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German Pages 388 [386] Year 2015
Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung
Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung. Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion
Gefördert mit Mitteln des Sonderforschungsbereiches »Kulturen des Performativen« der Freien Universität Berlin
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INHALT Einleitung ..................................................................................... 7
ZURÜCKNAHME ALS SELBSTREGULIERUNG GIORGIO AGAMBEN …………………………………………………………… 15 Regel und Leben ANDREAS HIEPKO .......................................................................... 27 Möglichkeiten, das Wort désœuvrement zu übersetzen SYBILLE KRÄMER .......................................................................... 39 Selbstzurücknahme. Reflexionen über eine medientheoretische Figur und ihre (möglichen) anthropologischen Dimensionen ROLF ELBERFELD .......................................................................... 53 „Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen“. Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme ELFIE MIKLAUTZ ............................................................................ 73 Spielräume des Unverfügbaren: Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern RÜDIGER ZILL ............................................................................... 95 Kaltes Herz und kühler Kopf. Coolness und andere Formen der Affektökonomie
DIE KUNST DER ASKESE THOMAS MACHO .......................................................................... 115 Askese als kreative Strategie BARBARA GRONAU ....................................................................... 129 Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis BAZON BROCK ............................................................................. 147 Ästhetik des Unterlassens. Zur Geschichte des Nicht-Geschehenen: Intervento minimo AAGE A. HANSEN-LÖVE ................................................................ 167 Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit
FABIAN HEUBEL ........................................................................... 189 Ästhetik der Fadheit – Zur energetischen Ökonomie des Selbst IRMELA MAREI KRÜGER-FÜRHOFF .................................................. 207 Schreiben im „Hause der Regel“. Zögling, Commis und Dichter bei Robert Walser JOSEPH VOGL ............................................................................. 235 „Das Zaudern ist ein Suchlauf in der antwortförmigen Welt.“ Ein Gespräch über ökonomisches Wissen, Askese als Subjekttherapie und das Lachen Franz Kafkas ULRIKE DRAESNER ....................................................................... 249 Das Denkmal der Läuferin
DIE MACHT DER RESTRIKTION ALICE LAGAAY ............................................................................. 261 Die Kraft des Geheimnisses. Eine Spurensuche auf enigmatischem Terrain JULIANE SCHIFFERS ..................................................................... 285 Ökonomie und Individualität. Eine Metaphysik der Zurückhaltung mit Leibniz und Deleuze KRISTIANE HASSELMANN ............................................................... 313 Theater und Tabu. Aisthetische Grenzerprobungen an tabu-immanenten Markierungen KATJA ROTHE .............................................................................. 331 Nicht-Machen. Lassen! Zu Walter Benjamins pädagogischem Theater GUILLAUME PAOLI ........................................................................ 353 Wider das Projekt BLANDINE SCELLES …………………………………………………………. 361 Cleaning Behind the Scenes Autorinnen und Autoren ………………………………………………… 375 Verzeichnis der Abbildungen ..................................................... 383
Einleitung BARBARA GRONAU UND ALICE LAGAAY
Im Jahr 1987 bindet sich der Künstler Matthew Barney in seinem Atelier elastische Gummibänder um die Oberschenkel und versenkt diese im Fußboden. Unter großer Kraftanstrengung erklimmt er die Atelierwände, um dort Zeichnungen und Markierungen auf die Wände zu setzen. In wechselnden Konstellationen, ausgestattet mit und eingeschränkt durch Schlittschuhe, Trampoline, Rutschen und Stützen, produziert der Künstler – manchmal vor einem Publikum, immer vor einer Kamera – Wand- und Tafelzeichnungen im Anrennen gegen die ihn zurückhaltenden Kräfte. Barneys mittlerweile sechzehnteilige Performance-Serie Drawing Restraint erzählt in exemplarischer Weise von der Krise des freien, aus der schöpferischen Fülle agierenden Künstlersubjekts. An die Stelle der kreativen Verausgabung ist hier die freiwillige Selbstbehinderung „durch eine Batterie von Zwangsinstrumenten“1 getreten, die Barney dem sportlichen resistance training entlehnt hat. Das dort zugrunde liegende Prinzip der Hypertrophie, das heißt der Zunahme des Muskelgewebes durch starke Belastung,2 wird nun in den Bereich der Kunst übertragen, um nicht mehr die Fleischfasern, sondern das Œuvre wachsen zu lassen. Im Laufe seiner Karriere hat Barney mit der Steigerung, ja Überbietung physischer Bewegungsnormen durch Techniken der Zurückhaltung ein überbordendes Narrativ geschaffen, das den Raum des Ateliers zugunsten großer Kino- und Museumssäle verlassen hat.3 Damit steht der künstlerische Prozess des Produzierens und Darstellens im Zeichen einer Ökonomie der Zu-
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Nancy Spector: In Potentia – Matthew Barney und Joseph Beuys, in: all in
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the present must be transformed. Matthew Barney und Joseph Beuys, Ausst.-Kat. Deutsche Guggenheim Berlin, 2006, S. 15-55, S. 17. Vgl. dazu Matthew Barney: Drawing Restraint, Vol. I, 1987-2002, hg. von
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Hans Ulrich Obrist, Köln 2005, S. 87. Vgl. dazu Matthew Barney: Prayer Sheet With The Wound And The Nail, Ausstellung im Schaulager Basel vom 12.06. bis 3.10.2010, gleichnamiger Katalog in der Reihe Schaulager-Hefte, Basel 2010.
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Barbara Gronau und Alice Lagaay rückhaltung, bei der durch Restriktion eine Produktion in Gang gesetzt wird. Der vorliegende Band widmet sich kulturellen, ästhetischen und politischen Formen der Zurückhaltung. Er stellt eine Weiterführung und Vertiefung unserer 2006 begonnenen Überlegungen zu den ‚Kehrseiten‘ des Performativen, also dem Anteil des Passiven am Zustandekommen sozialer Wirklichkeiten, dar.4 Während unsere Kritik am gelingensfixierten Performanzverständnis zunächst dazu führte, nach Effekten von Handlungsnegationen zu fragen, richtet sich die Perspektive nun auf Handlungsrestriktionen, also auf die Bedingungen und Mechanismen, denen jedes Handeln unterworfen ist, wenn es auf innere oder äußere Widerstände, auf Grenzen und Beschränkungen trifft. Welche Kräfte werden durch Abstinenz, Diskretion, Reserviertheit und Beschränkung aufgerufen? Was fasziniert an der Idee der (Selbst-)Restriktion? Welche Möglichkeiten und Herausforderungen stellen sich ein, wenn Handlung nicht nur als ein freiwilliges, affirmatives Tun begriffen wird, sondern als Ergebnis eines komplexen Zusammenhangs von Sich-selbst-Zurückhalten (SichMäßigen, Zaudern oder Zögern) und Zurückgehalten-Werden (Nichtkönnen, Nichtdürfen)? Um die Rolle der Zurückhaltung für den Spielraum kulturellen Handelns sinnvoll zu sondieren, folgen wir einer doppelten Perspektive. Sie umfasst zunächst die innere oder selbst auferlegte Zurückhaltung, wie sie sich seit mehr als zweitausend Jahren in Praktiken der Askese ausbildet. Mit der selbst gewählten Entsagung, dem Verzicht oder der Enthaltsamkeit streben Asketen – aus religiösen oder ‚innerweltlichen‘ Motiven – nach dem Absoluten. Das Ziel asketischer Praxis ist die Freiheit von weltlichen Begierden, profanem Leiden, der Angst, letztlich dem Tod. In der antiken Wurzel des Begriffes Askesis liegt darüber hinaus die Bedeutung der Übung und Bearbeitung. Askese ist – in der Formulierung Michel Foucaults – eine „Technologie des Selbst“,5 das heißt ein ästhetisches Programm, das auf die Bearbeitung, ja Erschaffung eines Selbst durch eine Reihe von „Anthropotechniken“6 ausgerichtet ist. Damit ist Askese ein kultureller Schlüsselhabitus, dessen ökonomischer Grundmodus sich als Produktion qua Negation beschreiben lässt. Neben der selbstgewählten Zurückhaltung gilt es, das Zurückgehaltenwerden in den Blick zu nehmen, das in Restriktionen oder 4
Vgl. Barbara Gronau/Alice Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien 2008.
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Vgl. Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 280-317. Vgl. Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik,
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Frankfurt a. M. 2009.
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Einleitung Einschränkungen kulturell und politisch wirksam wird. Gleich, ob es sich dabei um manifeste Materialisationen von Macht oder um komplexe Regularien wie Verbote, Geheimnisse oder Tabus handelt, um ihre Wirkungsmechanismen verstehen zu können, scheint es geboten, die subjektzentrierte Perspektive und damit den Bereich intentionaler Handlungslogik ein Stück weit zu verlassen, denn Restriktionen sind stets eingebettet in das Zusammenspiel von Macht und Gegenmacht, Techniken und Möglichkeiten, Einzelnem und Kollektiv. Im Zurückgehaltenwerden zeigt sich das Ökonomische mithin weniger als Verzicht, denn vielmehr in Form eines Regulierungswissens bzw. Dispositivs, das man mit Giorgio Agamben als „Ineinander von Praktiken, Kenntnissen, Maßnahmen und Institutionen“ bezeichnen kann, „deren Ziel es ist, das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu regieren, zu kontrollieren und in vorgeblich nützliche Richtungen zu lenken.“7 Der vorliegende Band fragt deshalb nicht nur nach kulturellen, ästhetischen und ethischen Handlungsrestriktionen, sondern ebenso nach möglichen Spielräumen, die jede Zurückhaltung in ihrer Dialektik aus Abstinenz oder Verbot bereithält. Auf eindrückliche Weise hat wohl die antike Figur des Odysseus von diesem Spielraum Gebrauch gemacht. Odysseus unterwirft sich der Macht der verführerischen Sirenen, indem er seinem Wunsch nachgibt, ihren Gesang zu hören. Zugleich bricht er ihre Macht in einem Akt der (Selbst-) Fesselung, den man als List der freiwilligen Selbstverkleinerung beschreiben kann. Er „tut der Rechtssatzung Genüge derart, dass sie die Macht über ihn verliert, in dem er ihr diese Macht einräumt“8: Ob Odysseus mit seinem Listenreichtum ein Vorbote des kalkulierenden homo oeconomicus ist – wie Horkheimer und Adorno dies suggeriert haben – oder nicht vielmehr ein wandlungsfähiger Trickster, ist wohl eine Frage der Perspektive. Unbestritten bleibt, dass die Kunst der Zurückhaltung das Potential hat, Macht zu desavouieren.
Zu den Beiträgen Der vorliegende Band versammelt Beiträge aus der Philosophie, der Kulturwissenschaft, den Sprach-, Literatur,- Theater- und Kunstwissenschaften und wird darüber hinaus durch eine Erzählung der Schriftstellerin Ulrike Draesner und ein Bildessay der Performerin Blandine Scelles bereichert. Zusammen vermessen die Texte ein
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Giorgio Agamben: Was ist ein Dispositiv?, Zürich/Berlin 2008, S. 24. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1973, S. 55.
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Barbara Gronau und Alice Lagaay diskursives Feld, dessen Eckpfeiler Begriffe wie Abstinenz, Diskretion, Reserviertheit und Beschränkung bilden. Sie lassen sich im weitesten Sinne drei interferierenden Perspektiven zuordnen: der Zurückhaltung als Form der Selbstregulierung, der Askese als Kunst und Selbsttechnik und der Restriktion als Ausdruck von Machtverhältnissen. Die erste Sektion wird eröffnet mit einem Originalbeitrag des italienischen Philosophen GIORGIO AGAMBEN, der anhand christlicher Klosterregeln aus dem 4. und 5. Jahrhundert untersucht, wie Leben, Regel und Gemeinschaft auf paradoxe Weise miteinander verbunden werden. Entlang der Fragen ‚Was ist eine Regel, wenn sie scheinbar restlos mit dem Leben verschmilzt? Und was ist ein Menschenleben, wenn es sich nicht mehr von der Regel unterscheidet?‘ zeichnet der Autor einen tiefgreifenden Wandel im menschlichen Verständnis von Recht, Politik und Ethik nach. Im Anschluss daran diskutiert ANDREAS HIEPKO anhand des französischen Begriffes désœuvrement grundlegende Aspekte der Zurückhaltung. Das vom Autor entfaltete Spektrum möglicher Bedeutungen reicht von ‚Untätigkeit, Nichtstun, Müßiggang‘ über ‚freie Zeit‘ bis zum ‚untätigen Schurken‘ und markiert damit Zustände an den Grenzen des Ökonomischen. Im darauf folgenden Beitrag zeigt SYBILLE KRÄMER mit dem Topos des ‚sterbenden Boten‘ als Inbegriff der Selbstzurücknahme Wege zu einer neuen Medientheorie. Mit der Idee der Selbstzurücknahme geht eine kulturelle Prämierung der Übertragung, Übersetzung und Vermittlung einher, die zu einem Selbst- und Weltbild führt, bei dem die Fähigkeit, nicht im eigenen Namen sondern mit der Stimme anderer sprechen zu können, zur grundständigen Bedingung menschlicher Daseinsweisen gerinnt – einschließlich der Fallstricke, die das birgt. Im Beitrag ROLF ELBERFELDS wird die Frage nach der Selbstzurücknahme aus der Perspektive interkulturellen Philosophierens aufgegriffen. Im Vergleich europäischer und asiatischer Denktraditionen markiert der Autor eine wesentliche Differenz zwischen der europäisch geprägten Selbstzurücknahme, deren Ziel darin besteht, sich von den weltlichen Bewegungen zu befreien, und den asiatischen Diskursen und Übungen, die Zurücknahme als immanente Befreiung für die Welt verstehen. Im Anschluss an die entlang der japanischen Literatur argumentierenden Perspektive Elberfelds wendet sich der Beitrag von ELFIE MIKLAUTZ der Frage nach differierenden Stilen der Selbstzurücknahme im Bereich der klassischen Musik zu. Ihre Ausführungen zu Glenn Gould, Martha Argerich und Sergiu Celibidache markieren ein SichZurücknehmen, das sich nicht als Mangel manifestiert, sondern die Bedingung der Möglichkeit ist, Spielräume des Unverfügbaren zu eröffnen. Auch der Beitrag von RÜDIGER ZILL sondiert das Feld der
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Einleitung Selbstzurücknahme aus der Perspektive von Selbstinszenierungen. Dazu verbindet der Autor die westliche Kulturgeschichte der Affektökonomie in der antiken Philosophie mit den Hollywoodhelden (Humphrey Bogart) und Kultfiguren des französischen film noir (Alain Delon), um so den Inszenierungen, Gesten und Codes des Cool auf die Spur zu kommen. Die zweite Sektion des Bandes zur Kunst der Askese wird mit einem Beitrag von THOMAS MACHO eröffnet, der in einem kulturgeschichtlichen Abriss zwei zentrale Motive asketischer Praktiken und Diskurse – die Selbstverdopplung und die Heterotopie – aufzeigt und diese in den Schreibszenen und Filmarbeiten Samuel Becketts wiederfindet. Auch im Mittelpunkt des darauffolgenden Beitrags von BARBARA GRONAU stehen künstlerische, genauer gesagt theatrale Inszenierungen von Askese. Entlang zahlreicher Beispiele, die von der historischen Hungerkunst bis zur zeitgenössischen Performance-Art reichen, verfolgt die Autorin den kreativen Einsatz asketischer Praktiken zwischen Normierung und Normbruch. Unter dem Motto „Konvent der goldenen Essstäbchen“ plädiert schließlich BAZON BROCK im spielerischen Rückblick auf seine künstlerischen Arbeiten der letzten dreißig Jahre für eine Praxis des Unterlassens, die als letzte humanistische Geste der Gegenwart gelten kann. Der daran anschließende Beitrag von AAGE HANSEN-LÖVE zeichnet anhand des Œuvres Kazimir Malevičs die enge Verflechtung von Kunst- und Ökonomiediskurs in der russischen Avantgarde nach. Malevičs Ökonomie der Zurückhaltung verläuft nicht nur entlang des sparsamen Einsatzes seiner Mittel, der Reduktion des Ausdrucks ins Abstrakte und der Transzendierung der Alltagswelt im Suprematismus, sondern übt schließlich mit einer spielerischen Apotheose der Faulheit Kritik am utilitaristischen Kunstverständnis des postrevolutionären Russland. Die Rede vom ‚Energetischen‘, wie sie Malevičs Theorien durchzieht, steht auch im Mittelpunkt des Beitrages von FABIAN HEUBEL. Der Autor zeigt in detaillierten Analysen chinesischer Schreibkunst und Malerei, wie sich die ästhetische Erfahrung von Prozessen des Energiewandels zwischen der Welt des FormhaftKörperlichen und des Formlos-Geistigen in einer Ästhetik der Fadheit niederschlägt. Mit dem daran anschließenden Beitrag von IRMELA MAREI KRÜGER-FÜRHOFF wendet sich die Diskussion über die Ökonomien der Zurückhaltung schließlich modernen literarischen Verfahren zu. Im Werk Robert Walsers erkennt die Autorin eine Prosa, die vom intrikaten Spiel zwischen der Unterwerfung unter fremde Regeln und deren Unterlaufung geprägt ist und deren ‚Helden‘ als Prototypen asketischer Schreibpraxis gelten können. In dem darauf folgenden Interview mit JOSEPH VOGL verläuft die Frage nach der Zurückhaltung als poetischem Verfahren entlang verschiedener
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Barbara Gronau und Alice Lagaay Stile und Formen des Zauderns, wie sie sich exemplarisch im Werk Franz Kafkas finden. Die Bedingungen und Effekte der Kafkaschen Zurückhaltung werden dabei nicht nur in ihrem ethischen, sondern auch in ihrem komischen Moment greifbar. Als Antwort auf Kafkas asketische Volten erzählt schließlich die Schriftstellerin ULRIKE DRAESNER in ihrem Text „Das Denkmal der Läuferin“ von einem Körper, der mühelos über die Grenze des Menschlichen hinaus läuft. Die dritte Sektion zum Verhältnis von Restriktion und Macht wird von ALICE LAGAAYS Überlegungen zur Kraft des Geheimnisses eröffnet. Ausgehend von Georg Simmel und Jacques Derrida hebt die Autorin die gesellschaftliche Produktivität des Geheimnisses hervor und verweist auf dessen strukturbedingte Ambivalenz, nach der das Geheimnis im Augenblick seines Erscheinens verschwindet. Im Anschluss formuliert JULIANE SCHIFFERS in Auseinandersetzung mit der Philosophie Leibniz’ und Deleuzes eine Metaphysik der Zurückhaltung, nach der sich Individualität nicht nur in wahrnehmbaren, willentlichen Akten zeigt, sondern auch in den auf der Ebene der Potentialität wirksamen Restriktionen und Hemmungen, Unvollkommenheiten und Passivitäten. Mit dem Beitrag von KRISTIANE HASSELMANN steht dann ein anderes wirksames Regulativ im Zentrum der Überlegungen: das Tabu. Anhand zweier Inszenierungen aus der Theater- und Performancekunst zeigt die Autorin, wie künstlerische Grenzerprobungen Normen und Tabuisierungen in Frage zu stellen vermögen. Dass der Gestus der Zurückhaltung auch ein wertvolles pädagogisches Prinzip sein kann, zeigt KATJA ROTHE in ihrem Beitrag zu Walter Benjamins Hörstück „Radau um Kasperl“. Unter Rückgriff auf den Begriff des ‚Afformativen‘ verweist die Autorin auf eine Anti-Ökonomie der Zurückhaltung, die ihren Wert weniger im Machen als vielmehr im Lassen findet. Auch GUILLAUME PAOLI, Hausphilosoph am Leipziger Centraltheater, trägt in seiner subversiven Lobrede auf die Demotivation eine Fülle von Gedankenfiguren des Lassens zusammen, die der Autor gegen die herrschenden Grammatik des Projektemachens ins Feld führt. Denn ‚auch Trägheit‘, wie er sagt, ‚ist eine Kraft‘. Am Schluss des Bandes schickt uns BLANDINE SCELLES durch eine monologische Meditation über die Tätigkeit des Putzens und gibt damit Einblicke in die Denk- und Arbeitsweise einer Performancekünstlerin, die als ‚cleaning artist‘ praktische Zurückhaltung aufführt und damit alle Blicke auf sich zieht. Der vorliegend Sammelband dokumentiert in wesentlichen Teilen das gleichnamige internationale Symposium, das am 21. und 22. November 2008 als Abschluss des von der Kulturstiftung des Bun-
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Einleitung des geförderten Theaterfestivals Palast der Projekte© – Zum Verhältnis von Theater und Ökonomie9 im Berliner Hebbel am Ufer stattfand. Unser erster Dank gilt deshalb Matthias Lilienthal und den Kollegen vom Hebbel am Ufer sowie Erika Fischer-Lichte und den Kollegen vom Sonderforschungsbereich „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin, die auf eindrückliche Weise unsere Kooperation zwischen Theater und Wissenschaft unterstützt haben. Unser Dank geht darüber hinaus an Stefanie Wenner, Mieke Matzke, Hannes Kuch, Steffen Kitty Herrmann und Ludger Schwarte für ihre Moderationsarbeit während des Symposiums und an Konrad Bach, Alexander Heil und Sarah Ralfs für ihre organisatorische Unterstützung. Ohne die redaktionelle Hilfe am Manuskript, die uns Gero Wierichs, Christian Struck, Caroline Gutberlet und Max Zeitler zukommen ließen, wäre der vorliegende Band nicht möglich gewesen. Ihnen gilt unser herzlicher Dank. Schließlich möchten wir uns bei allen Autorinnen und Autoren dafür bedanken, dass sie sich trotz des weiten diskursiven Feldes nicht zurückgehalten, sondern uns mit beeindruckenden Texten beschenkt haben.
