Der geteilte Ostblock: Die Grenzen der SBZ/DDR zu Polen und der Tschechoslowakei 9783412213992, 9783412206734


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Der geteilte Ostblock: Die Grenzen der SBZ/DDR zu Polen und der Tschechoslowakei
 9783412213992, 9783412206734

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Der geteilte Ostblock

Zeithistorische Studien Herausgegeben vom Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam Band 49

Dominik Trutkowski

Der geteilte Ostblock Die Grenzen der SBZ/DDR zu Polen und der Tschechoslowakei

2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Dominik Trutkowski ist Doktorand am Lehrstuhl für Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Der Grenzübergang der DDR zur VR Polen in Frankfurt (Oder) – Słubice Aufnahme vom 30. Juli 1969, Foto: Jürgen Bloßfeld

© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20673-4

Inhalt Einleitung ........................................................................................................................ 1.

2.

Binnen- und Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“ – ein Überblick ........................................................................................................

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Aufbau der ostmitteleuropäischen Grenzregime nach dem Umbruch des Zweiten Weltkriegs (1945–1949).............................................................

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2.1 Neuordnung Europas: Die Grenzen der SBZ in der unmittelbaren Nachkriegszeit .......................................................................... 2.2 Das Grenzregime in der SBZ – beginnende Militarisierung der Grenzpolizei .................................................................................................. 2.3 Alltag und Lebenswelt in den deutsch-polnischen Grenzgebieten der Nachkriegszeit .............................................................................................. 3.

Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961) ..........................................................................................................

3.1 Die Oder-Neiße-Grenze – Determinante der staatlichen Beziehungen zwischen der DDR und Polen .......................................................................... 3.2 „Deutscher ist nicht gleich Deutscher“ – Grundlagen „freundschaftlicher Beziehungen“ zwischen der DDR und der Tschechoslowakei .................. 3.3 Binationale Zusammenarbeit der Grenzorgane an den „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“............................................................ 3.4 Verstärkter militärischer Umbau der Grenzpolizei in den 1950er-Jahren .. 3.5 Die Abwanderung wird zum Problem: „Die Machthaber sperren ihre Bürger ein“ ..................................................... 3.6 Mythos und Realität: Die Grenzanlagen zwischen den „Bruderländern“ .. 4.

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Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit bei der Überwachung der Ostgrenzen der DDR in Zeiten der Konsolidierung (1961–1972)...... 79

4.1 Das „nördliche Dreieck“ nach dem Mauerbau und die Anfänge des Tourismus ...................................................................................................... 4.2 Passkontrolle und Fahndung – die Anfänge des MfS im Grenzregime der DDR ............................................................................................................... Exkurs: Kirchliche Initiativen für eine transnationale Zusammenarbeit und Versöhnung zwischen der DDR und Polen .......................................... 4.3 Kontinuierlicher Machtzuwachs des MfS an den Ostgrenzen der DDR ...............................................................................................................

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Inhalt

4.4 Die Verhinderung von Fluchtversuchen durch das MfS über die Länder des Ostblocks .................................................................................. 96 4.5 Die Zusammenarbeit am Beispiel der Grenzübergangsstelle Görlitz ...... 103 4.6 „Prager Frühling“ 1968 – der „sozialistische Internationalismus“ erhält eine neue Bedeutung .............................................................................. 106 5.

Scheinbare Durchlässigkeit der Ostgrenzen der DDR in der Ära der Entspannung (1972–1980)......................................................................... 113

5.1 Transnationale Wirkung des freien Reiseverkehrs auf Politik und Gesellschaft in der DDR und in Polen ........................................................... 5.2 Grenzüberschreitende Zusammenarbeit im pass- und visafreien Reiseverkehr ....................................................................................... 5.3 Professionalisierung der Grenzkontrollen beim MfS – die Bereiche „Fahndung“ und „Filtrierung“ .......................................................................... 5.4 Transnationale Zusammenarbeit der Geheimdienste bei der Flucht über die Länder des Ostblocks ......................................................................... 6.

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Verschärfung und Zusammenbruch der ostmitteleuropäischen Grenzregime (1980–1989) .............................................................................. 139

6.1 Die Anfänge der Solidarność 1980/81 und die Abschottungspolitik der DDR ............................................................................................................... 6.2 Opposition in Polen und der DDR: Kontakte, Zusammenarbeit und Mobilisierung .............................................................................................. 6.3 Die Tschechoslowakei als Zufluchtsort für Oppositionelle und Privatreisende ....................................................................................................... 6.4 „Go East“ oder grenzenlose Freiheit? Mit dem Transitvisum durch die UdSSR ................................................................................................ 6.5 Flucht über die Länder des Ostblocks und ihre verstärkte Bekämpfung durch die Staatssicherheit ......................................................... 6.6 Tödliche Grenzen: Opfer ostmittel- und osteuropäischer Grenzregime ......................................................................................................... 6.7 „Die Grenzen werden brüchig“ – Fluchtbewegung über den Ostblock während der friedlichen Revolution 1989 ................................... Resümee .......................................................................................................................... Abkürzungsverzeichnis................................................................................................ Quellen- und Literaturverzeichnis ............................................................................ Bildnachweise ............................................................................................................... Personenregister ........................................................................................................... Danksagung ...................................................................................................................

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Einleitung Schon früh nach Gründung der DDR wurde der SED-Führung klar, dass ihr Staat nur durch die massive Einschränkung des Menschenrechts, das eigene Land verlassen zu dürfen, eine Zukunft haben würde. Bezeichnenderweise war es dann auch die Öffnung der Grenzen – die Möglichkeit, der Diktatur gefahrlos den Rücken zu kehren –, die den Untergang der DDR einläutete. Die Geschichte der DDR ist daher vor allem eine Geschichte ihrer Grenzen. Im Westen grenzte sie an den „imperialistischen Klassenfeind“ Bundesrepublik Deutschland, im Osten an die sozialistischen „Bruderländer“ Polen und die Tschechoslowakei. Während die Grenze der DDR zum Westen schon bald hermetisch abgeriegelt wurde und ihren statischen Charakter im Laufe des Kalten Kriegs beibehielt, hing die Grenzsicherung nach innen sowie die Abgrenzung nach außen im Osten des Landes mit politischen Großwetterlagen, multilateralen Verträgen, unterschiedlichen innen- und außenpolitischen Faktoren zusammen. Man denke nur an den „Prager Frühling“ 1968, die im Zeichen der Entspannung stehende Einführung des visafreien Grenzverkehrs 1972 oder an die in atemberaubender Geschwindigkeit anwachsende und in der DDR als Bedrohung empfundene polnische Demokratiebewegung Solidarność seit 1980. Es gab aber noch eine Vielzahl weiterer kleinerer und größerer Ereignisse und politischer Krisen, die die Machthaber in der DDR dazu veranlassten, die Grenzen im Osten zu Polen und der Tschechoslowakei entweder abzuriegeln oder zu öffnen. Während die innerdeutsche Grenze offiziell als Trennlinie zwischen Gut und Böse dargestellt wurde, hatte der in den frühen 1950er-Jahren von der SED-Führung begründete politische Mythos der „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ zu Polen und der Tschechoslowakei zwei Grundfunktionen zu erfüllen. Auf der einen Seite zeichnete der Mythos das Bild einer für den Frieden in Europa und der Welt „kämpfenden“, antifaschistischen DDR und fungierte als politische Waffe gegenüber den Westmächten – allen voran der Bundesrepublik, die als Nachfolgerin des Dritten Reiches das Erbe der NS-Verbrechen während des Zweiten Weltkriegs anzutreten hatte. Auf der anderen Seite sollte der Mythos der „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ zu den von Hitler überfallenen Ländern Polen und der Tschechoslowakei die Überwindung eines wie auch immer gearteten Nationalismus in der DDR, die Einigkeit im Ostblock sowie eine die Differenzen abschaffende sozialistische Staatengemeinschaft demonstrieren und im kollektiven Gedächtnis verankern. In den Jahren 1989/90 ist dieser politische Mythos gemeinsam mit der DDR untergegangen; historisch ist er jedoch bis heute nicht weiter aufgearbeitet worden. Gewiss, der Charakter der Ostgrenzen der DDR zu Polen und der Tschechoslowakei offenbarte sich ohne den Einsatz von Minen und tödlichen Hochspannungszäunen weniger brutal als an ihren Westgrenzen. Aber auch hier herrschte

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ein strikter Schießbefehl, ein System von Grenzsicherungsanlagen mit Sperrzonen, Schutz- und Kontrollstreifen, Wachtürmen und abgerichteten Hunden sowie einem weit gespannten Netz der Staatssicherheit; und auch an diesen Grenzen verloren nach heutigem Forschungsstand mindestens 20 Ostdeutsche ihr Leben.1 Seit mit dem Bau des „antifaschistischen Schutzwalls“, der Berliner Mauer 1961, das letzte Schlupfloch zum Westen geschlossen wurde, versuchten DDR-Bürger zunehmend, über den Osten in den Westen zu flüchten; nicht zuletzt deswegen wurde die Grenzüberwachung auch im Osten der DDR stetig perfektioniert. Auf diese und andere Weise entwickelte sich das sogenannte Grenzregime der DDR im Kalten Krieg nicht nur gen Westen, sondern auch gen Osten zu einem schlagkräftigen, oft unterschätzten Herrschaftsinstrument der SED. Der Zusammenbruch des Kommunismus in Europa wird zu Recht mit dem Fall der Berliner Mauer assoziiert, symbolisierte doch diese Grenze den Ost-WestGegensatz am stärksten. So schien es probat, dass sich die DDR-Forschung fast ausnahmslos auf die innerdeutsche Grenze oder die Mauer um West-Berlin konzentrierte.2 Die Grenzen der DDR im Osten fanden dagegen nur wenig Aufmerksamkeit. Bis in das Jahr 1989 blieb dieses Defizit vor allem in der Quellenlage und den unzugänglichen Archiven begründet. Später ermöglichte der bessere Zugang zu den Akten eine Erweiterung der Perspektive. Der politische Umschwung 1989 brachte dabei auch die Chance für eine grundlegende Neuformulierung von Fragestellungen sowie die Neubewertung älterer Forschungsinhalte im Hinblick auf die DDR-Grenzen. Allen voran profitierte hiervon die Forschung zu den ostmittel1

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Zu den Todesopfern an der Grenze der DDR zur Tschechoslowakei siehe die detailliert geführten Totenlisten Nr. 2, 4 und 6 in: Martin Pulec, Organizace a činnost ozbrojených pohraničních složek. Seznamy osob usmrecených na státních hranicích 1945–1989 [Organisation und Tätigkeit der bewaffneten Sicherheitsorgane. Verzeichnis der an den Staatsgrenzen getöteten Personen von 1945 bis 1989] (Sešity Úřadu dokumentace a vyšetřovani zločinů komunismu [Veröffentlichungen des Dokumentations- und Forschungszentrums für Verbrechen im Kommunismus], Bd. 13), Prag 2006, S. 174–291; Martin Pulec, Die Bewachung der tschechoslowakischen Westgrenze zwischen 1945 und 1989, in: Pavel Žáček/ Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hg.), Die Tschechoslowakei 1945/48 bis 1989. Studien zu kommunistischer Herrschaft und Repression, Leipzig 2008, S. 131–152. Zu den Todesopfern an der Grenze der DDR zu Polen siehe Alexandra Hildebrandt, 159. Pressekonferenz des Mauermuseums – Museum Haus am Checkpoint Charlie, am Mittwoch, 11. August 2010. 11. Uhr: 1.393 Todesopfer – Keine Endbilanz. Neue Zahl der ermittelten Todesopfer des Grenzregimes der Sowjetischen Besatzungszone/DDR der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S. 26f. Siehe hierzu etwa die vor Kurzem erschienene, an ein breiteres Publikum gerichtete Arbeit des Heidelberger Zeithistorikers Edgar Wolfrum: Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München 2009. Über ein politikgeschichtlich und erinnerungskulturell gespanntes Narrativ untersucht Wolfrum die Geschichte der Berliner Mauer.

Einleitung

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europäischen Grenzregionen mit alltags- und sozialgeschichtlichen Ansätzen. Erwähnenswert ist hierbei vor allem die von der Wirtschafts- und Sozialhistorikerin Helga Schultz in Franfurt (Oder) herausgegebene Reihe „Frankfurter Studien zur Grenzregion“. Ähnlich wie Schultz widmet sich die Historikerin und Kulturwissenschaftlerin Katarzyna Stokłosa in erster Linie der deutsch-polnischen Grenzregion. Stokłosas Untersuchungen über ostdeutsch-polnische Grenzstädte gelten als Meilenstein in dieser sozialgeschichtlich zentrierten Forschung. Im Osten wie im Westen der DDR waren an der Überwachung der Grenze eine Vielzahl unterschiedlicher staatlicher Organe beteiligt, zu denen neben der Grenzund Volkspolizei, den Grenztruppen und den Zollbehörden seit den frühen 1960erJahren ebenso Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) gehörten. Konsequenterweise waren es die Mitarbeiter in den Forschungseinrichtungen der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes (BStU), die die Aufgaben des MfS an den Staatsgrenzen der DDR untersucht haben. Der Frage nach dessen Rolle bei der Überwachung der östlichen Grenzen wurde in diesem Zusammenhang aber kaum nachgegangen. Allerdings gebührt Monika Tantzscher das besondere Verdienst, sich im Rahmen des von der BStU herausgegebenen MfSHandbuchs „Anatomie der Staatssicherheit“ mit dem MfS im Grenzregime, auch im Osten der DDR, beschäftigt zu haben. Das Interesse der militärhistorischen DDR-Forschung liegt bis heute vornehmlich auf dem System der Landesverteidigung und der Militarisierung der DDRGesellschaft, den organisatorischen und institutionellen Veränderungen, der Struktur, Ausrüstung und Aufgabenstellung der bewaffneten Organe. Aber auch hier gilt, dass die im Osten der DDR stationierten Truppenteile bei diesen Untersuchungen kaum Berücksichtigung fanden. Die von Peter Joachim Lapp, Torsten Diedrich und Rüdiger Wenzke vorgelegten Darstellungen und Handbücher bieten dennoch einen guten Einstieg in militärgeschichtliche Fragen zur DDR. Für die Erforschung der Ostgrenzen der DDR spielen die zwischenstaatlichen Beziehungen der DDR zu Polen und der Tschechoslowakei eine herausragende Rolle insbesondere deswegen, weil diese Beziehungen in Gestalt von bi- und multilateralen Verträgen die Funktionsweise und Gestaltung der Grenzüberwachung gegenüber den sozialistischen Nachbarn wesentlich mitbestimmt haben. Fundierte Studien über die ostdeutsch-polnischen und ostdeutsch-tschechoslowakischen Beziehungen haben jedoch bislang immer noch Seltenheitswert. Grundlegend haben sich mit den Beziehungen zwischen der DDR und Polen Sheldon Anderson, Burkhard Olschowsky und Basil Kerski, mit jenen zwischen der DDR und der Tschechoslowakei Wolfgang Schwarz, Volker Zimmermann und Beate Ihme-Tuchel beschäftigt. Seit 1989 sind inzwischen mehr als 20 Jahre vergangen, eine systematische Untersuchung der Ostgrenzen der DDR hat in der europäischen und angloame-

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rikanischen Forschung jedoch bislang nicht stattgefunden. Diese Lücke soll der vorliegende Band schließen; dabei versteht sich die Untersuchung als Impulsgeber, die dazu animieren möchte, sich über die Westgrenze der DDR hinaus auch mit ihren Ostgrenzen zu beschäftigen. Was die Quellenlage anbelangt, so konnten für diesen Band Bestände aus insgesamt fünf Archiven in der Bundesrepublik, Polen und der Tschechischen Republik herangezogen und das Thema so in einen gesamteuropäischen Zusammenhang gestellt werden. Dabei sind Akten aus dem Archiv der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv (BLHA), dem Archiv des polnischen Außenministeriums (MSZ), dem polnischen Archiv Neuer Akten (AAN) sowie dem tschechischen Archiv der Sicherheitskräfte des Ministeriums des Innern (AMV) ausgewertet worden. Überdies sind zeitgenössische Tageszeitungen wie das „Neue Deutschland“ sowie weitere von der SED und anderen staatlichen Institutionen in der DDR herausgegebene Schriften und Druckerzeugnisse in die Untersuchung mit einbezogen worden. Ferner greift die Arbeit auf eine Reihe von Quelleneditionen und Memoiren zurück. Um die Quellenlage abzurunden, wurden ebenso Interviews mit Zeitzeugen in diesen drei Ländern geführt. Grundsätzlich war der Autor darum bemüht, den Forschungsstand bzw. sämtliche für das Thema relevante Literatur zu berücksichtigen. Der vorliegende Band geht bei der Untersuchung der Ostgrenzen der DDR chronologisch von den Anfängen in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) im Jahr 1945 bis zum Zusammenbruch des SED-Staates 1989 vor. Methodisch folgt die Untersuchung einem politikgeschichtlich orientierten Ansatz, wobei weniger Entscheidung und Ereignis als mehr der Prozesscharakter von Geschichte betont werden. Damit bezieht diese Politikgeschichte ebenso wirtschafts- und sozialgeschichtliche Argumentationsmuster mit ein. Entsprechend wird hier keine Herrschaftsgeschichte geschrieben – Herrschaft präsentiert sich vielmehr in einem Sozialverhältnis, einem sozialen Bedingungsgefüge, das ebenso den Alltag, die Oppositionsgeschichte und im Falle der Fluchtbewegung die Unzufriedenheit der Menschen beschreibt. So versucht diese Studie nicht nur, die politische und juristische, sondern auch die kulturelle und soziale Dimension der Ostgrenzen der DDR in den Blick zu nehmen. Das Buch ist in fünf thematische Blöcke gegliedert, die für die einzelnen Dekaden jeweils typisch waren. Für die zweite Hälfte der 1940er-Jahre sind die Grenzen der SBZ zu Polen und der Tschechoslowakei nach dem Umbruch des Zweiten Weltkriegs zu beschreiben. Hier ist der Frage nachzugehen, inwiefern die hermetische Abriegelung der Grenzen mit den Erfahrungen und dem Ausgang des Kriegs sowie den hiernach in Gang gesetzten Vertreibungen der Deutschen aus Polen und der Tschechoslowakei zusammenhingen. Warum erhielten die Grenzregime zwischen

Einleitung

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den sozialistischen Nachbarn eine militärische Prägung, obwohl es doch Grenzen zwischen „Bruderländern“ waren? Zu fragen ist auch, wie die an diesen Grenzen lebende Bevölkerung das Grenzregime wahrnahm und wie sie damit umging. Die 1950er-Jahre stehen für die Aufnahme zwischenstaatlicher Beziehungen der „Bruderländer“ untereinander, für kulturellen Austausch, wirtschaftliche Kooperation, wie in Form des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), und für die beginnende Zusammenarbeit beim Grenzschutz. Die Beziehungen im sogenannten nördlichen Dreieck3 zwischen den Staaten DDR, Polen und der Tschechoslowakei waren seit den 1950er-Jahren von großen Widersprüchen geprägt, begannen sich doch die Länder einerseits außenpolitisch anzunähern, andererseits ihre Grenzen zu einer schier unüberwindbaren Festung auszubauen. Welche Gründe gab es für diese schizophrene Grenzpolitik, und warum entwickelte sich die Grenzpolizei seit den 1950er-Jahren immer mehr zu einer militärischen Stoßtruppe? Die 1960er-Jahre brachten für das „nördliche Dreieck“ die seit Beginn des Kalten Kriegs umwälzendsten Entwicklungen mit sich. Diese Zeit war nicht nur von einem allmählichen Ausbau, sondern auch von tiefen Spannungen und Krisen in den zwischenstaatlichen Beziehungen der „Bruderländer“ geprägt, die in der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ ihren sichtbarsten und traurigsten Ausdruck fanden. Welche Bedeutung hatte der Bau der Berliner Mauer 1961 – die Schließung des letzten Schlupflochs in den Westen – in geostrategischer Hinsicht für die fluchtwillige Bevölkerung nicht nur der Bürger der DDR, sondern auch Polens und der Tschechoslowakei? Seit den frühen 1960er-Jahren verstärkten sich die Aktivitäten des MfS an den Ostgrenzen der DDR. Darauf bezogen soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern der Übergang von einer militärischen zu einer verstärkt geheimdienstlichen Ausrichtung des DDR-Grenzregimes sowohl mit der Zuspitzung des Ost-West-Gegensatzes als auch mit der Flucht von DDR-Bürgern über die Länder des Ostblocks zusammenhing. Durch die neuen Reiseregelungen des pass- und visafreien Verkehrs wurden die 1970er-Jahre für die Bevölkerung der „Bruderländer“ zur wohl besten Dekade unter der kommunistischen Herrschaft. Hier wird auf die Wechselwirkungen zwischen Staatsmacht und Bevölkerung einzugehen sein. Wie reagierten die Staatsorgane auf die Zunahme des Reiseverkehrs von DDRBürgern in die sozialistischen Nachbarländer sowie auf verbesserte Reisemöglichkeiten in den Ostblock insgesamt? Kamen sich die ins Nachbarland reisenden 3

Der Begriff „nördliches Dreieck“ taucht schon in der zeitgenössischen Publizistik und Literatur auf. Gegenüber den Ostblockstaaten Ungarn, Rumänien und Bulgarien besaß das „nördliche Dreieck“ für die UdSSR aufgrund der Nähe zum Westen in geopolitischer Hinsicht eine erheblich größere Bedeutung. Vgl. Beate Ihme-Tuchel, Das ‚nördliche Dreieck‘. Die Beziehungen zwischen der DDR, der Tschechoslowakei und Polen in den Jahren 1954 bis 1962, Köln 1994, S. 7–15.

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Ostdeutschen, Polen und Tschechoslowaken in den 1970er-Jahren eigentlich näher? Wurden national geprägte Stereotype und Vorurteile durch diese Kontakte abgebaut oder vielmehr verstärkt? Ferner ist zu klären, welche Rolle professionelle Fluchthelfer aus der Bundesrepublik in dieser Zeit spielten. Der Charakter der Ostgrenzen der DDR wurde zu Anfang der 1980er-Jahre vor allem durch die Beziehungen zum benachbarten Polen geprägt. Zu fragen ist, wie die DDR reagierte, um ein Übergreifen der im Sommer 1980 gegründeten polnischen Demokratiebewegung Solidarność zu verhindern? Welche strategische Bedeutung hatte zu dieser Zeit die Tschechoslowakei sowohl für Privatreisende als auch für Oppositionelle? Was tat die Staatssicherheit, um den Transfer oppositioneller Kultur sowie Mobilisierungsmechanismen gesellschaftlichen Widerstands im „nördlichen Dreieck“ aufzuhalten? Warum wurde das DDR-Grenzregime in den 1980er-Jahren sukzessiv verschärft, obwohl sich seit Mitte dieser Dekade von Moskau ausgehende gewaltige Veränderungen abzeichneten? Inwiefern schließlich trug die Massenflucht der DDR-Bürger über die Ostblockländer im Sommer und Herbst 1989 zum Sturz der SED-Diktatur bei? Eingebettet in politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen des über 40 Jahre andauernden Kalten Kriegs machen diese Fragen deutlich, dass man sich den Ostgrenzen der DDR von einer multiperspektivischen Warte heraus nähern muss, um sie richtig beschreiben, das dort Geschehene erklären und die Besonderheiten dieser Grenzen dann auch verstehen zu können.

1. Binnen- und Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“ – ein Überblick Während in den osteuropäischen Staaten zum Ende des Zweiten Weltkriegs die nach dem Westen vorrückende Rote Armee noch als Befreierin vom nationalsozialistischen Joch gefeiert wurde, fanden in Moskau schon die Planungen zum Aufbau eines kommunistischen Nachkriegseuropas statt. Dabei ging die sowjetische Führung um Stalin strategisch sehr geschickt vor – eine sofortige rücksichtslose Sowjetisierung und Gleichschaltung der osteuropäischen Parteien kam nicht in Betracht. Ernsthafte Beobachter erkannten aber schon früh, dass sich die „Befreier“ als „Besatzer“ entpuppen würden. So schrieb der britische Premier Winston Churchill am 12. Mai 1945, dass schon bald ein „Eiserner Vorhang“ Europa und die Welt zerteilen werde.1 Auch das zu dieser Zeit verfasste berühmte Aide-mémoire des USDiplomaten George F. Kennan warnte vor einem Zurückweichen gegenüber der sowjetischen Expansionspolitik. Kennan ging davon aus, dass zu den neu gewonnenen Einflusszonen der Sowjetunion vor allem die Staaten Polen, Deutschland bis zur Oder-Neiße-Linie, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die Tschechoslowakei und Jugoslawien gehören würden.2 Die Rote Armee kontrollierte die Lage im Innern und überwachte strategisch wichtige Grenzen der eroberten Staaten innerhalb des aufkeimenden sozialistischen Lagers – auf deren Umwandlung in Sowjetrepubliken wurde allerdings verzichtet.3 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erhielten Staatsgrenzen in Europa eine völlig neue Bedeutung. Vor dem Hintergrund der nationalistischen Exzesse des Ersten Weltkriegs und seiner mörderischen Nachwehen seit den 1920er-Jahren herrschte in der alliierten Politik der Konsens vor,4 dass ohne eine Entmischung 1 2 3 4

Fritz Peter Habel/Helmut Kister, Die Grenze zwischen Deutschen und Polen, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2. ergänzte Aufl. 1972, S. 36. Vgl. George Frost Kennan, Memoirs, Bd. 1: 1925–1950, London 1968, S. 540. Hierzu Gerhard Besier unter Mitarb. von Katarzyna Stokłosa, Das Europa der Diktaturen. Eine neue Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2006, S. 317, 325. Am Ende des Ersten Weltkriegs bemühte sich allen voran der US-amerikanische Präsident Woodrow Wilson, Europa im Zeichen nationaler Selbstbestimmung neu zu ordnen. Die Ergebnisse waren allerdings wenig befriedigend. Vgl. Ernest Gellner, Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1999, S. 79. In den Nachwehen des Ersten Weltkriegs kam es in Europa zu verheerenden nationalen Konflikten. So wurden nach dem griechisch-türkischen Krieg 1922 zwischen 1,3 und 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien vertrieben. Im Gegenzug vertrieben die Griechen rund 400.000 Türken aus ihrem Territorium. Vgl. Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt a.M./New York 1991, S. 157f. Die im Ausgang des Zweiten Weltkriegs von den Großmächten verfolgte „Homogenisierungs-Strategie zur europapolitischen Konfliktlösung“ hatte ihren Ursprung in dem 1923 abgeschlossenen multilateralen Vertrag von Lausanne, mit dem das Prinzip

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Binnen- und Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“

der Völker und ohne klare ethnische Grenzen kein dauerhafter Friede in Europa möglich sei – territoriale sollten mit ethnischen Grenzen übereinstimmen.5 Die von den Alliierten bereits auf den Kriegskonferenzen von Teheran und Jalta vorbereitete territoriale und ethnische Neuordnung Europas wurde mit dem Potsdamer Abkommen im August 1945 auch formell bestätigt. In Ostmittel- und Südosteuropa erfolgten Grenz- und Bevölkerungsverschiebungen. Im Zuge von Flucht und Vertreibung kam es in den ersten Nachkriegsjahren zu „Völkerwanderungen“ vieler Millionen Menschen unterschiedlicher Ethnien. Allein mehr als zwölf Millionen Deutsche wurden vertrieben; nach Schätzungen überlebten von diesen mehr als zwei Millionen die Vertreibungen nicht.6 Die deutsch-polnische wie die polnisch-sowjetische Grenze gehören dabei zu jenen Grenzen Ostmitteleuropas, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs neu gezogen worden sind.7 Zudem fand hier eine willkürliche Spaltung von historisch gewachsenen Wirtschafts- und Kulturräumen statt, die vor allem für die Grenzbevölkerung schwerwiegende Folgen hatte: Familien wurden getrennt, Verwandtschafts- und Freundschaftsbeziehungen durchschnitten. Großes Leid erfuhren auch die aus der Tschechoslowakei vertriebenen Sudetendeutschen. Aber anders als die deutsch-polnische blieb die deutsch-tschechoslowakische Grenze nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bestehen. Wie lässt sich die Funktionsweise, der Aufbau und Charakter der Binnengrenzen des sozialistischen Ostblocks im Verlauf des Kalten Kriegs erklären und beschreiben? Die Stärkung der Grenzsicherung nach innen sowie der Abgrenzung nach außen wechselte und hing mit politischen Großwetterlagen – innen- und

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des „Bevölkerungstransfers“ erstmals eine internationale Akzeptanz gefunden hatte. Hierzu allgemein Norman M. Naimark, Flammender Hass. Ethnische Säuberung im 20. Jahrhundert, München 2004. Auf der Kriegskonferenz von Jalta sagte Churchill am 7. Februar 1945 wörtlich, dass „die Ergebnisse der Umsiedlung von Griechen und Türken nach dem vorigen Weltkrieg voll und ganz zufriedenstellend gewesen [seien]“. Zit. nach: Alexander Fischer (Hg.), Teheran, Jalta, Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der „Großen Drei“ (Dokumente zur Außenpolitik, Bd. 1), Köln 2. Aufl. 1973, S. 146. Vgl. Philipp Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945–1956 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 127), Göttingen 1998, S. 37; Hans Lemberg, „Ethnische Säuberung“: Ein Mittel zur Lösung von Nationalitätenproblemen?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B46/1992, S. 27–38. Siehe hierzu Bernd Faulenbach, Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits von Oder und Neiße. Zur wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion in Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, B51-52/2002, S. 44–54. Josef Langer, New Meanings of the Border in Central Europe, in: Josef Langer/György Eger (Hg.), Border, Region and Ethnicity in Central Europe: Results of an International Comparative Research, Klagenfurt 1996, S. 49–67, hier S. 49.

Binnen- und Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“

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außenpolitischen Faktoren, Krisen und multilateraler Diplomatie – zusammen. In Ländern wie der DDR, Polen und der Tschechoslowakei führten Modernisierungstendenzen und Systemkonkurrenz in den 1960er-und 1970er-Jahren sogar zu einer Liberalisierung der Grenzregime. Trotz dieser Wandelbarkeit muss für die Binnengrenzen des „sozialistischen Lagers“ aber in der Tendenz von geschlossenen, undurchlässigen Grenzen gesprochen werden.8 So war die sowjetisch-ungarische Grenze schon seit Ende der 1940er-Jahre mit Stacheldraht und Wachtürmen besetzt. Die Grenzwächter waren bewaffnet und führten Hunde mit sich.9 Auch die polnisch-sowjetische Grenze wurde seit ihrer endgültigen Festlegung 1947 für die nachfolgenden Jahrzehnte zur schier unüberwindbaren Barriere. Eine fünf Kilometer breite Sperrzone mit einem 500 Meter breiten Schutzstreifen und zehn Meter breiten Kontrollstreifen mit Hunderten von Wachtürmen trennten die beiden Länder, wobei es hier in erster Linie das sowjetische Grenzregime war, das dieser Grenze seinen Charakter verlieh. Die Flucht aus der UdSSR – sowohl in das „kapitalistische“ als auch in das sozialistische Ausland – wurde strafrechtlich verfolgt, mit mehreren Jahren Arbeitslager oder sogar mit der Todesstrafe geahndet.10 Aber auch von polnischer Seite war der Grenzübertritt streng reglementiert. Bis in das Jahr 1991 hinein wurden Fahrten von Polen in die ukrainische Sowjetrepublik lediglich auf der Grundlage von Einladungen zur Erledigung von Familienangelegenheiten genehmigt. Jeder polnische Bürger war verpflichtet, sich nach Ankunft in der Ukraine umgehend bei der örtlichen Miliz zu melden, er durfte den angegebenen Aufenthaltsort nicht verlassen, nur auf den vorher festgelegten (Marsch-)Routen reisen und musste das Land mit dem terminierten Ende der Einladung wieder verlassen.11 Seit 1950 war auch die Grenze zwischen Bulgarien und Jugoslawien komplett abgeriegelt und praktisch unüberwindbar. Im Jahr 1953 wurde in Sofia ein Gesetz verabschiedet, wonach das illegale Verlassen der Volksrepublik mit dem Tod bestraft werden konnte.12

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Vgl. Katarzyna Stokłosa, Grenzstädte in Ostmitteleuropa. Guben und Gubin 1945 bis 1995 (Frankfurter Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas, Bd. 9), Berlin 2003, S. 57–64; siehe auch Helga Schultz, Von der Nachkriegsordnung zur postsozialistischen Staatenwelt, in: dies. (Hg.), Grenzen im Ostblock und ihre Überwindung, Berlin 2001, S. 11–35, hier S. 11–14. Hierzu Langer, New Meanings of the Border, S. 49. Damian van Melis, „Republikflucht“. Flucht und Abwanderung aus der SBZ/DDR 1945– 1961 (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte), München 2006, S. 35. Vgl. Stanisław Stępień, Die polnisch-ukrainische Grenze in den zurückliegenden fünfzig Jahren, in: Helga Schultz (Hg.), Grenzen im Ostblock und ihre Überwindung, Berlin 2001, S. 259–274, hier S. 265f. Stefan Appelius, Bulgarien. Europas ferner Osten, Bonn 2006, S. 230f.

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Binnen- und Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“

Übersichtskarte zu den Binnen- und Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“

Die Ansicht, die Sowjetunion habe ihren Satellitenstaaten ein Grenzregime nach eigenem Muster aufgezwungen,13 trifft die historische Wirklichkeit nur zum Teil, werden doch damit vor allem die spezifisch nationale Bedeutung der Grenzen innerhalb des sozialistischen Lagers ignoriert und die Grenzen unter Betonung des Sicherheitsbedürfnisses der UdSSR lediglich als Barrieren gegen unliebsame Personen, Güter und Informationen interpretiert.14 In eine ähnliche Richtung geht die Sichtweise, die Binnengrenzen der sozialistischen Staatenwelt hätten als „cordon sanitaire“ gedient, als ein Sicherheitsgürtel, um die Sowjetunion gegen jedwede militärische Bedrohung sowie Infiltration aus der feindlich-kapitalistischen Welt abzuschirmen.15 Weil diese Deutungen nur wenig zur Erklärung der potenziellen Dynamik der geschlossenen Binnengrenzen innerhalb des „sozialistischen Lagers“ beitragen, soll an dieser Stelle eine differenziertere Betrachtungsweise vorgenom13 14 15

Andrea Chandler, Institutions of Isolation. Border Controls in the Soviet Union and its Successor States 1917–1993, Montreal & Kingston/London/Buffalo 1998, S. 82. So auch Schultz, Nachkriegsordnung in: dies. (Hg.), Grenzen im Ostblock, S. 13. Tuomas Forsberg, Contested Territory. Border Disputes at the Edge of the Former Soviet Empire, Aldershot 1995, S. 89.

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men werden, die stärker dem Einzelfall gerecht wird. So muss für die unterschiedlichen sozialistischen Grenzregime auch die Bedeutung nationalstaatlicher Politik berücksichtigt werden, die von nationalen Interessen und Konflikten gegenüber den Nachbarstaaten geleitet wurde. Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass trotz der sowjetischen Dominanz im Zeitalter des Kalten Krieges die Grenzregime der sozialistischen Staaten niemals einheitlich waren und die Grenzen in unterschiedlicher Stärke gesichert wurden.16 Grundsätzlich ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass es insbesondere den Ostblockländern Polen und der Tschechoslowakei trotz der Maßgabe des „sozialistischen Internationalismus“ außerordentlich schwer fiel, das Schreckgespenst des Nationalismus, das Nationalitätsprinzip und Selbstbestimmungsrecht der Völker zu überwinden und sich in tiefer Freundschaft mit der UdSSR und anderen Satellitenstaaten wie der DDR in die sozialistische Staatengemeinschaft bedingungslos einzufügen.17 Der nach dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs errichtete sowjetische „Ostblock“ bildete nicht zuletzt deswegen keine homogene, in sich geschlossene politische Landschaft von vertrauten „Bruderländern“. Muss daher folglich – gerade mit einem geschärften Blick auf seine meistenteils hermetisch abgeriegelten Staatsgrenzen – von einem „geteilten Ostblock“ ausgegangen werden, von einem Ostblock, der tiefer gespalten war, als bisher angenommen wurde? Für das „nördliche Dreieck“ gilt es unter anderem, diese Hypothese zu überprüfen. Welche Bedeutung und Funktion besaßen die Außengrenzen gegenüber den Binnengrenzen des „sozialistischen Lagers“? Wie die ostdeutsch-polnische und polnisch-sowjetische gehörte auch die innerdeutsche Grenze als Nachfolgerin der sogenannten Demarkationslinie bzw. der Interzonengrenze als westlicher Vorposten des sowjetischen Imperiums zu den neu geschaffenen Grenzen Europas, deren Verlauf sich noch an alten Landes- bzw. Stadtbezirksgrenzen orientierte. Die Besonderheit der innerdeutschen Grenze war, dass sie im Zuge des Kalten Kriegs nicht nur einen vormals einheitlichen Staat, sondern zwei unterschiedliche Weltsysteme und zwei gegensätzliche Militärblöcke trennte. Seitdem der „Eiserne Vorhang“ mit dem Bau der Berliner Mauer im August 1961 sprichwörtlich zementiert worden war, offenbarte sich der Ost-West-Gegensatz an dieser Grenze am sinnfälligsten. Das „sozialistische Lager“ besaß aber noch eine Reihe weiterer Außengrenzen, die ebenso Teil des „Eisernen Vorhangs“ waren. Im Norden grenzte es auch an Finnland und Norwegen, im Süden an die Türkei und Griechenland sowie an asiatische Länder wie Afghanistan und den Iran. Auch an diesen Außengrenzen wurde von den 16 17

Schultz, Nachkriegsordnung, in: dies. (Hg.), Grenzen im Ostblock, S. 14. Zur Theorie des sozialistischen Internationalismus allgemein: Franz Bolck (Hg.), Sozialistischer Internationalismus. Konferenz der Friedrich-Schiller-Universität am 28. April 1976 in Jena, Jena 1977.

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Sowjetrepubliken oder den sowjetischen Satellitenstaaten – zu denken wäre an das Grenzregime Bulgariens gegenüber der Türkei und Griechenland – eine Politik äußerster Abgrenzung betrieben, die ebenso wie an der innerdeutschen Grenze durch Unmenschlichkeit geprägt war: Grenzbefestigungen aus Stacheldraht, HundelaufAnlagen, Wachtürme und Alarm auslösende Signalanlagen, gepaart mit einem strikten Schießbefehl, gehörten auch hier zur Realität des Alltags.18 Weil der kommunistisch geprägte Ostblock nur durch die verordnete Abschottung gegenüber dem Westen sowie das Einsperren seiner Bürger überlebensfähig bleiben konnte, wurden die Außengrenzen zur wichtigsten Bestandsgarantie des „sozialistischen Lagers“. Allerdings müssen die Außengrenzen stets im Kontext der Binnengrenzen betrachtet werden. Denn viele DDR-Bürger wählten für ihre Flucht nicht den Weg über die innerdeutsche Grenze oder die Mauer um West-Berlin, sondern flüchteten über andere Länder des Ostblocks in den Westen. Geostrategisch mussten diese Menschen dabei nicht selten zunächst eine oder mehrere Binnengrenzen überwinden, bevor sie die Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“ erreichen und schließlich in den Westen entkommen konnten. Daher wurde die Grenzüberwachung durch die Machthaber im Ostblock auch an den Binnengrenzen stetig ausgebaut und perfektioniert. Im Folgenden sollen die Grenzen der SBZ/DDR gegenüber ihren sozialistischen Nachbarländern Polen und der Tschechoslowakei genauer betrachtet werden.

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Appelius, Bulgarien, S. 239. Siehe allgemein zu Charakter und Funktion der Außengrenzen der Sowjetunion und des „sozialistischen Lagers“: Tuomas Forsberg, The Collapse of the Soviet Union and Historical Border Questions, in: ders. (Hg.), Contested Territory, S. 3–20.

2. Aufbau der ostmitteleuropäischen Grenzregime nach dem Umbruch des Zweiten Weltkriegs (1945–1949) 2.1 Neuordnung Europas: Die Grenzen der SBZ in der unmittelbaren Nachkriegszeit Bereits auf der Konferenz von Teheran im November/Dezember 1943 fassten die Alliierten den Plan, das Deutsche Reich nach Ende des Krieges in verschiedene Besatzungszonen aufzuteilen. Die Europäische Beratende Kommission (European Advisory Commission, EAC) in London legte bis November 1944 den genauen Grenzverlauf zwischen der amerikanischen, britischen und sowjetischen Zone fest. Zudem beschloss die EAC die Einrichtung eines Alliierten Kontrollrats, der obersten Regierungsgewalt in Deutschland mit Sitz in der Viersektorenstadt Berlin.1 Mit den Potsdamer Beschlüssen vom 2. August 1945 waren die östlich der Oder und Lausitzer Neiße gelegenen Gebiete (Schlesien, Pommern und Ostpreußen) unter die einstweilige Verwaltung des polnischen Staates gelangt – eine endgültige Entscheidung über den Verlauf der deutsch-polnischen Grenze sollte jedoch einer künftigen, nicht näher bestimmten Friedenskonferenz für ganz Deutschland vorbehalten bleiben.2 Auf der Ebene der „Großen Drei“ (Roosevelt, Churchill, Stalin) verhandelte man über eine „Zerstückelung“ bzw. Gebietsabtretungen Deutschlands bereits seit 1941. Im Dezember 1941 war es Stalin, der in Moskau im Gespräch mit dem britischen Außenminister Anthony Eden als „Kompensation“ für die von der Sowjetunion 1939 annektierten polnischen Gebiete den Vorschlag machte, ganz 1

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Im Januar 1944 legte der britische Vertreter der EAC, William Strang, einen ersten Entwurf zur Aufteilung Deutschlands in drei Besatzungszonen vor – jeweils eine für Großbritannien, die USA und die Sowjetunion. Im September 1944 verabschiedete die EAC das „Londoner Protokoll”, das sich stark an der früheren Konzeption Strangs orientierte, aber zusätzlich die Verwaltung Groß-Berlins durch eine gemeinsame interalliierte Kommandantur vorsah. Hier wurden die Grenzen der sowjetischen Zone im Detail festgelegt. Im November 1944 wurde von der EAC schließlich auch der genaue Grenzverlauf zwischen der amerikanischen und britischen Zone bestimmt sowie ein Alliierter Kontrollrat eingeführt, der sich mit gesamtdeutschen Fragen beschäftigen sollte. Erst auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 wurde auf Drängen Großbritanniens das wieder befreite Frankreich als vierte Besatzungsmacht eingesetzt und als neues Mitglied in den Alliierten Kontrollrat aufgenommen. Die Aufwertung Frankreichs war ein taktischer Zug Großbritanniens – eine Reaktion auf die immer offenkundigeren Expansionsbestrebungen der Sowjetunion. Vgl. Jan Foitzik, Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945–1949, Struktur und Funktion (Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, Bd. 44), Berlin 1999, S. 31–35. Fischer (Hg.), Teheran, Jalta, Potsdam, S. 401.

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Ostpreußen an Polen abzutreten.3 Die Briten lehnten die sowjetischen Pläne mit Verweis auf den Beistandspakt mit Polen sowie die im August 1941 zwischen den USA und Großbritannien geschlossene „Atlantic-Charta“ zunächst ab, beinhaltete diese doch den Verzicht auf fremdbestimmte Grenzverschiebungen sowie das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Auf der Moskauer Außenministerkonferenz im Oktober 1943 und dem ersten Treffen der „Großen Drei“ auf neutralem Boden, der Konferenz von Teheran im November/Dezember 1943, gaben die Westmächte dem sowjetischen Druck nach – europapolitisch kam es zu einem Umschwenken Großbritanniens und der USA.4 Wie auch immer die politischen Gewichte zu diesem Zeitpunkt verteilt waren: Mit der Konferenz von Teheran war es Stalin gelungen, die Westalliierten von seinen Vorstellungen über eine Neuordnung Europas zu überzeugen, den Westmächten bedeutsame Zugeständnisse abzuringen und so die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs auch offiziell zu sanktionieren.5 Die richtungweisenden Ergebnisse der Verhandlungen in Teheran, die noch allgemeine Absichtserklärungen ohne politisch verpflichtenden Charakter darstellten, lassen sich hinsichtlich der territorialen und ethnischen Neugestaltung Europas folgendermaßen zusammenfassen: Was die territoriale Neuordnung anbelangt, so wurde den Forderungen Stalins über die Anerkennung der Grenzverschiebungen im Osten zugestimmt – der Eingliederung des Baltikums und Ostpolens entlang der Curzon-Linie in die Sowjetunion. Auch nahm man Stalins Vorschlag an, die Westgrenze Polens bis zur Oder zu verlegen, was später beides zur Westverschiebung Polens führte. Was die ethnische Neuordnung betrifft, so wurde auf der Konferenz von Teheran erstmals die Frage der Aussiedlung von Bevölkerungsteilen in Ostmitteleuropa angesprochen, ohne sie jedoch weiter zu erörtern.6 Wie aber Churchill in seinen Memoiren rückblickend feststellt, war ihm und Roosevelt bereits in Tehe-

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Boris Meissner, Die Deutschen Ostgebiete auf den Kriegs- und Nachkriegskonferenzen der Alliierten, in: Hans Rothe (Hg.), Die historische Wirkung der östlichen Regionen des Reiches. Vorträge einer Tagung zum vierzigjährigen Bestehen der Bundesrepublik Deutschland im Oktober 1989, Köln/Weimar/Wien 1992, S. 259–297, hier S. 259. Mit diesem Ausgleich versuchte Stalin, die am 30. September 1939 in Paris gebildete, später nach London verlegte polnische Exilregierung, die an einer Souveränität der polnischen Ostgebiete konstant festhielt, zu entschädigen. Vgl. Zoltan Michael Szaz, Die deutsche Ostgrenze. Geschichte und Gegenwart, München 1960, S. 97. Längerfristig wollte Stalin aber einen Keil zwischen Polen und Deutschland treiben, um Polen stärker an die Sowjetunion zu binden. Vgl. Schultz, Nachkriegsordnung, in: dies. (Hg.), Grenzen im Ostblock, S. 13. Besier/Stokłosa, Diktaturen, S. 309f. Ebd. Fischer (Hg.), Teheran, Jalta, Potsdam, S. 80–87.

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ran klar, „dass drei bis vier Millionen Polen, die auf der falschen Seite der Linie lebten, nach Westen gebracht werden müssen“.7 Mit der zweiten und letzten Kriegskonferenz der „Großen Drei“ in Jalta im Februar 1945 versuchte Stalin, die mit der Besetzung Ostmittel- und Südosteuropas erreichte sowjetische Vormachtstellung weiter auszubauen und zu konsolidieren. Seit Teheran hatte sich die Stimmungslage innerhalb der „Anti-Hitler-Koalition“ jedoch erheblich verschlechtert. Der offenkundige Expansionsdrang Stalins versetzte die Westmächte in große Besorgnis: Schon im Vorfeld der Konferenz zeigten sich die Westalliierten darüber beunruhigt, dass die UdSSR die okkupierten ostmitteleuropäischen Länder unmittelbar nach dem Einmarsch der Roten Armee zu „sowjetisieren“ begann.8 In der Frage der neuen Grenzen Polens wurde von den Alliierten in Jalta der Grenzverlauf im Osten durch die Curzon-Linie endgültig beschlossen,9 die Westgrenze Polens mit der Oder-Neiße-Linie hingegen noch nicht verbindlich festgelegt. Obwohl die polnische Grenze später an der westlichen Lausitzer Neiße verlaufen sollte, lehnten die Westmächte in Jalta diese Variante noch ab. Mit Blick auf die Umsiedlungsmaßnahmen Deutscher aus den neuen polnischen Gebieten favorisierten die Alliierten die östliche Glatzer Neiße,10 was den Verbleib eines großen Teils Schlesiens bei Deutschland bedeutet hätte. Hinsichtlich der Gebietserweiterung Polens war Churchill vorsichtig und unterstrich seine Position mit der Metapher, dass „es kaum zweckmäßig [wäre], wenn die polnische Gans derart mit deutschem Futter vollgestopft würde, dass sie an Verdauungsstörungen stirbt“.11 Im Falle der Tschechoslowakei hatte der Präsident der tschechoslowakischen Exilregierung, Edvard Beneš, seit Kriegsbeginn umfangreiche diplomatische Anstrengungen unternommen, um die Tschechoslowakei in ihren Grenzen vor dem „Münchner Abkommen“ von 1938 zu erhalten.12 Abgesehen von geringen Gebiets7

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Zit. nach: Winston Churchill, Triumph and Tragedy (The Second World War, Bd. 6), Boston 1953, S. 648. Die 1941 in der „Atlantic-Charta“ vereinbarten Grundsätze nach einem Selbstbestimmungsrecht der Völker scheinen damit nur zwei Jahre später an Bedeutung verloren zu haben. Vgl. Manfred Görtemaker, Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 380), Bonn 2003, S. 16. Den genauen Grenzverlauf regelte die UdSSR im polnisch-sowjetischen Grenzvertrag vom 16. August 1945. Vgl. Schultz, Nachkriegsordnung, in: dies. (Hg.), Grenzen im Ostblock, S. 14f. Infolge der Verschiebung der deutschen Ostgrenze bis zur Oder und der östlich verlaufenden Glatzer Neiße rechnete Churchill mit der Aussiedlung von allein sechs Millionen Deutschen. Vgl. Fischer (Hg.), Teheran, Jalta, Potsdam, S. 146. Zit. nach: ebd. Detlef Brandes, „Eine verspätete tschechische Alternative zum Münchner ‚ Diktat‘“. Edvard Beneš und die sudetendeutsche Frage 1938–1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 42 (1994), S. 221–241.

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verlusten im Osten13 hatte Beneš nach Kriegsende sein Ziel tatsächlich erreichen können – die Tschechoslowakei sollte in ihren alten Grenzen bestehen bleiben. Ende Juni 1945 legten schließlich die Vertreter der Alliierten im Berliner Hauptquartier der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) die genaue Übergabe der ostdeutschen Gebiete fest. Die amerikanischen und britischen Truppen hatten sich Anfang Juli aus Sachsen, Thüringen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg zurückzuziehen. Danach rückte die Rote Armee zur Bewachung an die Westgrenze ihrer Besatzungszone vor.14 Gleichzeitig riegelten die sowjetischen Truppen ihre Besatzungszone im Osten gegenüber Polen und der Tschechoslowakei ab, wobei die Sowjets ausgewiesene Grenzübergangsstellen verstärkt sicherten.15 In dem seit Juli 1944 vom sogenannten Lubliner Komitee (Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung) kommunistisch regierten Polen überwachten ab Frühjahr 1945 nachrückende polnische Kampfverbände der Zweiten Polnischen Armee die polnische Westgrenze. Die Bildung eines polnischen Grenzschutzes erfolgte dann Mitte September 1945 mit den Grenzschutztruppen (Wojska Ochrony Pogranicza, WOP).16 Während dieser Übergangsphase unterstützten die sowjetischen Grenztruppen die polnischen Kampfverbände. Die Sowjets schulten die polnischen Einheiten militärisch, sodass der polnische Grenzschutz nach dem Vorbild sowjetischer Grenztruppen unter Anleitung sowjetischer Offiziere aufgebaut werden konnte.17 Ende 1945 zogen sich die östlich der Oder und Neiße stationierten sowjetischen Truppen größtenteils wieder aus Polen zurück.18 Nach der Befreiung der Tschechoslowakei durch die Alliierten im April 1945 übernahm die sich aus verschiedenen politischen Lagern zusammensetzende „Nationale Front“ die Regierungsmacht im Land. Unter den sich in der politischen Lin13

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Am 29. Juni 1945 kam die Karpatenukraine durch einen zwischen der Tschechoslowakei und der UdSSR abgeschlossenen bilateralen Vertrag an die Sowjetunion. Vgl. Detlef Brandes, Der Weg zur Vertreibung 1938–1945. Pläne und Entscheidungen zum ‚Transfer‘ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 94), München 2001, S. 386. Kurt Arlt, Sowjetische (russische) Truppen in Deutschland (1945–1994), in: Torsten Diedrich/Hans Ehlert/Rüdiger Wenzke (Hg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998, S. 593–632, hier S. 593ff. Heinrich von zur Mühlen, Die Grenztruppen der DDR. Aufbau, Organisation und Ausbildung der sowjetzonalen Grenzpolizei, in: SBZ-Archiv: Dokumente, Berichte, Kommentare zu gesamtdeutschen Fragen 6 (1958), S. 230–232. Im Einzelnen dazu: Jan Ławski, Ochrona granic Polski Ludowej 1945–1948 [Der Schutz der Grenzen Volkspolens 1945–1948] (Historia powojenna Ludowego Wojska Polskiego), Warschau 1974. Mühlen, Die Grenztruppen der DDR, S. 230. MSZ, Z-2-6, W-44, T-690, Bl. 13f.: „Zwischenfälle an der deutsch-polnischen Grenze“, 21. Oktober 1946.

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ken und Mitte versammelnden Parteien und Bürgervereinen avancierte die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPČ) bald zur stärksten politischen Kraft.19 Die von den Kommunisten besetzten Ministerien des Innern und der Nationalen Verteidigung kümmerten sich unter anderem um Angelegenheiten der Staatsgrenzen und erteilten Ende Mai 1945 der sich neu formierenden tschechoslowakischen Armee den Befehl, die Grenzgebiete zu besetzen. Dabei wurde die Armee durch das Bereitschaftsregiment 1 für Nationale Sicherheit unterstützt; dieses unterstand dem Ministerium des Innern und war zentrales Ausführungsorgan des Nationalen Sicherheitskorps (Sbor Národní Bezpečnosti, SNB). Das SNB besaß gleichzeitig militärische und polizeiliche Funktionen und hatte nach Kriegsende die Aufgabe, in den geräumten Gebieten für „Ruhe und Ordnung“ zu sorgen und die Grenzen der Tschechoslowakei nach innen wie nach außen zu überwachen. Neben der Armee und dem SNB richtete man in den Grenzgebieten die sogenannte Finanzwache (Finanční stráž) ein – alle drei Staatsorgane sollten beim Grenzschutz zusammenarbeiten.20 Im Potsdamer Abkommen war auch beschlossen worden, die seit Frühjahr 1945 überwiegend chaotisch durchgeführten Vertreibungen der Deutschen aus den neuen polnischen Westgebieten sowie die Vertreibungen der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei in geordnete Bahnen zu lenken. Im „Kaschauer Regierungsprogramm“ vom 5. April 1945 waren die Vertreibung der Deutschen aus den böhmischen Ländern sowie die Enteignung ihres Besitzes festgeschrieben worden. Unterstützt von der Roten Armee begann das tschechoslowakische Militär, die inzwischen als rechtlos geltenden Sudetendeutschen in das von den sowjetischen Truppen besetzte Sachsen zu überführen – im Sommer 1945 wurden rund 750.000 Sudetendeutsche in die Sowjetische Besatzungszone abgeschoben.21 In Polen ordnete man mit den Beschlüssen des Zentralkomitees der Kommunistischen Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza, PPR) vom 26. Mai 1945 in ganz ähnlicher Weise die Vertreibung aller Deutschen aus den sogenannten wiedergewonnenen Gebieten östlich der Oder und Neiße binnen eines Jahres an.22

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Vgl. Klára Horalíková, Zur Einführung in das Thema, in: Pavel Žáček/Bernd Faulenbach/ Ulrich Mählert (Hg.), Die Tschechoslowakei 1945/48 bis 1989. Studien zu kommunistischer Herrschaft und Repression, Leipzig 2008, S. 11–15, hier S. 11f. František Šádek, Handbuch für Grenzsoldaten, Prag 1981, S. 17; Rolf Angermann, Die Grenztruppen der ČSSR. Sonderausgabe der Zeitschrift Wachsam und Kampfentschlossen, hrsg. von der Verwaltung der Grenztruppen der DDR, Berlin 1988, S. 5. Besier, Diktaturen, S. 355. Ebd., S. 336.

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Ankunft eines deutschen Flüchtlingstrecks nach Kriegsende 1945 in Berlin-Charlottenburg.

Bis 1948 mussten aus der Tschechoslowakei 2,5 Millionen, aus den neuen Nordund Westgebieten Polens 3,5 Millionen Deutsche ihre Heimat verlassen – zu Fuß, per Lastwagen oder in Viehwaggons der Bahn. Insgesamt wurden aus diesen beiden Ländern etwa sechs Millionen Deutsche vertrieben – die Zwangsumsiedlung führte rund vier Millionen Deutsche über die Ostgrenzen der Sowjetzone. Angesichts dieser Situation kann für die unmittelbare Nachkriegszeit in der SBZ zwischen 1945 und 1947/48 treffend von einer „Zusammenbruchgesellschaft“ (Christoph Kleßmann) mit rund 20 Prozent Flüchtlingen und Vertriebenen, innerer und äußerer Zerstörung bei großem Mangel an Nahrungsmitteln, Wohnraum und Arbeitsplätzen gesprochen werden.23 Die SBZ glich zu dieser Zeit einem übergroßen Durchgangslager, das den Strom der vor allem westwärts ziehenden Flüchtlinge und Vertriebenen aus dem Osten Europas zu regeln hatte. Jeder Zuwanderer stellte für die SBZ eine zusätzliche Belastung dar – war ein „zusätzlicher Esser“, der einen Teil des ohnehin knappen Wohnraums beanspruchte. Anders als nur wenige Jahre später, als sich die DDR über jeden Zuwanderer freute, bedeutete für die SMAD in der 23

So auch Jürgen Kocka, Ein deutscher Sonderweg. Überlegungen zur Sozialgeschichte der DDR, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“ B40/94, S. 34–45, hier S. 40.

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unmittelbaren Nachkriegszeit jede Person, die der sowjetischen Zone den Rücken kehrte, eine Entspannung der Versorgungslage.24 Dies mag zu der Erklärung beitragen, warum die Sicherung der Westgrenze der Sowjetischen Besatzungszone (der späteren innerdeutschen Grenze) in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1945/46 von den Sowjets nur halbherzig betrieben wurde. In den ersten beiden Nachkriegsjahren überquerten mehrere Millionen Menschen diese Grenze auf der Suche nach einer neuen Heimat im Westen. Zwischen Oktober 1945 und Juni 1946 verließen allein 1,6 Millionen Deutsche die sowjetische Besatzungszone in Richtung britische.25 Als der illegale Personen- und Warenverkehr immer weiter anstieg, wurde mit der Direktive Nr. 43 vom 29. September 1946 eine stärkere Abschottung gegenüber dem Westen gefordert und der sogenannte kleine Grenzverkehr an der Westgrenze der SBZ eingeführt.26 Seither war das Überschreiten der SBZ in die Westzonen streng reglementiert, mit vielen Behördengängen verbunden und nur noch mit einem sogenannten Interzonenpass möglich. Andererseits waren die Strafen für den illegalen Grenzübertritt an der Westgrenze der SBZ nicht besonders hoch – in den meisten Fällen kam man mit einem „kurzzeitigen Kellerkarzer“ davon.27 Zeitzeugen berichten, dass sich die russischen Wachposten an dieser Grenze gegenüber Flüchtigen überwiegend menschlich verhielten: „Solange noch die Russen die Grenze überwachten, trauten sich die Menschen leichter, diese zu negieren […].“28 Wie gestaltete sich aber die Sicherung der Grenzen im Osten der SBZ? Wie Dokumente aus dem polnischen Archiv Neuer Akten in Warschau belegen, galten direkt nach Kriegsende 1945/46 an der deutsch-polnischen Grenze zunächst recht liberale Grenzvorschriften. In erster Linie ist dies auf die chaotischen Nachkriegsverhältnisse zurückzuführen. Obwohl die polnischen Behörden bereits seit Herbst 1945 an der Installation von Grenzanlagen mit Stacheldraht und Wachtürmen arbeiteten, wurden nicht alle Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten sofort ausgeschöpft. So existierte für die ersten Nachkriegsmonate noch keine Passpflicht – mit kurzfristig ausgestellten Passierscheinen konnte man die Grenze über die Oder 24 25 26 27 28

Vgl. Melis, „Republikflucht“, S. 24. Zu diesen Zahlen siehe Jürgen Ritter/Peter Joachim Lapp, Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk. Mit einem Geleitwort von Rainer Eppelmann und einem Beitrag von Ulrich Schacht, Berlin 5. aktual. und erw. Aufl. 2006, S. 13. Vgl. Wolfgang Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, Berlin 2004, S. 13. Peter Joachim Lapp, Gefechtsdienst im Frieden – das Grenzregime der DDR, Bonn 1999, S. 13f. Zit. nach Ernst Schubert, Von der Interzonengrenze zur Zonengrenze. Die Erfahrung der entstehenden Teilung Deutschlands im Raum Duderstadt 1945–1949, in: Bernd Weisbrod (Hg.), Grenzland: Beiträge zur Geschichte der deutsch-deutschen Grenze, Hannover 1993, S. 70–87, hier S. 85.

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und Neiße mühelos überqueren. Diese Situation sollte sich aber schon bald ändern. Weil die Behörden aufgrund des starken Flüchtlings- und Vertriebenenstroms mit dem Problem zu kämpfen hatten, klare Richtlinien für den Grenzübertritt auszuarbeiten,29 durfte die Grenze seit Mitte November 1945 nur noch mit Pass oder Visum überquert werden.30 Zwar existierte ein von den lokalen polnischen Behörden tolerierter halb legaler Grenzverkehr fort, die deutsche Bevölkerung blieb jedoch davon ausgenommen: Sie durfte die Grenze nicht individuell, sondern lediglich im Rahmen großer Aussiedlungstransporte passieren.31 Innenpolitisch wurde in Polen zu dieser Zeit mit der ersten kommunistischen Regierung unter Bolesław Bierut ein repressives und militaristisches Regime eingeführt, das, nach dem Grad der gesellschaftlichen Durchherrschung, deutlich totalitäre Züge aufwies.32 Paradoxerweise sollte durch eine Abschottung gegenüber den sozialistischen Nachbarn eine Modernisierung Polens erreicht werden. Die dabei vorgenommene hermetische Abriegelung der polnischen Staatsgrenzen galt als wichtiger Bestandteil des von Bierut eingeleiteten kommunistischen Projekts zur „Umstrukturierung des Landes“.33 Seit 1947 wurde das polnische Grenzregime daher kontinuierlich ausgebaut. Die Personalstärke der polnischen Grenzschutztruppen stieg von insgesamt 18.300 im Jahr 1947 auf 32.300 im Jahr 1953 an. Nach sowjetischem Vorbild wurden die Grenzschutztruppen im Jahr 1949 dem im Juli 1944 gegründeten Ministerium für Öffentliche Sicherheit (Ministerstwo Bezpieczeństwa Publicznego, MBP) unterstellt. Nach den Akten aus dem Archiv der Sicherheitskräfte des tschechischen Ministeriums des Innern (AMV) in Brünn zu urteilen, schloss man auf tschechoslowakischer Seite 1945/46 die Grenze zur SBZ nur sehr lückenhaft. Im Laufe des Jahres 29 30 31 32

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AAN, MAP, Sign. 884: „Schreiben des Ministers Modzielewski vom polnischen Außenministerium an das Ministerium für Nationale Sicherheit in Warschau und an den polnischen Grenzschutz“, 7. November 1945. AAN, MAP, Sign. 884: „Schreiben des polnischen Außenministeriums an das Ministerium für Öffentliche Verwaltung“, 21. November 1945. Vgl. Stokłosa, Grenzstädte in Ostmitteleuropa, S. 51f. Siehe zum Totalitarismus in Polen: Hubert Izdebski, Poland after 1945 and after 1989: Problems of Law Making, in: Jerzy W. Borejsza/Klaus Ziemer (Hg.), Totalitarian and Authoritarian Regimes in Europe. Legacies and Lessons from the Twentieth Century, Warschau 2006, S. 438–448. Siehe zum Totalitarismus als Analysemodell von Diktaturen allgemein: Dominik Trutkowski, Wohin treibt die Totalitarismusforschung? Möglichkeiten und Grenzen eines Analysemodells moderner Diktaturen, in: Birgit Hofmann/Katja Wezel/Katrin Hammerstein/Regina Fritz/Julie Trappe (Hg.), Diktaturüberwindung in Europa. Neue nationale und transnationale Perspektiven (Akademiekonferenzen, Bd. 2), Heidelberg 2010, S. 258–274. Dariusz Stola, Das kommunistische Polen als Auswanderungsland, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 2 (2005), H. 3, S. 345–365, hier S. 347f.

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1945 baute die Tschechoslowakei ihre Grenzanlagen weiter aus, was jedoch durch die mangelnde Ausrüstung der Grenzschutzorgane des SNB und der „Finanzwache“ mit Waffen, Munition und Transportmitteln erschwert wurde.34 1946 war nur jedes fünfte Fahrzeug des Grenzschutzes einsatzbereit, und lediglich 63 Prozent der Sicherheitskräfte des SNB besaßen eine vollständige Uniform. Fehlende Gemeinschaftsunterkünfte und lange Arbeitszeiten waren die Regel. An der Staatsgrenze zur SBZ hatte ein Grenzposten nicht selten einen Grenzabschnitt von fünf Kilometern zu überwachen. Weil aber das Terrain in weiten Abschnitten des Erzgebirges und der Sächsischen Schweiz schlecht begehbar war, konzentrierte sich der Grenzschutz dort in erster Linie auf die offiziell ausgewiesenen Grenzübergänge.35 Aus Sicht der tschechoslowakischen Behörden bestand 1945/46 das größte Problem der Grenzüberwachung zur SBZ in den „Wanderbewegungen“ der vertriebenen Deutschen. Dabei hatten die Behörden weniger Schwierigkeiten mit den massenhaften Aussiedlungen der Sudetendeutschen in die sowjetische Zone als mit dem Rückfluss der bereits vertriebenen Deutschen. Um Lücken bei der Grenzüberwachung auszugleichen, sollten daher auch die in den Grenzgebieten lebenden Tschechoslowaken in den Grenzschutz eingebunden werden. In der Tagespresse finden sich immer wieder Aufrufe, die die Grenzbevölkerung zur engen Zusammenarbeit mit den Grenzschutzorganen ermuntern, um „größeren wirtschaftlichen Schaden“ durch illegale Grenzübertretungen zu verhindern.36 Für die Deutschen gab es verschiedene Gründe, in die Tschechoslowakei zurückzukehren. So war in der SBZ die Versorgungslage mit Lebensmitteln schlecht und die Aussicht auf einen Arbeitsplatz verschwindend gering. Viele suchten daher in der alten Heimat eine Arbeit auf dem Land, einige wollten ihr eilig zurückgelassenes Hab und Gut holen, andere waren von der Sehnsucht geleitet, ihre Familienangehörigen, Lebenspartner und Freunde wiederzusehen. In der Regel kam es aufgrund des illegalen Grenzübertritts zu Geldstrafen bis hin zu zweiwöchigen Haftstrafen. Weil es vielen Deutschen nach eigener Aussage in tschechoslowakischen Gefängnissen sogar besser erging als in der SBZ und nicht wenige eine Gefangennahme billigend in Kauf nahmen, forderten die lokalen Behörden bald drakonische Strafen für den illegalen Grenzübertritt ein: Die „Grenzverletzer“ seien in

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AMV Brno-Kanice f. A14, inv. j. 42: SNB-Regionalkommandantur Česká Lípa“ an „SNBLandeskommandantur/Abteilung I“, „Sicherung des Grenzabschnittes“, 17. Juni 1945. AMV Brno-Kanice f. A14, inv. j. 424: „SNB-Regionalkommandantur Ústi nad Labem“ an SNB-Landeskommandantur“, „Ausführung zur Sicherung des Grenzabschnitts“, 30. August 1946. AMV Brno-Kanice f. A14, inv. j. 123: „Die vertriebenen Deutschen schmuggeln!“, in: Svobodné slovo [Das freie Wort], 14. April 1946.

