers siehe unten. 97 Steinacker und Huter verband ein sehr freundschaftliches Verhältnis, vgl. etwa das Glückwunschschreiben Harold Steinackers vom 14.08.1964 an Huter zu dessen 65. Geburtstag, abgedruckt in: Gerhard OBERKOFLER, Franz Huter (1899-1997). Soldat und Historiker Tirols (Innsbruck/ Wien 1999) 219: Das ist fast ein halbes Jahrhundert her, in dem uns das ursprüngliche SchülerLehrer- Verhältnis zum Nebeneinander zweier wissenschaftlicher Lebensläufe, dann zum Miteinander des Kollegentums und einer aufrichtigen Freundschaft wurde, die sich nach 1945für mich zu einem echten Wert entwickelt hat und ein Ausgleich für so manche Schwierigkeit und Enttäuschung war, siehe auch ebd. 124f. 98 ÖAW, Archiv, PA Steinacker, Fritz Knoll an Steinacker, Durchschrift, 08.07.1964. Eine kurze Biografie Fritz Knolls in: Herbert MATIS, Zwischen Anpassung und Widerstand. Die Akademie der Wissenschaften in den Jahren 1938-1945 (Wien 1997) 19 Anm. 20. 99 ÖAW, Archiv, PA Steinacker, WL 8; SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 48. 100 OBERKOFLER, Huter (wie Anm. 97) 125.

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gerne noch ein Wort gesagt hätte. Nur einiges davon konnte ich in der Arbeit für die Südostdeutsche Historische Kommission und Historia mundi erledigen101. Als Harold Steinacker am 29. Januar 1965 fast neunzigjährig, bis zuletzt wissenschaftlich tätig, starb, versammelte sich zu seinem Begräbnis auf dem Städtischen Westfriedhof in Innsbruck eine große Trauergemeinde, darunter Vertreter der ÖAW und des akademischen Senats der Universität Wien102. Im Andenken an Steinacker plante die Südostdeutsche Historische Kommission für den ersten Todestag die Verteilung einer Erinnerungsmedaille an seine Freunde, Kollegen und Schüler103. Am 25. Todestag Steinackers gedachte Otto Scrinzi seines Bundesbruders durch einen Beitrag mit dem Titel „Geschichtliches Denken aus der Ordnung des Volkes" [!] in der Verbandszeitschrift des VDSt, in dem er auf die „natürliche Nation" Steinackers hinwies, ohne jedoch explizit dessen „gesamtdeutsche" Geschichtsauffassung zu erwähnen104.

II. Lehrtätigkeit An der Universität Wien hielt Steinacker seit 1906 neben Einfuhrungsvorlesungen in das Studium der Geschichte und ihrer Quellen Übungen zur Germania des Tacitus und an den Quellen zur Geschichte der ältesten Habsburger105, in den Wiener volkstümlichen Universitätskursen populärwissenschaftliche Vorlesungen über Österreichische Reichsgeschichte und Allgemeine Verfassungsgeschichte106. Die Vorlesungen SteinEigenhändiges Schreiben Steinackers vom 1 4 . 0 8 . 1 9 6 4 an Huter, abgedruckt in: O B E R K O F L E R , Huter (wie Anm. 9 7 ) 2 1 9 - 2 2 1 , hier 2 2 0 . 102 Vgl. die Nachrufe: Franz H U T E R , Steinacker (wie Anm. 1) 306-335 mit Schriftenverzeichnis 327335 von Wilhelm Neumann; DERS. in: MIÖG 83 (1965) 451-454; DERS., Harold Steinacker t , in: HZ 201 (1966) 260-262; DERS., Der letzte große Historiker alter Schule. Zum Heimgang Harald [sie!] Steinackers, der Innsbruck ein halbes Jahrhundert die Treue hielt, in: Tiroler Tageszeitung vom 06.02.1965; Karl Kurt K L E I N , in: Südostdeutsche Vierteljahrblätter 14 (1965) 65f.; Theodor M A Y E R , Harold Steinacker (26. Mai 1875-19. Jänner 1965), in: Gedenkschrift Harold Steinacker (SüdostForschungen 16, München 1966) 1-10; Mathias B E R N A T H , Harold Steinacker (Nachruf), in: SüdostForschungen 24 (1965) 1-10; Anton S C H W Ö B , Harold Steinacker, in: Südostdeutsche Semesterblätter (München 1965) Heft 15, 1-3. 103 Die Medaille sollte auf der Vorderseite den Kopf Steinackers, auf der Rückseite eine Inschrift, die auf sein Lebenswerk und seine Geschichtsauffassung Bezug nimmt, tragen. ÖAW, Archiv, PA Steinacker, Brief Theodor Mayers an die ÖAW. Auch die ÖAW zeigte Interesse für den Erwerb einer Medaille; vgl. das dementsprechende Schreiben ebd. 104 S C H A D E R , Steinacker (wie Anm. 1) 49. Otto Scrinzi, geb. 1918, war SA-Sturmführer und Mitglied der NSDAP und arbeitete nach dem Krieg als Nervenfacharzt. Politisch gehörte er dem Verband der Unabhängigen (VdU) bzw. der Freiheitlichen Partei Österreichs an und wird nach wie vor mit rechtsextremen Kreisen in Verbindung gebracht. 105 Siehe die entsprechenden Vorlesungsverzeichnisse der Universität Wien: Einfuhrungen in das Studium der Geschichte und ihrer Quellen, einstündig, SS 1906, WS 1906/07, SS 1907, WS 1907/08, WS 1908/09; Interpretation mittelalterlicher Quellen, einstündig, WS 1906/07; Ungarische Verfassungsgeschichte, 1 stündig, WS 1907/08; Genealogie als historische Hilfswissenschaft, 1 stündig, WS 1908/09. 106 Diese Kurse wurden im Auftrag der Wiener Universität veranstaltet. Sie dauerten jeweils eine Stunde und wurden sechs Mal abgehalten. Siehe Programme der volkstümlichen Universitätskurse: 101

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ackers in Innsbruck behandelten die Themen Allgemeine Geschichte, die Orientalische Frage, das Fortleben der Antike im Mittelalter und die hilfswissenschaftlichen Bereiche der Diplomatik und Paläografie107. In Innsbruck betreute Steinacker zudem viele Dissertationen, darunter die Arbeit von Hugo Hantsch, der am 4. Juni 1921 promovierte und „der Steinacker'sehen Schule als Beitrag zur frühmittelalterlichen Urkundenlehre alle Ehre" machte108. Steinackers Schülerin Gertrud Fussenegger, die bei ihm im Juli 1934 ihr Studium beendet hatte109, beschrieb ihren Doktorvater als „redegewandt und sicher in seinen Formulierungen, war er doch immer vorzüglich vorbereitet, ein sachlicher Kompilator so gut wie ein zu großen Übersichten befähigter Geist. Mit eiligen Schritten erschien er zur Vorlesung, immer schon zehn Minuten vor Beginn. In diesen zehn Minuten schrieb er die zum Thema anhängige Literatur auf die Tafel. [...] Seinen Vorlesungen zu folgen war nicht immer leicht. Die Fülle des Stoffes war bedeutend, selten erlaubte er sich vereinfachende Schemata. [...] Steinacker war Nationalist und leugnete nicht, daß ihn die Geschichte vor allem unter dem Blickpunkt der Morphologie interessierte. Aber er ließ immer wieder durchblicken, dass sich jenseits des Nationalen und darüber ein Reich des Geistes bewegte, eine Instanz menschlicher Erkenntnis, menschlicher Entwürfe, die noch mehr wogen und die es erst lohnend machten, die zugrunde liegenden natürlichen Strukturen zu untersuchen"110. Auch die Studenten in Würzburg, die in seinem

November-Dezember 1905: Die Entstehung des österreichischen Staates; Oktober-November 1908 und Dezember 1908-Jänner 1909: Historische Politik (Geschichte der politischen Parteien und der Verfassungsformen). 107 Vorlesungen und Übungen zur Papst- und Kaiserurkundenlehre (WS 1929/30, WS 1931/32), Übergang von der Antike zum Mittelalter (WS 1929/30, SS 1933, SS 1936, SS 1939, 3. Tr. 1940), Paläografie (WS 1930/31, SS 1935, WS 1935/36), Vorgeschichte und Geschichte der Orientalischen Frage (WS 1930/31,2.Tr. 1940), Deutsche Kaiserzeit (SS 1931, SS 1934), Deutsches Volk und deutscher Staat in der Geschichte (für Hörer aller Fakultäten, SS 1931), Frankreich, England und die anderen nicht zum Reich gehörenden Staaten im früheren Mittelalter (WS 1931/32), Geschichte des europäischen Gleichgewichts (Einführung in das historische Verständnis der auswärtigen Politik) (WS 1931/32), Geschichte der Geschichtswissenschaft (Geschichtsforschung, Geschichtsschreibung, Geschichtsauffassung) (SS 1931), Grundlagen und Entwicklung der Nationalitätenfrage in Österreich-Ungarn und in Osteuropa (für Hörer aller Fakultäten, SS 1932), Stufen der Deutschen Volkseinheit (SS 1933), Das Zeitalter des fränkischen Reiches (WS 1933/34), Entstehung des neuzeitlichen Staatensystems (WS 1933/34), Die orientalische Frage des Mittelalters (SS 1934), Europa im Zeitalter der Kreuzzüge (WS 1934/35), Orientalische Frage (seit 1683) (WS 1934/35), Theorie und Geschichte der Geschichtswissenschaft (SS 1935, SS 1939), Zentralismus und Partikularismus als weltgeschichtliche Kräfte (WS 1935/36), Englische Geschichte (WS 1935/36, WS 1938/39, l.Tr. 1940), Epochen der deutschen Geschichte (SS 1936, WS 1936/37), Fränkisches Zeitalter (WS 1936/37), Deutsche Geschichte (Forts.) (WS 1938/39), Entstehung des europäischen Staatensystems (1494-1555) (SS 1941) und jedes Semester ein Historisches Seminar; vgl. die entsprechenden Jahrgänge der Vorlesungsverzeichnisse der Innsbrucker Universität. 108 So OBERKOFLER, Huter (wie Anm. 97) 34. Hantsch dissertierte über „Die rechtlichen Grundlagen in der klösterlichen Aufnahmeordnung des hl. Benedikt. I. Teil: Untersuchungen über die historischen Voraussetzungen der benediktinischen Profeßurkunden". 109 Fussenegger dissertierte zum Thema „Über den Rosenroman Jean de Meung's". 110 Gertrud FUSSENEGGER, An der Universität Innsbruck, in: das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift Heft 24 (1979) 2476-2478 [Auszug aus Fusseneggers Autobiografie „Ein Spiegelbild mit Feuersäule"].

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Gastsemester zahlreich zu seinen Vorlesungen erschienen, schätzten besonders seine anregende Vortragsweise sowie seinen Witz und Selbstironie111. Für seine eigene wissenschaftliche Tätigkeit blieb ihm wenig Zeit. Eine seit den 1930er Jahren geplante „Deutsche Geschichte" musste er während der Zeit des Rektorats unterbrechen und wollte später die Arbeiten an diesem großem Werk wieder aufnehmen, allerdings ist kein Manuskript erhalten; wann Steinacker dieses Vorhaben tatsächlich aufgegeben hat, ist nicht bekannt112.

III. Wissenschaftliche Schriften Das Werkverzeichnis Steinackers umfasst eine beträchtliche Anzahl von Studien und lässt sich in drei große Bereiche unterteilen: Hilfswissenschaftliche Arbeiten, Arbeiten über die Volksdeutsche Geschichtsauffassung und zur Geschichtsschreibung, Arbeiten zur Südostforschung113. Fundiert durch seine gründliche Ausbildung am IÖG hat Steinacker mehrere grundlegende Studien zu hilfswissenschaftlichen Themen verfasst. Hervorzuheben ist zuvor aber das Editionsprojekt der Regesta Habsburgica, zu dem Steinacker zwei Teilbände beigetragen hat. Dieses Unternehmen hatte sich die Herausgabe des Urkundenmaterials der Habsburger bis ins 15. Jahrhundert zum Ziel gesetzt und wurde vom IÖG getragen. Den ersten, bis 1281 reichenden Teilband stellte Steinacker 1904 anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens dieses Instituts fertig, die erste Lieferung eines weiteren Teilbandes kam aber erst 1934 und nur unter großen Schwierigkeiten zum Druck, da Steinackers Interesse an dieser Edition beträchtlich zurückgegangen war114. Steinackers erster Teilband führte zu einer Polemik, aber auch wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Karl Uhlirz über die Editionsgrundsätze eines Regestenwerkes115. Auf den 111 Margret BOVERI, Verzweigungen. Eine Autobiographie, hg. v. Uwe JOHNSON (München 1982) 128; vgl. dazu auch SCHADER, Steinacker 67 Anm. 321. 112 Ebd. 29-31. 113 Vgl. auch LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 12) 278, der als Themenschwerpunkte Habsburgerregesten, frühmittelalterliches Urkundenwesen und Nationalitätenfragen/Ungarn angibt. 114 Vgl. dazu ebd. 308f.: „Die Mitarbeiter [Steinacker und Kretschmayr] hatten an diesem Unternehmen offenbar keine rechte Freude mehr und empfanden es als eine Last. Redlich hatte allerdings laufend Bericht erstattet [...]. Später hat er [Redlich] die geradezu unverantwortliche Behauptung Steinackers, daß das Manuskript für die Epoche 1281 98 schon Ende des Jahres 1908 druckfertig vorliegen werde, gutgläubig weitergeleitet - in Wirklichkeit aber sind volle 20 Jahre vergangen, ehe Steinacker erst einmal einen Urlaub zwecks „Vollendung der Regesta Habsburgica" für das Wintersemester 1928/29 nahm, und erst weitere sechs Jahre später, 1934, ist wenigstens die erste Hälfte dieses Halbbandes für die Jahre 1281-92 im Druck erschienen". Dieser Band wurde als Festgabe auf der Feier zum 80jährigen Bestehen des ÖIG präsentiert, vgl. STOY, Institut (wie Anm. 29) 120-123. Eine angeblich schon weit gediehene, wie Steinacker 1949 behauptete, Schlusslieferung zum zweiten Band seiner Habsburgerregesten, konnte nicht mehr fertiggestellt werden, da ihm weder Zeit noch Geld zur Verfügung standen, die letzten Arbeiten in Wien oder Zürich durchzufuhren; vgl. den „Rundbrief Steinackers an seine Freunde von 1949, abgedruckt bei SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 401. 115 Karl UHLIRZ, Rezension zu Harold Steinacker, Regesta Habsburgica, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen (1912) 275-283; Harold STEINACKER, Fragen der Regestentechnik, in: MIÖG 34 (1913)

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Versammlungen deutscher Historiker in den Jahren 1906 in Stuttgart, 1907 in Dresden und 1909 in Straßburg wurden allgemeine Probleme der Erstellung von regionalen Urkundenbüchern bzw. Regestenwerken diskutiert, zu denen auch Steinacker Stellung bezog116. Er hatte bei der Bearbeitung der Regesten der Grafen von Habsburg erkannt, dass die Einbeziehung des gesamten verhältnismäßig zeitgleichen südwestdeutschen Urkundenmaterials notwendig wäre, um wesentliche Ergebnisse zur Kanzlei der Habsburger und der Paläografie ihrer Urkunden erbringen zu können. Dafür schlug er, da er der Privaturkunde große Bedeutung beimaß117, anhand der Urkundenbestände der österreichischen Länder den Weg des Föderalismus vor: „Man muss eben den Mittelweg zwischen Zentralismus und Partikularismus beschreiten, und das ist der Weg des Föderalismus. Die Landschaften müssen ihre Freiheit behalten soweit als irgend möglich; soweit sie aber auf gewisse Vorteile des einheitlichen Vorgehens, die der Zentralismus bietet, nicht verzichten können, müssen sie sie durch eine freiwillig vereinbarte Arbeitsgemeinschaft zu erreichen suchen"118. Ein geeignetes (und für die damalige Zeit fortschrittliches) Hilfsmittel fiir die Erforschung von Schrift und Diktat im Urkundenmaterial „wäre die planmässige Anwendung der Photographie und des Photographientausches seitens der großen Archive". Durch Schriftvergleich ließen sich dann „die einzelnen paläographischen Gruppen, meist auf mehrere Archive verteilt", erschließen119. Im Gegensatz dazu forderte Karl Lamprecht eine einheitliche Vorgangsweise: die Regierungen Deutschlands und Österreichs sollten Mittel für die fotografische Erfassung der älteren Originalurkunden bereitstellen und dann allen Interessenten zur Verfügung stellen. Außerdem wäre nach Ansicht Steinackers der vollständige Neudruck aller Urkunden bis 1250 das ideale Ziel. Allerdings wären dazu auch landschaftliche Regestenwerke eine mögliche Lösung: „diese Regesten wären im höheren Grade diplomatische Werke, als die bisherigen, weil diese auf die Urkunden eines Geschlechtes oder Bistums u.s.w. beschränkt, aus dem Gesamtstoff des landschaftlichen Urkundenwesens nur Bruchteile herausgreifen, so dass eine endgültige diplomatische Bearbeitung auch dort, wo an sie gedacht wurde, untunlich war"120. Einhergehend mit der Arbeit an den Habsburgerregesten verfasste Steinacker mehrere Studien über die Entstehung der Schweizer Eidgenossenschaft und über die Frühzeit der Habsburger121. Schon in seiner Dissertation von 1897 und wieder in seiner Habilitation 98-117; Karl U H L I R Z , Zur Herstellung von Regesten. Entgegnung, in: MIÖG 34 (1913) 393-399; die beiden letzten Aufsätze wurden wieder gedruckt in: Die Regesta Imperii im Fortschreiten und Fortschritt, hg. v. Harald ZIMMERMANN (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 20, Köln/Weimar/Wien 2000) 35-53 bzw. 55-62; Harold STEINACKER, Schlußwort, in: MIÖG 34 (1913) 399-400. 116 Vgl. Harold STEINACKER, Diplomatik und Landeskunde. Erläutert am Stand der Forschung für die österreichischen Alpenländer, in: MIÖG 32 (1911) 385^133, hier 386 mit Anm. 1. 117 Ebd. 421: [...] das eine ist sicher, dass ein wirkliches Eindringen der diplomatischen Kritik in den allgemeinen historischen Betrieb nur von der Privaturkunde ausgehen kann. 118 Ebd. 425. 1 1 9 Harold STEINACKER, Die Lehre von den nichtköniglichen (Privat-)Urkunden des deutschen Mittelalters, in: Meisters Grundriß der Geschichtswissenschaft 1 (Leipzig 1906) 231-266, hier 266. 120 STEINACKER, Diplomatik (wie Anm. 116) 433. 1 2 1 Harold STEINACKER, Die ältesten Geschichtsquellen des habsburgischen Hausklosters Muri, in:

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1905 hatte sich Steinacker mit der Kontinuität der Antike im (Früh-)Mittelalter auseinandergesetzt und dabei besonderes Augenmerk auf Diplomatik und Paläografie und deren Zusammenhänge gelegt: „Gegenstand der Paläographie ist ja nicht so sehr die Schrift an sich, als der schreibende Mensch und die gesamten, nach Zeiten wechselnden Bedingungen seiner Schreibtätigkeit"122. Die Entstehung der karolingischen Minuskel(-schrift) und deren Entwicklung beschäftigte Steinacker in den 1920er Jahren und führte zu Diskussionen mit Luigi Schiaparelli123. In diesen Themenbereich fällt auch Steinackers bemerkenswerte Monografie über die antiken Grundlagen der frühmittelalterlichen Privaturkunde, die auf seinem 1906 entstandenen Aufsatz aufbaute und schon 1914 großteils gesetzt war124. Studien zum österreichischen Landrecht und zur Privilegium minus genannten Urkunde von 1156 zeigten seine scharfsinnige Beobachtungsgabe125. Eine exzellente Darstellung der Hilfswissenschaften im Allgemeinen und des Zusammenwirkens und Ineinandergreifens der einzelnen hilfswissenschaftlichen Disziplinen bot Steinacker in seiner Antrittsrede an der Universität Prag 1917, die 1923 gedruckt wurde126. Auch in seinen Vorlesungen nahm er diese Themen auf, wie er erneut nach dem Zweiten Weltkrieg wieder zu hilfswissenschaftlichen Arbeiten zurückkehrte.

IV. Geschichte und Politik - Steinackers Werke zu seiner „Geschichtsauffassung" Ein anderes großes Arbeitsgebiet Steinackers ab 1919 steht in Zusammenhang mit seiner „Geschichtsauffassung"127: Nur von ihr aus lässt sich der gleichwertige Anteil Österreichs an der deutschen Geschichte herausstellen. Es gilt, diese Geschichte ZGORh 62/NF 23 (1908) 3 8 7 ^ 2 0 ; DERS., War Bischof Werner von Straßburg ein Habsburger oder nicht?, in: ZGORh 63/NF 24 (1909) 154-161. 122 Harold STEINACKER, Zum Liber diurnus und zur Frage nach dem Ursprung der Frühminuskel, in: Miscellanea Francesco Ehrle, Scritti di storia e paleografia IV - Paleografia e diplomatica (Rom 1924) 130. 123 Ebd. 107. Vgl. dazu Giulia AMMANNATI, Una lettera inedita di Harold Steinacker a Luigi Schiaparelli e il problema dell'origine poligenetica della Carolina, in: Scrittura e civiltà 23 (1999) 412-434 mit der Edition eines Briefes Steinackers an Schiaparelli vom 28.12.1925. 124 STEINACKER, (Privat-)Urkunden (wie Anm. 119) 231-266; DERS., Die antiken Grundlagen der frühmittelalterlichen Privaturkunde (1. Ergänzung von Meisters Grundriß der Geschichtswissenschaft, L e i p z i g 1927).

125 Harold STEINACKER, Zum Privilegium Friedrichs I. für das Herzogtum Österreich (Privilegium minus), in: MIÖG Erg.-Bd. 11 (1929) 205-239; DERS., Der lateinische Entwurf zum Mainzer Landfrieden von 1235 und der Landfrieden König Heinrichs VII., in: MIÖG 46 (FS für Hans Voltelini, 1932) 188196. 126 Harold STEINACKER, Philologische und diplomatische Gesichtspunkte in den historischen Hilfswissenschaften (Prager Antrittsvorlesung), in: FS des akademischen Historikerklubs Innsbruck 1923,22-53. LHOTSKY, Geschichte des Instituts (wie Anm. 12) 278, hält sie für „das Beste [...], was je zu diesem Thema gesagt wurde". 127 Steinacker gibt dieses Jahr als den Beginn seiner Beschäftigung mit der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung an, vgl. ÖAW, Archiv, PA Steinacker, WL 8.