Literatur Agamben, Giorgio: Was ist ein Dispositiv?, Zürich/Berlin 2008. Barney, Matthew: Drawing Restraint, Vol. I, 1987–2002, hg. v. Hans Ulrich Obrist, Köln 2005. – Prayer Sheet With The Wound And The Nail, Ausstellung im Schaulager Basel vom 12.06. bis 3.10.2010, gleichnamiger Katalog in der Reihe Schaulager-Hefte, Basel 2010. Foucault, Michel: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007. Gronau, Barbara/Alice Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien 2008. Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1973. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009. Spector, Nancy: In Potentia – Matthew Barney und Joseph Beuys, in: all in the present must be transformed. Matthew Barney und Joseph Beuys, Ausst.-Kat. Deutsche Guggenheim Berlin, 2006, S. 15–55.
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Palast der Projekte© – Zum Verhältnis von Theater und Ökonomie, Theaterfestival vom 17. bis 30. April 2008 im Hebbel am Ufer, kuratiert von Barbara Gronau und Jutta Wangemann, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes, dokumentiert unter http://www.hebbel-am-ufer.de/archiv_de/kuenstler/ kuenstler_11971.html (Stand: 01.05.2010).
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Regel und Leben GIORGIO AGAMBEN*
1. Zwischen dem 4. und 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung erleben wir das Aufkommen einer besonderen Literaturform, die – zumindest auf den ersten Blick – keine Vorläufer in der Antike zu haben scheint: den Klosterregeln. Das gesamte Konvolut der traditionell unter dieser Kategorie subsumierten Texte ist, jedenfalls was ihre Form und Präsentation betrifft, derart heterogen, dass sie sich nur unter unterschiedlichsten Titeln im Incipit der Handschriften resümieren lassen: vitae – vita vel regula – regula – horoi kata platos – peri tes askeseos ton makarion pateron – instituta coenobiorum – praecepta – praecepta atque instituta – statuta patrum – ordo monasterii – historiae monachorum – asketikai diataxeis usw. Und selbst wenn wir uns an eine enger gefasste Definition des Begriffs halten, so wie sie dem Codex regularum monasticarum et canonicarum zugrunde liegt, einer Sammlung von circa 25 Klosterregeln, die Benedikt von Aniane zu Beginn des 9. Jahrhunderts zusammenstellte, die Vielfalt der Texte könnte nicht größer sein. Das gilt nicht nur in Hinblick auf den Umfang (von der Regula Magistri mit ihren knapp 300 Seiten bis zur Augustinusregel und der Zweiten Regel der Väter, die wenige Seiten umfassen) und die Präsentation (Fragen und Antworten – erotapokriseis – zwischen Mönchen und Meister bei Basilius; unpersönliche Vorschriftensammlung bei Pachomius; das Protokoll einer Versammlung von Klosterleitern1), sondern vor allem in Hinblick auf den Inhalt, der von Fragen über die Auslegung der Heiligen Schrift oder die geistliche Erbauung der Mönche bis zur nüchternen oder minutiösen Aufzählung von Vorschriften und Verboten variieren kann. Hierbei handelt es sich nicht, zumindest auf den ersten Blick, um juridische Werke, obwohl sie das Leben einer Grup* 1
Übersetzung aus dem Italienischen: Caroline Gutberlet, Berlin Die Regula quattuor patrum (R4P); dt. „Regel der vier Väter“, in: Michaela Puzicha: Die Regeln der Väter. Vorbenediktinische lateinische Regeltradition, Münsterschwarzach 1990, S. 41-53.
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Giorgio Agamben pe von Individuen – häufig bis ins kleinste Detail und durch präzise Sanktionen – zu regeln vorgeben; auch nicht um historische Berichte, obwohl sie zum Teil einfach nur die Lebensweise und die Bräuche der Mitglieder einer Gemeinschaft wiederzugeben scheinen; und auch nicht um Hagiographien, obwohl sie zum Teil mit dem Leben eines Heiligen oder der Gründungsväter so stark vermengt sind, dass sie wie ein Mitschnitt ihres Lebens als exemplum oder eine forma vitae daherkommen (in diesem Sinne konnte Gregor von Nazianz sagen, dass Athanasius’ Werk über das Leben des Antonius „eine Gesetzgebung – nomothesia – des Mönchslebens in narrativer Form – en plasmati diegeseos“ sei). Obwohl zweifellos der letzte Sinn und Zweck der Regeln die Errettung der Seele gemäß den Geboten des Evangeliums und die Feier des Gottesdienstes waren, sind sie keine literarischen oder kirchenpraktische Schriften, von denen sie sich ohne Polemik aber entschieden distanzieren. Sie sind schließlich keine hypomnemata oder Ethikübungen, wie die der Spätantike, die Michel Foucault untersucht hat; und dennoch besteht ihr Hauptanliegen gerade darin, das Leben und die Sitten der Menschen sowohl individuell als auch kollektiv zu lenken. Ziel der vorliegenden Untersuchung ist es zu zeigen, wie sich in diesen Texten, die ungleichartig und eintönig zugleich sind und deren Lektüre sich für den modernen Leser als sehr mühsam erweist, in einem vermutlich viel entscheidenderen Maße als in den juridischen, ethischen, kirchlichen oder historischen Schriften derselben Epoche ein Wandel vollzieht, der Recht und Ethik und Politik gleichermaßen tangiert und eine radikale Neuformulierung eben jener Begrifflichkeit impliziert, die bis zu diesem Zeitpunkt das Verhältnis zwischen menschlichem Handeln und Norm, ‚Leben‘ und ‚Regel‘ beschrieben hatte, ohne den die politische und ethisch-juridische Rationalität der Moderne undenkbar wäre. In diesem Sinne sind die Syntagmen vita vel regula – regula et vita – regula vitae nicht bloß ein Hendiadyoin, vielmehr beschreiben sie in der vorliegenden Untersuchung ein historisches und hermeneutisches Spannungsfeld, welches ein Überdenken beider Begrifflichkeiten erfordert. Was ist eine Regel, wenn sie scheinbar restlos mit dem Leben verschmilzt? Und was ist ein Menschenleben, wenn es sich nicht mehr von der Regel unterscheidet?
2. Das vollkommene Verständnis eines Phänomens ist dessen Parodie. Im Jahr 1546 erzählt Rabelais in seiner Vie très horrifique du grand Gargantua (dt. Gargantua und Pantagruel) am Ende des Ersten Buches, wie Gargantua für den Mönch, mit dem die Protagonisten ihre
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Regel und Leben wenig erbaulichen Unternehmungen erlebt haben, zur Belohnung eine Abtei bauen lässt, die den Namen Thelema („Wille“ auf Griechisch) erhalten wird. Nach einer detaillierten Beschreibung der architektonischen Beschaffenheit des Gebäudes („[es] bildete ein Sechseck; an jeder Ecke befand sich ein großer runder Turm“2), der Anordnung der Zimmer, der Kleidung der Thelemiten und ihres Alters3 erläutert Rabelais, „wie die Lebensweise der Thelemiten geregelt war“4, und zwar in einer Form, die, wie nur allzu offensichtlich ist, nichts anderes als die Parodie einer Klosterregel sein kann. Und wie bei jeder Parodie wohnt man einer punktuellen Verkehrung des klösterlichen cursus, der gnadenlos vom Rhythmus der Stundenanzeiger und Stundengebete bestimmt wird, in ein, zumindest auf den ersten Blick, absolutes Fehlen von Regeln: „‚Und weil nach den bestehenden Ordensregeln alles begrenzt, abgemessen und nach Stunden eingeteilt ist, so dürfte es in dieser Abtei weder Uhr noch Sonnenuhr geben, sondern alles müsste nach Umständen und Bedürfnissen getan werden. Denn‘, sagte Gargantua, ,es gibt keine größere Zeitverschwendung, als die Stunden zu zählen. Wozu soll das nützen? Und auch nichts Törichteres gibt es, als sich vom Schlag der Glocke, statt von Verstand und Überlegung, leiten zu lassen.‘“5 „Eine bestimmte Lebensweise war ihnen durch Gesetze, Statuten oder Regeln nicht vorgeschrieben, sie ordneten sie ganz nach ihrem Willen und Belieben: standen auf, wann sie wollten, aßen und tranken, wann sie Appetit hatten, und arbeiteten oder schliefen, je nachdem sie die Lust dazu ankam. Niemals weckte sie jemand, ebenso wenig wie jemand sie zum Essen oder Trinken oder sonst wozu nötigte. So hatte Gargantua es bestimmt. Ihre ganze Ordensregel bestand aus einem einzigen Paragraphen, der lautete: TU, WAS DIR GEFÄLLT!“6
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„[E]n figure exagone, en telle façon que à chascun angle estoit bastie une grosse tour“; François Rabelais: Gargantua und Pantagruel, a. d. Franz. v. Ferdinand Adolf Gelbcke, Frankfurt a. M./Leipzig 1974, S. 172.
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Ebd., S. 170-179. Ebd., S. 180. „Et parce que ès religions de ce monde, tout est compassé, limité et reiglé par heures, feut decrété que là ne seroit horologe ny quadrant aulcun, mais selon les occasions et opportunitéz seroient toutes les œuvres dispensées; car (disoit Gargantua) la plus vraye perte du temps qu’il sceust estoit de compter les heures – quel bien en vient-il? – et la plus grande resverie du monde estoit soy gouverner au son d’une cloche, et non au dicté de bon sens et entendement.“ Dt. ebd., S. 170.
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„Toute leur vie estoit employée non par loix ou reigles, mais selon leur vouloir et franc arbitre. Se levoient du lict quand bon leur sembloit, beuvoient, mangeoient, travailloient, dormoient quand le désir leur venoit; nul le esveilloit, nul ne les parforceoit ny à boire ny à manger ny à faire chose
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Giorgio Agamben Es wurde behauptet, Thelema stelle „das Gegenteil aller bestehenden Klöster“ dar7; doch bei genauerem Hinsehen stellt man fest, dass es sich nicht einfach um eine Verkehrung der Ordnung in Unordnung und der Regel in Anomie handelt. Eine Regel existiert, selbst wenn sie zu einem einzigen Satz zusammengefasst ist, und hat einen Verfasser („So hatte Gargantua es bestimmt.“). Und das Ziel, das sie sich setzt – das Zönobium (koinos bios), die Vollkommenheit eines vollends gemeinschaftlichen Lebens (unanimes in domo cum iocunditate habitare, wie es in einer alten Klosterregel heißt) –, stimmt trotz der punktuellen Entledigung sämtlicher Pflichten und der bedingungslosen Freiheit jedes Einzelnen vollkommen mit demjenigen der Klosterregeln überein: „Diese Freiheit feuerte sie zu löblichem Wetteifer an, nur immer das zu tun, was den anderen angenehm war. Sagte einer oder eine: Lasst uns trinken, so tranken sie alle; sagte er: Lasst uns spielen, so spielten sie alle; sagte er: Lasst uns spazierengehen, so gingen sie alle spazieren.“8
Die Kurzfassung der Klosterregel ist im Übrigen keine Erfindung von Rabelais, sondern geht auf den Verfasser einer der ersten Klosterregeln zurück, nämlich auf Augustinus, der in seinen Vorträgen über das Johannes-Evangelium die Regel für das christliche Leben auf die genuin Gargantua’sche Kurzformel brachte: dilige et quod vis fac – „Liebe und tu, was du willst“. Dies entspricht darüber hinaus punktuell der Lebensweise jener Mönche, die gemäß einer von Cassian begründeten Tradition verächtlich Sarabaiten genannt wurden und die nur eine Regel kannten: „Die Befriedigung ihrer Gelüste dient ihnen als Gesetz [pro lege eis est desideriorum voluntas]“.9 Die komisch anmutende Rabelais’sche Parodie ist folglich absolut ernst gemeint: Das Leben in der Gemeinschaft, das restlos mit der Regel gleichgesetzt wird, setzt sie außer Kraft und beseitigt sie.
aultre quelconque. Ainsi l’avoit estably Gargantua. En leur reigle n’estoit 7 8
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que ceste clause: FAY CE QUE VOULDRAS“. Dt. ebd., S. 180. Vgl. Lucien Febvre: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, Stuttgart 2002, S. 145. „Par ceste liberté entrèrent en louable émulation de faire tous ce que à un seul voyoient plaire. Si quelqu’un ou quelcune disoit: ,beuvons‘, tous beuvoient; si disoit: ,jouons‘, tous jouoient; si disoit: ,Allons à l’esbat ès champs‘, tous y alloient.“; Rabelais: Gargantua und Pantagruel, S. 180. Benediktusregel, Kapitel 1: Von den verschiedenen Arten von Mönchen, in: Hans Urs von Balthasar (Hg.): Die Großen Ordensregeln, Zürich/Köln 21961, S. 187-259, S. 191.
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Regel und Leben
3. Im Jahr 1785 schrieb Donatien Alphonse de Sade in seiner Gefängniszelle in der Pariser Bastille in nur zwanzig Tagen in Miniaturschrift auf einer zehn Meter langen Papierrolle das nieder, was viele für sein Meisterwerk halten: Les 120 journées de Sodome10. Der Plot ist bekannt: Am 1. November eines nicht genannten Jahres gegen Ende der Regentschaft von Ludwig XIV. schließen sich vier mächtige und wohlhabende Frevler – der Herzog von Blangis, sein Bruder der Bischof, der Präsident von Curval und der Finanzier Durcet – mit 42 Opfern im Schloss Silling ein, um eine Orgie zu feiern, die absolut maßlos und dennoch bis ins Kleinste zwanghaft reglementiert ist. Auch hier diente ohne jeden Zweifel die Klosterregel als Modell; doch während bei Rabelais das Paradigma direkt angesprochen (Thelema ist eine Abtei) und punktuell negiert oder ins Gegenteil verkehrt wird (keine Uhren, keine Zeitabschnitte, kein vorgeschriebenes Verhalten), unterliegt in Silling, das ein Schloss und keine Abtei ist, die Zeiteinteilung einem strengen Ritual, das an den unfehlbaren Ordo des Klosteroffiziums erinnert. Nachdem sich die vier Freunde in das Schloss eingeschlossen, ja sogar eingemauert haben, verfassen und verkünden sie die ‚Bestimmungen‘, die ihr Leben in der Gemeinschaft regeln sollen. Nicht nur, dass wie im Kloster jeder Augenblick des ‚Zönobiums‘ festgelegt, die Abfolge des Wachseins und Schlafens vorgegeben und die gemeinsamen Mahle und ‚Zeremonien‘ genauestens vorprogrammiert sind, selbst der Stuhlgang der Jünglinge und Mädchen unterliegt einer strengen Reglementierung. „Man wird täglich um 10 Uhr morgens aufstehen“, so beginnt die Regel und parodiert die Abfolge der Stundengebete, „[…] – Um elf begeben sich die Freunde in das Appartement der jungen Mädchen […]. Von zwei bis drei Uhr wird an zwei Tafeln gleichzeitig diniert, […]. Nach dem Souper begibt man sich in den Versammlungssaal“ (die synaxis oder collecta oder der conventus fratrum in der Klosterterminologie), „wo die Orgien gefeiert werden“ (das gleiche Wort [griech./lat. orgia] wird in den Klosterregeln für die Gebetsdienste verwendet).11 Der lectio der Heiligen Schrift (oder, wie in der Regula Magistri vorgeschrieben, der Regel) zu den Mahlzeiten und während der alltäglichen Verrichtungen der Mönche in den Klöstern entspricht hier 10 Donatien Alphonse de Sade: Die 120 Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung, a. d. Franz. v. Karl von Haverland, Köln 2006. 11 „On se lèvera toujours à dix heures du matin […] à onze heures les amies se rendront dans l’appartement des jeune filles […] de deux à trois heures on servira les deux premières tables […] en sortant du souper, on passera dans le salon d’assemblée pour la célébration de ce qu’on appelle les orgies.“ Dt. ebd., S. 63ff.
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Giorgio Agamben der rituelle Vortrag der vier Erzählerinnen La Duclos, La Champville, La Martaine und La Desgranges, die aus ihrem verruchten Leben erzählen. Dem grenzenlosen Gehorsam auf Leben und Tod der Mönche gegenüber dem Abt und den Vorstehern (oboedientia praeceptum est regulae usque ad mortem)12 entspricht die absolute Gefügigkeit der Opfer gegenüber den Wünschen der Herren, bis zu äußersten Torturen („Das geringste Lachen, der geringste Mangel an Aufmerksamkeit, Respekt oder Unterwürfigkeit ist eine der schwersten und am grausamsten bestraften Verfehlungen“13; genau so, wie die Klosterregeln Gelächter während der Versammlungen unter Strafe stellten: Si uero aliquis depraehensus fuerit in risu […] iubemus […] omni flagello humilitatis coherceri14 – Si autem viderit fratrem satis promptum in risum, moneat eum praesens praepositum15). Damit wird, wie in Thelema, das ideale Zönobium als Parodie erhalten (ja überspitzt); doch während das Leben in der Abtei, wo das Vergnügen zur Regel erhoben wurde, letztere schließlich abschaffte, kann in Silling das Gesetz, indem es in allen Punkten mit dem Leben gleichgestellt wird, dieses am Ende nur zerstören. Obwohl das klösterliche Zönobium als etwas Immerwährendes gedacht ist, verlassen die vier Frevler nämlich, nachdem sie das Leben ihrer Lustobjekte geopfert haben, schon nach fünf Monaten fluchtartig das halb ausgestorbene Schloss und kehren nach Paris zurück.