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Arbeitslager zu entsenden, die tschechoslowakischen Helfer aus dem Grenzgebiet auszuweisen und ihre Gewerbelizenzen einzuziehen.37 Der unerlaubte Grenzübertritt konnte aber auch mit dem Tod bezahlt werden. Laut einer Bekanntmachung der tschechoslowakischen Bezirksverwaltungskommission von Tetschen-Bodenbach in der Sächsischen Schweiz vom 15. Oktober 1945 war das Überschreiten der Staatsgrenze zur sowjetischen Zone nur an ausgewiesenen Grenzübergängen erlaubt. Personen deutscher Nationalität war das Betreten der Wälder streng verboten. Nach Paragraph 8 dieser Bekanntmachung hieß es: „Gegen eine Person, die die Grenze an anderen Orten überschreitet, und gegen Personen deutscher Nationalität, die zu Unrecht den Wald betreten, wird die Waffe wie gegen einen gefährlichen Verbrecher gebraucht, und sie werden wie ein solcher erschossen.“38 Zwar bezog sich diese Bestimmung mit großer Wahrscheinlichkeit weniger auf die deutsche Zivilbevölkerung als auf die im Herbst 1944 von Reichsführer SS Heinrich Himmler zur letzten Verteidigung des „Dritten Reiches“ gegründete NS-Organisation „Werwolf “. Dennoch ist davon auszugehen, dass mit dieser Bestimmung vor allem vertriebene Sudetendeutsche den Tod fanden. Nach den vom tschechischen Dokumentations- und Forschungszentrum für Verbrechen im Kommunismus vor Kurzem veröffentlichten Totenlisten wurden von tschechoslowakischen Grenzschutzkräften in den Jahren 1945 bis 1949 an der Grenze zwischen der SBZ und der Tschechoslowakei 46 Deutsche getötet; davon hatten 29 Personen versucht, die Grenze zur sowjetisch besetzten Zone zu überqueren, 17 Menschen die zur Tschechoslowakei.39 Es wird deutlich, dass die Grenzen der SBZ im Westen zu dieser Zeit noch durchlässiger waren als ihre Grenzen im Osten zu Polen und der Tschechoslowakei.40 Zum einen mag dies mit der bewussten Nachlässigkeit der sowjetischen, briti37 38 39

40

AMV Brno-Kanice f. A14, inv. j. 424: SNB-Regionalkommandantur Česká Lípa“ an „SNB-Landeskommandantur/Abteilung Ia Prag, „Bericht Dezember: Sicherung des Grenzabschnitts“, 2. Januar 1947. Zit. nach: http://www.forost.ungarisches-institut.de/pdf/19451015-1.pdf: „Tschechoslowakei, Kundmachung der tschechoslowakischen Bezirksverwaltungskommission von Tetschen-Bodenbach vom 15. Oktober 1945 (Nr. 15), (Zugriff am 10.5.2010). Vgl. die detailliert geführten Totenlisten Nr. 2, 4 und 6 in: Martin Pulec, Organizace a činnost ozbrojených pohraničních složek. Seznamy osob usmrecených na státních hranicích 1945–1989 [Organisation und Tätigkeit der bewaffneten Sicherheitsorgane. Verzeichnis der an den Staatsgrenzen getöteten Personen von 1945 bis 1989] (Sešity Úřadu dokumentace a vyšetřovani zločinů komunismu [Veröffentlichungen des Dokumentations- und Forschungszentrums für Verbrechen im Kommunismus], Bd. 13), Prag 2006, S. 174–291. Siehe hierzu auch: Mühlen, Die Grenztruppen der DDR, S. 230; Roman Grafe, Die Grenze durch Deutschland. Eine Chronik von 1945 bis 1990, München 2005, S. 11–22; Katarzyna Stokłosa, Grenzstädte in Ostmitteleuropa. Guben und Gubin 1945 bis 1995 (Frankfurter Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Ostmitteleuropas, Bd. 9), Berlin 2003,

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schen und amerikanischen Truppen an der Westgrenze der SBZ zusammenhängen, zum anderen mit der verstärkten Sicherung der polnischen und tschechoslowakischen Grenztruppen, deren primäre Aufgabe es war, die Vertreibungen der Deutschen über die Ostgrenzen zu regulieren und gleichzeitig einen möglichen „Rückfluss“ der Vertriebenen abzuwehren. Die erhöhte Sicherung der Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei hing neben dem breiten Strom von „Umsiedlern“ auch mit einem blühenden Schwarzhandel, mit über die Grenzen hinweg operierenden organisierten Banden sowie mit einem nach dem Zweiten Weltkrieg durch Verteidigungslinien zurückgelassenen gefährlichen Minenteppich an der Oder und Neiße zusammen.41 2.2 Das Grenzregime in der SBZ – beginnende Militarisierung der Grenzpolizei Zwar waren nach Anordnung des Alliierten Kontrollrates die Besatzungstruppen bis zum Abschluss eines zukünftigen Friedensvertrages für die Überwachung der deutschen Außen- und Interzonengrenzen zuständig. Gleichwohl hatten die Alliierten in ihrer Erklärung zur Übernahme der obersten Regierungsgewalt vom 5. Juni 1945 die Aufstellung ziviler deutscher Polizeiorgane zugelassen.42 Beim Aufbau von Polizeibehörden griff man in der SBZ organisatorisch noch auf Vorbilder aus der Weimarer Republik zurück. Auf regionaler Ebene entstanden Kreisbehörden, auf Länderebene kam es zur Bildung von Landespolizeibehörden.43 Mit der Direktive Nr. 16 des Alliierten Kontrollrats vom 6. November 1945 forderte

41

42 43

S. 113–120; Inge Bennewitz/Rainer Potratz, Zwangsaussiedlungen an der innerdeutschen Grenze. Analysen und Dokumente (Forschungsreihe zur DDR-Geschichte, Bd. 4), Berlin 1994, S. 18; Stefan Kowal/Helga Schultz, Neue Grenzen – alte Nachbarn. Deutsche und Polen im Widerstreit von großer Politik und regionaler Kooperation (1919–1990), in: Hans-Jürgen Wagener/Heiko Fritz (Hg.), Im Osten was Neues. Aspekte der EUOsterweiterung (Eine WELT – Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden, Bd. 7), Bonn 1998, S. 174–195, hier S. 188. Ther, Deutsche und polnische Vertriebene, S. 126–130; Stokłosa, Grenzstädte in Ostmitteleuropa, S. 94, 116f.; Torsten Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR (1946–1961), in: ders./Hans Ehlert/Rüdiger Wenzke (Hg.), Im Dienste der Partei. Handbuch der bewaffneten Organe der DDR, Berlin 1998, S. 201–224, hier S. 201. Wolfgang Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen der DDR, Berlin 2004, S. 13. Grandhagen spricht für die „Erklärung zur Übernahme der obersten Regierungsgewalt“ fälschlicherweise vom 5. Juli 1945. Thomas Lindenberger, Die Deutsche Volkspolizei (1945–1990), in: Diedrich/Ehlert/ Wenzke (Hg.), Im Dienste der Partei, S. 97–152, hier S. 98.

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man schließlich den Aufbau einer bewaffneten Grenzpolizei, die aus den bereits bestehenden Einheiten der deutschen Polizei hervorgehen sollte: Um die deutsche Polizei in die Lage zu versetzen, sich an der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung tatkräftig beteiligen zu können, muß sie so bald wie möglich mit Waffen ausgestattet werden […]. Mit Ausnahme der Gendarmerie und der Grenzpolizei, die mit Karabinern ausgestattet werden können, wird die Polizei keine gänzlich automatischen Waffen […] zugeteilt bekommen.44

Zur weiteren Koordinierung und Vereinheitlichung der polizeilichen Arbeit wurde mit dem Geheimbefehl Nr. 212 der SMAD vom 30. Juli 1946 die Zentralverwaltung des Innern in Berlin eingerichtet, die man Ende November in Deutsche Verwaltung des Innern (DVdI) umbenannte. Der Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in Deutschland, zugleich Oberster Chef der SMAD, Marschall Sokolowski, sagte den sowjetischen Besatzungstruppen Anfang November 1946 auch die Unterstützung der ostdeutschen Polizei im Kriegsfall zu.45 Mit der Zentralisierung der Polizei durch die DVdI stellte man aber gleichzeitig die Weichen für eine schrittweise Militarisierung der deutschen Polizei, ebenso wie für die später aus dieser hervorgehenden Grenzpolizei. Wie aber wurde die Bildung der Grenzpolizei begründet? Der von den Alliierten vorgesehene Aufbau deutscher Grenzpolizeieinheiten sollte in erster Linie zur Überwindung der chaotischen Nachkriegszustände beitragen. In den westlichen Besatzungszonen waren bereits seit 1945 deutsche Grenzeinheiten aufgestellt worden: Seit dem 25. September 1945 existierte ein Zollgrenzschutz in Niedersachsen, seit dem 15. November eine Grenzpolizei in Bayern und seit dem 3. Mai 1946 in Hessen.46 In einem Mitte der 1980er-Jahre in der DDR publizierten Informationsheft über den „schweren Anfang“ der ostdeutschen Grenzpolizei wird rückblickend die Notwendigkeit zum Aufbau einer Grenzpolizei mit dem Verlust von „ökonomischem Kapital“ in der SBZ begründet: Enteignete Großkapitalisten und andere Reaktionäre bemühten sich, die in Volkseigentum übergegangenen Betriebseinrichtungen, Produktionsmittel und sonstige Reichtümer illegal über die Demarkationslinie [Westgrenze der SBZ; D.T.] zu schleusen. […] Aber auch die östlichen Grenzen der sowjetischen Besatzungszone mußten kontrolliert werden. Reaktionäre Kräfte in Polen und der Tschechoslowakei hatten die revolutionären Umwälzungen nicht widerstandslos hingenommen – speziell in Polen machten konterrevolutionäre Banden ganze Landstriche unsicher. Schmuggel und Schiebergeschäfte blühten auf Kosten der arbeitenden Menschen.47 44 45 46 47

Zit. nach: Wilfried Hanisch, Vom schweren Anfang (Beiträge zur Geschichte der Grenztruppen der DDR, Heft 1), o. O. 1986, S. 6. Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 14ff. Ebd., S. 16f. Hanisch, Vom schweren Anfang, S. 11.

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Während diese propagandistischen Beschreibungen der historischen Realität in Bezug auf Schmuggel und Schiebereien über die Grenze weitestgehend entsprochen haben mögen,48 werden an anderer Stelle für die sowjetische Zone der Jahre 1945/46 diffuse Bedrohungsängste formuliert: Dabei ist die Rede von „gedungenen Terroristen, Agenten und Spionen“, die die Grenzen im Auftrag „westlicher Geheimdienste überschreiten, um den friedlichen und demokratischen Aufbau im Osten Deutschlands zu sabotieren und Unruhe unter der Bevölkerung zu stiften“.49 Auf einen Befehl der SMAD vom 18. November 1946 hin wurde unter Anleitung der DVdI bzw. der Innenministerien in den fünf Ländern der SBZ mit dem Aufbau der Grenzpolizei begonnen. Das vorrangige Ziel der SMAD war es, die eigenen Truppen zu entlasten.50 Die Personalstärke der neuen Grenzpolizei war zunächst recht gering und betrug auf Anweisung der SMAD etwa 2.500 Mann: Mecklenburg wurden rund 375, Brandenburg 200, Sachsen-Anhalt 300, Sachsen 770 und Thüringen 900 Grenzpolizisten zugeteilt. Gemeinsam mit den Grenzdienst verrichtenden Einheiten der Sowjetarmee sollten diese eine Grenze von insgesamt etwa 2.250 Kilometer überwachen. An der Ostseeküste setzte man anfangs noch keine deutschen Grenzpolizisten ein. Dort waren allein sowjetische Kräfte stationiert.51 An den Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei zogen sich die sowjetischen Truppen nach Aufstellung der neuen Grenzpolizeieinheiten Ende 1946 weitgehend zurück und blieben nur an den strategisch wichtigsten Grenzübergangsstellen und Brückenabschnitten präsent.52 Dabei existierte für den auf Länderebene erfolgenden Aufbau der Grenzpolizei noch keine zentrale Instruktion. Die zuständigen Länderbehörden sowie die SMAD erließen daher vorläufige Dienstanweisungen auf Grundlage bestehender Vorschriften für die Schutzpolizei.53 Die Grenzpolizei 48 49 50

51 52 53

Siehe hierzu die Beschreibungen bei Lapp, Gefechtsdienst im Frieden, S. 12–17. Kurt Berghoff, Zur Entstehung der Grenzpolizei im Osten Deutschlands im Jahre 1946, in: Zeitschrift für Militärgeschichte 8 (1969), S. 32–41, hier S. 34. Die deutschen Grenzpolizei-Einheiten waren administrativ den Landespolizeibehörden unterstellt, während sie ihre Einsatzbefehle von den jeweiligen örtlichen sowjetischen Befehlshabern erhielten. Vgl. Dieter Marc Schneider, Innere Verwaltung/Deutsche Verwaltung des Inneren (DVdI), in: SBZ-Handbuch: staatliche Verwaltungen, Parteien, gesellschaftliche Organisationen und ihre Führungskräfte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands 1945–1949 (hg. von Martin Broszat/Hermann Weber), München/Oldenburg 1990, S. 207–217, hier S. 207. Peter Joachim Lapp, Frontdienst im Frieden – Die Grenztruppen der DDR. Entwicklung, Struktur, Aufgaben, Koblenz 1986, S. 1. In dieser Zeit wurde auch der Mythos der deutsch-sowjetischen „Waffenbrüderschaft“ begründet. Vgl. Berghoff, Zur Entstehung der Grenzpolizei, S. 38. Wilfried Hanisch, Grenzsicherung und Grenzpolizei der DDR. Die Politik von SED- und Staatsführung zur Sicherung der Staatsgrenze der DDR. Die Rolle der Grenzpolizei bei ihrer Verwirklichung (Von den Anfängen bis 1961), Potsdam 1974, S. 36.

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blieb sowohl gegenüber dem Abwehrdienst der zuständigen Division der Sowjetarmee als auch dem örtlichen NKWD – dem sowjetischen Geheimdienst – zur Zusammenarbeit verpflichtet.54 An der 460 Kilometer langen Grenze der SBZ zu Polen und der 430 Kilometer langen Grenze zur Tschechoslowakei hatte ein einzelner Grenzpolizist im Durchschnitt einen Abschnitt zwischen 6 und 15 Kilometern zu überwachen.55 Darüber hinaus waren illegale Übertritte über die Grenzen der SBZ im Osten nicht zuletzt wegen der mangelhaften Ausrüstung der Grenzpolizei mit Waffen, Munition und Transportmitteln möglich.

3 Bis 1955 überwachten ostdeutsche Grenzpolizisten mit Sowjetsoldaten gemeinsam die Grenzen der SBZ. Mit solchen Bildern wurde der Mythos der 1946/47 begründeten deutsch-sowjetischen „Waffenbrüderschaft“ propagiert.

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Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 23. Lapp, Frontdienst im Frieden, S. 1.

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Was die Rekrutierung der Grenzpolizisten anbelangt, so war die SED stets darum bemüht, Kommandofunktionen im Rahmen ihrer sozialistischen Kaderpolitik mit zuverlässigen Kommunisten und Antifaschisten zu besetzen.56 Während die Mannschaftsdienstgrade meist aus ehemaligen Schutzpolizisten der örtlichen Kreispolizeibehörden gebildet wurden, sollten die Führungskräfte der neuen Polizei bewährte und nach Möglichkeit kampferfahrene Kommunisten sein. Daher besetzten anfangs insbesondere Interbrigadisten aus dem Spanischen Bürgerkrieg und Mitglieder des Nationalkomitees „Freies Deutschland“ (NKFD) die Führungspositionen. Mit dem SMAD-Befehl Nr. 201 über die „Entnazifizierung und vollständige Säuberung aller öffentlichen Ämter und der Wirtschaft“ vom 16. August 1947 wurden die Angehörigen der Grenzpolizei einer besonders strengen Überprüfung unterzogen. In die Grenzpolizei nahm man neben bewährten Parteikadern in erster Linie noch nicht in der Ausbildung stehende jüngere Männer auf, wobei sich die Nachwuchswerbung zunächst auf Arbeiter aus volkseigenen Betrieben, auf SEDMitglieder und ab 1948 auf Mitglieder der Freien Deutschen Jugend (FDJ) konzentrierte.57 Über diese Personalpolitik versuchte die SED letztlich, mit der Grenzpolizei ein weiteres ihr treu ergebenes Herrschaftsinstrument zu schaffen. Im Zuge der Enteignung von Großbetrieben, der Bodenreform und der Verfolgung politisch Andersdenkender kam es in den Jahren 1946/47 zu einem Massenexodus aus der SBZ in die westlichen Besatzungszonen.58 Die Machthaber in der SBZ setzten auf Propaganda; sie erklärten eine vom Westen ausgehende Bedrohung in erster Linie durch die endgültige Bildung der Bizone (Zusammenschluss der ursprünglich geteilten US-amerikanischen und der britischen Besatzungszone) im Januar 1947, die im März verkündete Truman-Doktrin sowie den im Juni angekündigten Marshall-Plan. Die DDR-Geschichtsschreibung interpretierte diese Prozesse daher als „imperialistische Störaktionen“ gegen den „friedlich voranschreitenden demokratischen Aufbau“ im Osten Deutschlands und schließlich als Auslöser des Kalten Kriegs.59 Die von Moskau gebilligte Formierung von Zentralverwaltungen, die Vereinheitlichung der Polizei, Sondergesetze usw. schafften denn auch sichtbare politische Voraussetzungen für eine Sonderentwicklung der SBZ. Die von westdeutscher Seite initiierte Konferenz der Ministerpräsidenten der deutschen Länder im Mai 1947 in München war ein Versuch, die deutsche Teilung doch noch zu verhindern. Aber für die Sowjetunion und die SED war die Teilung Deutschlands, trotz aller Lippenbekenntnisse im Sinne einer Wiederherstellung der deutschen Einheit, 56 57 58 59

Vgl. Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR, S. 204. Im Einzelnen Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 26–30. Melis, „Republikflucht“, S. 20ff. Hanisch, Vom schweren Anfang, S. 32.

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längst entschieden. Nachdem die Tagesordnung auf der Münchener Konferenz modifiziert worden war, nahmen die Ministerpräsidenten der SBZ die Änderungen zum Vorwand, die Konferenz noch vor ihrem Beginn zu verlassen.60 Wie sich Wolfgang Leonhard, ein damaliger Vertrauter Walter Ulbrichts erinnert, zeigte sich Ulbricht über den Ausgang der Konferenz hochzufrieden: „Ich verstehe überhaupt nichts mehr“, sagte mir ein Mitarbeiter. „Die große Chance für eine Einheit Deutschlands ist verspielt. Ulbricht aber ist erfreut wie selten. Er und einige andere Funktionäre sprechen von einem großen Sieg. Es scheint fast, sie freuten sich darüber, dass die Konferenz aufgeflogen ist.“61

Am 23. August 1947 wurde mit dem SMAD-Befehl Nr. 155 über die „Richtlinien für die Organe der deutschen Polizei zum Schutz der Demarkationslinie und der Grenzen“ eine umfassende Reorganisation der Grenzpolizei festgelegt. Verwaltungsmäßig unterstand die Abteilung Grenzpolizei jetzt nicht mehr der Schutzpolizei, sondern direkt dem Chef der Landespolizeibehörde, und sie erhielt ihre Befehle vom Chef der Abteilung Grenzpolizei bei der DVdI.62 Die Einheiten wurden um rund ein Drittel auf fast 3.800 Soldaten verstärkt und die Struktur für alle fünf Länder vereinheitlicht. Diese von der SMAD erlassene Verordnung muss in zweifacher Hinsicht als Wendepunkt in der Entwicklung der Grenzpolizei von einer polizeiähnlichen zu einer paramilitärischen Organisation gewertet werden. Zum einen kam es mit dieser ersten einheitlichen Dienstanweisung zu einer weiteren Zentralisierung, einer für alle Länder der SBZ geltenden Gliederung der Grenzpolizei.63 Zum anderen wurde mit dem Abschnitt IV der „Ordnung für die Durchführung des Grenzpolizeidienstes“, insbesondere mit dem Paragraphen 20, das Grenzregime erheblich verschärft. Dieser Paragraph regelte die Schusswaffenbestimmung an sämtlichen Grenzen der SBZ. Die Grenzpolizeiangehörigen erhielten damit erstmals offiziell den Befehl, „bei Flucht von Grenzübertretern und Übertretern der Demarkationslinie [Westgrenze der SBZ; D.T.] von der Waffe Gebrauch zu machen, wenn andere Möglichkeiten erschöpft [seien]“.64 Der neu erlassene Schießbefehl bedeutete daher 60 61 62 63 64

Vgl. Christoph Kleßmann, Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945–1955 (Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 298), Bonn 5. Aufl. 1991, S. 186ff. Wolfgang Leonhard, Die Revolution entläßt ihre Kinder, Köln/Berlin 1956, S. 460f. Vgl. Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 24. Schon die Zentralisierung der sowjetzonalen Grenzpolizei war ein klarer Verstoß gegen die alliierten Vereinbarungen von 1945/46; siehe hierzu Karl-Heinz Schöneburg (Hg.), Errichtung des Arbeiter- und Bauernstaates der DDR 1945–1949, Berlin (Ost) 1983, S. 237. Zit. nach: Günther Glaser (Hg.), „Reorganisation der Polizei“ oder getarnte Bewaffnung der SBZ im Kalten Krieg? Dokumente und Materialien zur sicherheits- und militärpolitischen Weichenstellung in Ostdeutschland 1948/49, Frankfurt a.M. 1995, S. 88–96, hier S. 91f.

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nichts anderes, als das unerlaubte Verlassen der SBZ mit allen Mitteln zu verhindern, wobei die Behörden den Tod des Flüchtigen billigend in Kauf nahmen. Die Reorganisation der Grenzpolizei hatte aus Sicht der DDR-Propaganda große Bedeutung. In den Erfolgsmeldungen der Grenzpolizei Sachsen vom Herbst 1947 lässt sich nachlesen, dass an der Grenze zur Tschechoslowakei „unter anderem 30.000 Bürsten, 4.000 Luftdruckmesser, über 76.000 Stück Maschinennadeln, 48.000 Kanülen, 56.000 Rasierklingen und 2.000 Thermometer“ beschlagnahmt wurden.65 Um den gestiegenen Bedarf an Grenzpolizeieinheiten an der Westgrenze der SBZ zu kompensieren, wurden mit dem SMAD-Befehl vom 14. Oktober 1947 an den Grenzen zu Polen, der Tschechoslowakei und an der Ostseeküste Zollämter sowie ein Grenzaufsichtsdienst eingerichtet.66 Während die Zollämter organisatorisch und fachlich der Deutschen Finanzverwaltung unterstanden, wurde ihre Führung von der Außenhandelsverwaltung der SMAD übernommen. Die mit Schmuggelware gestellten „Grenzverletzer“ übergab die Grenzpolizei fortan den Zollämtern67 – der Beginn der Zusammenarbeit von Grenzpolizei- und Zollbehörden. Während es in den Jahren 1946/47 keine parteipolitische Indoktrination der Grenzpolizei gab, kam es mit der ersten staatspolitischen Konferenz der SED am 23./24. Juli 1948 in Werder (Havel) zur Bildung sogenannter Polit-Kultur-Organe (PK) für sämtliche Einheiten.68 Laut einem Bericht des Zentralsekretariats wurde bei jedem Leiter der Grenzpolizei ein Polit-Kultur-Leiter ernannt, der für den „politischen, moralischen und kulturellen Zustand jedes einzelnen Polizisten“ verantwortlich sein sollte.69 Die Einrichtung der PK ähnelte dem „sowjetischen Kommissar-Prinzip“70 und stand in engem Zusammenhang mit der einsetzenden Stalinisierung der SBZ seit 1947 sowie mit der seit dem Sommer 1948 vorangetriebenen innerparteilichen Umstrukturierung zur sogenannten Partei neuen Typs. Seit diesem Umbau bekannte sich die SED offen zur Ideologie des MarxismusLeninismus und bestand auf der Führungsrolle in Staat und Gesellschaft.71 65 66 67 68 69 70 71

Hanisch, Grenzsicherung und Grenzpolizei der DDR, S. 49. Im Einzelnen dazu: Manfred Suwalski, Die Entwicklung der Zollverwaltung der DDR (1945–1990), in: Diedrich/Ehlert/Wenzke (Hg.), Im Dienste der Partei, S. 577–592, hier S. 577f. Hanisch, Grenzsicherung und Grenzpolizei der DDR, S. 50. Hierzu Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 31. Glaser (Hg.), „Reorganisation der Polizei“, S. 157f. Dazu Wilfried Hanisch, Zur Entwicklung der Grenzschutzorgane in den Jahren 1946 bis 1960, in: Klaus Dieter Baumgarten/Peter Freitag (Hg.), Die Grenzen der DDR. Geschichte, Fakten, Hintergründe, Berlin 2004, S. 104–157, hier S. 119. Vgl. Georg Brunner, Staatsapparat und Parteiherrschaft in der DDR, in: Materialien der Enquete-Kommission „Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland”, hrsg. vom Deutschen Bundestag, Machtstrukturen und Entscheidungs-

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Mit der Bildung der PK gelang es der SED, die politisch-ideologische Arbeit der Grenzpolizei einheitlich und zentral zu führen und ihren Einfluss auf die Auswahl, Erziehung und Förderung der Einheiten entsprechend ihrer politischen Maxime auszuüben.72 Betrachtet man die Lebensläufe der von der SED eingesetzten Führungsspitze der Grenzpolizei auf Länderebene genauer, wird deutlich, dass nur linientreue Kommunisten, Aktivisten der „ersten Stunde“, die wichtigsten Positionen innerhalb der Polit-Kultur-Organe übernahmen.73 Viele PK-Leiter gehörten zur Gruppe der Heimkehrer aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft, wo sie meist eine politisch-theoretische Ausbildung erhalten und größeres Engagement bewiesen hatten. Wieder andere wurden aus der Gruppe der FDJ-Funktionäre rekrutiert.74 Mit der Beseitigung jeglichen Einflusses von anderen Parteien und gewerkschaftlichen Organisationen auf die Grenzpolizei baute die SED ihr Monopol damit auch auf sicherheits- und militärpolitischem Gebiet aus.75 Gleichzeitig kam es mit einer im August 1948 erlassenen Instruktion für die Grenzpolizei zur ideologischen Ausrichtung der Polizeischulung: Wöchentlich wurden mehrstündige Schulungen durchgeführt, die unterschiedliche Themen wie den „Klassencharakter des Staates“, das „Wesen des Sozialismus“, die „führende Rolle der SED als Partei der Arbeiterklasse“, die Bedeutung der Sowjetunion als „Freund und Helfer“ des deutschen Volkes sowie die Rolle der Grenzpolizei behandelten.76 Wie das Jahr 1947 stand auch das Jahr 1948 im Zeichen der Zentralisierung der Grenzpolizei bzw. der Stärkung der Zentralverwaltungen bei einer Entlastung der

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mechanismen im SED-Staat und die Frage der Verantwortung, Bd. II, 2, Baden-Baden 1995, S. 989–1029, hier S. 1027. Vgl. Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 31. Der Präsident der DVdI, Kurt Fischer, war 1921 in die Sowjetunion gegangen. 1923 nach Deutschland zurückgekehrt, arbeitete er als Redakteur bei Zeitungen der KPD, später als Sekretär der Bezirksleitung der SED in Mecklenburg. Der Leiter der Abteilung Grenzpolizei in Mecklenburg, Klaus Mansfeld, entstammte einer Bauernfamilie. 1923 in die KPD eingetreten, agitierte er für die Etablierung eines „Arbeiter- und Bauernstaats“ und wurde in der Weimarer Republik wegen „Hochverrats“ inhaftiert. Der Leiter der Abteilung Grenzpolizei in Sachsen, Volkspolizei-Inspektor Helmut Fuchs, war Sohn eines Arbeiters und von Beruf Elektromechaniker. Nachdem er 1932 in die KPD eingetreten war, saß er im „Dritten Reich“ aufgrund seiner gegen den Nationalsozialismus gerichteten Politik von 1933 bis 1937 in Haft. Vgl. Hanisch, Grenzsicherung und Grenzpolizei der DDR, S. 66ff. Vgl. Günther Glaser, „Neuregelung der Polizeifragen“ oder getarnte Bewaffnung der SBZ im Kalten Krieg (Hefte zur DDR-Geschichte, Bd. 22), Berlin 1994, S. 18. Auch das Verbot der gewerkschaftlichen Organisierung der Grenzpolizei unterstreicht ihren militärischen Charakter. Vgl. Glaser, „Neuregelung der Polizeifragen“, S. 18. Nach einer Statistik waren im März 1949 bereits 87,5 Prozent der Grenzpolizisten des höheren, 89 Prozent des mittleren und 86,9 Prozent des unteren Dienstes Mitglieder der SED; Polit-Kultur-Leiter gehörten alle der SED an. Vgl. Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 3ff.

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SMAD. Auf der oben erwähnten staatspolitischen Konferenz der SED in Werder (Havel) im Juli 1948 war auch die Einrichtung einer Hauptabteilung Grenzpolizei und Bereitschaften (HA GP/B) beschlossen worden, die seit November der DVdI direkt unterstand. Im Winter 1948/49 wurde mit der geschlossenen Unterbringung der Grenzpolizisten in Gemeinschaftsunterkünften (Kasernierung) begonnen.77 Die Kasernierung bildete eine weitere Stufe in der Entwicklung der Grenzpolizei hin zu einer militärähnlichen Organisation. Die äußerste Geheimhaltung und Tarnung der Kasernierung belegen, dass sich die politischen Eliten offensichtlich darüber bewusst waren, dass sie gegen alliierte Beschlüsse wie die Entmilitarisierungsbestimmungen des Potsdamer Abkommens verstießen.78 Zeitgleich unternahm die SED-Führung einen deutlichen Kurswechsel von einer gemäßigten zu einer „dirigistisch- und autoritär-staatssozialistischen“ Sicherheitspolitik.79 Mit der Einrichtung der PK-Organe sowie der Kasernierung der Grenzpolizei wurden das sowjetische Streitkräftemodell übernommen, stalinistische Strukturen bewaffneter Organe kopiert sowie die Entwicklung demokratischer Führungs-, Mitsprache- und Kontrollelemente verhindert.80 Festzuhalten bleibt, dass die schrittweise Militarisierung der ostdeutschen Grenzpolizei nicht allein auf die starke Stellung der UdSSR als Besatzungsmacht zurückzuführen ist; die Militarisierung konnte lediglich im Zusammenspiel mit einer willfährigen SED-Führung gelingen. Durch den sich verschärfenden Ost-West-Gegensatz und die in den Westzonen greifenden Marshall-Plan-Hilfen einerseits sowie die wirtschaftliche Not und politische Repression in der SBZ andererseits kam es zu einer weiteren Flucht- und Emigrationswelle in die westlichen Besatzungszonen. Nach offiziellen Angaben wurden im zweiten Halbjahr 1948 von insgesamt 228.947 „Grenzverletzern“ 226.300 an der Westgrenze der SBZ und nur etwa 900 an der Grenze zu Polen und 1.800 an der Grenze zur Tschechoslowakei festgenommen.81 Die politische Führung der SBZ ging daher von einer punktuellen Überwachung zum verstärkten Schutz ihrer Westgrenze bei einer zahlenmäßigen Verstärkung der Grenzsicherungskräfte über. In einer ersten Phase wurde die Stärke der Grenzpolizei bis Ende 1948 auf etwa 9.300 Mann aufgestockt, in einer zweiten Phase bis Mitte 1949 auf rund 18.500.82 Die neu verpflichteten Grenzpolizisten überwachten größtenteils die Westgrenze der SBZ sowie den Ring um Berlin. Dennoch waren die Grenzen der SBZ zu Po77 78 79 80 81 82

Vgl. Hanisch, Grenzsicherung und Grenzpolizei der DDR, S. 59f. Vgl. Glaser, „Neuregelung der Polizeifragen“, S. 18f. Ebd., S. 50f. Vgl. Hanisch, Zur Entwicklung der Grenzschutzorgane, S. 119. Zu diesen Zahlen siehe Hanisch, Grenzsicherung und Grenzpolizei der DDR, S. 76. Vgl. Thomas Lindenberger, Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968 (Zeithistorische Studien, Bd. 23), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 40.

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len und der Tschechoslowakei in den Jahren 1947–49 ähnlich stark abgeriegelt wie die Westgrenze.83 Wie bereits für die Zeit 1945/46 ist dies auch für die Jahre 1947 bis 1949 vor allem auf die Verstärkung der Grenzsicherung von Seiten der „Bruderländer“ Polen und der Tschechoslowakei zurückzuführen. So besaßen die polnischen Grenzschutztruppen im Jahre 1947 bereits eine Personalstärke von 18.300 Mann, von denen fast die Hälfte an der Grenze zur SBZ eingesetzt war.84 Seit 1948 begann man damit, die Infrastruktur der polnischen Westgrenze weiter auszubauen und das Grenzregime zu verschärfen.85 Auch die Strafen für den illegalen Grenzübertritt erhöhten sich – seit der Verabschiedung eines Dekrets vom 15. September 1948 drohten polnischen „Grenzverletzern“ Gefängnisstrafen zwischen ein bis drei Jahren.86 Neuere Untersuchungen kommen zu dem Ergebnis, dass kaum eine Binnengrenze innerhalb des „sozialistischen Lagers“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs so gut gesichert war wie die neue Westgrenze Polens an Oder und Neiße.87 Obwohl ein intensiver Ausbau der Grenzanlagen in der Tschechoslowakei erst zu Beginn der 1950er-Jahre erfolgte, wurden auch die tschechoslowakischen Grenztruppen seit 1949 personell immer weiter aufgestockt. 1949 traten mehr als 2.000 neue Soldaten ihren Dienst an, weitere 4.000 meldeten sich freiwillig für den Grenzschutz.88 2.3 Alltag und Lebenswelt in den deutsch-polnischen Grenzgebieten der Nachkriegszeit Durch die alliierte Neuordnung Europas 1945 kam es zur Westverschiebung Polens: Die Flüsse Oder und Lausitzer Neiße bildeten die neue Grenzlinie zwischen Polen und Deutschland. Zwischen Swinemünde (Świnoujście) und Görlitz wurde eine Grenze gezogen, mit der eine willkürliche Spaltung eines historisch gewachsenen Wirtschafts- und Kulturraums erfolgte und die in der Teilung der Grenzstädte 83

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Vgl. Stokłosa, Grenzstädte in Ostmitteleuropa, S. 56f.; Helga Schultz, Die Oderregion in wirtschafts- und sozialhistorischer Perspektive, in: dies./Alan Nothnagle (Hg.), Grenze der Hoffnung. Geschichte und Perspektiven der Grenzregion an der Oder, Potsdam 1996, S. 79–113, hier S. 80f. Vgl. Ławski, Ochrona granic [Grenzschutz], S. 240. Stola, Das kommunistische Polen, S. 4. Das Dekret vom 15. September 1948 ist erläutert und abgedruckt in: Wiesław J. Modrakowski, Ucieczki z PRL – kto, jak, dlaczego (aspekty prawno-kryminologiczne) [Flucht aus der VRP – Wer, Wie, Warum (rechtliche und kriminologische Aspekte)], Warschau 1992, S. 23ff. Vgl. Kowal/Schultz, Neue Grenzen – alte Nachbarn, S. 188. Hierzu Angermann, Die Grenztruppen der ČSSR, S. 11.

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Guben/Gubin, Frankfurt (Oder)/Słubice und Görlitz/Zgorzelec ihren markantesten Niederschlag fand.89 Im Folgenden soll die deutsch-polnische Grenze aus ethnografischer Perspektive näher beleuchtet werden. Wie gestaltete sich der Alltag in den Grenzregionen? Welchen Einfluss hatte die neue Grenze auf die Einwohner beiderseits von Oder und Neiße? Kam es in den Grenzregionen zur Entstehung einer gemeinsamen Kultur bzw. regionalen Identität?90 In erster Linie waren es die ungeklärten Grenzverhältnisse der Beschlüsse von Potsdam, die bei der Grenzbevölkerung jenseits der Oder und Neiße für große Unsicherheit sorgten. Am Beispiel der Grenzstadt Guben/Gubin soll diese Problematik näher beleuchtet werden.91 Die Haltung der Bewohner auf beiden Seiten dieser geteilten Stadt an der Neiße unterschied sich diametral. Während man in Gubin befürchtete, die neuen polnischen Gebiete wieder an die Deutschen zu verlieren, bewahrte man sich in Guben lange Zeit die Hoffnung auf eine Rückkehr auf die östliche Seite des Flusses. Die Einstellung gegenüber dieser Grenze variierte in den unterschiedlichen Phasen, die sich in Abhängigkeit von der politischen und gesellschaftlichen Situation entwickelten und die Lebensgestaltung der Einwohnerschaft prägten. In den ersten Wochen nach Kriegsende spielte das Grenzproblem im Bewusstsein der auf der westlichen Seite lebenden Einwohner keine große Rolle. Es galt, die nächsten Tage und Wochen zu überleben – da blieb keine Zeit für die Sehnsucht nach der verlorenen Heimat.92 Mitte Juni 1945 wurden 13.500 aus dem östlichen Stadtteil vertriebene Deutsche in Guben angesiedelt. Ein großes Problem bildete dabei die Unterversorgung mit Lebensmitteln, die in Guben aufgrund der hohen Flüchtlingszahl noch größer war als in anderen Grenzregionen an der Oder 89 90

91

92

Vgl. Alan Nothnagle, Die Oder-Neiße-Grenze und die Politik der SED, in: Helga Schultz/ ders. (Hg.), Grenze der Hoffnung. Geschichte und Perspektiven der Grenzregion an der Oder, Potsdam 1996, S. 22–41, hier S. 25. Um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, wurden unter anderem Akten aus dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv (BLHA) in Potsdam ausgewertet – ein Archiv, das für die deutsch-polnische Grenzregionenforschung eine Fundgrube bislang unveröffentlichter Quellen bereithält. Der östliche an Polen gefallene Stadtteil umfasste bis 1945 die Innenstadt mit sämtlichen Sehenswürdigkeiten sowie Wohngebiete. Westlich der Neiße befanden sich neben einem Wohnviertel auch Industriebetriebe und kommunale Einrichtungen. Vgl. Ilona Romiszewska/ Maria Rutowska, Die Zusammenarbeit in der deutsch-polnischen Grenzregion 1945–1993 (am Beispiel der Städte Guben-Gubin und Frankfurt/Oder-Słubice), in: Stanislaw Lisiecki (Hg.), Die offene Grenze. Forschungsbericht polnisch-deutsche Grenzregion (1991–1993), (Frankfurter Studien zur Grenzregion), Potsdam 1996, S. 77–96, hier S. 77. Hierzu Katarzyna Stokłosa, Die Oder-Neiße-Grenze im Bewusstsein der Einwohner von Guben und Gubin (1945–1972), in: Helga Schultz (Hg.), Grenzen im Ostblock und ihre Überwindung (Frankfurter Studien zur Grenzregion, Bd. 6), Berlin 2001, S. 113–134, hier S. 115f.

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und Neiße. Aufgrund des immer knapper werdenden Wohnraums wurde im Kreis Guben ein Übergangslager eingerichtet. Im Gegensatz zum westlichen Teil der Stadt herrschte in Gubin keine Wohnungsnot. Obwohl Gubin bis zu 25.000 Menschen beherbergen konnte, betrug die Einwohnerzahl dort lediglich 3.500 Personen.93 Eine typische Erscheinung östlich der Oder und Neiße war der sogenannte Schaber – im großen Stil betriebene Plünderungen. Die polnischen Grenzgebiete erhielten daher schon bald den Ruf eines „Wilden Westens“. Die Plünderer waren meist in Banden organisiert, kamen überwiegend aus Großstädten wie Warschau und nutzten die chaotischen Nachkriegsverhältnisse, um ihre Geschäfte zu machen. Aber nicht nur professionelle Plünderer, auch die polnische Bürgermiliz, die Rote Armee oder einfache Bürger beteiligten sich am „Schaber“. Die aus Gubin geflohenen und vertriebenen Deutschen hatten in ihren Wohnungen oft reichen Besitz zurückgelassen. So kam es vor, dass in Gubin innerhalb eines Tages „sechs Pianos weggeschafft wurden“.94 Der „Schaber“ wurde in Gubin zu einem lukrativen Geschäft, was auch dazu führte, dass die Einwohner dieser Region kaum Hunger litten. Neben Plünderungen waren in Gubin Verwüstungen an verlassenen Häusern keine Seltenheit. Die Einwohner hängten Türen aus, rissen Fensterrahmen, Treppen und Fußböden auf und heizten damit die Räume.95 Die begangenen Zerstörungen nach Kriegsende zeigen zugleich die große Unsicherheit der Polen hinsichtlich einer stabilen Grenze sowie ihre Angst vor einer Rückkehr der Deutschen. Zu Beginn des Jahres 1946 entzündete sich in Guben eine heftige Debatte über die Rechtsgültigkeit der jungen Grenze. Laut dem „Allgemeinen Stimmungsbericht“ des Landkreises Guben vom 14. Februar 1946 zeigten „die Neusiedler nicht den richtigen Arbeitswillen auf ihrer erhaltenen Scholle. Sie glauben heute noch, es geht eines schönen Tages wieder über die Neisse.“ Aus Sicht der Neubürger schien ihre Rückkehr nur eine Frage der Zeit, weswegen auch „ein Teil der Flüchtlinge nicht gesiedelt [hat]“.96 Um die immer lauteren Gerüchte über eine Revision der Oder-Neiße-Grenze in den Griff zu bekommen, wurde vom Gubener Informationsdienst am 25. April 1946 eine Großkundgebung „Geht es über die Neiße?“ veranstaltet, auf der ein Cottbuser Referent die Gubener von der Endgültigkeit der Oder-Neiße-Grenze nach den Beschlüssen von Potsdam zu überzeugen versuchte. Der Vortrag besaß einen stark desillusionierenden Charakter; immer wieder forderte der Referent die Einwohner Gubens auf, die neue Grenze zu akzeptieren. 93 94 95 96

Stokłosa, Grenzstädte in Ostmitteleuropa, S. 89–95. Ebd., S. 96. Vgl. Stokłosa, Die Oder-Neiße-Grenze im Bewusstsein der Einwohner von Guben und Gubin, S. 117. BLHA, Rep. 250, Landratsamt Guben/Frankfurt (Oder) 82: „Allgemeiner Stimmungsbericht“, 14. Februar 1946.

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Der Tenor seiner Rede lautete: „Kein Gerücht, keine Sehnsucht bringt uns über die Neiße zurück.“97 Andere Dokumente wie Anträge auf eine Siedlerstelle aus den ersten beiden Nachkriegsjahren machen wiederum deutlich, dass die Gubener das Leben mit der Grenze nach und nach zu akzeptieren lernten. Die Korrespondenzen belegen, dass die Menschen zunehmend motiviert waren, sich im neuen Grenzgebiet wieder eine Existenz aufzubauen, und sich gar um eine gute Nachbarschaft mit den Polen auf der anderen Flussseite bemühten.98 Während sich die lokalen Behörden zur Realität der Oder-Neiße-Grenze bekannten, betrieb die SED-Führung in der Nachkriegszeit eine Doppelstrategie. So wurde die Oder-Neiße-Grenze von Anfang an parteipolitisch instrumentalisiert: Einerseits präsentierte sich die Parteiführung gegenüber der polnischen und sowjetischen Regierung als ein loyaler Befürworter des Potsdamer Abkommens, andererseits versuchte sie, sich jede Option im Umgang mit dem eigenen Volk offen zu halten.99 Eine Vielzahl gegensätzlicher Äußerungen der SED-Führung in den Jahren 1946/47 schwankt zwischen der Akzeptanz der neuen Grenze als Sühne für die in deutschem Namen begangenen Kriegsverbrechen und den pathetischen Appellen für eine Rückgabe der deutschen Ostgebiete.100 So erklärte der gebürtige Gubener Wilhelm Pieck als Vorsitzender der SED am 16. Oktober 1946 öffentlich: „Wir werden alles tun, damit bei den Alliierten die Grenzfrage nachgeprüft und eine ernste Korrektur an der jetzt bestehenden Ostgrenze vorgenommen wird.“101 Solche Versprechen trugen zweifellos dazu bei, dass die Gubener in ihrer Hoffnung auf eine Revision der Oder-Neiße-Grenze sowie eine Rückkehr in ihre alte Heimat bestärkt wurden. Nachdem aber auch die Außenministerratskonferenzen in Moskau und London im Jahr 1947 in der Grenzfrage keine Lösung gebracht hatten, stellte sich bei vielen Gubenern eine immer größere Verzweiflung ein.102 Wie verhielt es sich mit den Kontrollen an der Grenze? War die Grenze zu dieser Zeit eher durchlässig oder geschlossen? In Anlehnung an die erprobten, nach Kriegsende eingeführten Erleichterungen an der polnisch-tschechoslowakischen Grenze versuchten die polnischen Behörden, auch an der Oder-Neiße-Grenze einen sogenannten kleinen Grenzverkehr offiziell einzuführen. Die Forderung nach einer Neuregelung des Grenzverkehrs wurde vor allem mit der wirtschaftlichen Verbindung vieler Orte entlang der Oder und Neiße begründet. Verschiedene Seiten 97 BLHA, Rep. 250, Landratsamt Guben/Frankfurt (Oder) 78: „Bericht über die Großkundgebung ‚Geht es über die Neiße?‘“, 25. April 1946. 98 Siehe hierzu etwa BLHA, Rep. 250, Landratsamt Guben/Frankfurt (Oder) 381: „Erhalt einer Neusiedlerstelle“, 12. Dezember 1946. 99 Vgl. Nothnagle, Die Oder-Neiße-Grenze und die Politik der SED, S. 29f. 100 Ebd., S. 30. 101 Berliner Zeitung (Ost), 243 (1946), 22. 10. 1946, S. 1. 102 Vgl. Stokłosa, Grenzstädte in Ostmitteleuropa, S. 125ff.

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wie die polnischen Grenzschutztruppen, das Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete (Ministerstwo Ziem Odzyskanych) sowie der Polnische Westverein (Polski Związek Zachodni) sprachen sich jedoch vehement gegen die Einführung eines „kleinen Grenzverkehrs“ aus. So argumentierte der Polnische Westverein, dass Polen und Deutschland allein schon durch die Sprachunterschiede, die Traditionen sowie den Zweiten Weltkrieg voneinander getrennt seien. Nach heftigen Debatten wurden die Grenzerleichterungen schließlich nur an einigen wenigen Grenzübergängen in geteilten Ortschaften wie in Guben/Gubin genehmigt. Bereits Anfang 1946 verschärfte man die Grenzvorschriften aber wieder und ersetzte Passierscheine durch Pässe. Im März 1947 gab das polnische Außenministerium bekannt, dass eine Erweiterung des „kleinen Grenzverkehrs“ sowie die Öffnung weiterer Grenzübergänge nicht vorgesehen seien. 1949 wurden zusätzliche Kontrollkarten eingeführt. Für den Aufenthalt in der Grenzregion bedurfte es inzwischen einer speziellen Erlaubnis, ohne die eine dreitägige Arreststrafe drohte.103 So waren es vor allem die verschärften Grenzbestimmungen, die für das zögerliche Ansteigen der Einwohnerzahl auf der polnischen Stadtseite in Gubin sorgten: Die Menschen wichen dieser Situation aus und zogen in andere Ortschaften, die nicht direkt an der Grenze lagen.104 Am 6. Juli 1950 wurde in Zgorzelec – der polnischen Stadthälfte von Görlitz – das Abkommen zwischen Polen und der DDR über den genauen Verlauf der neuen Staatsgrenze (Görlitzer Vertrag) unterzeichnet. Innenpolitisch betrachtet, setzte der Görlitzer Vertrag einen Schlussstrich unter die Debatten über die Rechtmäßigkeit der Oder-NeißeGrenze. Seit Beginn der 1950er-Jahre konnte die Infragestellung der Rechtmäßigkeit dieser Grenze sogar mit dem Ausschluss aus der SED geahndet werden.105 Die deutsch-polnische Grenze wurde fortan offiziell als „Friedensgrenze“ bezeichnet. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Oder-Neiße-Grenze mit dieser propagandistisch-euphemistischen Namensgebung zu dieser Zeit tatsächlich durchlässiger für den Grenzübertritt geworden war.106 Erst seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre wurden die militärischen Grenzsicherungen und administrativen Einschränkungen langsam abgebaut und Verbindungen zwischen den Nachbarkommunen auf beiden Seiten der Oder und Neiße vereinfacht. Der Historiker Hieronim Szczególa 103 Ebd., S. 113–117. 104 Ebd., S. 118. 105 Vgl. Andreas Malycha, Die SED und die Oder-Neiße-Grenze bis zum Görlitzer Vertrag 1950, in: Helga Schultz (Hg.), Grenzen im Ostblock und ihre Überwindung (Frankfurter Studien zur Grenzregion, Bd. 6), Berlin 2001, S. 81–112, hier S. 110f. 106 Katarzyna Stokłosa, Integration durch Zwang 1948–1953, Die Oder-Neiße-Grenze und die mühsame Integration, in: Christoph Kleßmann/Burghard Ciesla/Hans-Hermann Hertle (Hg.), Vertreibung, Neuanfang, Integration. Erfahrungen in Brandenburg, Potsdam 2001, S. 74–88, hier S. 83f.

Alltag und Lebenswelt in den deutsch-polnischen Grenzgebieten

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spricht in diesem Zusammenhang von einer „gesteuerten Liberalisierung“.107 Die zunehmende Durchlässigkeit der Oder-Neiße-Grenze war von einem Bündel mehrschichtiger Faktoren abhängig, die in Kapitel 5 dieses Buches ausführlich zu besprechen sind. Zusammenfassend ist hier festzuhalten, dass die vorsichtige Öffnung der Grenze in erster Linie auf die vollständige Übertragung der Grenzkontrollen seitens der Sowjetunion an die DDR zurückzuführen ist sowie auf eine allgemeine Verbesserung der polnisch-ostdeutschen Beziehungen.

4 DDR-Briefmarke aus dem Jahr 1951. „Hände reichen“ zwischen Otto Grotewohl und Józef Cyrankiewicz. Durch die offizielle Anerkennung der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ sollte der Freundschaft zwischen der DDR und Polen nichts mehr im Wege stehen.

Diese Entwicklung seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre schaffte günstigere Bedingungen für gegenseitige Besuche. Zwar war die Grenze für den visafreien Verkehr noch lange nicht offen – so hatte man jeden Besuch anzumelden und das notwen107 Hierzu Hieronim Szczególa: Polsko-niemiecka wspólpraca przygraniczna w latach 1945– 1990 [Die deutsch-polnische grenzüberschreitende Zusammenarbeit in den Jahren 1945– 1990], in: Rocznik Lubuski [Lebuser Jahrbuch], Nr. 17, Zielona Góra 1992, S. 183.

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Aufbau der ostmitteleuropäischen Grenzregime (1945–1949)

dige Einladungsschreiben vorzuweisen. Aber immerhin war es bereits möglich, dass sich Mitglieder verschiedener befreundeter Organisationen besuchen konnten. Die Kontakte wurden vorwiegend auf der Parteiebene von SED und PZPR initiiert. Später kam es zu Treffen von Delegationen von Jugendlichen, Bauern und Arbeitern. Gleichzeitig wurden Kundgebungen der Grenzbewohner organisiert,108 und es fanden gemeinsame Kultur- und Sportveranstaltungen in den Grenzstädten statt. Weil sich diese Feierlichkeiten aber aufgrund der staatlichen Einflussnahme lediglich auf einer offiziellen Ebene abspielten, bildeten unmittelbare private Kontakte zwischen der Bevölkerung auf beiden Seiten der Oder und Neiße bis in die 1960er-Jahre hinein eher die Ausnahme.109 1960 veranstaltete man anlässlich des zehnten Jahrestages der Unterzeichnung des Görlitzer Vertrags auf den wiedererrichteten Grenzbrücken von Guben/Gubin und Frankfurt (Oder)/Słubice sogenannte Freundschaftskundgebungen – feierliche Umzüge der Einwohner, die in den darauffolgenden Jahren als erklärtes Symbol freundschaftlicher Beziehungen zwischen der polnischen und ostdeutschen Bevölkerung wiederholt wurden. Festzuhalten bleibt, dass die Regierungen der „Bruderländer“ ihre Völker nur streng dosiert und kontrolliert an der Brüderlichkeit teilhaben ließen.110 Von einer sozialen Grenze, an der sich Menschen, Kulturen und Sprachen nicht scheiden, sondern auf eine natürliche und freie Art und Weise begegnen und austauschen, konnte bis in die späten 1960er-Jahre keine Rede sein.111 Kontakte auf sozialer und kultureller Ebene zwischen der ostdeutschen und polnischen Grenzbevölkerung wurden von den Behörden überwiegend verhindert. Galt diese Abschottung auch für den Wirtschaftssektor? Die Antwort fällt hier ganz anders aus: Neben der kommunalen Zusammenarbeit in Form von gegenseitigen Lieferungen von Gas, Wasser und Strom verpflichteten sich deutsche und polnische Behörden in den 1940er- und 1950er-Jahren zur Kooperation auf Bezirksebene in Bereichen der Industrie, der Landwirtschaft, des Bau-, Verkehrsund Gesundheitswesens, der Bildung und des Handels. Bis in das Jahr 1949 wurde die kommunale Zusammenarbeit zwischen den Grenzstädten an der Oder und Neiße vor allem dadurch erschwert, dass alle Gespräche und Vorhaben über die Administration der Sowjetischen Besatzungszone in Deutschland liefen.112

108 Dagmara Jajeśniak Quast/Katarzyna Stokłosa, Geteilte Städte an Oder und Neiße, Frankfurt (Oder) – Słubice, Guben – Gubin und Görlitz – Zgorzelec 1945–1995 (Frankfurter Studien zur Grenzregion, Bd. 5), Berlin 2000, S. 72f. 109 Vgl. Romiszewska/Rutowska, Die Zusammenarbeit in der deutsch-polnischen Grenzregion, S. 79. 110 Schultz, Die Oderregion in wirtschafts- und sozialhistorischer Perspektive, S. 81f. 111 Ebd., S. 81. 112 Vgl. Jajeśniak Quast/Stokłosa, Geteilte Städte an Oder und Neiße, S. 116.

Alltag und Lebenswelt in den deutsch-polnischen Grenzgebieten

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5 Eine der selten stattfindenden und staatlich organisierten deutsch-polnischen Kulturveranstaltungen am Grenzübergang Guben/Gubin in den späten 1950er-Jahren

Mit Blick auf die geteilte Stadt Frankfurt (Oder)/Słubice sollen hier die Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit näher beleuchtet werden. Nach der Teilung der Stadt in zwei selbstständige Einheiten war der polnische Stadtteil Słubice von jeglicher Energieversorgung abgeschnitten. Erste Gespräche über eine Zusammenarbeit für den Aufbau einer technischen Infrastruktur zwischen den beiden Stadtteilen erfolgten im Juni 1945. Dabei ging es um die dringende Lieferung von deutschem Strom und Wasser in den Ostteil der Stadt. Die Verhandlungen waren für die polnische Seite erfolgreich, denn schon Ende Juni wurde mit der Stromlieferung von Frankfurt (Oder) nach Słubice begonnen. Obwohl nicht von einer kontinuierlichen Versorgung gesprochen werden kann, wurde Słubice von deutscher Seite so lange mit deutschem Strom beliefert, bis ein eigenes Kraftwerk fertig gestellt war.113 Nach Vereinbarungen mit den zuständigen Behörden für das Frankfurter Wasserwerk wurde Ende August auch eine Wasserleitung von Frankfurt (Oder) nach Słubice gebaut. Zu Beginn der 1950er-Jahre kam es zu ersten formellen Kontakten in Fragen der Wasserwirtschaft: 1951 schlossen Polen und die DDR ein Abkommen über die gegenseitige Hilfe bei verschiedenen Unfällen oder Hochwasser, über die Zusam113 Ebd., S. 125.

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menarbeit auf dem Gebiet der Abwässer sowie über die Instandhaltung wassertechnischer Anlagen und Gebäude an der Oder und Neiße.114 Neben der Grundversorgung mit Wasser und Strom war Słubice nach Kriegsende außerdem von der Gasversorgung abgeschnitten, da sich das städtische Gaswerk auf der westlichen Oderseite befand. Nachdem sich die Verhandlungen über die Gasversorgung in den 1950er-Jahren verschleppt hatten, wurden im März 1958 richtungsweisende Kontakte geknüpft, woraufhin am 22. Juli 1960 die ersten Gaslieferungen von Frankfurt (Oder) nach Słubice erfolgten.115

114 Ebd., S. 122f. 115 Ebd., S. 118ff.

3. Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961) 3.1 Die Oder-Neiße-Grenze – Determinante der staatlichen Beziehungen zwischen der DDR und Polen Zwar verpflichtete der über Europa gefallene „Eiserne Vorhang“ die Länder im „sozialistischen Lager“ zur wirtschaftlichen Kooperation (RGW) sowie zur Völkerfreundschaft und Zusammenarbeit im Sinne des „sozialistischen Internationalismus“. Dennoch erscheint der zu dieser Zeit geprägte Begriff „Ostblock“ in verschiedener Hinsicht unzutreffend. Während die sozialistischen Staaten nach außen die erzwungene Einheit wahrten, lebten die alten Vorstellungen und in vielen Fällen das Misstrauen gegenüber den Nachbarn fort.1 Dieses Missverhältnis trug mit dazu bei, dass die Grenzen zwischen der DDR und Polen sowie jene zwischen der DDR und der Tschechoslowakei nach Kriegsende nahezu hermetisch abgeriegelt wurden. Sheldon Anderson charakterisiert die polnisch-ostdeutschen Beziehungen von 1945 bis in die Mitte der 1960er-Jahre prägnant als „Kalter Krieg im Sowjetblock“.2 In den unmittelbaren Nachkriegsjahren herrschte in Polen eine große Feindschaft gegenüber Deutschland vor, die eine Folge der entsetzlichen Erfahrungen unter dem NS-Regime war und von sämtlichen politischen Parteien Polens getragen wurde. Diese Feindschaft galt den Politikern in der Bundesrepublik wie auch den politischen Kräften in der SBZ – auch wenn diese die Schuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg klar aussprachen.3 Stärker noch wurde aber die Haltung der Polen gegenüber der SED durch ein reales Politikum bestimmt – die in Potsdam festgelegte Oder-Neiße-Grenze, die Polen für das erlittene Unrecht mit deutschen Gebieten im Westen entschädigen sollte. Die Westverschiebung Polens begründete die polnische Führung überdies mit dem Piasten-Mythos des 19. Jahrhunderts. Dabei betonte

1

2 3

So auch Manfred Alexander, Kleine Geschichte Polens, Stuttgart 2003, S. 332f. Quellenbestände zur Frage der Oder-Neiße-Grenze und den damit zusammenhängenden Beziehungen zwischen Ost-Berlin und Warschau finden sich im Archiv des polnischen Außenministeriums (MSZ) in Warschau. Sheldon Anderson, A Cold War in the Soviet Bloc. Polish-East German Relations 1945– 1962, Boulder 2001. Vgl. Mieczysław Tomala, Eine Bilanz der offiziellen Beziehungen zwischen der DDR und Polen, in: Basil Kerski/Andrzej Kotula/Kazimierz Wóycicki (Hg.), Zwangsverordnete Freundschaft? Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen 1949–1990 (Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen-Gesellschaft Bundesverband e.V., Bd. 1), Osnabrück 2003, S. 59–80, hier S. 59.

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

man, Polen sei nun endlich in seine „uralten piastischen“ Gebiete zurückgekehrt.4 Gegenüber dem besetzten Deutschland begann die außenpolitische Abgrenzung in der unmittelbaren Nachkriegszeit; insbesondere fürchtete Polen ein in der Zukunft ökonomisch erstarktes Nachbarland im Westen. Am 7. September 1947 erklärte der stellvertretende Ministerpräsident Władysław Gomułka auf dem dritten Industriekongress der „neu hinzugewonnenen Gebiete“ in Stettin: Wir sind nicht gegen den Aufbau eines friedlichen demokratischen Deutschlands […] wir wenden uns gegen eine Anhebung des Lebensstandards der Deutschen über den Lebensstandard der europäischen Völker […]. Auf die Pläne eines Aufbaus Deutschlands […] muss das polnische Volk mit einer Kraftanstrengung antworten, die noch größer ist als bisher. Wir können uns von Deutschland nicht überholen lassen […]. Unsere Kraft und die Sicherheit unserer Grenzen müssen schneller aufgebaut werden als die deutsche Aggression.5

Neben dem in Konkurrenz zu Deutschland geplanten wirtschaftlichen Aufbau des Landes betonte Gomułka insbesondere die Bemühungen um eine erhöhte Sicherung der Oder-Neiße-Grenze gen Westen. Die Abschottung Polens gegenüber Deutschland war nicht zuletzt eine Reaktion auf die öffentlichen Äußerungen führender SED-Politiker, aus denen hervorging, dass sich die Partei mit der bedingungslosen Anerkennung der Grenzrevision anfangs noch schwertat.6 Aufgrund des Dualismus in den Positionen hinsichtlich der Oder-Neiße-Frage und des auf beiden Seiten geschürten nationalen Ressentiments kam es bis zum Jahr 1949 zu keinen bedeutenden Kontaktversuchen auf der offiziellen staatlichen Ebene.7 Jede der beiden Parteien arbeitete auf nationaler Grundlage – und diese schienen unvereinbar miteinander zu sein. Die Folge war eine gegenseitige Abgrenzung, die in den abgeriegelten Staatsgrenzen ihren sichtbarsten Ausdruck fand. Die bilateralen Beziehungen zwischen Warschau und Ost-Berlin waren nicht nur das Ergebnis von Entscheidungen, die die politischen Führungen eigenmäch4

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Nachdem Polen durch die Teilungen seiner Besatzungsmächte von der politischen Landkarte verschwunden war, entstand im 19. Jahrhundert der Mythos um die mittelalterliche polnische Piasten-Dynastie, zu deren Zeit Schlesien und Pommern zu Polen gehört hatten. Vgl. Beate Kosmala, Lange Schatten der Erinnerung: Der Zweite Weltkrieg im kollektiven Gedächtnis, in: Monika Flacke (Hg.), Mythen der Nationen. 1945 – Arena der Erinnerungen. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums, Bd. II, Berlin 2004, S. 509– 540, hier S. 519. Władysław Gomułka, O problemie niemieckim [Über das deutsche Problem], Warschau 1971, S. 148. Siehe hierzu Nothnagle, Die Oder-Neiße-Grenze und die Politik der SED. Ebd.

Die Oder-Neiße-Grenze

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tig trafen. Bündnispolitisch waren Polen und die DDR – ähnlich wie die anderen osteuropäischen Staaten – Moskau verpflichtet.8 Die Beziehung zwischen beiden Ländern kann als „zwangsverordnete Freundschaft“ charakterisiert werden. Als westlicher Vorposten des sowjetischen Imperiums war die DDR von Anfang an gezwungen, ihre Existenz nicht nur als sozialistischer Staat, sondern auch als deutscher Teilstaat neben der Bundesrepublik zu behaupten. An der Seite der Sowjetunion gehörte die DDR zu den „Siegern der Geschichte“ – ihre Existenz verdankte sie allein der UdSSR, die Loyalität erwartete und verlangte. Auf der anderen Seite gehörte auch Polen als Opfer der nationalsozialistischen Zerstörungspolitik zu den Siegerstaaten. Die umstrittene Westgrenze mit den nun polnischen Gebieten konnte daher nur durch die Sowjetunion garantiert werden. Zu dieser erzwungenen Vasallentreue gegenüber dem sowjetischen Mutterland gab es damit sowohl für Polen als auch für die DDR keinerlei Alternativen.9 Erst unter dem massiven Druck Moskaus begann die SED, die in Potsdam festgelegten Nachkriegsgrenzen zu akzeptieren.10 Nach einem 1948 einsetzenden Prozess der beiderseitigen Annäherung wurde am 6. Juli 1950 symbolträchtig in der Grenzstadt Zgorzelec von Ministerpräsident Otto Grotewohl und Polens Regierungschef Józef Cyrankiewicz der Görlitzer Vertrag unterzeichnet, der den genauen Verlauf der neuen Grenze festlegte.11 Dieser Vertrag markiert einen Wendepunkt in den bilateralen Beziehungen zwischen der DDR und Polen. Mit der propagierten „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ begann – zumindest auf der offiziellen Ebene – eine neue Ära der „Bruderländer“. Für die SED war damit die Grenzfrage ein für alle Mal entschieden, und sie strebte stattdessen eine verstärkte Zusammenarbeit vor allem in Wirtschaft und Wissenschaft sowie im Kulturbereich an.12 Gleichzeitig stilisierten die ostdeutschen Führungseliten die Oder-Neiße-Grenze zu einem Symbol des 8

9 10 11 12

Das ostdeutsch-polnische Verhältnis wurde freilich nicht nur von Moskau im Osten, sondern auch durch die Bundesrepublik im Westen bestimmt. Vgl. Burkhard Olschowsky, Die staatlichen Beziehungen zwischen der DDR und Polen, in: Kerski u.a. (Hg.), Zwangsverordnete Freundschaft?, S. 41–58, hier S. 41. Ludwig Mehlhorn, Zwangsverordnete Freundschaft? – Zur Entwicklung der Beziehungen zwischen der DDR und Polen, in: Kerski u.a. (Hg.), Zwangsverordnete Freundschaft?, S. 35–41, hier S. 36f. Basil Kerski, Die Beziehungen zwischen der DDR und Polen – Versuch einer Bilanz, in: ders. u.a. (Hg.), Zwangsverordnete Freundschaft?, S. 9–26, hier S. 15. Ebd. Vgl. Stokłosa, Integration durch Zwang 1948–1953, S. 82f. Bereits einen Monat vor der Ratifikation des Görlitzer Vertrags wurde am 6. Juni 1950 in Warschau das „Abkommen über technische und wissenschaftlich-technische Zusammenarbeit“ sowie das „Abkommen über die kulturelle Zusammenarbeit“ zwischen der DDR und Polen geschlossen. Vgl. „Abkommen über die kulturelle Zusammenarbeit“, abgedruckt in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, Bd. I: Von der Gründung

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

Friedens in Europa und der Welt. Während die innerdeutsche Grenze als Trennlinie zwischen Gut und Böse dargestellt wurde, sollte der ideologisch begründete politische Mythos13 der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ die Freundschaft zwischen den beiden Völkern demonstrieren sowie das Misstrauen bzw. die zwischen Polen und Ostdeutschen bestehenden Vorurteile verringern helfen. In diesem Sinne verfasste Grotewohl noch am selben Tag der Unterzeichnung des Görlitzer Vertrags einen Dankesbrief an seinen polnischen Kollegen Cyrankiewicz: Sie und wir haben heute einen großen Schritt getan in die Zukunft, in der das deutsche und das polnische Volk in friedlicher Aufbauarbeit wetteifern werden. […] Daraus werden die Völker lernen, daß Grenzen nicht trennen, sondern daß sie Brücken für Verständigung und Zusammenarbeit sein sollen.14

Die polnische Regierung misstraute aber der SED-Führung in der Frage der OderNeiße-Grenze: Durch verschiedene Institutionen sollten sämtliche von der SED abgegebenen offiziellen Stellungnahmen zur deutsch-polnischen Grenze beobachtet und dokumentiert werden. So verweist ein Bericht der polnischen diplomatischen Mission (Botschaft) in Berlin an das Politbüro der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei vom 28. Oktober 1950 auf einen am 20. Oktober im „Neuen Deutschland“ erschienenen Artikel mit dem Titel „Oder-Neiße-Friedensgrenze“. Erleichtert nahm die polnische Botschaft zur Kenntnis, dass die SED die Oder-Neiße-Grenze als eine „Friedensgrenze“ betrachtete.15 Auch der am 6. Oktober 1950 im „Neuen Deutschland“ abgedruckte Artikel über Wilhelm Piecks Besuch in der Grenzstadt Guben

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der Deutschen Demokratischen Republik am 7. Oktober 1949 bis zur Souveränitätserklärung am 25. März 1954, Berlin (Ost) 1954, S. 332–336. Es war in erster Linie der französische Ethnologe und Begründer des Strukturalismus, Claude Lévi-Strauss, der in seiner Mythenanalyse die Theorie der politischen Mythen aufstellte, indem er die gegenseitige Abhängigkeit mythischen Denkens und politischer Ideologie aufzeigte: Claude Lévi-Strauss, Anthropologie structurale, Paris 1958. Nach Herfried Münkler tragen politische Mythen zur Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses bei und sind damit für die Identität politischer Gemeinschaften von zentraler Bedeutung. Auf diese Weise formen sie das Selbstbild von Kollektiven und haben eine politisch handlungsleitende und orientierende Funktion. Politische Mythen werden insbesondere nach politischen Umbrüchen in Zeiten des Wandels in Anspruch genommen, wenn es gilt, eine neue Symbolik zu begründen. Diese Symbolik hilft, die innere Ordnung des Gemeinwesens zu konsolidieren; zugleich bildet diese Symbolik auch eine wichtige Verteidigungslinie nach außen. Vgl. hierzu Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 9–30. MSZ, Z-10, W-39, T-359: Abschrift des Telegramms „Herrn Ministerpräsident Cyrankiewicz“, 14. August 1950. Aus Sicht der polnischen Behörde bestand die Schlüsselaussage des Artikels darin, dass die SED „bereit [sei], alle Angriffe auf diese Friedensgrenze auch als Anschlag auf das eigene Volk zu deuten und zu erwidern“. MSZ, Z-10, W-39, T-359, Bl. 1f.: „Polnische diplomatische Mission Ost-Berlin“ an „Politbüro PZPR“, 28. Oktober 1950.