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gleichmäßig auf alle deutschen Staaten zu beziehen, nicht nur auf die inneren Spannungen zwischen ihnen, sondern auch auf den Druck, der von außen auf ihnen lastet. Man nennt diese Auffassung die gesamtdeutsche, noch richtiger würde sie die europäische heißenm. Zentral war ihm der Begriff des „Volkes", das er als einheitlichen „Organismus" verstand. Die Zugehörigkeit zu diesem Organismus bestimmte das „Wesen" des Individuums und wies ihm einen „natürlichen" Platz in der Gesellschaft zu. „Die Beziehung von Rasse, Nation und anderer auf dem Blute beruhender, also natürlicher Verbände, bis herab auf Sippe und Familie" zählt Steinacker bereits 1908 (!) neben Land und Leuten zu den natürlichen Bedingungen für die Bildung und den Bestand der Staaten129. Dieser Konzeption entsprach es, biologische Evolutionstheorien, wie die Charles Darwins, auf die Gesellschaft zu übertragen. 1927 schrieb Steinacker: „Ich bin kein Anhänger [Arthur de] Gobineaus. Ich glaube nicht, dass Rasse Schicksal ist. In der Geschichte ist oft der Geist stärker gewesen als das Blut. Sobald ein auf natürlichen Grundlagen erwachsenes Volkstum zum Bewusstsein seiner selbst gekommen ist, wird dies Bewusstsein die stärkste unter den formalen Kräften seiner weiteren Geschichte sein. Die stärkste, nicht die einzige. Denn die ursprünglichen, natürlichen Bildungsfaktoren bleiben in der Tiefe lebendig. Blut ist, sagt Goethe, ein besonderer Saft" 130 Insbesondere seit 1934 hielt Steinacker jedoch die Rassenlehre für eine ernstzunehmende Wissenschaft und anerkannte die Anschauungen Gobineaus131. Damit übernahm er spekulative und irrationale Elemente in seine „Wissenschaftlichkeit". „Was wir von jeher gefühlt haben, die tiefe Verwurzelung im Geblüt, das scheint uns die neueste Naturwissenschaft zu bestätigen. Zwar, was heutzutage verfrüht als angewandte Rassenkunde verzapft wird, gehört wissenschaftlich oft in das Kapitel vom groben Unfug. [...] Aber das eine ist schon jetzt sicher: die Erbmasse, deren Modifizierbarkeit bestimmte Grenzen hat, ist der Mutterboden, aus dem gewisse unveränderliche Wesenszüge eines Volkes erwachsen"132, postulierte er und zeigte damit seine prinzipielle Zustimmung zu rassistischen Deutungsmustern. Nach Steinacker müssten sich die deutschen Gruppen der „Blutsgrundlage" besinnen, um der Gefahr einer „Umvolkung" entgegenzuwirken. Die Sippenforschung stellte für ihn ein wichtiges Mittel zur „Volksbildung" dar: „Sippenforschung ist für den einzelnen Menschen

128 Ebd. 9. Hervorhebung nach Vorlage. 129 Harold S T E I N A C K E R , Ankündigung zu seinem Vortrag: Historische Politik, in: Programm zu den volkstümlichen Universitätskursen Oktober-November 1908 (Wien 1908) 7. 130 Harold STEINACKER, Volk, Staat und Heimat und ihr Verhältnis bei den romanisch-germanischen Völkern. Vortrag am Internationalen Historikerkongreß in Oslo, in: Bulletin of the international comittee of historical sciences number 7 (1929) 273-301, wieder abgedruckt in DERS., Volk und Geschichte. Ausgewählte Reden und Aufsätze (Brünn/München/Wien 1943) 42-67, hier 44. 131 Harold STEINACKER, Die Volksdeutsche Geschichtsauffassung und das neue deutsche Geschichtsbild (Stoffe und Gestalten der deutschen Geschichte 2, 11. Heft, Leipzig 1937), wieder abgedruckt in: DERS., Volk und Geschichte (wie Anm. 130) 111-148, hier 140f. 1 3 2 Harold STEINACKER, Österreich und die deutsche Geschichte. Vortrag auf dem Deutschen Historikertag 1 9 2 7 , in: Vergangenheit und Gegenwart 7 . Erg.-Heft ( 1 9 2 7 ) 1 0 5 - 1 4 1 , wieder abgedruckt in: DERS., Volk und Geschichte (wie Anm. 130) 1-41, hier 12.

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das Mittel, sich zu seinem Ursprung zu bekennen und zurückzufinden. Sippenkunde dient demselben Zweck für alle die deutschen Volksgruppen, die wir draußen haben. Sie ist ein wichtiges Mittel für die Volksbildung. Es gilt, in uns allen ein doppeltes Bewußtsein herauszuarbeiten, 1. daß ein Volk nicht nur aus Familien sich zusammensetzt, sondern durch Abstammung und noch mehr durch Konnubium eine ganze Familie ist; und 2. daß es für ein Volk das beste ist, was auch für jeden Einzelnen von uns das beste ist, - das, was man ist, auch ganz und mit Bewußtsein zu werden"133. Die deutsche Geschichte sei nun „eine Geschichte des deutschen Volkstums in seiner ganzen räumlichen Ausdehnung, vor allem aber im ganzen Umfang seines Wesens - eine Geschichte also des deutschen Menschen"134. In der Geschichte gehe es nicht um Staaten, „sondern um die Völker"135. „Mit einem Wort, daß Volk vor Staat geht. Das ist unser Grundgesetz"136. Überhaupt war Steinacker der Meinung, das „Volk ist alles, der einzelne ist nichts, die Stämme, und Stände und Klassen, die Konfessionen, Parteien, Dynastien, Staaten sind nichts neben dem Volk; das Volk ist Ende und Anfang von allem"137. Steinacker betonte, wie andere Vertreter der neuen „Volksgeschichte", dass Geschichte nicht von einer staatlichen, sondern von einer „volklichen" Perspektive aus betrachtet werden sollte, und beschäftigte sich daher auch mit dem Kampf um die Vorherrschaft zwischen Österreich und Preußen: „Lernen wir doch endlich zwischen nationalem Staat und Nationalstaat zu unterscheiden! Der Staat Bismarcks, den wir mit einem der größten Schritte unserer Entwicklung erreichten, war ein nationaler Staat; ein Nationalstaat, der den ganzen deutschen Volksboden umfaßte, war er nicht. Den haben wir erst zu erreichen. Ein großes Ziel; und doch, selbst er kann das Endziel der deutschen Geschichte nicht sein. [...] Zweck und Ziel unserer Geschichte aber liegen nicht in der Staatseinheit, sondern durch sie und über sie hinaus in der deutschen Volkseinheit und im deutschen Raum"138. Und weiter: „Von einer solchen volklichen Geschichtsauffassung erwarten wir Österreicher wieder ein volles, ein tieferes Verständnis für Österreichs Stellung in der deutschen Geschichte." Er meinte, „daß aufjenem alten Österreich die eine große Aufgabe des Deutschtums vor allem geruht hatte, nämlich die Behauptung des deutschen Kulturbodens und der führenden Stellung im mitteleuropäischen Raum, die politische und kulturelle Bindung möglichst vieler

133 Harold STEINACKER, Abschlußbericht der Sippenkundlichen Arbeitstagung [Juni 1938 in Stuttgart], in: Deutschtum im Ausland 21 (Juli 1938) 403-404, hier 404. 134 Harold STEINACKER, Deutschtum und Österreich im mitteleuropäischen Raum, in: Mitteilungen der Deutschen Akademie 5 (1929) 323-346, wieder abgedruckt in: DERS., Volk und Geschichte (wie Anm. 130) 246-275, hier 249, sowie in: DERS., Austro-Hungarica (wie Anm. 2) 154-175. 135 Harold STEINACKER, Deutschtum (wie Anm. 134) 251. 136 Harold STEINACKER, Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung als Aufgabe, in: Vorträge der Dritten Reichstagung des NS-Lehrerbundes für Geschichte in Eger vom 30. März bis 3. April 1939 (Vergangenheit und Gegenwart Erg.-Heft 11, Leipzig/Berlin 1939) 4-31, hier 10. Zu dieser Tagung siehe auch LERCHENMÜLLER, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 88) 81 f. 137 STEINACKER, Geschichtsauffassung (wie Anm. 136) 9. 138 STEINACKER, Österreich (wie Anm. 132) 22f.

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Kräfte des subgermanischen Europa, die heute fast alle in der Waagschale der Gegner Deutschlands liegen"139. Für Steinacker stand die geschichtliche Sendung beider deutschen Großmächte und ihre Stellung in Mitteleuropa als einer Macht zwischen Westeuropa (Frankreich) und dem Osten im Zentrum seiner Ausführungen. Er fürchtete die zentrifugalen Kräfte der deutschen Einzelstaaten und beklagte die daraus resultierenden „widerstreitenden sonderstaatlichen Geschichtsauffassungen"140. Ausschlaggebend waren der Zusammenbruch und die Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg, die die Richtung seiner „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung" bedingten141: Er favorisierte die großdeutsche Lösung mit einem Anschluss Österreichs an Deutschland. Nur die „gesamtdeutsche Auffassung, welche das ganze Deutschtum, wo immer es wohnt, als Schicksalsgemeinschaft faßt, wie sie uns im Krieg zum Bewußtsein kam, wie sie unbewußt von jeher bestand, kommt über diese Gegensätze hinweg und kann allen Teilen der Nation gerecht werden"142. Demnach habe sich im Lauf der Geschichte „entgegen allen fremdländischen Bestrebungen immer wieder der Wille der Einigkeit" gezeigt, in dem „sich deutscher Stamm zu deutschem Stamme, deutsches Volk zu deutschem Kaiser schloß". Der Anschluss sei daher eine Notwendigkeit und Zwangsläufigkeit, denn „gemeinsames Volkserleben, gemeinsamer Kulturwert und Kulturwille aller die zusammen, die gleichen deutschen Stammes sind, und dieses durch mehr als ein Jahrtausend gewebte Band können selbst die widersinnigsten Siegerkrallen nicht zerreißen"143. Durch den Nationalsozialismus könnte nun der Partikularismus des „deutschen Volkes" überwunden werden144. Für Steinacker war Hitler derjenige, der dies vollbringen könne. Es sei „kein Zufall, sondern höchst sinnvoll, daß der

Ebd. 3 3 . Vgl. dazu auch O B E R K R O M E , Volksgeschichte (wie Anm. 7 8 ) 7 3 - 7 6 . 140 Harold STEINACKER, Vom Sinn einer gesamtdeutschen Geschichtsauffassung, in: Deutsche Rundschau 57 (1931) 182-196, wieder abgedruckt in: DERS., Volk und Geschichte (wie Anm. 130) 89-110, hier 94. 141 Vgl. dazu ÖAW, Archiv, PA Steinacker, WL. 142 STEINACKER, Vom Sinn (wie Anm. 140) 95. 143 Zitiert nach Michael G E H L E R , Die Studenten der Universität Innsbruck und die Anschlußbewegung 1918-1938, in: Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen 1918-1938, hg. v. Thomas A L B R I C H , Klaus EISTERER, Rolf STEININGER (Innsbrucker Forschungen zur Zeitgeschichte 3, Innsbruck 1988) 75-112, hier 79f. Der Jahrestag der deutschen Reichsgründung von 1871 wurde an der Universität Innsbruck mit einem „dies academicus" gefeiert. Rektor Anton Steyrer hielt eine Rede, in der er die Jugend aufforderte, in der Zukunft „die kleinen Pflichten des täglichen Lebens, die Schaffung persönlicher innerer Werte nicht zu vergessen, um so mit allen Kräften am großen Volksendziel mitwirken zu können". Die darauffolgende Rede Steinackers über die Entwicklung des deutschen Staatsgedankens schloss dieser mit dem Aufruf an alle Versammelten, für ein drittes, ein größeres Deutsches Reich zu arbeiten, zu dem auch wir Deutschösterreicher gehören. Harold STEINACKER, Geschichtliche Notwendigkeiten deutscher Politik. Rede zur Reichsgründungsfeier der Universität Innsbruck am 18. Januar 1921, in: Historische Blätter 1 (1923) 31-46, wieder abgedruckt in: DERS., Volk und Geschichte (wie Anm. 130) 171-189, hier 187. 139

144 Harold STEINACKER, Aufstieg und Niedergang des Engländertums, in: Schulungsvorträge aus der Erzieherforschung des NS-Lehrerbundes im Kriegsschuljahr 1939/40, hg. v. NSDAP Gauleitung Tirol-Vorarlberg, Amt für Erzieher, von den Abteilungen Schulung, Erziehung und Unterricht (1939) 40-50, hier 42.

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Schöpfer des Nationalsozialismus und heutige Führer des Deutschen Reiches aus Österreich kommt. In Österreich ist der Gedanke der nationalen Schutzvereine geboren, und österreichische Historiker haben wohl am frühesten einer grundsätzlich gesamtdeutschen Geschichtsauffassung das Wort geredet. [...] Die gesamtdeutsche Geschichtsauffassung verträgt sich nicht nur mit geschichtlicher Gerechtigkeit, sondern verlangt sie geradezu"145. Unmittelbar nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland stellte Steinacker fest, dass dies die einzige logische Folge des Ersten Weltkrieges war und nur von Hitler bewerkstelligt werden konnte: „Da endlich begriff das deutsche Volk, daß es sich selbst helfen müsse, da erwachte der Wille zu jener Einheit, die im Haß der Gegner wider alles, was deutsch hieß, gleichsam vorweggenommen war. [...] Und ein unbekannter junger Frontsoldat ergriff den Gedanken vom Volk als dem höchsten Wert, den Volksgedanken, der in seiner Hand zum Hebel eines ungeheuren Umschwunges werden sollte. Der völkische Kampf in Österreich und dann das alte deutsche Heer, in dessen Reihen er als Kriegsfreiwilliger kämpfte, das waren die entscheidenden Erlebnisse Adolf Hitlers. Es wird immer ein Wunder bleiben, wie die ganze Summe der geschichtlichen Erfahrung unseres Volkes sich in seinem Haupt zur überwältigenden Klarheit einiger weniger einfacher Grundgedanken läuterte, und wie der aus Krieg und Nachkrieg hervorbrechende Wille der Nation zur politischen Einheit und sozialen Gemeinschaft sich in ihm sammelte zum hinreißenden Schwung seines Führerwillens, der die Fahne erhob: Ein Volk, ein Reich und betrachtete den Anschluss als Sieg der Idee völkischer Selbstbestimmung"146. Außerdem wähnte sich Steinacker in seinen Anschauungen durch Hitler bestätigt, denn schon 1927 hatte er auf dem Deutschen Historikertag in Graz Deutschland als die einzige Vormacht in Mitteleuropa angesehen, das nun durch Hitler verwirklicht worden war: „Weil uns ein Mann erstanden ist, der das Buch der deutschen Geschichte aufgeschlagen mit einem durch die Erfahrungen des österreichischen Volkstumskampfes und das Erlebnis des Weltkrieges gereiften Sinn, und das als größter deutscher Historiker die Summe der deutschen Geschichte gezogen hat; und weil dieser größte Historiker zugleich der größte Staatsmann unserer Geschichte ist. Er hat das Grundgesetz unserer Geschichte nicht nur erkannt, sondern auch durch die Tat verwirklicht. Im Lichte seiner Taten haben wir nicht nur in der Gegenwart zu leben und für die Zukunft zu arbeiten, sondern auch unsere Vergangenheit, unsere Geschichte zu begreifen"147. In seiner Rede als Rektor anlässlich des 50. Geburtstages Hitlers am 20. April 1939 legte Steinacker dar, dass die Jahre 1 8 8 9 - 1 9 1 9 - 1939 wichtige Schlüsseljahre, sowohl für Hitler als auch für Steinacker selbst, seien: 1889, das Geburtsjahr Hitlers, desjenigen Mannes, der den deutschen Einheitsstaat nun verwirklichte, 1919, das Jahr der „Selbstberufung zu seiner Sendung" und 1939 das erste Jahr „der Ernte und Vollendung"148. Steinacker schloss seine Rede: „Hier liegt die 145 STEINACKER, Geschichtsauffassung (wie Anm. 131) 131.

146 Harold STEINACKER, Der österreichisch-deutsche Zusammenschluß und das Außendeutschtum, in: Deutschtum im Ausland 21 (April 1938) 153-157, hier 155. 147 STEINACKER, Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung (wie Anm. 136) 9. 148 Harold STEINACKER, 1889-1919-1939. Rektorsrede am 50. Geburtstag des Führers, hg. v. der

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ungeheure Bedeutung des Führers für die anderen Völker: Er gehört nicht nur uns, sondern der Welt. Und ihm gehört nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Zukunft. Aber den Segen seiner weltgeschichtlichen Wirkung wird doch in erster Linie sein Volk erfahren, so wie es auch vor allem die Aufgabe und das Glück hat, mit ihm am Schutz des Weltfriedens und der Schaffung einen neuen Europas mitzuarbeiten. Wir beugen uns daher heute an seinem 50. Geburtstag in doppelter unauslöschlicher Dankbarkeit vor ihm. Adolf Hitler, der Führer und Reichskanzler Großdeutschlands, der Baumeister einer neuen Weltordnung des Friedens und der Gerechtigkeit, Sieg Heil, Sieg Heil, Sieg Heil!"149 Außerdem sei durch Hitler die gesamtdeutsche Geschichte eine „Volksbewegung" geworden und damit „wieder die Voraussetzungen für eine echt politische Geschichtsschreibung" gegeben150. Diese persönliche Verehrung Hitlers zeigte sich etwa auch in der Umgestaltung der Aula der Innsbrucker Universität und kommt auch in den nächsten Jahren immer wieder zum Ausdruck. 1945 wollte er das Ende des Krieges nicht wahrhaben, er beendete seine Briefe noch im Frühjahr 1945 mit „Heil Hitler!" und nach dem Selbstmord Hitlers sagte er nur: Die Idee war richtig, aber Hitler hat sie verraten151. Steinacker war lange davon überzeugt, dass Deutschland den Krieg gewinnen würde und überlegte sich eine Neuordnung Europas für die Nachkriegszeit152. Diese sollte nach dem Prinzip des „Lebensraumes" durchgeführt werden, dadurch sei ein friedliches Nebeneinander der Völker möglich. Von seiner „völkischen" Geschichtsauffassung ging Steinacker auch nach dem Krieg nicht ab. In mehreren Vorträgen und Reden, die er auf Veranstaltungen des VDSt und anderer nationaler Gruppierungen hielt, bezog er sich immer wieder darauf: Volkstum ist Inhalt - Staat ist Form; Volkstum wächst - Staaten werden gemacht, Völker sind unvergänglich - Staaten vergänglich153. Steinackers Haltung zum Antisemitismus ist durchaus ambivalent. Er unterhielt private Kontakte zu jüdischen Freunden und Kollegen, für die er sich fallweise einzusetzen nicht scheute154. Nach der Übernahme des Rektorats griff er einerseits in Personalentscheidungen ein und unterstützte in einigen Fällen Kollegen, die keine

Universität Innsbruck (Innsbruck 1939), wieder abgedruckt in: DERS., Volk und Geschichte (wie Anm. 130) 378-395, hier 382f. 1 4 9 STEINACKER, Rektorsrede (wie Anm. 1 4 8 ) 3 9 5 . 150 STEINACKER, Weg und Ziel (wie Anm. 64) 157. 151 Steinacker nach der Aussage seines Sohnes Dr. Eberhard Steinacker, zitiert nach SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 82, die das Schreiben Dr. Eberhard Steinackers anfuhrt. 152 Harold STEINACKER, Vorstufen des neuen Europa, in: Volkstumsfragen im Nordkarpatenraum 2, hg. v. Institut für Heimatforschung in Käsmark (1944) 1-12. Diesen Vortrag hielt Steinacker im September 1943 anlässlich der Verleihung des Prinz-Eugen-Preises an seinen Bruder Roland Steinacker in Käsmark. 1 5 3 Zitiert nach SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 88, die eine Rede von Gerulf Stix von 1954 anfuhrt, in der dieser die Anschauungen Steinackers hervorhob. Stix, geb. 1935, wurde während seines Studiums Mitglied im Verein Deutscher Studenten (VDSt), war Mitglied der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) und 1971-1990 Nationalratsabgeordneter, 1983-1990 Dritter Präsident des Nationalrats. 154 Vgl. SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) Iii., mit der Wiedergabe eines Schreibens Dr. Eberhard Steinackers (1907-1993).

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einwandfreien Ariernachweise beibringen konnten155, äußerte sich aber andererseits mit abwertenden antisemitischen Anmerkungen über ihm nicht genehme Personen156. Im Zusammenhang mit seiner gesamtdeutschen Geschichtsauffassung, die sich die Untersuchung und Erforschung des „deutschen Volkskörpers" zum Ziel setzte, machte er bis zum Anschluss Österreichs nur gelegentlich antisemitische Bemerkungen. Offensichtlich wurde sein Antisemitismus jedoch in einem Vortrag von 1940, in dem er sich mit der Geschichte und Entwicklung Englands auseinander setzte und in einer biologistisch-rassistischen Argumentation den Abstieg Englands in seinem Kapitalismus, den er mit dem Judentum in Verbindung brachte, begründete157. Einen weiteren Schwerpunkt in seiner Geschichtsauffassung bildeten die Aufgaben der Geschichtsschreibung und des Geschichtsunterrichts158. Darin forderte er eine Zusammenarbeit der Naturwissenschaften mit den Geisteswissenschaften, um den „deutschen Volkskörper" zu erforschen. „Das neue Zeitalter der Volksgemeinschaft und der politischen Totalität verlangt und erzeugt eine neue, ganzheitliche, volksbezogene Wissenschaft. Die Aufspaltung der Wissenschaft in Fächer, der Fächer in den Spezialismus der Gebiete, der Schulen, der einzelnen Forscher soll einer neuen universitas litterarum Platz machen"159. Geschichtsschreibung selbst sei subjektiv, „die Historie ist, ob sie will oder nicht, ob sie es zugibt oder zu tarnen sucht, immer vom Weltanschaulichen und Politischen abhängig"160, und „Historie ist ein Zweifaches: Forschung und Deutung"161. Geschichte sei „eben nicht nur Geist, sondern auch Interesse und Wille", sie lebe stets in der Spannung zwischen „angewandter, d.h. willenhaft auf das Leben einwirkender und reiner, d.h. nach bloßer Erkenntnis und Verständnis strebender" Wissenschaft162. 155 Vgl. etwa im „Fall Breitner": Es schien bei dieses Umständen nicht zu verantworten, eine weitere wichtige Lehrkanzel durch eine Beurlaubung des Vorstandes einem Provisorium auszusetzen [...]. Dies alles umso mehr als in Fällen, wo nur bei einem Grosselternteil nicht die Gewissheit, sondern nur die Möglichkeit nichtarischer Abstammung besteht, eine günstige Entscheidung des Ministeriums betreffs Belassung im Amt durchaus möglich und in diesem Fall auch wahrscheinlich schien. Schreiben Steinackers an den Staatskommissar beim Reichsstatthalter SS Oberführer Dr. Otto Wächter, Wien, vom 25.05.1939. UAI, NL Steinacker, Kt. 1, Universitätsangelegenheiten, zitiert nach SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 106. Vgl. ebd. 106 109, ausführlicher zu diesem Fall. 156 Vgl. etwa im „Fall Gams": [...] Mein persönlicher Eindruck von Dr. Gams, der die mit großer Sicherheit aufgestellten Behauptungen über seine arischen Großeltern nicht zu beweisen vermochte [...], ist der einer Unbedenklichkeit und Anmaßung, die man angesichts seines physischen Typus wohl als jüdisch bezeichnen kann; zitiert nach GOLLER, OBERKOFLER, Entnazifizierung (wie Anm. 40) 34. Zum „Fall Gams" vgl. auch SCHADER, Steinacker (wie Anm. 1) 109-111. 157 STEINACKER, Aufstieg (wie Anm. 144) 40-50; DERS., Gedenkrede auf Kleo Pleyer, in: Volk und Geschichte (wie Anm. 130) 541-556, hier 552, hebt Steinacker besonders das Bemühen und die Verdienste Pleyers um die Volksforschung hervor, aber auch dessen Kampf gegen alle fremden Mächte und Geister im deutschen Volk - gegen den zersetzenden jüdischen Geist, gegen jüdische wie nichtjüdische kapitalistische Ausbeutung [...]. 158 Vgl. dazu bes. STEINACKER, Die Volksdeutsche Geschichtsauffassung (wie Anm. 131) 135-148. 159 STEINACKER, Weg und Ziel (wie Anm. 64) 162. 160STEINACKER, Weg und Ziel (wie Anm. 64) 150. 161 STEINACKER, Ansprache Mayer (wie Anm. 86) 3. 162 Harold STEINACKER, Historia vitae magistra?, in: Vergangenheit und Gegenwart 21 (1931) 1 -20, wieder abgedruckt in: DERS., Volk und Geschichte (wie Anm. 130) 68-88, hier 77; dazu vgl. Ursula