4. Dass sich aus dem klösterlichen Ideal, welches als individuelle und solitäre Weltflucht entstanden war, ein rein gemeinschaftliches Lebensmodell entwickelte, mag überraschend sein. Dennoch, nachdem Pachomius das anachoretische Modell entschieden zurückgewiesen hatte, wurde der Begriff monasterium im Gebrauch mit Zönobium gleichgestellt und die Etymologie, die auf ein Leben als Einsiedler verweist, so stark verändert, dass in der Magisterregel monastisch als Übersetzung für zönobitisch unterbreitet und mit der
12 Regula monachorum (Mönchsregel), in: PL 87, 1115B. 13 „le moindre rire, ou le moindre manque d’attention ou respect ou de soumission dans les parties de débauche sera une des fautes les plus graves et les plus cruellement punies“; de Sade: Die 120 Tage von Sodom, S. 69. 14 R4P 5, 4-6: „Wird aber einer bei Gelächter […] ertappt, […] ordnen wir an, dass er […] gezüchtigt werde durch jegliche demütigende Strafe“, in: Puzicha: Die Regeln der Väter, S. 53. 15 RM 11, 75: „Wenn er aber einen Bruder sieht, der recht leicht zum Lachen neigt, dann soll ihn der anwesende Dekan ermahnen“, in: Karl Suso Frank (Hg./Übers.): Die Magisterregel, St. Ottilien 1989, S. 147.
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Regel und Leben Glosse militans sub regula vel abbate16 versehen werden konnte. Schon die Große Mönchsregel, die Basilius verfasste, warnte vor den Gefahren und der Selbstsucht eines einsamen Lebens in der Abgeschiedenheit: „Dies widerspricht offenbar dem Gesetz der Liebe [machomenon toi tes agapes nomoi]“17. Und einige Zeilen weiter heißt es: „Denn weder können wir im Geschiedensein mit dem Verherrlichten uns freuen noch mit dem Leidenden mitleiden (1 Kor. 12,26), da ja niemand um den Zustand des anderen wissen kann.“18 Im gemeinsamen Leben (en tei tes zoes koinoniai) hingegen wird die jedem verliehene Gabe zum Gemeingut der Genossenschaft (synpoliteuomenon), und darum muss im gemeinsamen Leben die einem Einzelnen verliehene Wirksamkeit (energeia) des Heiligen Geistes zugleich auf alle übergehen.19 „Wer aber abgesondert für sich lebt, der macht die Gnadengaben, die er vielleicht empfangen hat, durch Nichtgebrauch [dia tes argias] nutzlos, indem er sie in sich vergräbt [katoryxas en heauto].“20 Während zu Beginn der Regula quattuor patrum „die Öde der Wüste und der Schrecken vor den verschiedenen Ungeheuern“ beschworen werden, um von der Einsamkeit abzuraten, wird unmittelbar darauf mit Verweisen auf die Heilige Schrift das Zönobium begründet mit der Freude und Einmütigkeit des gemeinschaftlichen Lebens: Volumus ergo fratres unanimes in domo cum jucunditate habitare.21 Der vorübergehende Ausschluss von der Gemeinschaft (excommunicatio)22 war die Strafe par excellence, während der Austritt aus dem Kloster (ex communione discendere) der Macarius-Regel zufolge bedeutete, dass die Betreffenden in die „äußerste Finsternis“ gingen (in exteriores ibunt tenebras).23 Noch bei Theodoros Studites wird das Zönobium mit einem Paradies verglichen (paradeisos tes koinobiakes zoes) und der Austritt aus diesem mit der Erbsünde Adams gleichgesetzt. „Mein Sohn“, ermahnt er einen Mönch, der ein Einsiedlerleben führen möchte, „auf welche Weise hat dich der erzböse Satan aus dem Paradies des klösterlichmönchischen Lebens vertrieben wie den vom schlangengestaltigen Ammon verführten Adam aus dem Garten Eden?“ 24
16 RM 1, 2, d. h. die Mönche „kämpfen unter einer Regel und einem Abt“. 17 Aus der Großen Regel des Basilius, D. Vom Vorteil gemeinsamen Lebens, in: Balthasar (Hg.): Die Großen Ordensregeln, S. 33-134, S. 79. 18 Ebd., S. 80. 19 Ebd. 20 Ebd. 21 R4P 1, 8: „Daher wollen wir, dass die Brüder ,einmütig im Hause wohnen‘ mit Freude.“ (Puzicha: Die Regeln der Väter, S. 41) 22 R4P 5. 23 RMac 28, 6; dt. in Puzicha: Die Regeln der Väter, S. 81-101, S. 101. 24 Migne: PG 99, 938.
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Giorgio Agamben Das Thema des Lebens in Gemeinschaft hatte sein Paradigma in der Apostelgeschichte, wo das Leben der Apostel und derjenigen, die „an der Lehre der Apostel festhielten“, in Begriffen der Einmütigkeit und Gemeinschaftlichkeit beschrieben wird: „Und alle, die gläubig geworden waren, bildeten eine Gemeinschaft und hatten alles gemeinsam. […] Tag für Tag verharrten sie einmütig [homothymadon] im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Einfalt des Herzens“ (2,44 u. 46); „Die Gemeinde der Gläubigen war ein Herz und eine Seele. Keiner nannte etwas von dem, was er hatte, sein Eigentum, sondern sie hatten alles gemeinsam“ (4,32). In Anspielung auf dieses Ideal nennt Augustinus in seiner Regel als oberstes Ziel des gemeinschaftlichen Lebens der Brüder im Kloster: „in Eintracht zusammenzuwohnen und ein Herz und eine Seele in Gott zu haben“ (primum propter quod in unum estis congregati, ut unanimes habitetis in domo et sit vobis anima una et cor unum in Deo)25. Und Hieronymus, der im Jahr 404 eine griechische Version der Regel des Pachomius ins Lateinische übersetzte, verwendet in einem Brief explizit eine Bezeichnung koptischen Ursprungs für „die in Gemeinschaft Lebenden“: „Coenobitae, quod illi Sauches [al. Sauses] gentili lingua vocant; nos in commune viventes possumus appellare.“26 Zumindest bis zur Klosterreform des 11. Jahrhunderts, als mit Romuald und Petrus Damiani „die Spannungen zwischen Zönobium und Einsiedelei“27 wieder aufflammten, war der Primat des Gemeinschaftslebens vor dem Eremitenleben eine konstante Tendenz, die in der Entscheidung des Konzils von Toledo (646) ihren Höhepunkt erreichte, wonach – in Umkehrung des historischen Prozesses, der vom Anachoretentum zum Kloster geführt hatte – niemand als Eremit leben durfte, der vorher nicht in einer Klostergemeinschaft gelebt hatte.
5. Das Leben eines Mönches diktiert eine unerbittliche und ununterbrochene Zeiteinteilung. Als Theodoros Studites die Leitung des Konstantinopler Klosters Studion innehatte, beschrieb er den Beginn eines Klostertages mit folgenden Worten: 25 Die Regel des Heiligen Augustinus, Erstes Kapitel, in: Balthasar (Hg.): Die Großen Ordensregeln, S. 161. 26 Epistula 22 ad Eustoch. c. 34, in: PL 22, 419: „[…] die Cönobiten, in der Volkssprache ‚Sauhes‘ genannt, die wir ‚die gemeinschaftlich Lebenden‘ heißen können“. 27 Benedetto Calati: Sapienza monastica: Saggi di storia, spiritualità e problemi monastici, Rom 1994, S. 530.
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Regel und Leben „Nach der zweiten Nachtwache oder der sechsten Stunde, sobald die siebente Stunde beginnt, ertönt das Zeichen der Wasseruhr [piptei tou hydrologiou to syssemon], und bei diesem Laut steht der weckende Mönch [aphypnistes] auf, geht mit der Lampe von Zelle zu Zelle und weckt die Brüder für die Matutin. Augenblicklich schlagen die Hölzer oben und unten, und während alle Brüder sich bei diesem Zeichen im Narthex versammeln und still beten, beweihräuchert der Priester mit der Räucherpfanne in Händen das heilige Bema.“28
Das Zönobium bedeutet in diesem Sinne vor allem eine vollständige Bestimmung der Existenz durch die Stunden, wo jedem Augenblick eine Pflicht entspricht, sei es zum Gebet, zur Lektüre oder zur Handarbeit. Gewiss hatte schon die Urkirche eine Liturgie der Stunden ausgearbeitet und schrieb die Didache, in Fortführung der synagogalen Tradition, den Gläubigen vor, sich dreimal am Tag zum Gebet zusammenzufinden. Die Traditio Apostolica, die Hippolyt (3. Jh.) zugeschrieben wird, thematisiert und strukturiert diesen Brauch, indem die Stundengebete mit Geschichten aus dem Leben Christi verbunden werden. Die drei Gebete, das Gebet zur dritten Stunde („denn in dieser Stunde ist Christus ans Holz genagelt“), das Mittagsgebet zur sechsten und das Gebet zur neunten Stunde („Zu dieser Stunde ward Christus in die Seite gestochen, vergoss Wasser und Blut“), ergänzte Hippolyt um das Mitternachtsgebet („Wenn deine Frau bei dir ist, betet zusammen. Ist sie aber nicht gläubig“, so präzisiert der Text, „zieh dich in ein anderes Zimmer zurück, bete und kehre zu deinem Bett zurück“) und das Morgengebet („Beim Hahnenschrei erhebe dich und bete ebenso. In jener Stunde des Hahnenschreis haben die Söhne Israels Christus verleugnet“).29 Das Neue am Zönobium ist, dass es, wenn man die Weisung des Paulus – adialeptos proseuchesthe bzw. „Betet ohne Unterlass!“ (1 Thess. 5,17) – wörtlich nimmt, das gesamte Leben zum Offizium macht. In der Auseinandersetzung mit dieser apostolischen Weisung war in den Überlieferungen der Kirchenväter die Schlussfolgerung gezogen worden – Origenes fasste sie in seinem De oratione zusammen –, dass es nur eine Möglichkeit gebe, die Weisung zu verstehen: „wenn wir das ganze Leben des Frommen ein einziges, großes, zusammenhängendes Gebet nennen würden. Ein Teil dieses ‚großen Gebetes‘ ist auch das, was man gewöhnlich ‚Gebet‘ nennt, welches nicht seltener als dreimal an jedem Tage verrichtet werden
28 Migne: PG 99, 1703. 29 Traditio Apostolica, 41. Der Zeitpunkt des Gebetes, in: Norbert Brox/ Siegmar Döpp/Wilhelm Geerlings et al.: Fontes Christiani, Bd. 1: ZwölfApostel-Lehre und Apostolische Überlieferung, Freiburg i. Br. u.a. 1991, S. 301ff.
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Giorgio Agamben muss.“30 Ganz anders fiel die monastische Deutung aus. In seiner Darlegung der Klöster der ägyptischen Kirchenväter, die für ihn das vollkommene Paradigma des Zönobiums darstellten, schreibt Cassian: „Bei den ägyptischen Mönchen wird der Gebetsdienst, den wir zu gewissen Stunden [per distinctiones horarum et temporis intervalla], durch die Mahnung des an die Türe klopfenden Bruders veranlasst, dem Herrn darbringen, den ganzen Tag hindurch [iugiter] in steter Verbindung mit Handarbeit freiwillig verrichtet. Sie widmen sich nämlich in ihren Zellen der Arbeit [operatio manuum] beständig in der Weise, dass die Betrachtung über die Psalmen und übrigen Teile der Heiligen Schrift nie ganz ausgesetzt wird. Hiemit verbinden sie jeden Augenblick Bitten und Gebete und bringen auf diese Weise den ganzen Tag mit Beten zu, was wir nur zu bestimmten Stunden tun [statuto tempore celebramus].“31
Noch eindeutiger ist die Vorschrift in den Collationes patrum, die er dem Gebet widmet, wo das immerwährende Gebet das Leben im Kloster bestimmt: „Das ganze Abzielen des Mönches und die ganze Vollkommenheit des Herzens geht auf die beständige und ununterbrochene Beharrlichkeit im Gebete [iugem atque indisruptem orationis perseverantia]“32, und die „hohe Wissenschaft“ des Zönobiums ist jene „von der beständigen Vereinigung mit Gott [Deo iugiter inhaerere]“33. Der Magisterregel zufolge muss die „heilige Kunst“, die der Mönch erlernt, „Tag und Nacht ununterbrochen ausgeübt“ werden (die noctuque incessanter adinpleta)34. Es könnte nicht klarer gesagt werden, dass das klösterliche Ideal in einer vollständigen „Mobilisierung“ der Existenz besteht. Während die Kirchenliturgie
30 Origenes, Vom Gebet. Erster Teil: Vom Gebet im Allgemeinen, 12.2, Deutsch von Paul Koetschau, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Reihe, Bd. 48, München 1926. 31 Cassian: De institutis coenobiorum et de octo principalium vitiorum remediis; dt. Von den Einrichtungen der Klöster. Drittes Buch: Von dem vorgeschriebenen Officium des Tages, 2. Von den Ägyptern wird das Gebet, ohne Unterschied der Stunden, beständig bei der Handarbeit geübt, in: Sämmtliche Schriften des ehrwürdigen Johannes Cassianus, 1. Bd., Deutsch von Antonius Abt, Bibliothek der Kirchenväter, 1. Serie, Bd. 59, Kempten 1879. 32 Cassian: Collationes patrum; dt. Vierundzwanzig Unterredungen mit den Vätern. 9. Unterredung: 2. Worte des Abtes Isaak über die Beschaffenheit des Gebetes, in: Sämmtliche Schriften des ehrwürdigen Johannes Cassianus, ebd. 33 Ebd., 10. Unterredung: 8. Frage nach einem Unterricht in der Vollkommenheit, durch den wir zu einem beständigen Andenken an Gott gelangen können. 34 RM 3, 79, in: Die Magisterregel, S. 107.
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Regel und Leben die Feier des Gottesdienstes von der Arbeit und der Erholung trennt, betrachtet die Klosterregel die Handarbeit als nicht unterscheidbaren Bestandteil des opus Dei, wie die zitierte Stelle aus Cassians Institutiones unmissverständlich zeigt. Schon Basilius deutete die Weisung des Apostels Paulus „Ob ihr also esst oder trinkt oder etwas anderes tut: Tut alles zur Verherrlichung Gottes!“ (1 Kor. 10,31) in dem Sinne, dass er eine Vergeistigung allen Handelns des Mönches impliziert. Nicht nur, dass sich auf diese Weise das ganze Leben des Zönobiten als Erfüllung eines „göttlichen Werks“ präsentiert, Basilius legt auch großen Wert darauf, viele Beispiele für Handarbeit zu nennen: „Wie ein Schmied bei der Arbeit, etwa bei der Verfertigung einer Axt, an den denkt, der sie bei ihm bestellt hat, […] desgleichen richtet auch der Christ jede Handlung, ob sie gering ist oder groß [pasan energeian kai mikran kai meizona], nach Gottes Willen, und zwar mit der größten Genauigkeit“35. Auch jener Passus der Magisterregel, in dem die Gottesdienste eindeutig von der körperlichen Arbeit (opera corporalis) unterschieden werden36, betont, dass letztere indes mit derselben Achtsamkeit verrichtet werden muss wie erstere: Während der Bruder eine Arbeit verrichtet, muss er seine Aufmerksamkeit auf sie richten und so seinen Sinn beschäftigen mit dem, was er tut (dum oculum in laboris opere figit, inde sensum occupat)37; es erstaunt daher nicht, wenn die exercitia actuum, die sich mit den Gebeten abwechseln, einige Zeilen später als spirituale opus, als geistige Arbeit bezeichnet werden.38 Die Vergeistigung der Handarbeit, die auf diese Weise stattfindet, kann als bedeutsames Vorzeichen jener protestantischen Askese der Arbeit verstanden werden, deren säkulare Form Max Weber zufolge der Kapitalismus darstellt. Und wenn die christliche Liturgie, die in der Schaffung des liturgischen Jahres und des cursus horarum ihren Höhepunkt fand, wirkungsvoll definiert wurde als „Heiligung der Zeit“, wo jeder Tag und jede Stunde „dem Gedenken an die Werke Gottes und die Mysterien Christi“39 geweiht ist, dann lässt sich das zönobitische Projekt im Unterschied dazu genauer als „Heiligung des Lebens durch die Zeit“ beschreiben.
35 Aus der Großen Regel des Basilius, 5. C. Vom Freisein für Gott, 1. Vom Wandel in Gott, in: Balthasar (Hg.): Die Großen Ordensregeln, S. 73f. 36 RM 50, 7, in: Frank: Die Magisterregel, S. 237f. 37 RM 50, 3, in: ebd., S. 237. 38 RM 50, 16f., in: ebd., S. 238f. 39 Mario Righetti: Manuale di storia liturgica, Mailand 2005 (Neudr. d. Erstausg. v. 1959-69), S. 1.
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Giorgio Agamben
Literatur Balthasar, Hans Urs von (Hg.): Die Großen Ordensregeln, Zürich/ Köln 21961. Bardenhewer, Otto/Schermann, Theodor/Weyman, Carl: Bibliothek der Kirchenväter, Kempten/München 1911–1938. Brox, Norbert/Döpp, Siegmar/Geerlings, Wilhelm et al.: Fontes Christiani, Bd. 1: Zwölf-Apostel-Lehre und Apostolische Überlieferung, Freiburg i. Br. u.a. 1991. Calati, Benedetto: Sapienza monastica: Saggi di storia, spiritualità e problemi monastici, Rom 1994. Febvre, Lucien: Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, Stuttgart 2002. Frank, Karl Suso (Hg./Übers.): Die Magisterregel/Regula Magistri, St. Ottilien 1989. Migne, Jacques Paul (Hg.): Patrologia Latina, 1844-1855 (http:// pld.chadwyck.co.uk)/Patrologia Graeca, 1857-1866 (http:// patrologiagraeca.org/patrologia). Puzicha, Michaela: Die Regeln der Väter. Vorbenediktinische lateinische Regeltradition, Münsterschwarzach 1990. Rabelais, François: Gargantua und Pantagruel, a. d. Franz. v. Ferdinand Adolf Gelbcke, Frankfurt a. M./Leipzig 1974. Reithmayr, Franz Xaver/Thalhofer, Valentin: Bibliothek der Kirchenväter, Leipzig/Kempten, 1869–1888. Righetti, Mario: Manuale di storia liturgica, Mailand 2005 (Neudr. d. Erstausg. v. 1959–69). Sade, Donatien Alphonse de: Die 120 Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifung, a. d. Franz. v. Karl von Haverland, Köln 2006.
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Möglichkeiten, das Wort désœuvrement zu übersetzen ANDREAS HIEPKO „… es ist der Sonntag des Lebens, der alles gleichmacht und alle Schlechtigkeit entfernt.“1
1. Das französische Wort désœuvrement bedeutet zunächst ganz allgemein „Untätigkeit“, „Nichtstun“. Es bezeichnet also genau genommen etwas, das einer ökonomischen Fragestellung gar nicht zugänglich ist. Die Untätigkeit, das Nichtstun sind keine Elemente einer Ökonomie, wie zurückhaltend sie auch sein mag. Sie scheinen sich vielmehr jeder Ökonomie zu entziehen. Denn die ‚eigentliche‘ Bedeutung von oikonomia ist „Haushaltsführung“. Sie bezeichnet ein Wissen, das es erlaubt, ein Hauswesen durch die Regulierung der Aktivitäten seiner Mitglieder und die Verteilung seiner Ressourcen nicht nur zu erhalten, sondern wachsen zu lassen. Einen guten Verwalter erkennt man am Wachstum des ihm anvertrauten Hauswesens. Im 9. Kapitel von Xenophons Oikonomikos, einem Gespräch über Haushaltsführung, das Sokrates mit Kritobulos und Ischomachos führt, werden Kriterien aufgezählt, nach denen die Wahl eines Verwalters getroffen werden sollte: „Zur Verwalterin machten wir nach sorgfältiger Prüfung diejenige, die uns am enthaltsamsten schien im Essen, Weintrinken, Schlafen und Verkehr mit Männern, die überdies ein gutes Gedächtnis zu haben schien, auch genügend Vorsicht, sich nicht aus Nachlässigkeit eine Strafe zuzuziehen, und darauf bedacht, wie sie uns gefällig sei und dafür von uns geschätzt.“
Enthaltsamkeit und Zurückhaltung sind also unverzichtbare Voraussetzungen jeder Ökonomie. Doch damit ein Hauswesen wachsen
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, Frankfurt a. M. 1970, Bd. III, S. 130.