Die Oder-Neiße-Grenze

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Anfang Oktober wurde von der polnischen Botschaft sorgfältig verzeichnet – und die vierseitige Rede Piecks vor der Gubener Bürgerschaft Wort für Wort aus der deutschen in die polnische Sprache übersetzt.16

6 Görlitzer Vertrag vom 6. Juli 1950: Unterzeichnung des Abkommens über die Markierung der deutsch-polnischen Staatsgrenze (Oder-Neiße-Grenze) durch die Ministerpräsidenten der DDR und Polens, Otto Grotewohl (links) und Józef Cyrankiewicz (rechts). Bei der Unterzeichnung waren außerdem anwesend: Stefan Wierblowski (1.R.2.v.rechts), Stefan Dybowski (2.R.1.v.rechts), Hilary Chelchowski (2.R.3.v.rechts) und Heinrich Rau (2.R.1.v.links).

Auf der anderen Seite war die von der SED konstruierte neue Zuschreibung der „Friedensgrenze“ zu Polen ebenso eine (geschichts-)politische Waffe gegenüber der Bundesrepublik. Mit der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ sprach die SED-Führung ihren Staat nicht nur als Verbündeten der siegreichen Sowjetunion von jeder Verantwortlichkeit für die im Namen des deutschen Volkes während des Zweiten Weltkriegs verübten Massenmorde frei. Sie instrumentalisierte die neue „Friedensgrenze“ zu Polen auch als antifaschistische Keule gegen die Bundesrepublik, indem sie den Gegensatz zwischen der für den Frieden in Europa und der Welt „kämpfenden“ DDR und der immer noch faschistischen und revisionistischen Bundesrepublik propagierte. In einem Artikel im „Neuen Deutschland“ vom 1. April 1952 heißt es denn auch: 16

Ebd., Bl. 25–28.

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

Die Festlegung der Oder-Neiße-Grenze war ein wichtiger Schritt zur Entwicklung der deutsch-polnischen Freundschaft und damit zur Sicherung des Friedens in Europa. Es ist daher eine nationale Aufgabe, diese Grenze als Friedensgrenze zu verteidigen und alles zu tun, um die chauvinistische Kriegshetze der Monopolherren und Militaristen, der Adenauer und Schumacher in West-Deutschland zu zerschlagen. Wer die Oder-NeißeFriedensgrenze antastet, will den Krieg. Wer aber Krieg will, ist der gemeinsame Feind des deutschen und des polnischen Volkes, denn beide Völker wollen in Frieden leben, arbeiten und glücklich sein.17

Seit Anfang der 1950er-Jahre entwickelte sich die neue Oder-Neiße-Grenze zwischen Polen und der DDR zum wichtigsten Fixpunkt in dem von der SED-Führung in der Öffentlichkeit geführten Friedensdiskurs. Über den politischen Mythos der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ und die semantisch darüber konnotierte Kriegsmetaphorik wurde die DDR bis in die 1980er-Jahre als Vorkämpferin für ein „Weltlager des Friedens“ präsentiert.18 Wie verhielt es sich aber mit den realen zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen der DDR und Polen? Die Grundvoraussetzung für die Übertragung eigenständiger innen- und außenpolitischer Kompetenzen an die sozialistischen Staaten lag in der Neuorientierung der sowjetischen Außenpolitik nach dem Tod Stalins 1953. In der beginnenden Chruschtschow-Ära setzte ein Tauwetter, eine allmähliche Liberalisierung in der UdSSR ein, die auch die Ostblockländer zu spüren bekamen.19 Eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Polen und der DDR begann schließlich mit dem Abschluss des Warschauer Vertrags20 am 14. Mai 1955: Mit der Eingliederung beider Staaten in den Warschauer Pakt wurden die DDR und Polen auch militärisch zu Verbündeten. Während das bilaterale Verhältnis in den frühen 1950er-Jahren noch stark belastet war und lediglich durch die propagierte „brüderliche Zusammenarbeit“ getragen wurde, kann seit der zweiten Hälfte der 1950erJahre von einer schrittweisen Normalisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen gesprochen werden.21 In dieser Phase waren die ostdeutsch-polnischen Beziehungen 17 18 19 20

21

„Beginn des Monats der deutsch-polnischen Freundschaft”, in: Neues Deutschland, Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1. April 1952, S. 1. Vgl. hierzu die Berlin-Ausgaben des „Neuen Deutschland” von den 1950er- bis in die 1980erJahre. Ihme-Tuchel, Das ‚nördliche Dreieck‘, S. 9. Als die Bundesrepublik durch die Pariser Verträge vom 5. Mai 1955 in das westliche Verteidigungsbündnis der NATO einbezogen wurde, reagierte die UdSSR nur wenig später mit der Bildung einer eigenen Militärkoalition. Zwischen dem 11. und 14. Mai 1955 traten die Führer der Ostblockstaaten in Warschau zusammen und erarbeiteten die Grundlagen des Warschauer Pakts, der von Vertretern der UdSSR, Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns, Rumäniens, Bulgariens und der DDR unterzeichnet wurde. Vgl. Anatolij I. Gribkov, Der Warschauer Pakt. Geschichte und Hintergründe des östlichen Bündnissystems, Berlin 1995. Ihme-Tuchel, Das ‚nördliche Dreieck‘, S. 43–46.

Die Oder-Neiße-Grenze

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auch von dem Verhältnis zwischen Moskau und Ost-Berlin abhängig, verfolgten die Sowjets doch primär das Ziel einer Verbesserung der außenpolitischen Position der DDR als ein „Bollwerk des siegreichen Sozialismus“ gegenüber dem Westen.

7 Versöhnlicher Staatsbesuch des polnischen Parteiführers Władysław Gomułka (links im Bild) bei Walter Ulbricht 1957 in der DDR; am 18. Juni fahren beide in einem Cabriolet durch Ost-Berlin.

Eine kurzfristige Störung in den sich stabilisierenden Beziehungen zwischen Polen und der DDR entstand durch die Ereignisse des Jahres 1956 in Polen, die in der SED-Führung als eine massive Bedrohung für die Entwicklung des Sozialismus angesehen wurden. Tatsächlich schien im sogenannten Polnischen Oktober nach dem Posener Arbeiteraufstand im Juni 1956 buchstäblich alles möglich: ein Sozialismus mit „menschlichem Antlitz“, eine freie Presse, eine Annäherung an die Bundesrepublik und andere westliche Staaten, umfangreiche westliche Wirtschaftshilfe und schließlich ein Ausscheren aus dem sowjetischen Hegemonialbereich. Władysław Gomułka, der Ende 1956 zum Ersten Sekretär der Kommunistischen Partei Polens ernannt wurde, führte zwar eine liberalere Politik als sein Vorgänger ein, blieb dem kommunistischen Kurs aber treu. Der Besuch Gomułkas in Ost-Berlin im Juni 1957 demonstrierte dann sowohl die Aussöhnung mit Walter Ulbricht als auch die Wie-

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

deraufnahme der guten Beziehungen zur blocktreuen DDR.22 1960 huldigte auch Ministerpräsident Cyrankiewicz auf einer DDR-Reise der ostdeutsch-polnischen Freundschaft und Allianz: „Wer die Hand gegen die Elbe erhebt“, so Cyrankiewicz, „erhebt sie auch gegen die Oder-Neiße-Grenze.“23 3.2 „Deutscher ist nicht gleich Deutscher“ – Grundlagen „freundschaftlicher Beziehungen“ zwischen der DDR und der Tschechoslowakei Die staatlichen Beziehungen zwischen Ost-Berlin und Prag lassen sich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis Anfang der 1960er-Jahre grob in drei verschiedene Phasen einteilen: Die erste Phase (1945–1949) kann als „vorsichtige Annäherung“ überschrieben werden. Während die Staaten in der zweiten Phase (1949–1955) den allmählichen Aufbau der Beziehungen vornahmen, wurde trotz erster Konflikte die noch schwache bilaterale Zusammenarbeit in der dritten Phase (1955–1961) insbesondere in den Bereichen der Wirtschaft und Kultur ausgeweitet.24 Nach dem Zweiten Weltkrieg war die allgemeine Stimmung in der tschechoslowakischen Öffentlichkeit in erster Linie von Hass und Vergeltung gegenüber dem besiegten Deutschland geprägt. Andererseits bemühte sich der im Juni 1948 zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakei gewählte Klement Gottwald um versöhnliche Gesten der Annäherung an die kommunistische Führung Ost-Berlins. Gottwalds propagierter Parole „Deutscher ist nicht gleich Deutscher“ („Není Němec jako Němec“) zu folgen, fiel der tschechoslowakischen Bevölkerung jedoch nicht leicht.25 Entsprechend verhielt sich die SED-Führung gegenüber der Tschechoslowakei noch überaus vorsichtig. Um die neu gegründete DDR in die sozialistische Staatengemeinschaft nachhaltig zu integrieren, setzte Otto Grotewohl in seiner Regierungserklärung am 12. Oktober 1949 deutliche Zeichen für eine Annäherung an die „Bruderländer“ im Osten: „Die Politik des Friedens und der Freundschaft zur Sowjetunion findet ihre Ergänzung im Verhältnis zu den Volksdemokratien, vor allem mit unseren Nachbarn, dem neuen Polen und der Tschechoslowakischen Republik 22 23 24

25

Ebd., S. 377. In ähnlicher Form bekräftigte Gomułka den Bau der Berliner Mauer im August 1961. Zit. nach: Piotr Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle in der DDR und in der Volksrepublik Polen. Ihre gegenseitige Perzeption und Kontakte, Toruń 2004, S. 43. Volker Zimmermann, Die Beziehungen zwischen der SBZ/DDR und der Tschechoslowakei 1945–1969: Überlegungen zur „brüderlichen Zusammenarbeit“ zweier sozialistischer Staaten, in: Wolfgang Müller/Michael Portmann (Hg.), Osteuropa vom Weltkrieg zur Wende, Wien 2007, S. 219–240. Ebd., S. 224f.

„Deutscher ist nicht gleich Deutscher“

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[…].“26 Der Plan schien aufzugehen – die Tschechoslowakei gehörte zu den ersten Staaten, die die DDR völkerrechtlich anerkannten und diplomatische Beziehungen mit ihr knüpften. Seit Anfang der 1950er-Jahre sah die SED-Führung die Herstellung guter Beziehungen zu den sozialistischen Nachbarstaaten als eines ihrer wichtigsten außenpolitischen Ziele an.27 In der am 23. Juni 1950 in Prag unterzeichneten „Deklaration über die Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung“ zwischen der DDR und der Tschechoslowakei verkündeten denn auch die Regierungen, dass „es zwischen ihren beiden Staaten keine strittigen und offenen Fragen gibt“.28 Es wurde betont, dass „beide Staaten keine Gebiets- oder Grenzansprüche [haben]“ und dass „die durchgeführte Umsiedlung der Deutschen aus der Tschechoslowakischen Republik unabänderlich, gerecht und endgültig“ sei. Einmütigkeit bestand bei der Deklaration auch im gemeinsamen Feindbild und außenpolitischen Credo, „die Pläne der imperialistischen Kriegsbrandstifter zu vereiteln und den Frieden zu festigen“.29 Ohne das Münchner Abkommen von 1938 zu erwähnen bzw. ausdrücklich für ungültig zu erklären, wurde unter die konfliktreiche Vergangenheit der zwischenstaatlichen Beziehungen – die NS-Besatzungszeit sowie die Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Sudetendeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg – ein dicker Schlussstrich gezogen. Die Botschaft der Deklaration lautete, dass man die Zukunft der bilateralen Beziehungen auf eine neue Basis stellen werde. Offiziell wurde für die nächsten Jahre die „Freundschaft zwischen den Völkern“ und eine „brüderliche Zusammenarbeit“ erklärt.30 Neben der Deklaration unterzeichneten die Vertreter beider Länder am 23. Juni 1950 auch das Abkommen über wissenschaftliche und technische Zusammenarbeit, das Protokoll über kulturelle Zusammenarbeit, das kurzfristige Kreditabkommen zugunsten der DDR sowie das Protokoll über den nichtkommerziellen Zahlungsverkehr.31 Eine ganze Reihe der in den darauffolgenden Jahren 1951/52 im „Neuen Deutschland“ 26 27 28

29 30 31

Zit. nach: „Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Otto Grotewohl vom 12. Oktober 1949“, abgedruckt in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik: Bd. I, S. 19–37, hier S. 29. Vgl. Ihme-Tuchel, Das ‚nördliche Dreieck‘, S. 41ff. Die sogenannte Prager Deklaration, zit. nach: „Gemeinsame Deklaration der Provisorischen Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Tschechoslowakischen Republik“, abgedruckt in: Dokumente zur Außenpolitik der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik: Bd. I, S. 377f. Ebd. Ebd. Helmut Ziebart, Bilanz einer deutsch-tschechischen Alternative. Anliegen und Ergebnisse der Beziehungen DDR-Tschechoslowakei. Eine Studie (Ausgewählte Dokumente zur Zeitgeschichte), Stuttgart 1999, S. 18f.

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

publizierten Artikel unterstreicht die „sozialistische Freundschaft“, das gegenseitige Interesse sowie die Gemeinsamkeiten zwischen der DDR und der Tschechoslowakei. Das seit Anfang der 1950er-Jahre in der Öffentlichkeit immer wieder lancierte Bild der „Freundschaftsgrenze“ zwischen der DDR und der Tschechoslowakei hatte für die Bevölkerung beider Gesellschaften nicht nur identitätsstiftende und integrative Funktionen zu erfüllen. In einer ähnlichen, aber sicherlich schwächeren Form als bei der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ wurde die „Freundschaftsgrenze“ zur Tschechoslowakei von der SED-Führung zum politischen Symbol stilisiert und als (geschichts-)politische Waffe gegen die Bundesrepublik instrumentalisiert. Doch auch mit dem Mythos der „Freundschaftsgrenze“ wurde der Gegensatz zwischen der nach Frieden strebenden DDR und der imperialistischen und revisionistischen Bundesrepublik propagiert. In einem Artikel im „Neuen Deutschland“ vom 25. September 1956 heißt es: An der Westgrenze der Tschechoslowakei, jenseits des Böhmer Waldes, steht der Tschechoslowakischen Republik noch kein friedliebender Nachbarstaat gegenüber. In der Deutschen Bundesrepublik herrschen zur Zeit die gleichen Kreise der Konzernherren, Monopolisten, Junker und Militärs, die den zweiten Weltkrieg vom Zaun brachen. Diejenigen, die einst gierig ihre Hände nach den Skoda-Werken ausstreckten, schmieden dort räuberische Pläne.32

Anders als die neu gezogene Oder-Neiße-Grenze wurde die Grenze zur Tschechoslowakei in der DDR-Öffentlichkeit nur sehr selten als „Friedensgrenze“ – wenn überhaupt – dann im Verbund als „Friedens- und Freundschaftsgrenze“ bezeichnet. Die exklusive Zuschreibung des Friedens blieb also für das ostdeutsch-polnische Verhältnis reserviert: Zum einen, weil die Polen durch die von den Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg begangenen Massenmorde die meisten Opfer zu beklagen hatten, zum anderen, weil die „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ den immer wieder aufflammenden Diskussionen über die Rechtmäßigkeit der neuen ostdeutschpolnischen Grenze ein Ende setzen sollte. Spannungen zwischen den „Bruderländern“ DDR und Tschechoslowakei lassen sich erst für die zweite Hälfte der 1950er-Jahre ausmachen. In den außenpolitischen Beziehungen entstanden partielle Unstimmigkeiten insbesondere in der Frage der Haltung zur Bundesrepublik sowie in der Kulturpolitik – beides Bereiche, die in den 1960er-Jahren zu ernsten Problemen in den zwischenstaatlichen Beziehungen

32

„Es lebe die deutsch-tschechoslowakische Freundschaft”, in: Neues Deutschland, Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 25. September 1956, S. 1f.

„Deutscher ist nicht gleich Deutscher“

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führen sollten.33 Grundsätzlich versuchten jedoch beide Staaten zu dieser Zeit, sich außenpolitisch weiter anzunähern und die begonnene Zusammenarbeit zu verstärken. So kam es zum Abschluss verschiedener bilateraler Verträge, die durch eine Vielzahl von Ressortabkommen erweitert wurden: Das Jahr 1955 gilt als der offizielle Beginn des Tourismus zwischen der DDR und der Tschechoslowakei; aufgrund strenger bürokratischer Bestimmungen wie der Visumpflicht, der Notwendigkeit einer beglaubigten Einladung sowie komplizierter Devisenvereinbarungen blieb der Reiseverkehr zwischen beiden Ländern jedoch auf einer äußerst niedrigen Frequenz stecken. Im Verlauf des Jahres 1956 kamen weitere Abkommen hinzu: Im März wurde der regelmäßige Flugverkehr zwischen Prag und Ost-Berlin aufgenommen; im September einigte man sich auf die Einrichtung von Generalkonsulaten in Pressburg (Bratislava) und Dresden. Im Bereich der Wirtschaft wurde im September 1956 vereinbart, den langfristigen Warenaustausch bis 1960 zu verdoppeln.34 Neben den wirtschaftlichen baute man auch die Beziehungen in der Kulturpolitik weiter aus. Die Zusammenarbeit im Kulturbereich erreichte bald ein Niveau, das die bilaterale Kooperation anderer sozialistischer Staaten auf diesem Gebiet um ein Vielfaches übertraf. In Prag und Ost-Berlin wurden 1956 Kultur- und Informationszentren eingerichtet, um die Menschen über die Gesellschaft und Geschichte des Nachbarlandes zu informieren. Immer mehr „Genossen“ reisten mit Delegationen in das Nachbarland. Obwohl diese Begegnungen mehrheitlich auf der Parteienebene stattfanden, trugen die im Rahmen dieser „Völkerfreundschaft“ geknüpften Kontakte insbesondere auf tschechoslowakischer Seite dazu bei, die alten Ängste vor dem Nachbarn zu überwinden und negative Stereotype abzubauen. Aber auch die breite Bevölkerung in der DDR wollte von der neuen Zusammenarbeit profitieren und forderte bald größere persönliche Freizügigkeiten ein. Dabei nahmen die Ostdeutschen die immer größere Diskrepanz zwischen der propagierten „Freundschaft“ und der militärisch gesicherten und mit Stacheldraht durchzogenen Staatsgrenze wahr. In einem Leserbrief an das „Neue Deutschland“ aus dem Jahr 1955 heißt es denn auch:

33

34

Vgl. Edita Ivaničková, Die Krise der Beziehungen der ČSSR zur DDR im Zusammenhang mit der Intervention von 1968, in: Hans Lemberg/Jan Křen/Dušan Kováč (Hg.), Im geteilten Europa. Tschechen, Slowaken und Deutsche und ihre Staaten 1948–1989 (Veröffentlichungen des Instituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Bd. 10), Essen 1998, S. 153–168, hier S. 153f. Hierzu Adolf Müller/Bedřich Utitz, Deutschland und die Tschechoslowakei. Zwei Nachbarvölker auf dem Weg zur Verständigung, Bonn 1972, S. 82–86; Ziebart, Bilanz einer deutsch-tschechischen Alternative, S. 25f.

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

Warum besteht zwischen der DDR und den befreundeten Staaten Tschechoslowakei und Polen kein normaler Reiseverkehr? Warum liegt zwischen den deutschen und den tschechoslowakischen Grenzposten ein Streifen Niemandsland von 250 Metern?35

Aber der Ruf nach mehr Freiheiten für Individualreisende innerhalb des „nördlichen Dreiecks“ stieß bei der Regierung in Ost-Berlin auf taube Ohren. So sollte es noch mehr als 15 Jahre dauern, bis man die Regelungen lockerte und den pass- und visafreien Reiseverkehr zwischen den „Bruderländern“ einführte.

8 Ein tschechoslowakischer Reisebus hat am 31. Juli 1956 die Grenze zur DDR überquert und befindet sich auf der Fahrt nach Dresden. Die vom ADN gesetzte Original-Bildunterschrift lautet: „Jeden Sonnabend morgen passiert seit einigen Wochen ein großer Bus die Grenze zwischen der Tschechoslowakischen Republik und der DDR. Er trägt ein Schild mit der Aufschrift ČEDOK (Reisebüro der Tschechoslowakei) und befördert 35 Touristen aus Prag nach Dresden. Die für das Jahr 1956 schon ausverkauften Wochenendfahrten Prag-Dresden und Dresden-Prag sind ein Ausdruck der immer enger werdenden Zusammenarbeit beider Staaten.“

35

Zit. nach: Zimmermann, Beziehungen zwischen der SBZ/DDR und der Tschechoslowakei, S. 230.

Binationale Zusammenarbeit der Grenzorgane

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Zu dem sich seit Mitte der 1950er-Jahre immer weiter zuspitzenden OstWest-Konflikt kamen innenpolitische Probleme im Ostblock hinzu. Der Posener Arbeiteraufstand und der Volksaufstand in Ungarn 1956 sorgten dafür, dass die reformfeindlichen Kader in Prag und Ost-Berlin weiter zusammenrückten.36 Spielräume für außenpolitische Initiativen ohne Absprachen mit dem sowjetischen Mutterland bestanden für die tschechoslowakische und ostdeutsche Regierung fast keine; dies strebte man zu dieser Zeit aber auch nicht wirklich an. So erkannte das gemeinsame Kommuniqué einer Tagung von Delegationen der Zentralkomitees der SED und der KPČ vom 9./10. Dezember 1956 in Prag ausnahmslos die „führende Rolle der Sowjetunion“ an, billigte vorbehaltlos die militärische Intervention der Sowjets in Ungarn und begrüßte die dort vorgenommene „Unterdrückung der Konterrevolution“.37 Es zählt zur Ironie der Geschichte, dass der Tschechoslowakei, die dem sowjetischen Truppeneinmarsch in Ungarn 1956 zustimmte, zwölf Jahre später ein ähnlich trauriges Schicksal widerfuhr. 3.3 Binationale Zusammenarbeit der Grenzorgane an den „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ Zwischen der DDR und Polen setzte der 1950 geschlossene Görlitzer Vertrag neue Maßstäbe nicht nur auf der offiziellen Ebene – er stellte auch die Weichen für eine verstärkte Zusammenarbeit im Grenzschutz zwischen Warschau und OstBerlin. Da zunächst die pragmatische Frage über den genauen Grenzverlauf geklärt werden musste, wurde nach Artikel 3 des Görlitzer Vertrags zur Markierung der neuen Staatengrenze eine „Gemischte deutsch-polnische Kommission“ mit Sitz in Warschau berufen. Diese achtköpfige Kommission, die sich aus der Provisorischen Regierung Polens und der DDR zusammensetzte, sollte spätestens bis zum 31. August 1950 zusammentreten.38 Nach dem Entwurf ihres Abschlussprotokolls vom 19. Januar 1951 muss die bilaterale Zusammenarbeit als Erfolg gewertet werden. Der fünfseitige Bericht greift die Aufgabenschwerpunkte der vier zuständigen Unterkommissionen auf und kennzeichnet diese als eine Arbeitseinheit bei der vollständigen Markierung der neuen Staatsgrenze.39 36 37 38 39

Vgl. Wolfgang Schwarz, DDR und ČSSR: Eine sozialistische Vernunftehe mit Beziehungskrisen, in: Walter Koschmal/Marek Nekula/Joachim Rogall (Hg.), Deutsche und Tschechen. Geschichte, Kultur, Politik, München 2005, S. 408–417, hier S. 409. Vgl. Müller/Utitz, Deutschland und die Tschechoslowakei, S. 86f. MSZ, 2-4 (7/58) NRD 2, Bl. 3: „Abkommen über die Markierung der festgelegten und bestehenden deutsch-polnischen Staatsgrenze“, 6. Juli 1950. MSZ, Z-3, W-4, T-43, Bl. 1–5: „Abschlussprotokoll“, 19. Januar 1951. Einen Beleg dafür, dass die deutsch-polnische Zusammenarbeit auch kollegial und freundschaftlich verlief,

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Neben der Markierung der Staatsgrenze stellte der Görlitzer Vertrag vom Juli 1950 nach Artikel 6 auch Vereinbarungen in Fragen der Grenzübergänge, des lokalen Grenzverkehrs sowie der Schifffahrt auf den Grenzflüssen zur Regelung in Aussicht. Nachdem am 27. Januar 1951 in Frankfurt (Oder) der „Akt über die Ausführung der Markierung der Staatsgrenze“ unterzeichnet worden war,40 erfolgten verschiedene Maßnahmen, um einen „kleinen Grenzverkehr“ zwischen Polen und der DDR einzurichten. Mit diesem sollte im Straßen- und Güterverkehr auf besondere Vorgaben wie die Visum- und Reisepasspflicht verzichtet und der Grenzübertritt erleichtert werden. Diese Regelungen erschienen vor allem für solche Grenzgebiete sinnvoll, in denen ein reger Arbeits- und Pendelverkehr herrschte und eine gründliche Grenzabfertigung zu Staus und Behinderungen führte. So wurde vorgeschlagen, den „kleinen Grenzverkehr“ an neun von über 20 Grenzübergängen an der Oder und Neiße einzuführen.41 In erster Linie galten die Bestimmungen den Einwohnern der Grenzgebiete, um dienstliche oder administrative Angelegenheiten im Nachbarland regeln zu können. Es sollten Träger politischer Ämter, Verwaltungsbeamte, Unternehmensvertreter sowie einfache Arbeiter davon profitieren. Die Grenzgänger sollten sich auf der jeweils gegenüberliegenden Seite in einem Umkreis von zehn Kilometern aufhalten und die Grenze nur mit einem einfachen Passierschein oder Personalausweis überqueren können.42 Die Einführung des „kleinen Grenzverkehrs“ war jedoch nicht unproblematisch und sollte sich schon bald zu einem größeren Tauziehen unterschiedlicher Behörden entwickeln. Laut einem Schreiben des Präsidiums des Ministerrats vom 17. März 1951 konnte über die Regelung des „kleinen Grenzverkehrs“ nicht ohne eine längerfristig angelegte „detaillierte Analyse“ des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit (MBP) – der für die Sicherung der Staatsgrenze zuständigen polnischen Geheimpolizei – entschieden werden.43 Im Frühjahr 1951 schien die Einführung des „kleinen Grenzverkehrs“ zwischen Polen und der DDR bis auf wenige Einzel-

40 41 42 43

liefert ein von der deutschen an die polnische Seite überstellter Brief mit Fotografien vom 12. Februar 1951, in dem die Rede von einem „Abschiedsabend der Kommission und ihrer engsten Mitarbeiter“ ist. MSZ, Z-23, W-4, T-34: „Betr.: Fotografien, Bezug: ohne“, 12. Februar 1951. MSZ, 2-4 (7/58) NRD 3: „Akt über die Ausführung der Markierung der Staatsgrenze zwischen Deutschland und Polen“, 27. Januar 1951. MSZ, Z-23, W-4, T-39: „Grenzübergänge an der polnisch-deutschen Staatsgrenze“, „MBP, Kommando der Polnischen Grenzschutztruppen“ an „Leitung der Vorbereitenden Kommission zur polnisch-deutschen Staatsgrenze“, 19. Mai 1950. MSZ, Z-23, W-4, T-39: „MBP, Kommando der Polnischen Grenzschutztruppen“ an „Leitung der Vorbereitenden Kommission zur polnisch-deutschen Staatsgrenze“, „Beachtenswertes zum verabredeten Projekt eines Kleinen Grenzverkehrs mit der DDR“, Mai 1951. MSZ, Z-23, W-4, T-39: „Präsidium des Ministerrates Abteilung II“ an „Leitung der Vorbereitenden Kommission zur polnisch-deutschen Staatsgrenze“, 17. März 1951.

Binationale Zusammenarbeit der Grenzorgane

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fragen zwischen den zuständigen Behörden geklärt zu sein. Am 23. August 1951 wurde das polnische Außenministerium jedoch über das Scheitern des Projekts informiert. In einem Schreiben des Ministerrats an die Kommission zur polnischdeutschen Staatsgrenze heißt es: Die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) hält es für den gegenwärtigen Zeitpunkt für falsch, das Projekt über die Grenzübergänge, über den „kleinen Grenzverkehr“ sowie über die allgemeinen Grenzregelungen ins Leben zu rufen. Die gegenwärtige Situation der zwischenstaatlichen Beziehungen lasse es nicht zu, daß die Staaten selbständige Entscheidungen treffen.44

Damit wurden die Hoffnungen auf Erleichterungen im Grenzverkehr zwischen Polen und der DDR durch die sowjetischen Behörden vereitelt. Obwohl polnische und ostdeutsche Vertreter für den „kleinen Grenzverkehr“ votiert hatten, blieb ihnen keine andere Wahl, als die sowjetischen Anweisungen zu akzeptieren. Wie entwickelte sich die transnationale Zusammenarbeit der Sicherheitskräfte an den „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ seit den 1950er-Jahren? Aus dem Aufstand vom 17. Juni 1953 zogen die sowjetischen Machthaber vor allem die Lehre, dass sie der SED-Führung größere Befugnisse in der innenpolitischen Gestaltung einräumen müssten. Bereits im August 1953 vorsichtig angekündigt, erklärte Moskau am 25. März 1954, dass die DDR die vollständige Souveränität erhalte; freilich bedeutete dies das formale, aber längst noch nicht faktische Ende der sowjetischen Besatzungszeit.45 Am 20. September 1955 schloss Moskau mit Ost-Berlin schließlich den Vertrag über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR. Damit erhielt die DDR erstmals formell die Freiheit, über Fragen ihrer Innenpolitik hinaus auch über ihre Außenpolitik einschließlich der Sicherung ihrer Staatsgrenzen selbstständig zu entscheiden. Im Zuge der Annäherung der benachbarten „Bruderländer“ unterzeichneten am 14. April 1956 der Kommandeur der Deutschen Grenzpolizei, Oberst Stock, und der Kommandeur der polnischen Grenzschutztruppen, Oberst Jurewicz, in Warschau eine Vereinbarung für eine künftige Zusammenarbeit zum Schutz der ostdeutsch-polnischen Staatsgrenze.46 44 45 46

MSZ, Z-10, W-47, T-438: „Polnische diplomatische Mission“ an „polnisches Außenministerium“, 23. August 1951. Ilko-Sascha Kowalczuk, Die 101 wichtigsten Fragen: DDR, München 2009, S. 26. Nachdem in Polen 1954 das Ministerium für Öffentliche Sicherheit (MBP) per Dekret des Staatsrates aufgelöst worden war, übernahmen dessen Aufgaben zwei separate Einrichtungen: zum einen das Komitee für Öffentliche Sicherheit (KdS BP), zum anderen das Ministerium für Innere Angelegenheiten (MSW). Die an der Oder und Neiße stationierten Grenzschutztruppen sowie die für die Passkontrolle zuständigen Grenzkontrolleinheiten sollten fortan dem MSW unterstehen. Siehe zu den polnischen Grenzschutztruppen allgemein: Zenon Jackiewicz, Krótki Informator Historyczny. Wojska Ochrony Pogranicza

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

9 Polnisch-ostdeutsches Grenzertreffen in Kostrzyn etwa 20 Kilometer nördlich von Frankfurt (Oder) Mitte der 1980er-Jahre

Den Kern des Vertrags bildete die Regelung der Beziehungen zwischen den Grenzschutzorganen: die „gegenseitige Hilfeleistung, gegenseitige Achtung und Kameradschaft“. Inhaltlich wurde festgelegt, regelmäßig Beratungen der Kommandeure der gegenüberliegenden Einheiten durchzuführen, um die „erforderlichen unmittelbaren Sicherungsmaßnahmen“ abzustimmen und „Erfahrungen über die Organisation des Grenzdienstes und die Sicherung der Staatsgrenze“ auszutauschen. Fortan war es Pflicht aller Kommandeure, bei festgestellten geplanten oder durchgeführten „Grenzdurchbrüchen“ sofort den zuständigen Kommandeur der anderen Seite zu informieren. Die verstärkte Zusammenarbeit wurde durch Vereinbarungen über die Ernennung von Grenzbevollmächtigten ergänzt. Zu ihrem Aufgabenbereich gehörte die gegenseitige Unterstützung im Kampf gegen „Grenzverletzungen“ sowie das Recht, bei „Bränden, Überschwemmungen oder anderen Katastrophen“ auf der Gegenseite Soforthilfe einzuleiten, ohne die Erlaubnis der anderen Seite zum Grenzübertritt abwarten zu müssen.47 In der Folgezeit fanden in diesem Sinne an der deutschpolnischen Grenze regelmäßige Beratungen der Grenzbevollmächtigten statt – so im deutschen Görlitz oder im 20 Kilometer davon entfernten polnischen Lubań.48

47 48

1945–1991 [Kurzer historischer Abriss. Die polnischen Grenzschutztruppen 1945–1991], 1998. Zit. nach: Hanisch, Grenzsicherung und Grenzpolizei der DDR, S. 143f. Ebd.

Binationale Zusammenarbeit der Grenzorgane

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Erste Kontakte zwischen den Grenzsicherheitsdiensten der DDR und der Tschechoslowakei erfolgten bereits Ende der 1940er-Jahre. Auf den spontan vereinbarten Treffen ging es um die Aufklärung kleinerer Diebstähle, die Rückführung verirrten Viehs, aber auch um illegale Grenzübertritte von Kleinschmugglern oder von Bürgern beider Staaten, die ihre Verwandten auf der jeweils anderen Seite besuchen wollten. Um einen systematischen Austausch von Informationen über Straftaten zu erreichen, schlugen die ostdeutschen Funktionäre regelmäßigere Treffen vor. Dabei verwies man auf die Lage der ostdeutsch-polnischen Grenze, wo man sich in gleichmäßigen Abständen getroffen und eine effektivere Arbeit an der gemeinsamen Staatsgrenze erreicht hätte.49 Anfang der 1950er-Jahre begannen schließlich beide Seiten darüber zu verhandeln, wie der grenzüberschreitende Verkehr einerseits optimiert und illegale Grenzübertrittsversuche andererseits stärker eingedämmt werden könnten. Das erste ausgehandelte Grenzabkommen zwischen der DDR und der Tschechoslowakei betraf den „kleinen Grenzverkehr“ und ermöglichte den Bürgern, sich auf einem Gebiet, das bis zu 15 Kilometer in das Nachbarland hineinreichte, aufzuhalten. Auf tschechoslowakischer Seite gab es dabei zwei Arten von Passierscheinen, die nach vorheriger Zustimmung der ostdeutschen Behörden von der SNB-Kreisleitung ausgegeben wurden: ständige sowie einmalige. Die sechs Monate gültigen ständigen Passierscheine wurden lediglich Personen wie Angestellten von Staatsund volkseigenen Betrieben für ihre Arbeit auf der anderen Seite ausgestellt. Mit einem solchen Dauerpassierschein konnte man sich bis zu sechs Tage ohne Unterbrechung im Nachbarland aufhalten. Die einmaligen blauen Passierscheine waren für Privatpersonen bestimmt. Die Behörden gaben sie allerdings nur in dringenden und außerordentlichen Fällen heraus; erhielt man einen einmaligen Passierschein, dufte man sich immerhin bis zu drei Tage auf der anderen Seite aufhalten. Durch die Ausgabe von ständigen Dauerpassierscheinen versuchte die tschechoslowakische Seite in erster Linie, den chronischen Mangel an Arbeitskräften im Grenzgebiet in den Griff zu bekommen. Ostdeutsche Arbeiter pendelten daraufhin zu den Textilfabriken in Varnsdorf, in die Bergbaureviere um Teplice oder zu den Musikinstrumentenfabriken in Kraslice. In vielen Fällen konnten ausgesiedelte Sudetendeutsche auf diese Weise sogar zu ihren ehemaligen Arbeitsstätten zurückkehren.50 Zu einer verstärkten Zusammenarbeit in Fragen des Grenzschutzes zwischen der DDR und der Tschechoslowakei kam es dann nach Abschluss des Warschauer Ver49

50

Klára Horalíková, Die Anfänge der Zusammenarbeit zwischen den Sicherheitsapparaten der DDR und der ČSSR, in: Pavel Žáček/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hg.), Die Tschechoslowakei 1945/48 bis 1989. Studien zu kommunistischer Herrschaft und Repression, Leipzig 2008, S. 215–235, hier S. 216f. Ebd.

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trags 1955. Ähnlich wie mit Polen schloss die DDR 1956 auch mit der Tschechoslowakei einen Vertrag über den Schutz der Grenzen ab. Am 22. September unterzeichneten der Kommandeur der ostdeutschen Grenzpolizei Hermann Gartmann und der tschechoslowakische Major-General Ludvík Hlavačka in Prag das Abkommen über die Zusammenarbeit der Kommandeure der Grenzschutzorgane.51 Inhaltlich und formal ähnelte dieser Vertrag jenem, den die DDR kurz zuvor mit Polen geschlossen hatte. Die Zusammenarbeit der Grenzschutzorgane sollte auf zwei unterschiedlichen Ebenen erfolgen. Zum einen sollte auf einer präventiven Ebene der Grenzschutz durch gemeinsame Beratungen in methodischer und organisatorischer Hinsicht ausgebaut und verbessert werden, zum anderen stellte der Vertrag auf einer praktischen Ebene eine Art Leitfaden für vorgeschriebene Maßnahmen bei Grenzverletzungen auf. So sollten zwischen den Kommandeuren des Grenzabschnitts mindestens ein Mal pro Monat Arbeitstreffen stattfinden, um den Austausch gegenseitiger Informationen über die „operative Lage“ im Grenzabschnitt („Schleusungskanäle“, „Spionagezentralen“, „wahrscheinliche Richtungen geplanter Grenzdurchbrüche“) sicherzustellen. Um bei diesen Begegnungen Lerneffekte zu erzielen, sollten die Erfahrungen bei der Organisation des Grenzdienstes, angewandte Methoden bei der Grenzsicherung sowie die an den Grenzübergängen erworbenen Kenntnisse über die „Kontrolle von Personen und Transportmitteln“ ausgetauscht werden. Die Bekanntgabe dieser „operativen Lage“ durch die Kommandeure unterlag äußerster Geheimhaltung und durfte erst nach vorheriger Absprache mit den für den Grenzschutz verantwortlichen Organen – auf ostdeutscher Seite dem Ministerium für Staatssicherheit, auf tschechoslowakischer Seite dem Ministerium des Innern – erfolgen. Im Falle eines geplanten bzw. durchgeführten „Grenzdurchbruchs“ wurde der zuständige Kommandeur der jeweils anderen Seite durch ein gemeinsam vereinbartes Signal benachrichtigt. Detaillierte Informationen über den Grenzdurchbruch wie die „erwartete Richtung des Grenzverletzers“, die Anzahl der „Grenzverletzer“, Personenbeschreibungen (Größe, Alter usw.) waren der anderen Seite sofort zu übermitteln.52 Begründet wurde die binationale Zusammenarbeit mit Polen und der Tschechoslowakei in den 1950er-Jahren im Grenzschutz von ostdeutscher Seite mit der Ver51

52

Die Sicherung der Grenzen der Tschechoslowakei erfolgte in den 1950er-Jahren in erster Linie durch die dem Ministerium des Innern unterstellten tschechoslowakischen Grenztruppen (SNB). Von den insgesamt sieben Brigaden des SNB überwachten drei die Grenze zur DDR. Vgl. Angermann, Die Grenztruppen der ČSSR, S. 5ff. AMV Brno-Kanice: f. A6/1, k. 82: „Vereinbarung zwischen dem Ministerium des Inneren der Tschechoslowakischen Republik und dem Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik über die Zusammenarbeit der Kommandeure der Grenzschutzorgane bei der Sicherung und Unantastbarkeit der gemeinsamen Grenzen beider Staaten“, 22. September 1956.

Binationale Zusammenarbeit der Grenzorgane

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teidigung gegen eine zunehmende Bedrohung durch die imperialistischen Staaten im sich zuspitzenden Kalten Krieg: „Die angenommene Überlegenheit der USA im strategischen Kernwaffenpotential“, so heißt es in einer Schrift des Militärgeschichtlichen Instituts der DDR, „würde es ermöglichen, die UdSSR mit der Drohung eines blitzartig geführten präventiven Kernwaffenschlags zu erpressen. […] Die imperialistischen Kräfte konzentrieren sich dabei besonders auf die DDR, die Tschechoslowakei, die Volksrepublik Polen und die Ungarische Republik.“ Weiter heißt es, dass verschiedene in sozialistischen Staaten angesiedelte „imperialistische Geheimdienste und Diversionsgruppen“ seit Mitte der 1950er-Jahre politische Unruhen herbeigeführt hätten53 – als Beispiele wurden der Arbeiteraufstand in Polen sowie der Volksaufstand in Ungarn 1956 genannt. Eine ostdeutsche „Erfolgsmeldung“ für die Zusammenarbeit mit den polnischen Genossen lautete daher entsprechend: Im Juni 1956 versuchten konterrevolutionäre Kräfte in der Volksrepublik Polen, von Poznań [Posen; D.T.] aus bewaffnete Aktionen gegen die Arbeiter-und Bauern-Macht zu organisieren. Das entschlossene Eingreifen der polnischen Staatsorgane vereitelte diesen Versuch. Dabei bewährte sich auch das Zusammenwirken der Grenzsicherungskräfte der DDR und Volkspolens. Durch den Einsatz zusätzlicher Kräfte an der Staatsgrenze der DDR zu Volkspolen und am „Ring-um-Berlin“ erhielten die polnischen Klassengenossen eine nicht unwesentliche Hilfe bei der Zerschlagung der konterrevolutionären Kräfte. Gemeinsam verhinderten die Grenzsicherungskräfte Volkspolens und der DDR auch die zahlreichen Versuche konterrevolutionärer Gruppen, sich nach ihrer Niederlage der gerechten Strafe zu entziehen und sich zu ihren Auftraggebern nach Westberlin abzusetzen. Ebenso scheiterten Täuschungs- und Ausweichversuche über das Küstengebiet an der Wachsamkeit der Angehörigen der Grenzsicherungskräfte beider Staaten.54

Nur durch eine verstärkte Grenzsicherung in Zusammenarbeit mit den Funktionären der sozialistischen Nachbarländer, so der Tenor dieser Propaganda, könne das „Einschleusen von imperialistischen Agenten“ und damit ein Überspringen des „konterrevolutionären“ Posener Aufstands 1956 innerhalb des „sozialistischen Lagers“ verhindert werden. In den 1950er-Jahren wurde seitens der DDR die Zusammenarbeit mit den polnischen und tschechoslowakischen Grenzorganen daher in erster Linie von der Sorge um die Gewährleistung der inneren Sicherheit im Kalten Krieg bestimmt. Fluchtversuche von DDR-Bürgern über die Ostgrenzen in den Westen stellten in diesem Jahrzehnt eher die Ausnahme dar, konnten doch die meisten DDR-Bürger ihr Land noch ohne größere Probleme über die innerdeutsche Grenze oder die noch offenen Sektorengrenzen nach West-Berlin verlassen. Bis zum Mauerbau im August 1961 versuchten auch Polen und Tschechoslowaken, über 53 54

Zit. nach: Hanisch, Grenzsicherung und Grenzpolizei der DDR, S. 145f. Ebd., S. 147f.

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

die noch durchlässige DDR in den Westen zu flüchten. Die polnischen und tschechoslowakischen Sicherheitsorgane waren deshalb bemüht, ihre Grenzen zur DDR abzusichern. So blieben auch die polnischen und tschechoslowakischen Grenzanlagen zur DDR relativ stark ausgebaut. Dem Bereich der Fluchtproblematik soll in nachstehenden Kapiteln besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. 3.4 Verstärkter militärischer Umbau der Grenzpolizei in den 1950er-Jahren Mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 erfolgte im „Arbeiter-und Bauern-Staat“ eine breite Umstrukturierung bereits bestehender Institutionen. Die am 10. Oktober aufgelöste SMAD wurde durch die Sowjetische Kontrollkommission (SKK) ersetzt. Aus der Deutschen Verwaltung des Innern (DVdI) entstand das Ministerium des Innern (MdI). Die bislang bei der DVdI bestehende Hauptabteilung Grenzpolizei wurde als Teil der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei (HV DVP) dem MdI unterstellt.55 Nach SED-Verständnis sollte sich die Grenzpolizei unter der Führung der Staatspartei zu einem eigenständigen Grenzschutzorgan entwickeln.56 Dies lag auch im Sinne der sowjetischen Besatzungsmacht. Obwohl die SKK auf eine strikte Kontrolle der DDR-Regierung sowie deren Sicherheitsapparate nicht verzichtete, versuchte sie auf unterschiedliche Weise, die staatliche Souveränität der jungen DDR zu festigen; nicht zuletzt, um ihre eigenen Kräfte zu entlasten. Der Grenzpolizei wurden schrittweise größere Aufgaben übertragen. Zum 1. Januar 1950 erfolgte eine Neugliederung der Grenzpolizei, wodurch ihre Gesamtstärke auf rund 20.100 Mann anwuchs. Die bisher von sowjetischen Einheiten der Transport- und Wasserschutzpolizei überwachte Ostseeküste wurde von der Grenzpolizei des Landes Mecklenburg in einer Stärke von etwa 700 Mann übernommen. In Mecklenburg waren rund 5.200 Mann, in Brandenburg 1.580 und in Sachsen 2.300 Mann stationiert. Am 10. Juni 1950 übertrug die SKK der Grenzpolizei die Kontrolle an den Grenzübergängen. Die Überwachung des Personenund Transportverkehrs der Alliierten verblieb aber weiterhin bei den sowjetischen Einheiten.57 Für die SED stand schon lange fest, dass die Grenzpolizei gemäß ihrer Aufgabenstellung kein reines Polizeiorgan war.58 Nachdem Stalin am 1. April 1950 in 55 56 57 58

Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 58f. Hierzu Klaus Barg, 40 Jahre sicherer Schutz der Staatsgrenze, in: Militärwesen, Berlin (Ost) 33 (1989), S. 38–43, hier S. 38. Vgl. diese Zahlen bei Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR, S. 206. Vgl. Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 63f.

Militärischer Umbau der Grenzpolizei

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Moskau mit einer SED-Delegation unter der Leitung Wilhelm Piecks die Bildung einer regulären Armee erörtert hatte, entzündete sich schon bald eine parteiinterne Debatte über die verstärkte Militarisierung der Grenzpolizei nach sowjetischem Vorbild. Das Jahr 1952 markiert dann auch die bis dahin umfassendsten Erneuerungen in der Grenzüberwachung. Dem sowjetischen Grenzsicherungsmodell folgend, übernahm das MfS am 16. Mai 1952 den Grenzschutz mit der neuen amtlichen Bezeichnung „Deutsche Grenzpolizei“ (DGP). Damit schied die Grenzpolizei aus dem Bereich der Deutschen Volkspolizei endgültig aus.59 Im selben Monat verschärfte man auch die Bestimmungen zum Schusswaffengebrauch: Den Grenzern wurde jetzt ausdrücklich angeordnet, bei Fluchtversuchen die Waffe anzuwenden und Verletzte und Tote am Ort zu belassen, bis eine Untersuchung erfolgt sei.60 Die Verschärfung der Schusswaffenbestimmung diente in erster Linie dem Versuch, die Grenzpolizei für begrenzte militärische Verteidigungshandlungen vorzubereiten. Offiziell sollte die Grenzsicherung der DDR zum einen die „Republikflucht“ nach außen, zum anderen das Eindringen feindlicher Kräfte nach innen verhindern; nach sowjetischer Militärtheorie galt der Grenzschutz damit als der „vorgeschobenste Verteidigungsstreifen“ des eigenen Landes. Um das Grenzregime weiter auszubauen und die Ausbildung der Grenzpolizisten zu verbessern, stellte man seit Anfang Juni 1952 sowjetische „Berater“ in der Grenzpolizei an. Gestützt auf sowjetische Erfahrungen wurden die im Sommer 1948 gebildeten Polit-Kultur-Organe im Juli 1952 in Politorgane umgewandelt.61 Mit den Politorganen hatte die SED eine wichtige Voraussetzung geschaffen, um ihre führende Rolle im Staat auch in der Grenzpolizei weiter auszubauen. Nach sowjetischem Vorbild wurde im August 1952 damit begonnen, auch die grenznahe DDR-Bevölkerung in die „Verteidigung der Grenzen“ mit einzubeziehen. An der innerdeutschen Grenze und der Ostseeküste wurden die ersten „Freiwilligen Helfer“ der Grenzpolizei rekrutiert. Sorgfältig ausgewählte Bewohner sollten die Grenzpolizei bei der Überwachung der fünf Kilometer breiten Sperrzone des Hinterlands unterstützen. Busfahrer, Postboten und Verkäuferinnen schienen aufgrund ihrer Tätigkeit dazu besonders geeignet. Im Laufe der 1950er-Jahre wur59

60 61

Zu diesem Zeitpunkt bestand im MfS bereits die Ende 1951 gebildete Hauptabteilung I, die die Funktion einer inneren Militärabwehr übernahm. Ihre Mitarbeiter sollten in den Einheiten der Grenzpolizei „Spione“ entlarven, die sich im Laufe der Zeit häufenden Fahnenfluchten verhindern, staatsfeindliche Hetze bekämpfen sowie Technik und Bewaffnung vor Diebstahl und Sabotage schützen. Vgl. Stephan Wolf, Hauptabteilung I: NVA und Grenztruppen. Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur und Methoden (MfS-Handbuch: Bundesbeauftragter für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR, Teil III/13), Berlin 2005, S. 51–54. So auch Hanisch, Zur Entwicklung der Grenzschutzorgane, S. 133. Im Einzelnen dazu: Hanisch, Grenzsicherung und Grenzpolizei der DDR, S. 113f.

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

den die „Freiwilligen Helfer“ in das Grenzsicherungssystem der DDR fest integriert. Ihre Zahl stieg kontinuierlich an; Mitte der 1950er-Jahre soll es bereits über 5.000 Grenzpolizeihelfer gegeben haben.62 Die wechselnde Unterstellung der Grenzpolizei unter verschiedene Ministerien der DDR in den 1950er-Jahren wird in der Literatur treffend als „administratives Kompetenzchaos“ charakterisiert.63 Weil die Sicherheitsorgane der DDR den Arbeiter- und Volksaufstand vom 17. Juni 1953 nicht verhindert hatten, stufte die SED-Führung das MfS zum Staatssekretariat für Staatssicherheit (SfS) beim MdI herunter. Auch die Grenzpolizei unterstand jetzt dem MdI – allerdings mit einer eigenen Hauptverwaltung. Dabei wurde der Aufstand vom 17. Juni von der SEDFührung als ein vom Westen gesteuerter „faschistischer Putschversuch“ interpretiert, der erst aufgrund durchlässiger Grenzen – auch der zu Polen und der Tschechoslowakei – möglich geworden sei. Nach der Logik der SED wurde die Grenzpolizei nach dem 17. Juni daher personell weiter aufgestockt. Ihre Gesamtstärke stieg von rund 25.500 im September 1953 auf 30.700 Mann im Jahr 1954 an. Mit der personellen Verstärkung von über 5.000 Mann wurden neue Grenzbereitschaften geschaffen, die an den Landesgrenzen verteilt wurden: An der innerdeutschen Grenze postierte man zusätzlich zwei Bereitschaften mit je 1.150 Mann, an der Ostseeküste zwei Bereitschaften mit je 1000 Mann, an der Grenze zu Polen zwei Bereitschaften mit je 340 und an der Grenze zur Tschechoslowakei eine Bereitschaft mit 350 Mann.64 Obwohl der Hauptteil der neuen Kräfte die Westgrenze sichern sollte, wurde der Grenzschutz zu Polen und der Tschechoslowakei nicht vernachlässigt. Der Aufstand vom 17. Juni führte vielmehr zu einer verstärkten Überwachung der Grenzen zu den benachbarten „Bruderländern“. Langfristig war es die zunehmende Ost-West-Konfrontation, die Bildung des Warschauer Pakts im Mai 1955 als dem Militärbündnis des Ostblocks, die eine weitere rigorose Militarisierung der ostdeutschen Grenzpolizei bewirkte. So verkündete Walter Ulbricht am 11. Juli 1955 als Erster Sekretär des ZK der SED wichtige aus Moskau kommende Vorgaben: Angesichts der wachsenden Bedeutung der Fragen der Inneren Sicherheit und der Verteidigung der Grenzen unserer Republik haben wir den Beschluß über […] die Reorganisation

62 63 64

Vgl. Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 86. Hierzu Monika Tantzscher, „Der Paßkontrolleur ist ein Diplomat in Uniform“. Die Überwachung des Reise- und Touristenverkehrs durch das MfS, in: Deutschland Archiv 36 (2003), S. 219–233, hier S. 219. Vgl. diese Zahlen bei Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR, S. 210.

Militärischer Umbau der Grenzpolizei

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unserer Grenzpolizei zu Grenztruppen gefaßt. Zeitweilig werden die Grenztruppen weiterhin den Namen „Polizei“ tragen, aber sie werden eine militärische Organisation besitzen.65

Die von Ulbricht verkündete militärische Neuordnung der Grenzpolizei stand ganz im Zeichen des Kalten Kriegs und zielte darauf ab, sie stärker in den immer größeren Militärapparat der DDR einzubinden. Zur Koordinierung des militärischen Zusammenwirkens sollte sich die Grenzpolizei schrittweise der im Januar 1956 gegründeten Nationalen Volksarmee (NVA) annähern.66 Um die Einheiten der Grenzpolizei bei ihrer Konzentration auf militärische Aufgaben zu entlasten, wurden die Kontrollen an den Grenzübergangsstellen an das im August 1952 errichtete Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs (AZKW) übergeben.67 Auch die zweite Hälfte der 1950er-Jahre stand im Zeichen der militärischen Umstrukturierung der Grenzpolizei. Am deutlichsten spiegelte sich diese Entwicklung in der Planung des „Zusammenwirkens“ mit der NVA im „Ernstfall“ sowie in der Schaffung einer durchgreifenden militärischen Struktur und Gliederung in Grenzbrigaden, -bereitschaften, -abteilungen und -kompanien. Insgesamt entstanden acht neue Brigaden: Im Osten übernahm die Grenzbrigade Rostock die Sicherung der Ostseeküste mit drei Grenzpolizeibereitschaften in Glowe auf Rügen, Greifswald und Rostock. Die Grenzbrigade Frankfurt (Oder) sicherte die Grenze zu Polen und unterhielt zwei Grenzpolizeibereitschaften in Görlitz und Löcknitz. Der Grenzbrigade Karl-Marx-Stadt (Chemnitz) oblag die Sicherung der Grenze zur Tschechoslowakei mit zwei Grenzbereitschaften in Karl-Marx-Stadt und Pirna.68 Die übrigen Grenzbrigaden sicherten die Westgrenze nach der Bundesrepublik hin. Die in den 1950er-Jahren im Geheimen betriebene militärische Aufrüstung der Grenzpolizei wurde gegen Ende des Jahrzehnts öffentlich fortgesetzt. Dazu zählte auch die Übernahme militärischer Zeremonien. Die Einführung des „Schwurs“ und die Verleihung von Truppenfahnen an die Grenzpolizei im Januar 1958 entsprachen dabei den Ritualen der NVA. Nach dem SED-Verständnis von „sozialistischen Militärformationen“ sollte die Grenzpolizei – ähnlich wie die NVA als Parteiarmee – zu einem zuverlässigen „Instrument der Diktatur des Proletariats“ 65 66

67 68

Zit. nach: Volker Koop, Armee oder Freizeitclub? Die Kampfgruppen der Arbeiterklassen in der DDR, Bonn 1997, S. 266f. Nachdem am 26. September 1955 die Volkskammer das Gesetz zur Ergänzung der Verfassung beschlossen hatte, nahmen am 1. März 1956 das Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV), die Stäbe der Luft- und Landstreitkräfte sowie die beiden Militärbezirke ihre Tätigkeit auf. Zu den Aufgaben der Nationalen Volksarmee gehörte es, die Staatsgrenze, den See- und Luftraum der DDR gegen „feindliche Elemente“ zu verteidigen. Vgl. Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 101. Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR, S. 213. Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 109f.

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werden. Im Jahr 1958 waren nahezu alle Offiziere der Grenzpolizei Mitglieder der SED. Die Zahl der Grenzpolizisten mit SED-Parteibuch stieg von 25,7 Prozent im Jahr 1954 auf ein Drittel im Jahr 1960 an. Dennoch war die SED-Führung unzufrieden; verschiedene Probleme innerhalb der Grenzpolizeieinheiten führte sie auf Mängel in der Führung und in der politischen Schulung zurück. 1957 wurden bei rund 60 Prozent aller Grenzpolizeiangehörigen Disziplinarstrafen verhängt. Im selben Jahr desertierten 279 Grenzpolizisten in den Westen, etwa 1.000 baten um eine vorfristige Entpflichtung. Wegen dieser Negativbilanz war die SED-Führung intensiv darum bemüht, den ideologischen Einfluss der Partei sowie der FDJ auf die Grenzpolizei auszuweiten. 1958 wurden neue Bestimmungen für die Arbeit der Politorgane der Deutschen Grenzpolizei wirksam.69 Im Jahr 1960 verfügte die Grenzpolizei bereits über eine Personalstärke von rund 34.000 Mann, davon waren etwa 20.000 an der Westgrenze, 4.500 an den Sektorengrenzen um Berlin, 3.350 an der Grenze zu Polen, 2.600 an der Grenze zur Tschechoslowakei und 3.400 an der Ostseeküste stationiert.70 Zwischen 1949 und 1961 hatten allerdings rund drei Millionen Ostdeutsche (ein Siebtel der damaligen Gesamtbevölkerung) die DDR für immer verlassen – die meisten über die offenen Sektorengrenzen in Berlin.71 Die SED-Führung versuchte daher Anfang der 1960er-Jahre, die personelle Verstärkung der Grenzpolizei an der Westgrenze vor allem durch den Abzug von Einheiten an der Grenze zu Polen, der Tschechoslowakei und an der Ostseeküste umzusetzen.72 Zu dieser Zeit verfügte die Grenzpolizei an der Oder-Neiße-Grenze nur noch über 1.250 Mann. Die Grenze zur Tschechoslowakei wurde an wichtigen Grenzübergangsstellen von nur insgesamt 560 Mann überwacht. Trotz des personellen Missverhältnisses sollte in formaler Hinsicht die Sicherung der Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei nach den gleichen Grundsätzen und Normen erfolgen wie an der innerdeutschen Grenze73 – nicht zuletzt deswegen, um die innere Sicherheit der DDR vor einer angeblichen Bedrohung durch imperialistische Angriffe über die Ostgrenzen hinweg zu garantieren.

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Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR, S. 215. Ebd. Hierzu Kowalczuk, DDR, S. 54. Vgl. Hanisch, Zur Entwicklung der Grenzschutzorgane, S. 153. Vgl. Peter Freitag, Der Einsatz von Grenztruppen zur Grenzüberwachung an der Staatsgrenze der DDR zur ČSSR und VR Polen, in: Klaus-Dieter Baumgarten/Peter Freitag (Hg.), Die Grenzen der DDR, Berlin 2004, S. 281–295, hier S. 281.

Die Abwanderung wird zum Problem

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3.5 Die Abwanderung wird zum Problem: „Die Machthaber sperren ihre Bürger ein“ Angelehnt an die Weimarer Verfassung vom August 1919 garantierte die am 7. Oktober 1949 verabschiedete Verfassung der DDR ihren Bürgern eine innerstaatliche Freizügigkeit und Auswanderungsfreiheit. Unter Abschnitt B „Inhalt und Grenzen der Staatsgewalt“ wurde im Artikel 8 die „persönliche Freiheit […], sich an einem beliebigen Ort niederzulassen, gewährleistet“. Im Artikel 10 wurde darüber hinaus festgelegt, dass „jeder Bürger berechtigt [sei], auszuwandern“.74 Obwohl das Verlassen oder Abwandern aus der DDR gesetzlich nicht unter Strafe stand, kamen allein zwischen dem 1. Juli 1949 und dem 31. Dezember 1950 an den Grenzen der SBZ/ DDR aufgrund der strikten Schusswaffenbestimmungen 30 Menschen ums Leben, weitere 65 wurden schwer verletzt. Seit Mitte des Jahres 1952 stieg die Zahl der Abwanderungen rasant an.75 Unterschiedliche Statistiken belegen die Motive für die Ausreise ostdeutscher Bürger. Während die Menschen in den späten 1940er-Jahren die SBZ überwiegend aus familiären Gründen oder wegen ihrer NS-Vergangenheit verließen, wurde die Übersiedlung seit den 1950er-Jahren vor allem wirtschaftlich und politisch begründet.76 Weil das nach der Gründung der DDR 1949 einsetzende „unbeachtete Abwandern“ (Damian van Melis) für die SED in verschiedener Hinsicht ein immer größeres Problem darstellte,77 wurden im Laufe der 1950er-Jahre unterschiedliche Maßnahmen gegen die „Republikflucht“78 (ein ab 1953 amtlich verwendeter Begriff ) eingeleitet: Zum einen stützten sich Strafurteile auf bereits bestehende Vorschriften und Straftatbestände – so etwa auf die Kontrollratsdirektive Nr. 38 von 1946, die die „Strafverfolgung von Kriegsverbrechern“ regelte, sowie auf die Wirtschaftsverordnung oder das Handelsgesetz von 1948.79 Zum anderen wurde eine Reihe neuer Gesetze erlassen, wie die Verordnung zur „Sicherung von Vermögenswerten“ vom 17. Juli 1952, mit der privates Vermögen von DDR-Flüchtlingen eingezogen wer74 75 76 77

78 79

Zit. nach „Inhalt und Grenzen der Staatsgewalt“, abgedruckt in: Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, mit einer Einleitung von Karl Steinhoff, Berlin 1949, S. 18f. Melis, „Republikflucht“, S. 37. Vgl. Diedrich, Die Grenzpolizei der SBZ/DDR, S. 207. Aufgrund der ideologisch motivierten Politik gegen Wissenschaftler, Mediziner und Ingenieure verließen insbesondere ausgebildete Fachkräfte den „Arbeiter-und Bauernstaat“. Bereits im November 1951 notierte Wilhelm Pieck während einer Besprechung mit Vertretern der SKK: „Intelligenz – Flucht in den Westen. Angst vor Verhaftung. Maßnahmen zum Verbleiben.“ Zit. nach: Rolf Badstübner/Wilfried Loth (Hg.), Wilhelm Pieck. Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945–1953, Berlin 1994, S. 379f. Melis, „Republikflucht“, S. 37. Grandhagen, Von der Grenzpolizei zu den Grenztruppen, S. 60.

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

den konnte. Mit der Einführung des DDR-Passgesetzes am 15. September 1954 wurde die „Republikflucht“ schließlich zum ersten Mal strafrechtlich sanktioniert. Mit dem Strafrechtsergänzungsgesetz (StEG) kam es am 11. Dezember 1957 zu einer Verschärfung des bestehenden DDR-Passgesetzes. Im Paragraph 8 heißt es dort wörtlich: Wer ohne erforderliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik nach dem Ausland verläßt oder betritt oder wer ihm vorgeschriebene Reiseziele, Reisewege oder Reisefristen oder sonstige Beschränkungen der Reise oder des Aufenthalts hierbei nicht einhält, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. Vorbereitung und Versuch sind strafbar.80

In Paragraph 21 heißt es weiterhin: „Wer es unternimmt, eine Person […] zum Verlassen der Deutschen Demokratischen Republik zu verleiten, wird mit Zuchthaus bestraft; auf Vermögenseinziehung kann erkannt werden.“81 Als „Republikflüchtlinge“ wurden also von Anfang an nicht nur diejenigen bezeichnet, die über die innerdeutsche Grenze flohen, sondern auch diejenigen, die über die Grenzen der sozialistischen „Bruderländer“ flüchteten. In der Reihe der neu gefassten Beschlüsse gegen Flucht und Abwanderung stellt die Einführung des Strafrechtsergänzungsgesetzes einen vorläufigen Höhepunkt dar.82 Während Paragraph 8 auch die Fluchthelfer kriminalisierte, konnte mit Paragraph 21 gegen sämtliche bei den Fluchtvorhaben beteiligte Personen vorgegangen werden. Aufgrund der neuen Gesetzeslage wurden in der Zeit zwischen 1958 und 1961 weit mehr als 10.000 DDR-Bürger verurteilt.83 Seit 1956 regelte die SED-Führung ebenso die Rückführung der über die Ostgrenzen geflüchteten Personen. Am 11. September 1956 wurde zwischen der DDR und der Tschechoslowakei der Vertrag über den „Rechtsverkehr in Zivil-, Familienund Strafsachen“ geschlossen. Nach Art. 58 dieses Abkommens verpflichteten sich die beiden Staaten, „Personen auszuliefern, gegen die ein Strafverfahren oder eine Strafvollstreckung durchgeführt werden soll“.84 Ebenso wurde zwischen der DDR

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„Gesetz zur Änderung des Passgesetzes der Deutschen Demokratischen Republik vom 11. Dezember 1957“, abgedruckt als Dok. Nr. 8 in: Melis, „Republikflucht“, S. 148f. Ebd. Die DDR verstieß damit offiziell gegen die in Art. 1, Nr. 3 der UN-Charta vom 26. Juni 1945 verbriefte Erklärung über die „Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten“. Siehe hierzu Matthias Bath, Notwehr und Notstand bei der Flucht aus der DDR, Berlin 1988, S. 17. Ebd., S. 36. „Gesetzblatt II/11/18. Gesetz über den Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Tschechoslowakischen Republik vom 11. September 1956 über den Rechtsverkehr in Zivil-, Familien- und Strafsachen. BStU, ZA, MfS, HA IX, 13119, Bl. 65.

Die Abwanderung wird zum Problem

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und Polen am 1. Februar 1957 ein Rechtshilfevertrag abgeschlossen,85 der ähnliche Inhalte aufwies wie das Rechtshilfeabkommen zwischen der DDR und der Tschechoslowakei. Auch die Ausreisebestimmungen im Nachbarland Polen dienten vorrangig dem Ziel, die Bürger nicht aus dem Land zu lassen. Zwar durften polnische Staatsbürger offiziell auswandern, doch widersprach dies der Praxis der seit Kriegsende bestehenden Grundsätze staatlicher Politik. Um einerseits einen Massenexodus zu verhindern und andererseits die staatlichen Kassen aufzufüllen,86 wurden 1950 die Gebühren für die Vergabe eines einfachen Passes auf 5.000 Złoty und eines Passes für Emigranten auf 20.000 Złoty erhöht, was dem 43-Fachen eines damaligen durchschnittlichen Monatsgehalts entsprach.87 1951 betrug die Zahl der Auslandsreisen auf Grundlage eines Passes 9.360; lediglich 1.980 Personen davon wurde eine Westreise gestattet. 1954 waren es nur noch 1.681 Personen, die die Genehmigung für eine Auslandsreise erhielten – von diesen durften schließlich nur noch 52 in das kapitalistische Ausland reisen. Nach der Rechnung des Historikers Dariusz Stola war es in Polen bis Mitte der 1950er-Jahre sogar leichter ein Ministeramt zu bekleiden als Emigrant zu werden, verfügte der Ministerrat doch über 40 Mitglieder, dem noch eine Reihe weiterer Vizeminister angehörten.88 Für polnische Antragsteller von Besuchs- bzw. Verwandtenreisen in die DDR war die Ausreise durch den polnischen Sicherheitsdienst besonders streng reglementiert. So wurden sie nach der positiven Entscheidung über den Antrag von der Passbehörde für Auslandsreisen (Biuro Paszportów Zagranicznych, BPZ) informiert, dass ein Reisevisum für die DDR vorliege. Erst dieses Visum berechtigte den Antragsteller zur Abholung des für die Reise notwendigen Reisepasses in der Passbehörde.89 In den zuständigen Passbehörden für Auslandsreisen wurden alle Reisepässe polnischer Bürger für die Zeit aufbewahrt, in der sich die Reisenden nicht im Ausland aufhielten. Ohne einen Reisepass war eine Auslandsreise also unmöglich. Die Regelung der Reisepassbestimmungen war damit anders als in der DDR, wo man für eine geplante Auslandsreise den Personalausweis gemeinsam mit dem Visum bei den Behörden vorzuzeigen hatte. Während in der DDR 85

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Vgl. Monika Tantzscher, Die verlängerte Mauer. Die Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste der Warschauer-Pakt-Staaten bei der Verhinderung von „Republikflucht“ (Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatsicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Reihe B, Analysen und Berichte Nr. 1/1998), Berlin 1998, S. 57. Hierzu Stola, Das kommunistische Polen, S. 3. Vgl. „Zarządzenie Ministra Spraw Zagranicznych o wprowadzeniu nowych wzorów paszportów“ [Anordnung des Außenministers über die Einführung neuer Pässe] vom 1. Juli 1950, in: Monitor Polski 79 (1950), S. 919. Vgl. Stola, Das kommunistische Polen, S. 3. MSZ, Z-10, W-43, T-347: „MBP“ an „polnisches Außenministerium“, 6. November 1954.