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V. Zusammenfassung Die produktivste Zeit der wissenschaftlichen Tätigkeit Steinackers lag vor 1945. Bis zum Ersten Weltkrieg standen, ausgehend von seinem Studium der Alten Geschichte und der fundierten hilfswissenschaftlichen Ausbildung am IÖG, frühmittelalterliche und hilfswissenschaftliche Themen sowie Editionen im Vordergrund seiner Arbeiten, die auch in zahlreiche Publikationen mündeten. Insgesamt konnte er sich ein gutes Renommee als Hilfswissenschaftler der von Theodor von Sickel am IÖG begründeten Wiener Schule aufbauen, mit seinen Studien zu den Privaturkunden legte er durchaus fortschrittliche Überlegungen dar, etwa durch die Anregung, in der Urkundenforschung die in seiner Zeit noch weniger verbreiteten Fotografien zu verwenden. Biografisch begründet - durch die eigene Herkunft und die Aktivitäten des Vaters - war Steinackers Beschäftigung mit dem Themenkreis Ungarische Geschichte und Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie. Steinacker setzte sich mit der ungarischen Verfassung auseinander und entkräftete die These der Existenz einer uralten, weit ins Mittelalter zurückreichenden ungarischen Verfassung, die ein Kernstück des Nationalbewusstseins der Ungarn darstellte. Das Ende des Ersten Weltkriegs und die mit dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie, als deren Anhänger er sich mehrmals bezeichnete, verbundenen politischen Änderungen in Europa wurden auch für den Wissenschaftler Steinacker entscheidend. Er selbst bezeichnete das Jahr 1919 als Schlüsseljahr, denn damals habe er sich der „gesamtdeutschen" bzw. „Volksdeutschen" Geschichtsauffassung zugewandt und versucht, in vielen seiner Werke diese Anschauungen darzulegen. Damit gilt Steinacker als früher Vertreter dieser Ansichten, da Heinrich von Srbik erst 1929 von einer „gesamtdeutschen" Geschichtsauffassung gesprochen hat163. Von der politischen Gegenwart bewegt verließ Steinacker zunehmend das Terrain der Editionen und der Hilfswissenschaften und entwickelte den Begriff des „Volksdeutschen", der für den Nationalsozialismus zu einem propagandistischen Schlüsselbegriff werden sollte. Seinen Begriff des „Volkes" und „Volkstums" legte er in Aufsätzen und zahlreichen Reden und Vorträgen dar. Österreich sei ein Teil des deutschen Volkes, und damit verbunden war seine Forderung nach dem Anschluss Österreichs an Deutschland, die er dann durch Hitler erfüllt sah. Überhaupt war Hitler, den er geradezu glühend verehrte, für Steinacker der einzige, der solch eine Mission erfüllen konnte und nur ihm sei die Verwirklichung seiner, Steinackers, Geschichtsauffassung zu verdanken. Die grundlegenden Aufsätze und Reden zu diesem Thema konnte Steinacker, „Anregungen aus dem Schülerkreis folgend", 1943 WOLF, Litteris et patriae. Das Janusgesicht der Historie (Frankfurter Historische Abhandlungen 37, Stuttgart 1996) 167. 163 Heinrich von SRBIK, Gesamtdeutsche Geschichtsauffassung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 8/8 (1930) 1-12. Siehe auch LERCHENMÜLLER, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 88) 51, der auf einen Beitrag von Günther Franz über die Geschichtswissenschaft im Dritten Reich aus dem Jahr 1981 hinweist, in dem dieser aufzeigt: „Es gehört zu den Seltsamkeiten der Zeit, dass von der NSDAP nicht so sehr die Volksdeutsche Geschichtsauffassung Steinackers, der aus Überzeugung Nationalsozialist war, sondern die großdeutsche Geschichtsauffassung Heinrich von Srbiks herausgestellt wurde".

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im Sammelband „Volk und Geschichte", den er seinem 1939 verstorbenen Sohn Meinhard, „Führer des Bannes Tirol 1935/36", und dem 1943 gefallenen überzeugten Nationalsozialisten Kleo Pleyer widmete, neu veröffentlichen164. Im Vorwort des Verlages wurde sowohl direkt als auch indirekt dargelegt, welchen Weg der Historiker Steinacker zurückgelegt hatte und wo er 1943 mit seinem Werk verortet wurde: „Alle quellenkritischen, paläographischen und diplomatischen Untersuchungen, alles was rein gelehrte Forschung darstellt, ist beiseite gelassen. Nur die Beiträge zur Begründung eines gesamtdeutschen Geschichtsbewußtseins, zur Formung eines neuen politischen und sozialen Willens und zur Selbstbesinnung der deutschen Geschichtswissenschaft auf ihre wahren Ziele und Wege, sind hier mit den Untersuchungen zur Problematik Mitteleuropas als des politischen Raumes der Deutschen vereinigt. [...] Mehr oder minder sind sie [die Beiträge] sämtlich Variationen über das Thema ,Volk und Geschichte'. Sie lassen erkennen, wie sich eine gesamtdeutsche und volksbezogene Grundhaltung immer vollkommener aus der Vorstellungswelt der Vorkriegszeit löst und wie aus einer von gelehrten Idealen gelenkten Wissenshistorie immer ausgeprägter eine von politischen Idealen getragene Willenshistorie wird"165. Die Amtszeit als Rektor der Universität Innsbruck bildete zweifelsohne den Höhepunkt der akademischen Laufbahn Steinackers. Dieses Amt wusste er eindrucksvoll im Sinne des Nationalsozialismus zu inszenieren, als er 1938 seine Antrittsrede nicht wie üblich im Amtstalar, sondern in SA-Uniform hielt oder etwa die Umgestaltung der Universitätsaula betrieb. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges brach für Steinacker eine Welt zusammen: alles, wofür er „gekämpft" hatte, war verloren. Steinacker hielt aber an seinen früheren Aussagen und Taten fest und machte sich in seinen Schriften nach 1945 Gedanken, warum der Nationalsozialismus nicht funktioniert hatte. Die ungeheuren Verbrechen des Nationalsozialismus wollte er nicht wahrhaben und verleugnete dementsprechend bis ins hohe Alter den Holocaust. Wissenschaftlich zog er sich mit anderen dem Nationalsozialismus nahe stehenden Historikern in die Südostforschung zurück und konnte 1964 kurz vor seinem Tod noch die volle Rehabilitierung als Wissenschaftler mit der Verleihung der Ehrenmitgliedschaft der ÖAW erleben, die ihm große Freude bereitete, da er seine im Zeichen der „gesamtdeutschen" Geschichtsauffassung stehende Tätigkeit immer als wissenschaftlich und nicht als politisch betrachtete.

164 STEINACKER, Volk und Geschichte (wie Anm. 130), mit der Widmung Vif. Ebd. VI. OBERKROME, Volksgeschichte (wie Anm. 7 8 ) 7 4 und 7 6 , wertet Steinackers volksgeschichtliche Werke wie folgt: „In Innsbruck gipfelten die Initiationsbemühungen um eine methodisch neu angelegte Volkshistorie in zwei unterschiedlichen, gleichwohl miteinander verwandten Varianten. Helbok z. B. betrieb die empirische, landes- und volkskundliche Erforschung des engeren alpinen Heimatgebietes, während Steinacker Untersuchungen im Rahmen der räum- und ethnohistorischen Ostforschung anstellte". In Steinackers „Darstellungen vermischten sich präjudizierende Wertungen, wie der Hinweis auf die gewissermaßen volkscharakterlich bedingte Indolenz der Slawen, mit bemerkenswert rationalen Urteilen". „Steinackers Interpretation wurde allerdings dubios, als er primär ,die Peitsche der Awaren' für die sozioökonomische Rückständigkeit Osteuropas verantwortlich machte".

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Hans Pirchegger (1875-1973) „Der" Landeshistoriker von Alois Kernbauer

Abb. 12: Hans Pirchegger

I. Wissenschaftlicher Werdegang Hans (eigentlich: Johann) Pirchegger wurde in Graz am 30. August 1875 geboren, verbrachte seine Kindheit und Jugend überwiegend in Marburg (Maribor), wohin sein Vater Simon Pirchegger, „Conducteur-Zugsfuhrer" der Südbahn, 1884 versetzt worden war1. Die Kindheits- und Jugendjahre in jenem Teil des Herzogtums Steiermark, der nach 1918 als Slowenien Teil des Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen wurde, prägten ihn offensichtlich sehr tiefgehend2. Pirchegger besuchte 1886-1894 1 2

Die Großeltern väterlicher- wie mütterlicherseits waren Bauern in der Obersteiermark bzw. in Kärnten. Hans Pircheggers Leben und Werk ist mehrfach behandelt worden und kann im Wesentlichen, in den Grundzügen also, als erforscht gelten. Der im Steiermärkischen Landesarchiv befindliche NL Pircheggers wird von Frau Dr. Dorothea Wiesenberger betreut. Ihre künftigen Forschungsergebnisse, die auf einer Fülle von zusätzlichen, aus diesen Archivalien zu ziehenden Einsichten aufbauen, werden in manchem ein weitaus schärferes und vor allem differenzierteres Gesamtbild ergeben. Dies gilt im Besonderen für Fragen der Weltsicht und der politischen Einstellung in aller Komplexität, wie sie in autobiografischen Aufzeichnungen ersichtlich ist. Im NL befinden sich Hans Pircheggers überaus

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das Staatsobergymnasium in Marburg, wo er 1894 maturierte. Anschließend nahm er an der Universität Graz das Studium der Geschichte3 und der Geografle4 auf und lebendig geschriebene „Lebenserfahrungen"; diese mehr als 300 eng beschriebene Manuskriptseiten umfassenden Lebenserinnerungen in zwei Teilen reichen bis zum Jahr 1955 und entfalten den ganzen Reiz dieser autobiografischen Quellengattung, auf deren Edition wir uns freuen dürfen und die dadurch von besonderem Wert sind, als sie sich für die Zeit ab dem ersten Weltkrieg nach Pircheggers eigener Aussage („Lebenserfahrungen" I, fol. 87) auf regelmäßige Tagebuchaufzeichnungen stützen. - In meinem Beitrag wird Neuland insofern betreten, als Aspekte seines akademischen Werdeganges auf der Basis bislang noch nicht ausgewerteter Quellen des Universitätsarchivs Graz und des Österreichischen Staatsarchivs, Allgemeines Verwaltungsarchiv, in aller hier gebotenen Kürze beleuchtet werden, um im Anschluss an bisherige Forschungen zusätzliches Licht auf den Werdegang Pircheggers zu einem bedeutsamen steirischen Landeshistoriker zu werfen. Ein ausführlicheres Bild wird von Frau Dr. Wiesenbergers Forschungsergebnissen auf der Basis des NL zu erwarten sein. - Grundlegend sind: Ferdinand T R E M E L , Hans Pirchegger und die geschichtliche Landeskunde der Gegenwart, in: ZHVSt 47 (1956) 137-47; DERS., Hans Pirchegger (1875-1973). Ein Lebensbild des großen steirischen Forschers und Lehrers. Mit einem Werksverzeichnis von Anton Leopold Schuller (Graz 1975). Siehe weiters Hans PIRCHEGGER [Selbstdarstellung], in: Österreichische Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen 1-2, hg. v. Nikolaus G R A S S (Innsbruck 1950/51), hier 1 77-87; Dorothea W I E S E N B E R G E R , Der Nachlaß des steirischen Landeshistorikers und Lehrers Hans Pirchegger (1875-1973), in: FS Gerhard Pferschy zum 70. Geburtstag, redigiert v. Gernot Peter OBERSTEINER unter Mitarbeit von Peter WIESFLECKER (Forschungen zur Geschichtlichen Landeskunde der Steiermark 42 = ZHVSt Sonderband 25 = Veröff. des Steiermärkischen Landesarchives 26, Graz 2000) 243300; DIES., „Es machen Tausende so ..." Über die Bedeutung der Kartoffel als Grundnahrungsmittel in Notzeiten am Beispiel der Familie Hans Pirchegger, in: ebd. 649-653; Gernot Peter OBERSTEINER, „Hochgeehrter Herr Archivdirektor!" Hans Pirchegger (1875-1973) und Anton Meli (1865-1940) im Spiegel ihrer Briefe und Aufzeichnungen, in: Bauern, Bürger, hohe Herren, hg. v. Josef RIEGLER (Veröff. des steiermärkischen Landesarchivs 34, Graz 2005) 85-104. Zuletzt siehe Fritz FELLNER, Doris A. CORRADINI, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographisch-

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bibliographisches Lexikon (VKGÖ 99, Wien 2006) 318f. StLA, NL Hans Pirchegger (= NL HP), K 12, H 208: Teil I 1875-1925; K 12, H 242: Teil II: 1926-1955. Mein herzlicher Dank gilt an dieser Stelle Frau Dr. Dorothea Wiesenberger, auch Herrn Dr. Gernot Obersteiner, Steiermärkisches Landesarchiv. Im WS 1895/96 hörte er bei Johann Loserth eine Vorlesung über das „Zeitalter der Reformation" und eine über „Diplomatik", im darauf folgenden SS besuchte er dessen Seminar über „Gegenreformation", im WS 1896/97 das Seminar über die „Französische Revolution", im SS 1897 das Seminar über die „Merowinger" und die Seminarübungen im SS 1898 sowie dessen Vorlesung über die „Kreuzzüge". Beim Althistoriker Adolf Bauer besuchte er im WS 1895/96 das Kolleg über die „Geschichte des Orients" und dessen Übungen im historischen Seminar. Im SS 1896 hörte er Bauers Vorlesung über „Griechische Geschichte", im WS 1896/97 sowie auch im SS 1897 wiederum die Übungen im Seminar zur griechischen und zur römischen Geschichte, im darauf folgenden WS die vierstündige Vorlesung über die „Geschichte des Altertums" und zählte auch im SS 1898 zu den Studenten Bauers. Hans Zwiedineck-Südenhorsts Vorlesung „Geschichte des 19. Jahrhunderts" hörte er im SS 1896. Bei Franz von Krones besuchte er im SS 1896 das Seminar über das „Reformationszeitalter", im WS 1896/97 die Vorlesung über die „Vorgeschichte Österreichs", im WS 1897/98 dessen Seminar, im SS 1898 das Kolleg über „österreichische Geschichte". Im WS 1897/98 trat Anton Meli mit seiner Vorlesung „Steiermärkische Quellen des Mittelalters" als akademischer Lehrer in den Gesichtskreis Pircheggers, dessen „Praktische Übungen" er im SS 1898 besuchte. Im SS 1894 und im SS 1896 besuchte er bei Eduard Richter „Geographische Übungen", im WS 1896/97 dessen Seminar über die „Geographie von Deutschland", im SS 1897 besuchte er Richters Seminar und dessen Vorlesung über „Gletscher und Eiszeit", im folgenden WS 1897/98 Richters „Geographische Übungen" und Vorlesung „Formen der Erdoberfläche", im SS 1898 wiederum die „geographischen Übungen" und die Vorlesung über „Erdoberfläche". Dazu kam im SS 1898 mit

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hatte damit seine ursprüngliche Absicht, Geschichte und klassische und/oder deutsche Philologie zu studieren, möglicherweise angeregt durch ein „Beratungsgespräch" mit keinem geringeren als dem Dekan Wilhelm Gurlitt5 im Verlauf der Inskription abgeändert6. Dabei dürfte wohl der Berufswunsch Pircheggers eine Rolle gespielt haben, wobei die Lehramtsprüfungsordnung ganz bestimmte Fächerkombinationen vorsah. Seine Interessen blieben aber weit gefächert7, und er besuchte auch Lehrveranstaltungen aus klassischer und vor allem aus deutscher Philologie8 und Kunstgeschichte9, die ihn besonders anzogen, und im Hinblick auf das Nebenrigorosum aus Philosophie10. Es lohnt sich, dem akademischen Bildungsgang Pircheggers in dieser Zeit im Detail nachzuspüren, ohne die ausfuhrlichen Erinnerungen an die akademischen Lehrer11 im Einzelnen auszubreiten. Auffallend ist, dass er, der seine Muttersprache mit „Deutsch" angab, im SS 1894 Vatroslav Oblaks „Einfuhrung in das Slovenische" besuchte12. Oblak hatte sich im Jahr zuvor als erster Hochschullehrer an der Universität Graz für slowenische Sprache und Literatur habilitiert. In seinem letzten Studiensemester

Vinzenz Hilbers Vorlesung über „Geologische Karten" eine neue Lehrveranstaltung, die über den üblichen Rahmen der „Geographie" hinausging. 5 Im WS 1896/97 hörte er bei Gurlitt die Vorlesung über „Griechische Bildkunst". 6 So belegte er im WS 1894/95, seinem ersten Semester, die fünfstündige Vorlesung Krones' über „Österreichische Reichsgeschichte", Zwiedineck-Südenhorsts dreistündiges Kolleg „Allgemeine Geschichte des 19. Jahrhunderts", Alois Goldbachers „Erklärung ausgewählter Oden des Horaz" (5 Stunden), Bernhard Seufferts vierstündige Vorlesung „Geschichte der deutschen Literatur in der Zeit des Classicismus und der Romantik" und dessen einstündiges Collegium publicum über „Das deutsche Drama des 16. Jahrhunderts". - Pirchegger muss als besonders engagierter Student angesehen werden, denn nachträglich belegte er dazu noch Richters „Physikalische Geographie", das „Geographische Seminar" sowie das „Seminar für deutsche Philologie" und jenes fiir „Geschichte". Die nachträgliche Inskription dieser Vorlesungen erfolgte offensichtlich erst im Dekanat selbst, denn diese Eintragungen stammen nicht aus der Feder Pircheggers, sondern wurden von Gurlitt, der in diesem Studienjahr Dekan war, geschrieben. UAG, Nationale, WS 1894/95. 7 Pircheggers Auswahl zeigt seine Wachheit und Ernsthaftigkeit wie auch seine Zielstrebigkeit mit klaren eigenen Interessen und Neigungen, weshalb die von ihm besuchten Lehrveranstaltungen hier im Einzelnen aufgelistet sind. 8 Im SS 1894 hörte er bei Anton Emanuel Schönbach „Neuhochdeutsche Syntax", im SS 1898 dessen „Neuhochdeutsche Grammatik" und bei Seuffert „Wesen der Poesie", im WS 1896/97 bei Schönbach die Vorlesung „Deutsche Heldensagen" und Seufferts Seminar über „Lessing", im SS 1897 besuchte er wiederum bei Schönbach das einstündige Kolleg über „Stilistik". 9 Josef Strzygowskys Vorlesung über „Kunstbetrachtung" im SS 1896 und im SS 1898 zog Pirchegger an. Die Kunstgeschichte wurde damals gerade als neues Fach an der Universität Graz eingerichtet und hatte mit Strzygowsky einen ausgezeichneten jungen Fachvertreter gefunden. 10 Damals zählte man wohl auch noch Eduard Martinaks Vorlesung über „Didaktik" (SS 1896) zum weiteren Umkreis dieses Faches, Pirchegger besuchte im WS 1896/97 und auch im WS 1897/98 Alexius Meinongs „Philosophische Societät". Meinong bewegte sich auf einem damals gänzlich neuen Feld, das zur Begründung seines „psychologischen Laboratoriums" fuhren sollte. Auch im SS 1897 und im SS 1898 zählte Pirchegger zu den Hörem Meinongs, als dieser vierstündig über „Psychologie" las. Zusätzlich besuchte er Hugo Spitzers Lehrveranstaltung über die „Ästhetik der Dichtkunst" im SS 1898. 11 StLA, NL HP, K 12, H 208: Teil I 1875-1925, fol. 25-31. 1 2 Alois KERNBAUER, Gregor Krek und die Anfänge der Slawistik an der Universität Graz, in: Anzeiger fiir slavische Philologie 33 (2005) 53-70.