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Andreas Hiepko kann, muss diese Zurückhaltung durch Diensteifer ergänzt werden. Deshalb lässt Xenophon Ischomachos ergänzend hinzufügen: „Auch erzogen wir sie dazu, mit Eifer an der Vergrößerung des Hauses zu arbeiten, indem wir sie zu eigenen Überlegungen anregten und sie am Gewinn beteiligten.“ Schließlich bezeugt auch der allgemeine Sprachgebrauch den wesentlichen Zusammenhang von Ökonomie und Zurückhaltung: Wer seine Mittel ökonomisch anwendet, setzt sie sparsam ein; wer mit seinen Kräften haushalten möchte, muss sie sich einteilen. Wenn also gelegentlich von einer Ökonomie der Verausgabung oder des Wunsches die Rede ist, kann dies nur metaphorisch gemeint sein. Denn in der Verausgabung stößt das Ökonomische an seine Grenze. Als Übersteigerung des Eifers, als Übereifer, der sich in einer leeren Geschäftigkeit verausgabt, dient sie substantiellem Wachstum ebenso wenig wie die übertriebene Zurückhaltung, die in Untätigkeit umschlägt. Sowohl die Verausgabung als auch die Untätigkeit scheinen außerhalb des Herrschaftsbereichs der Ökonomie zu liegen. Allerdings ist die Untätigkeit durch das Verfahren der einschließenden Ausschließung längst im Zentrum der Ökonomie angekommen: als Arbeitslosigkeit. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass der Eintrag zu le désœuvré (der Untätige) im Grand Robert, einem einschlägigen einsprachigen Französischwörterbuch, mit Nachdruck auf den abwertenden Charakter des Wortes hinweist: „Im Allgemeinen verbindet man mit dem Wort pejorative Konnotationen. Es wird nicht für Personen verwendet, die gezwungenermaßen untätig sind (Arbeitslose, Entlassene etc.).“ In der feinen semantischen Unterscheidung zwischen dem désœuvré, dem wesentlich Untätigen, und dem chômeur, dem gezwungenermaßen Untätigen, dem Arbeitslosen, dem sein Arbeitsplatz abhanden kam, melden sich die kläglichen Überreste abendländischer Willensmetaphysik zu Wort. Ihr Held ist der Langzeitarbeitslose, der den Willen zur Arbeit nicht verliert.
2. Doch ist eine wesentliche Untätigkeit überhaupt denkbar? Es handelt sich um ein sehr altes Problem. Was sich in Genesis 2,2 so einfach, so selbstverständlich anhört („Es ruhte Gott am siebenten Tag von allen Werken, die er geschaffen“), wurde aus theologischer Sicht schon bald fraglich. Wenn Gott tatsächlich von allen Werken geruht hat, wer schuf dann den siebenten Tag? Augustinus zufolge sei der Vers nicht so zu verstehen, dass Gott zu einem bestimmten Zeitpunkt sein Wirken eingestellt hätte. In seinem Genesis-Kommentar
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Möglichkeiten, das Wort désœuvrement zu übersetzen erklärt er: „Gott ist nicht wie ein Baumeister, der, wenn er ein Gebäude fertiggestellt hat, abziehen kann, da sein Werk auch dann bestehen bleibt, wenn er seine Arbeit beendet hat; die Welt könnte nicht einen Augenblick weiterbestehen, wenn Gott ihr seine Leitung entzöge“ (De genesi ad litteram, 4. Buch, 12. Kapitel). Seit Augustinus kennt zumindest die göttliche Weltregierung keine Ruhetage. Darüber hinaus sind solche Auszeiten von höchst ambivalentem Charakter. So sagt Hans Blumenberg über den „Kirchenlehrer Hieronymus, der in alle dogmatischen Händel um die Wende zum 5. Jahrhundert verwickelt“ gewesen sei, einmal Folgendes: „Obwohl er Rhetorik studiert hatte, zog ihn sein asketischer Eifer immer wieder in die Wüste zu längerem Schweigen. Allerdings kehrte er regelmäßig mit Geschriebenem in großer Menge zurück. Diese Besonderheit seiner asketischen Strenge hat ihre Bildhaftigkeit in der Konfiguration des ‚Hieronymus im Gehäus‘ gefunden: der schreibende Eremit mit dem Wüstenlöwen als von Frömmigkeit angestecktem Haustier.“2 Dies ist zwar ikonographisch nicht ganz richtig, denn neben der Darstellung des „Hieronymus im Gehäus“ gibt es die des „Büßenden Hieronymus“, der sich spärlich bekleidet, einen Stein in der Hand vor einem Kruzifix windet; was diese rasche Skizze jedoch sehr schön verdeutlicht, ist, dass im besonderen die Kunst des Schreibens in einer undurchschaubaren Beziehung zum désœuvrement, zum Rückzug aus den alltäglichen Geschäften steht. Besonders augenfällig wird diese paradoxe Beziehung, die zwischen œuvre und désœuvrement, zwischen „Werk“ und „Geschäftslosigkeit“ besteht, in der akademischen Institution des Forschungssemesters. So soll das, was in den USA sabbatical heißt, also explizit auf den siebten Tag und die Sabbatruhe verweist, dazu dienen, die Werke, von denen man ruhen könnte, allererst zu schaffen.
3. Tatsächlich entscheiden sich die frühesten Übersetzungen des relativ jungen Wortes, das erst seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der französischen Schriftsprache bezeugt ist, für die Möglichkeit, désœuvrement mit „Geschäft(s)losigkeit“ zu übersetzen. Eine ergiebige Fundstelle bieten Rousseaus Bekenntnisse, in denen es sechsmal auftaucht. Die Confessions, die Rousseau wohl in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren geschrieben hat, erschienen erst nach Rousseaus Tod: 1782 das erste bis sechste Buch, 1788
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Hans Blumenberg: „Hieronymus im Gehäus mit Sanduhr“, in: ders.: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, Frankfurt a. M. 2007, S. 126f.
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Andreas Hiepko das siebte bis zwölfte. Sie wurden umgehend ins Deutsche übertragen. Noch im selben Jahr wie die französische Ausgabe erschien der erste Teil in Berlin bei Johann Friedrich Unger. Die Übersetzung stammte von Friederike Helene Unger, der Frau des Verlegers. Der ebenfalls von Unger verlegte zweite Band, den Adolph Freiherr Knigge ins Deutsche übertragen hatte, erschien 1790. Zwei besonders interessante Stellen finden sich am Ende dieses zweiten Teils, im 12. und letzten Buch. Rousseau ist mit seinem Lebensbericht im Jahr 1765 angelangt. Kurz bevor er die Einladung Humes, als dessen Gast ins Exil nach England zu gehen, annahm, verbrachte er zwei Monate auf der St. Petersinsel im Bielersee. Im 5. Spaziergang seiner Rêveries d’un promeneur solitaire, der „Träumereien eines einsamen Spaziergängers“, der als Manifest des Müßiggangs bezeichnet werden könnte, verriet Rousseau erstmals, dass er sein Paradies auf Erden in dieser der Berner Bürgerschaft gehörenden Halbinsel fand. In den Bekenntnissen nimmt er das Thema wieder auf: „Die Unthätigkeit, welche ich liebe, ist nicht die eines Faulenzers [fainéant], der mit übereinandergeschlagnen Armen, in gänzlicher Erstarrung [inaction totale] dasitzt, und eben so wenig denkt, als er thut. Es ist zugleich die eines Kindes, das immer in Bewegung ist, ohne etwas zu beschicken [pour ne rien faire], und die eines Schwätzers, der mit seinen Gedanken umherschweift, indeß seine Arme ruhig bleiben. Ich mag gern mich mit Kleinigkeiten beschäftigen [à faire des riens], hundert Dinge anfangen, und kein einziges vollführen, gehn und kommen, wie mir mein Kopf die Grille eingiebt, jeden Augenblick einen andern Entwurf machen, eine Fliege in allen ihren Beschäftigungen verfolgen, denken, wie ich einen Felsen ausgraben wollte, um zu sehn, was darunter liegt, ein Geschäft von zehn Jahren mit Eifer anfangen, und es ohne Reue nach zehn Minuten wieder aufgeben, mit Einem Worte! den ganzen Tag hindurch ohne Ordnung und ohne Folge arbeiten, und in allen Dingen nur der Grille des Augenblicks folgen.“3
Knigge übersetzt mit Untätigkeit an dieser Stelle jedoch nicht désœuvrement, sondern oisiveté, jenes viel ältere Wort für Müßiggang und Nichtstun, das etymologisch mit dem lateinischen otium verwandt ist. Um nach Rousseaus Geschmack zu sein, darf sie nicht die eines fainéant, eines Nichtstuers oder, wie Knigge übersetzt, eines Faulenzers sein, der in einer inaction totale, einer völligen Untätigkeit verharrt. Sie ist vielmehr unermüdliche Bewegung, am ehesten der Rastlosigkeit eines Kindes vergleichbar, also einer unablässigen Beschäftigung, die auf nichts gerichtet ist. Paradoxerweise bestehen die Untätigkeit, der Müßiggang, die Rousseau bevorzugt, gerade darin, „den ganzen Tag hindurch ohne Ordnung
3
Jean-Jacques Rousseau: Bekenntnisse, Berlin 1790, S. 283.
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Möglichkeiten, das Wort désœuvrement zu übersetzen und ohne Folge zu arbeiten“. Zwar heißt es im Original nicht travailler, sondern muser („muser toute la journée sans ordre et sans suite“), was man im Deutschen vielleicht genauer mit „sich beschäftigen“ übersetzen müsste, Knigges Übersetzung hat jedoch den Vorteil, dass der aporetische Charakter der Idee einer guten Untätigkeit unübersehbar wird. Gute Untätigkeit ist permanente Beschäftigung, besteht darin, „den ganzen Tag hindurch zu arbeiten“. Die einzige Bedingung, die die unablässige Tätigkeit zur Untätigkeit macht, ist das Fehlen jeglicher Ordnung. Wie wir sahen, sind die Ordnung, die zweckdienliche Einrichtung, die richtige Einteilung konstitutive Elemente der Ökonomie. Insofern ist die Untätigkeit, von der Rousseau spricht, unökonomisches Handeln. Diese allgemeine Definition einer erstrebenswerten Untätigkeit wird im anschließenden Abschnitt anhand eines konkreten Beispiels illustriert. Paradigma untätiger Beschäftigung ist die Botanik – wie Rousseau sie versteht. „Die Kräuterkunde, so wie ich sie immer betrachtet habe, und so wie sie anfieng zur Leidenschaft bey mir zu werden, war gerade ein Studium von so unthätiger Art [Rousseau schreibt, étude oiseuse], fähig die ganze Leere meiner müßigen Stunden auszufüllen, ohne darinn Raum für die Schwärmerey der Einbildungskraft, noch für die Langeweile eines ganz geschäftlosen Lebens zu lassen. Nachläßig in Wäldern und auf Wiesen herumirren; ohne Bedacht dies und jenes aufnehmen, bald eine Blume, bald einen Zweig; es dem Ungefähr überlassen, meinem Hunger nach Kenntnissen Nahrung zu verschaffen; tausendund wieder tausendmal dieselben Dinge beobachten, und immer mit gleichem Interesse, weil ich sie jedesmal wieder vergaß; das war das Mittel, eine Ewigkeit hinzubringen, ohne je einen Augenblick Langeweile haben zu können.“ 4
Der ennui d’un désœuvrement total, was Knigge mit „die Langeweile eines ganz geschäftlosen Lebens“ übersetzt, steht hier zwar gemeinsam mit der „Schwärmerey der Einbildungskraft“ im Gegensatz zum „müßigen Studium“ (étude oiseuse), das die Botanik für Rousseau darstellt. Das désœuvrement, die Geschäftslosigkeit ist jedoch die unabdingbare Voraussetzung einer müßigen Beschäftigung. Daran lässt die zweite Stelle, an der das Wort désœuvrement im 12. Buch auftaucht und die der eben zitierten eigentlich vorausgeht, keinen Zweifel. Rousseau begründet hier, weshalb er sich die St. Petersinsel als Zufluchtsort gewählt hat: „Diese Wahl war meinem friedfertigen Geschmacke und meiner einsamen und unthätigen Laune so angemessen, daß ich sie zu den süßesten Träumereyen rechne, welche mich mit der lebhaftesten Wärme erfüllt haben. Es schien mir, als würde ich auf dieser Insel abgesonderter von Menschen, gesicherter gegen
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Ebd.
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Andreas Hiepko ihre Verfolgungen, vergeßner von ihnen, kurz! mehr den Süßigkeiten der Geschäftslosigkeit und des kontemplativen Lebens überlassen, wohnen können. Ich hätte in dieser Insel so begränzt leben mögen, daß ich durchaus keine Gemeinschaft mit Menschen gehabt hätte.“5
Um sich den „douceurs du désœuvrement et de la vie contemplative“, den „Süßigkeiten der Geschäftslosigkeit und des kontemplativen Lebens“ überlassen zu können, bedarf es also neben der Planlosigkeit der Absonderung oder Abgeschiedenheit. Und wie bei Hieronymus, der aus seinen Wüsteneinsamkeiten nie ohne Geschriebenes zurückkehrte, plant auch Rousseau ein „Werk der Untätigkeit“: „Die Verschiedenheit des Bodens, aus dem die Insel, so klein sie auch war, bestand, bot mir eine hinlängliche Mannichfaltigkeit von Pflanzen dar, um mir Studium und angenehme Unterhaltung mein ganzes Leben hindurch zu gewähren. Nicht Eine Grasspitze wollte ich ununtersucht lassen, und ich rüstete mich schon, mit einer ungeheuren Sammlung von Beobachtungen, eine flora Petrinsularis zu Stande zu bringen.“6
Die Flora Petrinsularis, also ein Werk, in dem alle Pflanzen der St. Petersinsel beschrieben und bestimmt sind, kam zwar nicht zustande, weil Rousseau es dann doch vorzog, die Einladung nach England anzunehmen, sie zeigt jedoch einmal mehr den engen Zusammenhang, in dem das désœuvrement mit dem œuvre steht. Zugleich liegt darin auch die Unübersetzbarkeit des Wortes begründet. Denn in seine Morphologie ist das œuvre unauslöschbar eingeschrieben. Diese anwesende Abwesenheit des Werkes hat nicht ganz zweihundert Jahre nach Rousseau dazu beigetragen, dass das Wort zu einem der dunkelsten Begriffe der Theorie des Kunstwerks werden konnte.
4. Schon Rousseaus Wortgebrauch deutete darauf hin, dass diesem Terminus eine sowohl politische als auch ästhetische Entwickelbarkeit innewohnt. Seine werktheoretische Nobilitierung Anfang der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts ist mit dem Namen Maurice Blanchot verbunden. In Blanchots Werk taucht das Wort désœuvrement erstmals 1952 auf: in der Rezension eines Buches von Georges Poulet zu Raum und Zeit bei Mallarmé, die im Juli-Heft der Zeitschrift Critique unter dem Titel „Mallarmé et l’expérience lit5
Ebd., S. 278.
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Ebd., S. 284.
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Möglichkeiten, das Wort désœuvrement zu übersetzen téraire“ erschien. Hier heißt es: „l’œuvre ne serait jamais œuvre d’art si la recherche de son origine ne la mettait à l’épreuve du désœuvrement de l’être“.7 Kunstwerk sei ein Werk erst dann, wenn es sich auf der Suche nach seinem Ursprung am désœuvrement des Seins erprobt hat. Ebenfalls in Critique erscheint im November desselben Jahres die Buchbesprechung „La mort possible“, „Der mögliche Tod“. Neben „der Flucht“ dient hier das désœuvrement zur näheren Charakterisierung einer spezifischen Form von „Nachlässigkeit“ („cette négligence, fuite et désœuvrement perpétuels“8). Die früheste Erwähnung des Wortes, die ins Deutsche übertragen wurde, stammt aus einem dritten Essay. Er erschien im Januar 1953 in der ersten Nummer der Nouvelle Nouvelle Revue Française unter dem Titel „La solitude essentielle“. 1959 wurde die „autorisierte Übersetzung“ von Gerd Henniger des für Blanchots Buch L’espace littéraire (1955) leicht überarbeiteten Textes in der Schriftenreihe Das Neue Lot veröffentlicht. „Der Schriftsteller gehört dem Werk, aber was ihm gehört, ist nur ein Buch, eine stumme Anhäufung steriler Worte […]. Der Schriftsteller, der diese Leere empfindet, glaubt nur, daß das Werk unvollendet ist, und er glaubt, daß ein wenig mehr Arbeit und die Chance günstiger Augenblicke ihm erlauben werden, ihm allein, es zu beenden. Er begibt sich also wieder ans Werk. Aber was er beenden will, bleibt das Unbeendbare, verbindet ihn einer illusorischen Arbeit. Und schließlich ignoriert ihn das Werk, verschließt sich wieder in seine Abwesenheit, in der unpersönlichen, anonymen Behauptung, daß es ist – und nichts weiter. Was man durch die Bemerkung erläutert, daß der Künstler sein Werk niemals kennt, weil er es erst in dem Augenblick beendet, in dem er stirbt. Eine Bemerkung, die man vielleicht umkehren muß, denn wäre der Schriftsteller nicht tot, sobald das Werk existiert, und hat er davon nicht manchmal ein Vorgefühl durch den Eindruck eines sehr befremdenden Außerhalb-des-Werkes-Seins (désœuvrement)?“9
Kurz darauf heißt es, dass „keiner, der das Werk geschrieben hat, in seiner Nähe leben und verweilen“ darf. Das Werk sei „die Entscheidung, die ihn entläßt, die ihn ausstößt, die aus ihm den Überlebenden macht, den Außerhalb-des-Werkes-Stehenden (le désœuvré), den Unbeschäftigten, den Kunst-losen (l’inerte), von dem die Kunst nicht abhängt.“10
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Maurice Blanchot: „Mallarmé et l'expérience littéraire“, in Critique 62 (1952), S. 579-591, S. 589.
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Maurice Blanchot: „La mort possible“, in: Critique 66 (1952), S. 915-933, S. 933. Maurice Blanchot: Die wesentliche Einsamkeit, Berlin 1959, S. 16.
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10 Ebd., S. 18.
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Andreas Hiepko
5. Mit Geschäftslosigkeit, oder noch allgemeiner, Untätigkeit, lässt sich désœuvrement nun nicht mehr angemessen übersetzen. Jetzt ist die sogenannte Kreativität der Übersetzer gefragt. Hennigers Wortungetüm „Außerhalb-des-Werkes-Sein“ sollte sich nicht durchsetzen. Hans-Joachim Metzger wählt eine andere Möglichkeit. Eine Stelle aus Blanchots Buch L’entretien infini von 1969, in der es einmal mehr um den spezifischen Charakter des Kunstwerkes geht, übersetzt er wie folgt: Ein Kunstwerk sei ein Werk, „in dem sich als sein stets dezentriertes Zentrum das Nicht-am-Werk-Sein hält: das Fehlen des Werkes“11. Zwar ist auch Metzgers „Nicht-am-Werk-Sein“ nur unwesentlich eleganter als Hennigers „Außerhalb-des-WerkesSein“. Was diese Stelle jedoch so interessant macht, ist die erklärende Apposition „das Fehlen des Werkes“. Sie eröffnet nämlich eine Übersetzungsmöglichkeit, die zwar den Bedeutungsreichtum des Blanchot’schen Konzepts nicht ganz wiedergibt, aber als Übersetzung im eigentlichen Sinn eher durchgehen würde als die Wortkonstruktionen, die letztlich nur die Unübersetzbarkeit des Wortes zum Ausdruck bringen. Allerdings fiele dann Blanchots désœuvrement mit Foucaults „Fehlen oder Abwesenheit des Werkes“ restlos zusammen. Tatsächlich taucht bei Blanchot der Verweis auf die „absence d’œuvre“ erst Mitte der 60er Jahre auf, also zu jener Zeit, als Foucault den Wahnsinn zu definieren versucht: La folie, l’absence d’œuvre („Der Wahnsinn, Abwesenheit eines Werkes“).12 Blanchots Zusammenstellung seines Terminus mit dem Foucaults hat jüngst Gerd Bergfleth dazu verleitet, die Suche nach einer geeigneten Übersetzung für désœuvrement für beendet zu erklären. In seiner 2007 erschienenen Übersetzung von Blanchots La Communauté inavouable taucht der Begriff zwar nur einmal auf, Bergfleth nimmt dies jedoch zum Anlass, in seinem ein wenig zu umfangreichen Nachwort auch zum Problem des désœuvrement ausführlich Stellung zu nehmen: „Das Désœuvrement gehört zu den großen Rätseln, die Blanchot seinem Leser und nicht zuletzt dem Übersetzer bereitet, und wie zu befürchten steht, zu den unlösbaren. Der literarische Terminus geht bis ins Jahr 1953 zurück, und zwar in stetiger Verbalbegleitung durch ‚l’absence d’œuvre‘. Diese ‚Abwesenheit des Werks‘ hat den Übersetzer veranlasst, ebenso wörtlich von Werklosigkeit zu sprechen, in der Überzeugung, damit möglichst wenig präjudiziert zu haben.“13
11 Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, München/Wien 1991, S. 94. 12 In: La Table ronde 196 (Mai 1964), S. 11-21. 13 Gerd Bergfleth: „Blanchots Dekonstruktion der Gemeinschaft“, in: Maurice Blanchot: Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 110-183, S. 173.