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

Reisepässe nur politischen Eliten, Diplomaten usw. ausgestellt wurden, trugen DDR-Bürger in der Regel ihren Personalausweis mit sich. 3.6 Mythos und Realität: Die Grenzanlagen zwischen den „Bruderländern“ Als Walter Ulbricht auf dem V. Parteitag der SED im Juli 1958 die „zehn Gebote für den neuen sozialistischen Menschen“ verkündete, forderte er gleich im ersten Gebot die Solidarität der DDR-Bürger mit dem „sozialistischen Lager“: „Du sollst dich stets für die internationale Solidarität der Arbeiterklasse und aller Werktätigen sowie für die unverbrüchliche Verbundenheit aller sozialistischen Länder einsetzen.“90 Auf den ersten Blick muss es daher als Widerspruch erscheinen, wenn die DDR im Sinne des „sozialistischen Internationalismus“ gegen Ende der 1950er-Jahre trotz aller Freundschaftsbekundungen gegenüber den benachbarten „Bruderländern“ Polen und der Tschechoslowakei die Überwachung ihrer Grenzen im Osten des Landes durch ein Netz Inoffizieller Mitarbeiter verstärkte. Doch anders als noch Ende der 1940er- oder Anfang der 1950er-Jahre galt das Misstrauen Anfang der 1960erJahre weniger den sozialistischen Brüdern. Die Gefahr ging aus Sicht des MfS von westlichen Agenten aus. In einer Richtlinie über die Aufgaben der Hauptabteilung VII91 des Ministeriums für Staatssicherheit vom 7. November 1960 lässt sich nachlesen: „Dementsprechend ist es unsere Aufgabe, die Grenze zur Volksrepublik Polen und zur Tschechoslowakei so abzusichern, daß es dem Klassengegner nicht gelingt, sich dort Stützpunkte aufzubauen, und daß seine vorhandenen Schleusen aufgeklärt und zerschlagen werden.“92 Laut einem Bericht der Hauptabteilung VII des MfS waren die Grenzbefestigungen in bestimmten Abschnitten an der OderNeiße-Grenze Anfang der 1960er-Jahre relativ schwach ausgebaut: Das Grenzgebiet an der Staatsgrenze Ost muß gegenüber der Staatsgrenze West anders eingeschätzt werden. So ist hier nicht die 5 km und die 500 m Sperrzone vorhanden. Ebenfalls fehlt hier der 10 m-Streifen. Die pioniertechnische Absicherung ist hier nicht so ausgebaut, weil es ja die Grenze zu befreundeten Nationen ist. Da aber der Gegner sich diese zunutze macht, ist es unsere Aufgabe als Sicherheitsorgan, die Grenze durch besonders gute Arbeit […] genauso abzusichern, wie die anderen Grenzen unserer Republik.93 90 91 92 93

Zit. nach: Ulrich Mählert, Kleine Geschichte der DDR, München 6. überarb. Aufl. 2009, S. 88. Die Hauptabteilung (HA) VII des MfS hatte vor allem die Sicherung und Abschirmung des Ministeriums des Innern (MdI) zur Aufgabe. BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, KD Sebnitz, 2052, Bl. 113: „Richtlinie über die Aufgaben der Hauptabteilung VII/2 und VII in den Kreisdienststellen zur Bearbeitung der Staatsgrenze Ost“ der DDR, 7. November 1960. Ebd.

Mythos und Realität: Die Grenzanlagen

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Der eher schwache Ausbau der Grenzanlagen von ostdeutscher Seite zu Anfang der 1960er-Jahre wurde auch für den Bezirk Karl-Marx-Stadt an der Grenze zur Tschechoslowakei bestätigt: Auf Initiative der Grenzpolizei sollte in diesem Abschnitt auf den vorhandenen Grenzzaun erstmals im Mai 1960 zusätzlicher Stacheldraht gezogen werden.94 Um Mängel in den Grenzsicherungsanlagen gegenüber Polen und der Tschechoslowakei auszugleichen, nahm das MfS bereits seit Mitte der 1950er-Jahre die in den Grenzgebieten lebende Bevölkerung verstärkt ins Visier. So wurde in einem Beschluss für das Anlegen eines „Objektvorgangs“ vom 16. Februar 1954 angeordnet, den Kreis Sebnitz an der Grenze zur Tschechoslowakei in „operativen Vorgängen“ intensiver zu überwachen. „Es ist bekannt“, so heißt es in dem Beschluss, „dass gerade dieses Stück Grenze von den feindlichen Geheimdiensten benutzt wird, seine Agenten von Westberlin nach der Tschechoslowakei zu schleusen“.95 Um bestimmte Personenkreise einzugrenzen sowie die „Rückverbindungen“ übergesiedelter oder geflüchteter DDR-Bürger aufzuklären, wurde die Grenzbevölkerung nach einem Aktenplan in Personenkreise eingeteilt: Auf Umsiedler, ehemals Inhaftierte, Personen mit Westverbindungen und „Schleuser“, ehemalige Wehrmachtsoffiziere und NSDAP-Mitglieder wurden in den Folgejahren Inoffizielle Mitarbeiter (IM) angesetzt.96 Bis Anfang der 1960er-Jahre hatte sich der „Einsatz geeigneter IM zur Unterdrückung des grenzüberschreitenden Personen- und Informationstransfers“ in den Grenzgebieten zu Polen und der Tschechoslowakei weiter erhöht: „Das Netz der IM muß so dicht sein“, so die Richtlinie der Hauptabteilung VII über die Aufgaben der Staatsgrenze Ost, „daß wir über alle Vorkommnisse im Grenzbereich informiert sind. […] Geeignete Personen sind Förster, Bauern, Bergsteiger, Flußmeister, in den Dörfern Postangestellte, Kaufleute, Handwerker usw.“97 Nach einer Verordnung vom 21. Juni 1962 sowie einer Anordnung über die „Maßnahmen zur Sicherung und zum Schutze des Küstengebiets“ der DDR vom 10. Juli 1962 wurde das System der Sperrzone nach dem Beispiel der innerdeutschen Grenze auch auf das Küstengebiet an der Ostsee übertragen. Fortan gab es einen Schutzstrei94 95 96 97

BStU, ASt. Chemnitz, CAKG-475, Pl. 111/60, Bl. 1f.: Informationen an den 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung, „Stacheldraht an der Staatsgrenze DDR-ČSR im Raum Annaberg“, 20. Mai 1960. BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, KD Sebnitz, 2052, Bl. 129–134: Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Ministerium des Inneren, Staatssekretariat für Staatssicherheit. „Beschluß für das Anlegen eines Objektvorganges im Kreis Sebnitz“, 16. Februar 1954. Ebd., Bl. 134. BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, KD Sebnitz, 2052, Bl. 115: „Richtlinie über die Aufgaben der Hauptabteilung VII/2 und VII in den Kreisdienststellen zur Bearbeitung der Staatsgrenze Ost der DDR, 7. November 1960.

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

fen in einer Breite von 500 Metern sowie eine fünf Kilometer breite Sperrzone. Badegästen war der Aufenthalt im Meer nicht weiter als 150 Meter von der Küste entfernt gestattet, und dies nur während der Badesaison und in festgelegten Abschnitten.98 Wie aber waren die Grenzanlagen der Nachbarländer Polen und Tschechoslowakei zur DDR beschaffen? Die auf tschechoslowakischer Seite überwachte Grenze zur DDR wurde seit den frühen 1950er-Jahren zu einer mehrstufigen Grenzsicherungsanlage ausgebaut. Als Voraussetzung für den technischen Ausbau musste in den Waldgebieten entlang der Grenze zur DDR seit dem Frühjahr 1951 zunächst eine bis zu 18 Meter breite Schneise geschlagen und sämtliche Bäume gefällt werden. Nachdem die grobflächige Abtragung des Waldbestands 1952 beendet worden war, entstand ein entsprechend breiter geharkter und gepflügter Kontrollstreifen. Dieser wurde zunächst an denjenigen Abschnitten angelegt, die für „Grenzübertreter“ gemeinhin als leicht zu überwinden galten. Aufgrund der nur schwer zugänglichen Sumpfstellen und Morastgebiete an der Staatsgrenze zur DDR gelang es den Behörden jedoch nicht, den Kontrollstreifen durchgehend auszubauen. Er wurde dann von einer dreigliedrigen Stacheldrahtbefestigung eingezäunt, wobei die beiden äußeren Zäune 2,20 Meter, der innere Zaun 2,80 Meter hoch waren. Die in einem Abstand von 1,50 Meter aufgestellten Zäune waren in der Regel mit Berührungsfühlern und Signalanlagen versehen. Elektrisch geladene Zäune gab es an den Ostgrenzen der DDR nach bisherigen Erkenntnissen keine. Um die Gefahr eines Durchschlüpfens unter der Zaunanlage zu verhindern, wurde auch der Boden mit zusätzlichem Stacheldraht überzogen. Vor dem Hintergrund der außenpolitischen Annäherung und Normalisierung der offiziellen Beziehungen zwischen der Tschechoslowakei und der DDR kam es zu einer Entschärfung der Grenzbefestigungen. Seit der zweiten Hälfte der 1950erJahre wurde die dreigliedrige Zaunanlage in bestimmten Abschnitten wie dem Grenzabschnitt Vojtanov-Schönberg im böhmischen Vogtland durch einen eingliedrigen Stacheldrahtzaun ersetzt. Entlang der Zaunanlage waren im Vogtland bis zur Mitte der 1950er-Jahre im Abstand von 1,2 Kilometern speziell konstruierte Wachtürme erbaut worden. Das Grenzgebiet schloss einen zwei Kilometer breiten Schutzstreifen sowie eine bis zu zehn Kilometer breite Sperrzone mit ein.99 98 99

Vgl. Gottfried Zieger, Das neue Gesetz über die Staatsgrenze der DDR, in: Recht in Ost und West, Zeitschrift für Rechtsvergleichung und innerdeutsche Rechtsprobleme 27 (1983), S. 1–12, hier S. 5. Interview Pavel Vaněk; siehe hierzu weiterhin Pavel Vaněk, K vývoji ženijnětechnického zabezpečení státní hranice v letech 1951–1955 [Zur Entwicklung der Grenzbefestigungsanlage an der Staatsgrenze in den Jahren 1951–1955], in: Sborník Archivu Ministerstva Vnitra. Odbor Archivní a spisové služby Ministerstva Vnitra ČR [Bestand des Ministeriums des Innern. Archiv- und Schriftgutverwaltung des Ministeriums des Innern der Tschechoslowakei], Prag 2004, S. 183–230.

Mythos und Realität: Die Grenzanlagen

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Im Falle Polens war die Grenze entlang der Oder und Neiße in den 1950er-Jahren die mit Abstand am stärksten gesicherte Landesgrenze. Auf einer Länge von 460 Kilometern wurden 470 Kilometer Stacheldraht sowie 316 Wachtürme errichtet (im Durchschnitt etwa alle 1,5 Kilometer), die einen freien Blick über die in der Flussmitte der Oder und Neiße verlaufende Staatsgrenze zur DDR boten. Im gleichen Abstand befestigte man die Ostseeküste mit Wachtürmen. Hinter dem Stacheldraht verlief ein 10 Meter breiter gerodeter und geharkter Kontrollstreifen. Zum einen scheint es, als bedurfte die Oder-Neiße-Grenze als Symbol und Garant für die „wiedergewonnenen Gebiete“ eines besonderen Schutzes. Zum anderen sollten durch eine verstärkte Grenzsicherung Fluchtversuche polnischer Bürger über die DDR in den Westen – über die offenen Sektorengrenzen nach West-Berlin – verhindert werden. Sämtliche Fluchtversuche wurden daher rigoros verfolgt: Im Oktober 1953 versuchten zwei Personen, mit einem selbstgebauten Schlauchboot über die dänische Ostseeinsel Bornholm in den Westen zu entkommen. Um die Flüchtenden aufzuhalten, wurde von polnischer Seite ein Aufgebot von 116 Grenzsoldaten, acht Flugzeugen (darunter fünf sowjetischen), 16 Fischerbooten, einem Hafenpilotboot, vier Autos und zwei Hunden gestellt. Erst durch eine in internationalen Gewässern eingerichtete Blockade vor Bornholm konnten die Flüchtlinge gestoppt werden. Tatsächlich schienen der Aufwand der polnischen Sicherheitsorgane und der Ausbau der Grenzanlagen mit der Zeit die erwünschten Ergebnisse zu bringen. Die Erfolgsquote bei Verfolgungen von Flüchtigen stieg nach offiziellen Angaben von rund 50 Prozent im Jahr 1951 auf etwa 85 Prozent im Jahr 1954. An der Grenze zur DDR wurden 1954 sogar 97 Prozent derjenigen Personen gefasst, deren Fluchtversuch festgestellt worden war.100 Zumindest bis zur Mitte der 1950er-Jahre wies die Westgrenze Polens große Ähnlichkeiten mit dem ostdeutschen Grenzsicherungssystem an der innerdeutschen Grenze auf. Anfang der 1960er-Jahre wurden die Zaunanlagen von polnischer Seite an der Grenze zur „befreundeten“ DDR jedoch allmählich abgebaut. Aus Sicht der polnischen Behörden stellte die DDR nach dem 13. August 1961 als Fluchtterritorium keine größere Gefahr mehr dar, gab es doch nach dem Mauerbau nahezu keinerlei Möglichkeiten mehr für polnische Bürger, über die hermetisch abgeriegelten innerdeutschen Grenzen in den Westen zu flüchten. Festzuhalten bleibt, dass in den gesamten 1950er-Jahren die Grenzanlagen der DDR zu Polen und der Tschechoslowakei von ostdeutscher Seite wesentlich schwächer ausgebaut waren als von Seiten der benachbarten „Bruderländer“. Für die DDR galt, dass sie als westlicher Vorposten des „sozialistischen Lagers“ alle Kräfte zu mobilisieren hatte, um an den innerdeutschen Grenzen eine erhöhte militärische Präsenz aufzubauen. Obwohl die militärische Sicherung und Abriegelung der Westgrenzen Vorrang hatte, wurde die Überwachung der Ostgrenzen nicht vernachläs100 Vgl. Stola, Das kommunistische Polen, S. 4.

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Annäherung und Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ (1949–1961)

sigt. Um die angeblich in den Grenzgebieten zu Polen und der Tschechoslowakei drohende Gefahr „imperialistischer“ Angriffe abzuwenden, erfolgte eine verstärkte Überwachung der Ostgrenzen sowohl durch den Einsatz von Grenzsoldaten als auch durch Inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit. Fluchten von DDR-Bürgern über die Ostgrenzen spielten für die Sicherheitsorgane der DDR in den 1950erJahren noch keine bedeutende Rolle. Die meisten DDR-Bürger konnten in dieser Dekade ihr Land über die innerdeutsche Grenze oder die noch offenen Sektorengrenzen in Richtung West-Berlin verlassen. Für Polen und die Tschechoslowakei galt wiederum, dass sie bis zum Mauerbau im August 1961 wesentlich größere Kräfte mobilisierten, um Fluchtversuche ihrer Bürger über die noch durchlässige DDR zu verhindern. Um dieses Problem in den Griff zu bekommen und Fluchten nach Möglichkeit zu vereiteln, betrieben die polnischen und tschechoslowakischen Sicherheitsorgane eine erhöhte Grenzsicherung und bauten die Grenzanlagen zur DDR stark aus. Auf diese Weise blieben die „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ ähnlich wie in den 1940er- auch in den 1950er-Jahren nahezu hermetisch abgeriegelt.

10 Versuch von zwei Tschechoslowaken vor dem Bau der Berliner Mauer im Mai 1960 bei Mikulášovice (Nixdorf), mit einer selbst gebauten Leiter, die eingliedrige Grenzzaunanlage zur DDR zu überwinden, um in den Westen zu fliehen. Der tschechoslowakische Sicherheitsdienst stellte den Fluchtversuch nach.

4. Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit bei der Überwachung der Ostgrenzen der DDR in Zeiten der Konsolidierung (1961–1972) 4.1 Das „nördliche Dreieck“ nach dem Mauerbau und die Anfänge des Tourismus Der Bau der Berliner Mauer im August 1961 zementierte die Teilung Europas und der Welt in zwei militärische Machtblöcke – er veränderte aber gleichzeitig auch die Beziehungen zwischen den benachbarten „Bruderländern“ DDR, Polen und der Tschechoslowakei. Seit ihrer Gründung kam der DDR innerhalb des „nördlichen Dreiecks“ (Beate Ihme-Tuchel) aufgrund ihrer besonderen geopolitischen Lage am Westrand des Ostblocks eine große Bedeutung zu, die sich nicht nur nach dem Westen, sondern auch nach dem Osten hin auswirkte: Im militärischen Sinne fungierte die DDR gegenüber dem Westen als eine Art Pufferzone des „sozialistischen Lagers“ – gegenüber der westlichen NATO diente sie als Aufmarschgebiet der sowjetischen Armee und des Warschauer Pakts. Darüber hinaus verstand sich die DDR als „Schaufenster des Ostens“; nach Ansicht der SED sollte sie wirtschaftlich so stark werden, dass die „werktätigen Massen“ der Bundesrepublik von diesem Modell schnell überzeugt sein würden und somit die deutsche Einheit unter kommunistischen Vorzeichen bald erreicht wäre.1 Gegenüber dem Osten – insbesondere ihren sozialistischen Nachbarländern Polen und der Tschechoslowakei – wirkte die DDR dagegen wie ein Sperrriegel, durch den die Verbindungswege der benachbarten „Bruderländer“ zum Westen abgeschnitten werden konnten.2 Diese Klammer-Funktion wurde vor allem in Krisenzeiten des Sozialismus wie dem „Polnischen Oktober“ 1956 oder dem „Prager Frühling“ 1968 offenkundig. Dabei konnte sich Moskau auf die besondere Bündnistreue der DDR stets verlassen. Weil sie mit der Teilung Deutschlands ihre staatliche Existenz in erster Linie dem Sowjetblock verdankte, blieb die DDR im „nördlichen Dreieck“ stets der einzige verlässliche Partner für die UdSSR.3 Grundsätzlich unterstützte die kommunistische Führung der Tschechoslowakei politisch und propagandistisch den Bau der Berliner Mauer. Auch akzeptierte sie 1 2

3

Ihme-Tuchel, Das ‚nördliche Dreieck‘, S. 10f. Hierzu Melvin Croan, Entwicklung der politischen Beziehungen zur Sowjetunion seit 1955, in: Hans-Adolf Jacobsen/Gert Leptin/Ulrich Scheuner/Eberhard Schulz (Hg.), Drei Jahrzehnte Außenpolitik der DDR (Internationale Politik und Wirtschaft, Bd. 44), München u.a. 1979, S. 347–359. Vgl. Ihme-Tuchel, Das ‚nördliche Dreieck‘, S. 378.

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Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (1961–1972)

den Wunsch der SED-Führung nach dem 13. August 1961, die „unberechtigten Ausreisen von DDR-Bürgern in das kapitalistische Ausland“ zu unterbinden. Doch verringerten die Tschechoslowakei und Polen nach dem Mauerbau im Rahmen des RGW ihre wirtschaftliche Unterstützung gegenüber der DDR weiter. Mit dem Mauerbau schien sowohl der polnischen als auch der tschechoslowakischen Regierung eine reibungslose Entwicklung des „Arbeiter- und Bauernstaats“ zum Sozialismus gesichert. Die benachbarten „Bruderländer“ sahen in der DDR deshalb nur noch ein ganz „normales“ sozialistisches Land, das auch wirtschaftlich keine Sonderbehandlung mehr verdiente. Die Verhandlungen mit Polen und der Tschechoslowakei über wirtschaftliche Fragen brachten für die DDR daher auch nicht den gewünschten Erfolg. Dies war einer der Hauptgründe, warum die Kluft zwischen der offiziell bezeichneten „guten Zusammenarbeit“ und der Realität von schlecht funktionierenden Beziehungen zu den östlichen Nachbarn immer größer wurde.4 Um aber die Länder im „nördlichen Dreieck“ über die seit den späten 1950erJahren propagierte „Kampfgemeinschaft“ zumindest militärisch weiter an sich zu binden, erklärte die SED-Führung ein erhöhtes Bedrohungspotenzial über das Feindbild der remilitarisierten Bundesrepublik, die angeblich territoriale Ansprüche stelle, dabei die Westgrenzen Polens und der Tschechoslowakei nicht anerkennen und die DDR als Staat liquidieren wolle.5 In einer 1961 vom Staatsrat der DDR veröffentlichten Propagandaschrift heißt es: Gleichzeitig wird in Westdeutschland eine Revanchehetze gegen die DDR, gegen Polen, die ČSSR und nicht zuletzt auch gegen die Sowjetunion in einem Ausmaß betrieben, das nur mit der von Goebbels betriebenen Kriegshetze und der psychologischen Kriegsvorbereitung Hitlers verglichen werden kann. Die westdeutschen Militaristen [bedrohen] die Grenzen der DDR, der ČSSR und Polens […]. Die Bonner Regierung und ihre Hitler-Generäle wollen, daß die Deutsche Demokratische Republik zum Aufmarschgebiet der NATO gegen die sozialistischen Staaten wird.6

Seit Anfang der 1960er-Jahre konnte diese Drohkulisse aber weder die Tschechoslowakei noch Polen überzeugen. In einer 1962 formulierten Stellungnahme des Prager Außenministeriums zur deutsch-tschechoslowakischen Grenze wurde betont, dass diese Grenze niemals Gegenstand des Potsdamer Abkommens gewesen sei und 4 5 6

Ebd., S. 10f. Ebd., S. 11. Der Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik, Mit Friedenstaten für den Friedensvertrag – gegen Bonner Atomkriegspläne. Stellungnahmen von Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik und Rede des Vorsitzenden des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik, Walter Ulbricht, im VEB Kabelwerk, Oberspree (Schriftenreihe des Staatsrates der Deutschen Demokratischen Republik Nummer 14/1961), Berlin 1961, S. 31ff.

Das „nördliche Dreieck“ nach dem Mauerbau

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daher auch nicht mit der Oder-Neiße-Grenze zu Polen verglichen werden dürfe.7 Mit der Zurückweisung der SED-Propaganda distanzierte sich die Tschechoslowakei von der propagierten „Kampfgemeinschaft“ mit der DDR. Die völkerrechtliche Anerkennung der deutsch-tschechoslowakischen Grenze war für die Tschechoslowakei unbestreitbar. Nach Verhandlungen mit der Bundesrepublik wurde daraufhin das Münchner Abkommen von 1938 für rechtswidrig erklärt. Mit dem im Zuge der Neuen Ostpolitik Willy Brandts 1970 abgeschlossenen Warschauer Vertrag erkannte die Bundesrepublik auch die Oder-Neiße-Grenze als Westgrenze Polens offiziell an – spätestens mit der deutlichen Zunahme internationaler Entspannung hatte das Gebot einer verstärkten politischen Zusammenarbeit innerhalb des „nördlichen Dreiecks“ aufgrund der angeblichen Bedrohung durch die Bundesrepublik nun vollends seine Überzeugungskraft verloren.8 Auf der anderen Seite forcierten die Länder des „nördlichen Dreiecks“ seit Anfang der 1960er-Jahre die Zusammenarbeit im Tourismus. Nachdem mit dem Bau der Berliner Mauer 1961 das Reisen in den Westen aufgrund der hermetisch abgeriegelten Grenze zur Bundesrepublik nahezu unmöglich geworden war, versuchte die DDR einen Ausgleich zu schaffen. Im Sommer 1962 begannen in Prag Verhandlungen zwischen den Außenministerien der DDR und der Tschechoslowakei über eine Erweiterung des Touristenverkehrs. Grundsätzlich sollten DDR-Bürger fortan zumindest für wenige Urlaubswochen im Jahr in die Tschechoslowakei reisen dürfen. Nach Ansicht der SED hatte das Reisen in das „sozialistische Ausland“ vor allem zwei Funktionen zu erfüllen: Insbesondere die organisierten Ferienreisen über staatliche Reisebüros sollten die Propaganda und den ideologischen Einfluss auf die Bevölkerung auch in der arbeits- und schulfreien Zeit sicherstellen. Zum anderen galt es, durch das Reisen das „Zusammengehörigkeitsgefühl zu den Völkern des sozialistischen Lagers“ zu stärken.9 Während 1960 63.600 DDR-Bürger die Tschechoslowakei besucht hatten, stieg ihre Zahl 1963 um mehr als das Doppelte auf 132.500. Demgegenüber erhöhte sich die Zahl der tschechoslowakischen Touristen in der DDR im gleichen Zeitraum von 45.800 um etwa ein Drittel auf 64.300. Die Reisen waren zunächst nur für bestimmte grenznahe Gebiete gestattet. Mit Ausnahme der Hauptstadt Prag durfte man in der Tschechoslowakei lediglich die westböhmischen Bäder, in der DDR nur die Bezirke Dresden und Erfurt berei7 8 9

Vgl. Beate Ihme-Tuchel, Von der „Kampfgemeinschaft“ zur Entfremdung. Die DDR und die Tschechoslowakei in den frühen sechziger Jahren, in: WeltTrends (Zeitschrift für internationale Politik und vergleichende Studien) 6 (1998), H. 19, S. 27–48, hier S. 35. In der Tschechoslowakei gab es zu dieser Zeit auch erste Tendenzen der Entstalinisierung und der kulturellen Öffnung des Landes. Vgl. Ihme-Tuchel, Das ‚nördliche Dreieck‘, S. 11. Hierzu Wolfgang Schwarz, Brüderlich entzweit. Die Beziehungen zwischen der DDR und der ČSSR 1961–1968 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Bd. 97), München 2004, S. 197f.

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Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (1961–1972)

sen. Nachdem 1964/65 die Besucherzahlen weiter angestiegen waren (1964 kamen bereits über 330.000 DDR-Bürger in die ČSSR), wurden auf Seiten der DDR Karl-Marx-Stadt, Gera und Cottbus, auf Seiten der Tschechoslowakei Pilsen sowie das Riesen-, Erz- und Isergebirge als mögliche Reiseziele mit einbezogen. Darüber hinaus war es ab 1965 Kurzzeit-Besuchern erlaubt, ihren Aufenthalt von zwei auf sechs Tage zu verlängern.10 Auf ähnliche Weise wurden seit 1963 auch zwischen der DDR und Polen Reiseerleichterungen eingeführt. Genauso wie für die Tschechoslowakei benötigten die privat nach Polen reisenden DDR-Bürger zunächst eine schriftliche Einladung eines Bekannten oder Verwandten, mit der in einem Volkspolizei-Kreisamt mehrere Wochen vor der Reise ein Visumantrag gestellt werden musste. Nicht immer wurde dieser Antrag genehmigt. DDR-Bürger konnten ganz Polen bereisen; die meisten fuhren aber vor allem nach Danzig, Warschau und Krakau, an die Masurische Seenplatte oder in die Hohe Tatra. Was den Umtausch der Landeswährungen anbelangt, so war die Ausfuhr von DDR-Mark in das „sozialistische Ausland“ grundsätzlich untersagt. Lediglich mit einer Bescheinigung der Deutschen Notenbank konnte ein offiziell festgelegter Betrag pro Person im Ausland gewechselt werden. In den Notenbank-Büros an den Grenzübergangsstellen zu Polen und der Tschechoslowakei waren DDR-Bürger außerdem gezwungen, bestimmte Beträge zu tauschen. Skurrilerweise hing der Satz dieser Beträge nicht nur von der Reisedauer, sondern auch vom Ausbildungsstand der Reisenden ab. Akademiker durften mehr Geld tauschen als Facharbeiter oder Angestellte ohne Hochschulabschluss. In der DDR stand jedoch in vielen Fällen Nicht-Akademikern mehr Geld zur Verfügung. Im Vorfeld der Auslandsreisen schloss man daher sogenannte Fahrgemeinschaften, in denen die Akademiker für Nicht-Akademiker an der Grenze Geld umtauschten; die finanziell nicht so gut bestellten Akademiker konnten ihr Umtausch-Kontingent in vielen Fällen ohnehin nie ganz ausnutzen.11 Als Musterschüler im Sowjetblock verfolgte die DDR auch die 1963 zwischen der Tschechoslowakei und der Bundesrepublik beschlossenen Reiseerleichterungen für bundesdeutsche Touristen besonders misstrauisch. Von Seiten der SED-Führung wurde dadurch zum einen eine „Infiltrierung“ der eigenen Touristen und der tschechoslowakischen Bevölkerung mit „liberalistischem Gedankengut“ befürchtet.12 Zum anderen sah sie die Gefahr einer Zunahme von „Republikflucht“ von DDRBürgern über die Länder des Ostblocks. Allein die vom tschechoslowakischen Reisebüro ČEDOK vermittelten Reisen für westdeutsche Touristen stiegen von 5.300 im Jahr 1963 auf rund 20.000 im Jahr 1964 an. 1965 waren es 31.000 und im Folge10 11 12

Ebd. Interview Thomas Gabrio. Schwarz, Brüderlich entzweit, S. 201.

Passkontrolle und Fahndung

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jahr bereits etwa 45.000 Bundesbürger, die zumeist über die Grenzübergangsstellen Schirnding und Waidhaus in die ČSSR einreisten. Die Tschechoslowakei sah darin in erster Linie Vorteile für das eigene Inlandswachstum. Nach Informationen der DDR-Botschaft in Prag stiegen die Deviseneinnahmen durch Besucher aus kapitalistischen Staaten von rund 35 Millionen Kronen im Jahr 1963 auf etwa 143 Millionen Kronen im Jahr 1966 an. Während sich diese Tendenz im Folgejahr fortsetzte,13 fand sie während der Unruhen des „Prager Frühlings“ 1968 einen jähen Einbruch. 4.2 Passkontrolle und Fahndung – die Anfänge des MfS im Grenzregime der DDR Nach der hermetischen Abriegelung der innerdeutschen Grenze bzw. dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 leitete das Politbüro der SED umfangreiche Maßnahmen zur weiteren Grenzsicherung ein. Die Deutsche Grenzpolizei wurde aus dem MdI ausgegliedert; als Grenztruppen der DDR und Teil der NVA war sie nun dem Ministerium für Nationale Verteidigung (MfNV) unterstellt.14 Abteilungskommandeure der Grenztruppen hatten das „Zusammenwirken“ zwischen den Kompanien an der Grenzlinie, den Einheiten der NVA, der Volkspolizei sowie zwischen den Kräften des MfS zu organisieren. Gemeinsam mit den Mitarbeitern des Amts für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs (AZKW) waren die Grenztruppen für die Kontrolle und Abfertigung des Reise- und Touristenverkehrs an den Grenzübergängen der DDR zuständig. Die Passkontrolle an den Grenzübergangsstellen zu Polen und der Tschechoslowakei lag damit nach dem Mauerbau zunächst in den Händen der Grenztruppen bzw. der NVA.15 Im Sommer 1961 begann das MfS zunehmend auf das Grenzregime der DDR Einfluss zu nehmen. In erster Linie hing die Neuausrichtung mit dem Bau der Berliner Mauer, dem neuen Reiseverhalten der DDR-Bürger in Richtung der sozialistischen „Bruderländer“ sowie mit den sich daraus ergebenden Fluchtmöglichkeiten über den Ostblock in den Westen zusammen. Weil die Verhinderung von Fluchtversuchen über den weiträumigen Ostblock ein wesentlich komplexeres Unterfangen darstellte als jenes über die innerdeutschen Grenzen, lag es nahe, diese Aufgabe 13 14 15

Ebd., S. 200–203. Vgl. Monika Tantzscher, Hauptabteilung VI. Grenzkontrollen, Reise- und Touristenverkehr (Anatomie der Staatssicherheit, Geschichte, Struktur und Methoden, MfS-Handbuch Berlin: Bundesbeauftragte für die Unterlagen der Staatssicherheit), Berlin 2005, S. 45. Hans-Dieter Behrendt, Die Grenzübergangsstellen im System der DDR-Grenzsicherung, in: Vom Mauerbau zum Mauerfall – Der Zoll und die Paßkontrolle im System der DDRGrenzsicherung, hrsg. v. Brandenburger Verein für politische Bildung „Rosa Luxemburg“ e.V., Potsdam 1999, S. 57.

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Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (1961–1972)

sukzessiv einem professionalisierten Geheimdienst zu übertragen, hätte doch eine vom Militär betriebene hermetische Abriegelung der Grenzen zu den sozialistischen Nachbarländern dem politischen Mythos der „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ widersprochen. Die Frage, warum das MfS nicht schon in den 1950er-Jahren in einen solch wichtigen Verantwortungsbereich wie die Grenzsicherung der DDR stärker einbezogen wurde, ist nicht leicht zu beantworten. Ein wesentlicher Grund bestand wohl darin, dass sich die Staatssicherheit in dieser Dekade nicht immer als vertrauensvolles und schlagkräftiges Instrument zur Sicherung und Durchsetzung des Machtanspruchs der SED erwiesen hatte. Insbesondere durch die Ereignisse um den 17. Juni 1953 war das Vertrauen der Parteispitze in das Sicherheitsorgan geschrumpft. Mit der im November 1957 erfolgten Berufung von Erich Mielke zum neuen Minister für Staatssicherheit erfuhr das MfS jedoch eine Konsolidierung und übernahm schon bald die unbestrittene Führungsrolle in der Hierarchie der machtsichernden Organe.16 Im Herbst 1961 wurde als weitere Maßnahme zur Grenzsicherung in der Hauptabteilung VII des MfS das Referat Fahndung gebildet. Dieses zunächst für die Berliner Stadtgrenzen verantwortliche Referat baute seinen Wirkungsbereich schon bald aus – in den Bezirksverwaltungen Potsdam, Magdeburg, Halle, Gera, Erfurt und Schwerin entstanden weitere „Fahndungsstützpunkte“. Die Mitarbeiter der Fahndungsgruppen waren getarnt und traten in Uniformen der Volkspolizei auf. In Zusammenarbeit mit den Angehörigen der Grenztruppen, der Volkspolizei und des Zolls sollten sie Fluchtversuche verhindern und die Grenzübergänge sichern. Während die Fahndungsbeauftragten zu Anfang noch mit Hilfe des Fahndungsbuchs des MdI arbeiteten, führten sie bald eigene Fahndungen auf Grundlage neu angelegter Karteien durch. Der Schwerpunkt ihrer Tätigkeit verlagerte sich dabei zunehmend von ausgeführten Festnahmen an Grenzübergangsstellen hin zu Fahndungen zur Durchführung von Reisesperren und operativen Kontroll- und Überwachungsmaßnahmen. Gleichzeitig wurden die Möglichkeiten der „operativen Fahndung“ ausgebaut und die „Fahndungsmaßnahmeschlüssel“ erweitert.17 Noch im Laufe des Jahres 1961 sicherte sich das MfS weitere für die Grenzüberwachung relevante Arbeitsbereiche. So wurde die ehemalige Hauptabteilung Aufklärung bei der Deutschen Grenzpolizei zur HA I des MfS. Diese hatte die Auf16

17

Vgl. Frank Petzold, Der Einfluß des MfS auf das DDR-Grenzregime an der innerdeutschen Grenze. Anmerkungen zur Rolle des MfS bei der Errichtung des DDR-Grenzregimes, in: Lothar Mertens/Dieter Voigt (Hg.), Opfer und Täter im SED-Staat (Schriftenreihe der Gesellschaft für Deutschlandforschung, Bd. 58), Berlin 1998, S. 135–168, hier S. 152. Anders als für die „allgemeine Fahndung“ war für die „operative Fahndung“ charakteristisch, dass sie im Zusammenspiel mit anderen Staatsorganen organisiert wurde. Vgl. Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 46f., 58.

Passkontrolle und Fahndung

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gabe, die Einheiten der NVA und Grenztruppen zu überwachen bzw. systematisch auszuhorchen. Ferner begann die Zollverwaltung damit, die Passkontrolle an den Grenzübergängen an das MfS abzutreten – zum Ende des Jahres wechselten 427 ausgewählte Zöllner zur Staatssicherheit. Zum 1. Juli 1962 wurden die Passkontrollkräfte der Grenztruppen dem MfS operativ unterstellt. An den Grenzübergangsstellen blieb die Staatssicherheit weiterhin getarnt – im Gegensatz zum Vorjahr war sie aber nicht mehr in Uniformen der Volkspolizei, sondern in jene der Grenztruppen gekleidet. Zu den Aufgaben des MfS gehörten Festnahmen, „operativ interessante Feststellungen bei der Ein- und Ausreise“, Personenfeststellungen, die Dokumentation der Reisepapiere, Leibesvisitationen, Fahrzeugdurchsuchungen sowie die Ermittlung von Reiseziel und Zweck der Reise. Mit dem Befehl Mielkes vom 4. August 1962 wurde das Referat Fahndung schließlich zu einer „Arbeitsgruppe Passkontrolle und Fahndung“ (APF) erhoben. Im Zuge dieser Aufwertung übernahm die APF eine Vielzahl weiterer an den Grenzübergangsstellen eingesetzter Angehöriger der Grenztruppen und der Zollverwaltung.18 Aufgrund der wachsenden Bedeutung der DDR als Handelspartner, Reise- und Transitland sowie verschiedener aus Sicht des MfS damit zusammenhängender unkalkulierbarer Risiken schien die Verrichtung von Passkontrollen und Registrierungen für die APF nicht mehr ausreichend – auch die Überwachung von „Staatsfeinden“ sowie die Verhinderung illegaler „Schleusungen“ sollten zu den Aufgaben der Staatssicherheit gehören. So versuchte das MfS, schrittweise neue Verantwortungsbereiche im Grenzregime der DDR für sich zu beanspruchen. Ähnlich wie die Grenzübergangsstellen sicherte die APF auch die Transitwege nach West-Berlin ab. Längs der Transitstrecken wurde ein Nachrichtensystem eingerichtet, das eine schnelle Verbindung zwischen MfS, Volkspolizei, der Zollverwaltung und anderen Diensteinheiten garantieren sollte. Für den Transitverkehr wurden die Personalien der Reisenden nach Seriennummern sortiert. Wenn eine Nummerierung auf der vorgegebenen Transitstrecke fehlte, wurde die Fahndung ausgerufen. Zur Organisation der Kontroll- und Fahndungsprozesse bildete man Abschnittsstäbe wie den Stab Ost/Süd als Zentrale der APF an den Grenzübergängen zu Polen und der Tschechoslowakei. Seit 1962 verfügte die APF über verschiedene Abteilungen, die an den Ostgrenzen und an der Ostseeküste Autostraßen, Wasserwege und Flughäfen überwachten. Darüber hinaus wurde eine „Kontrollgruppe Flughäfen“ mit Sitz in Görlitz gebildet, die für die Abfertigung auf den Flughäfen Leipzig-Muskau, Dresden-Klotzsche, Erfurt-Bindersleben und Barth zuständig war.19 Aufgrund der zusätzlichen Aufgabenbereiche wurden die für die Grenzkontrollen zuständigen Diensteinheiten der APF sukzessive ausgebaut. Zu Beginn des 18 19

Ebd., S. 46f. Tantzscher, „Der Paßkontrolleur ist ein Diplomat in Uniform“, S. 223.

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Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (1961–1972)

Jahres 1964 vergrößerte das MfS nochmals seinen Einfluss im Grenzregime der DDR. Am 16. Januar wurde die APF von einer Arbeitsgruppe zu einer Hauptabteilung erhoben; sämtliche Aufgaben der Passkontrolle und Fahndung an den Grenzübergangsstellen übernahm nun das MfS. Die bislang ebenso für die Passkontrolle zuständigen Einheiten der Grenztruppen und des Zolls wurden in ihren Kompetenzen beschnitten. Gegenüber den Diensteinheiten des Zolls war das MfS nun weisungsberechtigt. Gleichzeitig übernahm die neue Hauptabteilung rund 1.000 Angehörige der Grenztruppen und der Zollverwaltung.20 Was die Fahndungsmethoden anbelangt, so arbeitete das MfS noch in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre mit der sogenannten Flexidfahndung: Dabei wurden Pappstreifen in Plastikmappen eingeschoben, auf die die zur Fahndung ausgeschriebenen Personen eingetragen wurden. Seit Mitte der 1960er-Jahre konzentrierten sich die Passkontrolleinheiten zunehmend auf die „operative Filtrierung“ – die Fahndung nach unbekannten Tätern sowie die Verhinderung „subversiver Handlungen“ gegen die DDR. Die „Flexidfahndung“ wurde jetzt durch die „Karteifahndung“ ersetzt. Auf der Rückseite der Karteikarten waren die umgehend einzuleitenden Sofortmaßnahmen verzeichnet. 1968 wurde die Karteifahndung schließlich durch das am Grenzübergang Drewitz entwickelte „Drefa-System“ abgelöst. Auf den einseitig beschriebenen Fahndungskarten waren nur noch die wichtigsten Personalien sowie die Sofortmaßnahmen vermerkt. Auf eine Karte passten jetzt bis zu zwölf ausgeschriebene Fahndungen, was zu einer größeren Übersichtlichkeit und größerem Fahndungserfolg führen sollte. Mitte Januar 1970 erreichte die Staatssicherheit schließlich den Zenit ihres Aufstiegs im DDR-Grenzregime. Durch die Zusammenführung der Hauptabteilung Passkontrolle und Fahndung, der Arbeitsgruppe Sicherung des Reiseverkehrs mit dem Referat A der Hauptabteilung VII/Zoll (Zoll-Abwehr) wurde die Hauptabteilung VI beim MfS gebildet. Sie sollte vor allem den zur Mitte der 1960er-Jahre einsetzenden Anstieg der Reiseströme zwischen sozialistischen und nicht-sozialistischen Staaten besser zu kontrollieren und sämtliche Aufgaben des Reise- und Touristenverkehrs in einem Führungsorgan zu vereinigen.21 Ihre zentralen Aufgabenschwerpunkte waren die Durchführung von Grenzkontrollen sowie die Überwachung des Reise- und Touristenverkehrs. Innerhalb der Hauptabteilung VI war die Abteilung Passkontrolle und Fahndung für die „politisch-operative“ Arbeit federführend. Zur Koordinierung der neuen Aufgaben hielt die Hauptabteilung VI ständige Verbindung zu anderen Hauptabteilungen des MfS.22

20 21 22

Behrendt, Die Grenzübergangsstellen im System der DDR-Grenzsicherung, S. 33. Vgl. Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 57. Ebd., S. 58.

Exkurs: Kirchliche Initiativen

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Exkurs: Kirchliche Initiativen für eine transnationale Zusammenarbeit und Versöhnung zwischen der DDR und Polen Vor dem Hintergrund der schwierigen Annäherung zwischen Polen und der DDR in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten verwundert es nicht, dass es in diesem Zeitraum auch in den staatlich-unabhängigen Bereichen kaum zu einer gemeinsamen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit kam. Vor allem war dies dem Umstand geschuldet, dass die Regierungen der sozialistischen Nachbarländer ihre Völker nur streng dosiert und kontrolliert an der „Brüderlichkeit“ der aufgenommenen offiziellen Beziehungen teilhaben ließen.23 Wie oben dargelegt, blieb die Oder-NeißeGrenze bis Anfang der 1960er-Jahre für Privatreisen nur schwer passierbar. Die Grenze blieb undurchlässig. Im Folgenden ist zu klären, ob die in beiden Ländern auf offizieller Ebene nur mangelhaft betriebene Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit – die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs – andererseits zur transnationalen Zusammenarbeit in nicht-staatlichen Bereichen führte. Auf welche Weise gelang es dabei vor allem kirchlichen Initiativen, das gespannte Verhältnis zwischen Polen und der DDR in staatlich-unabhängigen Bereichen zu lockern und damit auch die Weichen für eine künftig stärker regimekritische und oppositionell ausgerichtete Zusammenarbeit zu stellen? Die 1958 als gesamtdeutsche Organisation gegründete „Aktion Sühnezeichen“ markiert den Anfang einer starken transnationalen und unabhängigen Zusammenarbeit zwischen Menschen in der DDR und Polen. Der Gründer der „Aktion Sühnezeichen“, Lothar Kreyssig, gehörte schon früh der Bekennenden Kirche an und war am kirchlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus beteiligt. Bis zum Bau der Berliner Mauer arbeitete er als Präses der evangelischen Kirche in Ost- und West-Berlin, später entschied er sich für ein Leben in der DDR. Vor dem Hintergrund einer zögerlichen Aufarbeitung der Zeit des Nationalsozialismus in Ost und West rief Kreyssig im Rahmen der „Aktion Sühnezeichen“ zu einer grenzüberschreitenden Aussöhnung und Verständigung auf und bat um Vergebung für den von den Nationalsozialisten verübten Völkermord. Seine Adressaten waren in erster Linie die Länder Polen, Sowjetunion und Israel. Hierbei arbeitete Kreyssig eng mit Günter Särchen zusammen, der noch auf polnische Kontakte aus der Zwischenkriegszeit zurückgreifen konnte. Nachdem erste Versuche der Annäherung Ende der 1950er-Jahre in Polen gescheitert waren, fuhren Kreyssig und Särchen 1962 gemeinsam dorthin. Der polnische Geheimdienst reagierte prompt und stellte eine Anfrage an das MfS, was es mit der „Sekte“ Aktion Sühnezeichen auf sich habe und

23

Schultz, Die Oderregion in wirtschafts- und sozialhistorischer Perspektive, S. 81.

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ob sie in der DDR bekannt sei. Schon ein Jahr später wurde vom MfS alles gesammelt, was an „operativen Kenntnissen“ über Kreyssig und Särchen zu finden war.24 Die Kontakte der „Aktion Sühnezeichen“ in Polen fanden sich sowohl in kirchlichen als auch politischen Kreisen. Zu den wichtigsten Kooperationspartnern zählte die Abgeordnetengruppe ZNAK – eine aus fünf Personen bestehende, 1957 gegründete, legale oppositionelle Fraktion im polnischen Parlament. Obwohl sie mehr Symbolkraft als politischen Einfluss hatte, war sie im gesamten „sozialistischen Lager“ einmalig. Neben der ZNAK arbeiteten auch die sogenannten Klubs der Katholischen Intelligenz (KIK) aus Warschau, Krakau und Breslau sowie die polnische katholische Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“ mit der „Aktion Sühnezeichen“ zusammen. Seitens des Klerus setzte sich vor allem der damalige Krakauer Erzbischof und spätere Papst, Karol Wojtyła, für die „Aktion Sühnzeichen“ ein. Obwohl es zu Beginn der 1960er-Jahre offiziell nicht möglich war, unabhängige Einsätze in den sozialistischen „Bruderländern“ durchzuführen, ließen sich – durch „Aktion Sühnezeichen“ motiviert – insbesondere jüngere Leute nicht davon abhalten, auf Eigeninitiative mit privatem Visum nach Polen zu reisen. 1964 fuhren unter Vermittlung Särchens die ersten zwei ökumenisch zusammengesetzten PilgerGruppen auf Fahrrädern nach Posen und Auschwitz. Ein Jahr später besuchten weitere Gruppen Majdanek und Auschwitz. Zu ihren Aktionen gehörte unter anderem die Freilegung der Grundmauern der Gaskammern in Auschwitz-Birkenau.25 Die Einführung des pass- und visafreien Reiseverkehrs zwischen Polen und der DDR Anfang 1972 wird oft als „Öffnung“ der Oder-Neiße-Grenze bezeichnet. Tatsächlich bedeuteten die neuen Reisebestimmungen eine große Erleichterung für die Arbeit der „Aktion Sühnezeichen”. Nun konnten Jugendliche ohne größeren formellen Aufwand an den seit den 1960er-Jahren organisierten Sommerlagern in Polen und der DDR teilnehmen. In den 1970er-Jahren kam es insgesamt zu zehn organisierten Pilgerfahrten von Sühnezeichen-Mitgliedern nach Polen. Es folgten zahlreiche Treffen mit katholischen Intellektuellen, Vorträge und Diskussionen. Dabei wurden Freundschaften geschlossen und bestehende Kontakte vertieft. Vor allem durch die Initiative Särchens wurde es möglich, seit Mitte der 1960er-Jahre auch polnische Theologieprofessoren und namhafte katholische Laien zu Vorträgen nach Magdeburg einzuladen und – ab 1969 in Form der zwei Mal jährlich organisierten „Magdeburger Polenseminare“ – eine intensive Bildungsarbeit zu betreiben.

24 25

Konrad Weiß, Aktion Sühnezeichen in Polen. Erste Schritte zur Aussöhnung und Verständigung, in: Basil Kerski u.a. (Hg.), Zwangsverordnete Freundschaft?, S. 243–250, hier S. 243ff. Hierzu Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle, S. 87–95.

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Auch hier war das Ziel, die Teilnehmer mit der Geschichte und Kultur des polnischen Volkes vertraut zu machen und die Versöhnung zwischen den Nationen zu fördern.26 Obwohl diese kirchlichen Initiativen der 1960er- und 1970er-Jahre nicht zu den klassischen oppositionellen Tätigkeiten gegen das kommunistische Regime gezählt werden können, muss die „Aktion Sühnezeichen” dennoch als eine „Schule der Opposition“ (Piotr Zariczny) verstanden werden.27 Sie war ein Ort, wo ein kritischer Geist praktiziert und eingeübt wurde, wo die Menschen miteinander diskutierten und alternatives Geschichtswissen vermittelt wurde. So lernten spätere aktive Oppositionelle in der DDR und Polen über die Arbeit in der „Aktion Sühnezeichen”, wie wichtig der Zusammenschluss der Kirche mit einer aktiven Opposition war und wie bedeutsame zivilgesellschaftliche Prinzipien wie öffentliches Handeln und gegenseitige Solidarität in der Praxis umgesetzt werden konnten.28 Bis zuletzt war die Polen-Arbeit der „Aktion Sühnezeichen” den staatlichen Behörden der DDR ein Dorn im Auge. Aber auch seitens der katholischen Kirche in der DDR wurden diese Initiativen mehrheitlich abgelehnt. Dies lag freilich weniger an den humanitären Intentionen dieser Arbeit, sondern vielmehr daran, dass „Aktion Sühnezeichen” eine ökumenische Bewegung war. Die kleine katholische Kirche in der DDR fürchtete, dass insbesondere jüngere Menschen sich im Zuge intensiver Kontakte mit Protestanten vom Katholizismus abwenden und zur Evangelischen Kirche übertreten könnten.29 Seit Anfang der 1980er-Jahre war eine kontinuierliche Arbeit der „Aktion Sühnezeichen” sowie der „Magdeburger Polenseminare“ aufgrund der staatlichen Repressionen durch die Staatssicherheit nicht mehr möglich. 4.3 Kontinuierlicher Machtzuwachs des MfS an den Ostgrenzen der DDR An den Grenzübergangsstellen zu Polen und der Tschechoslowakei waren in den 1960er-Jahren die einzelnen Grenzorgane – Passkontrolleinheiten des MfS, Grenztruppen, Zollverwaltung und Volkspolizei – zur Zusammenarbeit verpflichtet. Von Seiten der Staatssicherheit wurde diese Zusammenarbeit im MfS-Jargon als „politisch-operatives Zusammenwirken“ (POZW) bezeichnet. Nach dieser von der Staatssicherheit entwickelten Methode versuchte das MfS, seine Einflussnahme auf andere staatliche Organe, Institutionen und Einrichtungen zu vergrößern und die 26 27 28 29

Vgl. Theo Mechtenberg, Christliches Engagement – Opposition und Poleninitiativen im Raum der Magdeburger katholischen Kirche, in: Basil Kerski u.a. (Hg.), Zwangsverordnete Freundschaft?, S. 235–242, hier S. 238f. Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle, S. 101. Ebd. Vgl. Weiß, Aktion Sühnezeichen in Polen, S. 248f.

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Nutzung dort vorhandener Informationen über Sachverhalte und Personen zu verbessern.30 Nach dem Selbstverständnis des MfS sollte das POZW dazu beitragen, andere Organe zum „sicherheitspolitischen Denken und Handeln für die Gewährleistung der staatlichen Sicherheit“ zu erziehen.31 Damit war das POZW für die Partner des MfS ein zweischneidiges Schwert. Über die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit hinaus bedeutete es für die staatlichen Organe nämlich auch deren Bespitzelung und Kontrolle. Nach dem Mauerbau wurden die Grenztruppenteile an den Ostgrenzen der DDR in Frankfurt (Oder) und Karl-Marx-Stadt schrittweise aufgelöst und weitere 650 Grenzsoldaten an die Staatsgrenzen zur Bundesrepublik versetzt. Künftig sollten lediglich die Grenzbataillone in Frankfurt (Oder) und Pirna die Grenzen zu Polen und der Tschechoslowakei überwachen. Von ostdeutscher Seite blieben die Grenzanlagen weiterhin marginal ausgebaut: Nur an wenigen Grenzabschnitten entlang der Grenze zu Polen und der Tschechoslowakei befanden sich fortlaufende Sperr-, Sicherungs- und Signalanlagen, Drahtsperren oder Kontrollstreifen.32 Wie aber gestaltete sich die Sicherung der langläufigen Landesgrenze auf polnischer Seite? In dem östlich von Berlin liegenden Grenzabschnitt Kostrzyn (Küstrin) an der Oder gab es von 1963 bis 1989 weder auf ostdeutscher noch auf polnischer Seite Grenzzäune. Lediglich auf beiden Seiten in Flussnähe aufgestellte und in den jeweiligen Nationalfarben gekennzeichnete zwei Meter hohe Grenzsteine sowie Grenzschilder machten auf den Grenzverlauf aufmerksam. Grenzzäune existierten auf polnischer Seite nur noch an Orten wie in Szczecin (Stettin), wo der Grenzverlauf nicht von der Oder bzw. Neiße bestimmt wurde. Welche Gefahren gingen von dieser Grenze für die Flüchtenden aus? Seit dem Mauerbau flüchteten die Ostdeutschen nicht nur über die innerdeutsche Grenze, sondern auch über das Land Polen in den Westen. In umgekehrter Richtung erschien den Polen eine Flucht über die seit 1961 zugemauerte DDR allerdings wenig erfolgversprechend. Pro Jahr wurden in dem etwa 14 Kilometer langen Grenzabschnitt Kostrzyn durchschnittlich zehn bis zwölf DDR-Bürger beim unerlaubten Überqueren der Grenze von den polnischen Grenzorganen gefasst. Die meisten versuchten auf selbst gebauten Flößen oder mit speziellen Tauchgeräten ausgerüstet, die Oder zu überqueren.

30 31 32

Vgl. Klaus Schroeder unter Mitarbeit von Steffen Alisch, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR, München 1998, S. 445. Siehe hierzu Siegfried Suckut (Hg.), Das Wörterbuch der Staatssicherheit. Definitionen zur „politisch-operativen Arbeit“, Berlin 1996, S. 428. Vgl. Tantzscher, Hauptabteilung VI, S. 50.

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11 Zwar waren auf polnischer Seite seit Mitte der 1960er-Jahre an der Oder und Neiße in den meisten Abschnitten die Grenzzaunanlagen abgebaut, die in regelmäßigen Abständen erbauten Wachtürme aber blieben bestehen.

Aufgrund der nur schwach betriebenen Grenzüberwachung durch die ostdeutschen Grenztruppen stellte es für die DDR-Flüchtlinge meist kein Problem dar, in die Nähe der Oder zu gelangen. Erreichten sie aber die andere Flussseite, mussten sie schon großes Glück haben, um von den polnischen Grenzschutztruppen nicht gefasst zu werden. Die „Quote“ der Polen im Grenzabschnitt Kostrzyn lag schließlich bei über 90 Prozent. Während die ostdeutschen Grenztruppen bei schönem Wetter ihren Dienst sogar mit der Angelausrüstung antraten,33 wurde die Grenze auf der anderen Oderseite von den Polen sehr streng überwacht. Der Grenzabschnitt Kostrzyn wurde – zählt man das Personal für Tag- und Nachtdienste zusammen – von insgesamt mehr als 80 Grenzsoldaten kontrolliert (auf DDR-Seite waren es hingegen lediglich nur zwei Mann pro Dienst).34 33 34

Interview Andrzej Lewandowski. Ebd.

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Polnischer Grenzschutz auf dem Motorrad, im Hintergrund der Wachturm

Zwar existierte auf polnischer Seite seit 1965 erstmals kein geharkter Kontrollstreifen, dafür gab es mehrere 15 Meter hohe Wachtürme, einen bis zu 100 Meter breiten Grenzstreifen sowie eine bis zu sechs Kilometer lange Sperrzone. Erschossen wurde vom polnischen Grenzschutz hier niemand, jedoch ertranken einzelne Menschen bei ihrem Versuch, die Oder zu überqueren. Für den Eintritt in die Sperrzone und den Grenzstreifen benötigte man jeweils eine spezielle Erlaubnis der polnischen Behörden. Kurioserweise profitierten auch die DDR-Grenzer von der hohen „Fangquote“ ihrer polnischen Kollegen. Die auf polnischer Seite gefangen genommenen DDR-Bürger wurden gleich nach ihrer Festsetzung an die Ostdeutschen ausgeliefert. Die ostdeutschen Grenztruppen erhielten für jeden DDR-Flüchtling staatliche Belohnungen, weshalb die DDR-Grenzer zum Dank für ihre polnischen Kollegen regelmäßig rauschende Tanzveranstaltungen organisierten.35

35

Ebd.

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13 Genauso wie für die ostdeutschen spielte auch für die polnischen Grenzer die Propaganda eine wichtige Rolle: Freundschaftlich gaben sich die polnischen Grenzschutztruppen gegenüber der Grenzbevölkerung.

Weil sich die Warschauer Pakt-Staaten verpflichtet hatten, ihre Kräfte auf den Schutz jener Staatsgrenzen zu konzentrieren, die sie vom Westen trennten, sollten sich die Grenztruppen im Osten der DDR auf eine Grenzüberwachung mit „minimalen Kräften“ beschränken.36 Während die Grenztruppen seit den frühen 1960er-Jahren von den Ostgrenzen sukzessiv abkommandiert worden waren, wurden die Passkontrolleinheiten personell verstärkt und ihre Zuständigkeiten an den Grenzübergangsstellen erhöht. Auf diese Weise versuchte das MfS, den personellen Schwund der Grenztruppen zu kompensieren und auf neue Sicherheitserfordernisse an den Ostgrenzen zu reagieren.

36

Vgl. Freitag, Einsatz von Grenztruppen, S. 282f.

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Anfang 1964 legte das MfS fest, dass die Passkontrolleinheiten hierarchisch nicht länger den Kommandeuren der Grenztruppen unterstehen sollten.37 Fortan hatten die Passkontrolleinheiten Weisungsbefugnisse in allen Fragen, die den Innenbereich der Grenzübergangsstelle betrafen. Der Kommandeur der Grenztruppen hatte sich lediglich auf logistische Fragen des Dienstbereichs und auf bauliche, verkehrs- und sicherheitstechnische Anlagen sowie auf Dienstleistungen wie die Verpflegung, Heizung und Reinigung zu beschränken.38 Zwar blieben die Grenztruppen weiterhin für die weiträumige Sicherung der Ostgrenzen verantwortlich, an den Grenzübergangsstellen selbst hatten sie jetzt allerdings dem MfS zu gehorchen. Die Passkontrolleinheiten hatten aber noch andere Vorteile: Sie erhielten höhere Gehälter und wurden schneller befördert als die Soldaten der Grenztruppen. Außerdem hatten die Grenztruppen in der Öffentlichkeit mit einem immer größeren Imageverlust zu kämpfen: Während die in den Uniformen der Grenztruppen auftretenden Passkontrolleinheiten ihre Kontrollen auf eine oft schikanierende Weise durchführten, fiel das unfreundliche Verhalten gegenüber den Reisenden in der Regel auf die Grenztruppen generell zurück.39 Die Folge war ein interner Kleinkrieg. Der Lagebericht des MfS der Bezirksverwaltung Dresden vom März 1971 spiegelt die Kompetenzstreitigkeiten zwischen beiden Staatsorganen treffend wider und verdeutlicht die spezifische Situation an den Ostgrenzen der DDR: Die Rolle und Aufgaben der NVA an den Grenzübergangsstellen zu sozialistischen Staaten sind grundlegend andere als zu Westdeutschland/Westberlin […]. Ein Kriterium sind die unterschiedlichen Kräfte und Mittel, welche die NVA aufzuweisen hat. An den Grenzübergangsstellen zu den sozialistischen Staaten ist die Stellung des Kommandanten der NVA die eines Repräsentanten.40

Wie gestaltete sich das Verhältnis zwischen der Staatssicherheit und der Zollbehörde an den Ostgrenzen der DDR? Das im August 1952 errichtete Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs hatte in erster Linie die Aufgabe, die Wirtschaft und öffentliche Ordnung der DDR vor „imperialistischen Angriffen“ im grenzüberschreitenden Verkehr zu schützen. Dabei sollte die Zollverwaltung ordnungs- und polizeirechtliche Aufgaben übernehmen und – ähnlich wie die Grenztruppen – eng

37 38 39 40

Zit. nach MfS-Befehl 40/64, teilweise abgedruckt in: Petzold, MfS-Einfluß auf das DDRGrenzregime, S. 153. Vgl. Lapp, Gefechtsdienst im Frieden, S. 190f. Vgl. Petzold, MfS-Einfluß auf das DDR-Grenzregime, S. 154f. BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. VI, 2586, Bd. 2, Bl. 174: „Überarbeitung der Dienstvorschrift 30/13 der NVA“, Schreiben des Kommissarischen Leiters der Linie Paßkontrolle der Hauptabteilung VI der Bezirksverwaltung Dresden des MfS an den Leiter der Linie Paßkontrolle der Hauptabteilung VI beim Ministerium für Staatssicherheit, 25. März 1971.

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mit anderen Grenzorganen zusammenarbeiten.41 Zwar war das MfS gegenüber dem Zoll bereits seit 1964 weisungsberechtigt,42 aber erst mit Hilfe des Referats Zollabwehr (ZA) beim MfS und dem Einschleusen sogenannter Offiziere im besonderen Einsatz (OibE) gelang es der Staatssicherheit, ihren Einfluss auf den Zoll schrittweise auszuweiten, Richtlinien der Zollorgane außer Kraft zu setzen und ihn so zu entmachten.43 Dabei schreckte das MfS auch nicht davor zurück, die Arbeit des Zolls herabzustufen und seine Beamten zu diskreditieren. Nach dem Sach- und Personenkriterienkatalog für die Organisierung politisch-operativer Arbeit aus dem Jahr 1971 überprüfte die Staatssicherheit die Zollbeamten kontinuierlich auf „ideologisches Schwanken und Unklarheiten in Spannungssituationen“. Man suchte festzustellen, ob sie vor „konsequenten klassenmäßigen Entscheidungen“ zurückweichen, ob sie „Westerzeugnisse, Valuta und Asservate im Familien- und Kontaktbereich“ vertreiben oder ob sie Kontakte zu Personen mit „dekadentem Äußeren sowie zu Angehörigen der Blockparteien, Personen mit kleinbürgerlichen Denkund Verhaltensweisen“ pflegten.44 Neben dem Zoll und den Grenztruppen hatte das MfS an den Grenzübergangsstellen auch mit der Volkspolizei zusammenzuarbeiten. Die Aufgaben der 1945 gebildeten, dem MdI unterstellten Deutschen Volkspolizei konzentrierten sich auf die Vorbeugung und Aufklärung von Straftaten und Ordnungswidrigkeiten im Grenzbereich, auf die Sicherung wichtiger Betriebe, Anlagen und Objekte sowie auf Passund Meldebestimmungen.45 Wie die anderen Grenzorgane überwachte das MfS die Volkspolizei über eine eigene Abteilung in systematischer Weise. Neben geheimen Informanten wie Inoffiziellen Mitarbeitern schleuste man Gesellschaftliche Mitarbeiter für Sicherheit (GMS) sowie die schon erwähnten OibE in hohe Leitungsebenen der Volkspolizei ein.46 Im Rahmen der Überwachung des Reise- und Touristenverkehrs über die Ostgrenzen der DDR waren für die Staatssicherheit die Mitarbeiter des Pass- und Meldewesens die wichtigsten Ansprechpartner bei der Volkspolizei. Diese Diensteinheiten hatten die Bevölkerung melderechtlich zu erfassen, deren Fluktuation zu re41 42 43 44 45 46

Andreas Herbst/Wilfried Ranke/Jürgen Winkler, So funktionierte die DDR. Lexikon der Organisationen und Institutionen, Mach-mit-Bewegung – Zollverwaltung, Bd. 2, Reinbek 1994, S. 1234. Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 37. Vgl. Petzold, MfS-Einfluß auf das DDR-Grenzregime, S. 159. BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. VI, 2586, Bd. 2, Bl. 19ff.: „Sach- und Personenkriterien für die Organisierung der politisch-operativen Arbeit des Referats Zoll-Abwehr – entsprechend der Schwerpunkte des Informationsbedarfs der Linie VI“ vom 22. Januar 1971. Vgl. Thomas Lindenberger, Volkspolizei. Herrschaftspraxis und öffentliche Ordnung im SED-Staat 1952–1968, Köln u.a. 2003, S. 67ff. Petzold, MfS-Einfluß auf das DDR-Grenzregime, S. 163.

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gistrieren, die speziellen Melde- und Aufenthaltsbestimmungen in den Grenz- und Sperrgebieten durchzusetzen sowie ein lückenloses internes und externes Informationsnetz zu gewährleisten. Weil sie über wichtige Datenbanken verfügten und gegenüber den zuständigen MfS-Behörden informationspflichtig waren, erhielt das MfS bei Fahndungen in vielen Fällen genau von diesen Stellen die ersten relevanten Informationen.47 4.4 Die Verhinderung von Fluchtversuchen durch das MfS über die Länder des Ostblocks Bis zum Mauerbau 1961 konnten DDR-Bürger ihr Land noch relativ mühelos über die offenen Sektorengrenzen nach West-Berlin verlassen. Nach der Errichtung des „antifaschistischen Schutzwalls“ musste man aber nach neuen Wegen suchen, um in den Westen zu entkommen. Viele flohen über die innerdeutsche Grenze – allein vom 13. August bis zum Jahresende 1961 gelang über 50.000 DDR-Bürgern die Flucht. In den Folgejahren wurde das Grenzregime an den innerdeutschen Grenzen daher erheblich verschärft: Die Grenzbefestigungen wurden mit Minen, Stacheldraht und Hundelaufanlagen ausgebaut, die Bewachung personell verstärkt und der Schießbefehl noch ausdrücklicher als bisher verordnet.48 Weil viele DDR-Bürger die Grenzen der DDR zu Polen und der Tschechoslowakei sowie die Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“ als durchlässiger und weniger lebensbedrohlich ansahen als die innerdeutschen Grenzen, flüchteten seit den 1960er-Jahren zahlreiche Menschen auch über die Ostgrenzen der DDR, um in den Westen zu gelangen.49 Im Folgenden sollen zunächst die Gegenmaßnahmen der DDR-Führung – bilaterale Rechtshilfeabkommen, Gesetze und Sanktionen sowie die Rolle der Staatssicherheit bei der Verhinderung von Fluchtversuchen über die Länder des Ostblocks – in den Blick genommen werden. Um die Bündnispartner zu strafrechtlichen Maßnahmen gegenüber DDR-Flüchtlingen zu verpflichten, entstanden im Lauf der Zeit immer neue zwischenstaatliche Abkommen, die die Modalitäten der transnationalen Zusammenarbeit bei der strafrechtlichen Verfolgung von Fluchtwilligen und ihrer Helfer über andere Ostblockländer regelten. Da gemäß den zwi47

48 49

Vgl. „1. Durchführungsbestimmung zur Dienstanweisung Nr. 2/79 über das politischoperative Zusammenwirken mit dem Arbeitsgebiet 1 der Kriminalpolizei des Ministers für Staatssicherheit vom 14. Mai 1987“, abgedruckt in: Arndt Effenberger/Jörg Hilbrecht, Dokumentation über die Rolle des Arbeitsgebiets 1 der Kriminalpolizei der DDR, Arnstadt 1991, S. 5. Werner Filmer/Heribert Schwan, Opfer der Mauer. Die geheimen Protokolle des Todes, München 1991, S. 379. Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 7.