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1898/99 inskribierte Pirchegger nicht als ordentlicher, sondern als außerordentlicher Hörer, und zwar ausschließlich Lehrveranstaltungen aus Philosophie, Pädagogik und Psychologie13, also im Hinblick auf das Nebenrigorosum, „vor dem die meisten Angst hatten"14, zum Einen und auf die Lehramtsausbildung zum Anderen. Pirchegger nahm unter den Lehrenden vor allem jene wahr, die neue Wege beschritten, und empfing von diesen Anregungen, von denen einige später vielfach wirksam wurden, wie etwa Anton Mells Lehrveranstaltungen unter Einbeziehung landesgeschichtlicher Quellen. Meli habilitierte sich 1896, also in der Studienzeit Pircheggers, für „Österreichische Geschichte mit besonderer Berücksichtigung der steirischen Landesgeschichte". Besonders auffallend ist Pircheggers Interesse an ästhetischen Fragen, was ihn in Lehrveranstaltungen zur deutschen Sprache und Stilistik ebenso führte wie zur Kunstgeschichte. Er verfolgte bei der Betrachtung ästhetischer Fragestellungen auch den psychologischen Ansatz, wie ihn überhaupt die Psychologie besonders interessiert zu haben scheint. Das Studium der einschlägigen Unterlagen zeigt Pirchegger also als überaus wachen, eifrigen und fleißigen Studenten mit weit gespannten Interessen, die er auf einige Schwerpunkte zu konzentrieren wusste. Besonders geprägt wurde er offensichtlich von zwei akademischen Lehrern, vom Begründer der Historischen Geografie Eduard Richter und vom Historiker Johann Loserth. Letzterer war 1893 zum Professor der Allgemeinen Geschichte - man muss nach damaligem Verständnis hinzudenken - „des Mittelalters und der Neuzeit"15 ernannt worden und nahm zugleich auch den Lehrauftrag für Historische Hilfswissenschaften wahr. Seit 1875 hatte er in Czernowitz (Cernivci, Cernau{i) gelehrt und in diesen Jahren eine enorme Fülle an Publikationen hervorgebracht. Im Mittelpunkt seiner Forschungen standen zunächst Themen der böhmischen Geschichte und insbesondere der Reformator Jan Hus; Loserths 1884 veröffentlichtes Buch „Hus und Wiclif. Zur Genesis der husitischen Lehre" war auch politisch durchaus brisant. Er wies darin nach, dass der damals bereits zur nationalen Identifikationsfigur der Tschechen gewordene Hus in seinen Schriften weite Passagen von John Wyclif wörtlich übernommen hatte - eine wie man heute weiß im Mittelalter gänzlich übliche Methode - und trat damit der herrschenden, von Frantisek Palacky, Joseph A. Helfert und den meisten tschechischen Historikern vertretenen Ansicht entgegen, Hus sei der originäre Schöpfer seiner Lehre gewesen16. Das Buch wurde sogleich in die englische Sprache übersetzt 13 Bei Meinong hörte er „Erkenntnistheorie" und besuchte das „Philosophische Seminar" und beteiligte sich an „Psychologischen Arbeiten", bei Hugo Spitzer hörte er das dreistündige Kolleg „Ästhetik der bildenden Kunst", bei Eduard Martinak „Methodik des Sprachunterrichtes" und besuchte dessen „Seminar". 14 StLA, NL HP, K 12, H 208: Teil 1 1875-1925, fol. 31. 15 „Allgemeine Geschichte des Mittelalters und der Neuzeit" lautete auch die an der Universität Wien erworbene Lchrbefugnis Johann Loserths. 16 Dazu siehe Pavel SOUKUP, Johann Loserth a cesky stredovek [Johann Loserth und das böhmische Mittelalter], in: Nemeckä medievistika v ceskych zemich do roku 1945 [Die deutsche Mediävistik in den böhmischen Ländern bis zum Jahr 1945], hg. v. DEMS., Frantisek SMAHEL (Präce z dejin vedy 18, Praha 2004) 251-272; Pavel SOUKUP, Pocätky vedecke drähy Johanna Losertha a prazska univerzita [Die Anfange der wissenschaftlichen Laufbahn Johann Loserths und die Prager Universität], in: Acta

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und löste zahlreiche weitere Studien aus. Loserth wurde von der 1883 gegründeten Wiclif-Society zur Mitarbeit an der Gesamtausgabe eingeladen und steuerte nicht weniger als vierzehn der verwirklichten 40 Bände bei. Loserth legte zudem 1903 die „Geschichte des späteren Mittelalters von 1197 bis 1492" vor, aber auch andere Studien zur europäischen Geschichte, die seinen ungeheuer weiten Horizont illustrieren. Mit nicht geringerer Leidenschaft gab er sich gleichzeitig Forschungen zur Landesgeschichte hin, mit dem ersten Schwerpunkt mährische Wiedertäufer, dann im Auftrag der Historischen Landeskommission für Steiermark mit der Erforschung der Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark in der Zeit Erzherzog Karls II. Pirchegger erarbeitete bei Loserth17 seine Dissertation „Jacobus Basilicus Woiwode der Moldau (1561-1563). Historisch-kritische Untersuchungen", die er am 19. August 1898 vorlegte. Am 25. Oktober 1898 fand das Hauptrigorosum bei Loserth und Richter mit jeweils ausgezeichnetem Erfolg statt. Adolf Bauer, als strenger Prüfer bekannt, beurteilte den Kandidaten mit genügend, weil, wie Pirchegger sich erinnerte, ich Burckhardts Gesch. der Renaissance in Italien nicht kanntel8. Das Nebenrigorosum aus Philosophie bei Meinong und Spitzer fand am 10. Januar 1899 statt, und zwar bei Meinong mit „ausgezeichnetem" und bei Spitzer mit „genügendem" Erfolg. Pirchegger wurde folglich „per maiora" mit Auszeichnung approbiert und am 16. Januar 1899 zum Doktor promoviert. Kurz vor Abschluss des Doktoratsstudiums suchte Pirchegger um Ablegung der Lehramtsprüfung aus Geschichte und Geografie als „Hauptfacher mit deutscher Unterrichtssprache" an19. In seiner „Hausarbeit aus Geographie" lieferte er eine „Beschreibung der Naturbeschaffenheit und der Siedlungsverhältnisse des östlich der Mur gelegenen mittelsteirischen Hügellandes"; dieses Thema war mit der Fragestellung verbunden, diese Region mit anderen Teilen des Landes zu vergleichen, die der Kandidat selbst zu wählen hatte, ausgehend von der anthropogeografischen Analyse der Siedlungsverhältnisse des oststeirischen Tertiärgebietes. Pirchegger wählte zum Vergleich das Koralpengebiet mit seinen Vorhügeln bis zum Kainachtal. Richter war in seinem Gutachten über die Hausarbeit Pircheggers des Lobes voll und erachtete sie als Ausgangspunkt für weiterführende Studien dieser Art. Für die Erwerbung der Lehrbefahigung aus Geschichte bat Pirchegger um Anerkennung seiner Dissertation als Hausarbeit, ferner ersuchte er um Erlass einer pädagogischen Hausarbeit unter Verweis auf die entsprechenden Kolloquienzeugnisse, die er dem Ansuchen beilegte. Nach erfolgreicher Absolvierung der schriftlichen Prüfungen fand die mündliche Lehramtsprüfung am 17. Juni 1899 statt, die in mehreren Teilgebieten abzulegen war, wobei von Lehramtsprüfungskandidaten ein weit gespannter Wissenshorizont erwartet Universitatis Carolinae - Historia Universitatis carolinae Pragensis 44/2004 (2006) 19-44 (freundlicher Hinweis von Karel Hruza), und den Beitrag Soukups zu Loserth in diesem Band. 17 Johann Loserth fungierte als Erstbegutachter, doch hatte nach Pircheggers eigener Aussage Franz von Krones das Thema gestellt. StLA, NL HP, K 12, H 208: Teil I 1875-1925, fol. 31. 18 Ebd. 19 Das Schreiben ist vom 21.12.1898 datiert. UAG, Akten der Lehramtsprüfungskommission, Hans Pirchegger.

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wurde20. Die Prüfung galt mit 18. Juni 1899 als abgeschlossen. Nach der Prüfung kam die größte u. folgenschwerste Überraschung meines Lebens: Richter fragte mich, ob ich sein Assistent werden wollte21. Nur wenige Tage später, mit 1. Juli 1899, wurde Pirchegger auch schon angestellt, und zwar in der Diktion der Zeit als „wissenschaftlicher Hilfsarbeiter"22 am Geografischen Institut mit dem wissenschaftlichen Auftrag der Mitarbeit an Richters großem Forschungsprojekt, dem Historischen Atlas der Alpenländer. Seit 1886 lehrte Richter als Professor der Geografie an der Universität Graz. Er hatte sich in jungen Jahren als Historiker gefühlt, sich später, in seiner Zeit als Gymnasialprofessor in Salzburg ab 1871, geografischen Fragen zugewandt und leistete für die Erforschung der Gletscher, später auch der Seen Bahnbrechendes. Sein zentrales Anliegen wurde es aber, die Methoden urkundlicher Forschung auf Themen kartografischer Natur anzuwenden. Er war fasziniert von dem Gedanken, dass nur eines der Veränderung des menschlichen Seins nicht unterliegt, nämlich die Lokalität des Geschehens oder in der Diktion Richters: der „Boden". In seinen „Untersuchungen zur historischen Geographie des ehemaligen Hochstiftes Salzburg und seiner Nachbargebiete" von 1885 hatte er sich weniger mit den topografischen Verhältnissen als vielmehr mit der Darstellung der „politischen und rechtlichen Zugehörigkeiten der einzelnen Landschaften" beschäftigt. Richter legte der Akademie der Wissenschaften in Wien einen Plan zur Erarbeitung eines historischen Atlasses der österreichischen Alpenländer vor, Alphons Huber und Engelbert Mühlbacher unterstützten das Vorhaben und bestimmten die Akademie, die Mittel der Treitlstiftung dafür bereit zu stellen, eine eigene Kommission einzusetzen und in den einzelnen

20 Es mag von Interesse sein, den Verlauf einer solchen Lehramtsprüfung darzulegen. Loserth prüfte „Allgemeine Geschichte" und stellte Fragen zu folgenden Themen: „Geschichte Babyloniens", „neuere Literatur zur Geschichte", „Reformen des Kleisthenes", „Roms Kriege gegen die Etrusker", „Sabiner und Tarentiner", „Bedeutung der Formularien als Quellen der Geschichte", „Formelbücher der päpstlichen Kanzlei", „Kriege Eduards I. von England und dessen Bedeutung für die Entwicklung der englischen Verfassung", „Erwerbung des niederländischen Kolonialbesitzes". Krones stellte aus dem Fach „Österreichische Geschichte" Fragen zu: „Gliederung der Staatsgeschichte von 1526-1740", „steirische Reimchronik", „Entwicklung Karantaniens", „Anfall Böhmens an die Luxemburger", „Die Luxemburger Erwerbung des ungarischen Thrones", „Maximilian I. und der habsburgische Großstaat", „Theuerdank" und „Weisskunig", „Westfälischer Friede", „Josephinismus". Alois Goldbacher prüfte die Kenntnisse der lateinischen Sprache. Pirchegger hatte Livius XXI, 53-54, zu übersetzen. Theodor von Karajan prüfte „griechische Sprache" und legte als Text zur Übersetzung einen Ausschnitt aus der „Anabasis" (V, 5, 13-16) vor. Bei Richter waren „Steppen in den Tropen und im gemäßigten Klima", „Meeresströmungen", „Bewegungen des Mondes von verschiedenen Breiten aus gesehen" einige der Themen des Prüfungsgespräches. Schließlich hatte Pirchegger auch die Prüfung aus Deutsch als Unterrichtssprache bei Seuffert abzulegen. Die Fragen bezogen sich auf „Orthographie", „Pluralflexion", „Maßbestimmungen", Attribute, Adjektive, Konjunktiv Präsens. Wielands „Abderiten", Goethes „Egmont", Schillers „Teil" waren ferner Gegenstand der Erörterungen. Die Prüfung begann um 9.00 Uhr und endete um 12.00 Uhr. Die Beurteilung, die nicht im Rahmen der Notenskala erfolgte, bewegte sich zwischen „sehr befriedigend" und „recht befriedigend". 21 StLA, NL HP, K 12, H 208: Teil I 1875-1925, fol. 42. 22 UAG, Phil. Fak. ZI 597 ex 1915/16: Kommissionsbericht.

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Ländern Lokalkommissionen zu errichten. Richter konnte aber infolge seines frühen Todes lediglich den ersten Band fertig stellen. Pirchegger entschied sich in diesen Jahren der Lehrerknappheit an Mittelschulen, aber als junger Ehemann auch zur Sicherstellung eines gesicherten Lebensunterhaltes mit 1. September 1900 in Pettau (Ptuj) eine Stelle als Mittelschulprofessor anzutreten23, blieb jedoch weiterhin Mitarbeiter an diesem groß angelegten Forschungsunternehmen. Richter bescheinigte ihm allerhöchste Qualifikation: Die Aufgabe, die Herr Dr. Pirchegger zu übernehmen hatte, war eine wissenschaftlich keineswegs einfache, ihre Lösung erforderte ebenso viel Selbständigkeit des Denkens und der Auffassung als hingebenden Fleiß und vollste Verlässlichkeit. Er hatte sich in ganz neue, rechtsgeschichtlich überaus verwickelte und von der Forschung nahezu ganz unberührte Verhältnisse hineinzufinden. Er hat dabei sich vollständig bewährt. Ich bin überzeugt, dass sehr wenige unter den jungen Herren, die wir als Doktoren und als geprüfter Lehrerfür Mittelschulen von der Universität entlassen, die geistige Kapazität und den eisernen Fleiß zu entwickeln vermöchten, durch welche Herr Dr. Pirchegger seine Arbeit am Historischen Atlas zu einerfür mich so wertvollen und sich selbst zu einem verdienstvollen Mitarbeiter an dieser Unternehmung gemacht hat24. Richter nahm ihn nach dessen Ausscheiden als Assistent formell als Mitarbeiter am Historischen Atlas auf, und gemeinsam mit Meli bearbeitete Pirchegger eine Reihe von Blättern der Landesgerichtskarte der Steiermark. Nach dem Tod des Fachvertreters der Österreichischen Geschichte, Franz von Krones, im Jahr 1902 wurde die Aufgabe, die Erläuterungen für die Karten zur Steiermark zu verfassen, Pirchegger übertragen. Aus Pircheggers Feder stammten die „Erläuterungen zum historischen Atlas der Steiermark" von 1906, er entwarf eine Karte der kirchlichen Einteilung der Steiermark vom 11. Jahrhundert bis 1785 und wies in der 1912 erschienenen Abhandlung „Die Pfarren als Grundlage der politisch-militärischen Einteilung der Steiermark" nach, dass die Kenntnis der „Urpfarren" oder „Mutterpfarren", wie er sich ausdrückte, für die Rekonstruktion der ältesten Gerichtsbezirke und Grafschaften von hoher Bedeutung ist. 1914 erschien schließlich der gemeinsam mit Meli erarbeitete Band „Steirische Gerichtsbeschreibungen als Quelle zum historischen Atlas der Alpenländer", womit eine mühevolle und aufwändige Arbeit zum Abschluss gebracht worden war. Über diese Arbeit am Historischen Atlas fand Pirchegger zu einer neuen Auffassung und Form der Landesgeschichte, die nunmehr nicht vom dynastisch-politischen Gesichtspunkt aus betrachtet wurde, sondern sich aus einer Vielzahl und Vielfalt von Details rechtshistorischer, siedlungs-, familien- und kulturgeschichtlicher, aber auch volkskundlicher und sprachgeschichtlicher Betrachtung zusammensetzte. Damit war 23 Pirchegger hatte sich 1899 mit Marie Schmid vermählt. Der Ehe entstammten zwei Töchter, Irmtraut, geboren 1899 und ab 1922 als Pflegling im Diakonissenheim Gallneukirchen untergebracht, und Hildegard, geboren 1901, später von Beruf Beamtin in der Alpenland-Buchhandlung Südmark in Graz. Nach dem Tod Maries 1905 heiratete er 1906 Maria Graschitz, geboren 1876 in Bruck a. d. Mur, die in den Jahren 1896-1906 in der „Untersteiermark" als Lehrerin tätig war. Die Ehe blieb kinderlos. 24 UAG, Phil. Fak. ZI 597 ex 1915/16: Kommissionsbericht.

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die Grundlage ftir eine neue Art der Landesgeschichtsschreibung gelegt. Zugleich pflegte er weiterhin auch die kartografische Darstellungsweise25. Ich hatte ... mit der Schule genug zu tun, aber die Wissenschaft kam deswegen nicht zu kurz26. Diese immensen wissenschaftlichen Leistungen waren nur möglich geworden, weil Pirchegger 1907 an die II. Staatsrealschule in Graz versetzt worden war, was ihm die wissenschaftliche Arbeit erheblich erleichterte. Auf Betreiben der Akademie der Wissenschaften war er sogar vom Schuldienst für die Jahre 1909 und 1913 gänzlich freigestellt. In all diesen Jahren setzte sich Pirchegger auch mit der Geschichte Kärntens, Krains und Istriens auseinander und gewann so eine intensive Kenntnis der Geschichte des „innerösterreichischen" Raumes von der Karolingerzeit an, was sich nicht zuletzt in seinen Vorlesungen niederschlagen sollte. Im Februar 1916 reichte er, von Johann Loserth dazu ermuntert27, sein Habilitationsgesuch ein, ohne eine eigene Habilitationsschrift zu benennen28. Die erste Anregung dazu war noch vor dem ersten Weltkrieg von dem in Wien tätigen Alfons Dopsch gegeben worden, von den Grazer Historikern allerdings als eine unwillkommene Einmischung über den Semmering hinweg aufgenommen worden.29 Pirchegger hatte einige Jahre zugewartet, bis die Verhältnisse in Graz für einen solchen Schritt günstiger waren. Die Grazer Kommission, bestehend aus Loserth, Raimund Friedrich Kaindl und Heinrich von Srbik, akzeptierte die vorgelegten wissenschaftlichen Arbeiten und unterzog ihn am 14. Juni dem Kolloquium30. Nach dem am 28. Juni 1916 gehaltenen Probevortrag über „die Entstehung und Ausbildung der südöstlichen Marken" verlieh ihm die Fakultät

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1946 erschienen seine Beiträge zum Heimatatlas. StLA, NL HP, K 12, H 208: Teil I 1875-1925, fol. 72. Ebd. fol. 91. Pirchegger stellte folgende Vorlesungen in Aussicht: „Die östlichen Alpenländer im Mittelalter", „Die Aufgaben des ,Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer' mit praktischen Übungen", „Das österreichische Städtewesen", „Die deutschen Ostmarken", „Die Besiedelung der österreichischen Alpenländer und die Geschichte der Sprachgrenze", „Die Türkenkriege", „Der Weltkrieg". ÖStA, AVA MinCU 26264 ex 1916. 29 StLA, NL HP, K 12, H 208: Teil I 1875-1925, fol. 79. 30 Loserth befragte Pirchegger zu den „Irrtümern" der tschechischen Historiografie im 19. Jahrhundert, ferner über die Besiedlung des Königreichs Böhmen, Kaindl stellte Fragen nach der Herkunft der Slawen, nach deren ursprünglichem Siedlungsgebiet, wollte die Ausbreitung der Slawen in den Alpenländern und deren Siedlungsformen erläutert haben und brachte die Bedeutung der Kirchenpatronate für die Siedlungsforschung zur Sprache. Srbik stellte Fragen nach den Ursprüngen des Siebenjährigen Krieges, der Entstehung und Bedeutung der Pragmatischen Sanktion, der Begründung und Bedeutung des österreichischen Kaisertitels und den Verwaltungsreformen Maximilians I. und Ferdinands I. Pirchegger selbst hielt dazu fest: Bei Srbik ging es mir schlecht. Er fragte mich um den Mythos der ungarischen Krone. Ich antwortete: , Wenn ich Zeit gehabt hätte, das eben erschienene Buch von (den Autor habe ich inzwischen vergessen) zu lesen, würde ich die Frage beantworten.' Darauf lächelten alle. Auch seine zweite Frage über das Wesen der Beamtenorganisation Maximilians I. konnte ich nur schlecht beantworten. Aber Kaindl u. Sieger rissen mich heraus. Der Geograph Robert Sieger brachte Probleme der historischen Geografie zur Sprache, führte das Gespräch auf das wechselseitige Verhältnis der Landgerichts- und Landesgrenzen und auf die Konstanz der Gemarkung in den verschiedenen Alpenländern. UAG, Phil. Fak. ZI 597 ex 1915/16. StLA, NL HP, K 12, H 208: Teil I 1875-1925, fol. 92 f.

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die Venia für Österreichische Geschichte; die ministerielle Bestätigung erfolgte am 1. Oktober 1916.

II. Akademische Lehrtätigkeit Damit begann Pircheggers Lehrtätigkeit, die nicht bloß von seinen eigenen Vorstellungen allein geprägt war, sondern sich auch an den Bedürfnissen der Philosophischen Fakultät zu orientieren hatte. Im Sommer 1917 beantragte diese einen Lehrauftrag für Geschichte Innerösterreichs31 mit dem Argument, dass der Heimatgeschichte als pädagogischer Grundlage für den Patriotismus und andererseits als Basis der Österreichischen Geschichte große Bedeutung zukäme und verwies auf Innsbruck, wo bereits eine Lehrverpflichtung für die Geschichte Tirols bestand. Die Geschichte Innerösterreichs sei nun wohl ebenso wichtig, nicht zuletzt für Lehramtskandidaten. Im Sommer 1918 erging dieser Lehrauftrag an Pirchegger. Nach 1918 erfuhr die Lehramtsausbildung durch Vorlesungen über die Methodik des Unterrichts eine Ergänzung. Die Fakultät beauftragte damit für das Fach Geschichte Pirchegger, dessen Lehrauftragsverpflichtung in der Folge allerdings gebündelt wurde: Innerhalb eines Zeitraumes von vier Semestern hatte er je zwei Semester Geschichte Innerösterreichs, ein Semester Historische Geografie Innerösterreichs oder Einführung in archivalische Arbeiten und ein Semester über die Methodik des geschichtlichen Unterrichts an Mittelschulen zu lesen. Damit war Pirchegger auch in formaler Hinsicht weitaus stärker an die Universität gebunden, als dies bei Dozenten allgemein üblich war. Der erhebliche Mehraufwand an Arbeit schlug sich in finanzieller Hinsicht in einer Besserstellung nieder32. Pirchegger hatte im Herbst 1916 seine Lehrtätigkeit mit einer zweistündigen Vorlesung der „Geschichte Innerösterreichs im Mittelalter" aufgenommen, die er im darauf folgenden SS fortführte, mit Übungen verband und in den folgenden Semestern vertiefte und wohl auch spezialisierte: So behandelte er im WS 1917/18 Innerösterreich im Zeitalter der Staufer, im darauf folgenden SS und im WS 1918/19 die daran anschließende Geschichte Innerösterreichs in der Zeit des Interregnums. In den Lehrveranstaltungen der nachfolgenden Semester ging er von dieser detaillierten Darstellung zugunsten eines Überblicks über größere Zeitspannen ab: Innerösterreich im Spätmittelalter bis 1493, dann über zwei Jahrhunderte, also Innerösterreich im 15. und 16. Jahrhundert bzw. im 16. und 17. Jahrhundert, schließlich entschied er sich für die Darstellung der Geschichte dieses Raumes in Überblicksvorlesungen33. Im WS 1937/38 setzte er zu einem neuen Lehrveranstaltungszyklus an, nämlich zur Behandlung der Geschichte der österreichischen Bundesländer und setzte mit der Steiermark den Anfang, behandelte im darauf folgenden SS 1938 Kärnten, in der Folge der Märzereignisse 1938 fand dieser Ansatz jedoch auch schon wieder sein Ende. 31 Er erhielt 400 Kronen. 32 ÖStA, AVA BMfU 12417-1/3 ex 1924 mit Erlass vom 02.08.1924. 33 „Übersicht über die Geschichte der Steiermark" (WS 1923/24).

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In der Darlegung dessen, was man unter „Landes-" bzw. Regionalgeschichte verstehen könnte, ging Pirchegger von den geografischen Gegebenheiten aus. Den Historikern des 19. Jahrhunderts war geradezu selbstverständlich, die zeitlichen Prozesse mit den räumlichen Gegebenheiten zusammen zu denken. Der Grazer Historiker Richter hatte einen weiteren Schritt gesetzt und die „historische Geographie" geschaffen. In dieser Tradition sah sich Pirchegger wohl auch, wenn er diesem Ansatz mehrfach eine Vorlesung über ein ganzes Semester widmete34. Er tat ein Übriges, wenn er den Studenten die Praxis anhand der Quellen nahe brachte und dabei auf größte Präzision Wert legte, er nahm die jungen Leute „streng in die Zucht", wie er sich gelegentlich ausgedrückt haben soll. Damit wirkte er geradezu „schulebildend", denn viele Ortsgeschichten und so manche Geschichte landwirtschaftlicher Gehöfte, von Häusern und Gewerbebetrieben sind nach jenem Muster erarbeitet worden, das unter dem Terminus „retrogressive Besitzstandsforschung" vielfach angewendet worden ist, wobei die Quellen vom Grundbuch der neueren und der älteren Reihe über die Kataster und die grundherrschaftlichen Abgabenbücher und Urbare bis zu den einzelnen Urkunden und Aufzeichnungen des Mittelalters für einzelne Objekte zurückverfolgt und ausgewertet werden. Auch in anderer Hinsicht ging Pirchegger über das übliche Veranstaltungsprogramm von Universitätslehrern hinaus, wenn er zweistündige Lehrveranstaltungen zur Methodologie35 und zur Quellenkunde anbot, und zwar im SS 1920 als Vorlesung unter dem Titel „Einfuhrung in die historische Geographie"36, zwei Jahre danach die „Einführung in die Heimatgeschichte (Die Quellen für die steirische Ortsgeschichte)", im SS 1926 „Die Urbare als Quellen der Landesgeschichte Innerösterreichs", in den darauf folgenden Studienjahren jeweils im SS „Die steirischen Gültbücher" und „Erläuterung ausgewählter innerösterreichischer Urkunden", „Innerösterreichische Urkunden (Übungen)" in den SS 1931 und 1933, „Urbar, Grundbuch und Kataster als Quellen der Wirtschaftsgeschichte"37, „Innerösterr. Geschichtsquellen des Mittelalters, Übungen"38, „Innerösterreichische Quellen zur Wirtschaftsgeschichte, Übungen"39. Ab dem SS 1925 hielt Pirchegger in regelmäßigen Abständen unter verschiedenen Titeln auch eine Lehrveranstaltung aus Didaktik für Lehramtskandidaten; nach Aussagen einer Zeitzeugin verstand er es, diese Veranstaltungen mit launigen Sätzen über den schulischen Alltag zu würzen. Nach dem „Anschluss" Österreichs an das Dritte Reich im März 1938 wurde der Fachvertreter der österreichischen Geschichte an der Universität Graz, der 34 „Der geschichtliche Boden Deutschösterreichs" im WS 1922/23 und im WS 1933/34 unter dem Titel „Geschichte Deutschösterreichs I: Der geschichtliche Boden", im WS 1934/35 offensichtlich als Fortsetzung der Lehrveranstaltung vom vorangegangenen WS „Der geschichtliche Boden Deutschösterreichs II". 35 „Einführung in die Methodik des Geschichtsunterrichtes an Mittelschulen", „Methodik des Geschichtsunterrichtes an Mittelschulen", „Der Geschichtsunterricht an Mittelschulen". 36 Im SS 1943 kehrte diese Lehrveranstaltung in der Ankündigung wieder. 37 SS 1935. 38 SS 1936. 39 SS 1937.