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Möglichkeiten, das Wort désœuvrement zu übersetzen So unlösbar, wie zu befürchten stand, scheint das große Rätsel Blanchots dann doch nicht zu sein. Allerdings beruht die vermeintlich elegante Lösung auf einem Trick. Denn tatsächlich liefert Bergfleth mit Werklosigkeit lediglich eine Möglichkeit, Foucaults Begriff besser zu übersetzen, als dies die mittlerweile kanonische Übersetzung mit „Abwesenheit des Werkes“ leistet. „Außerhalb-des-Werkes-Sein“, „Nicht-am-Werk-Sein“ oder, um eine weitere Möglichkeit der Übersetzung zu erwähnen, die tatsächlich verwendet wurde, „Entwerkung“, so lauten die Versuche, den Sachverhalt, den Blanchot als désœuvrement bezeichnet, in deutscher Sprache wiederzugeben. Eine der präzisesten Beschreibungen dieses Sachverhalts gelingt Blanchot auf dem unpaginierten Vorsatzblatt seines Buches L’espace littéraire von 1955. Für seine Dissertation über den französischen Autor hat Andreas Gelhard dieses Parergon, diesen „außerhalb des Werkes stehenden“ Text übersetzt: „Ein Buch, selbst ein fragmentarisches, hat eine Mitte, von der es angezogen wird: keine feste Mitte, sondern eine, die sich unter dem Druck des Buches und der Umstände seiner Komposition verschiebt. […] Derjenige, der das Buch schreibt, schreibt es im Begehren nach dieser Mitte, in Unkenntnis dieser Mitte. Das Gefühl, sie berührt zu haben, mag der bloßen Illusion entspringen, dort angekommen zu sein.“14
Und er setzt hinzu: „Wenn es sich um ein Buch von Erläuterungen handelt, fordert eine Art von methodischer Aufrichtigkeit, anzugeben, auf welchen Punkt das Buch zuzuhalten scheint; hier auf die Seiten mit dem Titel Le regard d’Orphée.“15
Selbstredend geht es unter dem Titel „Der Blick des Orpheus“ um das désœuvrement, das von vornherein jedes Werk ruiniert, versinnbildlicht durch Orpheus’ Verstoß gegen das ihm auferlegte Retrospektionsverbot, der seiner fast gelungenen Entführung Eurydikes aus dem Totenreich ein gewaltsames Ende setzt.
6. Vielleicht versteht man Blanchots Interesse am désœuvrement besser, wenn man sich die Zeit vergegenwärtigt, in der Blanchot den Begriff zum Zentrum seiner Theorie des Kunstwerks macht. Thomas Mann soll 1951 erklärt haben, er sei „vielleicht der Letzte, der über14 Andreas Gelhard: Das Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, München 2005, S. 208. 15 Ebd.
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Andreas Hiepko haupt weiß, was ein Werk ist“. Denkwürdig ist diese Vermutung nicht, weil sich ihre Diagnose auf Dekadenz und Untergang bewahrheitet hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Als Rainald Goetz im Rahmen einer Befragung zu seinem eigenen Werkbegriff einmal auf dieses Großschriftsteller-Wort angesprochen wurde, gab er die Antwort: „Ja, rührend. Wie jeder der Alten immer denkt, er wäre der Letzte.“ Rührend ist die senile Geste deshalb, weil sie den ganz persönlichen Abschied von der Welt nur ertragen kann, wenn er zugleich auch das Ende einer Welt bedeutet. In diesem Fall jener Welt, in der man wusste, was ein Werk ist. Der Befürchtung Thomas Manns zum Trotz hat die ‚Idee des Werkes‘ jedoch überlebt. Denn Goetz fügt seinem Ausdruck der Rührung apodiktisch hinzu, dass „natürlich jeder Autor an einem Werk“ schreibe. Dass „jeder Autor an einem Werk schreibt“, ist mit Blick auf die zeitgenössische Literatur allerdings keineswegs so „natürlich“, wie Goetz behauptet. Vielmehr hat man den Eindruck, dass viele mehr oder weniger gelungene Bücher geschrieben werden, die, wenn sie besonders gelungen zu sein scheinen, das Feuilleton auch schon einmal an Thomas Manns Erzählkunst gemahnen. Offensichtlich sehen die Lieferanten der ‚gehobenen Angestelltenkultur‘ ihre Aufgabe nicht darin, ‚an einem Werk zu schreiben‘. Für sie gilt die agonale Logik ihrer Nachbardisziplinen: Nach dem Buch ist vor dem Buch. Paradoxerweise ist gerade solchen Autoren, die sich jedenfalls nicht weigern würden, in die Mannsche Erzähltradition gestellt zu werden, die ‚Idee des Werkes‘ völlig fremd. Goetz’ Schreibstrategie geht in die entgegengesetzte Richtung. Nach einer siebenjährigen vollständigen Abwesenheit vom Buchmarkt veröffentlicht er nicht einen Roman, sondern einen überarbeiteten Blog, der anderthalb Jahre lang von Vanity Fair finanziert worden war. Die Kritik hat sich bereits bei der Verabschiedung des Blogs abschließend geäußert: In klage manifestiere sich das Scheitern des Versuchs, den politischen Roman der Berliner Republik zu schreiben. Mit der Fülle des Materials sei Goetz, wie man sich ausdrückt, ‚nicht zu Rande gekommen‘, darüber hinaus bestünde ein krasses Missverhältnis zwischen seinen Mitteln und seinen Ambitionen. Statt klage als das zu lesen, was es ist, nämlich als eine ‚Literatur des Fragments‘, wurde ihrem Autor immer wieder ein ‚Wille zum Roman‘ unterstellt, der sich als zu schwach erwiesen hatte, um in die Tat umgesetzt werden zu können. Was dieser Exkurs in die Gegenwart verdeutlicht, ist die eigentliche Leistung der Blanchot’schen Werkkonzeption: die Rettung des Werkbegriffs durch seine Annullierung.
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Möglichkeiten, das Wort désœuvrement zu übersetzen
7. In Giorgio Agambens Buch Il Regno e la Gloria, das eine theologische Genealogie von Ökonomie und Regierung leisten möchte, heißt es im Vorwort: „Das aber bedeutet, daß das Zentrum der Regierungsmaschine leer ist. Das prägnanteste Symbol der Macht ist deshalb wohl der leere Thron in den Rundbögen und Apsiden der frühchristlichen und byzantinischen Basiliken. Hier stößt das Thema der Untersuchung an seine Grenze und kommt zugleich zu seinem vorläufigen Abschluß. Und wenn es, wie einmal behauptet wurde, in jedem Buch so etwas wie ein verborgenes Zentrum gibt, dem sich zu nähern – oder dem auszuweichen – das Buch geschrieben wurde, dann findet sich dieses Zentrum hier in den letzten Absätzen des 8. Kapitels. Gegen die naive Emphase, die die Moderne auf Produktivität und Arbeit legt (und die ihr den Zugang zur Politik als eigentlichste Dimension des Menschen dauerhaft versperrt hat), wird hier der Politik ihre zentrale Untätigkeit [inoperosità] wiedergegeben – die Tätigkeit, die darin besteht, alle menschlichen und göttlichen Werke unwirksam zu machen. Als Symbol der Herrlichkeit ist der leere Thron das, was es zu profanieren gilt, um dahinter Platz zu schaffen für etwas, das wir vorläufig nur mit dem Namen zoe aionios, „ewiges Leben“ benennen können. Erst wenn der vierte, der Lebensform und dem Gebrauch gewidmete Teil dieser Untersuchung abgeschlossen sein wird, kann die entscheidende Bedeutung der Untätigkeit [inoperosità] als eigentlich menschliche und politische Praxis in ihrem eigenen Licht erscheinen.“16
Mittlerweile verzichtet Agamben auf das Fremdwort désœuvrement, das immer wieder an zentraler Stelle auftauchte. (Ein Kapitel des Buches Das Offene trägt den Titel Désœuvrement.) An seine Stelle tritt das italienische Wort inoperosità, das bislang désœuvrement nur erklärend begleitete. Bereits im ersten Band des Homo sacerProjekts verweist Agamben mit einer für ihn typischen Geste in einer Scholie im Zusammenhang mit Kojèves These vom Ende der Geschichte auf das Thema des désœuvrement: „In seiner Rezension der Romane von Raymond Queneau sieht [Kojève] in den Personen von Le Dimanche de la Vie und besonders im voyou désœuvré die Figur des zufriedenen Weisen am Ende der Geschichte verwirklicht. […] Das Thema des désœuvrement als Figur der Fülle des Menschen am Ende der Geschichte, das zum ersten Mal in Kojèves Rezension von Queneau auftaucht, ist von Blanchot und Nancy wiederaufgenommen worden; letzterer hat es ins Zentrum seines Buches La Communauté désœuvrée gestellt. Hier hängt alles davon ab, was man unter désœuvrement versteht. Es kann weder die einfache Abwesenheit des Werkes sein noch – wie bei Bataille – eine souveräne, beschäfti-
16 Giorgio Agamben: Il Regno e la Gloria. Per una genealogia teologica dell’economia e del governo (Homo sacer, II, 2), Vicenza 2007, S. 11.
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Andreas Hiepko gungslose Form der Negativität [négativité sans emploi]. Die einzige kohärente Auffassung von désœuvrement wäre die einer unbestimmten Existenz der Potenz, die sich nicht – wie die individuelle Tätigkeit oder die kollektive Handlung, die als Summe der individuellen Tätigkeiten begriffen wird – in einem transitus de potentia in actum erschöpft.“17
Vielleicht sollte man die einzig stimmige Auffassung von désœuvrement ernst nehmen und auf seine Übersetzung anwenden, das heißt die Aufgabe des Übersetzers nicht erfüllen, den vorhandenen Übersetzungen keine weitere hinzufügen und das Wort lediglich abschreiben. Zuweilen muss auch Hermes ruhen.
Literatur Agamben, Giorgio: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002. – Il Regno e la Gloria. Per una genealogia teologica dell’economia e del governo (Homo sacer, II, 2), Vicenza 2007. Bergfleth, Gerd: „Blanchots Dekonstruktion der Gemeinschaft“, in: Maurice Blanchot: Die uneingestehbare Gemeinschaft, Berlin 2007, S. 110–183. Blanchot, Maurice: Die wesentliche Einsamkeit, Berlin 1959. – Das Unzerstörbare. Ein unendliches Gespräch über Sprache, Literatur und Existenz, München/Wien 1991. – „Mallarmé et l’expérience littéraire“, in: Critique 62 (1952), S. 579–591. – „La mort possible“, in: Critique 66 (1952), S. 915–933. Blumenberg, Hans: „Hieronymus im Gehäus mit Sanduhr“, in: ders.: Der Mann vom Mond. Über Ernst Jünger, Frankfurt a. M. 2007, S. 126f. Foucault, Michel: „La folie, l’absence d’œuvre“, in: La Table ronde 196 (Mai 1964), S. 11–21. Gelhard, Andreas: Das Denken des Unmöglichen. Sprache, Tod und Inspiration in den Schriften Maurice Blanchots, München 2005. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Vorlesungen über die Ästhetik, Frankfurt a. M. 1970. Rousseau, Jean-Jacques: Bekenntnisse, Berlin 1790.
17 Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 72f.
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Selbstzurücknahme. Reflexionen über eine medientheoretische Figur und ihre (möglichen) anthropologischen Dimensionen SYBILLE KRÄMER
Das ‚demiurgische Prinzip‘ und sein ‚Nachleben‘ Nicht wenig zehrte das neuzeitliche Subjektmodell von der Idee des ‚Demiurgen‘, jenes schöpferischen Handwerkergottes, den Platon im Timaios beschrieb und der sich als Baumeister des Kosmos – dabei orientiert an platonischen Idealen – betätigte.1 Dass der Mensch Subjekt ist kraft eines konstruktivischen Gestus, mit dem er sich als homo faber und homo generator bewährt und begreift, findet sein Echo darin, dass unser Weltverhältnis bevorzugt in den Termini des Hervorbringens, Erzeugens, Produzierens und Machens konzipiert wird. Sicherlich, dieser – traditionelle – Subjektbegriff ist zwischenzeitlich erodiert; und doch zeigt sich die nachhaltige und auch sublime Lebendigkeit des demiurgischen Prinzips gerade in zwei zeitgenössischen Neueinsätzen, welche der ‚Überwindung‘ des neuzeitlichen Subjektkonzeptes geradezu verpflichtet sind und die weltbildenden Wirkkräfte jenseits einer autonomen Subjektivität zu verorten suchen. (i) Da ist einmal die Idee der Performativität, mit der die methodische Einstellung verbunden ist, das Prinzip der Erzeugung jetzt auch für Zeichenvorgänge fruchtbar zu machen. Die Differenz zwischen Herstellen und Darstellen, zwischen Produzieren und Interpretieren, zwischen technischer und symbolischer Weltgestaltung wird dabei noch einmal auf der Seite des Darstellens, Symbolisierens, Interpretierens eingetragen und zur Geltung gebracht: So etwa 1
Zum Demiurgischen bei Platon: E. D. Perl: „The Demiurge and the Forms: A return to the ancient interpretations of Plato’s Timaeus“, in: Ancient Philosophy 18 (1998), S. 81-92.
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Sybille Krämer unterscheiden sich konstatierende und performative sprachliche Äußerungen (im ursprünglichen Austinschen Sinne)2 gerade dadurch, dass einige, aber eben nicht alle sprachliche Äußerungen die Kraft haben, das, was sie besagen, zugleich auch auszuführen und zu vollziehen. In der Perspektive der Performativität unserer Zeichenprozesse wird das Darstellen zum Herstellen, das Interpretieren zum Generieren, das Sagen zum Machen. 3 (ii) Da ist zum anderen das bei einem Gutteil der neueren Medientheorie favorisiert generativistische Medienkonzept, bei dem Medien das, was sie vermitteln, zugleich oder zumindest tendenziell auch hervorbringen. Im Horizont eines Apparate- und Technikapriori werden Medien dabei weniger als Übermittler denn als Springquelle zur Hervorbringung ihrer Botschaften thematisch. Die Medien werden so zu den jüngsten Statthaltern des Konstitutionsgedankens: Nicht mehr der Sprachgebrauch und der Diskurs, vielmehr Medienapparaturen werden nun zur Struktur gebenden Vorgängigkeit nach Art eines ‚Apriori‘ nobilitiert. Die Ordnung der Welt, die wir im Wahrnehmen, Kommunizieren und Denken erfahren, wird zu einer durch Medien generierten Ordnung. Das Fortleben des demiurgischen Prinzips in diesen zeitgenössischen Ansätzen konnte hier nur mit knappen Strichen angedeutet werden. Doch zumindest kann vor diesem Horizont eine Diagnose Profil gewinnen, die den Ausgangspunkt unserer Überlegungen bilden wird: Angesichts einer unabweisbaren Prämierung des Erzeugens, Produzierens, Konstruierens und Konstituierens bleibt die Kultur stiftende Kreativität, welche Phänomenen der Zirkulation, der Übertragung und der Vermittlung eigen ist, im Schlagschatten des demiurgischen Prinzips weitgehend verborgen.4 Und das gilt nicht nur für den Bereich unseres Weltverhältnisses, sondern auch für die Domäne unseres Selbstverständnisses. Um eine ‚Rehabilitierung‘ des Übertragens und Vermittelns ist es uns im Folgenden zu tun. Und wir wollen dies anhand eines Phänomens unternehmen,
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Zu diesem ‚ursprünglichen Sinn‘: Sybille Krämer: „Was tut Austin, indem er über das Performative spricht? Ein anderer Blick auf die Anfänge der Sprechakttheorie“, in: Jens Kertscher/Dieter Mersch (Hg.): Performativität und Praxis, München 2003, S. 19-34. Dass es gerade um die Überwindung eben dieser vereinseitigenden Prämierung des Machens und Herstellens auch innerhalb der Debatte des Performativen zu tun ist, davon zeugt der vorliegende aus dem Sonderforschungsbereich ‚Kulturen des Performativen‘ hervorgegangene Band.
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Schon Hartmut Winkler diagnostiziert das Vergessen der produktiven Funktionen der Zirkulation und sucht Medien von der Zirkulation her zu begreifen, in: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt a. M. 2004.
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Selbstzurücknahme. Über eine medientheoretische Figur welches für das Selbst- wie für das Weltverhältnis von Bedeutung ist. Es geht um eine Medientheorie aus dem Geiste der Fremdvergegenwärtigung durch eine ‚Selbstneutralisierung‘ und ‚Selbstrücknahme‘. Es ist die Figur des Boten,5 der ‚mit der Stimme eines anderen spricht‘ und der durch dieses Sich-selbst-Zurücknehmen einerseits eine Medientheorie grundiert, welche Medialität mit dem Welt stiftenden Potenzial des Übertragens und Vermittelns zu verbinden ermöglicht wie andererseits zugleich einen Aspekt der conditio humana und damit unseres Selbstverhältnisses freizulegen erlaubt. ‚Von sich selbst absehen zu können‘ – das ist die konzeptuelle Spur, der wir jetzt folgen wollen.
‚Aisthetische Selbstneutralisierung‘: Über das Verschwinden des Mediums im Vollzug Nicht wenige Medientheoretiker sind aufmerksam geworden auf den Umstand, dass Medien im gelingenden Vollzug verschwinden:6 „Medien machen lesbar, hörbar, sichtbar, wahrnehmbar, all das aber mit der Tendenz, sich selbst und ihre konstitutive Beteiligung an diesen Sinnlichkeiten zu löschen und also gleichsam unwahrnehmbar, anästhetisch zu werden.“7 Eine umgekehrte Proportionalität zwischen der Wahrnehmbarkeit der Botschaft und der Unsichtbarkeit des Mediums, zwischen dem Zum-Vorschein-Kommen des Vermittelten und dem Zurücktreten des Mittlers zeichnet sich ab. Wir müssen, mit den Worten von Boris Groys, das Bild umdrehen, um die Leinwand zu sehen;8 für Niklas Luhmann bleiben die Medien in der Manifestation ihrer Botschaft latent, so dass wir immer nur die Formen, nie aber die Medien selbst zu sehen bekommen;9 damit greift er einen Gedanken von Fritz Heider auf, für den die
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Diese Figur ist in verschiedenen meiner Veröffentlichungen bereits ausgelotet. Im Zentrum: Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008. Zur Darstellung der auf die Botenfigur und die mediale Übertragung orientierten Literatur vgl. „Medien, Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literatur-
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bericht“, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium, Frankfurt a. M. 2008, S. 65-90. Lorenz Engell/Joseph Vogl: „Vorwort“, in: Joseph Vogl/Lorenz Engell et al.