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schen der DDR und der Tschechoslowakei 1956 und zwischen der DDR und Polen 1957 geschlossenen Verträgen über den Rechtsverkehr in Zivil-, Familien- und Strafsachen der illegale Grenzübertritt kein Auslieferungsdelikt darstellte, begann das MfS bereits ein Jahr nach dem Mauerbau neue Regelungen mit den benachbarten „Bruderländern“ zu treffen.50

14 Am 29. Mai 1963 hatte ein Ostdeutscher versucht, versteckt unter dem Reisezug „Vindobona“ aus der DDR über die Tschechoslowakei (Bad-Schandau/Děčín) in den Westen zu fliehen. Der tschechoslowakische Sicherheitsdienst dokumentierte den Fluchtversuch und stellte ihn nach.

Am 30. Juni 1967 unterzeichneten die Sicherheitsdienste der DDR und der Tschechoslowakei ein Protokoll zur „Erleichterung und Beschleunigung des Verkehrs bei Rechtshilfeleistungen bezüglich der inneren und äußeren Sicherheit beider Staaten“. Im Kern vereinbarte man, dass die Sicherheitsdienste in Fragen des Rechtsverkehrs zwischen den für die Fluchtdelikte zuständigen Organen wie Gerichten und Staatsanwaltschaften vermitteln und auf die Verfahrenspraxis Einfluss nehmen dürften.51 Damit wurde die Auslieferung von fluchtwilligen DDR-Bürgern aus der Tschechoslowakei letztlich unter die Aufsicht und Kontrolle des MfS gestellt. Die Auslieferung sollte an den Grenzübergangsstellen der Flughäfen Prag oder Bratislava sowie 50 51

Ebd., S. 43. Ebd., S. 47.

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an den Grenzübergangsstellen Vojtanov-Schönberg oder Hřensko-Schmilka erfolgen. Für die Auslieferung von DDR-Bürgern durch die Tschechoslowakei sollten in umgekehrter Richtung straffällig gewordene ČSSR-Bürger überführt werden, ein Austausch, den das MfS unter anderen Vorzeichen auch mit westlichen Geheimdiensten praktizierte.52

15 Versuch eines DDR-Bürgers im Januar 1965 in der Nähe von Warnsdorf über die Grenze zur Tschechoslowakei in den Westen zu fliehen. Der tschechoslowakische Sicherheitsdienst stellte den Fluchtversuch nach.

Wenige Jahre nach dem Abschluss des Rechtshilfeabkommens zwischen der DDR und der Tschechoslowakei unterzeichneten die Generalstaatsanwälte der DDR und Polens am 11. Oktober 1971 die Vereinbarung über die „Rechtspflege zwischen der DDR und der VR Polen“. Artikel 66 regelte dabei die Strafverfolgung von „Grenz52

Siehe hierzu: Hans-Dieter Behrendt, Im Schatten der Agentenbrücke, Schkeuditz 2003.

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verletzern“. Bei den Verhandlungen mit Polen war das MfS allerdings weniger erfolgreich. Denn anders als bei der ČSSR gelang es dem MfS im Falle Polens nicht, eine direkte Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste zu erreichen. Auch in dem wenig später am 12. Juli 1972 unterzeichneten Zusatzprotokoll wurde die Strafverfolgung von DDR-Bürgern auf polnischem Gebiet allein den Staatsanwälten der einzelnen polnischen Bezirke (Wojewodschaften) übertragen. Das Zusatzprotokoll räumte den Sicherheitsorganen beider Staaten lediglich den „freien Meinungsaustausch“ sowie die Möglichkeit weiterer Konsultationen ein.53

16 Laut dieser vom tschechoslowakischen Sicherheitsdienst entdeckten Inschrift ist einem DDR-Bürger, versteckt in einer Zisterne, die Flucht über die Tschechoslowakei in den Westen geglückt.

Mit den Rechtshilfeabkommen verfolgte die Staatssicherheit in erster Linie das Ziel, durch Rückführungen die Fluchtvorhaben von DDR-Bürgern über andere Ostblockländer in den Westen zu verhindern. Weil sich das MfS auf die Einhaltung der bilateralen Verträge jedoch nicht verlassen konnte – nach der gewaltsamen Niederschlagung des „Prager Frühlings“ beispielsweise wurden seitens der Tschechoslowakei zunächst keine DDR-Bürger ausgeliefert –, sollten Fluchtversuche möglichst schon im Vorfeld vereitelt werden. Die DDR-Forscherin Monika Tantzscher bringt 53

Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 7.

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es auf den Punkt, wenn sie die Sicht der Machthaber wie folgt beschreibt: „Im Idealfall sollte der DDR-Bürger, der eine Flucht über ein anderes Ostblockland geplant hatte, verhaftet werden, noch bevor er seine Wohnung verließ.“54 Weil Erich Mielke seit Anfang der 1960er-Jahre den Kampf gegen die „Republikflucht“ als die entscheidende Schwerpunktaufgabe seines Ministeriums ansah, wurde die Verhinderung von Fluchtvorhaben fortan mit unterschiedlicher Gewichtung von sämtlichen 22 Hauptabteilungen des MfS bis hinunter in die Kreis- und Objektdienststellen verfolgt. Zu den Abteilungen, die nach dem Mauerbau maßgeblich an der Bekämpfung von Fluchtvorhaben über die Ostblockstaaten zuständig waren, gehörte die Hauptabteilung XX. Am 6. Mai 1964 warnte Mielke in seinem Befehl Nr. 373/64, dass sich „der Gegner […] in zunehmendem Maße auf die Organisierung des Menschenhandels unter Mißbrauch des Reise- und Touristenverkehrs zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und dem sozialistischen Ausland“ konzentriere.55 Mit Mielkes Dekret wurde die für die „Bekämpfung von Republikflucht“ zuständige HA XX daraufhin in HA XX/5 umbenannt. Diese sollte fortan für die Bearbeitung aller Hinweise verantwortlich sein, die mit der „Organisierung des Menschenhandels [Fluchthilfe; D.T.] insbesondere zwischen der DDR und den Volksrepubliken Bulgarien und Ungarn sowie der ČSSR“ in Zusammenhang stünden.56 Dieser Befehl schuf zugleich die Grundlage für eine erweiterte Entsendung von eigenen Diensteinheiten, sogenannten Operativgruppen, in andere Ostblockländer. Während bereits seit 1964 Operativgruppen in Bulgarien und Ungarn bestanden, richtete die Hauptabteilung XX/5 des MfS 1965 eine erste Operativgruppe in der Tschechoslowakei – zunächst in Prag, später auch in Bratislava und Karlovy Vary (Karlsbad) ein. Mit Ausnahme von Rumänien – hier konnte die Staatssicherheit aufgrund der Sonderrolle des Geheimdienstes Securitate keine Operativgruppe entsenden – verfügte das MfS schon bald in allen sowjetischen Satellitenstaaten über derartige „ständige Niederlassungen“. Die Einrichtung der Operativgruppen wurde in zwischenstaatlichen Vereinbarungen geregelt. 1971 gingen größere Teile des Aufgabengebiets der Hauptabteilung XX/5 an die neu formierte Hauptabteilung VI über, die fortan für Grenzkontrollen sowie die Absicherung des Reise- und Touristen-

54 55 56

Ebd., S. 5. BStU, ZA, MfS-Bdl/Dok. Nr. 000887: Bl. 1 „Befehl Nr. 373/64“, 6. Mai 1964. Als wichtigste Kooperationsabteilungen innerhalb des MfS nannte Mielke die Hauptabteilung II (Operative Absicherung des Reise- und Touristenverkehrs), die Hauptabteilung XIX (Absicherung der Dienststellen des Deutschen Reisebüros), die Arbeitsgruppe Sicherung des Reiseverkehrs (Vergleichsarbeit und Koordinierung operativer Hinweise zur Ausnutzung der Reisetätigkeit in die Volksdemokratien zur Organisierung der Feindtätigkeit) sowie die Hauptabteilung Passkontrolle/Zollfahndung. Ebd.

Verhinderung von Fluchtversuchen durch das MfS

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verkehrs zuständig war. Seit 1972 führte schließlich die Hauptabteilung VI die in der Tschechoslowakei eingerichteten Operativgruppen an. Die hier beschriebenen Präventivmaßnahmen in Form zwischenstaatlicher Rechtshilfeabkommen sowie die vom MfS getroffenen Vorkehrungen zur Verhinderung von Fluchtvorhaben waren nur eine Seite der Medaille. Zusätzlich verabschiedete die SED in den 1960er-Jahren unterschiedliche Gesetze und Sanktionen: So verschärfte man nach dem Bau der Berliner Mauer rigoros die Ahndung von Fluchtdelikten. Zwar wurden nach Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches (StGB) der DDR am 1. Juli 1968 die nach Paragraph 8 festgelegten Bestimmungen des DDR-Passgesetzes von 1957 zu einer reinen Ordnungswidrigkeit herabgestuft. An die Stelle des Paragraphen 8 trat jedoch der Paragraph 213. Damit wurde zum einen der Straftatbestand des illegalen Grenzübertritts nach Absatz 1 erheblich erweitert, zum anderen das Strafmaß nach Absatz 2 „in schweren Fällen“ von drei auf fünf Jahre erhöht. Darunter fielen bereits die „Beschädigung von Grenzsicherungsanlagen oder das Mitführen geeigneter Werkzeuge oder Geräte“; die „Fälschung von Ausweisen“, die „Ausübung der Tat durch eine Gruppe“ und anderes mehr. Die strafrechtliche Verfolgung bei Fluchtversuchen über die Grenzen anderer Ostblockländer griff insbesondere durch Absatz 1 des neuen Paragraphen: Hiernach wurde bestraft, wer „ohne staatliche Genehmigung das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik verläßt oder in diese nicht zurückkehrt […]“. Mit Inkrafttreten des neuen StGB konnten sämtliche Aktionen der Fluchthelfergruppen – im MfS-Jargon propagandistisch auch als „kriminelle Menschenhändlerbanden“ bezeichnet – nach Paragraph 132 StGB entweder als „Straftat gegen die staatliche Ordnung“ („Menschenhandel“) oder nach Paragraph 105 StGB gar als „Verbrechen gegen die DDR“ („Staatsfeindlicher Menschenhandel“) verfolgt werden. Insbesondere der Paragraph 105 legitimierte das MfS zur Aufklärung und Verhinderung von „Republikfluchten“ aller Art.57 Zur weiteren Vorbeugung und Bekämpfung von Fluchtversuchen über die Ostblockländer konnten die Behörden nach Paragraph 11 Absatz 5 der Personalausweisordnung der DDR vom 23. September 1963 von Fluchtverdächtigen auch den Personalausweis einziehen. Mit dem lediglich für ein Jahr gültigen Ersatzausweis PM 12 war das Überschreiten der DDR-Grenzen dann nicht mehr möglich. Wie entwickelte sich die Fluchtbewegung von DDR-Bürgern über die Länder des Ostblocks in den 1960er-Jahren? Zwischen August 1961 und Ende 1970 ge-

57

Gerhard Niebling, Gegen das Verlassen der DDR. Gegen Menschenhandel und Bandenkriminalität (Zur Verantwortung der ZKG/BKG), in: Reinhard Grimmer/Werner Irmler/ Willi Opitz/Wolfgang Schwanitz (Hg.), Die Sicherheit. Zur Abwehrarbeit des MfS, Bd. 2, Berlin 2003, S. 161–245, hier S. 162f.

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langten rund 280.000 DDR-Bürger auf unterschiedlichen Wegen in den Westen,58 teils über erfolgreiche Ausreiseanträge, teils über die seit 1963 von der Bundesrepublik vorgenommenen Häftlingsfreikäufe; der übrige Teil flüchtete. Wie viele von jenen, die in den Westen geflohen waren, über andere Ostblockstaaten entkommen konnten, lässt sich heute nur schwer rekonstruieren. Aus den Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes geht hervor, dass in den Jahren 1963 bis 1971 nach geplanter Flucht insgesamt 2.868 DDR-Bürger durch das MfS aus dem „sozialistischen Ausland“ per Flugzeug zurückgeführt wurden, davon 1.344 Personen aus der Tschechoslowakei, 776 aus Ungarn, 506 aus Bulgarien, 142 aus Rumänien, 96 aus Polen und vier Personen aus der Sowjetunion. Eine andere MfS-Analyse zählt für den Zeitraum zwischen 1963 und 1970 weitere 1.394 Personen, die nach „legalem Verlassen der DDR mit gültigen Reisedokumenten“ über andere Ostblockländer erfolgreich geflüchtet sind. Auch hier rangiert die Tschechoslowakei mit 393 Personen an erster Stelle vor Ungarn mit 291, Bulgarien mit 265, Jugoslawien mit 154, Rumänien mit 37 und Polen mit 22 Personen.59 Aus den Statistiken wird deutlich, dass die ČSSR als Ausgangspunkt für Fluchtvorhaben gegenüber anderen Ostblockländern am beliebtesten war. Während bis einschließlich 1967 die Zahl derer überwog, die über die innerdeutsche Grenze geflüchtet waren, kehrte sich zwischen 1968 und 1970 das Verhältnis um. In der Zeit des „Prager Frühlings“ waren Fluchtvorhaben über die Tschechoslowakei äußerst erfolgversprechend. Dies hing zum einen mit der Lockerung des Grenzregimes der ČSSR zu Österreich und der Bundesrepublik zusammen. Zum anderen fand in der Amtsperiode des Innenministers Josef Pavel keine Kooperation zwischen den tschechoslowakischen Sicherheitskräften und dem MfS und damit keine Rückführung von DDR-Bürgern statt. Dass Polen in den 1960er-Jahren für DDR-Bürger eine eher untergeordnete Rolle bei der Flucht über den Ostblock spielte, hing mit der ungünstigen geostrategischen Lage des Landes zusammen. Polen grenzte an kein westliches Land, sodass den DDR-Bürgern in der Regel nur die beschwerliche Flucht über die Ostseeküste oder über Schwerguttransporte des Fernstraßen- oder Schienennetzes blieb – meist nach Hamburg und in andere Groß- und Hafenstädte Westeuropas. Nach dem Mauerbau 1961 formierten sich eine Reihe kommerzieller und nichtkommerzieller Fluchthelfergruppen, die fluchtwillige DDR-Bürger sowohl über die Westgrenzen als auch über die Staaten des Ostblocks außer Landes brachten. In den sozialistischen Staaten war es für die Fluchthelfer dabei von Vorteil, dass sie nicht die andauernde Präsenz des MfS fürchten mussten. Zu den bekanntesten Fluchthelfergruppen in den 1960er-Jahren gehörten die um Wolfgang Fuchs, Hasso Her58 59

Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 7. Ebd., S. 76, 79.

Zusammenarbeit an der Grenzübergangsstelle Görlitz

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schel, Joachim Pudelski, Fritz Wagner, Klaus Wordel, Wolfgang Löffler, Karlheinz Bley sowie Albert Schütz.60 Ab dem Jahr 1970 stiegen die Fluchtversuche über das „sozialistische Ausland“ weiter an. Hier erhöhte sich der Anteil geglückter Fluchten im Verhältnis zur Gesamtzahl auf 47 Prozent gegenüber 32 Prozent im Vorjahr.61 Nach den Erkenntnissen des MfS arbeiteten nun auch die Fluchthelfergruppen vorwiegend in den Ländern des Ostblocks. Lediglich ein Drittel aller Fluchtversuche fand zu Beginn der 1970er-Jahre über den Transitverkehr zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik statt. Fluchtvorhaben über die Ostblockländer lassen sich im Nachhinein aus den Flüchtlingszahlen des MfS wie auch aus den Erklärungen der Fluchthelfergruppen rekonstruieren. So gelang es den oben genannten Gruppen, zwischen 1964 und 1969 330 DDR-Bürger vor allem über Ungarn, Bulgarien, Jugoslawien sowie die ČSSR in den Westen zu bringen. Bei diesen Berechnungen bleiben individuelle, der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemachte Fluchten über die Ostblockstaaten natürlich unberücksichtigt. Auf Grundlage der den MfS-Akten zu entnehmenden Zahlen ist davon auszugehen, dass in den 1960er-Jahren rund 5.000 DDR-Bürger ihre Flucht über die Länder des Ostblocks vornahmen. Diese Einschätzung schließt sowohl „verhinderte“ als auch „geglückte“ Fluchten mit ein. Gegenüber der Fluchtbewegung über die Westgrenzen – zwischen 1961 und 1969 hatten rund 130.000 DDR-Bürger ihr Land ohne Genehmigung über die innerdeutschen Grenzen verlassen62 – stellt diese Zahl zwar kein Schwergewicht dar, sie ist aber auch nicht als marginal anzusehen. 4.5 Die Zusammenarbeit am Beispiel der Grenzübergangsstelle Görlitz Ein Blick auf das Kontrollsystem an der Grenzübergangsstelle Görlitz im Jahr 1965 soll den Ablauf und die Aufgaben der einzelnen Grenzschutzorgane bei der Abfertigung der Kontrollen veranschaulichen. Da eine gemeinsame Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs an der Oder und Neiße durch ostdeutsche und polnische Grenzschutzorgane erst kurze Zeit vor Inkrafttreten des pass- und visafreien Verkehrs Anfang 1972 erfolgte, wurde die Abfertigung bis dahin durch die Behörden der jeweiligen Länder selbst durchgeführt.

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Zur Fluchthilfe allgemein Wolfgang Welsch, Ich war Staatsfeind Nr. 1, München 2007; Marion Detjen, Ein Loch in der Mauer. Die Geschichte der Fluchthilfe im geteilten Deutschland 1961–1989, München 2005. Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 7ff. Vgl. Alexandra Hildebrandt, Die Mauer. Zahlen. Daten, Berlin 3. Aufl. 2008, S. 55.

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An der Grenzübergangsstelle der Autostraße in Görlitz erfolgte Mitte der 1960erJahre die Abfertigung des gesamten grenzüberschreitenden Verkehrs in beide Richtungen jeweils auf einer am Kontrollgebäude entlangführenden Spur. Neben den Passkontrolleinheiten waren die Zollverwaltung sowie die Deutsche Notenbank an der Grenzabfertigung beteiligt. Die Grenztruppen waren zwar an der Grenzübergangsstelle präsent, sie spielten im Kontrollsystem jedoch keine Rolle. Der Ablauf der Grenzabfertigung bestand aus sechs verschiedenen Schritten, die die Grenzschutzorgane getrennt voneinander durchzuführen hatten – die Reihenfolge bei der Ein- und Ausreise war dabei identisch.63 Bei der genaueren Betrachtung der den einzelnen Organen zugeordneten Aufgaben bei der Abfertigung fällt sofort das Übergewicht des MfS gegenüber den anderen Grenzschutzorganen auf. Gleich die ersten vier Schritte wurden durch die Passkontrolleinheiten vorgenommen: Hierzu gehörte die Identitätskontrolle des Reisenden, die anhand des Passes zweifelsfrei festgestellt werden sollte. Es folgte die Überprüfung der Reisedokumente auf ihre Gültigkeit. Hierbei wurden die Echtheit des Visums und Passes sowie deren Gültigkeitsdauer überprüft. In einem dritten Schritt hatten die Passkontrolleinheiten die „Fahndung“ und „Filtrierung“ der Reisenden durchzuführen. Im Rahmen der Fahndung war festzustellen, ob der Reisende gesucht würde oder ob für diesen eine Reisesperre vorliege. Die Filtrierung wiederum war ein seit Mitte der 1960er-Jahre üblicher Arbeitsprozess der Passkontrolleinheiten zur systematischen Untersuchung der Reiseströme an den Grenzübergangsstellen. Durch eine gezielte Befragung des Reisenden sollten mit der Filtrierung bestimmte Informationen über Personen und Sachverhalte eingeholt werden. Falls sich bei den Kontrollen keine Auffälligkeiten feststellen ließen, folgte in einem vierten Arbeitsgang die Abstempelung des Reisevisums und der Reisedokumente. Der fünfte Schritt oblag der Zollverwaltung, die die Reisenden sowie die Fahrzeuge auf Waren, Beförderungspapiere und Personen kontrollierte. Hiernach folgten die Arbeitsgänge der Mitarbeiter der Deutschen Notenbank. Seitdem 1963 ein Zwangsumtausch für Auslandsreisende eingeführt worden war, musste man an diesen Stellen festgesetzte Beträge tauschen. Die Abfertigungszeiten für Personenkraftwagen lagen in Görlitz zwischen drei und acht Minuten, jene für Reisebusse zwischen zehn und 20 Minuten. In Phasen erhöhten Reiseverkehrs konnten nach einem MfS-Bericht von sechs Passkontrollkräften, acht Zollbeamten und zwei Angehörigen der Deutschen Notenbank jeweils in einer Richtung pro Stunde bis zu 100 Personenkraftwagen und zehn Reisebusse

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BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. VI, 2579, Bd. 2, Bl. 66–73: „Plan des Zusammenwirkens der an der Grenzübergangsstelle eingesetzten Organe bei besonderen Vorkommnissen“, Ministerium für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Dresden, Passkontrolleinheit Görlitz/Straße, 1. Mai 1965.

Zusammenarbeit an der Grenzübergangsstelle Görlitz

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abgefertigt werden.64 Die relativ hohe Anzahl der Zollbeamten erklärt sich durch die penible Durchsuchung von Personen und Fahrzeugen. Bei „besonderen Vorkommnissen“ an der Grenzübergangsstelle hatten die einzelnen Organe in ganz besonderer Weise zusammenzuarbeiten. Beim Versuch eines gewaltsamen „Grenzdurchbruchs“ mit einem Personenkraftwagen in Richtung Polen oder DDR, bei der Feststellung von „Schleusungen“, bei „Provokationen“ oder bei Bränden an der Grenzübergangsstelle kamen auch die Grenztruppen zum Einsatz. Beim Versuch eines gewaltsamen Grenzdurchbruchs hatten diese die Aufgabe, sofort Alarm auszulösen, das Fahrzeug aufzuhalten und den Flüchtenden gefangen zu nehmen. Die Verhinderung der Flucht hatte höchste Priorität und sollte im Ernstfall von den Grenztruppen durch die „Vernichtung“ – also die Tötung des Flüchtenden – erreicht werden. Bei solchen besonderen Vorkommnissen hatten die Zollbeamten die Grenztruppen dabei zu unterstützen, das Fahrzeug aufzuhalten; ansonsten fiel den Zollbeamten eine vergleichsweise passive Rolle zu: Die Zollkontrollen waren sofort einzustellen und weitere anfahrende Fahrzeuge zu stoppen. Ferner hatten sie die Aufgabe, sämtliche Reisenden in das Kontrollgebäude zu verweisen und die Arbeitsräume abzusichern. Im Falle von „Schleusungen“ in PKWs sollten die Zollbeamten sämtliche Insassen aus dem Fahrzeug führen und den Passkontrolleinheiten übergeben. Die Angehörigen des MfS standen bei „besonderen Vorkommnissen“ in der Befehlskette ganz oben: Neben allgemeinen Sicherungsaufgaben, wie der Schließung der Schlagbäume und der Einstellung der Abfertigung von Reisenden, der Sicherung von Arbeitsräumen und Zivilpersonen, hatten die Passkontrolleinheiten die besondere Pflicht, den Vorfall bei der vorgesetzten Dienststelle zu melden und die „Erstvernehmung“ der festgenommenen Personen durchzuführen.65 Von einer Kooperation der Passkontrolleinheiten mit dem polnischen Grenzschutz an der Grenzübergangsstelle Görlitz/Zgorzelec kann bis Anfang der 1970erJahre nicht gesprochen werden. Alles in allem wurde zu dieser Zeit von Seiten des MfS die Zusammenarbeit mit dem polnischen Grenzschutz in Zgorzelec eher als schlecht eingeschätzt. In einem MfS-Bericht von 1971 heißt es, dass die „bisherige Praxis überwiegend so [war], daß der polnische Leiter der Paßkontrolle sich zur Klärung von Sachverhalten in erster Linie an die Grenztruppen wandte“.66 Während 64 65

66

BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. VI, 2579, Bd. 2, Bl. 62f.: „Kontrollsystem GÜSTGörlitz/Straße“, Ministerium für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Dresden, Passkontrolleinheit Görlitz/Straße, 11. Mai 1965. BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. VI, 2579, Bd. 2, Bl. 66–73: „Plan des Zusammenwirkens der an der Grenzübergangsstelle eingesetzten Organe bei besonderen Vorkommnissen“, Ministerium für Staatssicherheit, Bezirksverwaltung Dresden, Passkontrolleinheit Görlitz/Straße, 1. Mai 1965. BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. VI, 2579, Bd. 2, Bl. 170f.: „Einschätzung der Zusammenarbeit mit dem Paßkontrollorgan der VR Polen“, Bezirksverwaltung für Staatssicherheit

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das MfS den polnischen Kollegen regelmäßig Hinweise über auffällige Personen im grenzüberschreitenden Reiseverkehr weitergab, fand von polnischer Seite keinerlei Informationstransfer statt. Laut des MfS-Berichts fehlte es den „polnischen Genossen am notwendigen tschekistischen Herangehen“.67 4.6 „Prager Frühling“ 1968 – der „sozialistische Internationalismus“ erhält eine neue Bedeutung Seit Mitte der 1960er-Jahre hatte sich in der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KSČ) eine Gruppe von Reformern konstituiert, die für einen eigenständigen Weg der Tschechoslowakei zum Sozialismus eintrat. Nachdem sich die Partei im Herbst 1967 aufgrund unterschiedlicher Positionen bezüglich des Vorgehens gegen Regimekritik und wachsende Proteste im Land gespalten hatte, wurde Alexander Dubček im Januar 1968 zum Ersten Sekretär des ZK der KSČ gewählt. Von ihm versprach sich Moskau zunächst eine Konsolidierung der Verhältnisse in der Tschechoslowakei. Doch es sollte anders kommen: Im März 1968 wurde der amtierende Staatspräsident Antonín Novotný durch den als gemäßigt geltenden General Ludvík Svoboda ersetzt. Anfang April 1968 verabschiedete die Führung der KSČ schließlich ein Aktionsprogramm, in dem das vielzitierte Reform-Motto vom „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ festgeschrieben war und das auf Wirtschaftsreformen, Rede- und Pressefreiheit sowie eine allgemeine Neuausrichtung der kommunistischen Partei in Staat und Gesellschaft zielte.68 Das Prager Aktionsprogramm löste in der DDR große Besorgnis innerhalb der SED-Führung aus.69 Denn vor dem Hintergrund der „deutschen Frage“ war für kein anderes Land im Ostblock der Zusammenhalt des „sozialistischen Lagers“ von so existenzieller Bedeutung wie für die DDR.70 Um die ČSSR vor einem Ausscheren aus dem sozialistischen Lager zu bewahren, wurde bereits am 17. März 1967 zwischen den Regierungen der DDR und der Tschechoslowakei der Vertrag über „Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand“ abgeschlossen. Im

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Dresden, Abt. VI, Linie Paßkontrolle an das Ministerium für Staatssicherheit, HA VI Linie Paßkontrolle, Genossen Oberstleutnant Vogel, Dresden, 24. Februar 1971. Ebd., Bl. 171. Hierzu Besier, Diktaturen, S. 528ff.; Schwarz, Brüderlich entzweit, S. 289. Rudolf Hilf, Deutsche und Tschechen. Bedeutung und Wandlungen einer Nachbarschaft in Mitteleuropa, Opladen 1973, S. 96. Monika Tantzscher, „Maßnahme Donau und Einsatz Genesung“. Die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968/69 im Spiegel der MfS-Akten (Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, Reihe B, Analysen und Berichte Nr. 1/1994), Berlin 1994, S. 3.

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Wortlaut glich der Vertrag dem offiziellen Titel des 1955 ins Leben gerufenen Warschauer Paktes. Damit wurde versucht, nicht nur an alte Verpflichtungen anzuknüpfen, sondern auch die künftige Grundrichtung der Beziehungen vorzugeben.71 Bereits Monate vor der Zuspitzung der Ereignisse im August 1968 läuteten in der DDR die Alarmglocken. So verglich Peter Florin, DDR-Botschafter in Prag, in seinem Bericht vom 10. März 1968 die „gegenwärtige Situation in der ČSSR“ mit dem „Vorabend des konterrevolutionären Putsches 1956 in Ungarn“. Florin sprach von einem „systematischen Angriff gegen die staatlichen Machtorgane, ihre Repräsentanten, gegen die Stützen der sozialistischen Gesellschaft und gegen Grundfragen des Sozialismus“.72 Auch für Mielke stand zu dieser Zeit fest, dass „völlig klar [sei], dass das sozialistische Lager niemals die ČSSR allein lassen wird“. Weiterhin beteuerte er, dass „das sozialistische Lager dem Gegner nicht gestatten [wird], die ČSSR auf den kapitalistischen Weg zurückzuzerren“.73 Das MfS arbeitete fortan auf Hochtouren, um die „Konterrevolution“ im Nachbarland noch im Keim zu ersticken. Zunächst verstärkte das MfS die Zusammenarbeit innerhalb aller Abteilungen.74 Herausragende Bedeutung erhielten dabei die Agenturinformationen des Auslandsnachrichtendienstes Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) beim MfS. Zu den überlieferten Materialien über konkrete Einsätze der Staatssicherheit in der Zeit des „Prager Frühlings“ gehört der „Maßnahmeplan zur Zurückdrängung konterrevolutionärer Einflüsse und zur Stärkung progressiver Kräfte in der ČSSR“ vom 14. Juni 1968. Dessen vorrangiges Ziel war es, Informationen aus den „Zentren des Gegners“ zu beschaffen. Um zu klären, inwiefern der „Prager Frühling“ ein „Putschversuch“ der Westmächte sei bzw. als eine „Konterrevolution“ vom Westen instrumentalisiert werden könne, entsandte die Staatssicherheit in den Monaten Juni bis August sorgsam ausgewählte Inoffizielle Mitarbeiter in die Tschechoslowakei. Davon sollten 61 IM Verbindungen zu ČSSR-Bürgern mit „progressiver“ Einstellung herstellen und acht IM ČSSRBürger mit „politisch-negativer“ bzw. „schwankender“ Einstellung aushorchen; weitere 22 Mitarbeiter unterschiedlicher Abteilungen des MfS kamen aufgrund persönlicher Kontakte zu ČSSR-Bürgern sowie dienstlicher Beziehungen zum Einsatz.75 71 72

73 74 75

Vgl. Ziebart, Bilanz einer deutsch-tschechischen Alternative, S. 26. Zit. nach: Thomas Großbölting, Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ und das Ministerium für Staatssicherheit der DDR, in: Stefan Karner/Natalja Tomilina/Alexander Tschubarjan u.a. (Hg.), Prager Frühling, Das internationale Krisenjahr 1968 (Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Sonderband 9/1), Köln 2008, S. 807–820, hier S. 810. Ebd., S. 811. Vgl. Tantzscher, „Maßnahme Donau“, S. 15f. BStU, ZA, SdM 1437. – Vermerk: gefertigte 2 Exemplare: „Maßnahmeplan der HVA zur Zurückdrängung konterrevolutionärer Einflüsse und zur Stärkung progressiver Kräfte in der

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Neben den von tschechoslowakischen Bürgern und Informanten gewonnenen Erkenntnissen nutzte die HVA weitere Quellen und griff dabei auch auf die tschechoslowakischen Medien Presse, Rundfunk und Fernsehen zurück.76 Weil dem Minister für Staatssicherheit diese Informationen nicht ausreichten, wurde Mitte Juli eine Anweisung ausgegeben, wonach sämtliche MfS-Mitarbeiter, die ihren Sommerurlaub in der ČSSR verbrachten, über die Situation berichten sollten.77 Ende Juli hatte sich die Lage im Nachbarland so zugespitzt, dass Mielke allen Diensteinheiten des MfS ein kurzfristiges generelles Urlaubsverbot erteilte.78 Zu den wesentlichen Bestimmungen aus den Wochen vor der Intervention zählt der Befehl Nr. 18/68 des Ministers des Innern und Chefs der Volkspolizei über das „Zusammenwirken der Kräfte des Ministeriums des Innern, des Ministeriums für Staatssicherheit und des Ministeriums für Nationale Verteidigung bei der Aufklärung und Abwehr von Handlungen gegen die Staatsgrenze der DDR“ vom 10. Juli 1968. Um ein Überschwappen der „Konterrevolution“ über die Ostgrenzen in die DDR zu verhindern, wurden die im Grenzregime vereinten Staatsorgane zu erhöhter Alarmbereitschaft und verstärkter Zusammenarbeit angewiesen. Unter Führung der Kommandeure der Grenztruppen hatten Diensteinheiten der Deutschen Volkspolizei und des MfS „alle Maßnahmen zur Abwehr gegnerischer Handlungen, zur Verhinderung des ungesetzlichen Grenzübertritts und Verletzung der Grenzordnung“ gegenseitig abzustimmen.79 Letztlich sollte die Zusammenarbeit der Organe zu einer „operativ-vorbeugenden“ Vorfeldaufklärung führen, um alle geplanten Angriffe auf die Ostgrenzen der DDR schon im Landesinneren zu verhindern.80 Weiterhin sammelte das MfS sämtliche Informationen über die Reaktionen der DDR-Bevölkerung auf die Ereignisse in der ČSSR – vor allem sollte dies durch eine intensive Zusammenarbeit zwischen dem MfS und der Zollverwaltung erreicht werden. Darüber hinaus galt es, privat oder geschäftlich in die DDR einreisende Tschechoslowaken zu observieren. Einer besonders strengen Beobachtung unterstanden dabei diejenigen Personen, die ihren Urlaub in den Sommermonaten an den Ostseestränden verbracht hatten.81 In der Nacht zum 21. August 1968 begann schließlich der Truppeneinmarsch der Warschauer Pakt-Staaten in Prag. Die von der Sowjetunion geleitete und veran-

76 77 78 79 80 81

ČSSR“, 14. Juni 1968. Vgl. Ivaničková, Die Krise der Beziehungen, S. 160f. Vgl. Tantzscher, „Maßnahme Donau“, S. 28. BStU, ZA, Dokumentationsstelle 101830. Vermerk: BdL/902/68: „Schreiben Mielkes“, 29. Juli 1968. Ebd. Ebd. Vgl. Lutz Prieß/Václav Kural/Manfred Wilke, Die SED und der „Prager Frühling“ 1968. Politik gegen einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, Berlin 1996, S. 170.

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lasste Invasion führte auf Seiten der DDR zu einer weiteren Verschärfung des Grenzregimes im Osten des Landes: Der gesamte Südosten der DDR war zum Sperrgebiet geworden. Um Mitternacht des 21. August wurden sämtliche Grenzübergangsstellen zwischen der DDR und der ČSSR geschlossen und der Personen- und Güterverkehr auf sämtlichen Trassen in beide Richtungen eingestellt; auf den Zufahrtsstraßen zur tschechoslowakischen Grenze richtete die Volkspolizei Kontrollpunkte ein und stoppte die Weiterreise von „Ausländern, Westdeutschen und Westberlinern“. Selbst Bürgern der DDR untersagte man die Einreise in die Tschechoslowakei.82

17 „Prager Frühling“ 1968: Blick aus einem Fenster in der Prager Innenstadt am ersten Tag der Okkupation

Die von der Volkspolizei eingeleiteten Maßnahmen erinnern an staatliche Notstandsverordnungen. Sämtliche in Richtung Tschechoslowakei angehaltene „Ausländer“ sperrte man in speziell eingerichtete „Sammelräume“ und verbot ihnen, diese zu verlassen. Auch die aus Polen eingereisten Tschechoslowaken wurden in diese „Sammelräume“ gesperrt. Am Abend des 22. August befanden sich in den in elf verschiedenen Städten eingerichteten „Sammelräumen“ fast 4.500 ausländi82

Zit. nach: „3. Bericht des MdI über die mit Wirkung vom 21. August 1968, 00.00 Uhr, eingeleiteten Maßnahmen“, abgedruckt als Dok. Nr. 9 in: Tantzscher, „Maßnahme Donau“, S. 96ff.

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sche Bürger, deren mitgeführte Fahrzeuge kurzerhand beschlagnahmt wurden.83 Seit dem 21. August sammelte die Volkspolizei auch alle Arten von „Hetzschriften“, „Schmierereien“ und Flugblätter, die sich gegen den sowjetischen Truppeneinmarsch richteten, und leitete mehrere Hundert Ermittlungsverfahren ein.84 Am 27. August erteilte der Minister für Staatssicherheit an sämtliche operative Abteilungen des MfS den Befehl zur sogenannten Aktion Genesung. Bereits die von Mielke zynisch gewählte Losung macht deutlich, dass aus Sicht des MfS die Situation in der Tschechoslowakei beruhigt schien sowie die unmittelbare Gefahr für eine „Konterrevolution“ in der DDR vorerst gebannt war. Um die bisher getroffenen Maßnahmen an der Grenze zur Tschechoslowakei weiter aufrecht zu erhalten, sollten im Einsatz „Genesung“ sämtliche Handlungen wie „feindliches Verhalten von ČSSR-Bürgern“ gegenüber dem „sozialistischen Lager“ sowie der DDR sorgfältig dokumentiert und nach Möglichkeit fotografisch oder auf Tonband festgehalten werden.85 Wie aus dem Protokoll des in der polnischen Stadt Legnica erfolgten Treffens am 29. August zwischen dem Minister für Nationale Verteidigung, Armeegeneral Hoffmann, und dem Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte, Marschall Jakubowski, hervorgeht, hatte sich die krisenhafte Situation in der ČSSR inzwischen weitestgehend normalisiert. Daher wurde beschlossen, die Grenze zwischen der DDR und der ČSSR wieder zu öffnen: „Bei entsprechenden Kontrollen“, so Jakubowski, seien „gegen die Aufnahme des grenzüberschreitenden Personenverkehrs“ keine Einwände zu erheben.86 Noch am Vormittag des 31. August 1968 nahm man den grenzüberschreitenden Reiseverkehr zwischen der DDR und der ČSSR unter Einschränkungen im Dienst-, Privat- und Touristenverkehr wieder auf. Privatreisen in die Tschechoslowakei sollten aber lediglich über staatliche Reisebüros genehmigt werden; auch der Transitverkehr von DDR-Bürgern durch die ČSSR blieb lediglich über das Schienennetz der Eisenbahn gestattet. Bürger sozialistischer Staaten erhielten außerdem bei der Einreise in die Tschechoslowakei eine „Zählkarte“. Ausländischen Bürgern, West-Berlinern und Westdeutschen blieb die

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Ebd. Ebd. BStU, ZA, Dokumentenstelle 101830. – Vermerk: BdL/1045/68: „Schreiben Mielkes an die Leiter der Operative[n] Haupt-/selbst. Abteilungen im Hause“, 27. August 1968. BStU, ZA, SdM 34. – Vermerk: Geheime Verschlußsache! VS-Nr.: A 58926; Persönlich! 4. Ausfertigung: „Niederschrift von Generaloberst Keßler (MfNV) über das am 29. August 1968 im Führungsstab des Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte in Legnica stattgefundenen Treffen des Ministers für Nationale Verteidigung der DDR, Armeegeneral Hoffmann, mit dem Oberkommandierenden der Vereinten Streitkräfte, Marschall der Sowjetunion Jakubowski“, 29. August 1968.

„Prager Frühling“ 1968

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Einreise in die ČSSR weiterhin grundsätzlich untersagt – diese Personen sollten sich nicht einmal im Grenzgebiet zur Tschechoslowakei aufhalten dürfen.87 Welche Rolle spielten aber NVA und Grenztruppen während der kritischen Phase im August 1968? Die Forschung stimmt heute darin überein, dass NVATruppen trotz ihrer Einbindung in die sowjetische Kommandostruktur sowie einzelner Grenzübertritte nicht beim Truppeneinmarsch in die Tschechoslowakei teilgenommen haben. Die Invasion am 20./21. August 1968 wurde von sowjetischen, polnischen, ungarischen und bulgarischen Truppen durchgeführt. Dennoch war die NVA – die „Armee des Friedens“ der DDR – als Bestandteil einer „sozialistischen Koalitionsarmee“ in die bis dahin größte Militäraktion in Europa nach dem Ausgang des Zweiten Weltkriegs eingebunden.88 Obwohl zwei Divisionen der NVA seit Juli 1968 lediglich den Nachschub und das Hinterland absicherten und sich während der Invasion die gesamte Zeit auf dem Territorium der DDR aufhielten, waren sie jederzeit bereit, einen Befehl zum Einmarsch in die ČSSR zu erfüllen.89 Die Entscheidung der KPdSU-Führung um Leonid Breschnew, die NVA-Truppen nicht unmittelbar am Truppeneinmarsch teilnehmen zu lassen, wird in der DDRForschung kontrovers diskutiert: Sie wird wohl eher eine militärische Zweckentscheidung gewesen sein als eine politische Rücksichtnahme auf das Völkerrecht oder die Gefühle der Bürger im Nachbarland.90 Was die Grenztruppen anbelangt, so wurde im Verteidigungsministerium bereits seit Mai 1968 mit Blick auf eine mögliche Intervention in der ČSSR die Aktion „Sperrmauer“ vorbereitet, zu der neben einer verstärkten Überwachung der Grenzbezirke zur Tschechoslowakei auch die Bildung einer neuen Grenzbrigade sowie die erhöhte Gefechtsbereitschaft aller Grenztruppen für den „Tag X“ gehörten.91 Gleichzeitig wurden mit dem Aufmarsch der Warschauer-Pakt-Streitkräfte zwei Regimenter der DDR-Grenztruppen in einer Stärke von 2.500 Mann von der innerdeutschen Grenze sowie der Berliner Mauer abgezogen und an der Grenze zur Tschechoslowakei postiert. Von der bisher an den Grenzen zu sozialistischen Län87 88 89 90

91

BStU, ZA, MfS-BdL/Dok. Nr. 004265, Dokumentenstelle 101830. – Vermerk: BdL/1074/68, Eilt!: „Schreiben Mielkes an die Leiter der Haupt-/selbst. Abteilungen im Hause“, 31. August 1968. Hierzu Prieß/Kural/Wilke, Die SED und der „Prager Frühling“ 1968, S. 239. Vgl. Rüdiger Wenzke, Die NVA und der Prager Frühling 1968. Die Rolle Ulbrichts und der DDR-Streitkräfte bei der Niederschlagung der tschechoslowakischen Reformbewegung, Berlin 1995, S. 158f.; Besier, Diktaturen, S. 532; Schwarz, Brüderlich entzweit, S. 315f. Vgl. Wenzke, Die NVA und der Prager Frühling 1968, S. 141, 256. Siehe zur Auffassung, dass Breschnew der Aufmarsch deutscher Truppen nur 30 Jahre nach dem Einmarsch der Wehrmacht 1938 politisch zu heikel gewesen wäre, die Ausführungen bei Wolfrum, Die Mauer, S. 62. Hierzu Wolfrum, Die Mauer, S. 237.

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Die Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit (1961–1972)

dern üblichen Grenzüberwachung ging man zur erhöhten Grenzsicherung über und sicherte so den Einmarsch in die Tschechoslowakei auch geostrategisch ab. Erst mit dem Befehl 44/68 des Chefs der Grenztruppen der NVA vom 17. September 1968 wurden die zusätzlich an der Grenze zur Tschechoslowakei stationierten Truppenteile wieder abgezogen und das Grenzregime gelockert – von der Grenzsicherung ging man zunächst noch zur „verstärkten Grenzüberwachung“ über.92 Ähnlich wie die NVA waren die in den Osten des Landes abkommandierten Grenztruppen und andere Staatsorgane wie das MfS, die Volkspolizei und die Zollbehörden indirekt an der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ beteiligt: Zum einen gelang es den Einheiten des MfS, der Volkspolizei und der Zollbehörden, eine in der DDR öffentlich artikulierte Solidarität mit den Reformbemühungen im Nachbarland zu verhindern. Zum anderen riegelten diese Staatsorgane gemeinsam mit der NVA und den Grenztruppen die Ostgrenzen zur Tschechoslowakei hermetisch ab. Sie trugen dazu bei, dass der „Prager Frühling“ geopolitisch isoliert und ein „Überschwappen der Konterrevolution“ in die DDR verhindert werden konnte. Die moralische Wirkung dieser Invasion ließ jedoch nicht lang auf sich warten. Insbesondere jüngere Menschen, bei denen noch eine eingeschränkte Systemloyalität vorherrschte, wurden durch die Ereignisse des „Prager Frühlings“ traumatisch desillusioniert.93 Als Folge der Invasion der Warschauer-Pakt-Truppen in die Tschechoslowakei wurde nur wenige Monate später die sogenannte Breschnew-Doktrin offiziell verkündet. Die Doktrin ging von der „beschränkten Souveränität“ der sowjetischen Satellitenstaaten aus, woraus das Recht abgeleitet wurde, militärisch einzugreifen, wenn der Sozialismus in einem der Ostblockländer bedroht würde.94 Mit der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ erhielt damit auch das marxistischleninistische Prinzip des „sozialistischen Internationalismus“ eine neue Bedeutung. Denn seitdem neben der Sowjetunion auch andere Warschauer Vertragsstaaten zur Rettung des Sozialismus eingreifen durften, bedeutete der „sozialistische Internationalismus“ nicht mehr allein Freundschaft, Beistand und Unterstützung zwischen den „Bruderländern“, sondern ebenso eine verschärfte gegenseitige Kontrolle bis hin zum Einsatz militärischer Gewalt, im Zuge derer schließlich auch blutige Auseinandersetzungen und Tote billigend in Kauf genommen wurden.95

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Vgl. Lapp, Gefechtsdienst im Frieden, S. 43, 201. Wolfrum, Die Mauer, S. 62f. Hierzu allgemein Matthew J. Ouimet, The Rise and Fall of the Brezhnev Doctrine in Soviet Foreign Policy, Chapel Hill 2003. Siehe hierzu die einschlägigen Publikationen von Rainer Eckert.

5. Scheinbare Durchlässigkeit der Ostgrenzen der DDR in der Ära der Entspannung (1972–1980) 5.1 Transnationale Wirkung des freien Reiseverkehrs auf Politik und Gesellschaft in der DDR und in Polen Nur ein Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer kam es mit der Kubakrise zur wohl dramatischsten Zuspitzung des Kalten Kriegs – einem gefährlichen Muskelspiel zwischen der UdSSR und den USA, das die Welt für alle sichtbar an den Rand eines Atomkriegs führte. Aber auch der seit 1965 immer brutaler werdende VietnamKrieg sowie die gewaltsame Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 ließen international den Wunsch nach militärischer Abrüstung sowie einer allgemeinen Entspannung des Ost-West-Gegensatzes wachsen. Gegen Ende der Dekade bemühten sich die Mächte in Ost und West schließlich um eine deutliche Verbesserung der politischen Atmosphäre.1 Im Zuge der Neuen Ostpolitik Willy Brandts und dem darin festgelegten Prinzip „Wandel durch Annäherung“ schloss die Bundesrepublik 1970 mit der UdSSR den Moskauer Vertrag, mit Polen den Warschauer Vertrag und mit der DDR schließlich 1972 den Grundlagenvertrag ab. Zu Anfang der 1970er-Jahre trat das „sozialistische Lager“ aber auch in eine neue Etappe der inneren Entwicklung und gegenseitigen Annäherung, die hauptsächlich von der Idee einer zunehmenden Verflechtung der sozialistischen Volkswirtschaften geleitet war. Nachdem der neue Kurs in den benachbarten „Bruderländern“ intern festgelegt worden war – so geschehen auf dem VIII. Parteitag der SED im Sommer 1971 –, beschlossen die ostdeutsche und polnische Führung wenige Wochen später,2 trennende Barrieren zwischen ihren Staaten aufzulösen.3 Auch in den Beratungen zwischen Partei- und Regierungsdelegationen der DDR und der Tschechoslowakei in Lány am 11./12. November 1971 wurde inhaltlich wie atmosphärisch eine neue Etappe der Zusammenarbeit zwischen den Ländern eingeleitet. Eine wichtige Weichenstellung oder auch Voraussetzung für die neue Qualität dieser transnationalen Kooperation und Hinwendung der DDR gegenüber ihren benachbarten „Bruderländern“ war die zu dieser Zeit erstmals erklärte Selbstbeschrei1 2

3

Im Einzelnen dazu: Bernd Stöver, Der Kalte Krieg, München 2003, S. 89. Die Zeit um 1970/71 markiert einen Wendepunkt in der Innenpolitik Polens und der DDR und verstärkte die Hoffnungen auf eine Liberalisierung – in beiden Ländern wurden die obersten Regierungsvertreter, Walter Ulbricht und Władysław Gomułka, abgesetzt. Ihnen folgten Erich Honecker und Edward Gierek. Vgl. Czesław Osękowski, Der pass- und visafreie Personenverkehr zwischen der DDR und Polen in den siebziger Jahren – Politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Auswirkungen, in: Kerski u.a. (Hg.), Zwangsverordnete Freundschaft?, S. 123–134, hier S. 124.

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Scheinbare Durchlässigkeit der Ostgrenzen (1972–1980)

bung der DDR als eine „sozialistische Nation“. Die DDR als Nation – wenn auch als „sozialistische“: Das war in der bisherigen 20-jährigen Geschichte des „Arbeiterund Bauernstaates“ etwas Neues und im Grunde erst durch die Neue Ostpolitik der sozialliberalen Regierung möglich geworden. Denn bis zum Ende der Großen Koalition 1969 waren die Bundesregierungen aufgrund des Alleinvertretungsanspruchs der Bundesrepublik nicht bereit gewesen, die DDR staatlich anzuerkennen. Auf der anderen Seite hatte die SED bis dahin die Theorie von der Existenz zweier deutscher Staaten, die beide einer Nation angehören, vertreten. Die von der sozialliberalen Regierung seit 1969 begonnene Ost- und Deutschlandpolitik sowie der Rücktritt Ulbrichts veränderten jedoch die Koordinaten der Beziehungsgeschichte von den zwei Staaten in Deutschland. Dass beide einer Nation angehörten, wurde jetzt von der SED durch die Konstruktion einer „sozialistischen Nation“ nachdrücklich in Frage gestellt.4 Fortan ging man in der DDR davon aus, dass in der Bundesrepublik die bürgerlich-kapitalistische Nation bewahrt worden sei, während sich in der DDR eine „sozialistische Nation“ entwickelt habe.5 Die Selbstbeschreibung der DDR als „sozialistische Nation“ lässt sich zuerst in den Beschlüssen des VIII. SED-Parteitags 1971 sowie in der von der SED herausgegebenen politisch-ideologischen Literatur nachvollziehen. In einer dieser Schriften mit dem Titel „Zur Entwicklung der sozialistischen Nation in der DDR“ heißt es denn auch im Vorwort: Der VIII. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei hat beschlossen, die Deutsche Demokratische Republik als sozialistischen Staat weiter zu profilieren und fest in der sozialistischen Gemeinschaft zu verankern. […] In voller Übereinstimmung mit dieser objektiven sozialökonomischen und klassenmäßigen Entwicklung vollziehen sich folgende Prozesse: die weitere Herausbildung und das Aufblühen der sozialistischen Nation in der DDR und gleichzeitig die Annäherung an die sozialistischen Brudernationen.6

Die verstärkte Annäherung der DDR an ihre östlichen Nachbarländer Polen und die Tschechoslowakei sowie die von der SED forcierte Entwicklung hin zur „sozialistischen Nation“ gingen Hand in Hand und dürfen nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Dabei hing diese Entwicklung nicht nur mit der Neuausrichtung der deutsch-deutschen Beziehungen zusammen. Im Zuge der Neuen Ostpolitik, die sich um ein besseres Verhältnis auch zu den anderen Ostblockländern bemühte, kamen bei der SED Befürchtungen auf, die DDR könne in Europa zunehmend 4 5 6

Hierzu Christoph Kleßmann, Zwei Staaten, eine Nation. Deutsche Geschichte 1955–1970 (Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 343), Bonn 2. Auflage 1997. Zur DDR als Nation allgemein Alfred Kosing, Nation in Geschichte und Gegenwart, Berlin 1976. Zit. nach: Hermann Axen, Zur Entwicklung der sozialistischen Nation der DDR, Berlin 1973, S. 3.

Transnationale Wirkung des freien Reiseverkehrs

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außenpolitisch isoliert werden.7 Die Machthaber in der DDR verfolgten daher das Ziel, ihren Staat mit der für politische Selbstbestimmung und Souveränität stehenden „sozialistischen Nation“ gegenüber der Bundesrepublik aufzuwerten. Außenpolitisch versuchte die DDR nachzuziehen und über die neue Identitätsformel die Verbundenheit mit den benachbarten „Brudernationen“ noch stärker zu betonen. Diese Verbundenheit äußerte sich schließlich auch in der Idee einer gemeinsamen Grenzpolitik. Die Öffnung der Ostgrenzen der DDR zu Polen und der Tschechoslowakei zu Anfang des Jahres 1972 steht daher in engem Zusammenhang mit der nach Entspannung strebenden Neuen Ostpolitik Willy Brandts. Zum 1. Januar 1972 wurde der pass- und visafreie Reiseverkehr zwischen der DDR und Polen, zum 15. Januar zwischen der DDR und der Tschechoslowakei eingeführt.8 Von ostdeutscher Seite wollte man damit natürlich auch dem seit den 1960er-Jahren immer stärker werdenden Wunsch der DDR-Bevölkerung nach Auslandsreisen entsprechen. Fortan konnten die Bürger der Vertragsstaaten die Grenzen der benachbarten „Bruderländer“ für einen Aufenthalt bis zu drei Monaten, lediglich mit einem Personalausweis bzw. Reisepass als Identifikationsdokument ausgestattet, passieren.9 Die bislang mit der Visumpflicht streng reglementierten Reisemöglichkeiten zwischen der DDR und ihren östlichen Nachbarn wurden dadurch erheblich vereinfacht. Die Menschen in der DDR und in Polen nahmen die Öffnung der Grenzen überaus positiv auf. Während im Zeitraum von 1960 bis 1971 im Jahresdurchschnitt nur etwa 65.000 DDR-Bürger nach Polen und 30.000 Polen in die DDR reisten, besuchten allein im Jahr 1972 rund 6,7 Millionen DDR-Bürger Polen und 9,4 Millionen Polen die DDR.10 Auch wenn sich diese Zahlen in den Folgejahren geringfügig verringerten, blieben sie dennoch konstant hoch. Laut einem MfSBericht bereisten von 1972 bis 1979 über 53 Millionen Polen die DDR und über 37 Millionen DDR-Bürger Polen.11 Der lebhafte Reiseverkehr bildete das Fundament für eine Verstärkung des Beziehungsgeflechts beider Vertragsstaaten und führ7

8 9 10 11

Katarzyna Stokłosa, VR Polen und die DDR: Die Bedeutung der Grenze für das „Freundschaftstheater“, in: Mike Schmeitzner/Katarzyna Stokłosa (Hg.), Partner oder Kontrahenten? Deutsch-polnische Nachbarschaft im Jahrhundert der Diktaturen (Mittel- und Ostmitteleuropastudien, Bd. 8), Berlin 2008, S. 193–203, hier S. 193f. Zwischen der DDR und der Ungarischen Volksrepublik existierte der visafreie Reiseverkehr bereits seit dem 20. Juni 1969. Ziebart, Bilanz einer deutsch-tschechischen Alternative, S. 31f. Vgl. hierzu Osękowski, Der pass- und visafreie Personenverkehr, S. 125. BStU, MfS ZAIG 4683, Bl. 58: „Hinweise zu den Ergebnissen der Durchsetzung der Maßnahmen zur Bekämpfung und Zurückdrängung von Straftaten und anderen Rechtsverletzungen unter Mißbrauch des paß- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen im Jahr 1979“, März 1980.

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Scheinbare Durchlässigkeit der Ostgrenzen (1972–1980)

te die Länder zu einer intensiven Zusammenarbeit in Bereichen der Politik, Wirtschaft und Kultur.12 Die Zusammenarbeit zwischen Polen und der DDR lässt sich in den 1970er-Jahren in zwei verschiedene Phasen einteilen: Einer ersten Phase der binationalen Annäherung (1972–1975) folgte eine zweite Phase der Distanzierung beider Staaten (1976–1980). In der ersten Phase wurden zwischen den Regierungen Polens und der DDR mehrere zwischenstaatliche Abkommen und Kooperationsvereinbarungen geschlossen, die jedoch größtenteils auf der Stufe einer einfachen Zusammenarbeit stecken blieben: Für den Ausbau wirtschaftlicher Beziehungen unterzeichneten beide Länder im Juni 1973 die Erklärung über die „Festigung der Freundschaft und die Vertiefung der Zusammenarbeit“ sowie eine Vereinbarung über die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen bis 1980. Es folgten weitere Abkommen wie das 1974 verabschiedete bilaterale Regierungsprogramm über die Zusammenarbeit in der Infrastrukturentwicklung. Um die aufkommenden Probleme des massenhaften Personenverkehrs in den Griff zu bekommen, erfolgte am 23. Februar 1973 die Unterzeichnung des Vertrags über die Zusammenarbeit im Tourismusbereich, durch den der Ausbau bereits bestehender sowie weiterer 20 neuer Grenzübergänge zwischen Polen und der DDR beschlossen wurde.13 Darüber hinaus gab es seit Mai 1973 ein neues Regierungsabkommen über den Einsatz von Vertragsarbeitern, in dessen Folge bald mehr als 7.000 Polen als Vertragsarbeiter in ostdeutschen Betrieben nahe der Grenze und im Inland zum Einsatz kamen.14 Diese erste Phase war auch von einer Vielzahl kommunalpolitischer regionaler Initiativen sowie zentral geleiteter größerer Kooperationen und Projekte geprägt. Vor dem Hintergrund des kontinuierlichen Anstiegs des Personenreiseverkehrs sowohl in die grenznahen Regionen und Grenzstädte als auch in das gesamte Land wurde die Zusammenarbeit zwischen Behörden, Institutionen und Organisationen beider Länder intensiviert.15 Kontakte zwischen polnischen und ostdeutschen Städten, Betrieben, Sportvereinen, Kultur- und Bildungseinrichtungen wurden ge12

13 14 15

Siehe zu den Auswirkungen des freien Personenreiseverkehrs auf die Beziehungen zwischen der DDR und der Tschechoslowakei in den 1970er-Jahren: Manfred Jahn, Zur Geschichte der politischen Zusammenarbeit zwischen angrenzenden und grenznahen Bezirken der DDR und der Tschechoslowakei in den Jahren 1949 bis 1977, Dresden 1988. Vgl. Osękowski, Der pass- und visafreie Personenverkehr, S. 125–131. Im Einzelnen dazu: Burkhard Olschowsky, Einvernehmen und Konflikt. Das Verhältnis zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen 1980–1989 (Veröffentlichungen der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e.V., Bd. 7), Osnabrück 2005, S. 96f. Siehe hierzu die in den 1970er- und 1980er-Jahren an ostdeutschen Universitäten veröffentlichten Sammelbände: Autorenkollektiv. Kulturelle und wissenschaftliche Beziehungen zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen, Berlin 1976; Autorenkollektiv. Freundschaft und Zusammenarbeit im Grenzgebiet der DDR und der VR Polen (1949–1984), Dresden 1985.

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schlossen sowie jährlich Freundschaftstage der Städte, Tage der Kultur des Nachbarlandes, Musik- und Filmtage sowie verschiedene Feste und Festivals organisiert.16 Aber nicht nur auf der kulturellen, auch auf der zwischenmenschlichen Ebene kam man sich näher: Infolge der gegenseitigen Besuche knüpften Polen und Ostdeutsche zahlreiche Freundschaften; die Menschen gingen partnerschaftliche Beziehungen ein, und bald wurden mehrere tausend Ehen geschlossen.17

18 Anfang 1971 wurde der VEB Oberlausitzer Textilbetrieb Lautex aus mehreren Textilbetrieben in Ostsachsen gegründet. Viele der Textilarbeiterinnen kamen aus anderen Ostblockländern. Die Aufnahme zeigt polnische Arbeiterinnen im Juli 1972 nach dem Schichtwechsel am Fabriktor der Weberei Ebersbach auf dem Weg zu ihrem Bus.

Die Menschen nutzten den freien Personenverkehr vor allem für Einkäufe, und zwar zumeist für Artikel, die im eigenen Land teuer oder nicht erhältlich waren. Die Polen kauften in der DDR häufig Lebensmittel (Süßigkeiten, Gewürze, Bier, Obst und Gemüse, Fleisch sowie Konserven jeder Art), die DDR-Bürger erwarben in erster Linie Bekleidungsstücke ( Jacken, Blusen und Hosen sowie Keramik usw.). Wäh16 17

Vgl. Osękowski, Der pass- und visafreie Personenverkehr, S. 128ff. Hierzu Olschowsky, Die staatlichen Beziehungen, S. 49.

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rend sich die DDR-Bürger aufgrund der massiven Unterversorgung mit Konsumgütern in Polen bei den Einkäufen notgedrungen zurückhalten mussten, war die DDR für viele Polen ein Einkaufsparadies. Die Ostdeutschen hatten immer etwas mehr auf den Ladentischen als ihre polnischen Nachbarn. Der intensive Einkaufstourismus der Polen wurde in der ostdeutschen Mangelgesellschaft immer mehr als ökonomische Bedrohung wahrgenommen. Obwohl der ursprünglich vereinbarte unbegrenzte Geldumtausch bald abgeschafft und durch festgelegte Umtauschsätze ersetzt wurde, legte der Einkaufstourismus nicht nur entlang der Grenze aufkeimendes Konfliktpotenzial frei.18 Polenwitze, abfällige Bemerkungen und nationale Stereotype gehörten zum Alltag. Auch Schmutz, Schmuddel und Chaos waren häufige Assoziationen mit dem Nachbarland.

19 Mann mit Schwein über der Schulter: polnischer Schwarzmarkt in den späten 1970er-Jahren

18

Stokłosa, VR Polen und die DDR, S. 195–199; Osękowski, Der pass- und visafreie Personenverkehr, S. 126ff.

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Obwohl viele DDR-Bürger in den 1970er-Jahren diese negativen Stereotype über die Polen kannten,19 dachten freilich nicht alle in diesen Kategorien. Insbesondere jüngere Ostdeutsche machten sich ein eigenes Bild über die Nachbarn. Ebenso zeigen polnische Studien aus den 1970er-Jahren, dass sich durch die unmittelbaren persönlichen Begegnungen auch auf polnischer Seite negative Klischees über die Ostdeutschen teilweise auflösten.20 Letztlich sparte man aber auch in Polen nicht mit Stereotypisierungen: Dort galten DDR-Urlauber allgemein als arrogant, überheblich und egoistisch. Im polnischen Sprachgebrauch wurde die DDR als „Deutschdorf “ („enerdowo“) bezeichnet, und in Meinungsumfragen erhielten die Ostdeutschen schlechtere Sympathiewerte als die weithin unbekannten Westdeutschen.21 Für viele der ins Nachbarland reisenden DDR-Bürger war Polen in erster Linie ein „Reich der Freiheit“, wo man mühelos westdeutsche Presseartikel wie den „SPIEGEL“ kaufen oder westdeutsche Filmproduktionen im Kino ansehen konnte, wo ein größerer Meinungspluralismus vorherrschte, die Menschen die marxistische Ideologie nicht wirklich ernst nahmen und stattdessen als gläubige Katholiken Gottesdienste besuchten. Schon weil die politische Kultur Polens von der jahrhundertelangen Belagerung durch fremde Nationen und der Auslöschung der eigenen Staatlichkeit tief geprägt war, lehnten die Polen den nach dem Zweiten Weltkrieg von der Sowjetunion aufgezwungenen Kommunismus mehrheitlich ab – das neue Regime wurde vielmehr als erneute Fremdherrschaft wahrgenommen. Auch im Vergleich der Herrschaftsstrukturen beider Länder gab es die für die DDR so typische Einschüchterung der Gesellschaft durch das MfS durch den entsprechenden Sicherheitsdienst in Polen nicht in diesem Maße.22 Ludwig Mehlhorn schreibt daher zu Recht, dass Polen für viele Menschen aus der DDR zu einem Fluchtpunkt aus der kleinbürgerlich-spießigen Enge der DDR-Kultur und damit zu einem Gegenmodell ihres eigenen Staates wurde.23 Obwohl die meisten DDR-Bürger Polen als attraktives Reiseland entdeckten, kamen auch viele, um sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen und ihre 19 20

21 22

23

Vgl. Mehlhorn, Zwangsverordnete Freundschaft?, S. 38. Klaus Ziemer, Die Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen in den 80er Jahren, in: Heiner Timmermann (Hg.), Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert – der Fall DDR (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen, Bd. 79), Berlin 1996, S. 653–664, hier S. 663. Vgl. Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle in der DDR und in der Volksrepublik Polen, S. 48f. Hierzu Dominik Trutkowski, Der Sturz der Diktatur. Opposition in Polen und der DDR 1988/89 (Mittel- und Ostmitteleuropastudien, Bd. 5), Berlin 2007, S. 19–29; Helmut Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen. Fallstudien über Bürgerbewegungen in Polen und der DDR, Opladen 1996, S. 55. Mehlhorn, Zwangsverordnete Freundschaft?, S. 37f.

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vormaligen Wohnorte zu besuchen, aus denen sie nach dem Zweiten Weltkrieg vertrieben worden waren.24 Das Phänomen des sogenannten Heimwehtourismus ließ die Ostdeutschen insbesondere individuelle Erinnerungsorte wie ihre früheren Wohnhäuser oder die ehemals deutschen Friedhöfe ihrer Familien aufsuchen. Weil die DDR-Bürger diese Ortschaften aufgrund der desolaten polnischen Wirtschaft aber gewöhnlich in einem schlechten Zustand oder gar völlig heruntergekommen vorfanden, wurden auf ostdeutscher Seite nicht selten alte Vorurteile belebt. Darüber hinaus prallten zu jener Zeit unterschiedlich geprägte Erinnerungsdiskurse über die Rechtmäßigkeit der Oder-Neiße-Grenze aufeinander. Denn bei einigen der vertriebenen DDR-Bürger herrschte weiterhin das Gefühl vor, im Zuge des Zweiten Weltkriegs der eigenen Heimat beraubt worden zu sein. Diese Haltung war auch der Tatsache geschuldet, dass der Verlust der Ostgebiete sowie die schmerzhafte Erinnerung an Flucht und Vertreibung offiziell in der DDR nicht öffentlich diskutiert, sondern überwiegend verdrängt wurde.25 Der während dieser Besuche in Polen nicht selten artikulierte Grenzrevanchismus26 führte auf polnischer Seite wiederum zu einer Verhärtung der alten Ängste und Sorgen um eine erneute Verschiebung der deutsch-polnischen Grenze.27 Auf der anderen Seite kam es im Zuge des „Heimwehtourismus“ der DDR-Bürger ebenso zu versöhnlichen Gesten der Annäherung und zum Dialog – insbesondere dann, wenn die Polen den Eindruck gewannen, dass es sich bei den Ostdeutschen lediglich um Besucher handelte, die nicht die Absicht hatten zurückzukehren.28 In einer zweiten Phase der Distanzierung (1976–1980) verringerten sich sowohl der Personenreiseverkehr als auch die Intensität der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit. Auslöser hierfür mag die seit 1976 erfolgte zunehmende Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation in beiden Ländern gewesen sein. Was die polnische Seite anbelangt, so spielten weitreichende innenpolitische Entwicklungen eine besondere Rolle: Zum einen führte die Abschaffung der polnischen Verwaltungsbezirke (Wojewodschaften) im Rahmen der Gebietsverwaltungsreform zu einem tiefen Schnitt in den mühsam aufgebauten Verbindungen und Kontakten zwischen den polnischen Landkreisen und den DDR-Bezirken – viele Kooperationspartner mussten von Neuem gesucht werden. Zum anderen entstand in Polen als unmit24 25 26 27

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Ebd. Vgl. Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle in der DDR und in der Volksrepublik Polen, S. 37. Siehe hierzu Stokłosa, VR Polen und die DDR, S. 196f. Für die Polen bedeutete die Oder-Neiße-Grenze dabei nicht nur eine Entschädigung für die eigenen territorialen Verluste im Osten zugunsten der UdSSR im Zuge der Westverschiebung des Landes – sie symbolisierte zuvorderst die völkerrechtlich sanktionierte Wiedergutmachung für die durch die Nationalsozialisten verübten Massenmorde und das erlittene Unrecht während des Zweiten Weltkriegs. Stokłosa, VR Polen und die DDR, S. 196f.