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Benediktinerpater Hugo Hantsch, entlassen. Mit SS 1938 erwuchs daher für Pirchegger eine neue, umfassendere Aufgabe. Im Vorlesungsverzeichnis des SS 1938 findet sich der Name Hantsch durchgestrichen und handschriftlich durch Pirchegger ersetzt, dieser übernahm also die Lehrveranstaltungen, und zwar neben den zweistündigen Seminarübungen die zweistündige Vorlesung „Österreich im späten Mittelalter" und einstündig „Österreich und der Balkan". Im folgenden WS weitete er seine Lehrtätigkeit aus und richtete sie auch neu aus, wenn er in vier Wochenstunden über „Deutschland, Österreich und Südosteuropa bis 1740" sprach und das Thema, den Zeitraum 1648 bis 1914 behandelnd, im folgenden SS 1939 fortsetzte. Schon im Titel unterschied er zwischen der Geschichte Deutschlands und Österreichs als getrennten Einheiten. Im letzten Trimester 1941 und SS 1941 bot er diesen Zyklus vierstündig, im Studienjahr 1942/43 zweistündig unter dem Titel „Deutschland und der Südosten" an, wobei die erste Lehrveranstaltung bis 1526 führte, die zweite die Zeit von 1526 bis 1941 erfasste. Ein weiterer Vorlesungszyklus war der „Kulturgeschichte Deutsch-Österreichs" in drei aufeinander folgenden Semestern gewidmet, wobei er 1940 mit dem Jahr 1914 abbrach, im zweiten Zyklus von WS 1941/42 bis WS 1942/43 auch „Zeitgeschichte" bis 1938 bot. Daneben betreute Pirchegger auch weiterhin die „Landesgeschichte", brachte im WS 1938/39 in einer einstündigen Vorlesung einen Überblick über die Geschichte der Steiermark und Kärntens in der Neuzeit und bot im SS 1939 ein Kolleg über die Geschichte Tirols und Vorarlbergs, im 1. Trimester 1940 über die Geschichte Salzburgs an. In der bis dahin allgemein gehaltenen Ankündigung der Seminarübungen ging Pirchegger ab 1940 häufig40 dazu über, ein „Seminarthema" anzuführen, nämlich im 1. Trimester 1940 die „Vita Sancti Severini, Conversio Bagoariorum et Carantanorum", im 2. Trimester „Deutschösterreichische Quellen vom 11. bis zum 13. Jahrhundert". Neu war ab dem 1. Trimester 1940 das einstündige Proseminar, angekündigt unter dem Titel „Einfuhrung in die Geschichtswissenschaft". Mit dieser Form der akademischen Lehre wollte Pirchegger zur aktiven Auseinandersetzung mit der Geschichte des eigenen Raumes, der Heimat anregen, wenn das Seminarthema im 3. Trimester 1940 und als Fortsetzung im Trimester 1941 „Das ,Dorfbuch' (Erforschung der Heimatgeschichte)" lautete. Die im Rahmen der „historischen Geographie" entwickelte Methodologie, die sich so wunderbar für die Erforschung der Geschichte kleinräumiger Strukturen eignete, gewann in der Zeit des Nationalsozialismus wohl zugleich - ausgesprochen oder immanent - eine ideologische Bedeutung. Pirchegger selbst scheint sich bei aller klaren Bekenntnis zur gesamtdeutschen Kulturnation und zur großdeutschen Vorstellung lautstarker ideologischer Positionierungen enthalten zu haben, zu sehr war er offensichtlich der Tradition der Verhaltensmuster akademischer Lehrer verbunden, wie sie um die Jahrhundertwende nachweislich bestanden hatte, die man kurz und etwas unpräzise mit „weltmännischem Gehabe" umreißen könnte. Wieweit Pirchegger aber in anderen Lehrveranstaltungen, 40 Im SS 1941 lautete die Ankündigung wieder ganz allgemein „Ausgewählte Urkunden zur Geschichte Innerösterreichs".

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etwa in dem unter dem Titel „Einfuhrung in das Geschichtsstudium und in den Geschichtsunterricht" gehaltenen Seminar41, theoretische und darüber hinausgehend auch ideologische Fragen thematisierte, ließ sich nicht eruieren. Zieht man jene Dissertationsgutachten heran, die er als Zweitgutachter neben Ferdinand Bilger nach dem März 1938 verfasste, so kam darin doch ein gewisses Unbehagen zum Ausdruck, wenn Schüler Bilgers Themen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus auf eine offensichtlich ideologisch eindeutig ausgerichtete Weise behandelten, ohne dass Pirchegger sich jedoch klar davon distanziert hätte; Pirchegger benotete diese Arbeiten zumeist schlechter als Bilger und sprach davon, dass sie wohl einen gewissen Wert für den „Tag und die Stunde" hätten, aber offensichtlich auch nicht mehr. Damit brachte er seine Grundvorstellungen von der Aufgabe der auf akademischem Boden gepflegten Geschichte als Wissenschaft in Forschung und Lehre zum Ausdruck, die sich in der Wahrnehmung ideologischer Positionen allein nicht erschöpfen konnte. Er war also Repräsentant einer „anderen Generation". Im Studienjahr 1943/44 hielt er eine vierstündige Vorlesung „Geschichtliche Landeskunde der Ostalpengaue" über zwei Semester. Dies sollte denn seine letzte Vorlesung sein. Somit hatte sich thematisch gleichsam der Kreis geschlossen, Pirchegger war wieder zur „Landesgeschichte" zurückgekehrt. Schon im WS 1944/45 war ein geregelter Lehrbetrieb kaum noch möglich, und zu Kriegsende hielt sich Pirchegger in Gröbming auf. Das SS 1945 begann erst im Juni 1945, und wenige Wochen später im August vollendete Pirchegger sein 70. Lebensjahr. In seiner Antwort auf das Gratulationsschreiben des Dekans der Fakultät zum Geburtstag im August hielt Pirchegger fest: Gerne möchte ich mit dem Wahlspruche Kaiser Karls V. sagen: plus ultra - aber das steht wohl weniger bei mir als bei den Zeitverhältnissen. Mögen sie sich für unsere Universität und damitfiir die wissenschaftliche Forschung bald zum Besseren wenden*2. Der rehabilitierte Hantsch übernahm wiederum die Professur für Österreichische Geschichte, und an die Institutionalisierung des Faches Landesgeschichte war in den ersten Nachkriegsjahren nicht zu denken. Überblickt man das Lehrveranstaltungsprogramm Pircheggers im Ganzen, so fallen einige Charakteristika ins Auge: Er bot von Herbst 1916 bis zum SS 1944 mit großer Regelmäßigkeit Lehrveranstaltungen an43, hatte aber wie die meisten nicht an der Universität angestellten Universitätslehrer keine überwältigend große Anzahl von Promovenden, was wohl mit dem Betrieb im „Seminar", also dem Institut in Verbindung zu bringen ist, für das - wie damals üblich - eigene Statuten und eigene Regeln des Zugangs der Studierenden vor allem zur Bibliothek bestanden. Es hatte wohl aber auch mit der spezifischen Personalsituation der Historiker an der Universität zu tun; der Mediävist Wilhelm Erben faszinierte viele Studenten und hatte das Talent, 41 WS 1941 /42, SS 1942 als Fortsetzung, in gleicher Weise über beide Semester verteilt im Studienjahr 1942/43. 42 Im Oktober 1945 erhielt Pirchegger vom damals noch amtierenden Kurator die ausständige Remunerierung für eine vierstündige Vorlesung über Österreichische Geschichte im WS 1943/44 ausbezahlt. 43 Lediglich in den SS 1919, 1921, 1923 und 1924 hielt er an der Universität keine Lehrveranstaltung.

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diese zu großartigen Leistungen anzuspornen. Bilger, für das Fach der Allgemeinen Geschichte der Neuzeit zuständig, hielt ausgefeilte Vorlesungen, in die eine große Zahl an Hörern strömte. Dennoch war Pircheggers Wirksamkeit als Universitätslehrer ungewöhnlich groß. Er war es vor allem, der die Methodologie der historischen Geografie den Studenten vermittelte. Pirchegger, der vielen gelehrten Gesellschaften angehörte, erreichte ein sehr hohes Alter, und so stellten sich Auszeichnungen und Ehrungen ein. 1936, 1955 und 1965 wurde er aus Anlass jeweils seines 60., 80. und 90. Geburtstages mit einer Festschrift geehrt. 1955 beantragten Heinrich Appelt, Karl Eder und Hermann Wiesflecker, also die Historiker im Grazer Fakultätskollegium, eine Ehrung für Pirchegger aus Anlass der Vollendung seines achten Lebensjahrzehnts. Da ein Ehrendoktorat für ihn, der an dieser Fakultät promoviert und habilitiert worden war, nicht in Betracht kam, wurde sein Doktorgrad am 26. November 1955 in feierlicher Weise erneuert. 1971 verlieh ihm die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Universität Graz das Ehrendoktorat der Staatswissenschaften. Hochbetagt starb er am 1. Oktober 1973 in Graz.

III. Pircheggers Stellung an der Universität 1920 erschien der erste Band von Pircheggers „Geschichte der Steiermark". Die Fakultät nahm dies zum Anlass, beim Ministerium die Ernennung Pircheggers zum Extraordinarius für Geschichte Innerösterreichs und für Historische Geografie der Alpenländer anzuregen. Dieser Antrag, Pirchegger eine Anstellung an der Universität zu verschaffen, scheiterte nach langwierigen Verhandlungen an der katastrophalen finanziellen Lage. Pirchegger war darüber keineswegs betrübt44. Die Universität hatte angesichts der äußerst angespannten Finanzlage des Staates den Betrieb nicht bloß im herkömmlichen Umfang weiterzuführen, sondern musste zudem deutschsprachige Wissenschaftler von Universitäten des früheren „Cisleithanien" und der jetzigen Nachfolgestaaten übernehmen. Sie waren zwar angesichts der gestiegenen Hörerzahlen willkommen, doch bedeuteten sie zugleich auch eine zusätzliche finanzielle Last. So unterblieb die Ernennung45, immerhin verlieh der Bundespräsident Pirchegger zu dessen großer Freude am 21. November 1923 den Titel eines Extraordinarius46.

44 Offen gestanden: ich hätte mich mit dem Titel begnügt, das Scheiden von meiner Anstalt, an der ich nur 7 Wochenstunden hatte, wäre mir schwer gefallen. StLA.NL HP, K 12, H 208: Teil I 1875-1925, fol. 117. 45 Meine Aussichten, an die Universität als wirkl. ao. zu kommen, sind zerronnen, ich würde im Monat um 1 " Mill. Kronen weniger bekommen als jetzt. - Ebd. fol. 156. 46 ÖStA, AVA MinCU 19110 ex 1923. - Pirchegger schrieb dazu in den „Lebenserfahrungen": Mit der Berufung an die Universität durfte ich nicht rechnen - obwohl sie Srbik als gesichert angesehen hatte - doch am 2. Dezember teilte mir Erben mit, dass mir der Titel eines ao. Univ.Prof. verliehen worden sei. Ich freute mich darüber u. über die vielen Glückwünsche sehr. Am meisten rührte mich die Ehrung der I. Klasse: sie war mit Reisig geschmückt, auf der Tafel stand, Hoch Prof. Pirchegger'. StLA, NL HP, K 12, H 208: Teil I 1875 1925, fol. 145.

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Nach Ende des Ersten Weltkrieges gehörten den jeweiligen Delegationen der Friedensverhandlungen Experten an. So war etwa Robert Sieger, Professor für Geografie an der Universität Graz, als Fachmann in Saint-Germain-en-Laye. Pirchegger war nach dem Zusammenbruch der Monarchie ein Jahr lang vom Schuldienst befreit, um die wissenschaftlichen Grundlagen für die deutsch-österreichischen Positionen hinsichtlich der Steiermark bei den Friedensverhandlungen in Saint-Germain-en-Laye zu erarbeiten. In diesem Zusammenhang entstanden die vom Akademischen Senat der Universität Graz herausgegebene Denkschrift über die nationalen Verhältnisse der Steiermark und von Pirchegger verfasste Propagandaschriften47, wie er sie in seinen „Lebenserfahrungen" nannte, zur Verteidigung der „deutschen" Position. Gleichzeitig wurde Pirchegger Leiter der „Schutzstelle für die Untersteiermark". 1925 wiederholte die Fakultät den Antrag auf Ernennung Pircheggers zum wirklichen Extraordinarius, um ihn von der Last des Schuldienstes zu befreien und in die Lage zu versetzen, seine gesamte Arbeitskraft in den Dienst der Wissenschaft zu stellen. Erben erstattete den Kommissionsbericht, aus dem Passagen in den Fakultätsantrag übernommen wurden und der die Stellung der Landesgeschichte im Rahmen der historischen Disziplinen verdeutlichte. Man wisse sich fern von übermäßiger Schätzung der Landesgeschichte und ist nach wie vor gewillt, im geschichtlichen Fache die großen Zusammenhänge der gesamteuropäischen und der deutschen Geschichte in Forschung und Lehre in den Vordergrund zu stellen, könne sich aber nicht der Erkenntnis verschließen, daß die Universität Graz auch berufen ist, in der Pflege steirischer und innerösterreichischer Geschichteführend zu wirken. Und eine Erfüllung dieses landesgeschichtlichen Teiles ihrer Aufgabe erfordert, da die Ordinarien des geschichtlichen Faches sämtlich nach viel weiteren Gebieten auszugreifen genötigt sind und der Ortsund Landesgeschichte nicht die gewünschte Aufmerksamkeit zuwenden können, hier wie anderwärts die dauernde Festhaltung ihrer eigenen, allseitig ausgebildeten, aber vorwiegend landesgeschichtlich beschäftigten Lehrkraft. Neben den landesgeschichtlichen Aufgaben sollte Pirchegger auf Grund seiner Schulerfahrung auch weiterhin mit der Abhaltung der vorgeschriebenen didaktischen Lehrveranstaltungen beauftragt werden, die man lieber aus dem Lehrkörper der Fakultät heraus wahrgenommen sehen wollte48. Auch diesmal blieb ein positives Ergebnis aus. 1928, als Pirchegger bereits den vollen Pensionsanspruch als Mittelschullehrer erworben hatte, wurde der Antrag erneuert; 1930 wurde Pirchegger secundo loco für die durch den Tod Kaindls frei gewordene Lehrkanzel für „Österreichische Geschichte" vorgeschlagen49; 1935 neuerlich an zweiter Stelle. 1931 wurde der Antrag auf die Ernennung zum Extraordinarius „für die Geschichte Innerösterreichs und für historische Geographie der Alpenländer" erneuert, doch auch diesmal ohne Erfolg. 1935 wurde Pirchegger als Mittelschullehrer 47 Ebd. fol. 106. 48 UAG, Phil. Fak. ZI 654 ex 1924/25. 49 Ausgerechnet Meli wurde ihm vorgezogen: Ich selbst erwartete die Ernennung eines Wieners u. schrieb in mein Tagebuch:,Kränkend wäre es für mich, wenn es Meli würde, denn ich darf mich für einen fähigeren Gelehrten u. einen weit besseren Lehrer halten.' StLA, NL HP, K 12, H 242: Teil II 1926-1955, fol. 189.

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in den Ruhestand versetzt und zwei Jahre später am 17. Dezember 1937 mit dem Titel eines ordentlichen Professors ausgezeichnet. In der Zeit des Nationalsozialismus wurde Pircheggers Anstellung neuerdings thematisiert. Es war bereits am 13. März 1938 offensichtlich, dass der Benediktiner Hantsch, Fachvertreter der Österreichischen Geschichte, seiner Lehrtätigkeit enthoben werden würde. Dies geschah offiziell zwar erst mit Ende April, aber die Philosophische Fakultät hatte schon in ihrer Sitzung vom 11. März 1938, die nach einer Unterbrechung am 14. März fortgeführt wurde, für den Fall des Ausscheidens Hantschs den Antrag gestellt, den 63jährigen Pirchegger zum wirklichen besoldeten ordentlichen Professor für Österreichische Geschichte zu ernennen, und zwar als eine Dankesschuld an den historischen Erforscher der südostdeutschen Grenzmark50. Die Lehrveranstaltungen aus Österreichischer Geschichte versah er offiziell ab 1. Mai an Hantschs Stelle, die Supplierung selbst entsprach, wie die zahlreichen Prüfungen beweisen, einem Bedürfnis51. Im Antrag des Dekans hieß es: Pirchegger hat es auf Ersuchen des Rektors und des Dekans der philosophischen Fakultät übernommen, für die Dauer der Vakanz der Lehrkanzel den Unterrichtsbetrieb supplierender Weise aufrecht zu erhalten. Für die damaligen Überlegungen zum Fach der „Österreichischen Geschichte" mag wohl der Umstand interessant erscheinen, dass in der Genehmigung der Remunerierung unter dem 26. Mai 1939 die Professur als „Lehrkanzel für Landesgeschichte" bezeichnet wurde. Pirchegger wurde auch zum Prüfer für Österreichische Geschichte und für Geschichte des Altertums im Rahmen der Lehramtsprüfungskommission bestellt, der er schon seit 1933 als Prüfer für das Mittelalter angehört hatte. Dies war deshalb geschehen, weil die Professur vakant war. Während des Nationalsozialismus war mit der Institution des „außerplanmäßigen Professors" eine weitere Möglichkeit einer Anstellung gegeben, die auch für Pirchegger in Frage kam. Im August 1939 lag das Gesuch Pircheggers um Ernennung vor; der amtsführende Prodekan Franz Angel, Vorstand des Mineralogisch-petrografischen Instituts, hob unterstützend nicht bloß Pircheggers wissenschaftliche Leistungen, sondern auch seine Verdienste im direkten Kampf für das Deutschtum des steirischen Unterlandes, immer an vorderer sichtbarer Steller'2, hervor. Am 24. Oktober 1939 wurde Pirchegger zum außerplanmäßigen Professor ernannt und erlangte damit erstmals im Alter von 64 Jahren eine volle Anstellung an der Universität. Der Dekan der Philosophischen Fakultät unternahm im November 1939 einen neuen Anlauf zur Beförderung Pircheggers zum ordentlichen Professor. Ein Jahr später kam die Ablehnung aus dem Berliner Ministerium unter Hinweis auf Pircheggers Alter zum einen und auf das Fehlen einer Planstelle zum anderen53. Man hatte nämlich die Planstelle Hantschs in der Zwischenzeit

50 UAG, Phil. Fak. ZI 499 ex 1937/38. 51 Ebd. ZI 147 ex 1939/40. 52 Pirchegger selbst wies bei anderer Gelegenheit daraufhin, dass er „Sprechwart des Turnvereins in Pettau" gewesen sei. 53 UAG, Phil. Fak. ZI 777 ex 1940.

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für die Wiederbesetzung der nach Erben vakanten Lehrkanzel für Mittelalterliche Geschichte verwendet. Als rechtliche Form wurde für Pircheggers Lehrtätigkeit aus Österreichischer Geschichte die Fortführung des Lehrauftrages zur Supplierung für die Dauer der Vakanz gewählt, die Remuneration wurde nur für zwei Jahre genehmigt, und selbst diese war danach fraglich. Die Fakultät verwies dem Reichsminister gegenüber in diesem Zusammenhang darauf, dass ein Wiederaufleben der Österreichischen Geschichte als landesgeschichtlicher Lehrstuhl [...] in Aussicht genommen sei, womit auch gesagt war, dass die Fakultät auf dessen Vertretung besonderen Wert legte. Man war sich also auch an der Philosophischen Fakultät nicht restlos im Klaren darüber, wie die künftige Entwicklung eines Faches „Österreichische Geschichte" bzw. einer „Landesgeschichte" aussehen sollte.

IV. Wissenschaftliches Pirchegger erhielt die entscheidenden Anregungen als Historiker von seinen akademischen Lehrern, von Eduard Richter im Besonderen. Zudem war er von Johann Loserth und dessen immenser Arbeitskraft und Spannweite des Blickfeldes, die von der „Allgemeinen Geschichte" bis zur Landesgeschichte reichte, ganz und gar eingenommen. Auch Hans Zwiedineck-Südenhorst, der mit seinen glänzend aufbereiteten Vorlesungen und Geschichtsbetrachtungen voll politischer Aktualität, Gegenwart und Zukunft seine Hörerschaft zu fesseln wusste, wirkte hier maßgeblich. Meli baute seine Meisterschaft in der Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte der Steiermark auf gründlichste Landesgeschichtskenntnis auf, sodass dieser Lehrer und spätere Weggefährte Pircheggers in „strukturgeschichtlicher" Hinsicht entscheidende Anregungen gab. Diesbezüglich war er aber nicht der einzige, denn es entstand zu dieser Zeit in Graz Arnold Luschin von Ebengreuths grundlegendes Handbuch „Österreichische Reichsgeschichte" (1895) mit Blick auf die Gesamtmonarchie. Es war aber wohl Richters völlig neuer Ansatz der Historischen Geografie, der Pirchegger und über ihn die Landesgeschichtsforschung und -Schreibung der Steiermark maßgeblich prägte. Die Landesgeschichte stand im Mittelpunkt von Pircheggers wissenschaftlicher Arbeit. Sie war bis dahin vornehmlich von der Dynastie her gesehen und betrachtet worden, als politische Geschichte in jedem Fall. Nun entstand hiermit ein gänzlich neuer Zugang, eine Geschichtsschreibung aus den lokalen Gegebenheiten heraus, ausgehend von Weilern, Dörfern, Grundherrschaften, Märkten und Städten. Damit wurde der historische Blick auf gänzlich neue Einheiten gerichtet, neue Lebens welten traten in das historische Bewusstsein. Dies geschah durch Pirchegger in seinen Darstellungsformen auf stark positivistische, in jedem Fall extrem quellennahe Weise, wirkte anregend auf die Pflege der Kulturgeschichte im weitesten Sinn und hatte ein, wenn auch wesentlich gewichtigeres Pendant in verwandten Wissenschaftsdisziplinen, in Rudolf Meringers sprachwissenschaftlichen Zugängen und in der Etablierung der Volkskunde als Wissenschaft.