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(Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 3. Aufl., Stuttgart 2000, S. 8-11, S. 10. Boris Groys: Unter Verdacht: Eine Phänomenologie der Medien, München/
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Wien 2000, S. 21ff. Dazu: Sybille Krämer: „Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form?“, in: Rechtshistorisches Journal 17 (1998), S. 558-574.
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Sybille Krämer Fremdbestimmtheit, die ‚Außenbedingtheit‘ einer auferlegten Ordnung konstitutiv ist für das Mediengeschehen.10 Dieter Mersch schließlich hat den Entzug der Medien in ihrem störungsfreien Vollzug zum Ausgangspunkt seiner Negativen Medienphilosophie gemacht.11 Wir können also resümieren, dass die aisthetische Selbstneutralisierung zur Funktionslogik von Medien gehört. Medien vergegenwärtigen, indem sie selbst dabei zurücktreten und unterhalb der Schwelle des Wahrnehmens verbleiben: So kann das Vermittelte als ein ‚Unmittelbares‘ erscheinen. Das ist auch der Grund, dass nahezu allen Medien – und nicht erst den computergenerierten virtuellen Welten – eine Tendenz zur ‚Immersion‘, zum Eintauchen durch den Mediennutzer eigen ist. Medien funktionieren umso reibungsloser, je mehr sie uns ihre Zwischen- und Mittlerstellung gerade übersehen und vergessen lassen. Für uns nun ist diese ‚Verschwindenslogik‘ ein Grund, auf die Figur des Boten als archetypische Situation und als ein Modellansatz für eine am Mediengebrauch orientierte Medientheorie zurückzugehen. Zuvor allerdings seien noch zwei Zusammenhänge logischer und mythologischer Art erwähnt, die uns auf den den Medien eigenen ‚Entzug im Vollzug‘ und auf das Prinzip ihrer ‚aisthetischen Selbstneutralisierung‘ aufmerksam machen können. Einmal geht es um einen wortgeschichtlichen Zusammenhang: Der terminus medius bezieht sich im Griechischen auf den syllogistischen Mittelbegriff.12 Er tritt als Begriff in den beiden Prämissen eines syllogistischen Schlusses auf und stiftet eben dadurch den Zusammenhang beider, insofern der Schluss darin besteht, die Begriffe, die nicht Mittelbegriffe sind, miteinander zu verknüpfen. Doch in der Schlussfolgerung taucht dann der Mittelbegriff, der doch eben diese Schlussfolgerung erst ermöglicht hat, nicht mehr auf. Eine Verbindung stiftend, macht der teminus medius sich selbst überflüssig: Das Medium erfüllt sich in seiner Elimination. Zum anderen gibt es ein aufschlussreiches Narrativ, von dem her ein bezeichnendes, allerdings auch radikales Licht auf die Selbstzurücknahme des Boten fällt: Es ist das Motiv des sterbenden 10 Fritz Heider: Ding und Medium, Berlin 1927. 11 Dieter Mersch: „Tertium datur. Einleitung in eine negative Medientheorie“, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M. 2008, S. 304-322. 12 Hans-Dieter Bahr: „Medien-Nachbarwissenschaften I: Philosophie“, in: Medienwissenschaft: Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien- und Kommunikationsformen (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft, Bd. 15), Berlin/New York 1999, S. 273-281, S. 273; Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs (Archiv für Begriffsgeschichte: Sonderheft), Hamburg 2002, S. 16.
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Selbstzurücknahme. Über eine medientheoretische Figur Boten in Mythos, Religion und Kunst, in dem sich das Prinzip der Selbstzurücknahme zu einer Extremform verdichtet. Eine von Plutarch überlieferte Legende13 lässt einen Soldaten – in voller Rüstung – von Marathon nach Athen laufen und die Botschaft vom Sieg der Griechen über die Perser überbringen und dann tot zusammenbrechen. Interessant nun ist, dass diese Schilderung mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht historisch zu verbürgen, vielmehr Legende ist, standen dem griechischen Heer doch eine Vielzahl von Tagläufern zu Gebote, die – bestens trainiert und natürlich ohne Rüstung – unschwer noch längere Strecken laufend bewältigen konnten. Doch gerade der legendär-mythologische Charakter dieser Erzählung unterstreicht, dass, wie in einer Art ‚Medientheorie avant la lettre‘, das Prinzip der Selbstzurücknahme und der Selbstneutralisierung drastisch zum Ausdruck gebracht, wenn nicht gar als Ethos des Botengangs angedeutet wird: Der Bote verbraucht sich in seinem Botentum. Auch Michel Serres interessiert das Verschwinden der Boten: Er kommentiert das Bild Triumph des Christentums von Tommaso Laureti, welches im Vordergrund eine zerschmetterte Hermesstatue, im Hintergrund den gekreuzigten Christus zeigt, mit den lakonischen Worten: „Merkur und Christus liegen beide im Sterben. Die Boten verschwinden angesichts der Botschaft: Das ist die Lehre ihrer Passion.“14
Das Botenmodell Versuchen wir nun, die Grundlinien des Botenmodells als Nährboden einer Medientheorie aus dem Geiste des Mittlers und der Übertragung zu skizzieren. Der Fluchtpunkt, auf den hin diese ‚Grundlinien‘ hinauslaufen, ist Heteronomie: Nicht Selbstbestimmtheit, vielmehr Fremdbestimmtheit ist dem Boten auferlegt. Genau darin verkörpert er das Grundprinzip jener Form von Aktivität, wie sie Medien – im Unterschied nicht nur zu gewöhnlichen Maschinen, sondern auch den Zeichen selbst15 – eigen ist.
13 Plutarch: Moralia/Moralische Schriften, hg. v. Otto Apelt, Leipzig 1926/27, 347c. 14 Michel Serres: Die Legende der Engel, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1995, S. 80. 15 Zum Unterschied zwischen Medien und Zeichen: Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 33ff.
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Sybille Krämer Das nun sind die wesentlichen Attribute des Botenmodells:16 (i) Distanz und Heterogenität: Die Teilung ist Voraussetzung aller Mit-Teilung. Das, was Kommunikation überhaupt (erst) ermöglicht, ist Differenz, ob diese nun in der Elementarform räumlicher bzw. zeitlicher Distanz oder, substanzieller, als qualitative Verschiedenartigkeit begriffen wird. Wir müssen also das Entferntsein voneinander als eine Grundbedingung des Kommunizierens auffassen, welche auf die Fernkommunikation also keineswegs beschränkt ist. Der Bote vermittelt zwischen verschiedenartigen Welten, welche er dadurch nicht nur ‚überbrückt‘, sondern in ihrer Differenz zueinander auch bestätigt und stabilisiert. Er stiftet Zusammenhang in der Verschiedenheit. (ii) Heteronomie: Der Bote spricht mit fremder Stimme, also nicht ‚im eigenen Namen‘. Er empfängt und übermittelt, wovon er nicht selbst der Ursprung ist. Er spricht für jemand anderen. Genau genommen: Er redet nicht im sprechakttheoretischen Sinne, sondern macht wahrnehmbar, was ein anderer gesagt und aufgetragen hat. Daher ist das Wahrnehmbarmachen und nicht etwa das Kommunizieren, das Zeigen und nicht das Sagen seine originäre Aufgabe. Diese ‚uneigentliche Rede‘ des Boten ist überdies Teil der Telekommunikation der Macht, insofern die Verbreitung des Wortes zugleich den Raum der Herrschaft zu umgrenzen und sicherzustellen vermag. Es gibt somit stets ein Außerhalb der Medien. (iii) Drittheit als Keimzelle der Sozialität: Wir sind gewohnt, duale Beziehungen als Keimformen der Sozialität anzusehen: Sprecher/ Hörer, Ich/Du, Herr/Knecht, Sender/Empfänger: Das sind nur einige der binären Strukturen, die als Springquelle von Vergemeinschaftung gelten. In der Perspektive dieser dualen Interaktion erscheint das Auftreten eines Dritten als störend bzw. parasitär. Und doch sind „dyadische Figuren latent trianguliert“:17 Und so stiftet auch der Bote – angesiedelt zwischen Alterität und Pluralität – durch seine Mittlerstellung stets auch eine soziale Relation. Es ist nicht abwegig, in der Drittheit und eben nicht der Zweiheit den Nährboden zu vermuten für jene Form des Gesellschaftlichen, die sich zu sozialen Institutionen verdichtet. (iv) Indifferenz und diabolische Entgleisung: Neutralität ist die Wurzel des Mittleramtes. Das allerdings ist eine systematische, keine historische Aussage.18 Diese Mittlerstellung ist nur zu wahren, 16 Ausführlich in: Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 110ff. 17 Joachim Fischer: „Figuren und Funktionen der Tertiarität. Zur Sozialtheorie der Medien“, in: Joachim Michael/Markus Schäffauer (Hg.): Massenmedien und Alterität, Frankfurt a. M. 2004, S. 78-86, S. 80. 18 Dass die Botenneutralität missachtet wurde und der Überbringer für schlechte Nachrichten auch zu büßen hatte, ist häufig dokumentiert. Zur historischen Auseinandersetzung mit dem Boten: Horst Wenzel (Hg.):
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Selbstzurücknahme. Über eine medientheoretische Figur wenn Fremdvergegenwärtigung durch eine Selbstneutralisierung vollzogen wird. Doch dies bleibt eine ambivalente Konfiguration: Der Bote kann nicht nur verbinden, sondern auch unterbrechen, er kann Zwist stiften und Intrigen einfädeln. Die Zurückhaltung des Boten kennt also auch ihre Umkehrung; die diabolische Entgleisung bleibt der Dritten- und Neutralitätsfunktion als Option stets eingeschrieben. (v) Materialität und Äußerlichkeit: Als Teil des Materialitätskontinuums bewegt der Bote sich im Zwischenraum des Sinnaufschubs.19 Die Abspaltung von Sinn und Sinnlichkeit, von Text und Textur, Form und Gehalt gewinnt in ihm eine handgreifliche Gestalt. Inkorporation und Exkorporation verschränken sich im Boten. Was immer die Botschaft ist: sie muss aus der Situation ihrer Genese ablösbar, transportierbar, überbringbar sein. (vi) Depersonalisierung und ontologische Neutralität: Der Bote ist eine Person, die ihre Mission durch eine Art von Depersonalisierung realisiert. Der Bote enthält sich seines eigenen Personseins. Daher sind Boten durch symbolische und technische Nachrichtenträger durchaus ersetzbar: Sie verkörpern Aufgaben, die durch die Zirkulation und die Funktionsweise von Dingen und Signalen ebenso gut, wenn nicht noch besser erfüllt werden können – vorausgesetzt allerdings, wir unterscheiden noch nicht zwischen ‚Übertragung‘ (im Sinne des Überbringens von Botschaften) und ‚Vermittlung‘ (im Sinne der Diplomatie). Dieser wesentliche Unterschied kann hier (noch) nicht entfaltet werden. Uns genügt es hier zu sagen: Die Botenfunktion ist ontologisch neutral. Anhand dieser ‚Neutralität‘ können wir einen für unser ‚Botenmodell‘ wichtigen Aspekt klären und einem Missverständnis vorbeugen, das in diesem Modell angelegt sein mag: Der Versuch, Charakteristika der Medienfunktion durch Dimensionen des Botengangs zu erläutern, darf nicht so verstanden werden, dass nun die ‚Apparatetheorie‘ vieler avantgardistischer Medientheorien durch eine ‚Humantheorie‘ des Mediums, die ‚Technikorientierung‘ nun also durch eine ‚Personenorientierung‘ ersetzt würde. In unserer Studie über „Medium, Bote, Übertragung“ werden nicht zufällig als Übertragungsmedien so unterschiedliche ‚Phänomene‘ wie Engel, Viren, Geld, Übersetzung, Psychoanalyse und Zeugenschaft untersucht, mithin also imaginäre, physiologische, ökonomische, sprachliche, psychische und juridische Boten in ihrer Divergenz in den Blick genommen.
Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin 1997; insbes. Bernhard Siegert: „Vögel, Engel und Gesandte. Alteuropas Übertragungsmedien“, in: ebd., S. 45-62. 19 Zu ‚Sinnaufschub‘: Georg Christoph Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a. M. 2002, S. 8.
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Sybille Krämer Gleichwohl können und wollen wir jetzt das an der ontologisch neutralen Kategorie des Boten entwickelte Prinzip der ‚Selbstzurücknahme‘ auch als einen Kommentar zur conditio humana, als einen Beitrag zur Frage nach der Rolle unseres Selbstverhältnisses und Selbstverständnisses auffassen. Denn unser medientheoretischer Entwurf birgt auch philosophisch-anthropologische Facetten.
Selbstbezug – Selbstentzug Wir haben gesehen: Das Spezifikum des Mediums besteht darin, Fremdvergegenwärtigung durch ‚Selbstausblendung‘ zu ermöglichen. Dieses ‚Zurücktreten vom Selbst‘, das Absehen von der eigenen Personalität, gilt dann nicht als Verfall und Verlust, sondern verkörpert eine spezifische Art von Produktivität, die vonnöten ist, wenn zwischen dem Heterogenen ein Nexus zu stiften ist. Für die neuzeitliche Philosophie ist die Kategorie des ‚Selbst‘ zentral. Im Zuge der neuzeitlichen Subjektivierung verschwistern sich – und wir überspringen hier großzügig Unterschiede zwischen Descartes, Locke, Leibniz, Hume und Kant – die Personalität im Sinne individueller Identität und das Selbstsein im Sinne des Selbstbewusstseins als einem Reflexionsbegriff. Doch wie signifikant ist es, dass der Personbegriff etymologisch mit dem theatralen Darsteller im antiken Theater verbunden ist (per-sonare: durch die Maske tönen), der, indem er durch die Maske spricht, nicht sich, sondern eine Rolle zur Aufführung bringt? Oder wie aufschlussreich ist es, dass con-scientia, ein Begriff, der bei Descartes sich zum Terminus für unsere mentale Innenwelt, für das individuelle Bewusstsein verdichtet, aus dem römischen Recht stammt und eben dort nicht etwa ein individuelles Bewusstsein, vielmehr die Mitwisserschaft, also das geteilte Wissen einer (kriminellen) Gruppe bedeutete?20 Deutet sich hier an – wenn auch vielleicht auf eine eher verborgene Weise –, dass sogar in Brennpunkten neuzeitlicher Subjektivierung und Individualisierung ein Echo vernehmbar bleibt, welches im ‚Urhumanum‘ unserer Fähigkeit zum Selbstbezug auch die Möglichkeit des Selbstentzugs nachhallen lässt? Nicht einfach, dass wir einen (Eigen-)Namen und eine eigene Stimme ‚haben‘, sondern dass wir (auch) in fremdem Namen und mit der Stimme eines anderen sprechen können, bildet einen Grundzug der
20 Mehr dazu: Sybille Krämer: „Bewußtsein als theoretische Fiktion und als Prinzip des Personverstehens“, in: dies. (Hg.): Bewußtsein. Philosophische Beiträge, Frankfurt a. M. 1996, S. 36-53.
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Selbstzurücknahme. Über eine medientheoretische Figur conditio humana. Die Produktivität dieser Fähigkeit zur Selbstvergessenheit gilt es herauszuarbeiten. Dabei ist jegliche Vereinfachung in Richtung eines ausschließenden Entweder-Oder zu vermeiden: ‚Demiurg‘ (Urheber) und ‚Bote‘ (Überträger) bilden keine disjunkten Modi zur Konzipierung unseres In-der-Welt-Seins und unseres Selbstverhältnisses. Vielmehr sind das ‚Erschaffen‘ und das ‚Übertragen‘ zwei Tätigkeitsformen, die einander komplementär sind und erst in der Wechselwirkung von Aktivität und Passivität, von Produktion und Zirkulation, von Personalität und Depersonalisierung sich zu kulturellen Dynamiken verdichten. Und noch ein Weiteres: Selbstbezug und Selbstentzug sind keineswegs mit einem moralischen Vorzeichen versehen; sie stehen zueinander nicht im Verhältnis von Macht und Ohnmacht, von Konstruktion und Destruktion. Um die Ambivalenzen einer von der ‚Botenfunktion‘ her konturierten conditio humana aufzudecken, wollen wir uns abschließend zwei Phänomenen zuwenden, die ein Licht werfen können auf die Zwieschlächtigkeit und auch die Aporien der Selbstzurücknahme. Es geht um Zeugenschaft und Märtyrertum (martys, griech.: der Zeuge).21
Zeugenschaft Es geht uns um eine Aporie, die im Kern der Zeugenschaft nistet. Zeugenschaft ist ein ubiquitäres Phänomen,22 das vom Gerichtszeugen über den Überlebens- und Blutzeugen bis hin zum alltäglichen Wissen und Informiertwerden durch die Worte anderer reicht. Es sind Situationen von Ungewissheit und Nichtwissen, in denen es nötig wird, durch Zeugenaussagen zu ermitteln, ‚wie etwas – wirklich – gewesen ist‘. Ein Zeuge hat also die Wahrnehmung eines Ereignisses in Gestalt eines öffentlichen Statements an diejenigen weiterzugeben, die beim Ereignis gerade nicht anwesend gewesen sind. Gehen wir aus von der prototypischen Form des Gerichtszeugen: (i) Der Zeuge hat Evidenz zu schaffen.23 Er dient im Rechtsstreit analog zu einem Beweismittel, fungiert in der Tat wie ein ‚Objekt‘ und ‚Instrument‘, nicht anders denn eine sächliche Spur. (ii) Der Zeuge zeugt kraft seiner Wahrnehmung. Er ist gefragt als der Beobachter und Rezipient eines Geschehens. Das aber heißt gerade: Auf seine kognitiven und urteilenden Aktivitäten, auf seine Meinungen, Bewertungen und Schlussfolgerungen kommt es in keiner Weise an,
21 Ausführlicher: Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 223ff. 22 Dazu: ebd., S. 223-260. 23 C. Anthony Coady: Testimony. A Philosophical Study, Oxford 1992, S. 32.
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Sybille Krämer sie würden den Wahrheitsgehalt seines Zeugnisses eher stören und trüben. Das Ideal der Zeugenschaft erfüllt sich im Unbeteiligtsein an eben jenem Vorgang, den es zu bezeugen gilt. Hierin übrigens wurzelt das Dilemma von Zeugen, die zugleich Opfer sind. (iii) Der Zeuge hat das Wahrgenommene zu diskursivieren, also seine persönliche Wahrnehmung in eine sprachliche Aussage und öffentliche Stellungnahme zu überführen.24 Unabhängig davon, dass wir uns in unseren Wahrnehmungen irren können und dies häufig auch tun, ermöglicht deren Übertragung in eine sprachliche Form die Möglichkeit der bewussten Falschaussage. Das Dilemma, das sich hier auftut, liegt auf der Hand. (iv) Denn der Zeuge spricht zu und vor einer Jury. Die Hörer sind in Unkenntnis eben jenes Geschehens, das der Zeuge bezeugt: Eine grundlegende Asymmetrie zwischen Zeuge und Auditorium ist gegeben. Daher gilt es nun, eine weitere fundamentale Bedingung der Zeugenschaft zu berücksichtigen. (v) Der Zeuge muss glaub- und vertrauenswürdig sein.25 Da mentale Zustände (wie etwa eine Wahrnehmung) nicht übertragbar sind,26 gründet die Wahrheit der bezeugten Sätze in letzter Instanz in der Wahrhaftigkeit der Person. Dass die Möglichkeit der Lüge jedem Zeugnis inhäriert, unterscheidet Zeugenaussagen von gewöhnlichen Spuren, die als Indizien genutzt werden: Spuren können falsch gelesen und interpretiert werden, nicht aber ‚lügen‘. Angesichts der empirischen Unüberprüfbarkeit der Zeugenaussage werden nun Vertrauenswürdigkeit und Wahrhaftigkeit für das Zeugnisgeben grundlegend. Für seine Worte steht der Zeuge ein mit seiner Person. Nur derjenige Zeuge überzeugt, dem auch vertraut wird. Alleine mit Hilfe des sozialen Bandes des Vertrauens ist eine Übertragung von Wahrnehmung und Wissen durch den Zeugen sowie die Entstehung von neuem Wissen seitens der Hörer möglich. Vielleicht zeichnet sich nun ab, worin das Paradoxon der Zeugenschaft besteht: Die Zeugenaussage schafft Evidenz, ohne im herkömmlichen Sinne gerechtfertigt werden zu können. Diese Evidenzerzeugung birgt zwei Momente: Einmal soll der Zeuge ein neutraler, unbeteiligter Beobachter eines Geschehens sein, der – unter Absehung aller persönlichen Belange, Interessen, Idiosynkrasien – zum bloß sachlichen und sächlichen ‚Datenerhebungs-‘‚ und ‚Datenwiedergabeinstrument‘ mutiert und sich dabei auch aller Reflexion, 24 John Durham Peters: „Witnessing“, in: Media, Culture & Society, Bd. 23, Heft 6 (2001), S. 707-723, S. 709ff. 25 Es hängt von Glaubwürdigkeitserwägungen ab, ob ein Gericht sich entscheidet, ein Zeugnis für wahr oder falsch zu erachten: Armin Nack: „Der Zeugenbeweis aus aussagepsychologischer und juristischer Sicht“, in: Strafverteidiger 1 (2001), S. 1-9, S. 2. 26 John Durham Peters: „Witnessing“, S. 710.