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telbare Reaktion auf die Repressionen der Regierung gegen die Arbeiterstreiks im Juni 1976 eine erste offen agierende oppositionelle Organisation – das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ (KOR). Das KOR repräsentierte weite Kreise der polnischen Gesellschaft, forderte die Wahrung der Menschenrechte, mehr Pluralismus und schuf zum ersten Mal eine Gegenöffentlichkeit zum offiziellen Kurs der Regierung.29 Der scharfe innenpolitische Kampf bei wachsendem Einfluss der demokratischen Opposition und nicht zuletzt die Wahl des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyła zum Papst 1978 versetzte die SED seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre in tiefe Beunruhigung. Mit der Entstehung der bald mehrere Millionen Mitglieder zählenden freien Gewerkschaft Solidarność im Sommer 1980 kühlten die Beziehungen schließlich ganz ab. Obwohl offiziell weiterhin eine zwischenstaatliche Diplomatie gepflegt, Delegationen ausgetauscht und Kooperationsabkommen geschlossen wurden, kann seit diesem Zeitpunkt das gegenseitige Verhältnis – insbesondere von ostdeutscher Seite – als eine Art „Freundschaftstheater“ charakterisiert werden.30 So entspricht es auch der Logik dieses Theaters, dass am 30. Oktober 1980 auf Betreiben der ostdeutschen Regierung der über acht Jahre andauernde passund visafreie Reiseverkehr zwischen Polen und der DDR eingestellt wurde: In der Öffentlichkeit durch wirtschaftliche Schwierigkeiten begründet, sollte die Schließung der Grenze in erster Linie den gefährlichen „Solidarność-Bazillus“ isolieren. So offenbarte die Grenzschließung die immer größer werdende Furcht Ost-Berlins vor einer „feindlichen Umklammerung“, die fortan nicht nur von Westen her bestand, sondern nun auch vom Osten drohte.31 Trotz aller Probleme gegen Ende der Dekade waren die 1970er-Jahre sowohl für die zwischenstaatlichen Beziehungen als auch für die Bürger Polens und der DDR die wohl fruchtbarste Zeit. 5.2 Grenzüberschreitende Zusammenarbeit im pass- und visafreien Reiseverkehr Im Zuge der Einführung des pass- und visafreien Reiseverkehrs zwischen der DDR und ihren östlichen Nachbarn Anfang 1972 waren das Grenzregime und die damit zusammenhängenden Ausreisebestimmungen erheblich gelockert worden. Von diesen Neuregelungen sollten in erster Linie die Bürger der einzelnen Vertragsstaaten profitieren. So wurden DDR-Bürger bei Reisen nach Polen und in die Tschechoslo29 30 31

Hierzu Gerhard Besier/Katarzyna Stokłosa, „Solidarność“ – nur ein polnischer Traum von der Freiheit?, in: Totalitarismus und Demokratie 4 (2007), S. 267–284, hier S. 269f. Stokłosa, VR Polen und die DDR, S. 199. Vgl. Olschowsky, Die staatlichen Beziehungen, S. 50.

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wakei für einen Aufenthalt von bis zu drei Monaten von der Reisepass- und Visumpflicht befreit. Sie benötigten nur noch dann ein Ausreisevisum, wenn sie länger als drei Monate im sozialistischen Nachbarland bleiben wollten. Umgekehrt galten diese Bestimmungen auch für in die DDR einreisende Bürger der Tschechoslowakei und Polens.32 Auf ostdeutscher Seite wurden an den bestehenden Grenzübergangsstellen Abfertigungsanlagen erweitert und heranführende Verkehrswege ausgebaut. Darüber hinaus versuchte man, Reiseerleichterungen durch den Abschluss zwischenstaatlicher Verträge zu erreichen. Vor allem sollte die Abfertigung des Personen- und Güterverkehrs so weit wie möglich beschleunigt und vereinfacht werden. Hierfür galt es, die transnationale Zusammenarbeit der Pass- und Zollkontrollorgane zu verstärken – die Abfertigung des Reiseverkehrs an den Grenzübergangsstellen sollte erstmals gemeinsam durchgeführt werden. Zwischen den Regierungen der DDR und Polens wurden gemeinsame Grenzkontrollen zunächst im „Vertrag über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Verkehrswesens“ vom 16. Juli 1971 festgelegt. Im gleichnamigen Vertrag zwischen den Regierungen der DDR und der Tschechoslowakei war bereits am 21. Dezember 1970 – mehr als ein Jahr vor Inkrafttreten des pass- und visafreien Reiseverkehrs – die gemeinsame Abfertigung des Grenzverkehrs vereinbart worden. Im Laufe der 1970er-Jahre wurden weitere zwischenstaatliche Abkommen geschlossen, die die Grundsätze der gemeinsamen Abfertigung erneuerten, aber nur unwesentlich erweiterten. Zwischen der DDR und Polen waren dies das „Abkommen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der gemeinsamen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs“ vom 25. November 1971 sowie die von den Sicherheitsdiensten beider Länder geschlossene ministerielle Vereinbarung über die „detaillierten Prinzipien der gemeinsamen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs“ vom 14. Juni 1978. Zwischen der DDR und der Tschechoslowakei wurden Verträge nahezu identischen Inhalts wie mit Polen geschlossen: Hierzu gehörten das Abkommen über die „gemeinsame Kontrolle im grenzüberschreitenden Verkehr“ vom 16. Februar 1973 sowie die ministerielle „Vereinbarung über die Prinzipien für die Durchführung der gemeinsamen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs an den Grenzübergangsstellen“ vom 5. Januar 1979. Wie aber lief die gemeinsame Kontrolle und Abfertigung des grenzüberschreitenden Reiseverkehrs an den Ostgrenzen der DDR genau ab? Das im MfS-Jargon auch als „Technologie der Abfertigung“ bezeichnete Regelwerk war in verschiedenen Paragraphen der oben genannten Verträge im Detail festgelegt und gestaltete sich an den Grenzübergangsstellen zur Tschechoslowakei und Polen auf recht ähn32

BStU, ZA, MfS HA VI, Nr. 11832, Bl. 67: „Anlage 1, Kontrolle und Abfertigung von Bürgern der DDR bei Reisen nach der VR Polen“, 1. Januar 1972.

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit

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liche Weise. Unterschiede in Ablauf und Form der Abfertigung herrschten freilich zwischen den einzelnen Typen der Grenzübergangsstellen des Straßenverkehrs, des Binnenwasserstraßen- und Schienenverkehrs.

20 Gemeinsame Zollkontrolle ostdeutscher und polnischer Zöllner am Grenzübergang Frankfurt (Oder) – Słubice 1976. Die harmonische Momentaufnahme trügt: Hier nicht zu sehen ist die gründliche Passkontrolle durch die Mitarbeiter des MfS.

Im Folgenden soll die Gestaltung und Durchführung der gemeinsamen Kontrolle anhand der Grenzübergangsstellen im Straßenverkehr zwischen der DDR und ihren sozialistischen Nachbarn nachgezeichnet werden. Personell waren auf Seiten der Tschechoslowakei für die Passkontrolle die dem Föderalen Ministerium des Innern unterstehenden Einheiten des Grenzschutzes, für die Zollkontrolle die an den Staatsgrenzen verantwortlichen Organe der Zollverwaltung zuständig. Auf polnischer Seite wurde die Passkontrolle durch die dem Ministerium für Nationale Verteidigung unterstehenden polnischen Grenzschutztruppen, die Zollkontrolle durch die dem Ministerium für Finanzen unterstehenden Zollkontrollkräfte durchgeführt. Die gemeinsame Abfertigung des Straßenverkehrs erfolgte entweder auf dem Hoheitsgebiet eines Staates oder auch auf jenem beider Staaten – dies war abhängig von Standortfaktoren wie dem Ausbau der Grenzhäuser sowie der Anzahl der Fahrspuren. Waren die Grenzhäuser auf beiden Seiten mit genügend Räumen

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ausgestattet und verfügte die Grenzübergangsstelle über mindestens zwei Fahrspuren, so führte man die gemeinsame Abfertigung auf beiden Hoheitsgebieten durch. Zur Realisierung dieser Bestimmungen war zwischen den Regierungen der DDR und Polens im November 1971 vereinbart worden, dass die „zuständigen Organe des einen Vertragspartners auf dem Territorium ihres Staates die erforderlichen Voraussetzungen für die Kontrollorgane des anderen Abkommenspartners zur Ausübung der gemeinsamen Kontrolle gewährleisten, die erforderlichen Räume und Anlagen bereitstellen sowie die sich daraus ergebenden Kosten“ zu übernehmen haben.33 Während die gemeinsame Abfertigung des grenzüberschreitenden Straßenverkehrs in Görlitz/Zgorzelec und Guben/Gubin auf beiden Hoheitsgebieten erfolgte, wurde an der Grenzübergangsstelle des Straßenverkehrs in Frankfurt (Oder)/Słubice lediglich auf der ostdeutschen Seite gemeinsam kontrolliert.34 Die bereits 1971 festgelegten Bestimmungen über die gemeinsame Abfertigung des grenzüberschreitenden Verkehrs zwischen der DDR und Polen traten nicht sofort in Kraft. Der Beschluss über den genauen Zeitpunkt ihrer Einführung an den einzelnen Grenzübergangsstellen oblag dem MfS. So wurde an der Stadtbrücke Frankfurt (Oder)/Słubice die gemeinsame Kontrolle in Zusammenarbeit mit den Grenzkontrolleinheiten Polens zum 1. März 1972 wirksam. Die „Technologie der Abfertigung“ in Frankfurt (Oder) steht exemplarisch auch für die an anderen Grenzübergangsstellen im Osten der DDR durchgeführten gemeinsamen Kontrollen: Pass- und Zollkontrolle umfassten dabei jeweils zwei Schritte. Mit der Passkontrolle hatte diejenige Passkontrolleinheit zu beginnen, deren Hoheitsgebiet die Reisenden verließen. Der erste Schritt wurde damit von dem Passkontrolleur eingeleitet, der vom Reisenden die zum Grenzübertritt erforderlichen Dokumente entgegennahm und nach Abschluss der Kontrolle dem Passkontrolleur des anderen Staates übergab. In einem zweiten Schritt gab dieser nach der seinerseits durchgeführten Kontrolle die betreffenden Dokumente an den Reisenden zurück. Danach erfolgte die Zollkontrolle in derselben Reihenfolge wie die Passkontrolle, wobei die Zusammenarbeit der Zollkontrollorgane beider Staaten sowie der Umfang der Kontrollhandlungen nach spezifischen zwischen den Zollbehörden getroffenen Vereinbarungen geregelt waren. Dabei war die Intensität der Durchsuchung von Gepäck und Personenkraftwagen unstetig und hing vom aufkommenden Verkehr sowie von „Fahndungs- und Filtrierungsaufträgen“ der Passkontrolleinheiten ab.35 33

34 35

BStU, ZA, MfS-Bdl/Dok. Nr. 001625, Bl. 121: „Abkommen zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Volksrepublik Polen über die Zusammenarbeit auf dem Gebiet der gemeinsamen Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs“, 25. November 1971. Ebd., Bl. 125. BStU, ZA, MfS-BdL Dok. Nr. 001626, Bl. 8–11: „Anweisung Nr. 1/72: Grundsätze für die Gestaltung und Durchführung der gemeinsamen Kontrolle des grenzüberschreitenden

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Um ein den „freundschaftlichen“ zwischenstaatlichen Beziehungen „entsprechendes Verhalten und Auftreten“ der ostdeutschen Pass- und Zollkontrolleinheiten gegenüber ihren polnischen Kollegen sicherzustellen, waren die Kontrolleinheiten verpflichtet, regelmäßig an politisch-ideologischen Schulungen der Partei- und FDJOrganisationen teilzunehmen.36 5.3 Professionalisierung der Grenzkontrollen beim MfS – die Bereiche „Fahndung“ und „Filtrierung“ Die fortschreitende Entspannung sowie die damit zusammenhängenden Reiseerleichterungen führten beim MfS zu erhöhter Wachsamkeit. Laut einem geheimen Aide-mémoire des Ministeriums für Staatssicherheit vom Januar 1973, das als Vorbereitung für ein Gespräch mit dem Minister des Innern der Tschechoslowakei diente, würde die internationale Entspannung einerseits zwar „günstige Bedingungen für die politisch-operative Arbeit“ schaffen, andererseits eröffne sie „dem Gegner neue Möglichkeiten für sein Vorgehen gegen die sozialistischen Staaten“.37 Wie reagierte das MfS konkret auf das Novum der Reiseerleichterungen, und wie ging die Staatssicherheit mit den neuen Herausforderungen im Reise- und Touristenverkehr um?38 Während nach außen der Schein der „offenen“ Grenze bei liberalen Ausreisebestimmungen gewahrt wurde, verschärfte das MfS hinter den Kulissen das Grenzregime in sicherheitspolitischen Bereichen. So heißt es im Befehl Nr. 42/71 des Ministerrats vom 23. Dezember 1971, dass die „Organisierung der politischoperativen Arbeit des MfS zur Sicherung des Reise- und Touristenverkehrs den insgesamt eintretenden Veränderungen Rechnung tragen [muss]“.39 Den „absoluten Schwerpunkt“ sollte dabei die Absicherung des Individualtourismus bilden. Durch

36 37 38

39

Verkehrs und der Zusammenarbeit mit dem Paß- und Zollkontrollorgan der VR Polen an der Grenzübergangsstelle Frankfurt (Oder) – Stadtbrücke“, 24. Februar 1972. Ebd., Bl. 12. BStU, ZA, MfS, ZAIG, 5418, Bl. 1ff.: „Hinweise auf Probleme für das Gespräch mit dem Minister des Innern der ČSSR“, Januar 1973. Im Folgenden geht dieses Unterkapitel (Kap. 5.3) zu einem großen Teil auf die mir im Herbst 2007 vom Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen zur Verfügung gestellten Ausführungen in der Stoff- und Dokumentensammlung von Erich Sobeslavsky zurück: Erich Sobeslavsky, Die Grenze der DDR zu Polen und zur Tschechoslowakei. Grenzübergangsstellen, Grenzregime und das Ministerium für Staatssicherheit (unveröffentl. Stoff- und Dokumentensammlung: Stand 26.09.2007). BStU ZA, MfS-BdL/Dok. Nr. 001625, Bl. 1: „Befehl Nr. 42/71 zur politisch-operativen Sicherung des Reise- und Touristenverkehrs nach der Volksrepublik Polen bzw. in andere sozialistische Staaten“, 23. Dezember 1971.

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die gezielte „Abwehrarbeit politisch operativer interessanter Personen und Personengruppen“ versuchte das MfS vor allem, die „geheimdienstliche Tätigkeit, den Einfluß der politisch-ideologischen Diversion, Schleusungen und ungesetzliche Grenzübertritte“ über die durchlässigen Ostgrenzen der DDR zu verhindern.40 An den Grenzübergangsstellen zu Polen und der Tschechoslowakei wurde bei der für den Reise- und Touristenverkehr zuständigen Hauptabteilung VI zum Ende des Jahres 1971 das Personal weiter aufgestockt. Außerdem kam es zur Einrichtung einer Vielzahl neuer von MfS-Offizieren angeführter Arbeitsbereiche: So gab es neben einem „Offizier für Organisation und Planung“ jeweils einen für „Regime, Kontroll- und Sicherungstechnik“, weiterhin jeweils einen „Offizier für Aufklärung“, „operative Fahndung“, „Filtrierung und Sicherheit“; schließlich einen Offizier zuständig für „Personen- und Sachschleusungen“ sowie jeweils einen für „Schulung“, „Versorgung“, „Ausbildung“ und „Sport“.41 In der Reihe der an den Grenzübergangsstellen vom MfS besetzten Dienstbereiche sollen im Folgenden die „operative Fahndung“ sowie die „Filtrierung“ genauer betrachtet werden, da diese die subtile Methodik und technischen Aspekte der Abwehrarbeit seit Einführung des pass- und visafreien Reiseverkehrs am deutlichsten abbilden. Seit der Einführung der Reiseerleichterungen nach Polen und der Tschechoslowakei intensivierte das MfS seine Fahndungstätigkeit. Formal lag den Fahndern dabei die Dienstordnung Nr. 015/72 des MdI vom Oktober 1972 vor. Hiernach konnten DDR-Bewohner vom pass- und visafreien Reiseverkehr in die östlichen Nachbarländer ausgeschlossen werden, wenn sie auf unterschiedliche Weise in der DDR oder im „sozialistischen Ausland“ straffällig geworden waren, wenn sie das „Ansehen der DDR schädigen“ oder der „Verdacht eines ungesetzlichen Grenzübertritts besteht“.42 Insbesondere das hier genannte Verdachtsmoment konnte vom MfS großzügig ausgelegt werden, um seinen Aktionsspielraum zu erweitern. Der Fahndungsprozess lief in den 1970er-Jahren etwa folgendermaßen ab: Das „Fahndungsersuchen zur Einleitung einer Reisesperre“ in die Ostblockstaaten wurde üblicherweise von einer Bezirksverwaltung, Kreisdienststelle oder einzelnen MfSMitarbeitern an die Hauptabteilung VI des MfS weitergegeben. Dieses Ersuchen enthielt neben den Personalangaben der zur Fahndung ausgeschriebenen Person auch die Dauer der Reisesperre. Um die vom MfS vorgenommene Reisesperre auch 40 41

42

Ebd., Bl. 4. BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. VI, 2585, Bl. 1f.: „Funktions- und Qualifikationsmerkmale der Abteilung VI/Paßkontrolle entsprechend den gegenwärtigen Funktionen des Stellenplanes der Abteilung VI/Linie Paßkontrolle der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden“, 27. September 1971. BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, IX, 30052, Bl. 392: „Auszug aus der Weisung DV 015/72 des MdI über den zeitweiligen Ausschluß von Bürgern der DDR vom paß- und visafreien Reiseverkehr“, 10. Oktober 1972.

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durch andere Staatsorgane zu gewährleisten, wurde vom MfS und dem MdI eine gemeinsame Kommission eingerichtet.43 Die Arbeitsgrundlage der für die Fahndung zuständigen Passkontrolleinheiten beim MfS bildeten seit Beginn der 1970er-Jahre sogenannte Fahndungskomplexe, in denen Codenummern für bestimmte Personen aufgeführt waren. Diese Angaben wurden in die seit 1968 gebräuchlichen Fahndungskarteien eingetragen. Einer der beiden Fahndungskomplexe, der Komplex 400.000, beinhaltete dabei ausschließlich Daten von Bürgern der Bundesrepublik Deutschland, nach denen bei der Einreise ständig gefahndet werden sollte. Der zweite Fahndungskomplex, der Komplex 600.000, erfasste Daten von DDR-Bürgern sowie von Bürgern anderer Staaten.44 Ein sogenannter Fahndungsmaßnahmeschlüssel enthielt schließlich Befehle in Form vierstelliger Codenummern, nach denen die Passkontrolleinheiten entsprechend vorzugehen hatten. Die jeweils mit diesen Nummern verknüpften Handlungsaufträge umfassten in erster Linie die gezielte Kontrolle bzw. Befragung von Reisenden, die Einleitung von Reisesperren und schließlich die Festnahme.45 Obwohl die elektronische Datenverarbeitung vom MfS bereits gegen Ende der 1960er-Jahre eingeführt worden war, blieben die Passkontrolleinheiten noch bis in das Jahr 1978 auf nicht-elektronische Informationsspeicher der Deutschen Volkspolizei sowie die Datenspeicher anderer Organe des MdI angewiesen. Weiterhin besaßen die Mitarbeiter des MfS in den 1970er-Jahren uneingeschränkten Zugriff auf die Fahndungskarteien sowie die Aktenablagen der Dienststellen des MdI. Insbesondere die Kreisdienststellen des MfS besorgten sich nach den Grundsätzen des „politisch-operativen Zusammenwirkens“ relevante Informationen aus den Informationsspeichern der Volkspolizei-Kreisämter.46 So konnten MfS-Mitarbeiter jederzeit auf die Kreismeldekartei der Deutschen Volkspolizei (KMK) zugreifen und erforderliche Informationen über die einer bestimmten Person auferlegten Beschränkungen, Sperren und Passentzug, Angaben über Ausreisen, ausgegebene Personalausweise, Pässe, Passierscheine, Persönlichkeitsmerkmale usw. einholen.47 Für die Fahndungen wurden den MfS-Mitarbeitern durch das MdI zudem sogenannte Fahndungsblätter, Personenfahndungsbücher, Personenfahndungskarteien, 43 44 45 46 47

BStU, ZA, MfS, BdL/Dok., 4622, Bl. 51–58: „Dienstanweisung Nr. 6/75. Einleitung und Realisierung von Fahndungen im Reiseverkehr über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik“, 6. August 1975. Vgl. Tantzscher, HA VI, S. 64. BStU, ZA, HA VI, 3893, Bl. 1–78: „Schlüsselverzeichnis der Gründe für Fahndungen und Sperren für die Einspeicherung in die Signaldatei sowie die Auswertung der eingespeicherten Daten“, 4. Juni 1973. „Katalog über Informationsspeicher. Deutsche Volkspolizei u. a. Organe des MdI“, Dezember 1978, in: JHS 001-129/78, S. 4. Ebd., S. 67.

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Hotel-Meldescheine sowie eine Personenakte zur Verfügung gestellt. In den Fahndungsblättern waren die Personen aufgeführt, nach denen dauerhaft gefahndet wurde.48 Die Personenfahndungsbücher im DIN-A5-Format bestanden aus zwei Teilen: Im alle zwei Monate aktualisierten ersten Teil waren zur Fahndung ausgeschriebene Personen verzeichnet, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf dem Gebiet der DDR verhaftet oder „zugeführt“ werden konnten. Im alle vier Monate aktualisierten zweiten Teil waren – ähnlich wie in den Fahndungsblättern – die Dauerfahndungen aufgeführt.49 Sowohl die Personenfahndungskarteien als auch die Hotel-Meldescheine hatten mit einem DIN-A7-Format die Größe einer Karteikarte und enthielten Informationen über die Hintergründe: Warum war eine Person zur Fahndung ausgeschrieben, und welche Dienststelle hatte die Fahndung eingeleitet? Die Bezirksbehörden der Volkspolizei führten zur „Vervollständigung und Analyse von unter Kontrolle zu haltenden Personen“ sowie zu Fahndungszwecken zusätzlich eine Personenakte. Darin waren Personen erfasst, die durch Strafdelikte in irgendeiner Form aufgefallen waren, beschuldigt oder verdächtigt wurden. Ferner waren in der Personenakte sämtliche Rückkehrer und Zuziehende aus der Bundesrepublik, aus anderen sozialistischen Staaten, aus West-Berlin sowie als „Dauerausreißer“ bekannte Kinder und Jugendliche verzeichnet. Die Personenakte führte ebenso Buch über diejenigen DDR-Bürger, die mit „rechtswidrigem Ersuchen zur Erreichung der Übersiedlung in Erscheinung“ getreten waren, bei denen „Hinweise auf beabsichtigtes ungesetzliches Verlassen der DDR vorliegen und bei denen unter Umständen […] der Verdacht einer Straftat gem. §213 StGB nicht zweifelsfrei ausgeschlossen werden kann“. Schließlich führte die Personenakte diejenigen DDRBürger auf, die „zeitweilig vom paß- und visafreien Reiseverkehr ausgeschlossen“ waren.50 Bei Bedarf konnten die MfS-Mitarbeiter bei der Abteilung Pass- und Meldewesen der entsprechenden Kreisämter auch Informationen aus der sogenannten Reisekartei anfordern. Hier wurden alle Personen erfasst, die eine Aus- oder Einreise beantragt hatten; der Reisekartei konnten zudem Angaben über die Art, Dauer und Ziel der Reise entnommen werden.51 In engem Zusammenhang mit den vom MfS betriebenen Fahndungen steht die sogenannte Filtrierung. Bereits seit Mitte der 1960er-Jahre nutzte die Staatssicherheit diese Methode an den Grenzübergangsstellen zum „Erkennen feindlicher Tätigkeit und zur besseren Lagekenntnis“.52 Zu Beginn der 1970er-Jahre schließ48 49 50 51 52

Ebd., S. 35f. Ebd., S. 83f. Ebd., S. 77f. Ebd., S. 97. BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, HA VI, 2579, Bd. 2, Bl. 62: „Objektbeschreibung der Grenzübergangsstelle Görlitz/Straße“ der Abteilung Paßkontrolle und Fahndung der Bezirksverwaltung Dresden, 1. Mai 1965.

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lich wurde bei den Passkontrolleinheiten des MfS an den Ostgrenzen der DDR ein gesonderter Offiziersposten eingerichtet, der ausschließlich für „Filtrierungsaufgaben“ zuständig war.53 Seither bildete die „Filtrierung“ einen komplexen und intensiv ausgeführten Arbeitsgang, der sich nach MfS-Berichten wie folgt charakterisieren lässt: Filtrierung ist ein Gesamtprozeß des Erkennens und der Auslese nach der Frage „Wer ist wer?“ des gesamten grenzüberschreitenden Verkehrs, um operativ relevante Informationen durch die Mitarbeiter der Paßkontrolleinheiten und des Grenzzollamtes herauszukristallisieren.54

Mittels der Filtrierung sollten unter den neuen Bedingungen des pass- und visafreien Reiseverkehrs nach Polen und in die Tschechoslowakei zunächst Kontakte zwischen DDR- und Bundesbürgern ermittelt werden, um dabei zu erfahren, auf welche Weise Druckerzeugnisse aus der Bundesrepublik von DDR-Bürgern ins eigene Land gebracht wurden. MfS-Berichten zufolge wurden „für die Organisierung der gezielten Feindtätigkeit verwandtschaftliche Verbindungen durch Reisen ins sozialistische Ausland“ zunehmend genutzt.55 Ein weiteres Ziel der Filtrierung bestand in der Gewinnung von Informationen über das „ungesetzliche Verlassen der DDR sowie den staatsfeindlichen Menschenhandel“. Weil sich westliche Schleuserorganisationen nach MfS-Ansicht auf bestimmte Berufsgruppen konzentrierten, sollten mit der Filtrierung vor allem die „medizinische Intelligenz und das medizinische Personal“, die „technische Intelligenz“, „Kunst- und Kulturschaffende“ sowie „Geheimnisträger und ehemalige Angehörige der bewaffneten Organe“ strenger kontrolliert werden. Offenbar besaß jede Grenzübergangsstelle einen eigenen „Schwerpunkt für den Filtrierungsprozess“. So sollte an der Grenzübergangsstelle Zinnwald im Sächsischen Erzgebirge, die jährlich von rund 72.000 Lastkraftwagen passiert wurde, in erster Linie die Flucht von DDR-Bürgern mit Hilfe des LKW-Transitverkehrs verhindert werden. An der Eisenbahn-Grenzübergangsstelle Bad Schandau in der Sächsischen Schweiz lag der „operative Schwerpunkt“ hingegen bei „ungesetzlichen 53

54

55

BStU, ASt. Dresden, BV Dresden, Abt. VI, 2585, Bl. 1f.: „Funktions- und Qualifikationsmerkmale der Abteilung VI/Linie Paßkontrolle entsprechend den gegenwärtigen Funktionen des Stellenplanes der Abteilung VI/Linie Paßkontrolle der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Dresden“, 27. September 1971. BStU, MfS-JHS, MF: VVS 289/75: Bernd Masuch, Die politisch-operative Filtrierung und Abschöpfung des grenzüberschreitenden Verkehrs bei der Grenzpassage (Ministerium für Staatssicherheit, Juristische Hochschule Potsdam, Direkt-/Fernstudienlehrgang, Diplomarbeit), Vertrauliche Verschlussakte JHS 289/75. Bezirksverwaltung Dresden, Abteilung VI, PKE Zinnwald, Abschluss der Arbeit, 10. Januar 1977, S. 7. Ebd., S. 19.

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Grenzübertritten“ von Fußgängern, da „zum Durchqueren der ČSSR“ nach MfSAngaben „kein anderes Transportmittel benötigt“ würde. An der Grenzübergangsstelle Seifhennersdorf im Landkreis Görlitz waren die für die Filtrierung zuständigen Passkontrolleinheiten auf Reisen kirchlicher Vertreter in andere Ostblockländer spezialisiert, da nach Einschätzung des MfS „in den anliegenden Kreisen die Kirche noch eine besondere Rolle spielte“.56 Zur Methodik der Filtrierung gehörte zunächst die „Vorfeldbeobachtung“. Hierunter fielen die Analyse der Verhaltensweisen der Reisenden, die Registrierung von Personen, die sich über einen längeren Zeitraum wiederholt in grenznahen Bezirken aufhielten, sowie von Personen, die bis zur Grenzübergangsstelle gebracht wurden. Im Bereich der Grenzübergangsstelle entpuppte sich die Filtrierung im Rahmen der Passkontrolle schließlich als ein subtiles psychologisches Mittel der Gesprächsführung: Mehr oder weniger unvermittelt sollte der Reisende in ein Gespräch verwickelt und zur „Aufgeschlossenheit und Auskunftsbereitschaft“ animiert werden. So heißt es in einer MfS-Analyse: Bei der Gesprächsführung registriert der Mitarbeiter der Paßkontrolleinheit Erscheinungen und Verhaltensweisen, die den Ausgangspunkt für eine zielgerichtete Informationsgewinnung bilden. Der Mitarbeiter der Paßkontrolleinheit muß mögliche Anhaltspunkte über ungesetzliche Handlungen gewinnen, um diese für eine zielgerichtete Zollkontrolle zu nutzen.57

Anlass für eine verstärkte Zollkontrolle waren dabei schon eine ungewöhnliche Reisezeit, geringe Zahlungsmittel, widersprüchliche Angaben zum Reiseziel und zur Reisedauer, überbetonte Höflichkeit oder auch eine der Jahreszeit nicht entsprechende Kleidung.58 Wie eng der Prozess der Filtrierung mit jenem der Fahndung zusammenhing, zeigt sich auch darin, dass Gespräche im Rahmen der operativen Filtrierung jeweils dann zu führen waren, wenn in der Fahndungskarte eine bestimmte Schlüsselnummer eingetragen worden war. Im Fall von für die Zollverwaltung relevanten „Anlässen zur Durchführung eines Filtrierungsgesprächs“ erschien in der Fahndungskarte eine gesonderte Ziffernkombination.59

56 57 58 59

Ebd., S. 21–27. Ebd., S. 18. Ebd., S. 18, 28. BStU, ZA, MfS, HA VI, 3893, Bl. 61: „Schlüsselverzeichnis der Gründe für Fahndungen und Sperren für die Einspeicherung in die Signaldatei sowie die Auswertung der eingespeicherten Daten“, 4. Juni 1973.

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5.4 Transnationale Zusammenarbeit der Geheimdienste bei der Flucht über die Länder des Ostblocks Die Fluchtbewegung der DDR-Bürger über die Länder des Ostblocks sowie die staatlichen Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung lassen sich für die 1970er-Jahre in zwei verschiedene Phasen einteilen: Während in der ersten Phase (1972–1975) die Fluchtversuche über den Ostblock deutlich anstiegen, markiert die zweite Phase (1975–1980) eine Verringerung der Fluchten über das „sozialistische Ausland“. In den Folgejahren verlagerten sich die Fluchtversuche immer stärker auf andere Ostblockstaaten. Das lag zum einen an der seit 1971 begonnenen Installierung gefährlicher Splitterminen des Typs SM-70 an der innerdeutschen Grenze sowie ihrer nahezu hermetischen Abriegelung und zum anderen an der Einführung des pass- und visafreien Reiseverkehrs nach Polen und in die Tschechoslowakei 1972. Während nach den Zahlen des MfS 1971 rund 62 Prozent aller Fluchtversuche über die Grenzen anderer sozialistischer Länder stattfanden, waren es 1972 bereits 83 Prozent. Im Folgejahr wurde außerdem eine Zunahme geglückter Fluchtfälle mit Hilfe westdeutscher Fluchthelfergruppen verzeichnet. So heißt es im Jahresbericht des MfS von 1973, dass die Fluchthelfer das „Grenzkontrollregime systematisch erkunden, insbesondere im Luftverkehr gefälschte Reisedokumente einschleusen und durch Paßabtausch Personen ausschleusen […], in zunehmendem Maße die internationalen Gütertransitstrecken für Personenschleusungen unter Mißbrauch der Zollverschlußsicherheit […] ausnutzen, wobei die Fahrtrouten über die DDR, VR Polen, ČSSR, Ungarische VR und die SFRJ [Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien; D.T.] führen und beginnen bzw. in der BRD, Schweden, Österreich und Italien enden“.60 In der MfS-Analyse wurden die Arbeitsweisen ihrer Gegner überaus richtig eingeschätzt. Dennoch gelang es westdeutschen Fluchthelfergruppen in den frühen 1970er-Jahren, mehrere Hundert DDR-Bürger über andere Länder des Ostblocks in den Westen zu bringen. Einer der erfolgreichsten Fluchthelfer zu dieser Zeit war der von der Regierung Brandt 1971 freigekaufte politische Häftling Wolfgang Welsch. Nachdem er 1964 selbst bei einem Fluchtversuch aus der DDR festgenommen worden war, wurde er zunächst wegen „Republikflucht“, schließlich wegen „staatsgefährdender Hetze“ in Geheimprozessen zu mehr als sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Eingesperrt im für seine unmenschlichen Haftbedingungen bekannten „Stasi-Knast“ Bautzen sowie in anderen DDR-Gefängnissen in Brandenburg musste er über die gesamte Haftzeit hinweg heftige Misshandlungen erleiden. Diese reichten von systematischer Folter über Unterernährung bis zur Scheinhinrichtung.

60

Zit. nach Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 10f.

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Nach seinem Freikauf in die Bundesrepublik betrieb Welsch eine nichtkommerzielle Fluchthilfeorganisation. Mehr als 220 Ostdeutsche konnten durch ihn in den Westen gebracht werden – viele davon über andere Ostblockländer. Das Prinzip seiner Fluchtmethode war ebenso einfach wie erfolgreich und bestand in einem „Identitätswechsel über den Wolken“, wobei kleinere „Sicherheitslücken“ im internationalen Flugverkehr des Ostblocks ausgenutzt wurden. So führten die bulgarischen und rumänischen Grenzkontrollbehörden die Passagierlisten nur unvollständig, indem sie zwar die Namen der Passagiere, nicht aber deren Staatsangehörigkeit vermerkten. Mit Blanko-Reisepässen, die von den westdeutschen Behörden zur Verfügung gestellt wurden,61 fertigten die Fluchthelfer noch in der Bundesrepublik einen westdeutschen Reisepass für den fluchtwilligen DDR-Bürger an. In diesen Pass wurde unter erheblichem Aufwand ein für die spätere Flucht erforderlicher täuschend echter Ausreisestempel der bulgarischen Grenzkontrollbehörden eingedruckt. Während einer getarnten „Urlaubsreise“ in ein Land des Ostblocks erhielt der Flüchtling von einem Kurier sowohl den gefälschten Reisepass als auch Flugtickets in ein westeuropäisches Land, außerdem westliche Kleidung, westliche Reiseutensilien sowie Geldmittel. Alle Äußerlichkeiten, die an die DDR erinnerten, wurden entfernt. Nachdem der Flüchtling das Flugzeug in Sofia mit dem Reiseziel Bukarest bestiegen hatte, begann seine „geheime Umwandlung“. Auf der Flugzeugtoilette vernichtete er seinen ostdeutschen Pass sowie die angefügten Reisedokumente, bevor er den am Unterleib versteckten westdeutschen Reisepass hervorholte. Nach anderthalb Stunden verließ er als „Westdeutscher“ das Flugzeug in Bukarest. Nachdem er die Passagierliste abgeglichen und den Ausreisestempel aus Sofia geprüft hatte, setzte der rumänische Grenzbeamte am Flughafen seinen Einreisestempel in den westdeutschen Pass und erklärte damit sowohl den gefälschten Reisepass als auch den nachgemachten bulgarischen Ausreisestempel für rechtsgültig – der Passinhaber war ein Bundesbürger im Ostblock.62 Aber nicht alle Schleusungen westdeutscher Fluchthelferorganisationen waren von Erfolg gekrönt. Ende Oktober 1973 wurde in Ost-Berlin ein Schauprozess gegen Angehörige der Fluchthilfeorganisation „Herschel/Haack/Irrgang“ eröffnet, in dem insgesamt elf Kuriere und Fluchthelfer auf der Anklagebank saßen. Während die durchschnittliche Haftstrafe für den Versuch der Republikflucht bei etwa vier Jahren lag, verhängte das SED-Regime für die organisierte Fluchthilfe sogar lebenslängliche Zuchthausstrafen. Statistiken der DDR-Generalbundesanwaltschaft zufolge kam es von 1961 bis 1988 zu rund 110.000 Verfahren wegen „Republikflucht“ bzw. „ungesetzlichem Grenzübertritt“; dabei wurden nach einer anderen DDRStudie über politische Gefangene zwischen 1960 und 1988 mehr als 71.000 Frei61 62

Interview Wolfgang Welsch. Im Einzelnen dazu: Wolfgang Welsch, Ich war Staatsfeind Nr. 1, München 2007, S. 197–213.

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heitsstrafen wegen „Republikflucht“ verhängt.63 Viele verbüßten ihre Strafe in der Untersuchungshaftanstalt des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen. Wie auch in Bautzen waren die Haftbedingungen dort unmenschlich. Die zumeist von Westdeutschen organisierte Fluchthilfe war unterschiedlich motiviert. In den ersten Jahren nach dem Mauerbau waren es überwiegend kritisch eingestellte Studenten, die von Idealismus getragen den eingesperrten DDRBürgern helfen wollten. Im Westen wurden sie vielfach als Helden gefeiert. Seit Mitte der 1960er-Jahre entdeckten dann einige Westdeutsche die Fluchthilfe als ein lukratives Geschäft – für das Ausschleusen ganzer Familien gab es sogar Mengenrabatt. Im Zeitalter der Entspannung wurde die kommerzielle Fluchthilfe für DDR-Bürger in der bundesdeutschen Öffentlichkeit schließlich als unmoralisch verurteilt, nicht zuletzt deswegen, weil sie der Strategie der Neuen Ostpolitik, dem „Wandel durch Annäherung“, entgegenstand.64 Da die Flucht aus der DDR mittels einer westdeutschen Fluchthelferorganisation für ostdeutsche Verhältnisse schier unbezahlbar war – die Preise lagen zwischen 10.000 und 50.000 D-Mark –, erfolgten rund 76 Prozent der Fluchtversuche ohne Unterstützung dieser Gruppen. Nicht nur von westdeutschen Fluchthelfern erhielten Flüchtlinge aus der DDR zu dieser Zeit Unterstützung, sondern vermehrt auch von bundesdeutschen diplomatischen Vertretungen in den sozialistischen Nachbarländern, die DDR-Bürgern in bestimmten Fällen westdeutsche Reisepässe ausstellten und Zahlungsmittel überließen.65 Insbesondere durch die Vermittlung des DDR-Rechtsanwalts Wolfgang Vogel, der offiziell von Erich Honecker beauftragt war, gelang es der Bundesrepublik, zwischen 1962 und 1989 immerhin 34.000 aus politischen Gründen inhaftierte Männer und Frauen aus DDR-Gefängnissen freizukaufen.66 Dabei warf der Häftlingsfreikauf für jede Bundesregierung moralische sowie politische Fragen auf. Zum einen spielten humanitäre Gründe eine besondere Rolle. So wurde versucht, das Schicksal insbesondere derjenigen DDR-Bürger zu erleichtern, die aus politischen Gründen in Haft saßen. Zum anderen gingen die jeweiligen Bundesregierungen davon aus, dass die deutsche Teilung noch lange andauern und lediglich durch eine Annäherung der Großmächte überwunden werden könne. Die politischen Gefangenen konnten aber nach Verbüßung ihrer Strafe in der DDR zu möglichen Protagonisten eines erneuten Volksaufstands werden, der wie63 64 65 66

Vgl. hierzu Hans-Hermann Hertle/Maria Nooke u.a., Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961–1989. Ein biographisches Handbuch (hrsg. v. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und der Stiftung Berliner Mauer), Berlin 2009, S. 496. Vgl. Wolfrum, Die Mauer, S. 74ff. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 12. Siehe hierzu Wolfrum, Die Mauer, S. 76.

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der innen- und außenpolitische Verhärtungen zur Folge haben würde. Mit dem Häftlingsfreikauf sollte daher auch ein mögliches Konfliktpotenzial innerhalb der DDR-Gesellschaft reduziert werden. Für die DDR bedeutete der Häftlingsfreikauf dagegen ein profitables Zusatzgeschäft, für das sie sich je nach Ausbildungsstand, Haftdauer und Bedeutung der Person zwischen 40.000 und 250.000 D-Mark zahlen ließ. Insgesamt verdiente die SED bei diesem „Menschenhandel“ etwa 3,4 Milliarden D-Mark.67 Während 1973 noch rund 68 Prozent aller Fluchtvorhaben über das „sozialistische Ausland“ stattfanden, markiert das darauffolgende Jahr einen leichten Abwärtstrend – 1974 waren es nur noch knapp 50 Prozent der Fluchtversuche, die über andere Ostblockländer stattfanden. Bevorzugte Methoden waren unter anderem „Schleusungen“ in Kraftfahrzeugverstecken, Diplomatenfahrzeugen und Schnellzügen.68 Wie in den 1960er-Jahren blieb die Tschechoslowakei auch in den 1970er-Jahren der beliebteste Ausgangspunkt für Fluchten über den Ostblock, wobei der Prager Flughafen eine zentrale Rolle einnahm.69 DDR-Bürger flüchteten zu dieser Zeit ebenso über das Nachbarland Polen. Hier boten sich Fluchtmöglichkeiten insbesondere über den Transitverkehr zollverplombter Lastkraftwagen und unter Verwendung westlicher und polnischer Reisepässe über den internationalen Eisenbahn- und Flugverkehr in Personenverstecken sowie über die Ostsee. Sehr beliebt war hierbei die über Polen führende Transitstrecke zwischen Österreich und Schweden, die über die Grenzübergangsstelle Görlitz/Zgorzelec zu erreichen war.70 Zwischen 1971 und 1975 wurden insgesamt 4.454 fluchtwillige DDR-Bürger aus dem Ostblock, darunter 3.049 Personen aus der ČSSR, 670 aus Ungarn, 416 aus Bulgarien, 197 aus Rumänien und 112 Personen aus Polen nach verhinderter Flucht durch das MfS per Flugzeug in die DDR zurückgebracht. Im gleichen Zeitraum gelang es nach MfS-Angaben mindestens 554 DDR-Bürgern, über die Länder des Ostblocks zu flüchten.71 Das MfS reagierte auf die anwachsende Fluchtbewegung über das „sozialistische Ausland“ einerseits mit dem Ausbau der Kooperationsbeziehungen zu den Sicherheitsdiensten der Partnerländer, andererseits mit der Einrichtung weiterer Operativgruppen in den Ostbockstaaten, wobei diese Gruppen ihrerseits mit den Partnerdiensten zusammenarbeiteten. Die Kooperation zwischen dem MfS und 67 68 69 70

71

Hierzu Kowalczuk, DDR, S. 51f. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 12. Ebd. Vgl. Monika Tantzscher, „Wir fangen an, neue gute Traditionen in der Zusammenarbeit zu schaffen“ – Über die geheimdienstlichen Beziehungen der DDR zu Polen im Spiegel der MfS-Akten, in: Kerski u.a. (Hg.), Zwangsverordnete Freundschaft?, Osnabrück 2003, S. 89–122, hier S. 97. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 76f., 80.

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den „Bruderorganen“ wurde in bi- und multilateralen Abkommen geregelt. Nachdem im Januar 1970 eine Beratung der Sicherheitsdienste der DDR, der Tschechoslowakei und Polens zur Unterstützung der Nachbarstaaten bei der Verhinderung von Republikflucht stattgefunden hatte, unterzeichneten die DDR und die ČSSR im Dezember 1970 einen entsprechenden Kooperationsvertrag, der die Weichen für eine intensive Zusammenarbeit bei der Bekämpfung von Fluchtplänen stellen sollte. Im Juli 1971 schlossen das MfS und das Ministerium des Innern der ČSSR eine Vereinbarung über die Sicherung des Reise- und Touristenverkehrs, die die Einrichtung von MfS-Operativgruppen in der Tschechoslowakei, insbesondere im Bäderdreieck um Karlsbad und in Prag, sowie die konspirativen Arbeitsmöglichkeiten und einen weiteren Informationsaustausch regelte. Laut einem vom Minister für Staatssicherheit und dem polnischen Innenminister im November 1970 unterzeichneten Protokoll fürchtete das MfS, dass angesichts der bevorstehenden Einführung des pass- und visafreien Reiseverkehrs die nach Polen einreisenden DDR-Bürger intensive Kontakte mit Westdeutschen, insbesondere Fluchthelfern, aufnehmen könnten. Daher beschloss man auch hier die Einrichtung von Operativgruppen an beliebten Urlaubsorten wie den Ostseebädern, der Masurischen Seenplatte und in Zakopane. Nach Einführung des visafreien Reiseverkehrs schlug Mielke auf einer Dienstkonferenz im Frühjahr 1972 vor, die Zusammenarbeit mit den polnischen Sicherheitsorganen weiter auszubauen.72 In grenznahen Bezirken sollten in erster Linie Personenkreise wie Künstler und Kulturschaffende stärker ins Visier der Sicherheitsorgane genommen werden. Seit dem Sommer 1971 führte das MfS auch mit Ungarn und Bulgarien Verhandlungen zur Verhinderung von „ungesetzlichen Grenzübertritten“, hier durch den zivilen Luftverkehr. In Folgekonferenzen wurden gemeinsame Richtlinien für die Passkontrollorgane an den Grenzübergangsstellen der Flughäfen in der DDR, der Tschechoslowakei, in Polen, Ungarn, Bulgarien und in der Sowjetunion festgelegt.73 Die für die Überwachung des Reise- und Touristenverkehrs im „sozialistischen Ausland“ verantwortliche Hauptabteilung VI hatte zwei grundlegende Aufgaben zu erfüllen. Auf der einen Seite sollte sie die Anleitung der MfS-Operativgruppen zur Überwachung von DDR-Bürgern in Ländern wie der Tschechoslowakei, Polen, Ungarn und Bulgarien vornehmen. Auf der anderen Seite sollte sie sich um die Ausspähung von Bürgern westlicher Staaten kümmern, da man mögliche Westkontakte von DDR-Bürgern auf ihren Reisen im Ostblock zum „ursächlichen Ausgangspunkt“ für Fluchtvorhaben erklärte. Bei der Einrichtung der Operativgruppen wurde die Hauptabteilung VI durch andere Hauptabteilungen des MfS

72 73

Tantzscher, HA VI, S. 70. Ebd., S. 70f.

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Scheinbare Durchlässigkeit der Ostgrenzen (1972–1980)

unterstützt – für die Koordinierung der Zusammenarbeit mit den sozialistischen Partnerdiensten blieb die Hauptabteilung VI jedoch federführend. Das MfS war zunächst darum bemüht, ein weites Netz Inoffizieller Mitarbeiter in den betreffenden Ostblockstaaten einzurichten, das sich aus DDR-Bürgern zusammensetzte, die sich häufig im Ausland aufhielten. Berufsgruppen wie Journalisten, Künstler, Gastronomen, technisches Fachpersonal und Studenten schienen für diese Arbeit besonders geeignet. Die Operativgruppen kamen gewöhnlich in der Reisesaison zwischen März und Oktober zum Einsatz und sollten sich in erster Linie auf die touristischen Ballungszentren in den jeweiligen Ländern konzentrieren. In den Ostblockstaaten ohne Operativgruppen, wie in Rumänien, nahmen sogenannte Führungs-IM (FIM) diese spezifischen Sicherungsaufgaben wahr. Es gab sie aber auch in der Tschechoslowakei, Bulgarien oder Ungarn. So kümmerten sich Angestellte in DDR-Reisebüros um den Ausbau von FIM-Netzen an der rumänischen Küste, im bulgarischen Schwarzmeer-Kurort Albena, in polnischen Großstädten wie Warschau oder im jugoslawischen Sibenik. Inoffizielle sowie hauptamtliche Mitarbeiter des MfS fungierten dabei als Reiseleiter oder mischten sich unter die Reisegruppen. Zu ihren Aufgaben gehörte unter anderem, die entsprechenden MfS-Fachabteilungen über Verhaltensweisen westlicher Reiseunternehmer, die Ergebnisse „operativer Kontrollen“, Festnahmen bei Fluchtvorhaben oder über Kontakte zu Bundesbürgern bzw. über Spionageverdacht zu unterrichten. Darüber hinaus sammelten sie Informationen über die Zusammenarbeit mit DDRBotschaftsangehörigen in den jeweiligen Ländern sowie den Informationsaustausch mit den Partnerdiensten.74 Mitte der 1970er-Jahre kam es in Europa zu einer neuen Phase der Entspannung. Das schwierige Verhältnis zwischen den Mächten in Ost und West sollte in eine Politik der „guten Nachbarschaft“ überführt werden. Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte von Helsinki im August 1975 hatte sich die DDR insbesondere zur Wahrung der Menschenrechte, zur grundsätzlichen Zusammenarbeit in humanitären Bereichen, zur Erleichterung von persönlichen Kontakten über die Blockgrenzen hinweg sowie zum generellen Informationsaustausch verpflichtet. Wie kein anderes Dokument sollte die KSZE-Schlussakte die wenige Jahre später entstehende demokratische Opposition in Ostmitteleuropa beflügeln. Im Jahr 1975 war die Schlussakte von Helsinki für das SED-Regime jedoch zunächst eine zwiespältige Sache: Einerseits wurde mit der neuen Vertragspolitik die Hoffnung auf eine Festsetzung des Status quo in Europa und eine endgültige völkerrechtliche Anerkennung der DDR verbunden. Andererseits befürchtete das MfS mit Blick auf eine weitere Öffnung des Landes die Zunahme von Ost-West-Kontakten und damit einen Anstieg der Fluchtbewegung über die Länder des Ostblocks. Da74

Tantzscher, „Der Paßkontrolleur ist ein Diplomat in Uniform“, S. 232f.

Transnationale Zusammenarbeit der Geheimdienste

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her richtete das MfS die „Zentrale Koordinierungsgruppe“ (ZKG) ein. Sie besaß in erster Linie koordinierende Funktionen und hatte diejenigen Hauptabteilungen anzuleiten, zu deren Aufgaben die „Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Verlassens der DDR und die Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels“ zählte. Tatsächlich verringerte sich ab Mitte der 1970er-Jahre die Fluchtbewegung von DDR-Bürgern über die Länder des Ostblocks. Einerseits registrierte das MfS einen erheblichen Rückgang an Fluchthilfen für DDR-Bürger über das „sozialistische Ausland“; an der Gesamtzahl gemessen waren es im Jahr 1975 nur noch 7,6 Prozent Flüchtlinge, die über andere Ostblockländer in den Westen gebracht wurden. Andererseits verzeichnete das MfS 1976 gegenüber dem Vorjahr einen sprunghaften Anstieg der Ausreiseantragsteller um mehr als 70 Prozent – im MfS-Jargon zynisch als „feindlich-negative Handlungen von Übersiedlungswilligen“ bezeichnet.75 Die Reaktionen ließen denn auch nicht lange auf sich warten. Im Oktober 1976 ordnete das MfS an, dass alle Ausreiseanträge abzulehnen seien, die sich in ihrer Begründung irgendwie auf die Schlussakte von Helsinki beriefen.76 Viele DDR-Bürger nutzten die neue Phase der Entspannung zwischen den Blöcken. Um ihren Plänen von einer Übersiedlung Nachdruck zu verleihen, schrieben sie während ihrer Urlaubsfahrten im Ostblock westliche Institutionen und Behörden an. Aber auch die sozialistischen Partnerdienste blieben nicht untätig und ließen Gegenmaßnahmen folgen. So leitete der tschechoslowakische Sicherheitsdienst von DDR-Bürgern verfasste Briefe an das MfS weiter, die an die UNO, das Komitee für Menschenrechte in Genf, an Amnesty International, an das Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen oder die bundesdeutsche Botschaft in Prag gerichtet waren.77 In der Zeit zwischen Januar und Oktober 1978 übermittelten die Sicherheitsorgane der ČSSR, Ungarns und Bulgariens rund 2.100 konfiszierte Briefe und 560 Informationen zu geheimen Treffen und Kontakten von DDR-Urlaubern mit Bürgern westlicher Staaten an das MfS.78 Nur kurze Zeit vorher hatten die Sicherheitsdienste der Sowjetunion, der DDR, der Tschechoslowakei, Ungarns, Polens und Bulgariens im Juni 1977 ein multilaterales Abkommen über das „System der vereinigten Erfassung von Daten über den Gegner“ (SOUD) geschlossen. Nach Personenkategorien aufgeschlüsselt, führte das SOUD unter anderem Daten über Mitarbeiter westlicher Geheimdienste, angebliche Terroristen und Staatsverbrecher sowie aus politischen Grün75

76 77 78

Bernd Eisenfeld, Die Zentrale Koordinierungsgruppe Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung (Anatomie der Staatssicherheit, Geschichte, Struktur und Methoden, MfSHandbuch Berlin: Bundesbeauftragter für die Unterlagen der Staatssicherheit), Berlin 1995, S. 3–5, 14–23. Ebd., S. 24. Tantzscher, HA VI, S. 72. Ebd.

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den des Landes verwiesene Personen usw. Über das SOUD sollte auch die Fluchtbewegung über den Ostblock stärker kontrolliert werden.79 Nachdem der westdeutsche Bundesgerichtshof im September 1977 Fluchthilfeverträge für die Befreiung von DDR-Bürgern für rechtsgültig erklärt hatte, fahndete das MfS sowohl in der DDR als auch in den Ostblockländern noch intensiver nach Fluchthelfern.80 Während in dieser zweiten Phase im Zeitraum zwischen 1975 und 1979 fast 7.000 DDR-Bürger durch das MfS oder die Partnerdienste an ihrer Flucht über die Ostblockländer gehindert wurden, gelang in der gleichen Zeit lediglich 560 Ostdeutschen die Flucht über das „sozialistische Ausland“.81 Insgesamt waren es nach MfS-Angaben in den 1970er-Jahren fast 11.500 DDRBürger, die nach missglücktem Fluchtversuch aus Ländern des Ostblocks in die DDR zurückgebracht wurden. Dagegen verlief in dieser Dekade bei etwa 1.100 DDRBürgern die Flucht über den Ostblock erfolgreich. Vergleicht man diese Zahlen mit den 1960er-Jahren, fällt auf, dass in den 1970er-Jahren mehr als dreimal so viele DDR-Bürger über das „sozialistische Ausland“ zu flüchten versuchten, wobei die Zahl der geglückten Fluchtversuche in den 1960er-Jahren gegenüber dem Jahrzehnt danach mit etwa 1.400 zu 1.100 sogar höher liegt. Zum einen hing die ansteigende Fluchtbewegung über den Ostblock mit der Einführung des pass- und visafreien Reiseverkehrs nach Polen und in die Tschechoslowakei zusammen. Zum anderen trugen zu dieser Entwicklung viele Fluchthelfergruppen aus der Bundesrepublik bei, die sich seit den 1970er-Jahren vornehmlich auf die Fluchthilfe über die Ostblockländer konzentrierten. Auf der anderen Seite hatten jedoch die Geheimdienste der Ostblockländer ihre Arbeitsweise im Laufe der 1970er-Jahre weiter perfektioniert und nicht zuletzt durch eine bessere Zusammenarbeit die meisten Fluchtversuche von DDR-Bürgern verhindern können.

79 80 81

Im Einzelnen dazu: Tantzscher, „Wir fangen an, neue gute Traditionen in der Zusammenarbeit zu schaffen“, S. 99. Tantzscher, HA VI, S. 80. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 77.

6. Verschärfung und Zusammenbruch der ostmitteleuropäischen Grenzregime (1980–1989) 6.1 Die Anfänge der Solidarność 1980/81 und die Abschottungspolitik der DDR Als es am 14. August 1980 auf der Danziger Lenin-Werft zum Streik kam, schlossen sich rasch weitere Großbetriebe an der Ostseeküste und in Oberschlesien den Arbeitsniederlegungen an. Bald wurde die Danziger Lenin-Werft zum Vorbild und Protestzentrum des Landes. Innerhalb weniger Wochen entstand hier eine „Subkultur – eine Mischung aus politischer Kundgebung, kirchlicher Messe, Volksfest und Festung“.1 Obwohl, wie so oft im kommunistischen Polen, Preiserhöhungen den Anlass für die Revolte gegeben hatten, kämpften die Streikenden diesmal um weit mehr als nur um die Verteidigung ihres ohnehin niedrigen Lebensstandards. Vor allem umfassten die Streikforderungen die Gründung freier Gewerkschaften, die Abschaffung der Zensur und die Freilassung aller politischen Gefangenen. Im Osten wie im Westen Europas zeigte man sich überrascht, als das Regime dem Druck der Straße nachgab: Schon am 31. August 1980 unterzeichnete der Streikführer, Lech Wałęsa, mit Vertretern der Regierung das Danziger Abkommen. Die Vereinbarung bildete das Fundament für unabhängige und sich selbst verwaltende Gewerkschaften, räumte den Arbeitern das Streikrecht ein, das Recht zur Denkmalerrichtung für die während der Arbeiterproteste 1970 getöteten Kollegen und versprach schließlich die Lockerung der Zensur. Anfang September schlossen sich die Delegierten der Streikkomitees aus sämtlichen Teilen Polens zum Nationalen Koordinierungskomitee einer neuen „Unabhängigen Selbstverwaltenden Gewerkschaft“ zusammen und gaben ihr den Namen „Solidarność“ (Solidarität). Der 37-jährige arbeitslose Elektriker Lech Wałęsa wurde zum Vorsitzenden der Solidarność gewählt, die mit fast zehn Millionen Mitgliedern praktisch jede Familie im Land repräsentierte. Während die Solidarność zum Symbol der polnischen Freiheit avancierte, stürzte die kommunistische Polnische Arbeiterpartei in der öffentlichen Meinung erdrutschartig ab – bereits in den ersten Monaten nach dem August verlor sie mehr als 250.000 ihrer Mitglieder.2 Obwohl die Solidarność politisch die Strategie der „sich selbst beschränkenden Revolution“ verfolgte und weder freie Wahlen noch eine völlige Unabhängigkeit vom sowjetischen Hegemonialbereich forderte, stellte sie zumindest indirekt das Machtund Organisationsmonopol der polnischen Kommunistischen Partei in Frage. Ge1 2

Besier/Stokłosa, „Solidarność“ – nur ein polnischer Traum von der Freiheit?, S. 271. Ebd., S. 271f.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

nau darin sah auch die SED eine Gefährdung der eigenen Machtposition innerhalb des „sozialistischen Lagers“ und mit Blick auf die „deutsche Frage“ letztlich auch die Gefahr für den Fortbestand der DDR.3 Auf der Politbürositzung der SED-Führung am 2. September 1980 war denn auch die Rede von „starken Brückenköpfen der Konterrevolution“, „legalen konterrevolutionären Basen“, der „Preisgabe politischer Substanzen des sozialistischen Systems“ usw.4 Bereits Ende August erstellte das ZK eine umfangreiche Analyse über die gegenwärtige Lage in Polen, in der die Programme und politischen Forderungen der „antisozialistischen Kräfte“ in Polen 1980 mit jenen in der ČSSR 1968 verglichen wurden. „In beiden Ländern“, so der Bericht, „vertreten die antisozialistischen Kräfte bürgerliche Pluralismus-Konzepte. Sie fordern einen ‚sozialistischen Pluralismus‘ auf den Gebieten der Macht, der Politik, der Wirtschaft, der Kultur, der Ideologie, um auf diese Weise die Machtgrundlagen der Diktatur des Proletariats zu untergraben.“5 Die SED-Führung schätzte die Lage in Polen insgesamt sogar „schlimmer als 1968 in der ČSSR“ ein. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich die DDR-Sicherheitsorgane 1980/81 bei den geplanten Maßnahmen gegenüber Polen an ihren Ausführungsbestimmungen gegenüber der Tschechoslowakei von 1968 orientierten. Genauso wie im „Prager Frühling“ die ČSSR erklärte man jetzt Polen zum „Operationsgebiet“.6 Bereits eine Woche nach Unterzeichnung des Danziger Abkommens richtete das MfS am 8. September 1980 innerhalb der Hauptabteilung II die „Operativgruppe Warschau“ ein. Ihre zentrale Aufgabe bestand in der Informationsgewinnung über das innere Kräfteverhältnis in Polen; in erster Linie sollte sie den Ausbau von Kontakten in den wichtigsten gesellschaftlichen Bereichen wie Partei, Sicherheitsorgane, Polnische Armee und den Ministerien fördern.7 Um das eigene Sicherheitsbedürfnis zu stillen und den transnationalen Informationsfluss in das Nachbarland nach Möglichkeit zu unterbinden, wurden die Kontrollen an der polnischen Grenze verschärft. Für das MfS als treibende Kraft stellte sich dabei das Problem, dass die Staatsgrenze zu Polen aufgrund der seit 1972 gülti3 4

5 6 7

Ziemer, Die Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen in den 80er Jahren, S. 655. Michael Kubina/Manfred Wilke, Einleitung, in: dies. (Hg.), „Hart und kompromisslos durchgreifen“. Die SED contra Polen 1980/81. Geheimakten der SED-Führung über die polnische Demokratiebewegung (Studien des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin), Berlin 1995, S. 17–47, hier S. 17. Zit. nach „Die Entwicklung der Volksrepublik Polen seit dem VI. Parteitag der Polnischen Arbeiterpartei“, abgedruckt als Dok. Nr. 6, in: Kubina/Wilke (Hg.), „Hart und kompromisslos durchgreifen“, S. 74–89, hier S. 85. Ebd. Vgl. Tantzscher, „Wir fangen an, neue gute Traditionen in der Zusammenarbeit zu schaffen“, S. 104f.

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gen Regelung über den visafreien Reiseverkehr relativ durchlässig war. Weil die Ereignisse in Polen vom MfS mit den Zielen westlicher Geheimdienste in Verbindung gebracht wurden, kam es am 10. September 1980 zwischen den Sicherheitsdiensten Polens und der DDR zu einer ersten Übereinkunft über die „Erkennung und Dokumentierung von Mitarbeitern westlicher Massenmedien“, die aus skandinavischen und westeuropäischen Ländern nach Polen einreisten und an den Grenzübergangsstellen der DDR besonders gründlich kontrolliert werden sollten. Durch gezielte Fahndungsmaßnahmen an den Grenzübergängen konnte die polnische Seite schon bald ca. 600 bis 700 „operativ-bedeutsame Personen“ westlicher Staaten feststellen. Die polnische Seite verpflichtete sich außerdem, das MfS über polnische Bürger zu informieren, die dem polnischen Dissidentenkreis zuzurechnen seien. Im Gegenzug übergab das MfS dem polnischen Partnerdienst Informationen über Kontakte und Verbindungen polnischer Bürger zu Exilpolen sowie Bürgern westlicher Länder.8 Seit Anfang Oktober hatten die Passkontrolleinheiten der Hauptabteilung VI an den Grenzübergangsstellen mit anderen Grenzorganen sowohl „konspirativ“ als auch „demonstrativ“ zusammenzuarbeiten – auf diese Weise sollte das Grenzregime für die Reisenden auch nach außen sichtbar verschärft werden. Das MfS erweiterte die Fahndungsmaßnahmeschlüssel für alle verdächtigen Personen sowie für Reisegruppen in beide Richtungen. Um den Schmuggel von „Hetzmaterialien“, Geld und anderen Dingen zur Unterstützung der Opposition in Polen zu verhindern, wurden die Zollkontrollmaßnahmen verstärkt und vermehrt Fahrzeuge durchsucht.9 Ende Oktober waren auch die grenznahen Bezirksverwaltungen des MfS in Rostock, Neubrandenburg, Frankfurt (Oder), Cottbus und Dresden in die neuen Aufgaben mit einbezogen. Erfahrene operative Mitarbeiter dieser Bezirksstellen wurden zur Verstärkung an die Grenze zu Polen versetzt.10 Am 28. Oktober 1980 befahl Mielke schließlich, den pass- und visafreien Personenreiseverkehr zwischen der DDR und Polen zum 30. Oktober einzustellen. Die Schließung der Grenze rechtfertigte der Minister für Staatssicherheit zum einen mit der schlechten Wirtschaftslage der DDR wegen der „massenhaften Warenabkäufe“ durch die einreisenden Polen, zum anderen mit der Bedrohung durch „konterrevolutionäre Elemente“, die den freien Reiseverkehr ausgenutzt hätten, um die DDR als Basis für ihre gegen den Sozialismus in Polen gerichteten Handlungen zu missbrauchen.11 8 9 10 11

Ebd., S. 105. BStU, ZA, MfS, BdL, Dok. 7298: Bl. 8: „Mielkes Anordnung nach Einschätzung der Vorgänge in Polen“, 9. Oktober 1980. Vgl. Tantzscher, „Wir fangen an, neue gute Traditionen in der Zusammenarbeit zu schaffen“, S. 108. BStU, ZA, MfS, BdL, Dok. 015802: Bl. 1: „Maßnahmen im Zusammenhang mit der zeitweiligen Änderung der Modalitäten im paß- und visafreien Reiseverkehr zwischen der DDR

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

21 Arbeiter feiern ihren Helden, den Streikführer Lech Wałęsa, und tragen ihn am 30. August 1980, einen Tag vor der Unterzeichnung des Danziger Abkommens, zur LeninWerft in Danzig.

In Bezugnahme auf die sowjetische und polnische Tageszeitung „Prawda“ und „Trybuna Ludu“ versuchte das „Neue Deutschland“ schon Wochen vor der Grenzschließung, in mehreren kurzen Artikeln die Proteste der polnischen Solidarność als „Sabotageakte“ am polnischen Staat zu diffamieren. So heißt es in einem Artikel im „Neuen Deutschland“ vom 2. September 1980, dass „antisozialistische Elemente“ damit fortfahren würden, die politischen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes weiter zu verschärfen. Nachdem es ihnen gelungen sei, in eine Reihe von Betrieben an der Ostseeküste Polens wie in Danzig einzudringen und das Vertrauen der Arbeiterschaft zu gewinnen, würden sie nun versuchen, einen Keil zwischen die Partei und die Arbeiterklasse zu treiben, um dadurch die zentrale „Kraftquelle der Partei und des polnischen Staates“ zu stören.12 In der ostdeutschen Öffentlichkeit wurde von offiziellen Stellen außerdem propagiert, die Protestierenden seien „faul und sollten lieber arbeiten als streiken“. Zwar

12

und der Volksrepublik Polen“, 28. Oktober 1980. „Umtriebe der Feinde des sozialistischen Polen“, in: Neues Deutschland, Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 2. September 1980, S. 2.