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Abb. 13: Hans Pirchegger

Ausgangspunkt und Mittelpunkt von Pircheggers historischen Forschungen und wissenschaftlichen Arbeiten war die Quelle. Die empirisch-kritische Fundierung seiner Forschungsergebnisse war ihm ebenso wesentlich wie die Synthese im jeweiligen Forschungsergebnis, oftmals dargestellt in Karten oder Tabellenform, manchmal auch als Ergänzung zu schon bestehenden Werken wie etwa zu dem von Joseph von Zahn herausgegebenen dreibändigen „Urkundenbuch des Herzogthums Steiermark" (1875-1903). Immer fugte er, aus dem Detail heraus zu größeren Einheiten übergehend, ein ganzes Geschichtsbild zusammen, am erfolgreichsten in seiner dreibändigen Landesgeschichte von den, Anfängen bis zur Gegenwart". Basierend auf der wissenschaftlichen Spezialliteratur eines halben Jahrhunderts, die er kritisch sichtend nutzte, erarbeitete er ganze Kapitel auf der Basis archivalischer Quellen neu. Als Kaindl sich an die Neubearbeitung von Franz Martin Mayers „Geschichte Österreichs mit besonderer Rücksicht auf die Culturgeschichte"54 machte, die in zweiter Auflage in zwei umfangreichen Bänden vorlag, erbat er sich Pircheggers Mitarbeit für den zweiten Band im Besonderen für die Zeit der Reformation und Gegenreformation, für welche Pirchegger als Schüler Loserths herausragend qualifiziert war. Kaindl konnte im Jahr vor seinem Tod noch den ersten Band abschließen55; Pirchegger führte danach die Bearbeitung fort und fügte einen dritten Band an.

54 Franz Martin MAYER, Geschichte Österreichs mit besonderer Rücksicht auf die Culturgeschichte 1 - 2 (Wien/Leipzig 2 1900/01). 55 Raimund Friedrich KAINDL, Geschichte und Kulturleben Deutschösterreichs von den ältesten Zeiten bis 1626. Auf Grundlagen der .Geschichte Österreichs' von F. M. Mayer (Wien 1929).

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Pircheggers Lebenswerk als Historiker war bemerkenswert. Allein schon der Umfang der Arbeiten und deren Zahl ist respektgebietend; dabei betrat er vielfach Neuland. Seine Darstellungen beruhten auf dem Studium der einschlägigen Quellen, was sich als Detailreichtum, manchmal auch Farbigkeit in der Darstellung niederschlägt. Was auf den ersten Blick als purer Positivismus erscheinen mag, ordnet sich im Zuge der Lektüre längerer Passagen jenen Strukturen unter, in denen er als Historiker zu denken gelernt hatte. Die Klarheit, in der er „Strukturen" zu erkennen vermochte, zeigt sich dort, wo er die Forschungsergebnisse als Synthesen in der Form historischer Karten darstellen konnte. Insgesamt waren es rund 200 Publikationen (Monografien und Aufsätze), wozu noch zahlreiche kleinere Schriften und Rezensionen in Grazer Zeitungen, im Kalender der Südmark („Deutscher Volkskalender") und in den „Mitteilungen der Südmark" kamen. Allen voran ist die dreibändige „Geschichte der Steiermark" (1920-1936) zu erwähnen, dann die heimatkundliche Darstellung „Abriss der steirischen Landesgeschichte"56, die „Geschichte Deutsch-Österreichs 1526-1919"57 und der „Historische Atlas der österreichischen Alpenländer, Abteilung Steiermark und Istrien, Karten und Erläuterungen" (1906-1921). An weiteren großen Abhandlungen veröffentlichte Pirchegger eine Geschichte des steirischen Erzberges, eine Abhandlung über das steirische Eisenwesen bis 1625, gemeinsam mit Meli die „Steirischen Gerichtsbeschreibungen als Quellen zum Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer", einen Überblick über die Geschichte der Universität Graz, die grundlegende Studie über die Pfarren als Ausgangspunkt der politischen und militärischen Einteilung der Steiermark, einen ebenso detailreichen wie mustergültig durchgeführten Beitrag zu Fritz Popelkas „Geschichte der Stadt Graz" in der Form des von ihm so genannten „Häuser- und Gassenbuchs", eine der großen Leistungen seiner ausgefeilten Methodologie. Pircheggers „retrogressive" Methode erlaubte, zusammen mit Ortsnamen- und patrozinienkundlichen Quellenstudien Rückschlüsse auf Besiedlungs- und Herrschaftsgeschichte der Frühzeit. Die Genealogie wurde aus ihrem bisherigen engen Wirkungskreis der Familienforschung herausgeführt und gewann im Zusammenhang mit der Herrschafts- und Landesbildung der Frühzeit und ihrer Erforschung eine ganz neue Funktion58. Im Mittelpunkt dieser Untersuchungen stand die Steiermark, doch erstreckten sich Pircheggers Betrachtungen auf die Landesbildung des gesamten Ostalpenraumes wie auch der habsburgischen Regionen bis an die Adria. So entstand seine besondere Art der Kulturgeschichte als Geschichte der Lebensformen des „einfachen Volkes", die in vielen seiner Arbeiten sichtbar wurde, nicht allein in der Überarbeitung des auf Karl Ferdinand Mayer zurückgehenden Werkes.

56 Abriss der steirischen Landesgeschichte, hg. v. W. DEMETKOWSKI (Heimatkunde der Steiermark 5, 1925). 57 In zwei Bänden als Fortführung der Überarbeitung des 1. Bandes durch Raimund Friedrich KAINDL, erschienen in Wien 1931 bzw. 1937. 58 Hans PIRCHEGGER, Landesfürst und Adel in der Steiermark während des Mittelalters 1-3 (Forschungen zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der Steiermark 12, 13, 16, Graz 1951-1958).

Hans Pirchegger ( 1 8 7 5 - 1 9 7 3 )

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V. Politisches Pircheggers Jugend fiel in die konfliktträchtige Zeit des Nationalitätenhaders der 1890er Jahre. Zeit seines Lebens prägte ihn das für diese Generation typische „deutsche Kulturbewusstsein", das politisch wohl in der Mehrzahl der Fälle mit „großdeutschen" Konzeptionen korrespondierte. Dies kann nicht mehr als eine vorsichtige „Zuordnung" sein, ein endgültiges Urteil wird erst nach Auswertung des gesamten Nachlasses möglich sein. Der Zerfall der Monarchie scheint ihn mit Wehmut erfüllt zu haben. In der Zwischenkriegszeit zog er sich wohl auf die Position des zurückhaltenden Beobachters der Vorgänge zurück. In seinen Lebenserfahrungen schrieb er dazu: Die zweite Sache, die manchen verwundern könnte, ist die, dass ich bisher von den politischen Verhältnissen kein Wort geschrieben habe. Ich habe mich um sie so wenig als möglich gekümmert, um nicht meine innere Ruhe zu verlieren, ohne die ich nicht soviel hätte leisten können. Deshalb hat mich die Entwicklung des Nationalsozialismus gar nicht interessiert, ich hielt ihn - gegenüber der Sozialdemokratie u. dem klerikalen Zentrum im Reich -für eine Eintagsfliege, Hitler nurfür den Leiter einer Splitterpartei. Aber er gelangte zur Macht im Staate u. nahm in kürzester Zeit einen gewaltigen Aufschwung, während Österreich immer mehr verarmte. Kein Wunder, dass hier die ,Nationalen 'jetzt,Nationalsozialisten' wurden u. diese unter den notleidenden Kleinbauern, Gewerbetreibenden u. abgebauten Arbeitern Anhänger in Massen fanden, zumal in der Jugend. Ich konnte mich freilich mit dem Fanatismus nicht befreunden, mit der Verfolgung der Andersdenkenden, wie sie nach russischem Vorbild im Reich immer mehr um sich griff. Ich billigte auch die Form des Antisemitismus nicht, die in Rohheit ausartete, obwohl ich kein Freund der sogenannten , Kultursaujuden' war59. Der Kanzler Dollfuß suchte ... die Bewegung mit Gewalt zu unterdrücken. Er wusste eben nicht, wie tief sie ging u. dass sie bei der steigenden wirtschaftlichen Not immer breiter werden musste. Sie sollte mit den Knütteln der Polizei u. mit Hilfe von Spitzeln unterdrückt werden, als ob das bei Ideen überhaupt möglich wäre. Ich schrieb am 15. Juni 1933 in mein Tagebuch: Es gibt ununterbrochen Krawalle, Demonstrationsbummel, alle Führer der Nazi sind verhaftet, die Universität ist geschlossen. Interessant ist, dass die Frauen leidenschaftlich gegen das System sind, darunter auch meine Frau u. Tochter*0. Das Deutschtum war ihm, der in einem gemischtsprachigen Gebiet aufgewachsen war und nicht zuletzt infolge seiner Tätigkeit in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg das gewaltige Ausmaß der Gesamtproblematik gemischtsprachig besiedelter Regionen und damit auch die slowenische Positionen sah und verstand, jedenfalls vorrangig: Seit dem Jahr 1900 gehörte Pirchegger dem Deutschen Schulverein Südmark an; im gleichen Jahr trat er der Deutschen Turnerschaft bei, in der er die Funktion des „Sprechwarts" innehatte. Nach dem Zerfall der Monarchie, als er auf ein Jahr beurlaubt wurde, um als Fachberater die deutsch-österreichischen Ansprüche bei den Friedensverhandlungen wissenschaftlich 59 StLA, NL HP, K 12, H 242: Teil II 1926-1955, fol. 211. 60 Ebd. fol. 213.

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zu fundieren, arbeitete er auch als wissenschaftlicher Publizist und veröffentlichte in dieser Zeit eine Fülle von Schriften, in denen er die „deutschen Ansprüche" vertrat61. Zudem wurde er zum Leiter der „Schutzstelle für die Untersteiermark" bestellt. In den Jahren 1938 und 1939 wurde seine besondere Anteilnahme am nationalen Leben des Unterlandes gerühmt. Zu diesem Zeitpunkt gehörte er nicht der NSDAP an. Pirchegger selbst schrieb zu seiner politischen Grundhaltung: Nun ein Rückblick über die Zeit 1930-1938. Ich habe wiederholt betont, dass ich freiheitlich u. national eingestellt war u. bin. Daher war ich ein Gegner von Dollfuß u. Schuschnig[g]62. Diese Zitate aus Pircheggers „Lebenserfahrungen" zu seinen politischen Ansichten können keine abschließende Einschätzung und Beurteilung ersetzen. - Zu der Zeit nach dem März 1938 hielt er selbst fest: Wie verhielt nun ich mich? Ich bekam die Erinnerungsmedaille 13. März 1938 für meine nationale Tätigkeit; für die Partei hatte ich ja nichts getan. Ich hatte für das Unterland gekämpft u. die Erinnerung an das Verlorene in der Steiermark bis 1938 durch Vorträge wachgehalten. Das darf ich als mein Verdienst buchen. Als Demokrat war ich gegen jede Diktatur u. gegen die Einparteiherrschaft, obwohl ich zugeben musste, dass Mussolini u. Hitler Ordnung gemacht u. ihre Länder zur Blüte gebracht hatten. Deshalb suchte ich im Frühling um die Aufnahme in die Partei an u. erhielt nach Jahresfrist das Parteibuch6^. Im Frühjahr 1940 intervenierte „Parteigenosse" Landesarchivdirektor Karl Hafner namens des Historikervereines beim Reichspropagandaamt Steiermark zugunsten Pircheggers im Zusammenhang mit der Bestellung zum ordentlichen Professor für Österreichische Geschichte. Anlass hiefür war die vom Reichspropagandaamt Steiermark zum Gauparteitag durchgeführte „Propaganda-Ausstellung ,Steiermarks Freiheitskampf" 64 im Jahr 1939, an der Pirchegger als „wissenschaftlicher Ratgeber und Bearbeiter" mitgewirkt hatte, was nach den Worten Hafners das Propagandaamt bewegte, sich für die Stellung dieses Gelehrten in seinem bürgerlichen Berufe als Hochschullehrer näher zu interessieren65. Hafner führte aus, dass die Bestellung 61 Pirchegger veröffentlichte nach dem Krieg u. a. folgende Schriften: Das steirische Draugebiet - ein Teil Deutschösterreichs. Mit 1 Kärtchen (Graz 1919); Das steirische Draugebiet. Mit 1 Kt. (Flugblätter für Deutsch-Österreichs Recht 25, Wien 1919). Die slowenischen Ansprüche in Untersteiermark. Mit 1 Kt. (Flugblätter für Deutsch-Österreichs Recht 36, Wien 1919); Die Südgrenze der Steiermark [Dt., ital., engl., frz.] (Wien [1919]); La Styrie. Avec une carte (o. O. 1919); Pettau oder Ptuj?, in: Grazer Tagblatt 2. Morgenausg. 09.02.1919, 5, auch in: Mitteilungen des Vereins Südmark 14 (1919) 95-96. Streifzüge im steirischen Unterland I.—II, in: Tagesp., Morgenbl 09.03.1919, 11 und 23.03.1919, 9, auch in: Mitteilungen des Vereins Südmark 14 (1919) 39-92 und 103-104; Marburg oder Maribor, in: Grazer Tagblatt 2. Morgenausg. 20.04.1919,9-10, auch in: Mitteilungen des Vereins Südmark 14 (1919) 105-107 unter dem Titel: Marburg im slowenischen Lichte. 1. Marburg oder Maribor? 62 StLA, NL HP, K 12, H 242: Teil II 1926-1955, fol. 241. 63 Ebd. fol. 241 und 243. 64 UAG, PA Hans Pirchegger, Schreiben Hafners an das Reichspropagandaamt Steiermark vom 20.03.1940. 65 In einem Gespräch unter Parteigenossen wies Hafner offensichtlich gegenüber dem Reichspropagandaamt auf die Verdienste Pircheggers hin: Die Auflclärungen, welche ich Ihnen in einem darauf bezugnehmenden Gespräch geben konnte, haben Sie weiterhin veranlasst, mich um eine Art Lebensbeschreibung Pircheggers zu ersuchen. Sie haben schon seinerzeit auf Grund meiner Nachrichten feststellen müssen, dass die ausserordentlichen Leistungen des als Mensch und

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Pircheggers zum kommissarischen Leiter des historischen Seminars II (Österreichische Geschichte) und seine 1939 erfolgte Ernennung zum außerplanmäßigen Professor keine Anerkennung der Leistungen dieses Wissenschaftlers darstellten: Was fiir einen jungen Hochschullehrer und Dozenten als Lohn und Anerkennung gelten muss, ist fiir Pirchegger eher als eine Erweiterung der Zurücksetzungen und Kränkungen durch das ihm feindlich gesinnte System Dollfuss-Schuschnig[g] anzusehen. Bekanntlich wurde im Jahre 1935 trotz einstimmigen Beschlusses der Philosophischen Fakultät Graz nicht derprimo loco beim Abgange Hofrat Mells als dessen Nachfolger im Ordinariatfür österreichische Geschichte vorgeschlagene Dr. Pirchegger, sondern infolge Wiener Intriguen ein Erzklerikaler, Dr. H. Hantsch, C. V.-er und Protektionskind Schuschnig[g]s, zum o. Professor der österreichischen Geschichte in Graz ernannt. Niemand, der die Verhältnisse kennt, wird im „ ausserplanmässigen " Professor Pirchegger eine Belohnung seiner Tätigkeit zu erkennen vermögen. Eine solchejedoch wärejedenfalls von der nationalsozialistischen Staatsführung zu erwarten und zu verlangen. Auf dem dienstlichen Wege wird dies nach Überzeugung Aller, welche die Verhältnisse in der Ostmark kennen, nicht zu erwarten sein. Angesichts der verständnisvollen Anteilnahme, welche Sie, sehr geehrter Herr Doktor, an dem Lebensschicksal des hochverdienten Gelehrten und vorbildlichen deutschen Mann Dr. Hans Pirchegger nehmen, will ich meiner Uberzeugung Ausdruck geben, dass Sie mit einem erfolgreichen Eintreten für Pirchegger sich aufrichtige Dankbarkeit in den historischen Fachkreisen erwerben und zugleich im nationalsozialistischen Sinne der Gerechtigkeit und verdienter Würdigung von Pircheggers Lebenswerk zum Durchbruch verhelfen. Seine Ernennung zum o. Professor der österreichischen Geschichte an der Universität Graz müsste unter allen Umständen die logisch gerechte und sichtbare Anerkennung seiner Lebensarbeit bilden66. Hafner schien über die Vorgänge im Zusammenhang mit den Besetzungsvorschlägen der Philosophischen Fakultät an der Universität Graz nicht präzise informiert gewesen zu sein. 1930, nach dem Tod Kaindls, war Pirchegger von der Philosophischen Fakultät an zweiter Stelle für die Nachfolge als Professor fiir österreichische Geschichte vorgeschlagen worden. Im Übrigen standen auf dieser Liste Meli primo loco, der Wiener Privatdozent und Sektionsrat im Staatsarchiv, Josef Karl Mayr, an dritter Stelle. Dem Fachvertreter der Österreichischen Geschichte kam 1935, als Meli in den Ruhestand versetzt wurde, eine neue zusätzliche „bildungspolitische" Bedeutung zu. Das Ministerium forderte mit Schreiben vom 24. April 1935, also zu einem Zeitpunkt, als Meli gerade noch nicht im Ruhestand war, die Grazer Fakultät auf, Besetzungsvorschläge für die Professuren für Österreichische Geschichte bzw. fiir Geschichte der Neuzeit, die seit 1931 vakant Gelehrten gleich ausgezeichneten Professors Hans Pirchegger nach der Wiedervereinigung der Ostmark mit unserem deutschen Vaterlande nichtjene Anerkennung gefimden haben, die dessen -vorbildliche Haltung und Leistung als deutscher Mann nunmehr hätte finden sollen und haben deshalb den eben so richtigen wie dankenswerten Entschluss gefasst, sich fiir Professor Pirchegger bei jenen höchsten Stellen der NSDAP einzusetzen, von denen die gebührende Anerkennung der Leistungen Pircheggers durch den Staat erreicht werden kann. UAG, PA Hans Pirchegger, Schreiben Hafners vom 20.03.1940. 66 UAG, PA Hans Pirchegger, Schreiben Hafners vom 20.03.1940.

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war, zu erstellen, und zwar für Österreichische Geschichte als Extraordinariat. Der von der Fakultät eingesetzten Kommission gehörten lediglich zwei Historiker an, nämlich Meli und der Althistoriker Wilhelm Enßlin. Im Besetzungsvorschlag äußerte man die dringende Bitte um Fortfuhrung der „Österreichischen Geschichte" als Ordinariat, und schlug an erster Stelle den Wiener Extraordinarius Otto Brunner vor. An zweiter Stelle war Pirchegger, an dritter Fritz Popelka vorgeschlagen. Auch wurde Mathilde Uhlirz genannt, doch kam sie angesichts der mit der Professur verbundenen „weltanschaulichen Vorlesungen" nicht wirklich in Frage. Man konnte aber wohl auch die übrigen Kandidaten nicht als im politischen Lager Schuschniggs stehend erachten, und so schien man im Ministerium den Grazer Besetzungsvorschlag, in dem für die Fortführung des Faches als Ordinariat angesichts seiner gehobenen Bedeutung unter den gegebenen politischen Umständen plädiert wurde, als provokativ aufgefasst zu haben. Keiner der Genannten wurde berücksichtigt. Man entschied sich kurzerhand für Hantsch67, Dozent der Neueren Geschichte in Wien, der auf dem Vorschlag nicht aufgeschienen war. Hantsch nahm mit 1. Oktober 1935 seine Lehrtätigkeit in Graz als außerordentlicher Professor auf und hielt auch die im Sommer 1935 eingeführte weltanschauliche Pflichtvorlesung „Die ideellen und geschichtlichen Grundlagen des österreichischen Staates". Im November 1937 regte das Ministerium von sich aus der Grazer Fakultät gegenüber die Ernennung Hantsch' zum Ordinarius an, ein entsprechender Fakultätsbeschluss erfolgte am 18. Januar 1938, die tatsächliche Ernennung unterblieb jedoch. Hafner schien also entweder nicht hinlänglich informiert oder stellte die Vorgänge „verkürzt" dar. Das Reichspropagandaamt leitete sein Schreiben an Regierungsdirektor Josef Papesch, Leiter der Hauptstelle Kultur der NSDAP Gauleitung Steiermark, weiter, der es wiederum an den Rektor der Universität Karl Polheim sandte, unter anderem mit der Anmerkung: Was aber soll ich damit? Ich bin überzeugt, dass das Schicksal Pircheggers bei Ihnen in bester Hand ist. Ich bitte Sie nur gelegentlich um ein Wort, ob dieser Fall irgendwie in Behandlung steht6*. Für die Partei war die Sache damit abgeschlossen. Pirchegger sah in der Geschichte eine „magistra vitae" und folglich seine Aufgabe als Historiker im Vermitteln von aus der Geschichte gewonnenen Weisheiten, zugleich auch als Dienst an Heimat, Volk, Nation, wie dies der deutschnationalen Grundauffassung der Zeit um 1900 und danach entsprach. Er engagierte sich als Lehrer in der Volksbildung und Publizist in Tageszeitungen und Schriften „für den Tag". Seine große wissenschaftliche Leistung zeigte sich im Dienst an der Landesgeschichte, die er auf eine neue Grundlage stellte. Wenn mich meine Freunde als den Landeshistoriker bezeichnen, so glaube ich, es in dem Sinne zu sein, dass ich die Heimatgeschichte u. das Interesse für sie im Volke verbreite. Deswegen die vielen Vorträge u. volkstümlichen Aufsätze in Zeitungen u. Zeitschriften. Auf eine Anerkennung von ,oben' rechne ich dabei nicht im mindesten69.

67 Pirchegger war Hantsch, einem „national fühlenden Klerikalen", gegenüber durchaus positiv eingestellt. 68 UAG, PA Hans Pirchegger, Begleitschreiben Papeschs an Rektor Polheim vom 20.04.1940. 69 StLA, NL HP, K 12, H 208: Teil I 1875-1925, fol. 161.

Wilhelm Bauer (1877-1953) Ein Wiener Neuzeithistoriker mit vielen Gesichtern. .Deutschland ist kein ganzes Deutschland, wenn es nicht die Donau, wenn es Wien nicht besitzt"1 von Martin Scheutz

Abb. 14: Wilhelm Bauer

I. Der „Deutsch-Österreicher" Der seit dem 26. November 1917 als unbesoldeter Extraordinarius in Wien wirkende Wilhelm Bauer, der das immer dramatischer werdende Kriegsgeschehen intensiv re1

Besonderer Dank für Hinweise gebührt Dr. Manfred Stoy, Dr. Paul Herold und Dr. Stefan Sienell, alle Wien, und Dr. Harald Krahwinkler, Klagenfurt. ÖAW Archiv, NL Wilhelm Bauer (= WB) K. 7: Spendenschein Nr. 13 (Mai 1921) mit einem von „Dr. Wilhelm Bauer, Universitätsprofessor", verfassten Text für „Südmark. Bund der Deutschen zur Erhaltung ihres Volkstums im In- und Auslande". Bauer sollte einen Text für einen Spendenschein verfassen. Die Aufforderung dazu (Ebd. K. 8) kam von den zusammengeschlossenen Schutzvereinen „Südmark", dem „Bund der Deutschen in Niederösterreich" und dem „Verein zur Erhaltung des Deutschtums in Ungarn" (vom 02.05.1919). Als Motto diente das von Ottokar Kernstock geschriebene Gedicht: „Bleib' edles Wien, der Himmel walt's, des Deutschtums Zitadelle". Zur Situation des Schulvereins nach dem Ersten Weltkrieg vgl. Monika STREITMANN, Der Deutsche Schulverein vor dem Hintergrund der österreichischen Innenpolitik 1880-1918. Diss. (Wien 1984) 229-231; Barbara ALLMANN, Der Deutsche Schulverein in Kärnten, Görz und Triest vor dem Hintergrund der österreichischen Schulpolitik und im Spannungsfeld nationaler Differenzierung 1880-1914 (Dipl. Wien 1988) 98-102.