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Selbstzurücknahme. Über eine medientheoretische Figur Meinungsbildung und Beurteilung enthält. Zugleich aber hat er sich als ein Mensch zu erweisen, der vertrauens- und glaubwürdig ist; der eine kohärente Persönlichkeit verkörpert, bei der äußeres Verhalten und innere Überzeugungen übereinstimmen! Das Dilemma des Zeugen besteht darin, sich zugleich wie ‚ein Ding‘ und wie eine ‚authentische Person‘ verhalten zu müssen, sich einerseits in ein neutrales Aufzeichnungsmedium und einen seelenlosen ‚Seismographen‘ eines vergangenen Geschehens zu ‚verdinglichen‘ und zu depersonalisieren und zugleich allein durch die Authentizität, Glaub- und Vertrauenswürdigkeit seiner Person für die Wahrheit seiner Zeugenaussage einstehen zu können. Der Zeuge agiert zugleich als depersonalisiertes Medium und als authentische Person.
Selbstlosigkeit als Mittel der Selbststilisierung und ihre zerstörerische Extremform Eine letzte Überlegung sei hier – wenn auch nur schemenhaft – angedeutet. Sie hat mit der Ambivalenz aller ‚Selbstneutralisierung‘ zu tun. Betrachtet als Funktionsgesetz störungsfreier Medien, eröffnet die Ausblendung der medialen Eigenlogik und Eigensinnlichkeit im Umgang mit Medien die Möglichkeit einer ‚Fremdvergegenwärtigung‘, durch die überhaupt erst präsent werden kann, was aufgrund von Distanz, Differenz, Heterogenität anders gar nicht wahrnehmbar zu machen wäre. Die Anaisthetisierung ist also ein im Verborgenen wirksames Verfahren, mit dem die Präsentation durch (ungestörte) Medien sich zur Präsenz einer ‚vermittelten Unmittelbarkeit‘ gestaltet. Es ist diese Evokation von Unmittelbarkeit, die für Benjamin das ‚Magische‘ im Mediengeschehen ausmacht.27 Luhmann drückt dieses Verschwinden des Mediums zugunsten seiner Botschaft prosaischer aus: Wir können immer nur die Formen, nicht aber die Medien selbst beobachten.28 Doch wenn wir dieses Zurücktreten hinter die Botschaft als Akt der Absehung vom Selbst im Hinblick auf die conditio humana reflektieren, drängt sich eine Frage auf: Ist nicht vorstellbar, dass die Verfahren von Selbstzurücknahme und Selbstlosigkeit ihrerseits zum Inhalt einer ‚Mission‘ werden und dabei die Erschaffung des eigenen Selbst zum ‚eigentlichen Telos‘ einer Mission mutieren kann?
27 Walter Benjamin: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 140-157, S. 142f.; dazu: Sybille Krämer: Medium, Bote, Übertragung, S. 43ff. 28 Vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 165ff.
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Sybille Krämer Was, wenn die fremde Stimme, die zur Geltung gebracht wird, nur die Verkleidung ist, um der eigenen Stimme ein umso größeres Gewicht zu geben? Erinnern wir uns: Dem Botenmodell ist die diabolische Entgleisung eingeschrieben, ebenso wie Luzifer den Status des Diabolischen einnimmt, sobald er nicht länger bereit ist, die dem Engel (allein) zustehende Mitte zwischen Mensch und Gott einzunehmen. ‚Eine Mission zu haben‘, kann stets auch missionarisch missbraucht werden. Ein etymologischer Zusammenhang kann hier als Hinweis dienen: martys, „Zeuge“, und martyrein, „bezeugen“, sind griechische Termini, die erst recht spät den religiösen Sinn von Blutszeugenschaft angenommen haben.29 Wo nicht mehr von der Immanenz einer Wahrnehmung, vielmehr von der Transzendenz einer Glaubenserfahrung zu zeugen ist, nimmt das Dilemma der Zeugenschaft, öffentlich zu bezeugen, was öffentlich gerade nicht (mehr) zugänglich ist, eine dramatische Form an. Die Glaubwürdigkeit der Person wird da am stärksten, wo sie zur Aufgabe ihrer selbst im Sterben bereit ist: Die Bürgschaft für die Wahrheit liegt dann nicht mehr in den Worten, sondern im leidenden und sterbenden Körper. Der ‚sterbende Bote‘ verwandelt sich in den Blutzeugen seiner Botschaft und wird darin zum Märtyrer. Doch auch hier lauern die Fallstricke des Missbrauchs und der ‚Entgleisung‘. Was sich als Märtyrertum des ‚sterbenden Boten‘ inszeniert, kann sich dann als Selbstmordattentäter entpuppen. Sigrid Weigel hat die Selbstmordattentäter der Gegenwart als Wiedergänger der „lange[n] und stabile[n] Tradition von Märtyrerverehrungen und -darstellungen“ charakterisiert.30 Für uns allerdings kommt es hier nur darauf an, die der Selbstlosigkeit und Selbstzurücknahme prinzipiell inhärente Zwieschlächtigkeit gerade an diesem Extrem deutlich zu machen. Dieser Fall ist dadurch gekennzeichnet, dass die in Anspruch genommene Fremdbestimmung sich als Form zerstörerisch wirksamer Selbstbestimmung erweist, und die Heteronomie, die dem Botengang eingeschrieben ist, zum Instrument einer umso destruktiveren Autonomie wird!
29 Im Christentum ist erst im 2. Jh. nach Christus ein Brief der Gemeinde Smyrna überliefert, in dem ein fixierter martyrologischer Sprachgebrauch nachweisbar ist: Anna Maria Schwemer: „Prophet, Zeuge und Märtyrer. Zur Entstehung des Märtyrerbegriffs im frühesten Christentum“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 96 (1999), S. 320-350, S. 347. 30 Sigrid Weigel (Hg.): Märtyrer-Portraits. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München 2007, S. 11.
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Selbstzurücknahme. Über eine medientheoretische Figur
Literatur Bahr, Hans-Dieter: „Medien-Nachbarwissenschaften I: Philosophie“, in: Medienwissenschaft: Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien- und Kommunikationsformen (Handbücher zur Sprachund Kommunikationswissenschaft, Bd. 15), Berlin/New York 1999, S. 273-281. Benjamin, Walter: „Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen“, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. II.1, Frankfurt a. M. 1977, S. 140-157 (Orig. 1916). Coady, C. Anthony: Testimony. A Philosophical Study, Oxford 1992. Engell, Lorenz/Joseph Vogl: „Vorwort“, in: Joseph Vogl/Lorenz Engell et al. (Hg.): Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, 3. Aufl., Stuttgart 2000, S. 8-11. Fischer, Joachim: „Figuren und Funktionen der Tertiarität. Zur Sozialtheorie der Medien“, in: Joachim Michael/Markus Schäffauer (Hg.): Massenmedien und Alterität, Frankfurt a. M. 2004, S. 78-86. Groys, Boris: Unter Verdacht: Eine Phänomenologie der Medien, München/Wien 2000. Heider, Fritz: Ding und Medium, Berlin 1927. Hoffmann, Stefan: Geschichte des Medienbegriffs (Archiv für Begriffsgeschichte: Sonderheft), Hamburg 2002. Krämer, Sybille: „Bewußtsein als theoretische Fiktion und als Prinzip des Personverstehens“, in: dies. (Hg.): Bewußtsein. Philosophische Beiträge, Frankfurt a. M. 1996, S. 36-53. – „Form als Vollzug oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form?“, in: Rechtshistorisches Journal 17 (1998), S. 558-574. – „Was tut Austin, indem er über das Performative spricht? Ein anderer Blick auf die Anfänge der Sprechakttheorie“, in: Jens Kertscher/Dieter Mersch (Hg.): Performativität und Praxis, München 2003, S. 19-34. – Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a. M. 2008. – „Medien; Boten, Spuren. Wenig mehr als ein Literaturbericht“, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium, Frankfurt a. M. 2008, S. 65-90. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997. Mersch, Dieter: „Medialität und Undarstellbarkeit. Einleitung in eine ‚negative‘ Medientheorie“, in: Sybille Krämer (Hg.): Performativität und Medialität, München 2004, S. 75-96. – Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006.
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Sybille Krämer –
„Tertium datur. Einleitung in eine negative Medientheorie“, in: Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a. M. 2008, S. 304-322. Nack, Armin: „Der Zeugenbeweis aus aussagepsychologischer und juristischer Sicht“, in: Strafverteidiger 1 (2001), S. 1-9. Perl, E. D.: „The Demiurge and the Forms: A return to the ancient interpretations of Plato’s Timaeus“, in: Ancient Philosophy 18 (1998), S. 81-92. Peters, John Durham: „Witnessing“, in: Media, Culture & Society, Bd. 23, Heft 6 (2001), S. 707-723. Plutarch: Moralia/Moralische Schriften, hg. v. Otto Apelt, Leipzig 1926/27. Schünemann, Bernd: „Zeugenbeweis auf dünnem Eis – Von seinen tatsächlichen Schwächen, seinen rechtlichen Gebrechen und seiner notwendigen Reform“, in: Albin Eser et al. (Hg.): Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis, München 2001, S. 385407. Schwemer, Anna Maria: „Prophet, Zeuge und Märtyrer. Zur Entstehung des Märtyrerbegriffs im frühesten Christentum“, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche, Jg. 96 (1999), S. 320-250. Serres, Michel: Die Legende der Engel, übers. v. Michael Bischoff, Frankfurt a. M. 1995 (frz.: La légende des anges, Paris 1993). Siegert, Bernhard: „Vögel, Engel und Gesandte. Alteuropas Übertragungsmedien“, in: Horst Wenzel (Hg.): Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin 1997, S. 45-62. Tholen, Georg Christoph: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt a. M. 2002. Weigel, Sigrid (Hg.): Märtyrer-Portraits. Von Opfertod, Blutzeugen und heiligen Kriegern, München 2007. Wenzel, Horst (Hg.): Gespräche – Boten – Briefe. Körpergedächtnis und Schriftgedächtnis im Mittelalter, Berlin 1997. Winkler, Hartmut: Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt a. M. 2004.
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„Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen“. Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme ROLF ELBERFELD
Im 15. Jahrhundert ließ Pico della Mirandola in seiner Rede über die Würde des Menschen Gott selbst dem Menschen einen wirkungsreichen Auftrag erteilen: „Weder als einen Himmlischen noch als einen Irdischen habe ich dich geschaffen und weder sterblich noch unsterblich dich gemacht, damit du wie ein Former und Bildner deiner selbst nach eigenen Belieben und aus eigener Macht zu der Gestalt dich ausbilden kannst, die du bevorzugst.“1
Der erste Teil des Satzes steht in guter mittelalterlicher Tradition der Auslegung des Menschen als einem Wesen, das zwischen intelligibler und sensibler Welt seinen festen Ort einnimmt. Der zweite Teil reißt hingegen einen für die damalige Zeit revolutionären Raum für die Gestaltungsfreiheit menschlichen Lebens auf, der bis heute nicht an seine Grenzen gelangt zu sein scheint. Der Mensch als ein sich selbst aktiv formendes und schaffendes Wesen ist eine Figur, die nicht nur die europäische Neuzeit und Aufklärung, sondern auch die von Europa her sich global ausbreitende Moderne zutiefst bestimmt und in verschiedenen – zumeist männlichen – Auslegungsformen auftritt: uomo universale, Genie, sich selbst denkendes und setzendes Ich, Erfinder, Künstler, Ingenieur, Leistungssportler, Neoliberaler. Die Liste ließe sich leicht verlängern. Hinter diesen Figuren sind andere Optionen der Lebensführung, die die ältere europäische Tradition hervorgebracht hatte, verblasst, wie die asketi-
1
Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, Lateinisch/Deutsch, hg. u. übers. v. Gerd von der Gönna, Stuttgart 1997, S. 9.
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Rolf Elberfeld schen Übungsformen der griechischen und römischen Philosophie2, sowie die kontemplativen, mystischen und mönchischen Formen verschiedener religiöser Bewegungen, die sich nicht auf das Christentum beschränken lassen. Auch wenn diese Traditionen nicht ganz verschwunden sind, so sind sie spätestens im 18. Jahrhundert in Europa von der Wirksamkeit des sich aus eigener Kraft schaffenden und verstehenden Menschen überstrahlt worden. Bereits im 19. Jahrhundert kam es jedoch in Europa zu einer philosophiegeschichtlich zu wenig beachteten Entwicklung, die auch die Rezeption der älteren europäischen asketischen Übungsformen neu in den Blick zu rücken half. Als sich Arthur Schopenhauer durch noch wenig gesicherte Quellen mit der Welt der indischen Upanishaden und des indischen Buddhismus vertraut machte, flossen asiatische Motive der Selbstzurücknahme in die europäische Geisteswelt ein. Schopenhauers Formel von der ‚Verneinung des Willens‘ und seine Mitleidsethik stellten zugleich eine Kritik dar am Bild des sich selbst schaffenden Menschen als einem autonom agierenden Wesen, das alles aus eigener Macht und Kraft zu schöpfen vorgibt. Damit beginnt eine Rezeption asiatischer Philosophien in Europa, die sich im 20. Jahrhundert weiter ausbreitete und vor allem in den Künsten nachhaltige Wirkungen zeigte.3 An Schopenhauer wird exemplarisch deutlich, dass die Figur der Selbstzurücknahme in der Philosophie und den Künsten in Europa wesentliche Impulse aus der Rezeption asiatischer Philoso-
2
Vgl. Pierre Hadot: Wege zur Weisheit, oder: Was lehrt uns die antike Philosophie?, Frankfurt a. M. 1999.
3
Einer der bisherigen Höhepunkte im Wirksamwerden buddhistischer bzw. zen-buddhistischer Erfahrungsweisen in der westlichen Kunst kann bei John Cage beobachtet werden, der sicher nicht als ein buddhistischer Komponist zu bezeichnen ist, aber nachweisbar aus der Begegnung mit zen-buddhistischen Texten und Lehren wichtige Impulse in seinem Komponieren verstärken konnte, wie z.B. die Zurücknahme des Komponisten in seinen Kompositionen, die Betonung der Absichtslosigkeit und die subjektlose Unmittelbarkeit der Klangerfahrungen auch in alltäglichen Situationen. Cage sagte über seine Veränderung nach der Begegnung mit dem Zen: „Now the effect it has was first to change what it was that I was trying to say in my work. And, second, to change how it was I was making my work. – When I discovered India, what I was saying started to change. And when I discovered China and Japan, I changed the very fact of saying anything: I said nothing anymore. Silence: since everything already communicates, why wish to communicate?“ Zitiert nach: Hans-Friedrich Bormann: Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik, München 2005, S. 167. Zur Rezeption asiatischer Philosophien bei John Cage vgl. Christan Utz: Neue Musik in Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun, Stuttgart 2002, S. 71-116.
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Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme phien und Religionen empfangen hat.4 Durch diese Rezeption konnte möglicherweise auch ein neues Interesse an den alten europäischen Traditionen der Selbstzurücknahme in Antike und Mittelalter auch in den Künsten befördert werden. Inzwischen ist aber kaum noch nachzuvollziehen, wie genau die Ansteckungs- und Anregungswege verlaufen sind. Als Aufgabe bleibt vielmehr, die genaueren Unterschiede auch im Phänomen der Selbstzurücknahme zu profilieren und zu problematisieren, um auf diese Weise vorschnelle Identifizierungen zu vermeiden.
Zwei Richtungen der Selbstzurücknahme Überblickt und vergleicht man die verschiedenen Formen der Selbstzurücknahme in Europa, Indien, China und Japan, so drängt sich ein Grundunterschied auf in der Funktion der Selbstzurücknahme, wobei die eine Option vorrangig in Europa und Indien und die andere Option zumeist in China und Japan anzutreffen ist. Vor allem in Indien, aber auch in Europa ist in vielen Formen der Askese zu bemerken, dass Selbstzurücknahme bedeutet, sich selbst von den weltlichen Bewegungen und Veränderungen zu distanzieren oder gar ganz zu lösen. Der indische Sadhu versucht, sich allen Lebensregungen zu entziehen, um sich einer bestimmten Form von entweltlichter Befreiung zu nähern. Auch bei Sokrates und Platon ist das Philosophieren ein zentrales Mittel, sterben zu lernen, um sich auf diese Weise von der Welt der Bewegung und der Sinnlichkeit zu lösen. Hier ist die Selbstzurücknahme vor allem eine leiblich-sinnliche Zurücknahme, um im Geiste oder einer göttlichen Dimension festen Boden zu gewinnen, so dass der Mensch dann von den Bewegungen und Veränderungen der Welt unberührt die Wahrheit oder Gott selbst erfahren kann. In China und Japan ist demgegenüber eine Form der Selbstzurücknahme zu beobachten, mit der – oft unter Zuhilfenahme von Bewegungsübungen – versucht wird, sich selbst nicht von sondern für die weltlichen Bewegungen und Veränderungen zu befreien. Denn nicht die weltlichen Bewegungen und Veränderungen erscheinen dort als etwas Negatives, sondern die menschliche Unfähigkeit, sich mit diesem Wandel zu verbinden und ganz in diesen einzugehen. Zentrale Aufgabe des Übens ist daher im alten China immer wieder, das Wandlungsgeschehen so zu ordnen, dass es ungehindert fließen kann. Die Menschen werden selbst zum lebendi-
4
Siehe dazu Alois Payer: Materialien zum Neobuddhismus – Deutschland – Anfänge des Neobuddhismus: Schopenhauer, Fassung vom 5. Mai 2005 unter http://www.payer.de/neobuddhismus/neobud0301.htm (Stand: 12.02.2010).