Die Anfänge der Solidarność 1980/81

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schätzten viele DDR-Bürger die Ziele der Solidarność als utopisch ein und standen den Arbeitsniederlegungen in Polen gemeinhin kritisch gegenüber.13 Dennoch kam es, wie eine MfS-Übersicht über eine Abhörmaßnahme von über 2.500 Telefongesprächen zwischen der DDR und Polen vom Februar 1981 zeigt, ebenso zu Solidarisierungsbekundungen von DDR-Bürgern gegenüber den polnischen Werktätigen und den von ihnen geführten Warnstreiks.14 Vor dem Hintergrund der Ereignisse in Polen war die gesamte Führungsriege der DDR in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt: Bereits Ende November 1980 rechnete man mit der Ausrufung des Ausnahmezustands in Polen. Daher schlug der Stellvertreter des Verteidigungsministers, Fritz Streletz, am 28. November vor, den Stab des Grenzabschnitts Frankfurt (Oder), Görlitz und Prenzlau durch weitere Kommandos bzw. Kompanien der Grenztruppen zu verstärken.15 Einerseits versuchte man also, sich vom Revolutionsherd Polen so stark wie möglich abzuschotten, andererseits entwickelte die SED-Führung Strategien, um auf mögliche Szenarien der Entwicklung in Polen reagieren und falls nötig auch militärisch eingreifen zu können. Um dem sozialistischen Nachbarland Polen „brüderliche Hilfe“ zu leisten, kam es zwischen führenden Militärs der DDR und der UdSSR Anfang Dezember 1980 zu einem geheimen Treffen in Moskau. Dort erwog man die Idee einer „gemeinsamen Ausbildungsmaßnahme“ der Armeen der UdSSR, der DDR, Polens und der Tschechoslowakei. Im Protokoll des Moskauer Treffens heißt es, dass „die vorgesehenen Kräfte der nationalen Kommandos die Bereitschaft bis zum 8. Dezember 1980, 00,00 Uhr zur Teilnahme an der Übung herzustellen, die Übungsunterlagen vorzubereiten und auf Signal mit den Handlungen zu beginnen [haben]“.16 Während die SED-Führung einen militärischen Einmarsch in Polen im Dezember 1980 als unbedingt notwendig ansah, zögerte die sowjetische Führung. Zum einen schien den Sowjets das Risiko eines Truppeneinmarschs aufgrund der Größe Polens sowie eines wahrscheinlichen Blutvergießens zu hoch, zum anderen war Moskau außenpolitisch mit dem Krieg in Afghanistan zu stark belastet. Ökonomisch hätten die anfallenden Besatzungskosten das erträgliche Maß überschritten.17 13 14 15 16 17

Besier/Stokłosa, „Solidarność“ – nur ein polnischer Traum von der Freiheit?, S. 272f.; Ziemer, Die Beziehungen zwischen der DDR und der Volksrepublik Polen in den 80er Jahren, S. 663. BStU, ZA, MfS, Arbeitsbereich Neiber 322, Bl. 1–5: „Übersicht über den Anfall und den Inhalt bei der Kontrolle des Fernsprechverkehrs zwischen der DDR und der VR Polen in der Zeit vom 12. Januar bis 2. Februar 1981“, 9. Februar 1981. „Aktennotiz für den Minister für Nationale Verteidigung“, abgedruckt als Dok. Nr. 15 in: Kubina/Wilke (Hg.), „Hart und kompromisslos durchgreifen“, S. 124ff. Zit. nach: „Erläuterungen“, abgedruckt als Dok. Nr. 19 in: Kubina/Wilke (Hg.), „Hart und kompromisslos durchgreifen“, S. 136ff. Hierzu Olschowsky, Die staatlichen Beziehungen zwischen der DDR und Polen, S. 50f.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

Der über CIA-Memoranden über diese Schritte bestens informierte amerikanische Präsident Jimmy Carter sowie die ebenso unterrichtete Bonner Regierung warnten dringend vor einer militärischen Invasion in Polen. Die Führung der DDR behielt sich jedoch die Option eines militärischen Eingreifens vor: Am 10. Juni 1981 entsandte der Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung im Rahmen der „gemeinsamen Ausbildungsmaßnahme“ weitere NVA-Truppen an die Grenze zu Polen.18 Die in dem Befehl angeordneten Maßnahmen zur „Sicherung der Staatsgrenze“ bedeuteten dabei faktisch eine Gleichstellung mit dem strengen Grenzregime an der Westgrenze zur Bundesrepublik. Erst nachdem die polnische Parteiführung um Wojciech Jaruzelski in der Nacht zum 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängt hatte, sollte sich die Lage auch für die DDR entspannen. Mit dem Kriegsrecht wurde die demokratische Gewerkschaftsbewegung Solidarność unterdrückt und gleichzeitig eine drohende Militärintervention abgewendet. Beruhigt nahmen die Genossen westlich der Oder und Neiße zur Kenntnis, dass Tausende von Solidarność-Aktivisten interniert wurden und das Militär die Straßen in Polen beherrschte. Am 5. April 1982 ordnete die sowjetische Führung schließlich die Aufhebung der militärischen Handlungen im Rahmen der „gemeinsamen Ausbildungsmaßnahme“ an, die rund eineinhalb Jahre zuvor in Vorbereitung auf eine mögliche Zuspitzung der Lage in Polen eingeleitet worden waren.19 Das MfS blieb aber weiterhin im Land, um den polnischen Sicherheitsdienst während der Konsolidierungsphase nachhaltig zu unterstützen. 6.2 Opposition in Polen und der DDR: Kontakte, Zusammenarbeit und Mobilisierung Trotz der von Moskau verordneten Freundschaft zwischen den sozialistischen „Bruderländern“ DDR und Polen herrsche auf beiden Seiten von Oder und Neiße eine auffallende „Sprachlosigkeit“, „gegenseitige Ignoranz und Misstrauen“, die sogar bis zur „Feindseligkeit und Abneigung“ reichen würden.20 Mag diese Einschätzung des bekannten Bürgerrechtlers Ludwig Mehlhorn übertrieben oder überspitzt erscheinen, drückt sie doch die Wehmut über die größtenteils verpassten Chancen während der gemeinsamen Zeit im Kommunismus, insbesondere in den staatlich unabhängi18

19 20

„Befehl Nr. 50/81 des Ministers für Nationale Verteidigung über die Sicherung der Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik zur Volksrepublik Polen vom 10.6.1981“, abgedruckt als Dok. Nr. 56 in: Kubina/Wilke (Hg.), „Hart und kompromisslos durchgreifen“, S. 310ff. „Aktennotiz für den Minister für Nationale Verteidigung, abgedruckt als Dok. Nr. 97 in: Kubina/Wilke (Hg.), „Hart und kompromisslos durchgreifen“, S. 395. Mehlhorn, Zwangsverordnete Freundschaft?, S. 35.

Opposition in Polen und der DDR

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gen Bereichen, aus. Obwohl es bereits Mitte der 1970er-Jahre zu ersten Kontakten zwischen regimekritischen Oppositionellen gekommen war, kann von einer echten grenzüberschreitenden Zusammenarbeit von oppositionellen Gruppierungen in der DDR und in Polen erst seit Mitte der 1980er-Jahre gesprochen werden. Im Jahr 1976 wurde in Warschau das „Komitee zur Verteidigung der Arbeiter“ (KOR) gegründet. Das KOR repräsentierte weite Kreise der polnischen Gesellschaft, forderte die Wahrung der Menschenrechte, mehr Pluralismus und schuf zum ersten Mal eine „Gegenöffentlichkeit“ zum offiziellen Kurs der Regierung. Konzeptionell gründete der Protest des KOR unter anderem auf der Widerstandsethik Dietrich Bonhoeffers. Als führender Kopf des KOR forderte Adam Michnik die sich in politischen Fragen zurückhaltende katholische Kirche in Polen auf, sich stärker in die Politik einzumischen und dabei die während des Kommunismus in Polen begangenen Verletzungen allgemeiner Rechte und Menschenrechte im Dialog mit der Gesellschaft anzusprechen. Michniks Ziel war es, die polnische Gesellschaft im Verbund mit der katholischen Kirche zu einem neuen und kritischen Diskurs zu führen, um auf zivilgesellschaftlicher Ebene gegen das kommunistische Regime in Polen schlagkräftiger auftreten zu können.21 Zur selben Zeit, als 1976 in Warschau das KOR gegründet wurde, studierte der DDR-Bürgerrechtler Wolfgang Templin zwei Semester an der Philosophischen Fakultät der Universität Warschau. Nach seiner Rückkehr in die DDR übersetzte Templin eine Vielzahl der aus Polen mitgebrachten Informationsschriften des KOR, Schriften von Michnik sowie die bekannten offenen Briefe von Jacek Kuroń und Karol Modzelewski an Parteichef Edward Gierek. Auch Mehlhorn pflegte während seines Polenaufenthalts 1977 Kontakte zu regimekritischen Personen. Im Herbst 1977 fand in Warschau ein Menschenrechtsseminar statt, bei dem Tadeusz Mazowiecki, der 1989 zum ersten nicht-kommunistischen Ministerpräsidenten ernannt wurde, einen Vortrag zum Thema „Christentum und Menschenrechte“ hielt; darin betonte Mazowiecki die Priorität der Menschenrechte vor anderen politischen und ideologischen Überzeugungen. Dank der Vermittlung Mehlhorns gelangten auch diese Texte in die DDR.22 Wie reagierte nun das MfS auf diese Initiativen ostdeutscher Bürgerrechtler in Polen? War es über diese Kontakte überhaupt informiert? Wie aus einem MfS21 22

Siehe hierzu das bereits 1977 veröffentlichte Buch von Adam Michnik, Die Kirche und die polnische Linke. Von der Konfrontation zum Dialog, München 1980. Interview Ehrhart Neubert. Vgl. Ludwig Mehlhorn, Solidarność 1980/81 und die Folgen in Polen, in den sozialistischen Nachbarländern, insbesondere in der DDR, sowie im Ost-West-Verhältnis, in: Materialien der Enquete-Kommission, hg. vom Deutschen Bundestag, Deutschlandpolitik, innerdeutsche Beziehungen und internationale Rahmenbedingungen, Bd. V, 1, Baden-Baden 1995, S. 208–215, hier S. 212.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

Dokument mit der Überschrift „Information zum feindlich-eingestellten DDRBürger Wolfgang Templin“ hervorgeht, beschattete ihn die Staatssicherheit in den Jahren 1975 bis 1977. Über Inoffizielle Mitarbeiter war das MfS genau darüber informiert, welche Kontakte Templin zu polnischen Oppositionellen hatte und welche Schriften, nämlich mindestens „4 Informationsbulletins des KOR sowie 2 Briefe von Kuroń und Modzelewski“, er zu dieser Zeit über die Grenze in die DDR geschmuggelt hatte.23 Nach einem anderen MfS-Dokument war auch Mehlhorn der Staatssicherheit als Verbindungsperson des KOR bekannt und wurde in den Jahren 1977/78 vom MfS beschattet. Aus den Überwachungstätigkeiten der Staatssicherheit geht hervor, dass „Mehlhorn regelmäßig die neusten Kommuniques des Komitees [KOR; D.T.] illegal aus der VR Polen [erhielt], die er in der DDR vervielfältigte und weiterverbreitete“.24 Die gegenseitige Wahrnehmung und die Bereitschaft, unabhängige Kontakte zwischen kritisch-intellektuellen Gruppen jenseits der Oder und Neiße zu knüpfen, wuchsen bezeichnenderweise von dem Zeitpunkt an, als das SED-Regime mit der Schließung der Grenze zu Polen Ende Oktober 1980 den gefährlichen „SolidarnośćBazillus“ isolieren wollte. Seit Ende der 1970er-Jahre hatte die ostdeutsche Oppositionsbewegung mit der Herausbildung einer unabhängigen Friedensbewegung ein neues Profil erhalten. Vehement unterstützt von der Evangelischen Kirche in der DDR unternahmen ostdeutsche Oppositionelle seit Anfang der 1980er-Jahre zahlreiche Versuche, sich mit der Demokratiebewegung in Polen zu solidarisieren. Diese Initiativen liefen zum größten Teil über die sogenannte Offene Arbeit – eine seit den frühen 1970er-Jahren in mehreren Städten der DDR bestehende Form der kirchlichen Jugendarbeit; seit den 1980er-Jahren bildete sie einen Kernbereich der Opposition in der DDR. Vor allem in Jena waren Jugendliche in der „Offenen Arbeit“ bemüht, Kontakte mit osteuropäischen Oppositionellen herzustellen. Ein bekanntes Beispiel für die Solidarität mit der Gewerkschaft Solidarność war der Auftritt von Pfarrer Friedrich Schorlemmer auf der Synode der Evangelischen Kirche in Halle im November 1981, bei dem er sich gegen die politische Instrumentalisierung der polnischen Krise durch die SED-Führung aussprach. Wir sind tief besorgt über die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Menschen in der DDR und der Volksrepublik Polen. Die Art der Berichterstattung über die gesellschaftlichen Konflikte in unserem Nachbarland hat dazu beigetragen, daß in unserem Land Stimmungen aufgekommen sind, die die Gräben zwischen unseren Völkern wieder aufreißen können […]. Eine sachliche Urteilsbildung über die Vorgänge seit August 1980 […] wird durch verkürzende Informationen und abwertende Kommentare erschwert. Sogar Mittel der Herabwürdigung, bedrohender Etikettierungen und historisch belasteter 23 24

Zit. nach Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle, S. 206. Zit. nach ebd., S. 204.

Opposition in Polen und der DDR

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Vergleiche werden eingesetzt, um die „Feinde“ kenntlich zu machen. […] Wir sind betroffen und beschämt von solchen Erscheinungen, die auch in unsere Gemeinden reichen.25

Auch die in der DDR-Forschung nicht genauer bekannten „Sozialistischen Oppositionellen der DDR“ bekundeten ihre Solidarität mit der polnischen Demokratiebewegung Solidarność. Im Dezember 1980 sandten sie ein Schreiben nach Polen, das 1981 in Übersetzung in der Januar-Ausgabe der polnischen Zeitschrift „Obóz“ erschien.26 In dem Kommuniqué heißt es, dass sie den Kampf der polnischen Arbeiter, Bauern und Intellektuellen unterstützen und die Mittel der Regierung in der DDR verurteilen würden, die nichts unversucht ließe, um die Ereignisse in Polen zu verfälschen: „Selbst im Falle einer Intervention“, wird euer Kampf für uns ein Beispiel bleiben.“27 Für die Zeit nach der Verhängung des Kriegsrechts und des gleichzeitigen Verbots der Solidarność Ende 1981 zeugen lediglich vereinzelte Aktionen oppositioneller Gruppen und Einzelpersonen von einer Solidarisierung mit der polnischen Opposition.28 Die Namen der Studenten Roland Jahn aus Jena und Eckehard Hübner aus Mecklenburg werden hierbei besonders häufig erwähnt. Hübner wurde im September 1982 bei dem Versuch verhaftet, illegal gedruckte Solidarność-Schriften von Polen in die DDR zu schmuggeln, woraufhin er zu einer Freiheitsstrafe von 15 Monaten verurteilt wurde. Jahn war in der im Sommer 1982 in Jena gegründeten „Friedensgemeinschaft“ tätig und versuchte in öffentlichkeitswirksamer Weise, auf das Schicksal der polnischen Gesellschaft aufmerksam zu machen. Im Herbst 1982 fuhr er mit einer an seinem Fahrrad befestigten polnischen Fahne mit dem Schriftzug „Solidarność – Z Polskim narodem!“ („Solidarität – Mit der polnischen Nation!“) 25

26 27

28

Zit. nach Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949–1989 (Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 346), Bonn 1997, S. 387. Der Vertreter der Kirchenleitung, Manfred Stolpe, verhielt sich gegenüber den Entwicklungen in Polen dagegen äußerst zurückhaltend. Laut einem Protokoll versicherte Stolpe einem MfS-Offizier in einer konspirativen Wohnung, dass „man sich die polnische Jacke nicht anziehen wird. […] Von kirchenleitender Seite wolle man daran festhalten, sich jeglicher öffentlicher bzw. offizieller Stellungnahmen zu enthalten.“ Zit. nach ebd., S. 385. Der Zeitschriftenname „Obóz“, dt: Lager, war symbolisch gewählt und meinte einerseits das sozialistische, andererseits das repressive Lager. Zit. nach „Appell sozialistischer Oppositioneller der DDR an die Opposition in Polen, An das arbeitende Volk und die Intellektuellen aus der Opposition in Polen!“, abgedruckt als Dok. Nr. 5 in: Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit? Der Polnische Oktober und die Solidarność-Revolution in der Wahrnehmung von Schriftstellern aus der DDR, Berlin 2002, S. 570f. Siehe zu den vereinzelten Aktionen allgemein: Marion Brandt, Für eure und unsere Freiheit?, S. 183–186.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

mehrere Wochen durch seine Heimatstadt, bevor er vom MfS verhaftet und auch wegen anderer Verstöße zu einer Freiheitsstrafe von 18 Monaten in der DDR verurteilt und später in die Bundesrepublik ausgewiesen wurde.29

22 Halb Hitler-halb Stalin. Titel: „Es lebe der 1. Mai! Sie kehren immer wieder!“ Mit dieser Protestpostkarte zum 1. Mai 1982 versuchte Regimekritiker Roland Jahn, auf strukturelle Ähnlichkeiten der beiden Regime aufmerksam zu machen. Nach seiner Verhaftung erschien Jahn mit denselben Kleidungsstücken zu seinem Gerichtsprozess in der DDR. Er hatte sich wieder einen Hitlerbart rasiert, der ihm vor Prozessbeginn gewaltsam entfernt wurde.

29

Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 387; Piotr Zariczny, Dialog zwischen regimekritischen christlichen Gruppen und Oppositionellen aus der DDR und Polen, in: Kerski u.a. (Hg.), Zwangsverordnete Freundschaft?, S. 177–190, 183; Patrik von zur Mühlen, Aufbruch und Umbruch in der DDR, Bürgerbewegungen, kritische Öffentlichkeit und Niedergang der SED-Herrschaft (Politik und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 56), Bonn 2000, S. 132; Helmut Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit und soziale Bewegungen. Fallstudien über Bürgerbewegungen in Polen und der DDR, Opladen 1996, S. 293.

Opposition in Polen und der DDR

149

Auf der anderen Seite betrachteten nicht wenige Oppositionelle in der DDR die grundlegenden Einstellungsmuster der Solidarność-Aktivisten recht kritisch. Am meisten störte sich die ostdeutsche Opposition an dem traditionellen polnischen Nationalismus sowie an der mehrheitlichen Ablehnung des Sozialismus durch die Oppositionellen im Nachbarland. Die ostdeutschen Dissidenten setzten sich inhaltlich daher stärker mit den Dissidentenbewegungen in der Tschechoslowakei und Ungarn auseinander.30 Ehrhart Neubert, Autor der ersten umfassenden Gesamtdarstellung der Opposition in der DDR, erklärt die kritische Haltung vieler DDR-Bürger gegenüber den Polen mit antipolnischen Stereotypen, die die SED und Staatssicherheit bewusst propagandistisch im Kampf gegen die Solidarność einsetzte. Die mangelnde Breitenwirkung der polnischen Freiheitsbewegung in der DDR, so Neubert, sei vor allem das Resultat einer geistigen Blockade der ostdeutschen Bevölkerung gewesen, die die Menschen unfähig gemacht habe, die Vorurteile zu reflektieren und in den revolutionären Bewegungen im Nachbarland eine Entlastung auch für die eigene Situation zu erkennen.31 Wie verhielt sich aber umgekehrt die polnische gegenüber der ostdeutschen Opposition? Ehemalige Solidarność-Aktivisten und Oppositionelle in Polen sind übereinstimmend der Meinung, dass es über die gegenseitige Wahrnehmung hinaus keinen substanziellen Dialog zwischen der Solidarność und der ostdeutschen Opposition gegeben habe. Zunächst einmal ging die Solidarność Auslandsbeziehungen oder -kontakten aus dem Weg. Dies hing mit der von den führenden SolidarnośćAktivisten Adam Michnik und Jacek Kuroń gemeinsam entwickelten Strategie einer „sich selbst beschränkenden Revolution“ zusammen – einer evolutionären Leitlinie, nach der Veränderungen im politischen System lediglich durch langsame und vorsichtige Entwicklungen zu erreichen seien. Kontakte zu oppositionellen Gruppierungen auch in anderen sozialistischen Ländern hätten hiernach die Umsetzung von Reformen im Kompromiss mit der Regierung erschweren können.32 Auch bezogen auf die politischen und wirtschaftspolitischen Zielvorstellungen lagen kaum Überschneidungen vor: Während die Solidarność das kommunistische System letztlich vollständig abschaffen und eine am Westen orientierte freie Marktwirtschaft einführen wollte, strebte die Mehrheit der oppositionellen Gruppen in der DDR nach einer Reformierung des Sozialismus auf einem nicht näher definierten „Dritten Weg“. In Polen glaubte in den 1980er-Jahren so gut wie keiner mehr

30 31 32

Vgl. Zariczny, Dialog zwischen regimekritischen christlichen Gruppen, S. 188f. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 388. Vgl. Jacek Kuroń, Glaube und Schuld. Einmal Kommunismus und zurück, Weimar 1991, S. 502f.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

an eine Reformierbarkeit des sozialistischen Systems.33 Weil die Opposition in der DDR die Ausbeutung durch den Konsumkapitalismus fürchtete, lehnte sie auch die Einführung der freien Marktwirtschaft prinzipiell ab. Schließlich war den polnischen Oppositionellen die Bildung der viel zitierten „DDR-Identität“ völlig unverständlich. Konrad Weiß, langjähriges Mitglied der „Aktion Sühnezeichen”, sagte einmal ganz treffend in einem Interview: „Die Polen haben es eben nie verstanden, dass sich die Deutschen mit ihrer Teilung und der Existenz zweier deutscher Staaten abgefunden hatten.“34 Erst Mitte der 1980er-Jahre erlangten inoffizielle Kontakte sowie die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen den oppositionellen Gruppen beider Länder eine neue Qualität. Den Anfangsimpuls setzte die Gründung der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM) im Jahr 1986 um Wolfgang Templin und Gerd Poppe. Die IFM unterschied sich von den anderen Oppositionsgruppen in der DDR vor allem dadurch, dass sie nicht den Schutzraum der Evangelischen Kirche suchte, sondern sich bewusst außerhalb der Kirche konstituierte und positionierte. Schließlich war die IFM eine der wenigen Gruppen in der DDR, die die Reformierung des Sozialismus ablehnte und stattdessen die Impulse der osteuropäischen Opposition aufgriff und öffentlichkeitswirksam handelte. Seit ihrer Gründung betonte sie durch symbolische Aktionen in der Öffentlichkeit und verschiedene Stellungnahmen die Gemeinsamkeiten mit der polnischen Opposition.35 Aufgrund dieser Ausrichtung war sie auch diejenige Gruppe in der DDR, die von der polnischen Opposition am stärksten wahrgenommen wurde.36 Auf polnischer Seite suchte vor allem die 1985 in Krakau gegründete Initiative „Freiheit und Frieden“ („Wolność i Pokój“, WIP) die Nähe zur IFM. Dabei wiesen auch die politischen Forderungen der beiden Gruppen eine größere gemeinsame Schnittmenge auf: Beide strebten nach einer demokratischen Gesellschaftsordnung, der Wahrung der Menschenrechte, nach einer Entmilitarisierung der Gesellschaft und der Aufhebung der Todesstrafe.37 Bis 1987 erschienen zwölf Ausgaben der von der IFM herausgegebenen Untergrundzeitschrift „Grenzfall“. In fast jeder Ausgabe werden in über 20 längeren Texten die Lage in Polen, die Arbeit der WIP sowie die der Solidarność thematisiert.38 Es liegt auf der Hand, dass diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit oppositioneller Gruppen der Staatssicherheit 33 34 35 36 37 38

Timothy Garton Ash, „Und willst du nicht mein Bruder sein …“ Die DDR heute, Hamburg 1981, S. 203. Zit. nach Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle, S. 135. Ebd., S. 159–163. Ebd., S. 160. Ebd., S. 160f. Siehe hierzu Ralf Hirsch u.a. (Hg.), IFM – Grenzfall, Vollständiger Nachdruck aller in der DDR erschienenen Ausgaben (1986/87), Berlin 1993.

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nicht entgehen konnte. Nach einem MfS-Dokument, das Templin als „fanatischen Feind des Sozialismus und Initiator politischer Untergrundtätigkeit in der DDR“ bezeichnet, war er dem MfS besonders gefährlich, weil er „die polnische Sprache in Wort und Schrift beherrscht“. Insbesondere durch den in Templins Bekanntenkreis eingeschleusten IM „Thias“ war die Staatssicherheit über Templins Verbindungen zu oppositionellen Kräften in anderen sozialistischen Ländern, allen voran zur polnischen WIP, bestens informiert.39 Der Dialog zwischen diesen oppositionellen Gruppen gestaltete sich trotz der Kontrolle durch die Sicherheitsdienste in beiden Ländern relativ stabil. Vertreter von IFM und WIP, darunter Bärbel Bohley, Wolfgang Templin und Ludwig Mehlhorn sowie Marek Adamkiewicz, Jan Józef Lipski und Jacek Czaputowicz, unterzeichneten 1986 gemeinsam das Memorandum von Helsinki und bekundeten damit ähnliche Vorstellungen gegenüber einem freien und geeinten Europa. Ein Jahr später unterstützte die WIP den Brief der IFM an den sowjetischen Parteichef Michail Gorbatschow vom 27. Mai 1987 mit dem Aufruf zum Abzug der sowjetischen Armee aus dem Ostblock.40 Auch organisierte die WIP Anfang 1988 im Zusammenhang mit der Inhaftierung von IFM-Mitgliedern während der RosaLuxemburg-Demonstration eine Solidaritätserklärung sowie nach dem Beispiel der polnisch-tschechoslowakischen eine polnisch-deutsche Solidarität. Am 5. Oktober 1989 veranstaltete die WIP auf dem Krakauer Marktplatz eine Kundgebung mit der Losung „Reißt die Berliner Mauer nieder – Freiheit für die DDR“. Vor dem DDRKulturzentrum in Krakau errichteten WIP-Anhänger während dieser Aktion eine symbolische Mauer, auf der ein Transparent mit der Solidaritätsbekundung „Wir grüßen das ‚Neue Forum‘“ angebracht war.41 Aufgrund größtenteils unterschiedlicher politischer Vorstellungen einerseits und nur weniger Kontakte andererseits blieb der unabhängige ostdeutsch-polnische Dialog während der kommunistischen Herrschaft eher eine Randerscheinung, der überwiegend von Einzelnen, seltener von Gruppen getragen wurde. Von größerer Bedeutung scheinen in diesem Zusammenhang grenzüberschreitende Mobilisierungsschübe zu sein – der Transfer oppositioneller Kultur, dessen Stoßrichtung vor allem von Polen in die DDR führte. Dabei war die Spannbreite der seit den 1970erJahren in Polen ausgeübten informellen Tätigkeiten wie Versammlungen, Seminare, Ausstellungen, Autorenlesungen in Kirchen und privaten Wohnungen, die Vernetzung lokaler Initiativen sowie die Solidarität bei Protesten gegen Repressionen 39 40 41

Zit. nach Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle, S. 214. Vgl. Thomas Klein, „Frieden und Gerechtigkeit!“. Die Politisierung der Unabhängigen Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre (Zeithistorische Studien, Bd. 38), Köln/Weimar/Wien 2007, S. 516. Vgl. Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle, S. 125.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

richtungsweisend.42 Der bedeutendste Einfluss ging von der Herstellung einer Gegenöffentlichkeit durch selbst verlegte Untergrundzeitschriften – dem sogenannten Samizdat – aus,43 die in Polen Mitte der 1970er-Jahre, in der DDR Mitte der 1980er-Jahre innerhalb der Opposition sichtbar wurde.44 Durch häufige Besuche und intensive Kontakte nach Polen lernte beispielsweise Jens Reich, späterer Mitbegründer des „Neuen Forum“, von seinen polnischen Freunden, dass „politisch nicht konspirativ im privaten Schneckenhaus, sondern nur offen mit Namens- und Adressenangabe agiert werden muss“.45 Vor allem in der Forderung nach Gewaltlosigkeit und Dialogbereitschaft hatte sich die ostdeutsche Opposition am polnischen Muster orientiert. Bei der Betrachtung der grundlegenden Arbeitsprinzipien der sich im Herbst 1989 neu formierenden Bürgerbewegungen „Neues Forum“ oder „Demokratie Jetzt“ wird dieser Einfluss am deutlichsten spürbar. Darüber hinaus wurden die von ostdeutschen Oppositionsgruppen organisierten Vermittlungsmechanismen wie der „Runde Tisch“ in der DDR in Anlehnung an die in Polen initiierte Einrichtung gleichen Typs ins Leben gerufen.46 Als symbolisches und politisches Vorbild47 wirkte die polnische Opposition daher weit über die ostdeutsche Opposition hinaus auf die friedliche Revolution 1989 und schließlich die Regulierung der Staatskrise in der DDR. Vor dem Hintergrund dieser verschiedenen an der polnischen Opposition orientierten Techniken erhält der von Ehrhart Neubert geprägte Begriff „Mobilisierungsfaktor Polen“48 in Bezug auf die ostdeutsche Opposition seine volle Berechtigung.

42 43 44

45 46 47 48

Vgl. Mehlhorn, Solidarność 1980/81 und die Folgen in Polen, in: Enquete-Kommission, Bd. V, 1, S. 213; Zariczny, Dialog zwischen regimekritischen christlichen Gruppen, S. 187; Neubert, Geschichte der Opposition, S. 388. Siehe hierzu allgemein Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.), Eine Dokumentation, Freiheit und Öffentlichkeit. Politischer Samisdat in der DDR 1985–1989 (Schriftenreihe des RobertHavemann-Archivs, Bd. 7), Berlin 2002. Die unabhängige Öffentlichkeit manifestierte sich neben verbotenen Zeitschriften in gruppenaktivem Handeln in Form kollektiver Aktionen, die mit unkonventionellen Protestformen verbunden waren (offene Briefe, Flugblattaktionen, Dokumentationen, öffentliche Stellungnahmen und Aufrufe). Vgl. Fehr, Unabhängige Öffentlichkeit, S. 264, 289. Zit. nach Zariczny, Oppositionelle Intellektuelle, S. 135. Markus Trömmer, Der verhaltene Gang in die deutsche Einheit. Das Verhältnis zwischen den Oppositionsgruppen und der (SED-)PDS im letzten Jahr der DDR, Bonn 2002, S. 137. Hierzu Helmut Fehr, Die Macht der Symbole, in: Konrad H. Jarausch u.a. (Hg.), Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, Göttingen 1999, S. 213–238, hier S. 213. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 384–388.

Die Tschechoslowakei als Zufluchtsort

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6.3 Die Tschechoslowakei als Zufluchtsort für Oppositionelle und Privatreisende Nachdem die Oder-Neiße-Grenze Ende Oktober 1980 für den pass- und visafreien Reiseverkehr geschlossen worden war, wuchs die Bedeutung der Tschechoslowakei für DDR-Bürger in verschiedener Hinsicht. Zum einen war nun die ostdeutschtschechoslowakische Grenze das letzte Schlupfloch, durch das DDR-Bürger noch relativ mühelos in den Ostblock gelangen konnten. Zum anderen wurde die Tschechoslowakei zu einer geostrategisch wichtigen Basis außerhalb der DDR – sowohl für die Ost-West-Kontakte der Oppositionellen und der ostmitteleuropäischen Opposition allgemein als auch für Privatreisende, die sich dort mit ihren in den Westen ausgereisten bzw. aus der DDR ausgebürgerten Verwandten und Bekannten treffen konnten. Bereits seit dem Bau der Berliner Mauer 1961 stellten die Treffen in den Ostblockländern während der Ferienzeit für viele Familien die einzige Möglichkeit dar, um sich zumindest für wenige Wochen im Jahr einmal wiederzusehen. Mit dem seit 1977 praktizierten Einreise- bzw. Durchreiseverbot für dauerhaft in den Westen ausgereiste Personen konzentrierte sich das MfS seit Anfang der 1980er-Jahre verstärkt auf DDR-Bürger, die in benachbarte Ostblockländer wie die Tschechoslowakei reisten, um sich dort mit ihren Verwandten und Bekannten aus der Bundesrepublik zu treffen. Die zur Mitte der 1970er-Jahre beim MfS eingerichtete „Zentrale Koordinierungsgruppe“ (ZKG) zur Bekämpfung von Flucht und Übersiedlung nahm dabei vor allem sogenannte Rückverbindungen ins Visier: sämtliche Kontakte ehemaliger DDR-Bürger mit Verwandten und Freunden, die vom MfS als „feindlichnegativ“ eingestuft wurden. Nach Einschätzung der Staatssicherheit ging von diesen Personen eine Beeinflussung der DDR-Bürger zu Flucht und Übersiedlung aus. Im Mai 1982 stellte die ZKG fest: „Durch die eingeleiteten Einreisesperren erfolgen zunehmend Treffen ehemaliger DDR-Bürger mit Verwandten und Bekannten aus der DDR im sozialistischen Ausland, vor allem in der ČSSR.“49 Wie bedrückend die vom MfS eingeleiteten Reisesperren – sowohl die Einreisesperren für Bundesdeutsche als auch die Ausreisesperren für DDR-Bürger – waren, schildert Peter Bohley, der Schwager der DDR-Oppositionellen Bärbel Bohley, in seiner Familienchronik „Sieben Brüder auf einer fliegenden Schildkröte“. Obwohl Bohley zu den weltweit renommiertesten Molekularbiologen zählte, wurde er aufgrund seiner kritischen Haltung gegenüber der SED-Militärpolitik Anfang 1984 aus der DDR ausgewiesen. Ein ähnliches Schicksal war wenige Jahre zuvor seinem Bruder Karl wegen Beleidigung eines MfS-Mitarbeiters widerfahren. Da die 49

BStU, ZA, ZKG 2088, Bl. 8: „Information der ZKG über Rückverbindungen ehemaliger DDR-Bürger“, 14. Mai 1982.

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Ausbürgerung gleichzeitig ein generelles Einreiseverbot in die DDR mit einschloss, konnten sich Peter und Karl Bohley mit ihrer in der DDR verbliebenen Familie nur noch in Ostblockländern treffen. So feierte die Familie Bohley im Sommer 1984 den 79. Geburtstag der Mutter gemeinsam mit einer Vielzahl anderer Familienmitglieder in Roviste in der Nähe Prags. Als die Familie Bohley im kommenden Jahr den 80. Geburtstag der Mutter erneut dort feiern wollte, warteten Karl und Peter Bohley sowie andere aus der Bundesrepublik in die Tschechoslowakei gereiste Verwandte jedoch vergeblich auf die aus Halle einreisende Mutter. Wie die Brüder später aus ihren MfS-Akten erfahren sollten, hatte das MfS angeordnet, die Mutter am Tag vor ihrem Geburtstag bis zur tschechoslowakischen Grenze fahren zu lassen, um ihr schließlich dort die Ausreise zu verweigern. Nach dem MfS-Bericht waren die „Maßnahmen zur Reisesperre“ zum 80. Geburtstag der Mutter ergriffen worden, da „zwei ihrer Söhne aus der DDR ausgewiesen“ worden seien. Andere Begründungen fehlten.50 Inwiefern wurde die Tschechoslowakei aber auch für Oppositionelle zu einer strategischen Zuflucht? Seit den 1980er-Jahren gab es Kontakte zwischen Angehörigen der Friedens- bzw. Umweltbewegungen der DDR und der Bundesrepublik. Eine Gruppe der Ost-West-Treffen um Waltraud Knaier, Reinhard Falter und Karlemann Timm auf westdeutscher sowie Michaela und Martin Jankowski, Christian Matthes, Jörn Mothes und Michael Beleites auf ostdeutscher Seite verfolgte thematisch systemübergreifende Ziele; hierzu gehörten vor allem die Abrüstungsfrage, die Überwindung der Militärblöcke und der politischen Teilung Europas nach Jalta, die Fragen nach der Realisierbarkeit eines „dritten Weges“, die Reformpolitik Gorbatschows sowie die Gefahren der Kernenergie. 1984/85 traf sich der harte Kern dieses Ost-West-Kreises zwei bis drei Mal pro Jahr über das Wochenende in der DDR, um die deutsch-deutschen Sommertreffen zu planen und thematisch vorzubereiten. Die bis 1989 stattfindenden Sommertreffen führten etwa 15 bis 20 Teilnehmer für rund zwei Wochen in Länder wie Ungarn oder – seit der Schließung der Oder-NeißeGrenze 1980 mittels Einladung und Einreisevisum – nach Polen, wo man den Sommerurlaub mit Seminaren und aktuellen politischen Diskussionen verband.51 Nachdem einige Westdeutsche wie Knaier und Falter 1985 mit Einreisesperren in die DDR belegt worden waren, verlegte man die Vorbereitung der Sommertreffen ab Ende 1985 in die benachbarte Tschechoslowakei. Im Frühjahr 1987 war die Gruppe daher in Prag zusammengekommen, um ein für den August veranschlagtes Sommertreffen – diesmal mit Teilnehmern verschiedener europäischer Nationen – 50 51

Peter Bohley, Sieben Brüder auf einer fliegenden Schildkröte. Sieben Wehrdienstverweigerer in der DDR. Die Erinnerungen von Peter Bohley, Norderstedt 2. Aufl. 2005, S. 7–12. Vgl. das Kapitel Ost-West Reisen und Reisesperren bei Michael Beleites, Untergrund. Ein Konflikt mit der Stasi in der Uran-Provinz, 2. Aufl. Berlin 1992, S. 43–67.

Die Tschechoslowakei als Zufluchtsort

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zu organisieren. Zu diesem Treffen erschienen Vertreter der westdeutschen Partei der Grünen, der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung Charta 77 sowie der Friedens- und Umweltbewegung aus der Bundesrepublik und der DDR.52 Allerdings war auch das MfS über den Verlauf dieses Treffens genauestens informiert und reagierte prompt. Nach seiner Rückkehr in die DDR erhielt der „Entomologe“ – so der Deckname des bespitzelten Friedens- und Umweltaktivisten Beleites – eine Ausreisesperre aus der DDR. Die in seinem Buch „Untergrund. Ein Konflikt mit der Stasi in der Uran-Provinz“ dokumentierte Auseinandersetzung mit den Behörden über die eingeforderte Stellungnahme zu seiner Ausreisesperre verdeutlicht die Ohnmacht gegenüber der Staatsmacht der DDR: Trotz jahrelangen Briefwechsels mit staatlichen Stellen konnte Beleites weder in Erfahrung bringen, warum er beschuldigt wurde, noch welche Instanz überhaupt für seinen Fall zuständig war. Die „Bestrafung ohne Urteil“ machte es für viele betroffene DDR-Bürger denn auch so schwierig, die Strafe nachzuvollziehen, geschweige denn zu akzeptieren. Der verhängte „DDR-Arrest“ bedeutete nicht nur einen massiven Eingriff in die Persönlichkeitsrechte infolge der Freiheitsberaubung, sondern auch die Isolation von Gleichgesinnten, die in anderen Ostblockländern grenzüberschreitend politisch arbeiten konnten.53 Die hier skizzierten Kontakte in der Tschechoslowakei mit ausgebürgerten oder ausgereisten ehemaligen DDR-Bürgern, Begegnungen mit westlichen Journalisten, Politikern und Vertretern von NichtregierungsOrganisationen wie den Friedens- und Umweltbewegungen leisteten einen wichtigen Beitrag für die europaweite Vernetzung der DDR-Opposition. Die Staatssicherheit konnte dabei viele, aber nicht alle dieser Kontakte unterbinden. Inwiefern gelang es den Oppositionellen in der DDR, während dieser Vernetzungsphase Kontakte mit Dissidenten aus der Tschechoslowakei aufzunehmen? Durch die Reiseerleichterungen seit den 1970er-Jahren konnten sich DDROppositionelle schnell ein Bild über die politische Entwicklung im Nachbarland sowie über die Ziele von Gruppen wie der tschechoslowakischen Charta 77 machen.54 Dabei war es für die ostdeutsche Opposition aufgrund der Ausbürgerungen und Reisesperren nicht immer ganz einfach, den Kontakt zur Opposition im Nachbarland aufrecht zu erhalten.55 Robert Havemann erhielt Hausarrest, Bärbel 52 53 54

55

Ebd. Ebd. Vgl. Gerd Poppe, Begründung zur Entwicklung internationaler Verbindungen, in: Eberhard Kuhrt (Hg.), Opposition in der DDR von den 70er Jahren bis zum Zusammenbruch der SED-Herrschaft (Am Ende des realen Sozialismus, Beiträge zu einer Bestandsaufnahme der DDR-Wirklichkeit in den 80er Jahren, Bd. 3), Opladen 1999, S. 349–373, hier S. 359. Neben der bekannten Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 wurde in der Folgezeit eine Vielzahl weiterer Künstler und Schriftsteller wie Jürgen Fuchs, Gerulf Pannach oder Christian Kunert aus der DDR ausgewiesen. Freiwillig verließen die DDR die Popsängerin

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

Bohley,56 Wolfgang Templin und Roland Jahn wurden in den 1980er-Jahren aus der DDR ausgewiesen.57 Demgegenüber war die ostmitteleuropäische Opposition in der Tschechoslowakei oder in Polen in hohem Maße von in der Öffentlichkeit stehenden Prominenten, Schriftstellern, Künstlern, Wissenschaftlern, früheren Politikern oder charismatischen Persönlichkeiten geprägt, deren oppositionelle Arbeit eine starke Kontinuität aufwies. Abgesehen von den unterschiedlichen Zielvorstellungen zur Staats- und Gesellschaftsordnung kann die Opposition in der DDR vor allem in struktureller Hinsicht nicht mit jener in den ostmitteleuropäischen „Bruderländern“ (Charta 77 oder Solidarność) gleichgesetzt werden, was in erster Linie mit der deutschen Teilung zusammenhängt: Durch Ausreise und Abschiebung in die Bundesrepublik wurde das „kritische Potenzial“ in der DDR immer wieder ausgedünnt – nicht zuletzt deswegen blieb die DDR-Opposition vielfach auch ein Jugendphänomen. Die ostmitteleuropäischen Einflüsse auf die DDR-Opposition waren wichtig und stellten eine wesentliche Voraussetzung für die Herausbildung einer Demokratiebewegung in der DDR seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre dar.58 Zu einem Schlüsseltext für die Auseinandersetzung der DDR-Opposition mit den Themen der ostmitteleuropäischen Oppositionsbewegung wurde der „Prager Appell“ der Charta 77 vom 11. März 1985. Dort heißt es in der Einleitung: Vierzig Jahre lang hat es auf europäischem Boden keinen Krieg gegeben. Trotzdem ist Europa kein Erdteil des Friedens. Ganz im Gegenteil: Als die hauptsächliche Reibungsfläche zweier Machtblöcke ist es ein Ort ständiger Spannung, von der eine Bedrohung für die ganze Welt ausgeht. Ein Krieg, der hier entstünde, würde nicht nur zum Weltkrieg führen, sondern wäre wahrscheinlich tödlich für die ganze Welt.59

Der Prager Aufruf war vor allem eine Reaktion auf die seit Ende der 1970er-Jahre erfolgte atomare Aufrüstung in Ost und West, er kritisierte die Teilung Europas und bezeichnete die Lösung der „deutschen Frage“ als ein zentrales Problem der europäischen Einheit. Wie der Antwortbrief aus den Reihen der DDR-Opposition zeigt, ähnelten sich die Positionen der Bürgerrechtler in beiden Ländern grundsätzlich,

56 57 58 59

Nina Hagen, der Schriftsteller Thomas Brasch, die Schauspielerin Katharina Thalbach, der Lyriker Reiner Kunze u.a. Bohley wurde 1988 ausgewiesen; es gelang ihr jedoch, nach einem sechsmonatigen Aufenthalt in England in die DDR zurückzukehren. Wolfgang Rüddenklau (Hg.), Störenfried, DDR-Opposition 1986–1989, Mit Texten aus den Umweltblättern, Berlin 1992, S. 23f. Hierzu Neubert, Geschichte der Opposition, S. 477–484. Zit. nach „Prager Aufruf vom 11. März 1985, abgedruckt als Anhang Nr.1“, in: Gerd Poppe, Begründung zur Entwicklung internationaler Verbindungen, in: Kuhrt (Hg.), Opposition in der DDR, S. 374.

„Go East“ oder grenzenlose Freiheit?

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unterschieden sich jedoch in der Hinsicht, dass für die DDR-Oppositionellen die deutsche Einheit eventuell das Ergebnis, nicht aber der Ausgangspunkt für eine Überwindung der Teilung Europas sein konnte.60 Mitte der 1980er-Jahre entstand in der DDR eine Opposition, die sich die Behandlung der Menschen- und Bürgerrechte auf die Fahnen geschrieben hatte. Gruppierungen wie die „Initiative Frieden und Menschenrechte“ (IFM) machten sich mehr denn je die Möglichkeiten des Samizdat zu eigen. Dadurch konnten unter anderem Texte des tschechoslowakischen Schriftstellers und führenden Regimekritikers Václav Havel in der DDR gelesen werden. Für die ostmitteleuropäische Vernetzung der Friedens- und Menschenrechtsgruppen in der DDR war das vom „Netzwerk“ im Jahr 1986 initiierte Memorandum zur KSZE-Nachfolgekonferenz in Wien von großer Bedeutung. Das „Netzwerk“ organisierte Konferenzen und andere Treffen in Warschau, Budapest und Prag. Aufgrund der vom MfS verhängten Ausreisesperren konnten Vertreter der DDR-Opposition jedoch nur in den seltensten Fällen an diesen Veranstaltungen teilnehmen. Auf der anderen Seite wurden auch tschechoslowakische Dissidenten mit Ausreisesperren belegt, um oppositionelle Kontakte in andere Ostblockländer nach Möglichkeit zu verhindern. Insbesondere von Seiten der IFM war mit den Dissidenten der Charta 77 der Aufbau einer unabhängigen Nachrichtenagentur sowie einer gemeinsam herausgegebenen ostmitteleuropäischen Oppositionszeitschrift geplant.61 Zwar wurden diese Vorhaben durch die Umbrüche von 1989 überholt, sie können dennoch als Beispiel für funktionierende grenzüberschreitende Zusammenarbeit zwischen der Opposition in der DDR und der Tschechoslowakei gewertet werden. 6.4 „Go East” oder grenzenlose Freiheit? Mit dem Transitvisum durch die UdSSR Dem Historiker Jens Niederhut ist voll zuzustimmen, wenn er schreibt, dass nichts die DDR-Gesellschaft stärker prägte, als die Unmöglichkeit zu reisen. Je enger die Grenzen für die DDR-Bürger gesteckt waren, desto bedeutender wurde das Reisen. Der in den 1950er-Jahren in Westdeutschland aufkommende Massentourismus in Länder wie Italien wurde von DDR-Bürgern sehnsüchtig beobachtet. Das Mittelmeer blieb jedoch für die meisten Ostdeutschen unerreichbar, und selbst der Weg zum ungarischen Plattensee war oftmals mit großen Hindernissen gepflastert. So bestimmte die Sehnsucht nach Reisen bei vielen Menschen eigentlich das ganze 60 61

Vgl. Poppe, Begründung zur Entwicklung internationaler Beziehungen, in: Kuhrt, Opposition in der DDR, S. 356. Ebd., S. 362.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

Leben; ständig wurde über das Reisen gesprochen, und die Reiseliteratur gehörte zu den Verkaufsschlagern in der DDR. Das größte Interesse fanden dabei Berichte über die USA und Kanada, aber auch exotische Länder wie die Karibik oder Südostasien waren sehr beliebt. Zwar erlaubte das seit den 1970er-Jahren empfangene Westfernsehen den Ostdeutschen, ihrem Staat zumindest virtuell zu entfliehen. In vielen Fällen aber verstärkte sich dadurch der Unmut über die mangelnde Reisefreiheit, und das Fernweh vergrößerte sich noch.62 Wer in den 1970er- und 1980er-Jahren zur jüngeren Generation in der DDR gehörte, die Ostblockländer Polen, Tschechoslowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien schon bereist hatte und von der Sehnsucht nach der Ferne, nach Freiheit und dem Abenteuer getrieben war, neue Länder zu erkunden, dem blieb – sofern man nicht mit einer Reisesperre behaftet war – eine kleine Hoffnung. Für eine bestimmte Gruppe junger Abenteurer hieß die Marschrichtung mittels legaler Ausreise oder Flucht aus der DDR nicht „Go West“, sondern umgekehrt „Go East“. Für die Länge eines Urlaubs reisten diese Menschen in die Sowjetunion. Dabei galten die rigorosen Reisebeschränkungen der DDR auch für die UdSSR. Ostdeutsche benötigten für eine Reise in die Sowjetunion nicht nur ein Visum, sondern mussten darüber hinaus eine Besuchereinladung vorweisen oder sich einer organisierten Reisegruppe anschließen. Reisende, die auf eigene Faust unterwegs sein wollten, waren in diesem System nicht vorgesehen. Die bunte Szene der Abenteurer – meist RucksackTouristen aus der Bergsteigerszene63 – entdeckte jedoch eine Möglichkeit, die Reisebeschränkungen zu umgehen und die Sowjetunion wochen- und teilweise sogar monatelang zu bereisen.64 Dieses Schlupfloch bestand seit 1968. Als die Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968 den „Prager Frühling“ niederschlugen, wurde über Nacht auch das Reisen in die Tschechoslowakei verboten.65 Um aber DDR-Bürgern zumindest noch das Reisen in die Länder Rumänien und Bulgarien zu gewähren, wurde in der DDR ein Transitvisum für die Ukrainische Sowjetrepublik eingeführt und kurioserweise nicht wieder abgeschafft. Mit diesem Transitvisum durfte sich der Rei-

62 63 64 65

Jens Niederhut, Die Reisekader. Auswahl und Disziplinierung einer privilegierten Minderheit in der DDR (Schriftenreihe des Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Bd. 4), Leipzig 2005, S. 10f. Siehe hierzu auch den jüngst publizierten Sammelband von Jörg Kuhbandner/Jan Oelker (Hg), Transit – Illegal durch die Weiten der Sowjetunion. Geschichten, Erlebnisse, Tagebuchaufzeichnungen und Bilder, Radebeul 2010. Vgl. Unerkannt durch Freundesland – Verbotene Reisen in das Sowjetreich. Ein Film von Cornelia Klauss. rbb Dokumentation 2006. Vgl. Kap. 4.6 in diesem Band.

„Go East“ oder grenzenlose Freiheit?

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sende bis zu drei Tagen in der Sowjetunion aufhalten. Wer länger blieb, war jedoch illegal und machte sich strafbar.66 Wenn der Visumantrag für die fingierte Reise nach Rumänien oder Bulgarien bewilligt worden war, konnte man sich auf den Weg machen. Mit selbst gezeichneten bzw. in Bibliotheken recherchierten Karten ging es beispielsweise in den Kaukasus, zum Pamir, an die Behringstraße und für manche sogar nach China.67 Auf diese Karten war jedoch kaum Verlass, da sie von staatlichen Stellen aus Angst vor Spionage oft manipuliert waren. Detaillierte Land- und Wanderkarten suchte man in der DDR daher vergeblich.68 Das Risiko einer solchen Reise war unkalkulierbar. Von der DDR erreichten die Abenteurer – in der Regel mit dem Zug – die Ukrainische Sowjetrepublik entweder über Polen oder die Tschechoslowakei. Berichten zufolge begann die Ungewissheit bereits an der Grenze zur UdSSR. In Brest – der wichtigsten polnisch-sowjetischen Grenzübergangsstelle – verlangten die sowjetischen Grenzer zunächst das Transitvisum, woraufhin man einen Einreisestempel in die Reiseanlage sowie ein separates von den sowjetischen Behörden ausgestelltes Einreise-Visum erhielt, das bei der Ausreise wieder abgegeben werden musste. Wenn das Transitvisum nach drei Tagen abgelaufen war, bewegte man sich auf gefährlichem Terrain. Denn ähnlich wie in der DDR gehörten Polizeikontrollen und Geheimpolizei zum Alltag in der Sowjetunion. Das wichtigste Gebot der AbenteuerTouristen war es daher nicht aufzufallen. Als Transitreisender konnte an der Grenze nur wenig Geld getauscht werden. Neben der Geldknappheit stellte die Bekleidung ein Problem dar. Auch mussten alle Äußerlichkeiten, die an die DDR erinnerten, entfernt werden. In der Regel konnte man sich aber auf die Hilfe und Gastfreundschaft der sowjetischen Bevölkerung verlassen. Das staatlich verordnete Misstrauen gegenüber dem Fremden schlug dabei nicht selten in Neugierde um, und aus einer Einladung zum Essen wurde oft ein rauschendes Fest.69 Kam es nach Ablauf des Transitvisums zu einer Kontrolle, gab es unterschiedliche Strategien. Individualreisende stellten für sowjetische Behörden zuerst einmal ein Problem dar. Da sie nicht in das Regelsystem der Sowjetunion passten, gehörten sie auch nicht zu den Touristen, die üblicherweise in Gruppen reisten und einer vorher festgelegten Route folgten.70 Während einer Kontrolle war es daher sinnvoll, den Status als Transitreisender zu verschweigen und Ausreden für die Individualreise zu erfinden, die ebenso banal wie plausibel erscheinen sollten. Einige gaben sich als professionelle Sportler auf Dienstreise aus, die zur DDR-Mannschaft gehör66 67 68 69 70

Vgl. Unerkannt durch Freundesland – Verbotene Reisen in das Sowjetreich. Hierzu allgemein: Kuhbandner/Oelker (Hg), Transit – Illegal durch die Weiten der Sowjetunion. Siehe http://www.unerkanntdurchfreundesland.de (Zugriff am 10.5.2010). Ebd. Ebd.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

ten, oder schlicht als Touristen, die ihre Reisegruppe verloren hatten und ihr in eine bestimmte Richtung nachreisen müssten. Andere hatten sich selbst ein offizielles Schreiben verfasst, das den Individualreisenden als Delegierten einer bestimmten Vereinigung in der DDR auswies. Nach längeren Diskussionen, der Erstellung eines Protokolls und unter mahnenden Worten konnten die Reisenden gewöhnlich unbehelligt weiterziehen.71 Problematisch wurden schließlich die Kontrollen bei der Rückreise in die DDR, stellten sich doch den sowjetischen Grenzern eine Reihe ungelöster Fragen. Zunächst wurde das sowjetische Einreisevisum verlangt. Wenn den Grenzern auffiel, dass der tatsächliche Aufenthalt in der UdSSR die Reisedauer von 72 Stunden überschritten hatte, wurde eine Geldbuße erhoben. Deren Höhe war aber Verhandlungssache, und meist wurde ohnehin nur das Geld eingezogen, das von der Reise übrig geblieben war. Reiseberichten zufolge gaben sich die sowjetischen Grenzer in der Regel damit zufrieden, dass die Reisenden wieder zurückgekehrt und sie das Problem damit losgeworden waren.72 Für einige Ostdeutsche hatte diese Form des Reisens jedoch unangenehme Folgen. Sie wurden nach der Einreise in die DDR mit einer jahrelangen Reisesperre bestraft.73 Wie viele Abenteurer sich mit Hilfe des Transitvisums zumindest für wenige Wochen im Jahr den Traum unbegrenzter Freiheit erfüllten, ist weithin unbekannt. 6.5 Flucht über die Länder des Ostblocks und ihre verstärkte Bekämpfung durch die Staatssicherheit Mit dem am 1. Mai 1982 in Kraft getretenen Gesetz über die Staatsgrenze der DDR wurde nicht nur versucht, die Vielzahl bislang verstreuter Rechtsbestimmungen zu bündeln bzw. zu systematisieren.74 Es war auch ein Akt politischer Demonstration, um gegenüber dem Westen, insbesondere der Bundesrepublik, die Eigenstaatlichkeit der DDR nachdrücklich zu unterstreichen.75 Nach den im ersten Abschnitt vorgelegten völkerrechtlichen Lehrsätzen und Definitionen behandelte der zweite Abschnitt des Gesetzes das „Überschreiten der Staatsgrenze“. Der aufgestellte Katalog der Grenzverletzungen (Paragraph 17) reicht vom „Werfen von Gegenständen über die Staatsgrenze“ über das „widerrechtliche Passieren der Staatsgrenze“ bis zur 71 72 73 74 75

http://www.hikr.org/tour/post1424.html (Zugriff am 10.5.2010). Ebd. Vgl. Unerkannt durch Freundesland – Verbotene Reisen in das Sowjetreich. Im Einzelnen dazu: Zieger, Das neue Gesetz über die Staatsgrenze der DDR, S. 1, 7. Vgl. Georg Brunner, Neue Grenzregelungen der DDR, in: Neue Juristische Wochenschrift (1982), S. 2479–2489, hier S. 2479.

Flucht über die Länder des Ostblocks

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„Durchführung land-, forst-, wasserwirtschaftlicher oder anderer Arbeiten oder Maßnahmen entgegen den entsprechenden völkerrechtlichen Verträgen“.76 Im dritten Abschnitt „über die Verantwortung für den Schutz der Staatsgrenze“ werden neben den Pflichten der staatlichen Organe erstmals auch die Formen der Mitarbeit von Seiten der Bevölkerung festgelegt, wonach die im Grenzgebiet lebenden Menschen fortan nicht nur das Recht, sondern auch die „Pflicht [haben], die Schutz- und Sicherheitsorgane bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zur Durchsetzung der festgelegten Ordnung zu unterstützen“ (Paragraph 20). Der umfangreiche vierte Abschnitt legt die „Befugnisse der Grenztruppen der DDR“ fest. Die im Paragraph 27 geregelte Anwendung von Schusswaffen wurde erstmals in ein umfangreiches Gesetzeswerk gegossen. Hiernach war der Schusswaffengebrauch gerechtfertigt, um eine Straftat zu verhindern, „die sich den Umständen nach als ein Verbrechen darstellt“, oder um Personen zu ergreifen, „die einer Straftat dringend verdächtigt“ waren. Dass es sich beim „ungesetzlichen Grenzübertritt“ um eine Straftat handelte, war wiederum im Paragraph 213 des DDR-Strafgesetzbuchs festgelegt, der die Flucht über das „sozialistische Ausland“ mit einschloss.77 Schließlich wird im fünften Abschnitt über die „Zusammenarbeit mit Nachbarstaaten in Grenzangelegenheiten“ das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem perfektionierten Grenzregime zur Bundesrepublik und dem liberalisierten Grenzregime zu den befreundeten „Bruderländern“, Polen und der Tschechoslowakei (Paragraph 36, 37 und 38), berührt. Dabei werden zum einen die seit den 1950erJahren eingerichteten Grenzsperrsysteme, die in regelmäßigen Abständen aufgestellten Wachtürme, die Sperrzone, der Schutz- und stacheldrahtumzäunte Kontrollstreifen (insbesondere zur Tschechoslowakei), verschwiegen, zum anderen bleibt der seit Mitte der 1960er-Jahre kontinuierlich verstärkte und geheime Einsatz des MfS an diesen Grenzen unerwähnt. Angesichts der 1968/69 sowie 1980/81 von den Ministerien für Nationale Verteidigung und Staatssicherheit getroffenen Maßnahmen zum Schutz der Staatsgrenze zu Polen und der Tschechoslowakei wird der im Grenzgesetz von 1982 formulierte Antagonismus zwischen der „Staatsgrenze West“ und der „Staatsgrenze Ost“ ad absurdum geführt. Wurde doch, sobald sich Gefährdungen seitens der östlichen Nachbarn für die eigene Stabilität ergaben, im Osten des Landes sogar ein schärferes Regime als an der Grenze zur Bundesrepublik eingeführt. 76 77

Siehe für künftige Zitate des neuen Grenzgesetzes „Gesetz über die Staatsgrenze der Deutschen Demokratischen Republik“, abgedruckt als Dok. Nr. 43 in: Koop, „Den Gegner vernichten“, S. 558ff. Bereits seit Einführung des Passgesetzes vom 15. September 1954 war jeder aus der DDR fliehende Bürger ein „Republikflüchtling“ und nach geltender Rechtsordnung ein „Verbrecher“, dessen Tod zur Verhinderung der Flucht billigend in Kauf genommen wurde.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

Die Kodifikation der Grenzvorschriften sowie die Ergänzung verschärfter Bestimmungen im Grenzgesetz von 1982 müssen nicht zuletzt auch als eine Reaktion auf den erneuten Anstieg der Fluchtversuche von DDR-Bürgern verstanden werden. Das neue Grenzgesetz sollte allen Bürgern im Land die territorialen Schranken der DDR nachhaltig vor Augen führen. Wie im vorangegangenen Jahrzehnt spielten die Grenzen im Osten der DDR für die Fluchtbewegung auch in den 1980er-Jahren eine entscheidende Rolle. Gegenüber den Jahren 1977 bis 1979 stieg die Quote der Fluchtversuche über den Ostblock von 1980 bis 1982 um rund 20 Prozent. Von den insgesamt 9.310 DDR-Bürgern, die von 1980 bis 1982 an ihrer Flucht gehindert wurden, hatten sich immerhin 4.078 Personen (44 Prozent) für die Flucht über andere sozialistische Staaten entschieden. Im gleichen Zeitraum gelang insgesamt 8.572 Menschen die Flucht aus der DDR; von diesen konnten aber lediglich 376 Personen über andere Ostblockstaaten in den Westen flüchten.78 Während also in diesem Zeitraum fast genauso viele DDR-Bürger über die Ost- wie die Westgrenzen an ihrer Flucht gehindert wurden, glückte nur knapp fünf Prozent von ihnen die Flucht über den Osten. Entgegen allen Annahmen war die als hermetisch abgeriegelt geltende Westgrenze für eine Flucht damit wesentlich durchlässiger als die Binnen- und Außengrenzen des Ostblocks. Dabei war die Tschechoslowakei nach wie vor das bevorzugte Fluchtgebiet, obwohl nach Einschätzung des MfS dort rund 90 Prozent aller Fluchtversuche verhindert wurden. Überdies versuchten DDR-Bürger in dieser Zeit verstärkt, über Ungarn, Jugoslawien und Bulgarien in den Westen zu flüchten, wobei den Sicherheitsorganen dieser Staaten eine Erfolgsquote bei der Verhinderung von Fluchtversuchen von bis zu 80 Prozent bescheinigt wurde. Wie sich ein Zeitzeuge erinnert, flog jede Woche eine Propellermaschine mit einem halben Dutzend Häftlingen und deren Bewachern von Sofia nach Ost-Berlin. Von den über die bulgarischen Staatsgrenzen flüchtenden Ostdeutschen versuchten rund 50 Prozent nach Griechenland, 27 Prozent in die Türkei und 23 Prozent nach Jugoslawien in den Westen zu entkommen.79 Mit der Perfektionierung der Sicherungssysteme an den Staatsgrenzen anderer Ostblockstaaten wurde auch die Erfolgsaussicht, über diese Grenzen zu flüchten, immer geringer. Von den zwischen 1980 und 1982 erfolgten Fluchtversuchen fanden 37 Prozent an den Staatsgrenzen anderer Ostblockstaaten statt, wo etwa jedem Zehnten die Flucht gelang. Wie auch in den beiden letzten Jahrzehnten vertrauten sich auch in den 1980er-Jahren viele DDR-Bürger der organisierten Fluchthilfe an. Zu den in den Ostbockländern agierenden Fluchthelferorganisationen, die vom MfS und den Partnerdiensten am stärksten verfolgt wurden, gehörten die Gruppen um Wolfgang Welsch, Kay Mierendorff, Julius Lampl und Heinz Heidrich. Da das 78 79

Siehe Tabelle 2 in: Eisenfeld, Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 49. Vgl. Appelius, Bulgarien, S. 244f.

Flucht über die Länder des Ostblocks

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MfS Negativschlagzeilen durch sich häufende spektakuläre Fluchtfälle unterbinden sowie die befreundeten Partnerdienste entlasten wollte, versuchte das Ministerium, die Präventivarbeit zur Verhinderung der Flucht im eigenen Land weiter zu verstärken. Von den 1.331 Personen, deren Flucht im Jahr 1983 über das „sozialistische Ausland“ scheiterte, wurden 119 Menschen bereits in der DDR festgenommen.80 Insgesamt waren es rund 18.000 Menschen, die zwischen 1979 und 1989 von der DDR-Justiz wegen „Republikflucht” und „ungesetzlichem Grenzübertritt” und damit wegen des Verstoßes gegen Paragraph 213 des Strafgesetzbuches der DDR zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt wurden.81 Von welchen Motiven waren die Menschen geleitet, die die lebensgefährliche Flucht auf sich nahmen? Während die Betroffenen vor dem Mauerbau 56 Prozent politische und 10 Prozent wirtschaftliche Gründe für ihre Flucht angaben, verlagerte sich in den 1980er-Jahren die Motivationsstruktur: Nach einer Umfrage, bei der Mehrfachnennungen möglich waren, flohen 71 Prozent aufgrund fehlender Meinungsfreiheit, 66 Prozent aufgrund politischen Drucks, 56 Prozent wegen fehlender Reisefreiheit und 46 Prozent wegen der schlechten Versorgungslage. 45 Prozent nannten fehlende Zukunftsaussichten als Grund für ihre Flucht und 36 Prozent verwandtschaftliche Beziehungen.82 Seit 1984 wandten sich fluchtwillige DDR-Bürger vermehrt an die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin sowie die bundesdeutschen Botschaften in anderen sozialistischen Staaten wie jene in Prag.83 Weil im Laufe des Jahres 1984 mehrere Hundert Ostdeutsche, darunter die prominente Nichte des langjährigen DDR-Ministerratsvorsitzenden Willi Stoph, über bundesdeutsche Botschaften in den Westen flüchten konnten, versuchte die „Zentrale Koordinierungsgruppe“ (ZKG), im Ostblock noch aktiver zu werden. Im Jahr 1986 erfolgte innerhalb der ZKG der Aufbau der „Arbeitsgruppe Sozialistisches Ausland“, die später die Bezeichnung „Arbeitsgruppe Verbindung Bruderorgane“ führte. Über den forcierten Ausbau der Kooperationsbeziehungen mit den „Bruderorganen“ sollte die seit Mitte der 1980er-Jahre immer größere Fluchtproblematik bewältigt werden. Als Koordinierungsorgan wurde der ZKG hiefür eine „komplexe Verantwortung“ übertragen. Fortan sollte sie nicht nur für die „Qualifizierung der Vorbeugung, Aufklärung und Verhinderung des ungesetzlichen Grenzübertritts und bei der Bekämpfung des staatsfeindlichen Menschenhandels“, sondern auch für die „Qualifizierung der Ver80 81 82 83

Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 15, 77. Vgl. Wolfrum, Die Mauer, S. 67. Ebd. An die Ständige Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin wandten sich 751 Bürger, an die bundesdeutschen Botschaften in der Tschechoslowakei 161, in Polen waren es acht Personen, in Ungarn 28, in Bulgarien drei und in der Sowjetunion eine Person. Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 15.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

vollkommnung des Systems der Grenzsicherung“ zuständig sein. Zu ihren Aufgaben gehörten daher auch die „Anleitung und Unterstützung“ der entsprechenden operativen Diensteinheiten des MfS, die „ständige Einschätzung der politischoperativen Lage in den Grenzgebieten“ sowie die „Gewährleistung des notwendigen Informationsflusses“.84 Die vom MfS getroffenen Maßnahmen schienen zum Teil erfolgreich zu sein. Gegenüber dem Vorjahr stieg 1987 die Zahl der verhinderten Fluchtversuche über andere sozialistische Staaten von 882 auf 1.211 Personen um 37 Prozent, andererseits sank die Zahl der bereits in der DDR erfolgten Festnahmen um etwa 9 Prozent. Insgesamt aber konnte das MfS die Fluchtbewegung von DDR-Bürgern auch über die Ostblockländer nicht eindämmen. 1987 stieg die Anzahl der verhinderten und vollendeten Fluchtversuche über andere Ostblockländer gegenüber dem Vorjahr von 984 auf 1.344 Personen um rund 36 Prozent.85 Wie in den Vorjahren war die ČSSR im Jahr 1987 mit 820 verhinderten Fluchten das bevorzugte Fluchtgebiet. Ihr folgte Ungarn, wobei hier mit 391 Personen gegenüber 233 Personen im Jahr 1986 mit 67 Prozent der stärkste Anstieg der Fluchtversuche verzeichnet wurde. Während 1986 für lediglich 102 DDR-Bürger die Flucht über den Ostblock erfolgreich ausging, waren es 1987 bereits 133 Menschen – ein Anstieg von immerhin 30 Prozent.86 Auch im Folgejahr 1988 nahmen die Fluchtfälle von DDR-Bürgern gegenüber dem Vorjahr insgesamt um 48 Prozent zu, ebenso stieg die Tendenz stark an, über die Ostblockländer zu flüchten. Von den insgesamt 4.224 DDR-Bürgern, die 1988 an ihrer Flucht gehindert wurden, hatten 1.768 Personen (42 Prozent) versucht, über das „sozialistische Ausland“ hinauszukommen. Bedenkt man, dass von den im Jahr 1988 insgesamt 9.705 gelungenen Fluchtfällen lediglich 319 Menschen (drei Prozent) über die Ostblockländer geflüchtet waren,87 wird klar, dass die Wahrscheinlichkeit einer erfolgreichen Flucht über die Westgrenzen der DDR um ein Vielfaches höher lag. Dies hing nicht nur mit einer Schwächung des DDR-Grenzregimes nach dem 1983 begonnenen Abbau der gefährlichen Splitterminen des Typs SM 70 an den Grenzen zur Bundesrepublik zusammen. Die niedrige Quote erfolgreicher Fluchten über das „sozialistische Ausland“ war vor allem dem verstärkten Einsatz der Zentralen Koordinierungsgruppe beim MfS in den Ostblockländern sowie dem forcierten Ausbau der Grenzsicherungssysteme der Partnerdienste geschuldet. Dennoch konnten von den 235.000 Menschen, die nach dem Bau der Berliner Mauer 84 85 86 87

Zit. nach: Eisenfeld, Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 41f. Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 77. MfS, ZAIG Nr. 7726, Bl. 20f.: „Ungesetzliche Grenzübertritte und Angriffe auf die Staatsgrenzen anderer sozialistischer Staaten im Zeitraum 1986/1987“, undatiert. Siehe Tabelle 2 in: Eisenfeld, Die Zentrale Koordinierungsgruppe, S. 49.