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zipierte, war Ende 1916 mit dem Vorschlag des k. u. k. Außenministeriums konfrontiert worden, eine Zeitschrift herauszugeben. Anders als seine Kurskollegen am IÖG, Hans Hirsch (1878-1940) 2 , und der während der Sommermonate freiwillig aus Graz zum Felddienst einrückende Heinrich Srbik (1878-1951) 3 , musste Bauer wegen Untauglichkeit nicht zu den Waffen. Die zu gründende Zeitschrift hatte einzig das Ziel, die Geschichte der Österreichisch-ungarischen Monarchie [...] als geschichtliche Einheit dem feindlichen Ausland vorzustellen*. Bauer scheint auch deshalb als Herausgeber im Sinne einer Neubelebung des „Österreichbegriffes" angesprochen worden zu sein, weil er 1915 in der von Hugo von Hofmannsthal begründeten Reihe „Österreichische Bibliothek" einen Band mit „Briefen aus Wien"5 herausgegeben hatte6. Das Periodikum „Österreich. Zeitschrift für Geschichte" brachte es 1918/19 lediglich zu einem Jahrgang und hatte schon in der Gründungsphase mit beträchtlichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Ungarn fanden sich ein, zeitweise etliche Polen je nach der augenblicklichen politischen Lage, ein Kroate und nur ein Tscheche, der sich hinter den Decknamen ,Boemus' versteckte. Mit dem Zusammenbruch der Monarchie endete der erste und letzte Band dieser Zeitschrift, die mir viel Arbeit verursachte [...]. Die Zeitschrift war insofern echt österreichisch, als sie von jedem falschen Patriotismus entfernt blieb, und das Ministerium des Äußern unter Czernin wohl die materiellen Grundlagen bot, aber auf den Inhalt in keiner Weise Einfluß zu nehmen versuchte1. Offen deklariertes Ziel der Zeitschrift war eine „Erziehung zum Staat", indem den Lesern die Transformation der „Vielvölkerheit, die heute im Rahmen Österreichs sich entfaltet", zu einem Staat, zu einer „Volkseinheit"8 vor historischem, kunst- und literaturhistorischem Hintergrund der aus der ganzen Monarchie stammenden Beiträge vor Augen gefuhrt werden sollte9. Die Zeitschrift orientierte sich nicht an der Dynastie

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Zu Hirsch siehe Roman ZEHETMAYER, Hans Hirsch (1878-1940). Historikerund Urkundenforscher, in: Waldviertler Biographien 2, hg. v. Harald H I T Z , Franz PÖTSCHER, Erich R A B L , Thomas WINKELBAUER (Schriftenreihe des Waldviertler Heimatbundes 45, Horn - Waidhofen/Thaya 2004) 221-236, und den Beitrag in diesem Band; zu Srbik Fritz FELLNER: Heinrich von Srbik - „Urenkelschüler Rankes", in: DERS., Geschichtsschreibung und nationale Identität. Probleme und Leistungen der österreichischen Geschichtswissenschaft (Wien 2002) 330-345. Die bevorzugte Waffengattung der bürgerlichen Historiker war die Artillerie. Sowohl Hirsch als auch Theodor Mayer wie auch Srbik oder Engel-Janosi dienten in dieser Waffengattung, siehe Friedrich ENGEL-JANOSI: Damals - Erinnerungen eines Offiziers und Wertung des Historikers, in: Richard Georg PLASCHKA, Karlheinz M A C K , Die Auflösung des Habsburgerreiches. Zusammenbruch und Neuorientierung im Donauraum (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und SüdosteuropaInstituts 3, Wien 1970) 521-526. ÖAW, PA Wilhelm Bauer, „Mein Lebenslauf, 6 [im Folgenden BAUER, Lebenslauf]. Wilhelm B A U E R , Briefe aus Wien (Österreichische Bibliothek 20, Wien 1915). Günther RAMHARDTER, Geschichtswissenschaft und Patriotismus. Österreichische Historiker im Weltkrieg 1914-1918 (Wien 1973) 57-61. B A U E R , Lebenslauf (wie Anm. 4) 6. Wilhelm B A U E R , Österreich, in: Österreich. Zs. fur Geschichte ( 1 9 1 8 / 1 9 ) 1 - 1 6 , hier 5 , 1 2 . Siehe zur Zeitschrift auch Fritz FELLNER, Die Historiographie zur österreichisch-deutschen Problematik als Spiegel der nationalpolitischen Diskussion, in: DERS., Geschichtsschreibung (wie Anm. 2) 152. Siehe etwa die Absage von Albert Berzeviczy auf eine Einladung zur Mitarbeit bei der Zeitschrift „Österreich" (ÖAW Archiv, NL WB K. 1) in einem Briefvom24.07.1917: [...] muss ich mich von ei-

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oder der Verfassung, sondern stellte auch die Leistungen anderer „Nationalitäten" innerhalb der Monarchie - etwa auf dem Gebiet der Literatur, der Kunst und Geschichte - dem Leser in Literaturberichten vor Augen. Kurz vor Untergang der Habsburgermonarchie wurde die Gesamtstaatsidee, möglichst von Beiträgern aus den verschiedenen „Nationen" der bröckelnden Monarchie unterstützt, nochmals forciert. Vor allem Historiker, darunter so klingende Namen wie Alfons Dopsch, Wilhelm Erben, August Fournier, Johann Loserth, Oswald Redlich, Gustav Turba oder Max Vancsa, waren zur Verteidigung eines übernationalen österreichischen Staatsgedankens ausersehen. Die Wiener Universitätshistoriker hatten sich dabei vor dem Krieg publizistisch geringfügig in die Auseinandersetzungen um die österreichischen Nationalitäten eingemischt, die Nationalitätenkonflikte tangierten die historische Fachliteratur insgesamt nur wenig10. Erst infolge der außerordentlich großen Belastungen des Krieges verließen die Historiker ihren „Elfenbeinturm" und versuchten, politischen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Monarchie zu nehmen. Aber auch Literaten wurden verstärkt vor den Karren der österreichischen Gesamtstaatsidee gespannt: Alois Veltze befehligte im Kriegsarchiv eine so genannte „Literarische Gruppe" von „Tintlern" (darunter Rudolf Hans Bartsch, Franz Theodor Csokor, Alfred Polgar, Rainer Maria Rilke, Felix Saiten, Stefan Zweig)11, die mit der Produktion von Propagandatexten bzw. auch mit Vorträgen im In- und Ausland beschäftigt war. Oswald Redlich initiierte mit anderen Historikern 1917 die „Neue Österreichische Biographie", um ein deutlicheres Nationalbewusstsein im Zeitalter Franz Josephs hervorzurufen. In dieser Reihe sollte auf biografischer Basis die geschichtliche Eigenart und Bedeutung des multinationalen Staatengefuges herausgearbeitet werden12. Bauers 1917 konzeptuell eigentlich anachronistische Zeitschrift „Österreich" - Erzherzog Karl etwa wurde für dieses Unternehmen um Spenden angesprochen13 - versuchte den Patriotismus der Bewohner der Monarchie 1918 nochmals mit pathetischem Unterton anzufachen. In den Worten des glänzenden Stilisten und ironisch-sarkastischen Briefschreibers Bauer klingt dies zeittypisch so: „Ohne Murren, ohne Zögern zogen Tausende, Abertau-

nem Unternehmen fernhalten, welches laut dem mir mitgetheilten Prospect die offenkundige Tendenz befolgt, auf dem Felde der geschichtlichen Literatur den Begriff der Donaumonarchie durch den Begriff, Österreich 's' zu substituieren, Ungarns Geschichte der Geschichte Österreichs einzuverleiben und Ungarn den ,Nationalitäten' des österreichischen Staates anzureihen. 10 Siehe zum Themenkomplex Geschichtswissenschaft und „gesellschaftliches Engagement" Herbert DACHS, Österreichische Geschichtswissenschaft und Anschluß 1918-1930 (Veröff. des Historischen Instituts der Universität Salzburg 9, Wien - Salzburg 1974) 1-17. 11 Siehe Kurt PEBALL, Literarische Publikationen des Kriegsarchivs im Weltkrieg 1914 bis 1918, in: MÖStA 14 (1961) 240-260; Ulrich WEINZIERL, Alfred Polgar. Eine Biographie (Frankfurt/M. 1992) 79-94; Jozo D2AMBO, Armis et litteris - Kriegsberichterstattung, Kriegspropaganda und Kriegsdokumentation in der k. u. k Armee 1914-1918, in: Musen an die Front! Schriftsteller und Künstler im Dienst der k. u. k. Kriegspropaganda 1914-1918. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung. Teil 1: Beiträge, hg. v. DEMS. (München 2003) 10-37. 12 Oswald REDLICH, Neue Österreichische Biographie, in: Österreich. Zs. für Geschichte (1918/19) 69 70; RAMHARDTER, G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t ( w i e A n m . 6 ) 181 f.

13 Siehe das Ansuchen vom 28.03.1917 um „Zuwendung einer huldvollen Spende" für die Zeitschrift in ÖAW Archiv, NL WB K. 3.

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sende ins Feld. Aus allen Gauen Österreichs kamen sie, kämpften, bluteten, starben für Österreich. Mögen auch einige Verirrte abseits gestanden haben, gegenüber dem waffentrotzigen, opferbereiten Bekenntnisse der anderen versagten alle ausgeklügelten politischen Theorien. [...] Mit Staunen sahen sie, daß das zu Tode gehetzte, längst schon totgesagte Österreich lebt. Gegner und Freunde, Zweifler und Gleichgültige sahen es aus seinen Grüften auferstehen. Ehedem eine geschichtliche Streitfrage, ein politisches Problem, dem sie herzenskühl gegenüberstanden, ist es ihnen nun ein Stück Erlebnis geworden. Den Österreichern nicht weniger als seinen Feinden. Die draußen auf den blutigen Feldern haben es uns erstritten, wir alle, wir haben in diesen Tagen Österreich erlebt."14 Bauer wollte mit seiner Zeitschrift „Österreich als Kulturerscheinung in seiner Geschichte aufsuchen". Einleitend gibt er einen historischen Abriss der Geschichte Österreichs, beginnend mit der „Ostmark" unter Karl dem Großen bis in die - freilich nur kursorisch geschilderte - Neuzeit. Schon in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, nach der Schlacht bei Augsburg 955 und kulminierend in der Person des Passauer Bischofs Pilgrim, habe sich in Österreich das gemeinsame friedliche Siedlungswerk von „Deutschen" und „Slawen" vollzogen. ,,[U]nsere Lande sind ein Schulbeispiel für ein Kolonialgebiet, in dem niemand unteijochte, niemand unterjocht wurde. Die Herrschaft des Deutschen Reiches, die jene Marken als Vorwerke wider die Völker des Ostens errichtet hatte, ward als etwas Selbstverständliches empfunden."15 Die von Bauer betont symbiotisch aufgefasste Kolonisation sei vorbildlich gewesen, ein Vorgriff auf die Gegenwart, auf das „Völkervielerlei" des Staates, in dem verschiedene Nationen unter großen Schwierigkeiten nebeneinander existierten. Als Schlussplädoyer stimmte Bauer einen angesichts der sich verschärfenden Konflikte versöhnlichen Ton an: „Das so arg verlästerte, verkannte, ja verneinte Österreich lebt, es lebt in uns, in unserem Ich, in unseren Anschauungen, in unserem Denken, in unseren Vorzügen und in unseren Schwächen. Aufgabe des Historikers ist es, dieses Leben uns in seinem Werden aufzuschließen, es mitzuleben."16 Von den an deutschösterreichischen Universitäten lehrenden Historikern machten alle mit Ausnahme des deklarierten Sozialdemokraten und Kritikers der allgemein herrschenden Kriegshysterie, Ludo Moritz Hartmann (1865 1924), dem aufgrund seiner Konfessionslosigkeit in der Monarchie eine Professur verwehrt blieb, bei der Zeitschrift „Österreich" mit. Projekte zur Gründung eines Nachfolgeperiodikums („Deutsch-Österreichische Monatshefte", Financier Georg Lippa) dieser kurzlebigen Zeitschrift zerschlugen sich. Bauer beurteilte nur wenige Jahre nach dieser klaren Stellungnahme für die später als Völkerkerker17 apostrophierte Habsburgermonarchie die Frage der „nationalen Zugehörigkeit" der neu erstandenen Republik (Deutsch-)Österreichs völlig anders: Im Rückblick erschien ihm der Erste Weltkrieg als ein Krieg der Deutschen gegen den inneren und äußeren Feind. Bauer wandte sich zudem in der Folge immer wieder in

14 15 16 17

BAUER, Österreich (wie Anm. 8) 2. Ebd. 12. Ebd. 16. DACHS, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 10) 132.

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Zeitungsbeiträgen gegen die alleinige Kriegsschuld der Mittelmächte18. Die Siegermächte hätten dem durch die „deutsche Vergangenheit" geprägten Österreich die „staatliche Selbständigkeit aufgezwungen"; man habe Österreich sogar das Führen des Namens „Deutsch-Österreich" verboten, obwohl die „deutsche Zukunft" Österreichs nach Ansicht Bauers außer Streit stand19. Die Auseinandersetzung um die kleinbzw. die großdeutsche Frage thematisierte Bauer wiederholt, eine Synthese im Begriff eines „gesamtdeutschen Gedankens" herbeiführend, etwa auch in dem 1930 erschienenen Sammelwerk zur „Anschlußfrage":20 „Der alte großdeutsche Gedanke, der im Gegensatz zu Preußen Anhang gewonnen hatte, wandelt sich den Zirkeln des heranwachsenden akademischen Geschlechtes zu einem gesamtdeutschen. Um Heinrich Brunner und Wilhelm Scherer herum, die beide 1882 an die Straßburger und dann an die Berliner Universität berufen wurden, scharte sich eine vorerst kleine Gruppe von Österreichern, die die alten Vorurteile von sich warfen und erkannten, daß die Deutschösterreicher nun früher oder später ihre bisherige Vormachtstellung im Habsburgerstaate aufzugeben gezwungen sein würden. Eine solche Umstellung nicht des Denkens, aber doch des Fühlens hatte stärker von den Donaudeutschen Besitz ergriffen, als es die Machthaber wahr haben wollten."21 Der Führer der Alldeutschen, Georg Ritter von Schönerer, dem Bauer 1941 eine kleine Monografie widmen sollte, wirkte den nationalstaatlichen Bestrebungen der Tschechen und Ungarn entgegen. „Noch bildeten seine Parteigenossen freilich ein kleines Häufchen, aber die Stichworte, die sie in bezug auf das Verhältnis von Nation und Staat ausgaben, wirkten über ihren Kreis hinaus und wurden Gemeingut aller nationalgesinnten Deutschösterreicher, als 1897 Badeni mit Sprachverordnungen für Böhmen und Mähren herauskam, die zum Kamp18 Siehe zum Umbruch 1918 aus der Sicht der Wiener Historiker Reinhard BLÄNKNER, Von der „Staatsbildung" zur „Volkswerdung". Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Alteuropa oder Frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, hg. v. Luise SCHORN-SCHOTTE (ZHF Beiheft 23, Berlin 1999) 87-135, hier 93-99. 19 DACHS, G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t ( w i e A n m . 10) 1 3 3 - 1 3 4 .

20 Zur Position Bauers, die in Abhängigkeit von der Srbiks stand, siehe Michael DERNDARSKY, Zwischen „Idee" und „Wirklichkeit". Das Alte Reich in der Sicht Heinrich von Srbiks, in: Imperium Romanum - Irreguläre Corpus - Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, hg. v. Matthias SCHNETTGER (Veröff. des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte Beiheft 57, Mainz 2002) 189-205, hier 194: Nach dem breit rezipierten Vortrag Srbiks 1929 in Salzburg zur „Gesamtdeutschen Geschichtsauffassung" nahm Österreich einen „Ehrenplatz" in der Deutschen Geschichte ein, zum anderen hatte der Reichsgedanke nach Srbik immer schon einen universalen Charakter. 21 Wilhelm BAUER, Der großdeutsche Gedanke in der österreichischen Geschichte, in: Die Anschlußfrage in ihrer kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Bedeutung, hg. v. Friedrich F. G. KLEINWÄCHTER, Heinz von PALLER (Wien - Leipzig 1930) 16. Siehe auch: Heinrich Ritter von Srbik. Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1912-1945, hg. v. Jürgen KÄMMERER (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 55, Boppard a. Rh. 1988) 141: Brief Bauers an Srbik, 15.12.1919: Ich bleibe gleich bei dem, was uns grundsätzlich unterscheidet. Die Anschlußfrage! Du willst nicht zu einem Deutschland der Coh\e\n und Zeitz u. Scheidemann. Ich will. Und ich will deshalb, weil ich es für ein nationales Gebot halte, auch dann meinem Volk mich anzuschließen, wenn es just im Unglück ist!

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fe herausforderten und schließlich auch die bis dahin abseits stehenden deutschen Politiker zu schärferer Betonung ihres Nationalbewußtseins zwangen."22 Bauer kämpfte in seinen populär gehaltenen Schriften für eine Überwindung von klein- und großdeutschen Standpunkten, indem er die Leistungen der „Deutschen" in Österreich immer wieder herausstrich und betonte, dass Österreich immer „deutsch" geblieben sei, ja „Fremdes" in „Deutsches" umgewandelt habe23. Die kleindeutsche Staatsgründung von 1871 sei politisch die einzige Lösung gewesen, aber nach 1918 habe sich der Gegensatz „groß- und kleindeutsch" politisch und auch wissenschaftlich überlebt. Das Ziel lautete, so das Credo von Bauer ab Mitte der 1920er Jahre, „einfach und schlicht deutsch". Bauer trat mit Entschiedenheit und Engagement gegen eine Verachtung der österreichischen Kultur auf; in einer Vergleichsuntersuchung von österreichischen und deutschen Schulbüchern 1927 zeigte er, wie schlecht gerade in deutschen Schulbüchern die politischen und kulturellen Leistungen der Deutschen in Österreich dargestellt wurden24. Im Referenzwerk der „Gesamtdeutschen Wissenschaft", dem von Josef Nadler und Heinrich Srbik 1936 herausgegebenen Sammelband „Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum", legte Bauer wenige Jahre vor dem Anschluss nochmals eindringlich und auf breitem kulturgeschichtlichen Hintergrund „Das Deutschtum der Deutsch-Österreicher"25 dar, Beispiele aus dem Nibelungenlied, dem „Ehren-Ruff Teutschlands, der Teutschen und ihres Reiches" von Wagner von Wagenfels26 (gest. 1702) bis zum 20. Jahrhundert bemühend. Österreich galt ihm als das „Land der Absorption", als eine Region, wo Fremdes „eingedeutscht" werde: „Es [Österreich] saugte das Fremde, das sich ihm von außer [!] her aufdrängt, auf, verarbeitet es und formt es nach seinem Sinne um."27

22 BAUER, Der großdeutsche Gedanke (wie Anm. 21) 19. 23 Siehe vor allem Wilhelm BAUER, Das Deutschtum der Deutschösterreicher, in: Vergangenheit und Gegenwart 17 (1927) 325-342, 405-422 [als Teil eines Buches „Wir Österreicher"]; zur Diskussion (im Kontext von Raimund F. Kaindl) Martin-Fritz KNOR, Raimund Friedrich Kaindl und die Wiener Schule (Wien 2 1999) 129f. Zu Kaindl siehe auch den Beitrag in diesem Band. 24 Wilhelm BAUER, Oesterreich in den reichsdeutschen Geschichtsschulbüchern (Berlin 1927). 25 Wilhelm BAUER, Das Deutschtum der Deutsch-Österreicher, in: Österreich. Erbe und Sendung im deutschen Raum, hg. v. Josef NADLER, Heinrich von SRBIK (Salzburg/Leipzig 1936) 369-382. Es handelt sich um eine Umarbeitung von Bauers Beitrag: Das Deutschtum der Deutsch-Österreicher, in: V e r g a n g e n h e i t u n d G e g e n w a r t 17 ( 1 9 2 7 ) 3 2 5 - 3 4 2 , 4 0 5 ^ 1 2 2 .

26 Wilhelm BAUER, Der „Ehren-Ruff Teutschlands" von Wagner von Wagenfels, in: MÖIG 41 (1926) 257-272. Bauer sieht in Wagner von Wagenfels einen „Vorkämpfer für nationale Betrachtungsweise" (266). Wagner unterscheide bereits „ganz im modernen Sinne zwischen Österreich als seinem engeren (wie er sagt, .eigentlichen') und Deutschland als seinem weiteren Vaterlande" (268). 27 BAUER, Deutschtum (wie Anm. 25) 378. In diesen Kontext gehört auch das in damaliger Zeit häufige Umdeuten von „Barock" als „deutsche" Erfindung, siehe Friedrich POLLEROSS, Barock ist die Art, wie der Österreicher lebt. Oder: Barocke Architektur als Brücke und Bollwerk, in: Memoria Austriae I. Menschen - Mythen - Zeiten, hg. v. Emil BRIX, Ernst BRUCKMÜLLER, Hannes STEKL (Wien 2004) 446-472.

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II. Ein „typisch österreichisch[er]" Lebenslauf Bauer war ein entsetzlicher Vortragender, man hatte unausgesetzt das Bedürfnis, ihm auf den Rücken zu schlagen, damit die mühselig herausgepreßten Worte etwas leichter das Gehege seiner Zähne verließen. Dabei war er nicht nur ein sehr guter Stilist, sondern ein ganz ausgezeichneter Gelehrter, der sehr viel wußte und reich an Ideen war28. Diese spitzzüngige Einschätzung des späteren Direktors des Kriegsarchivs, Ministers und Generals der Wehrmacht in Kroatien Edmund Glaise-Horstenau (1882-1946), skizziert den Universitätslehrer Bauer - von Alphons Lhotsky als „Außenseiter am Institut"29 geschildert - aus der Sicht eines Studierenden und späteren Kollegen. Wer war nun dieser mehrfach als stockend vortragend und etwas steif beschriebene Mann? Am 31. Mai 1877 in Wien als Sohn des aus kleinen Verhältnissen stammenden späteren Direktor-Stellvertreters der Donaudampfschifffahrtsgesellschaft geboren - seine Familie kam ursprünglich aus Mähren - fühlte sich Bauer Zeit seines Lebens sowohl als Wiener wie auch als „Altösterreicher". In seinem 1952 für die Akademie der Wissenschaften verfassten Lebenslauf spricht er von einer typisch österreichischen. Herkunft30. Nach dem Tod der 1883 an einem Lungenleiden verstorbenen Mutter Johanna heiratete der als resolut, durchschlagskräftig und das Familienleben dominierend beschriebene Vater Wilhelm 1886 ein zweites Mal. Der als Prosektor und Bakteriologe später in Linz ansässige Arzt Karl Bauer (1886-1950) 31 entstammte dieser Verbindung. Nach einer Privatvolksschule in der Nähe der Wiener Stephanskirche besuchte der wohlbehütete Wilhelm Bauer zwischen 1887 und 1891 das humanistische Landstraßer Gymnasium, wobei er beträchtliche Schulschwierigkeiten hatte und eine

28 Ein General im Zwielicht. Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau 1: K. u. k. Generalstabsoffizier und Historiker, hg. v. Peter BROUCEK (VKGÖ 67, Wien/Köln/Graz 1980) 543. 29 Alphons LHOTSKY, Geschichte des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 1854-1954 (MIÖG Erg.-Bd. 17, Graz/Köln 1954) 323. Siehe zur Institutsgeschichte jetzt auch Manfred STOY, Das Österreichische Institut für Geschichtsforschung 1929-1945 (MIÖG Erg.-Bd. 50, Wien/München 2007).

30 BAUER, Lebenslauf (wie Anm. 4) 1. Dieser elf maschinschriftliche Seiten umfassende Lebenslauf könnte im Kern schon für einen von Nikolaus Grass herausgegebenen Band mit Selbstdarstellungen von Historikern verfasst worden sein, in dem aber nach einigen Diskussionen fuhrende nationalsozialistisch belastete Historiker keine Aufnahme fanden. Siehe daneben vor allem die viele Detailaspekte berücksichtigende Dissertation (vor allem auch die zahlreichen Zeitschriftenbeiträge Bauers!) von Elisabeth SCHULZ, Wilhelm Bauer. Studien zu Leben und Werk (Dissertationen der Universität Wien 142, Wien 1979). Der acht Kartons umfassende NL bis 1945 liegt im Archiv der ÖAW in Wien (geordnet von Dr. Stefan Sienell und Dr. Klaus Wundsam), ein zehn Kartons umfassender NL im OÖLA, Linz. Eine über andere Nachlässe verstreute Korrespondenz Bauers findet sich im Archiv des IÖG, Wien. Nachrufe (in Auswahl): Otto BRUNNER, Wilhelm Bauer. Nachruf, in: ÖAW (Hg.), A l m a n a c h 103 ( 1 9 5 4 ) 3 4 5 - 3 6 1 ; H e i n r i c h v o n FICHTENAU, W i l h e l m B a u e r , in: H Z 178 ( 1 9 5 4 ) 2 1 5 -

216; Hans STURMBERGER, Wilhelm Bauer in: DERS., Land ob der Enns und Österreich. Aufsätze und Vorträge (MOÖLA Erg.-Bd. 3, Linz 1979) 630-633. 31 Karl Bauer war im Ersten Weltkrieg sechs Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft, siehe die Versuche Bauers ihn im Zuge eines Gefangenenaustausches frei zu bekommen, ÖAW Archiv, NL WB K. 6, Schreiben des Regierungsrates Dr. Robert von Srbik, Hauptmann des Generalstabes, an Bauer, 05.12.1917.

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Klasse wiederholen musste. Ein im niederösterreichischen Seitenstetten lebender Onkel scheint einen Wechsel an das von den Benediktinern geleitete Stiftsgymnasium veranlasst zu haben, wo sich seine Schulleistungen zwar steigerten, wirklich gute Leistungen bot Bauer jedoch lediglich im Unterrichtsfach Deutsch. Bauer blieb mit dieser Schule bzw. dem dort wirkenden Lehrkörper und den Patres des Stiftes Zeit seines Lebens verbunden. Im Jahr 1933 trat er dem „Seitenstettner Verein in Wien" bei, über 20 Jahre (seit ca. 1927) organisierte Bauer das jährliche Maturatreffen seines Jahrganges. Seine Freundschaft zum späteren Direktor des Oberösterreichischen Landesarchivs Ignaz Zibermayr rührt aus diesen Tagen32. Nach Ablegung der Reifeprüfung im Juni 1897 entschied sich Bauer, unterstützt durch einen Ratschlag des Florianer Chorherrn Engelbert Mühlbacher (1843-1903), des Direktors des 1854 gegründeten IÖG, bald für das Geschichtsstudium. Bauers Vater hatte den in der Sommerfrische von Ybbs weilenden Mühlbacher kennengelernt und um eine Bewertung von Karrierechancen für eine allfallige Wissenschaftlerlaufbahn seines Sohnes gebeten. In dem durch die Badeni-Unruhen an der Universität Wien gestörten Wintersemester 1897/98 belegte Bauer vorwiegend Vorlesungen aus dem Bereich Deutsche Philologie, aber schon im ersten Semester besuchte er auch die Übungen des erstmals am Historischen Institut lehrenden Dozenten Oswald Redlich. Im Wintersemester 1898 begann Bauer den Vorbereitungskurs am IÖG. Die Zeitungen sprachen in Nachrufen auf Bauer vom „Geniejahrgang"33 1898, dem 23. Kurs des IÖG34. Im Wintersemester 1898 traten [Hans] Hirsch und ich, die wir uns schon vom ersten Semester des Hochschulstudiums an kennengelernt hatten, im Vorbereitungskurs des Osterreichischen Instituts für Geschichtsforschung, mit [Heinrich] Srbik in freundschaftliche Berührung. Später verdichteten sich diese Beziehungen, als wir im Herbst 1900 im Auftrag des Instituts für die Sammlung der Habsburgerregesten nach Graz gesandt wurden und im folgenden Jahr erst nach München für die Ausgabe mittelalterlicher Bibliothekskataloge und daran anschließend nach Klagenfurt wiederfür die Habsburgerregesten gesandt wurden35. Dieses später immer wieder so genannte „Trifolium"36 war für die weitere Lebensplanung Bauers prägend. Eine lebenslange, enge Freundschaft band Bauer an den aus bäuerlichen Verhältnissen kommenden Junggesellen Hirsch, den er während des Ersten Weltkrieges mit Briefen tröstete und ausfuhrlich mit Nachrichten über 32

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BAUER,

M O Ö L A 3

Ignaz Zibermayr. Persönliches und Fachliches rund um seine Selbstbiographie, in:

(1954)

19-25.

33 Die Presse, 25.11.1953. 34 L H O T S K Y , Geschichte (wie Anm. 29) 279-283; Leo SANTIFALLER, Das Institut für Österreichische Geschichtsforschung. Festgabe zur Feier des zweihundertjährigen Bestandes des Wiener Haus-, Hofund Staatsarchivs (Veröff. des IÖG, Wien 1950) 123f. Neben Bauer, Hirsch und Srbik waren noch Wilhelm John, Wladimir Levec und Karl Christoph Moser sowie die außerordentlichen Mitglieder Rudolf Kerner und August Schachermayer Kursteilnehmer. Zu Bauer zuletzt knapp Fritz FELLNER, Doris A. CORRADINI, Österreichische Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein biographischbibliographisches Lexikon (VKGÖ 99, Wien/Köln/Weimar 2006) 52. 35 B A U E R , Lebenslauf (wie Anm. 4) 3. 36 OÖLA, NL WB K. 4: Aus dem Werdegang eines Trifoliums von Wilhelm Bauer (maschinenschriftlich), dort finden sich gute Beschreibungen von Hirsch und Srbik aus der gemeinsamen Studentenzeit.

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den „Besetzungspoker" an den österreichischen Universitäten versorgte; ebenso war auch der einer altösterreichischen Beamtenfamilie entstammende Heinrich Srbik ein lebenslanger, wenn auch aufgrund seiner steilen Karriere in der Neuzeitgeschichte argwöhnisch und mitunter von Bauer neidisch betrachteter, wohl auch recht empfindlicher Freund. Bauer widmete sich in seiner Kursarbeit den im Wiener HHStA befindlichen Reichsregistern Maximilians I.37, die er sowohl inhaltlich wie auch formal behandelte. Mühlbacher beurteilte diese Arbeit mit „vorzüglich". Die Kursprüfungen am Beginn Juli 1901 brachten durchwegs sehr gute bis „vorzügliche" (bei Dopsch: Quellenkunde der österreichischen Geschichte und Verfassungsgeschichte) Zensuren38. Schon im Herbst desselben Jahres reichte Bauer bei Redlich seine Dissertation über Kaspar Schlick (1396-1449), den ersten Laien als Reichskanzler und wichtigen Berater Kaiser Sigismunds (bzw. seiner Nachfolger), ein39. Noch vor Ablegung seiner Rigorosen wurde Bauer auf Antrag von Engelbert Mühlbacher im Rahmen der „Historischen Kommission für Neuere Geschichte" ab 1901 mit der Sammlung und Edition der Korrespondenz Ferdinands I. beauftragt. Joseph Hirn hatte die Leitung dieses Unternehmens inne. Doch Bauers erste Tätigkeit für die Kommission währte nur kurz. Wenige Tage nach der feierlichen Promotion am 28. Februar 1902 machte sich Bauer überraschend auf den Weg nach Rom, nachdem ihn Mühlbacher nolens volens für das Romstipendium vorgeschlagen hatte: Mühlbacher bestimmte mich kurzerhandfür das eben freigewordene Stipendium, das mich nach Rom verpflichtete, um dort am Istituto Austriaco di studi storici als dessen Mitglied unter der Leitung von Ludwig Pastor an der von Ignaz Dengel besorgten Ausgabe von Nuntiaturberichten mitzuarbeiten. In Pastor traf ich den von dem mir väterlich gesinnten Josef Hirn ge-

hl Wilhelm BAUER, Das Register- und Konzeptwesen in der Reichskanzlei Maximilians I. bis 1502, in: MIÖG 26 (1905) 247-279. Die Reichsregister liegen in Auswahl auch als Faksimile vor: Monumenta Palaeographica. Denkmäler der Schreibkunst des Mittelalters. Erste Abteilung: Schrifttafeln in lateinischer und deutscher Sprache, Lieferung XII (Ausgabe 05.11.1903), Lieferung XIII (Ausgabe 18. Februar 1904), hg. v. Anton CHROUST (München 1903/4). Bauer bearbeitete für die Faksimileausgabe je ein Blatt der Reichsregister Ruprechts, Sigismunds, Friedrichs III. und Maximilians I. sowie das Diarium von Friedrich III. und eine eigenhändige Vorarbeit des „Weißkunig" von Maximilian I. 38 IÖG, Archiv, Prüfungsakten 23. Kurs, Zeugnis fur Wilhelm Bauer, Wien, 08.07.1901: Schriftliche Prüfungen: Paläografie: vorzüglich; Diplomatik: sehr gut; Quellenkunde: vorzüglich; Kunstgeschichte: sehr gut; Mündliche Prüfungen: Paläografie: gut; Diplomatik und Sphragistik: sehr gut; Österreichische Geschichte: sehr gut, Quellenkunde: sehr gut; Kunstgeschichte: sehr gut; Archivkunde: sehr gut. 39 Wilhelm BAUER, Kaspar Schlick [trotz mehrfacher Versuche war die Arbeit nicht auffindbar]. Die Approbation der Arbeit durch Redlich und Mühlbacher erfolgte am 02./03.12.1901; das Rigorosum fand am 14.12. bzw. dasPhilosophicumam31.01.1902 statt. Die Arbeit Bauers ist bei Otto HUFNAGEL, Caspar Schlick als Kanzler Friedrichs III (MIÖG Ergänzungsband 8, Innsbruck 1911) 253-460 nicht zitiert; ebenso wird sie nicht genannt in der umfänglichen Dissertation von Erich FORSTREITER, Die deutsche Reichskanzlei und deren Nebenkanzleien unter Kaiser Sigmund von Luxemburg (Masch. Diss. Wien 1924), und bei Artur ZECHEL, Studien über Kaspar Schlick. Anfange / Erstes Kanzleramt / Fälschungsfrage (Quellen und Forschungen aus dem Gebiete der Geschichte 15, Prag 1939) (freundlicher Hinweis von Karel Hruza), und fehlt auch im Literaturverzeichnis von Paul-Joachim HEINIG, Kaiser Friedrich III. (1440-1493). Hof, Regierung und Politik. Dritter Teil (Forschungen zur Kaiserund Papstgeschichte des Mittelalters 17, Köln u. a. 1997) 1480.

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schilderten Typus des gelehrten Egoisten, der nurfür sein Lebenswerk, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters' alle Kraft verwendete. Ich bin ihm aber zu Dank verpflichtet, denn, da er vorerst in Verlegenheit zu sein schien, was er mit mir anfangen solle, riet er mir, die erste Woche meines Aufenthaltes für die Besichtigung Roms zu benutzenBauers Haupttätigkeit stellte die Durchsicht der Brevenregister Pius' V. dar, doch vor allem das „Erlebnis Rom" scheint für Bauer prägend gewesen zu sein. Der Gewinn, Rom als junger Mensch erlebt zu haben, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, aber das gilt in noch erhöhtem Maßefür einen jungen Historiker. Nicht nur die Umgebung sovieler geschichtlicher Erinnerungen wirkt sich da aus, auch das Zusammentreffen mit vielen Gelehrten des gleichen Faches und benachbarter Fächer aus verschiedenen Nationen erweitert seinen Blick41. Bauer veröffentlichte 1911 unter dem „Pseudonym" Wilhelm Braue sogar einen in Rom angesiedelten Roman mit dem Titel „Romrausch", der, wohl in den Jahren 1908/09 verfasst, zumindest zum Teil auf Erlebnissen und Eindrücken aus der Ewigen Stadt beruht und den Gegensatz zwischen deutscher und italienischer Kultur bzw. „Nationalcharakteren" herausarbeitet42. Wie wichtig ihm dieses literarische Werk war, zeigen etwa seine intensiven Versuche, kundige Stellungnahmen zu diesem Werk einzuholen. So schickte er eine Abschrift des geplanten Buches an den in der Zwischenkriegszeit renommierten Autor und Offizier im Kriegsarchiv Rudolf Hans Bartsch (1873-1952) 43 , der als außerordentliches Mitglied des 24. IÖG-Kurses (1901 1903) mit Bauer zumindest entfernt bekannt war. Die Stellungnahme des gefeierten Autors geriet trotz der aufmunternden Worte doch recht deutlich: Lobend spricht er einleitend von einer gedankenreichen undgescheidten Arbeit, doch die Kritik folgt auf dem Fuß. Ich glaube, dass keine Redaktion eines großen Blattes den Roman nehmen wird. Die Handlung ist blos die einer Novelle und ganz klein, die Gespräche so schön, reich und geistvoll die Gedanken sind, füllen aber vier FünftelM. Der schließlich im Jahr 1911 im Berliner Adler-Verlag45 verlegte Roman, immerhin in einer Auflage von 40 BAUER, Lebenslauf (wie Anm. 4) 4. 41 Ebd. 4. 42 Siehe den Inhalt nach SCHULZ, Bauer (wie Anm. 30) 160-161: Ein junger österreichischer Maler Fritz Siebold übernimmt es, eine Madonna im Stil von Guido Reni zu kopieren, allerdings misslingen seine Versuche eine stilgenaue Kopie anzufertigen, weil er sich in eine junge italienische Schönheit namens Alda aus gutem Hause verliebt. Als Alda, um ihre Familie zu „sanieren", mit einem alten, aber reichen Baron verheiratet werden soll, fordert sie Siebold auf, den Baron zu töten. Der Maler weigert sich und rettet sogar den von Alda in einen Teich gestossenen Baron. Erst mit dem Verzicht auf Alda und der Begegnung mit einer schönen blonden Deutschen, die ihm als Verkörperung der zu kopierenden Madonna erscheint, gelingt Siebold der künstlerische Durchbruch. 43 LHOTSKY, Geschichte (wie Anm. 29) 287: Hans Hirsch schrieb dem „gottbegnadeten" Dichter zum 60. Geburtstag. Siehe auch Günther NOE, Erinnerungen an Rudolf Hans Bartsch (1873-1952), in: Österreich in Geschichte und Literatur 47 (2003) 282-290. Reinhard FARKAS, „Zwölf aus der Steiermark". Rudolf Hans Bartsch und die Regenerationsbewegung der Jahrhundertwende, in: Blätter f ü r H e i m a t k u n d e 6 4 (1990) 111-121.

44 ÖAW Archiv, NL W B K . 1 , Brief an „Willy" Bauer vom 18.07.1909. 45 Wie wichtig Bauer sein Roman war, zeigt sein aufgeregter Briefwechsel während der Drucklegung mit dem Berliner Verlag, der mehrfach den Boden des gepflegten Konversationstones verlassen haben dürfte. So etwa in einem Brief an Bauer vom 22.11.1910: Wir empfingen ihr gesch. Schreiben

Wilhelm Bauer (1877-1953)

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3.000 Stück erschienen, wurde trotz emsiger Bemühungen Bauers um Besprechung des Buches in fuhrenden deutschsprachigen Zeitungen46 ein verlegerisches Fiasko, lediglich 144 Exemplare wurden abgesetzt, der Verlag versuchte Bauer schon 1912 dazu zu bewegen, die restliche Auflage (rund 2600 Exemplare) zu 10 Pfennig das Stück zu übernehmen. Nach Bauers Rückkehr nach Wien 1903 - Bauer war sich des „Zeitverlustes" von einem Jahr im Hinblick auf seine „Konkurrenten" Hirsch und Srbik bewusst - arbeitete er an der Sammlung der Familienkorrespondenz Ferdinands I. weiter. Während seiner Zeit in Rom konnte Bauer die Sammlungsarbeit in den römischen Archiven nur wenig fruchtbringend vorantreiben. Doch stellte sich schon im Herbst 1903 ein Bronchialkatarrh ein, der Bauer (auch angesichts des frühen Lungentodes seiner Mutter) durch eineinhalb Jahre zur Untätigkeit zwang. Der neue Direktor des IÖG, Emil von Ottenthai (1855-1931), ließ aber den Schützling Mühlbachers nicht fallen, sondern schickte dem längere Zeit in Menton an der Cöte d'Azur zur Erholung Weilenden - ebenso wie auch andere Mitglieder der Historischen Kommission - immer wieder Karten47. Erst 1905 konnte Bauer an der Korrespondenz Ferdinands weiterarbeiten, er verband einen Besuch des Staatsarchivs in Neapel mit einem weiteren Erholungsurlaub in Menton. Archivbesuche im September und August 1905 in den Brüsseler „Archives royales" folgten. Nach der Publikation seiner Institutsarbeit in den MIÖG konnte Bauer 1906 einen ersten Aufsatz über sein neues Forschungsgebiet - einen Beitrag zum Postunternehmen der Taxis - in der im gesamten deutschen Sprachraum stark rezipierten Institutszeitschrift vorlegen48. Zumindest seit 1903 dürfte Bauer auch an seiner Habilitationsarbeit über Ferdinand I. (ursprüngliches Thema war dessen Königswahl gewesen) gearbeitet haben. Das schließlich 1907 im Wiener Verlag Braumüller erschienene Buch „Die Anfange Ferdinands I." wurde im Februar 1907 als Habilitationsschrift (für Allgemeine Neuere Geschichte) eingereicht, besonders Joseph Hirn (1848-1917), in der Kommission für Neuere Geschichte Vorgesetzter Bauers, befürwortete das Ansuchen Bauers nachhaltig. Gegenstand des später auch gedruckt vorliegenden, am 11. Mai 1907 gehaltenen Habilitationsvortrages waren vom 21. er. und sind in der Tat erstaunt über den Ton, den Sie uns gegenüber anzuschlagen belieben. Was zunächst die Ausführung des Druckes angeht, so ist absolut keine Veranlassung zur Erregung gegeben. Bauer hatte sich davor bei mehreren Verlagen bzw. Zeitschriften (etwa Velhagen & Klasings Monatshefte, Süddeutsche Monatshefte, Verlag Berlin-Wien) Abfuhren bezüglich einer Drucklegung seines Romans geholt. 46 ÖAW Archiv, NL WB K. 1: Brief Bauers an den kaiserlichen Rat Carl Colbert mit der Bitte um Rezension seines Romans in der „Neuen Freien Presse": Aus leicht begreiflichen Gründen (die akademischen Mäuler sind besonders scharf) habe ich zu einem Decknamen Zuflucht genommen. Ich weiss ja auch gar nicht, ob mein Roman durchdringen wird, wenn ihn auch einige sachverständige Leserfür wertvoll und gescheit erklärt haben. Immerhin habe ich den blutjungen Berliner Verlag bewundert, der ihn angenommen und ihn gleich in 3000 Exemplaren vervielfältigen liess. 47 Ebd. K. 5: Brief von Bauers Vater an Redlich und die Antwort von Redlich an Bauers Vater vom 03.09.1903: Mit aufrichtigem und lebhaftem Bedauern entnehme ich aus Ihrem gütigen Schreiben, dass ihr Herr Sohn sich einen Lungenkatharr zugezogen hat. 48 Wilhelm BAUER, Die Taxis'sche Post und die Beförderung der Briefe Karls V. in den Jahren 1523 bis 1525, in: MIÖG 27 (1907) 436-459.

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„Die Beziehungen der historischen Hilfswissenschaften zur Geschichte der Neuzeit"49. Mit Erlass vom 30. August 1907 wurde Bauer vom Unterrichtsminister zum Privatdozenten ernannt. Schon 1908 scheint Bauer erstmals auf einem Besetzungsvorschlag der Universität Graz auf, wobei schließlich Kurt Käser (1870— 1931) den Posten (Nachfolge Zwiedineck-Südenhorst) erhielt. Als sich die Hoffnung auf eine Stelle an der Konsularakademie 1914 ebenfalls zerschlug, machten sich die Professoren am Wiener Historischen Institut für Bauer stark und beantragten 1914 für ihn ein allerdings unbesoldetes Extraordinariat. Diesem Ansuchen wurde wegen der angespannten Finanzlage der Monarchie erst 1916 entsprochen. Bauers Jahrgangskollege Srbik - seit 1907 Dozent für Österreichische Geschichte - war bereits 1912 außerordentlicher (ab 1917 ordentlicher) Professor in Graz geworden, Hirsch - seit 1908 Dozent für Geschichte des Mittelalters und historische Hilfswissenschaften - war bereits seit 1913 außerordentlicher Professor in Wien und 1918 als Ordinarius nach Prag berufen worden. Bauer hatte als Teil des „Trifoliums" einen deutlichen „Karriereknick" erlitten, obwohl er gerade im Ersten Weltkrieg publizistisch erfolgreich war. Bauers Habilitation und seine publizierten Beiträge erregten einige Aufmerksamkeit. [S]o wurde meine Besprechung von Gustav Wolfs ,Einfuhrung in das Studium der neueren Geschichte (1910)' [,..]/wr mich von Bedeutung, da mich auf meine ziemlich kritischen Einwände hin der Verleger Paul Siebeck, Chef der Firma I. C. B. Mohr50, Tübingen, einlud, bei ihm ein Werk gleichen Inhalts erschienen [!] zu lassen, worin die von mir vorgebrachten Gedanken verarbeitet würden. Einer solchen Lockung konnte ich nicht widerstehen, doch umkreiste ich den umfangreichen Stoff erst ziemlich lange, ehe ich den festen Punkt glaubte gefunden zu haben, von dem aus ich auf das Ganze losgehen konnte51. Bauer wandte sich vorerst dem am Vorabend des Ersten Weltkrieges virulenten Problem der „Öffentlichen Meinung" zu. So kam knapp vor Ausbruch des Weltkrieges, im Frühjahre 1914 das Buch ,Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen'52 (Tübingen I. C. B. Mohr) heraus [...]. Der Ausbruch des Krieges gab mir 1915 Veranlassung, in dem Schriftchen ,Der Krieg und die Öffentliche Meinung