Tödliche Grenzen

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bis Ende 1988 die DDR „ohne behördliche Genehmigung“ verlassen hatten, 3.531 über andere Ostblockländer fliehen.88 Bei dieser Zahl handelt es sich ausschließlich um Angaben aus Akten der Staatssicherheit, wobei für die Jahre 1961/62, 1971 und 1986 keine Zahlen vorliegen. Rund 25.000 DDR-Bürger wurden an ihrer Flucht über das „sozialistische Ausland“ gehindert, vom MfS in die DDR zurückgeholt und als „Republikflüchtlinge“ angeklagt und verurteilt. 6.6 Tödliche Grenzen: Opfer ostmittel- und osteuropäischer Grenzregime Nur zwei Jahre nach dem Bau der Berliner Mauer 1963 in West-Berlin als eingetragener Verein gegründet, veröffentlicht die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ seitdem Listen mit Zahlen, Namen und Daten zu Todesfällen geflüchteter DDR-Bürger. Dabei beschäftigt sich die heute von Alexandra Hildebrandt geführte „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ nicht nur mit den Opfern an der innerdeutschen Grenze sowie der Berliner Mauer, sie konzentriert ihre Recherchen auch auf die ums Leben gekommenen DDR-Bürger an den Westgrenzen anderer Ostblockländer. Jährlich werden die ermittelten Zahlen aktualisiert bzw. korrigiert.89 Der problematische Anspruch der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ besteht darin, alle Todesopfer zu erfassen, die im Zusammenhang mit Flucht und den Grenzregimes zu Tode gekommen sind. Das schließt unter anderem Fälle mit ein, bei denen Flüchtlinge durch Unfälle ums Leben kamen, unbekannte Wasserleichen, Suizidfälle und Schusswaffenunfälle bei den Grenzsoldaten usw. In den meisten Fällen sind die Daten unvollständig, zum Teil fehlen Angaben zu Namen, Tatorten, Tatumständen, der Staatsbürgerschaft usw. Weil die Arbeitsgemeinschaft auf Quellenangaben verzichtet, sollten ihre Angaben sorgfältig geprüft werden.90 Das vom tschechischen „Dokumentations- und Forschungszentrum für Verbrechen im Kommunismus“ von Martin Pulec herausgegebene umfangreiche Listenverzeichnis über die Todesopfer des tschechoslowakischen Grenzregimes informiert – ähnlich wie die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ – über die Namen der Opfer, deren Alter, den Todeszeitpunkt und -ort sowie die Umstände des Todes, 88 89

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Tantzscher geht von 7.000 bis 8.000 DDR-Bürgern aus, die zwischen 1961 bis Ende 1988 über die Länder des Ostblocks erfolgreich in den Westen geflüchtet sind. Vgl. Tantzscher, Die verlängerte Mauer, S. 69. Zu den Todesopfern insbesondere an der Grenze der DDR zu Polen siehe Alexandra Hildebrandt, 159. Pressekonferenz des Mauermuseums – Museum Haus am Checkpoint Charlie, am Mittwoch, 11. August 2010. 11. Uhr: 1.393 Todesopfer – Keine Endbilanz. Neue Zahl der ermittelten Todesopfer des Grenzregimes der Sowjetischen Besatzungszone/DDR der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, S. 26ff. Siehe hierzu Hertle/Nooke, Die Todesopfer an der Berliner Mauer, S. 11f.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

nennt aber zusätzlich die Staatsangehörigkeit und Fluchtrichtung der getöteten Personen.91 Seit einigen Jahren widmet sich Stefan Appelius dem bulgarischen Grenzregime an den Außengrenzen der Volksrepublik Bulgarien zu Griechenland und der Türkei, wird doch bis heute die Zahl der DDR-Bürger, die an den bulgarischen Westgrenzen ums Leben kamen, weithin unterschätzt.92 Seit Kurzem schließlich beschäftigt sich Georg Herbstritt mit den Opfern an den Westgrenzen Rumäniens.93 Für die Fluchtbewegung von DDR-Bürgern stellt 1961 ein Schlüsseljahr dar. Bis zum Bau der Berliner Mauer konnte das Land noch relativ mühelos über die offenen Sektorengrenzen nach West-Berlin verlassen werden. Nach dem Mauerbau mussten jedoch neue Wege gesucht werden, um in den Westen zu flüchten. Gemäß den von der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ ermittelten Opferzahlen sind zwischen 1949 und 1989 insgesamt 34 Menschen an der Oder-Neiße-Grenze ums Leben gekommen. Weil Angaben zur Staatsbürgerschaft der Opfer fehlen, die Vor- und Nachnamen dieser Personen aber eine deutsche Herkunft wahrscheinlich machen, ist davon auszugehen, dass es sich bei den Opfern um DDR-Bürger handelt. Fest steht, dass an der Oder-Neiße-Grenze insgesamt acht DDR-Grenzbeamte nach Schusswaffenunfällen im Grenzdienst gestorben sind. Während von 1949 bis zum Bau der Berliner Mauer an der ostdeutsch-polnischen Grenze 16 Personen ums Leben kamen, stieg die Zahl bis zum Mauerfall um weitere 18 Menschen an. Insgesamt sind 20 Personen in der Oder und Neiße ertrunken, eine Person wurde im Grenzabschnitt Muskau erschossen, eine ist nach der Festnahme verstorben und eine bei der Flucht über Polen verunglückt; die Todesursache der anderen drei Personen ist ungeklärt.94 91

92

93 94

Zu den Todesopfern an der Grenze der DDR zur Tschechoslowakei siehe die detailliert geführten Totenlisten Nr. 2, 4 und 6 in: Martin Pulec, Organizace a činnost ozbrojených pohraničních složek. Seznamy osob usmrecených na státních hranicích 1945–1989 [Organisation und Tätigkeit der bewaffneten Sicherheitsorgane. Verzeichnis der an den Staatsgrenzen getöteten Personen von 1945 bis 1989] (Sešity Úřadu dokumentace a vyšetřovani zločinů komunismu [Veröffentlichungen des Dokumentations- und Forschungszentrums für Verbrechen im Kommunismus], Bd. 13), Prag 2006, S. 174–291; siehe hierzu auch die folgende Veröffentlichung von Martin Pulec, Die Bewachung der tschechoslowakischen Westgrenze zwischen 1945 und 1989, in: Pavel Žáček/Bernd Faulenbach/Ulrich Mählert (Hg.), Die Tschechoslowakei 1945/48 bis 1989. Studien zu kommunistischer Herrschaft und Repression, Leipzig 2008, S. 131–152. Zu den Todesopfern an den Westgrenzen Bulgariens siehe Stefan Appelius, Bulgarien. Europas ferner Osten, Bonn 2006; über neue Veröffentlichungen in den Forschungen zu den Todesopfern an den Westgrenzen südosteuropäischer Satellitenstaaten wie Bulgarien und Rumänien informiert Appelius durch folgende Internetseite: http://www.appelius.de/oldenburg.html (Zugriff am 6.1.2011). Hierzu Georg Herbstritt, Über Rumänien in die Freiheit? Fluchtversuche von DDRBürgern über Rumänien in den Westen, in: Halbjahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik 21 (2009), H. 2, S. 5–14. Vgl. Hildebrandt, 159. Pressekonferenz des Mauermuseums, S. 26f.

Tödliche Grenzen

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Weiterhin sind nach Recherchen der „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ an den Westgrenzen Ungarns vier DDR-Bürger ums Leben gekommen – eine Person vor 1961, weitere drei nach dem Bau der Berliner Mauer.95 Georg Herbstritt zufolge sind an den Westgrenzen Rumäniens zu Jugoslawien in den frühen 1970er-Jahren durch das rumänische Grenzregime zwei DDR-Bürger zu Tode gekommen, wobei eine Person erschossen wurde und die andere beim Durchwimmen der Donau ertrunken ist.96 Nach den von Martin Pulec veröffentlichten Opfer-Listen haben an den Westgrenzen zur Tschechoslowakei zwischen 1950 und 1989 insgesamt 15 DDR-Bürger ihr Leben verloren. Während bis 1961 an diesen Grenzen zwei DDRBürger ums Leben kamen, erhöhte sich die Zahl der beim Fluchtversuch getöteten Ostdeutschen nach dem Mauerbau um 13 Personen. Von den 15 DDR-Bürgern starben durch das tschechoslowakische Grenzregime sechs Menschen an der Grenze zur Bundesrepublik, fünf an der Grenze zu Österreich und vier an der Grenze zur DDR.97 Weil die Nationalität vieler der an diesen Grenzen getöteten Menschen bis heute ungeklärt ist, wird auch die Zahl der beim Fluchtversuch gestorbenen DDR-Bürger in den nächsten Jahren immer wieder nach oben korrigiert werden müssen.98 Der Bulgarien-Experte Stefan Appelius beklagt, dass sich Bulgarien nur zögerlich mit der Aufarbeitung seiner jüngsten Vergangenheit beschäftigt. Bis heute sitzen im bulgarischen Parlament bis in die höchsten Regierungsspitzen viele ehemalige Mitarbeiter des bulgarischen Staatssicherheitsdienstes (Dharzhavna Sigurnost, DS), die zu den kommunistischen Verbrechen mehrheitlich schweigen. Erst seit dem Beitritt zur Europäischen Union 2007 öffnet Bulgarien allmählich seine Archive, sodass genauere Zahlen der durch das bulgarische Grenzregime beim Fluchtversuch Getöteten in den nächsten Jahren erwartet werden können.99 Bis heute ist kaum bekannt, dass das bulgarische Grenzregime an den Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“ zu Griechenland und der Türkei dem innerdeutschen Grenzregime sowie jenem an der Berliner Mauer an Brutalität nicht nachstand. Dabei war die Volksrepublik Bulgarien neben der Tschechoslowakei und der Ungarischen Volksrepublik das beliebteste Reiseziel, über das auch DDRBürger in den Westen flüchteten. Während das MfS für die Zeit zwischen 1961 und 95 96 97 98

99

Ebd., S. 27. Vgl. Herbstritt, Über Rumänien in die Freiheit?, S. 5–14. Pulec, Die Bewachung der tschechoslowakischen Westgrenze zwischen 1945 und 1989, S. 131–152. Vgl. hier die Totenlisten Nr. 2, 4 und 6 in: Pulec, Organizace a činnost ozbrojených pohraničních složek. Seznamy osob usmrecených na státních hranicích 1945–1989 [Organisation und Tätigkeit der bewaffneten Sicherheitsorgane. Verzeichnis der an den Staatsgrenzen getöteten Personen von 1945 bis 1989], S. 174–291. Vgl. Cathrin Kahlweit, An der Grenze des Lebens, in: Süddeutsche Zeitung, 6. Mai 2008, S. 3f.

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Verschärfung und Zusammenbruch der Grenzregime (1980–1989)

1989 von etwa 2.000 DDR-Bürgern spricht, die über Bulgarien in den Westen zu fliehen versuchten, geht Appelius für denselben Zeitraum und dieselbe Fluchtrichtung von bis zu 4.500 DDR-Bürgern aus.100 In einem internen Vortragsprotokoll des MfS von 1985 wird dazu ausgeführt: Wie auch in den Vorjahren ist zu den Motiven, die DDR über die VR Bulgarien zu verlassen, einzuschätzen, daß die Täter der Annahme waren, die Staatsgrenzen des Bruderlandes seien weniger gesichert. Ihre Festnahmen beim Eindringen in den grenznahen Raum verdeutlichen, daß sie in der Regel keine Kenntnisse über das Grenzregime hatten.101

Die Weichen für das unmenschliche Grenzregime Bulgariens wurden schon früh gestellt. Die bulgarischen Grenztruppensoldaten waren nach der Verordnung Nr. 359 vom 28. August 1952 ermächtigt, sämtliche Fluchtversuche mit Waffengewalt zu unterbinden, was einem strikten Schießbefehl gleichkam. Im Zeitraum zwischen 1947 und 1951 wurden nach offiziellen Angaben mindestens 172 bulgarische Staatsbürger beim Fluchtversuch erschossen. 1953 verabschiedete die Kommunistische Führung in Sofia einen Zusatzantrag zur Strafgesetzgebung, wonach das illegale Verlassen der Volksrepublik mit dem Tod bestraft würde. Darüber hinaus schärften Schulungsoffiziere den bulgarischen Grenzsoldaten ein, Ausländer im Grenzgebiet grundsätzlich als Terroristen zu betrachten, die „Verrat an den friedlichen Interessen des Volkes“ übten. Nach bisherigen Forschungsergebnissen wurde die Verhinderung von „Grenzdurchbrüchen“ ostdeutscher Bürger besonders attraktiv entlohnt. Für die Festnahme eines DDR-Bürgers soll es fünf Tage Urlaub, für die Erschießung sogar zehn Tage Urlaub gegeben haben. In der Regel seien weder Warnrufe noch Warnschüsse abgegeben worden.102 Nach Berichten der bulgarischen Oppositionszeitung „Anti“ hätten Soldaten eine Kopfprämie von umgerechnet 1000 D-Mark für jeden toten DDR-Bürger erhalten. Ob sich das MfS bei der Belohnung bulgarischer Grenzsoldaten finanziell beteiligte, konnte bisher nicht geklärt werden. Anderen Berichten zufolge erhielten die bulgarischen Grenzsoldaten für jeden gefassten Flüchtling 20 Tage Sonderurlaub und eine Uhr mit Gravur oder Stoff für einen neuen Anzug.103 Die Geschichte der Fluchtversuche ostdeutscher Bürger über Bulgarien beginnt mit dem Bau der Berliner Mauer. Beim Vergleich der Opferverzeichnisse aus der ehemaligen Tschechoslowakei und der Ungarischen Volksrepublik mit den bisher ausgewerteten Opferzahlen aus Bulgarien zeigt sich, dass die bulgarischen Grenz100 101 102 103

Ebd. Zit. nach: Appelius, Bulgarien, S. 245. Appelius, Bulgarien, S. 244. Vgl. Kahlweit, An der Grenze des Lebens, S. 4; Appelius, Bulgarien, S. 236.

„Die Grenzen werden brüchig“

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soldaten zwischen 1961 und 1989 weit mehr DDR-Bürger ermordet haben als die Sicherheitsorgane in den beiden anderen „Bruderländern“ zusammen. Dabei muss zusätzlich bedacht werden, dass über die tschechoslowakischen und ungarischen Grenzen weit mehr Fluchtversuche stattgefunden haben als über die Grenzen Bulgariens. Nach bisherigen Angaben des bulgarischen Verteidigungsministeriums kamen durch das bulgarische Grenzregime insgesamt 339 bulgarische Staatsbürger und weitere Ausländer wie Russen, Ungarn, Tschechen, Polen und Ostdeutsche ums Leben. Aber wie viele DDR-Bürger waren es genau? Während die „Arbeitsgemeinschaft 13. August“ die Zahl der an den bulgarischen Außengrenzen getöteten DDR-Bürger auf 15 beziffert,104 spricht das bulgarische Verteidigungsministerium von mehr als 30 getöteten Ostdeutschen. Appelius geht sogar von etwa 100 ermordeten DDR-Bürgern aus.105 Für die Hinterbliebenen in der DDR kam hinzu, dass die sterblichen Überreste der beim Fluchtversuch Ermordeten nicht auf heimischen Friedhöfen beerdigt werden durften. Nach Aussagen bulgarischer Zeitzeugen hatte das MfS die Verwaltung des Friedhofs in Sofia angewiesen, eine Umsetzung der in Sofia bereits bestatteten DDR-Bürger grundsätzlich zu verbieten.106 Aufgrund der schwierigen Aktenlage bulgarischer Archive wird es noch einige Jahre dauern, bis die ostdeutschen Todesopfer des bulgarischen Grenzregimes genauer beziffert sind. 6.7 „Die Grenzen werden brüchig“ – Fluchtbewegung über den Ostblock während der friedlichen Revolution 1989 Der Historiker Manfred Görtemaker schreibt völlig zu Recht, dass nicht der 9. November, sondern der 2. Mai 1989 das eigentliche Datum ist, an dem der „Eiserne Vorhang“ zwischen Ost und West seinen Schrecken verlor.107 An diesem Tag nämlich begannen ungarische Soldaten nahe der Ortschaft Köszeg mit dem Abbau der elektronischen Sicherheitsanlagen und des Stacheldrahtverhaus an der Grenze zu Österreich. Zum ersten Mal wurde die systematische Abriegelung des Ostblocks durchbrochen; mehreren Hundert DDR-Bürgern gelang daraufhin die Flucht in den Westen. Die partielle Grenzöffnung war kein ungarischer Alleingang. Bereits Anfang März 1989 hatte Gorbatschow den Plänen des ungarischen Ministerpräsidenten Miklós Németh, die Grenzsicherungsanlagen zu Österreich abzubauen, zugestimmt. Ebenso im März 1989 unterzeichnete die ungarische Regierung dann 104 105 106 107

Vgl. Hildebrandt, 159. Pressekonferenz des Mauermuseums, S. 26. Vgl. Kahlweit, An der Grenze des Lebens, S. 3. Appelius, Bulgarien, S. 244. Hierzu Manfred Görtemaker, Kleine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 380), Bonn 2003, S. 343.

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auch als erstes Land innerhalb des Ostblocks die Genfer Flüchtlingskonvention. Aus reformorientierten Regierungskreisen hieß es, Budapest fühle sich nicht berufen, „die Bürger fremder Staaten zu hüten“.108 Von Ungarn ging eine enorme Signalwirkung aus. Im Mai 1989 beschloss die tschechoslowakische Nationalversammlung eine Änderung des Strafgesetzbuchs der ČSSR, wonach der Straftatbestand des „illegalen Grenzübertritts“ abgemildert wurde. Überdies kündigte die Tschechoslowakei ihre Teilnahme am multilateralen Sicherungssystem im internationalen Zivilluftverkehr auf, woraufhin die MfS-Operativgruppen am Prager Flughafen ihre Arbeit einstellen mussten.109 Die SED-Führung war sich der Sprengkraft der Vorgänge in Ungarn durchaus bewusst. Dennoch hielt sie an ihrem starren Kurs fest. Am augenfälligsten war diese Haltung der politischen Lethargie nach der offenkundigen Fälschung der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 sowie bei der demonstrativ positiven Reaktion auf das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking am 4. Juni 1989.110 Der Absolutheitsanspruch in der proklamierten Einheit von Partei, Staat und Volk war aber nicht mehr aufrecht zu erhalten. Allein im Sommer 1989 stellten 120.000 DDRBürger den Antrag auf Ausreise in die Bundesrepublik. Ende Juni 1989 durchtrennten der ungarische Außenminister Gyula Horn und sein österreichischer Amtskollege Alois Mock in einem demonstrativen Akt den Stacheldrahtzaun der gemeinsamen Grenze. Ungarn wurde zum Fluchtmagneten: Bis Mitte Juli hatten bereits 171 Ostdeutsche in der bundesdeutschen Botschaft in Budapest Zuflucht gesucht. Als der Flüchtlingsstrom dort nicht mehr bewältigt werden konnte, wurden am 20. August zwei Flüchtlingslager für DDR-Bürger eingerichtet. Seit Anfang Mai hatten inzwischen rund 1.600 DDR-Bürger die Grenze zu Österreich überquert. Allein während des „Paneuropäischen Picknicks“ bei Sopron am 19. August flüchteten fast 700 Ostdeutsche über die ungarisch-österreichische Grenze. Gegen Ende August hatten sich in den ungarischen Flüchtlingslagern etwa 3.500 DDR-Bürger versammelt. Die Situation wurde mit der Feriensaison und dem Zustrom von DDR-Urlaubern weiter verschärft. Um das Flüchtlingsproblem zu lösen, kam es am 25. August auf Schloss Gymnich bei Bonn zu einem geheimen Treffen zwischen den ungarischen Vertretern Németh und Horn sowie Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Für die deutsche Seite war das Treffen ein großer Erfolg: Zum einen kam man überein, dass es sich bei den Flüchtlingen um ein Problem beider deutscher Staaten handle, zum an108 „Freiheit war die billigste Lösung“, in: Süddeutsche Zeitung, 2./3. Mai 2009, S. 8. 109 Vgl. Tantzscher, HA VI, S. 88. 110 Egon Krenz war als ZK-Sekretär für Sicherheit nach dem Blutbad in Peking im Juni 1989 selbst nach China gereist, um den dortigen Machthabern die Solidarität der SED zu versichern. Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 829.

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deren, dass eine humanitäre Lösung gefunden werden musste. So wurde vereinbart, die Flüchtlinge auf keinen Fall an die DDR auszuliefern, sondern spätestens bis zum 15. September in die Bundesrepublik ausreisen zu lassen.111

23 Symbolischer Akt am 27. Juni 1989: Die Außenminister Ungarns und Österreichs, Gyula Horn und Alois Mock, durchschneiden vor Journalisten aus aller Welt den Stacheldraht an der Grenzanlage ihrer beiden Staaten.

Wie aber kam es zu dem plötzlichen Wandel in der Grenzpolitik dieser sozialistischen Staaten? Die Weichen für die 1989 durchbrechenden Veränderungen im Ostblock waren bereits Mitte des Jahrzehnts gestellt worden. Ermutigt durch ernsthafte Reformbemühungen des im März 1985 zum Chef der KPdSU gewählten Michail Gorbatschow – seinem „Neuen Denken“, das mit den Schlagworten „Glasnost und Perestroika“ (Transparenz und Umgestaltung) nach außen symbolisiert wurde – fanden von der Sowjetunion ausgehend bald im ganzen Ostblock gewaltige revolutionäre Veränderungen statt. Bereits im November 1986 hatte Gorbatschow mit einem Vortrag vor seinen Verbündeten über die Neugestaltung der gegenseitigen 111 Obwohl von ungarischer Seite keine finanziellen Forderungen gestellt wurden, zeigte sich Deutschland für diese Haltung mit einem Millionen-Kredit erkenntlich. Vgl. Olschowsky, Einvernehmen und Konflikt, S. 599.

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Beziehungen das Ende der Breschnew-Doktrin eingeläutet.112 Zwar war den Satellitenstaaten damit noch kein Blanko-Scheck über ihre jeweiligen Staatsgeschäfte ausgestellt worden, sowjetische Panzer wie im „Prager Frühling“ 1968 sollten fortan aber nicht mehr intervenieren. Weil Gorbatschows Worte auf vielfältige Weise interpretiert werden konnten, war bis weit in das Jahr 1989 aber nicht klar, ob die Sowjetunion im Falle antikommunistischer Befreiungsbewegungen im Ostblock nicht doch militärisch eingreifen würde.113

24 Viele DDR-Bürger, die im Sommer 1989 über die offene ungarisch-österreichische Grenze in den Westen flüchten wollten, ließen auf ihrer Flucht unmittelbar vor der „grünen Grenze“ im Wald ihre Fahrzeuge zurück, die dann geplündert wurden.

Der neuen Linie Gorbatschows folgten zuerst die Staaten Polen und Ungarn. Während sich die Tschechoslowakei und Bulgarien dem neuen Kurs gegenüber anfangs noch zögerlich verhielten, waren es im gesamten Ostblock lediglich die DDR und Rumänien, die sich den Reformbemühungen vehement versperrten.114 112 Hierzu Wolfrum, Die Mauer, S. 119ff. 113 Andreas Rödder, Deutschland einig Vaterland. Die Geschichte der Wiedervereinigung, München 2009, S. 52. 114 Wolfrum, Die Mauer, S. 121.

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Vor dem Hintergrund lang- und kurzfristiger Entwicklungen wie dem „Gorbatschow-Faktor“, dem Durchbruch zur Demokratie in Polen, den offenkundigen Fälschungen der Kommunalwahlen sowie der ansteigenden Fluchtwelle über Ungarn brach im Herbst 1989 in der DDR eine landesweite Protestbewegung los. Trotz der Gewaltbereitschaft seitens der staatlichen Organe und Inhaftierungen beteiligten sich 1989 auf den Straßen und Plätzen im ganzen Land, insbesondere in größeren Städten wie in Leipzig, Dresden und Ost-Berlin, immer mehr Menschen an der friedlichen Revolution.115 „Wir wollen raus!“ lautete die zentrale Losung der Ausreisewilligen während der Proteste im September 1989. Der 4. September 1989 gilt als der Beginn der Leipziger Montagsdemonstrationen: Im Anschluss an das Montagsgebet in der Nikolaikirche bildete sich auf dem Kirchhof eine Ansammlung von ausreisewilligen Demonstranten, die in Gegenwart westlicher Medien mit Transparenten und Sprechchören auf das allgemeine Ausreiseverbot aufmerksam machten. In den darauffolgenden Wochen kam es nach den Montagsgebeten in der Nikolaikirche zu weiteren Massenprotesten, die in der DDR bis dahin ohne Beispiel waren. Das „Leipziger Muster“ – Friedensgebete mit anschließenden Protestaktionen – wurde für andere Städte und Gemeinden der DDR zum Vorbild und setzte eine Eigendynamik frei. Leipzig wurde zum Protest-Zentrum der DDR.116 Derweil vergrößerte sich der Flüchtlingsstrom über Ungarn immer mehr. Während eines Treffens in Ost-Berlin am 31. August wurden DDR-Außenminister Oskar Fischer und Günter Mittag, der für den erkrankten Erich Honecker die Amtsgeschäfte führte, von der ungarischen Seite informiert, dass die in Ungarn versammelten DDR-Flüchtlinge am 4., spätestens aber am 11. September über Österreich ausreisen könnten. Damit brach Ungarn das mit der DDR 1969 geschlossene Abkommen über den pass- und visafreien Reiseverkehr bzw. die darin enthaltene Bestimmung, Bürgern die Ausreise über Drittstaaten zu verweigern. Diese Ankündigung bezeichnete Fischer, so Horn in seinen Erinnerungen, als Erpressung und „Verrat am Sozialismus“.117 Fischer forderte eine sofortige Schließung der ungarischösterreichischen Grenze, was Horn entschieden ablehnte. In der Nacht vom 10. zum 11. September öffnete Ungarn schließlich all seine Grenzen zu Österreich. Jetzt flohen nicht nur Hunderte, sondern Tausende. Bis Ende September flüchteten etwa 30.000 DDR-Bürger über die offene Grenze in den Westen. Dabei gehörten diese Menschen überwiegend zu den Unzufriedenen und weniger zu den

115 Konrad H. Jarausch, Die unverhoffte Einheit, 1989–1990 (Neue Folge, Bd. 877), Frankfurt a.M. 1995, S. 77. 116 Trutkowski, Der Sturz der Diktatur, S. 80. 117 Gyula Horn, Freiheit, die ich meine. Erinnerungen des ungarischen Außenministers, der den Eisernen Vorhang öffnete, Hamburg 1991, S. 325.

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Oppositionellen in der DDR.118 Gleichzeitig wurden die Bilder der erfolgreich Geflohenen durch das Westfernsehen in die DDR zurückgebracht, was wiederum zu neuen Flüchtlingen führte.119

25 Ausreisewillige DDR-Bürger versuchen, im Herbst 1989 in die Prager Botschaft der Bundesrepublik Deutschland zu gelangen.

Mit der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze blieb die Frage der Botschaftsflüchtlinge in Prag und Warschau indes ungelöst. Parallel zu den Ereignissen in Ungarn hatten DDR-Bürger seit Mitte Juli in der bundesdeutschen Botschaft in Prag, seit Mitte August in der Botschaft der Bundesrepublik in Warschau Zuflucht gesucht.120 Die Grenzen der DDR wurden immer brüchiger – die Fluchtbewegung im Sommer 1989 hatte sich auf ganz Ostmitteleuropa ausgeweitet. Die Botschaft in Prag musste wegen Überfüllung schließen. Um sich dennoch Einlass zu verschaffen, kletterten DDR-Bürger über die Zäune des Botschaftsgeländes. In der dritten Septemberwoche stieg die Zahl der DDR-Flüchtlinge in der Warschauer Botschaft auf 110, in der Prager Botschaft auf mehr als 400 Personen an. Am 18. September 118 Die oppositionelle Funktionselite dachte gar nicht daran, das Land zu verlassen, wollte sie doch die DDR demokratisch reformieren. Vgl. auch Kap. 6.3. 119 Vgl. Rödder, Deutschland einig Vaterland, S. 75. 120 Hans-Dietrich Genscher, Erinnerungen, Berlin 1995, S. 642f.

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erhielt Genscher die Zusage von seinem polnischen Amtskollegen Krzysztof Skubiszewski, dass es von polnischer Seite keine Auslieferung von Flüchtlingen an die DDR geben würde. Hiernach wurde die überfüllte Botschaft in Warschau geschlossen und ähnlich wie in Ungarn ein Flüchtlingslager eingerichtet. Am 25. September war die Zahl der DDR-Flüchtlinge in Warschau auf etwa 250, in der Prager Botschaft auf über 800 Personen gestiegen. Im DDR-Außenministerium hoffte man derweil immer noch, mit Hilfe der „Berliner Formel“ ein Abebben des Flüchtlingsstroms zu erreichen. Hiernach sollten DDR-Bürger, die aus den bundesdeutschen Botschaften in die DDR zurückkehrten, mittels eines Ausreiseantrags in die Bundesrepublik übersiedeln dürfen.121 Jedoch konnte dieses Angebot die Mehrheit der DDR-Flüchtlinge nicht überzeugen. Um die Fluchtwelle über die durchlässigen Binnengrenzen, insbesondere nach Ungarn, zu stoppen, verfügten die ostdeutschen Behörden am 4. Oktober die Wiedereinführung der Visumpflicht für Warschauer Vertragsstaaten; die Genehmigungskriterien für die ČSSR waren dabei besonders streng reglementiert. Durch die Aussetzung des pass- und visafreien Reiseverkehrs mit der benachbarten Tschechoslowakei wurde auch das letzte Schlupfloch in den Osten geschlossen und die DDR vollends zum Gefängnis. In den letzten Septembertagen vergrößerte sich die Zahl neuer Flüchtlinge stetig. In Warschau belief sich ihre Zahl inzwischen auf 600, in Prag sogar auf 6.000 Personen. Die Situation insbesondere in der Prager Botschaft wurde immer prekärer – dort herrschten Seuchen-, Brand- und Einsturzgefahr. Der 29. September muss als Wendepunkt in der Lösung der Fluchtproblematik gewertet werden: An diesem Tag hatte Genscher am Rande der UNO-Vollversammlung in New York nach spannungsreichen Gesprächen mit dem sowjetischen, ostdeutschen und tschechoslowakischen Außenminister die Ausreise der Botschaftsflüchtlinge erwirkt.122 Am 30. September verkündete Genscher dann vom Balkon der Botschaft der Bundesrepublik in Prag den 6.000 geflohenen DDR-Bürgern die Genehmigung zur Ausreise in die Bundesrepublik. Während die DDR-Bürger in Warschau zusätzlich mit Sondermaschinen der polnischen Fluggesellschaft LOT direkt in die Bundesrepublik gebracht wurden, sollten die Botschaftsflüchtlinge in Prag, die stärkere Medienpräsenz erreicht hatten, in Sonderzügen der DDR-Reichsbahn über das Gebiet der DDR in die Bundesrepublik ausreisen – dies hatte die DDR-Führung zur Bedingung gemacht. Die Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge erfolgte in drei Etappen. Nachdem Ende September die ersten Sonderzüge aus Prag die Bundesre121 Vgl. Olschowsky, Einvernehmen und Konflikt, S. 601ff. 122 Hans-Dietrich Genscher, Vereinigung aus deutscher Sicht: Die Einheit Deutschlands und Europas, in: Walter Koschmal/Marek Nekula/Joachim Rogall (Hg.), Deutsche und Tschechen. Geschichte, Kultur, Politik, München 2005, S. 425–430, hier S. 427.

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publik erreicht hatten, war die Botschaft wenige Tage später erneut überfüllt. Als die Flüchtlinge am 4. Oktober ein zweites Mal über das Gebiet der DDR ausreisten, kam es unter anderem am Dresdner Hauptbahnhof zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen mehr als 3.000 Bürgern und Sicherheitskräften – hier hatten Demonstranten versucht, auf die „Züge der Freiheit“ aufzuspringen.123

26 Botschaftsflüchtlinge aus Prag verlassen im Herbst 1989 in Sonderzügen überglücklich den Bahnhof eines Prager Vorortes in Richtung Bundesrepublik Deutschland.

Im Oktober weiteten sich die Demonstrationen in der DDR immer mehr aus. Allein in Leipzig gingen am 9. Oktober – dem Schlüsseltag bei den Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 – 70.000, am 16. Oktober 110.000, am 23. Oktober 225.000 und am 30. Oktober 350.000 Menschen auf die Straße.124 Bereits im September 1989 war in der DDR die Neuformierung einer schlagkräftigen Opposition erfolgt. Bürgerbewegungen und politische Parteien wie das „Neue Forum“, der „Demokratische Aufbruch“, die „Demokratie Jetzt“ oder die Sozialdemokratische Partei in der DDR (SDP) bündelten die Meinungen der protestierenden Bevölke123 Hierzu Bernd Lindner, Die demokratische Revolution in der DDR (Bundeszentrale für politische Bildung), Bonn 2001, S. 47. 124 Vgl. Jarausch, Die unverhoffte Einheit, S. 77.

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rung. In Form von Gesprächen, Informationsveranstaltungen und mobilisierenden Aufrufen schuf die neue Opposition eine für die DDR vollkommen neue Diskursund Demonstrationskultur und erzeugte so eine politische Öffentlichkeit, eine Gegenmacht zur SED. Mit ihrer Forderung nach einem Dialog war die Opposition weniger bei der Organisation der Demonstrationen beteiligt. Vielmehr war sie gemeinsam mit den Antragstellern für „ständige Ausreise“ die initiative Kraft, die innerhalb der Bevölkerung den Anfangsimpuls setzte, sich in der Öffentlichkeit zu sammeln und für Veränderungen einzutreten. Von den neuen Oppositionsgruppen erhielt vor allem das „Neue Forum“ in den Massendemonstrationen von der Bevölkerung eine Sprecher- bzw. Führungsrolle zugewiesen. Die Aufrufe zum Gewaltverzicht seitens aller Oppositionsgruppen und der Evangelischen Kirche wirkten dabei disziplinierend und verhinderten entscheidend eine Eskalation der Protestbewegung im Herbst 1989.125 Nachdem Erich Honecker aufgrund seiner radikalen Ansichten und Vorschläge zur Protest- und Fluchtbewegung in der Politbürositzung am 17. Oktober 1989 von seinen engsten Mitarbeitern zum Rücktritt genötigt worden war,126 versuchte die neue SED-Führung um Egon Krenz, sich zur Stabilisierung der Herrschaftsverhältnisse auf unterschiedliche Weise kompromiss- und reformbereit zu präsentieren. Anfang November wurde die Visumpflicht für die Tschechoslowakei aufgehoben; am 3. November reisten mehr als 4.000 Botschaftsflüchtlinge aus Prag in die Bundesrepublik aus – diesmal ohne den Umweg über die DDR.127 Die erzwungene Ausreise der DDR-Flüchtlinge über die Länder des Ostblocks, Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei, hatte eine außerordentlich katalysatorische Wirkung auf die friedliche Revolution in der DDR entwickelt. Mit der Brüchigkeit der Binnen- und Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“ wurde die Schwäche des Regimes für jedermann offenkundig. Anstatt dem SED-Staat den Rücken zu kehren, wollte man ihm jetzt die Stirn bieten. Eine der zentralen Losungen der Proteste im Herbst 125 Siehe hierzu Trutkowski, Der Sturz der Diktatur, S. 97. 126 Während einer Politbürositzung am 10. Oktober 1989 betonte Honecker in Bezug auf das Machtmonopol des Staates, dass die Gewaltanwendung gegen Demonstranten ein grundsätzlich legitimes Mittel sei. Vgl. Mitschrift der Sitzung durch das Politbüromitglied Gerhard Schürer, abgedruckt im Dokumentenanhang als Dok. Nr. 1 in: Hans-Hermann Hertle (Hg.), Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates, Opladen 1996, S. 42ff. Günter Schabowski erinnert sich, dass Honecker für die Leipziger Massendemonstration am 16. Oktober eine „Einschüchterungskulisse“ von Panzern aufbauen wollte, mit der die Protestierenden wieder zur „Vernunft“ gebracht werden sollten. Vgl. Günter Schabowski, Der Absturz, Berlin 1991, S. 259. Aber selbst Honeckers Nachfolger, Egon Krenz, hatte noch Anfang Oktober 1989 erklärt, dass die Gewaltlösung von Peking auch in der DDR angewendet werden könnte. Vgl. Neubert, Geschichte der Opposition, S. 829. 127 Wolfgang Thierse, Die Berliner Mauer, in: Koschmal/Nekula/Rogall (Hg.), Deutsche und Tschechen, S. 417–424, hier S. 417f.

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1989, „Wir wollen raus!“, wandelte sich im Oktober kurzerhand zu „Wir bleiben hier!“. Das neu erlangte Selbstbewusstsein der Bürger, die DDR gefahrlos verlassen und in Freiheit leben zu können, bedeutete die eigentliche Delegitimation der SEDHerrschaft.128

27 Zu der größten Protestaktion in der Geschichte der DDR fanden sich am 4. November 1989 nahezu eine Million Menschen zusammen. Prominente Künstler und Bürgerrechtler sprachen zu den Demonstranten auf dem Berliner Alexanderplatz.

Um die tiefe Staats- und Gesellschaftskrise doch noch in den Griff zu bekommen, verkündete Günter Schabowski am Abend des 9. November 1989 während der in diesen Tagen täglich abgehaltenen und live in Rundfunk und Fernsehen übertragenen Pressekonferenzen eine neue Reiseregelung, die die unumschränkte Erteilung von Ausreisevisa an alle DDR-Bürger vorsah. Mit dem Fall der Berliner Mauer, dem markantesten Symbol der deutschen Teilung, war der Untergang der kommunistischen Sowjetdiktatur nicht nur in der DDR, sondern auch in ganz Europa besiegelt. Die seit dem Frühjahr 1989 andauernde Fluchtbewegung von DDR-Bürgern über die Ostblockstaaten mag nicht die tiefere Ursache für diesen Zerfallsprozess gewesen sein, sicher aber dessen Auslöser. 128 Trutkowski, Der Sturz der Diktatur, S. 87f.

Resümee Anders als es die Formel vom „sozialistischen Internationalismus“ einforderte, konnte das „nördliche Dreieck“ von den Anfängen des Kalten Kriegs bis zu seinem Untergang 1989 keine homogene, in sich geschlossene politische Gemeinschaft von „Bruderländern“ bilden. Für die über 40-jährigen Beziehungen zwischen OstBerlin und Warschau kann von einer „zwangsverordneten Freundschaft“ (Ludwig Mehlhorn), für jene zwischen Ost-Berlin und Prag von einer „sozialistischen Vernunftehe mit Beziehungskrisen“ (Wolfgang Schwarz) gesprochen werden. Mit Blick auf die während des Kalten Kriegs durch das Militär hermetisch abgeriegelten sowie später von den Geheimdiensten subtil überwachten Staatsgrenzen muss für die benachbarten „Bruderländer“ DDR, Polen und die Tschechoslowakei schließlich von einem „geteilten Ostblock“ die Rede sein – von einem Ostblock, der politisch, ideologisch und transnational tiefer gespalten war, als bisher angenommen wurde. Die im Laufe des Kalten Kriegs immer wiederkehrende Abgrenzung zwischen den „Bruderländern“ offenbarte sich sowohl auf der offiziell-staatlichen als auch der staatlich-unabhängigen Ebene. Auf der staatlichen Ebene manifestierte sich der „geteilte Ostblock“ insbesondere in Krisenzeiten des Sozialismus, wenn von den östlichen Nachbarländern die Gefahr demokratischer Entwicklungen oder nationaler Befreiungsbewegungen ausging. Weil die DDR ihre Eigenstaatlichkeit lediglich der Existenz des sowjetischen Ostblocks verdankte, fühlte sie sich zu besonderer Blocktreue verpflichtet. Bei Bedrohungen seitens der sozialistischen Nachbarländer schottete sich die DDR daher entweder ab oder wurde selbst aktiv. So riegelte sie ihre Grenzen im Osten des Landes vor allem nach dem Posener Aufstand 1956, im „Prager Frühling“ 1968, seit der Gründungsphase der polnischen Demokratiebewegung Solidarność Anfang der 1980er-Jahre und schließlich während der friedlichen Revolution 1989 rigoros ab. Das Regime an den Ostgrenzen der DDR ähnelte damit einem Seismographen, der leichteste Erschütterungen in den Beziehungen zwischen den „Bruderländern“ wahrnahm und zur Gewährleistung innerer und äußerer Sicherheit darauf mit politischen und militärischen Maßnahmen reagierte. Auf der staatlich-unabhängigen Ebene offenbarte sich der „geteilte Ostblock“ seit den 1950er-Jahren vor allem in der massiven Einschränkung jeglichen individuellen Transfers über die Staatsgrenzen der benachbarten „Bruderländer“ hinweg. Individuelles Reisen in die Länder des Ostblocks, kirchliche, oppositionelle und andere alternative Initiativen transnationaler Zusammenarbeit hatten im wahrsten Sinne des Wortes ihre Grenzen. Schließlich war es der „geteilte Ostblock“ einschließlich seiner gefährlichen und brutalen Grenzregime, der die persönlich gewählte Entscheidung für ein Leben in Freiheit durch die individuelle Flucht über die Binnenund Außengrenzen des „sozialistischen Lagers“ in den Westen nicht selten zu einem

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lebensgefährlichen Unternehmen machte. Von einer Grenze, an der sich Menschen, Kulturen und Sprachen begegnen und austauschen, konnte bei den Ostgrenzen der DDR zu Polen und der Tschechoslowakei – bis auf wenige Perioden des pass- und visafreien Reiseverkehrs – keine Rede sein. Wie der bis in die 1980er-Jahre geführte Friedensdiskurs in der DDR-Öffentlichkeit deutlich macht, wurde der von der SED-Führung in den frühen 1950erJahren begründete politische Mythos der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ zu Polen zum zentralen Symbol des Friedens in Europa stilisiert. Semantisch sollte der Begriff der „Friedensgrenze“ nicht nur die Verbundenheit zwischen den beiden Völkern demonstrieren, das nach dem Krieg herrschende tiefe Misstrauen auf beiden Seiten abbauen und die Rechtmäßigkeit der neuen Grenzziehung diskursiv festlegen. Darüber hinaus war die von der SED konstruierte Zuschreibung als „Friedensgrenze“ eine politische Waffe gegen die Bundesrepublik im Kalten Krieg. Denn mit der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“ sprach die SED-Führung ihren Staat nicht nur als Verbündeten der siegreichen Sowjetunion im Ausgang des Zweiten Weltkriegs von jeder Verantwortlichkeit für die im Namen des deutschen Volkes verübten Verbrechen frei. Sie instrumentalisierte die neue „Friedensgrenze“ zu Polen auch als antifaschistische Keule gegen die Bundesrepublik, indem sie den Gegensatz zwischen der für den Frieden in Europa und der Welt „kämpfenden“ DDR und der immer noch faschistischen und revisionistischen Bundesrepublik propagierte. In einer ähnlichen, aber sicherlich schwächeren Form als bei der „Oder-NeißeFriedensgrenze“ konstruierte die SED-Führung seit den 1950er-Jahren gegenüber der 1938 von den Nationalsozialisten besetzten Tschechoslowakei im öffentlichen Raum den politischen Mythos der unantastbaren „Freundschaftsgrenze“. Das Bild der „Freundschaftsgrenze“ zur Tschechoslowakei hatte für die Bevölkerung beider Gesellschaften identitätsstiftende und integrative Funktionen zu erfüllen – nicht zuletzt, um die herrschenden nationalen Differenzen der jüngsten Geschichte zu verwischen. Mit dem politischen Mythos der „Freundschaftsgrenze“ erklärte man aber auch hier den Gegensatz zwischen der nach Frieden strebenden DDR und der Bundesrepublik, die in eine Kontinuität mit Hitlerdeutschland gestellt wurde. Der Funktion nach war der politische Mythos der „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ zu Polen und der Tschechoslowakei sowohl ein Gründungs- als auch ein Bekräftigungsmythos, der die Geschichte der neu entstandenen und für den Frieden in Europa „kämpfenden“ DDR als politische Einheit im „nördlichen Dreieck“ in Abgrenzung von der Bundesrepublik erzählte. Doch holten die sich stetig verändernden politischen Realitäten die Propaganda vom Frieden und der Brüderlichkeit bald ein. Entsprechend erhielt der politische Mythos der „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ im Laufe des Kalten Kriegs immer größere Risse und verlor zunehmend an Überzeugungskraft.

Resümee

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Schon bald nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Grenzen der sowjetischen Besatzungszone zu Polen und der Tschechoslowakei praktisch unüberwindbar, da sie gleich mehrfach abgesichert wurden. Auf ostdeutscher Seite hing die erhöhte Grenzsicherung mit dem breiten Strom von Vertriebenen sowie dem Versuch zusammen, Schmuggel und Schwarzhandel einzudämmen. Von polnischer und tschechoslowakischer Seite riegelte man die Grenzen ab, um die Vertreibungen der Deutschen über die Ostgrenzen zu regulieren und gleichzeitig einen möglichen Rückfluss der Vertriebenen abzuwehren. Dabei war das Abgrenzungsbedürfnis der benachbarten „Bruderländer“ unterschiedlich groß. Polen und die Tschechoslowakei bauten ihre Grenzanlagen gegenüber der DDR wesentlich stärker aus, als es umgekehrt der Fall war. Die zwischen der DDR und Polen Anfang der 1950er-Jahre unternommenen Versuche, die Grenze partiell zu öffnen und einen „kleinen Grenzverkehr“ einzurichten, scheiterten vielfach am Mutterland Moskau, das seinen Vasallenstaaten keine größeren selbstständigen Entscheidungen überlassen wollte. Erst nachdem die Unverrückbarkeit der „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ in verschiedenen Verträgen mit Polen und der Tschechoslowakei im Laufe der 1950er-Jahre festgeschrieben worden war und sich die zwischenstaatlichen Beziehungen langsam verbessert hatten, verzichteten die benachbarten „Bruderländer“ allmählich auf eine hermetische Abriegelung ihrer Grenzen zur DDR. So ersetzte die Tschechoslowakei seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre ihre dreigliedrige durch eine eingliedrige Grenzzaunanlage zur DDR. Seit etwa Mitte der 1960er-Jahre verzichtete Polen an der Oder-Neiße-Grenze in den meisten Abschnitten sogar ganz auf Grenzzaunanlagen. Und auch auf Seiten der DDR blieb das Grenzsicherungssystem zu Polen und der Tschechoslowakei nur marginal ausgebaut. Die demonstrierte Durchlässigkeit der „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ gab es jedoch nur scheinbar. Denn die „Republikflucht“ – ein im Zuge der Abwanderung seit 1954 sanktionierter Straftatbestand in der DDR – konnte aufgrund des auch an den Ostgrenzen verordneten Schießbefehls mit dem Leben bezahlt werden. Eine tiefe Zäsur in der Entwicklung der Überwachung der Ostgrenzen der DDR bildete der Bau der Berliner Mauer 1961. Seither flohen DDR-Bürger zunehmend über die Binnen- und Außengrenzen des Ostblocks über Polen und die Tschechoslowakei in den Westen. Viele DDR-Bürger flüchteten über die „Bruderländer“ nicht zuletzt deswegen, weil deren Grenzen als durchlässiger und weniger lebensbedrohlich galten als die innerdeutsche Grenze. Den größten Fluchtknotenpunkt im Ostblock bildete die Tschechoslowakei. Danach kamen Ungarn, Bulgarien und Rumänien. Polen, das keine Außengrenzen mit dem Westen besaß, rangierte als Fluchtausgangspunkt im hinteren Mittelfeld vor der Sowjetunion und dem neutralen Jugoslawien.

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Der geteilte Ostblock

Vor dem Hintergrund der neuen Fluchtdynamik begann die SED-Führung zu Anfang der 1960er-Jahre in der DDR damit, die Kontrolle an den Grenzen zu den sozialistischen Nachbarländern neu auszurichten: Während die Überwachung der langgestreckten Staatsgrenzen im Osten der DDR vertrauensvoll in die Hände der polnischen und tschechoslowakischen Grenzorgane gelegt wurde, konzentrierten sich die Kräfte in der DDR stärker auf die strategisch bedeutsamen Grenzübergangsstellen zu den „befreundeten“ Staaten sowie auf das grenznahe Hinterland. So ging man seit Anfang der 1960er-Jahre von einer militärischen zu einer geheimdienstlichen Ausrichtung des DDR-Grenzregimes im Osten über, wodurch zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden sollten: Während das Grenzregime zur Bundesrepublik durch eine schrittweise Verlegung der im Osten stationierten Grenztruppen hin zur Westgrenze äußerlich sichtbar verschärft werden sollte, wurden die entstandenen Sicherheitslücken an den „Friedens- und Freundschaftsgrenzen“ durch das MfS kompensiert, um so den Anschein eines liberalen Grenzregimes zu den „Bruderländern“ zu wahren. Seit den 1960er-Jahren waren fast alle Abteilungen des MfS nicht nur mit der Fluchtverhinderung über die innerdeutsche Grenze sowie die Mauer um West-Berlin, sondern auch mit der Verhinderung der Flucht über das „sozialistische Ausland“ beschäftigt. Zwar begann im Zuge der internationalen Entspannung in den 1970er-Jahren mit der erfolgten Grenzöffnung durch den pass- und visafreien Reiseverkehr für die Bevölkerung der benachbarten „Bruderländer“ die wohl beste Dekade im Kommunismus. Dennoch sind auch in dieser Zeit nationale Klischees und Negativstereotype nicht nur durchbrochen, sondern auch gefördert worden. Nach außen versuchten die Regierungen der sozialistischen Nachbarstaaten, ihre „Freundschaft“ durch die nun gemeinsame Abfertigung und Kontrolle des grenzüberschreitenden Verkehrs zu demonstrieren. Um aber die ebenso in den 1970er-Jahren anwachsende Fluchtbewegung von DDR-Bürgern über den Ostblock in den Griff zu bekommen, verschärfte das MfS hinter den Kulissen das Grenzregime durch eine immer intensiver betriebene Zusammenarbeit mit den Partnerdiensten im „sozialistischen Ausland“ durch die Einrichtung von „Operativgruppen“ sowie die Entsendung Hauptamtlicher und Inoffizieller Mitarbeiter in diese Länder. Insbesondere gut organisierten Fluchthelfergruppen aus der Bundesrepublik ist es zu verdanken, dass seit den 1960er-Jahren mehreren Tausend DDR-Bürgern die Flucht über den Ostblock in den Westen gelang. Insgesamt konnten zwischen 1961 und 1988 nach MfS-Angaben 3.500 DDR-Bürger über andere Ostblockländer in den Westen fliehen (wobei die Angaben aus den Akten der Staatssicherheit für wenige Jahre in diesem Zeitraum fehlen). Rund 25.000 DDR-Bürger wurden an ihrer Flucht über das „sozialistische Ausland“ gehindert, vom MfS in die DDR zurückgeholt und als „Republikflüchtlinge“ angeklagt und verurteilt. Insgesamt waren es mindestens 77 DDR-Bürger, die auf ihrer Flucht über den Ostblock in den Westen

Resümee

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den Tod fanden. Dabei ist zu befürchten, dass diese Zahl vor allem durch neue Forschungen zur Geschichte des bulgarischen Grenzregimes stark nach oben korrigiert werden muss. Nachdem zu Anfang der 1980er-Jahre die Oder-Neiße-Grenze für den freien Reiseverkehr geschlossen wurde und in Polen das Kriegsrecht bei einem gleichzeitigen Verbot der gewerkschaftlichen Demokratiebewegung Solidarność verkündet worden war, begann eine verstärkte Zusammenarbeit oppositioneller Kräfte zwischen der DDR und Polen, die langfristig zu einer Mobilisierung der ostdeutschen Opposition führte. Mit der Schließung der Oder-Neiße-Grenze im Herbst 1980 entwickelte sich die Tschechoslowakei zum letzten Schlupfloch in den Ostblock und damit immer mehr zu einer Zuflucht sowohl für Oppositionelle als auch Privatreisende. Trotz der Verhängung von Ein- und Ausreisesperren sowie dem Ausbau der Kooperationsbeziehungen mit den Partnerdiensten konnte die DDR eine fortschreitende Vernetzung der Dissidentenszene Ostmitteleuropas sowie Ost-WestKontakte privaten Charakters nicht verhindern. Seit Mitte der 1980er-Jahre stieg die Fluchtbewegung von DDR-Bürgern über den Ostblock erneut an. Ermutigt durch ernsthafte Reformbemühungen des 1985 zum Parteichef gewählten Michail Gorbatschow fanden von der Sowjetunion ausgehend bald im gesamten Ostblock gewaltige revolutionäre Veränderungen statt. Im Frühjahr 1989 verlor schließlich der „Eiserne Vorhang“ seinen Schrecken, nachdem Ungarn damit begonnen hatte, seine Grenzen zu Österreich zu öffnen. Die SED-Führung war sich der Sprengkraft der Vorgänge in Ungarn durchaus bewusst. Dennoch hielt sie an ihrem starren Kurs fest. Der allmähliche Untergang der SED war so nicht mehr aufzuhalten. Im Zuge der Fluchtwelle über die ungarischösterreichische Grenze sowie die bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau begann im Spätsommer 1989 in der DDR die von der sich neu formierenden DDR-Opposition getragene friedliche Revolution. Die anhaltende Fluchtwelle über den Ostblock entwickelte sich zu einer der wichtigsten Triebfedern dieser Revolution. Nach 40-jährigem Bestehen kollabierte das SED-Regime schließlich zu einem Zeitpunkt, als die Grenzsicherungssysteme der „Bruderländer“ – bis zuletzt eine feste Bestandsgarantie der DDR – aufhörten zu funktionieren.

Abkürzungsverzeichnis AAN ABV ADN AMV APF ASR ASt AZKW BPZ BV ČSR ČSSR DGP DS DVdI DVP EAC FHG FIM FMV GMS GÜST HA GP/B HA HVA HVDVP HVIS IFM IM KD KdS BP

Archiwum Akt Nowych (Staatsarchiv Neuer Akten, Warschau) Abschnittsbevollmächtigter der Deutschen Volkspolizei Allgemeiner Deutscher Nachrichtendienst Odbor archiv bezpečnostních složek Ministerstva vnitra (Archiv der Sicherheitskräfte des Ministeriums des Innern, Brünn) Arbeitsgruppe Passkontrolle und Fahndung Arbeitsgruppe Sicherung des Reiseverkehrs Außenstelle Amt für Zoll und Kontrolle des Warenverkehrs Biuro Paszportów Zagranicznych (Passbehörde für Auslandsreisen, Polen) Bezirksverwaltung Česko-Slovenská Republika (Tschechoslowakische Republik) Československá Socialistická Republika (Tschechoslowakische Sozialistische Republik) Deutsche Grenzpolizei Dharzhavna Sigurnost (Bulgarischer Staatssicherheitsdienst) Deutsche Verwaltung des Innern Deutsche Volkspolizei European Advisory Commission (Europäische Beratende Kommission, London) Freiwillige Helfer der Grenztruppen Führungs-Inoffizieller Mitarbeiter Federální ministerstvo vnitra (Föderales Ministerium des Innern, Tschechoslowakei) Gesellschaftlicher Mitarbeiter für Sicherheit Grenzübergangsstelle Hauptabteilung Grenzpolizei und Bereitschaften Hauptabteilung Hauptverwaltung Aufklärung Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei Hauptverwaltung Innere Sicherheit Initiative Frieden und Menschenrechte Inoffizieller Mitarbeiter Kreisdienststelle Komitet do Spraw Bezpieczenstwa Publicznego (Komitee für Öffentliche Sicherheit, Polen)

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KMK KOR KPČ KSZE MBP MdI MfNV MfS MSW MSZ NKFD NKWD OG OibE PK PKE POZW PPR PS PZPR RGW SDP SFRJ SfS SKK SNB SOUD StEG WIP WOP ZA ZAIG ZKG

Abkürzungsverzeichnis

Kreismeldekartei Komitet Obrony Robotników (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter, Polen) Kommunistische Partei der Tschechoslowakei Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa Ministerstwo Bezpieczeństwa Publicznego (Ministerium für Öffentliche Sicherheit, Polen) Ministerium des Innern Ministerium für Nationale Verteidigung Ministerium für Staatssicherheit Minister Spraw Wewnętrznych (Ministerium für Innere Angelegenheiten, Polen) Ministerstwo Spraw Zagranicznych (Außenministerium, Polen) Nationalkomitee „Freies Deutschland“ Narodny kommissariat wnutrennich del (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, Sowjetunion) Operativgruppe Offizier im besonderen Einsatz Polit-Kulturorgane Passkontrolleinheit Politisch-operatives Zusammenwirken Polska Partia Robotnicza (Polnische Arbeiterpartei) Pohraniční stráž (Grenzschutz, Tschechoslowakei) Polska Zjednoczona Partia Robotnicza (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei, Polen) Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Sozialdemokratische Partei, DDR Socijalistička Federativna Republika Jugoslavija (Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien) Staatssekretariat für Staatssicherheit Sowjetische Kontrollkommission Sbor národni bezpečnosti (Korps der Nationalen Sicherheit, Tschechoslowakei) System der vereinigten Erfassung von Daten über den Gegner Strafrechtsergänzungsgesetz Wolność i Pokój (Freiheit und Frieden, Polen) Wojska Ochrony Pogranicza (Polnische Grenzschutztruppen) Zollabwehr (MfS) Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Zentrale Koordinierungsgruppe

Quellen- und Literaturverzeichnis Archivquellen Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) Bestand HA II Bestand HA VI Bestand HA VII Bestand HA IX Bestand Ast. Chemnitz Bestand Ast. Dresden Bestand ZA Bestand ZAIG Brandenburgisches Landeshauptarchiv in Potsdam (BLHA) Bestand Landratsamt Guben/Frankfurt (Oder) Archiv des Außenministeriums in Warschau, Polen (Archiwum Ministerstwa Spraw Zagranicznych, MSZ) Katalogisierte Bestände Bestand Z-2-6 Bestand Z-2-4 Bestand Z-3 Bestand Z-10 Bestand Z-23 Nicht katalog. Bestand Bestand (7/58) DDR Archiv Neuer Akten in Warschau, Polen (Archiwum Akt Nowych, AAN) Bestand Ministerium für Öffentliche Verwaltung (Ministerstwo Administracji Publicznej) Archiv der Sicherheitskräfte des Ministeriums des Innern in Brno-Kanice, Tschechische Republik (Odbor archiv bezpečnostních složek Ministerstva vnitra, AMV) Bestand Landeskommandantur SNB Prag Bestand Organisation Innerer Angelegenheiten FMV Bestand 5. Grenzschutz-Brigade Cheb Bestand Grenzschutz-Hauptverwaltung

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Personenregister Beleites, Michael, 154f. Beneš, Edvard, 21f. Bierut, Bolesław, 26 Bley, Karlheinz, 103 Bohley, Bärbel, 151, 153f., 156 Bohley, Karl, 153f. Bohley, Peter, 153f. Bonhoeffer, Dietrich, 145 Brandt, Willy, 81, 113, 115, 131 Brasch, Thomas, 156 Breschnew, Leonid, 111f., 172 Carter, Jimmy, 144 Chelchowski, Hilary, 51 Churchill, Winston, 13f., 19–21 Cyrankiewicz, Józef, 43, 49–51, 54 Dubček, Alexander, 106 Dybowski, Stefan, 51 Falter, Reinhard, 154 Fischer, Kurt, 36 Fischer, Oskar, 173 Florin, Peter, 107 Fuchs, Helmut, 36 Fuchs, Jürgen, 155 Fuchs, Wolfgang, 102 Gartmann, Hermann, 64 Genscher, Hans-Dietrich, 170, 175 Gierek, Edward, 113, 145 Gomułka, Władysław, 48, 53f., 113 Gorbatschow, Michail, 151, 154, 169, 171–173, 183 Gottwald, Klement, 54 Grotewohl, Otto, 43, 49–51, 54

Haack, Rainer, 132 Hagen, Nina, 156 Havel, Václav, 157 Havemann, Robert, 155 Heidrich, Heinz, 162 Herschel, Hasso, 102, 132 Himmler, Heinrich, 28 Hitler, Adolf, 7, 21, 80, 148, 180 Hlavačka, Ludvík, 64 Honecker, Erich, 113, 133, 173, 177 Horn, Gyula, 170f., 173 Hübner, Eckehard, 147 Irrgang, Gunter, 132 Jahn, Roland, 147f., 156 Jankowski, Martin, 154 Jaruzelski, Wojciech, 144 Kennan, George F., 13 Knaier, Waltraud, 154 Kohl, Helmut, 170 Krenz, Egon, 170, 177 Kreyssig, Lothar, 87f. Kunert, Christian, 155 Kunze, Reiner, 156 Kuroń, Jacek, 145f., 149 Lampl, Julius, 162 Leonhard, Wolfgang, 34 Löffler, Wolfang, 103 Mansfeld, Klaus, 36 Matthes, Christian, 154 Mazowiecki, Tadeusz, 145 Mehlhorn, Ludwig, 119, 144–146, 151, 179

204

Michnik, Adam, 145, 149 Mielke, Erich, 84f., 100, 107f., 110, 135, 141 Mierendorff, Kay, 162 Mittag, Günter, 173 Mock, Alois, 170f. Modzelewski, Karol, 145f. Mothes, Jörn, 154 Németh, Miklós, 169f. Neubert, Ehrhart, 149, 152 Novotny, Antonín, 106 Pannach, Gerulf, 155 Pavel, Josef, 102 Pieck, Wilhelm, 41, 50f., 67, 71 Poppe, Gerd, 150 Pudelski, Joachim, 103 Rau, Heinrich, 51 Reich, Jens, 152 Roosevelt, Franklin D., 19f. Särchen, Günter, 87f. Schabowski, Günter, 177f. Schorlemmer, Friedrich, 146 Schütz, Albert, 103

Personenregister

Skubiszewski, Krzysztof, 175 Stalin, Josef W. (Dschugaschwili), 13, 19–21, 52, 66, 148 Stolpe, Manfred, 147 Stoph, Willy, 163 Streletz, Fritz, 143 Svoboda, Ludvík, 106 Templin, Wolfgang, 145f., 150f., 156 Thalbach, Katharina, 156 Timm, Karlemann, 154 Ulbricht, Walter, 34, 53, 68f., 74, 113f. Vogel, Wolfgang, 133 Wagner, Fritz, 103 Wałęsa, Lech, 139, 142 Weiß, Konrad, 150 Welsch, Wolfgang, 131f., 162 Wierblowski, Stefan, 51 Wilson, Woodrow, 13 Wojtyła, Karol, 88, 121 Wordel, Klaus, 103

Danksagung Dr. Jürgen Danyel, Dr. Jens Gieseke und Dr. Burkhard Olschowsky haben das Manuskript ganz oder teilweise gelesen und wichtige Verbesserungsvorschläge gemacht – herzlichen Dank dafür. Dr. Hans-Hermann Hertle und Dr. Gerhard Sälter haben mir noch in letzter Minute wichtige Hinweise gegeben. Großer Dank gilt Prof. Dr. Thomas Mergel, der dieses Buchprojekt unterstützt und die Veröffentlichung beim Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) mitgefördert hat. Auch möchte ich dem ZZF für die Aufnahme des Buches in seine Schriftenreihe „Zeithistorische Studien“ herzlich danken. Danken möchte ich weiterhin Prof. Dr. Dr. Gerhard Besier und Dr. Katarzyna Stokłosa sowie dem Sächsischen Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Michael Beleites, und Dr. Nancy Aris. Sie haben das Manuskript über seine Entstehungsphase hinaus begleitet, mir wertvolle Anregungen gegeben und sowohl Zuspruch als auch Kritik geäußert. Besonderer Dank gebührt auch Dr. Erich Sobeslavsky, der mir einen großen Teil seiner gesammelten MfS-Akten für diese Publikation zur Verfügung stellte. Herzlich danken möchte ich OStD i.R. Dieter Schmidt. Er hat das Manuskript vollständig gelesen und wichtige Korrekturen vorgenommen. Lucie Geiger M.A. hat mich bei der Quellenrecherche im Archiv der Sicherheitskräfte des Ministeriums des Innern in Brünn unterstützt und eine Vielzahl tschechischer Quellen ins Deutsche übersetzt – vielen Dank. Auch sei an dieser Stelle den zahlreichen Interviewpartnern, ArchivarInnen und Fotografen herzlich gedankt. Dr. Annelie Ramsbrock hat die Planung dieser Publikation sorgfältig vorbereitet und bis zur Drucklegung begleitet, Christine Bartlitz das Buch mit großem Sachverstand und viel Geduld lektoriert sowie den Drucksatz erstellt – die Zusammenarbeit mit beiden war mir eine große Freude.

ECK ART CONZE, K ATHARINA GAJDUKOWA , SIGRID KOCH-BAUMGARTEN (HG.)

DIE DEMOKR ATISCHE REVOLUTION 1989 IN DER DDR

1989, das Jahr des zivilgesellschaftlichen Aufbruchs in der DDR, begründet eine Zäsur in der neuen deutschen Geschichte. Die „demokratische“, „friedliche“ oder „nachholende“ Revolution beendete nicht nur die „moderne Diktatur“ der SED in Ostdeutschland, sondern auch die mit der „doppelten Staatsgründung“ 1945 bis 1949 entstandene deutsche Teilung – und damit in weiterer Perspektive einen langen „Sonderweg“ Deutschlands in Europa. Das Buch basiert auf einer Ringvorlesung an der Philipps-Universität Marburg, bei der sich Wissenschaftler und Zeitzeugen mit dem demokratischen Umbruch 1989 beschäftigt und nach Ursachen und Verlauf, nach Akteuren und ihren Zielen und nach Wirkungen der friedlichen Revolution gefragt haben, die sich in der Wiedervereinigung nicht erschöpfen. Der Sammelband mit Beiträgen renommierter Autoren, unter ihnen Konrad Jarausch, Martin Sabrow, Joachim Gauck und Werner Schulz zieht Bilanz und liefert dem Leser zugleich eine historische und politische Einordnung der nunmehr schon 20 Jahre zurückliegenden Ereignisse. 2009. 251 S. MIT 4 S/W-ABB. BR. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-20462-4

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Band 43:

Melanie Arndt

GESUNDHEITSPOLITIK IM GETEILTEN BERLIN 1948 BIS 1961 2009. 281 S. Gb. ISBN 978-3-412-20308-5

Band 44: José M. Faraldo, Paulina Gulińska-Jurgiel, Christian Domnitz (Hg.) EUROPA IM OSTBLOCK VORSTELLUNGEN UND DISKURSE (1945–1991) EUROPE IN THE EASTERN BLOC. IMAGINATIONS AND DISCOURSES (1945–1991)

2009. 639 S. Mit 5 s/w-Karten. Gb. ISBN 978-3-412-20416-7

Band 47:

Tobias Schulz

»SOZIALISTISCHE WISSENSCHAFT« DIE BERLINER HUMBOLDTUNIVERSITÄT (1960–1975)

2010. 328 S. Gb. ISBN 978-3-412-20647-5

Band 48:

Michael Lemke

VOR DER MAUER BERLIN IN DER OST-WEST-KONKURRENZ 1948 BIS 1961

2011. 753 S. Mit 150 s/w-Abb. auf Taf. Gb. ISBN 978-3-412-20672-7

Band 49:

Dominik Trutkowski

DER GETEILTE OSTBLOCK DIE GRENZEN DER SBZ/DDR ZU POLEN UND DER TSCHECHOSLOWAKEI

2011. 205 S. Mit 27 s/w-Abb. Gb. ISBN 978-3-412-20673-4

SZ733

2008. 407 S. Gb. ISBN 978-3-412-20029-9

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