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Rolf Elberfeld gen Moment des Wandels, der als beständige, gegenwartsbezogene Aufgabe der Übung niemals endet. Wie wenig dieser zentrale Unterschied beachtet wird, zeigt jüngst das Buch von Peter Sloterdijk Du mußt dein Leben ändern5, in dem er die alten Übungs- und Askeseformen indischer und europäischer Herkunft, die sich in grundlegender Weise von der Welt abzuwenden versuchen, in weltgeschichtlicher Perspektive hypostasiert. Übungsformen, die sich erneut für die weltlichen Bewegungen und Veränderungen öffnen, sieht Sloterdijk erst wieder im modernen Europa entstehen, wo die älteren Übungsformen durch Säkularisierung etwa im Sport sich auf neue Weise mit der Welt verbinden. Dass allerdings eine eingehende Beschäftigung mit der Übungstradition Chinas und Japans die Grundthese des gesamten Buches in Frage gestellt hätte, kann an dieser Stelle nur angedeutet werden.6 Sicher lassen sich sowohl im alten Indien und Europa wie im alten China und in Japan Traditionen finden, die eine gegenläufige Tendenz aufweisen. Mir scheint jedoch die Unterscheidung von Übungen der Selbstzurücknahme, die einerseits weltliche Bewegungen und Veränderungen überwinden und andererseits für weltliche Bewegungen und Veränderungen befreien und öffnen wollen, von zentraler Bedeutung zu sein. Für beide Grundausrichtungen haben sich nicht nur in den genannten kulturellen Regionen verschiedene Askese- und Übungsformen entwickelt. Im Folgenden sollen Positionen aus dem japanischen ZenBuddhismus und den daraus in Japan hervorgehenden Künsten vorgestellt werden, die einen Weg der Selbstzurücknahme vor Augen führen, der in der Selbstzurücknahme die Bewegtheit der Welt selbst zur Übungsform erhebt. Die zentrale Übung ist hier nichts anderes als das gleichzeitige Hervorgehen von Ich und Welt als lebendige Bewegung. Um dies zu üben, ist es entscheidend, sich selbst zu vergessen. Die Textpassagen, die ich im folgenden Abschnitt im Hinblick auf das Motiv der Selbstzurücknahme interpretieren werde, stammen von Dōgen (1200–1253), der nicht nur einer der größten Zen-Meister Japans, sondern auch ein großer Denker
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Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009. Ebd., S. 526. Wenn Sloterdijk China an dieser Stelle als „Großmacht des Übens“ bezeichnet, so ist es umso erstaunlicher, dass China in seinem Buch so gut wie keine Rolle spielt. Die mindestens auf eine 2000-jährige Tradition zurückgehenden Qigong-Übungen in China, die als Einübungen in den weltlichen Wandel interpretiert werden müssen, werden beispielsweise in dem Buch nicht erwähnt, so wie auch China und seine Übungstraditionen insgesamt nur rhetorisch, aber nicht inhaltlich einbezogen werden.
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Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme und Sprachschöpfer war.7 Im Anschluss an die Interpretationen zu Dōgen werde ich ein Beispiel aus dem Bereich der Literatur und eines aus dem Bereich des Bogenschießens hinsichtlich der Formen der Selbstzurücknahme erläutern. Alle herangezogenen Texte und Beispiele sollen dazu dienen, die getroffene Grundunterscheindung zu plausibilisieren.
Selbstzurücknahme bei Dōgen Die im Folgenden zitierte Passage gehört zu den berühmtesten aus dem Werk Dōgens. In ihr bündelt sich die Sicht Dōgens auf Möglichkeit und Sinn der Selbstzurücknahme: „Den Buddha-Weg erlernen heißt, sich selbst (jiko) erlernen. Sich selbst erlernen heißt, sich selbst vergessen. Sich selbst vergessen heißt, durch die zehntausend dharma von selbst erwiesen werden. Durch die zehntausend dharma von selbst erwiesen werden heißt, Leib und Herz (shinjin) meiner selbst (jiko) sowie Leib und Herz des Anderen (tako) abfallen zu lassen (totsuraku). Die Spur des Erwachens kann verschwinden, die verschwundene Spur des Erwachens [soll man] lang, lang hervortreten lassen.“8
Der erste Satz stellt einen Bezug her zwischen dem Weg des Buddhas und dem jeweils einzelnen Menschen. Denn wenn ein Mensch den Weg Buddhas zu gehen beabsichtigt, heißt dies nichts anderes, als sich selbst zu erlernen. Nach der Tradition des Buddhismus besteht dieses Erlernen seiner selbst schon in den frühen Achtsamkeitsübungen darin, ein Gewahrsein zu entwickeln für alle Regungen – Gedanken, Gefühle, Willensäußerungen, sinnliche Berührungen usw. –, aus denen sich die Überzeugung nährt, dass ich selbst ein einheitliches Ich sei. Dōgen führt an dieser Stelle den Weg Buddhas, der sich im 13. Jahrhundert bereits mit vielfältigsten religiösen Ritualen verbunden hatte, auf die einfache Maxime zurück, dass es bei dem Weg Buddhas zentral darum geht, mit der eigenen weltlichen Wirklichkeit Erfahrungen zu sammeln. Wichtig sind für die Übung nicht allerlei religiöse Verrichtungen, sondern meine jeweilige lebendige Erfahrung, von der es lernend ein Gewahrsein zu
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In den Interpretationen können nur exemplarische Zuspitzungen geleistet werden, da der größere Kontext im Rahmen eines Aufsatzes nicht miterläutert werden kann. Zu einer ausführlicheren Interpretation seines Denkens vgl. Rolf Elberfeld: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden in-
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terkulturellen Philosophierens, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. Dōgen: Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte. Anders Philosophieren aus dem Zen (Zweisprachige Ausgabe), hg. u. übers. v. Ryōsuke Ōhashi u. Rolf Elberfeld, Tokyo/Stuttgart-Bad Cannstatt 2006, S. 39.
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Rolf Elberfeld entwickeln gilt.9 Zugespitzt könnte gesagt werden, dass die Wahrnehmung meiner selbst als lebendige und zugleich vergängliche Realität der Einstieg in den Weg Buddhas ist, ohne jede religiöse oder mystische Jenseitigkeit. Der Weg Buddhas in der Deutung von Dōgen führt mich somit in die Bewegtheit meiner eigenen Existenz hinein, ohne dafür an besondere Gehalte oder Dogmen glauben zu müssen. Im nächsten Satz geht Dōgen einen Schritt weiter, indem er sagt, dass das Erlernen seiner selbst im Vergessen seiner selbst eingelöst wird. Dieser Schritt ist in buddhistischer Sicht eine Konsequenz aus der langen Übung des Gewahrseins seiner selbst. Denn je mehr ich bemerke, wie ich selbst unablässig aus verschiedensten Regungen und Impulsen entstehe, umso mehr gewinnt die Einsicht an Gewicht, dass ich selbst nicht zentral aus dem immer wieder von mir selbst erzeugten Ich bestehe, das mir eine beständige und kontinuierliche Realität zu verschaffen scheint, sondern ich selbst nichts anderes bin als die erfahrende und lebendige Bewegung meiner selbst. Indem ich mich selbst als diese Bewegung erfahre, vergesse ich zunehmend das ‚Ich‘, das dazu tendiert, sich als konstanter Faktor über diese Bewegung zu erheben. Indem die lebendige Bewegung sich mehr und mehr kennenlernt und dadurch das sich über dieser Bewegung erhebende ‚Ich‘ zurückgenommen wird, kann die lebendige Bewegung, als die ich selber bin, in den Vordergrund der Aufmerksamkeit treten. Im letzten Satz wurde die „lebendige Bewegung“ meiner selbst zum Subjekt des Satzes im Zusammenhang mit einer reflexiven Wendung, die prozessual zu verstehen ist. An diesem Punkt kommt ein grammatisches Problem in der Beschreibung der Selbstzurücknahme ins Spiel, das immer wieder große Schwierigkeiten bereitet. Denn das von Dōgen beschriebene „Vergessen“ ist weder einfach ‚aktiv‘ noch ‚passiv‘. Es ist vielmehr das In-den-Vordergrund-Rücken einer Vollzugs- und Bewegungsform, die nicht anhand der Unterscheidung von aktiv und passiv beschrieben werden kann. Denn „vergessen“ bedeutet bei Dōgen nicht, einfach einzuschlafen oder stumpfsinnig zu werden, sondern dass weltliche Bewegung sich aus sich selbst heraus als Bewegung vollzieht. Im dritten Satz benutzt Dōgen, um das genannte Problem zum Ausdruck zu bringen, eine grammatische Form, die im Altjapanischen gebräuchlich war und in der herkömmlichen Beschreibung der deutschen Sprache nicht existiert. Die Wendung „von selbst er9
In dieser konkreten und diesseitigen Ausrichtung bestimmter buddhistischer Schulen ist der Grund zu suchen, warum der Buddhismus häufig als eine „Psychologie“ angesprochen wird. In vielerlei Hinsicht widersetzt sich daher der Buddhismus einer eindeutigen Zuordnung zu den Kategorien „Religion“, „Philosophie“, „Weltanschauung“, „Psychologie“ usw.
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Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme wiesen werden“ ist der Versuch, die Form des Mediums 10, die hier im japanischen Text steht, zu umschreiben. Das genus verbi Medium bezeichnet im Japanischen an erster Stelle Bewegungen und Vollzüge, die aus sich selbst heraus entstehen und von keinem Agens aktiv erzeugt werden.11 Es handelt sich um Bewegungen, die als selbstbewegend bezeichnet werden können und einen feldhaften Charakter besitzen. Der dritte Satz bringt somit zum Ausdruck, dass ich selbst in Vergessenheit meiner selbst nicht nur mit mir selbst, sondern auch mit allen anderen Dingen in eine Bewegung gelange, die von Dōgen als ein „Erweisen“ angesprochen wird. Das Übersetzungswort „Erweisen“ ist hier aus dem Grunde gewählt worden, da in der deutschen Sprache Wendungen wie „es erweist sich von selbst“, „es hat sich erwiesen“ usw. einen Prozess in die Aufmerksamkeit heben, in dem sich aus einem lebendigen Beziehungsgefüge etwas zeigt, was von keinem eindeutigen Agens geschaffen wurde. Dōgen meint in diesem Satz, dass im Vergessen meiner selbst ein lebendiges Zusammenspiel von mir selbst mit allen Dingen möglich wird. Erst im Vergessen meiner selbst entsteht ein Bezug meiner lebendigen Bewegung zur lebendigen Bewegung alles anderen. Erst in diesem Bezug kann sich meine Selbstzurücknahme als freie Bewegung erweisen. Im vierten Satz wird die mediale Wendung „von selbst erwiesen werden“ wiederum einen Schritt weiter gehend ausgelegt. Im medialen Vollzug des Von-Selbst-Erweisens fällt zum einen die trennende Unterscheidung von Leib und Herz meiner selbst und aller anderen weg. „Leib“ (shin) ist hier das Wort für den lebendigen Leib und „Herz“ (jin) das Wort für alle Regungen (Gedanken, Gefühle, Wille usw.) im Menschen. Mit dem Abfallen dieser Unterscheidung in mir und zwischen mir und den anderen ist nicht gemeint, dass nunmehr alles ins Undifferenzierte und Unprofilierte zurückfällt. Vielmehr ist gerade umgekehrt mit dem Abfallen aller substantialisierenden Konzepte von Leib und Herz eine umso höhere Beziehung und Durchdringung aller am Geschehen beteiligten Momente möglich. Die Durchdringung aller Momente in lebendiger Bewegung kann sich immer nur im Vollzug einer konkreten Situation zeigen und erweisen. Diese Bewegung ist eine aus sich selbst hervorgehende Bewegung, in der ich selbst und alles andere nichts anderes sind als Momente, die aus dieser Bewegung jeweils hervorgehen. Die hervorgehende Bewegung ist das „Erwachen“ meiner selbst als 10 Die grammatische Form des „Mediums“ ist in den Bildungssprachen Europas vor allem durch das Altgriechische sehr bekannt, wo es noch sehr häufig vorkommt. 11 Zur Deutung des Mediums im Japanischen vgl. Tadashi Ikeda: Classical Japanese Grammer Illustrated with Texts, Tokyo 1975, S. 111f., sowie Bruno Lewin: Abriß der japanischen Grammatik, Wiesbaden 41996, S. 152f.
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Rolf Elberfeld diese Bewegung. Da dieses Hervorgehen jedoch niemals endet, bin ich selbst immer nur als Erwachen der Bewegung ‚ich‘ selbst. Dōgen geht in dieser Passage so weit, das buddhistische Erwachen als die konkrete, sich selbst erweisende Bewegung zu bestimmen. Der letzte Satz setzt dann die Interpretation des „Erwachens“ fort durch den Hinweis auf das Verschwinden des Erwachens. Die Selbstzurücknahme ist somit nicht nur ein Vergessen seiner selbst, wie es im zweiten Satz zu finden ist, sondern auch das Erwachen ist noch einmal durch die Zurücknahme des Erwachens selbst zu erweisen. Denn solange sich das Erwachen oder der Erwachte für erwacht hält, kann sich das Erwachen nicht erweisen. In der Bewegung des Erwachens zu leben bedeutet, das Erwachen selbst nicht zu hypostasieren, sondern als „verschwundene Spur des Erwachens“ zu leben. So zeigt sich in dieser Passage eine doppelte Selbstzurücknahme, durch die auch das, was zunächst in der ersten Selbstzurücknahme möglich wird, nämlich „von selbst erwiesen zu werden“ als das Erwachen seiner selbst, noch einmal zurückgenommen wird, um auch das Erwachen als Erwachen seinerseits zurückzunehmen. Das bedeutet, dass auch das Ziel der Bemühungen – das Erwachen – selbst noch einmal in die Bewegung und Bezüglichkeit zurückgenommen wird. Genau in diesem Sinne gibt es ‚nichts zu erreichen‘, da wir in der Bewegung immer schon am Ziel sind, was allerdings durch vielfältige Vorstellungen und Konzepte immer wieder verdeckt wird, so die Auffassung Dōgens. Das heißt jedoch nicht, dass wir keine Vorstellungen und Konzepte haben dürften. Vielmehr kommt es auf die Flüssigkeit und ‚loslösende‘ Wirksamkeit der Vorstellungen und Konzepte selbst an. So sagt Dōgen zur Funktion der Sprache, „daß Nachdenken in Worten geschieht und Worte das Nachdenken loslösend durchdringen“ können.12 Hiermit meint er nicht einfach jeden Sprachgebrauch, sondern denjenigen Sprachgebrauch, der sich selbst beständig in die eigene Bewegung und Bezüglichkeit zurücknimmt und somit die eigenen Gedanken und Vorstellungen von substantialisierenden Hypostasierungen befreit. Dōgen findet in seinen Texten immer wieder Bilder, die das von ihm in seinen Texten sprachlich Vollzogene als Übung des Erwachens erweisen. In einer Textpassage erschließt er das „Leben“ als eine Bootsfahrt, die selbst ein Vollzug des Erwachens ist. „Leben ist, wie wenn jemand in einem Boot dahingleitet. Auf diesem Boot gebrauche ich ein Segel und lenke mit einem Ruder. Auch wenn ich mich mit einem Stab fortstoße, so trägt mich das Boot und ich bin nichts außer dem Boot. Indem ich in dem Boot dahingleite, lasse ich dieses Boot Boot sein. Diese richtige und treffende Zeit ist bemüht auszuprobieren und inständig zu lernen. In 12 Dōgen: Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte, S. 130.
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Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme dieser richtigen und treffenden Zeit ist das Boot niemals nicht die Welt. Himmel wie Wasser wie Küste sind alle die Zeiten (jisetsu) des Bootes. Sie sind nicht gleich den übrigen Zeiten (jisetsu), die nicht das Boot sind. Daher ist Leben, was ich leben lasse, und ich bin, was Leben mich sein läßt. Beim Bootfahren sind Leib und Herz, Umgebung und ich selbst, beide das in sich bewegte Gefüge der Momente des Bootes. Die ganze große Erde und der ganze leere Himmel, beides ist das in sich bewegte Gefüge der Momente des Bootes. Das Ich, das Leben ist, und das Leben, das ich bin, sind auf diese Weise.“13
Zunächst wird die Szene von einem dahingleitenden Boot entworfen, das von einem „Ich“ (ware) angetrieben und gelenkt wird. In dem Text wird ausdrücklich immer wieder das Personalpronomen der ersten Person „ware“ verwendet. Dies scheint auf den ersten Blick im Gegensatz zu stehen zu dem, was anhand der ersten Passage hinsichtlich der Selbstzurücknahme des ‚Ich‘ entwickelt worden ist. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass hier das Bild von einem „Ich“ entworfen wird, das nicht den letzten Boden für die Existenz bildet, sondern vielmehr als ein „dahingleitendes“ ‚Ich‘ erscheint, das nur es selbst sein kann im feinen Zusammenspiel mit dem Boot, dem Wasser, dem Gleichgewicht, dem Stab, der Küste und dem Himmel und somit nur in ungehinderter Bewegung und Durchdringung aller beteiligten Momente. Und genau dies ist als der Vollzug meines eigenen ‚ich‘ „bemüht auszuprobieren und inständig zu lernen“. Es zeigt sich in dieser Szene ein ‚Ich‘, in dem kein substantialisierender Rest zurückgeblieben ist, so dass dieses ‚Ich‘ nichts anderes als der Vollzug einer Bootsfahrt ist. Es geht in der ‚Selbstzurücknahme‘ und dem ‚Vergessen seiner selbst‘ somit nicht darum, in einfachem Sinne ‚ichlos‘ zu werden, sondern vielmehr darum, mich selbst als Bewegung zu vollziehen. Der Satz „Leben ist, was ich leben lasse, und ich bin, was Leben mich sein lässt“ bringt diese Bewegung in zugespitzter Weise zum Ausdruck. In diesem Satz sind „Leben“ und „ich“ ein Zusammenhang, der sich jeweils „sein lässt“ in der Mehrdeutigkeit dieses Ausdrucks. ‚Seinlassen‘ hat zum einen die Bedeutung eines aktiven Seinlassens und zum anderen die eines zurückgenommenen Zulassens. In der Bewegung durchdringen sich aktive und zurücknehmende Momente auf eine Weise, durch die alle Momente im jeweiligen Gesamtvollzug so beteiligt werden, dass jedes Moment konstitutiv für das gesamte Geschehen ist. Auch hier zeigt sich wieder ein medialer Vollzug, der sich nicht anhand der einfachen Unterscheidung von aktiv und passiv verstehen lässt. Ich und Leben treten jeweils als ein Zusammenhang hervor, wobei sich jedoch das ‚Hervortreten‘ selbst immer nur als ein konkretes Hervortreten in jeweiligen Situationen zeigt. Somit ist nichts anderes zu üben als das Hervor13 Ebd., S. 180f.
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Rolf Elberfeld treten meiner selbst und das Hervortreten des Lebens in der jeweiligen Situation als das Erwachen meiner selbst und des Lebens. Das Üben auch der Selbstzurücknahme hat somit kein anderes Ziel, als die jeweilige Situation als Erwachen meiner selbst und des Lebens zu vollziehen. Dies geschieht jedoch nicht in dem Sinne, dass das Erwachen sich als Erwachen zelebrierte, sondern indem es sich als die „verschwundene Spur des Erwachens“ erweist. Somit ist der eigentliche Ort des Übens die ‚Alltäglichkeit‘ des Lebens selbst ohne jeden ‚religiösen‘ Impetus. Dass bei Dōgen Üben und Erwachen als ein Zusammenhang gesehen werden, bei dem das Ziel des buddhistischen Weges in den Vollzug der Übung selbst verlegt wird, ist zwar in der gedanklichen Anlage bis nach Indien zurückzuverfolgen. Die Formulierungen bei Dōgen sind jedoch so radikal, dass man kaum andere vergleichbare Texte in der Geschichte des Buddhismus findet, die, wie die folgende Passage, den Gedanken in ähnlicher Weise thematisieren. „Zu meinen, Üben und erwachendes Erweisen seien nicht eins, ist eine Ansicht außerhalb des buddhistischen Weges. Im Buddha-dharma sind Üben und erwachendes Erweisen ein und dasselbe. Weil auch [die Übung] jetzt, Üben im erwachenden Erweisen ist, ist bereits die Zen-Übung des Anfängers das Ganze des ursprünglich erwachenden Erweisens. Weil es so ist, wird in der Vorbereitung auf die Übung gesagt: Erwarte erwachendes Erweisen nicht außerhalb der Übung, weil sie das ursprünglich erwachende Erweisen direkt zeigen soll. Wenn bereits das Üben erwachendes Erweisen ist, gibt es im erwachenden Erweisen keine Grenze, wenn das erwachende Erweisen Üben ist, gibt es beim Üben keinen Anfang.“14
Die Radikalität dieser Worte wird erst dann deutlich, wenn klar wird, dass die meisten asketischen und religiösen Übungen ein bestimmtes Ziel verfolgen, das nach langem Übungsweg erreicht werden kann. Seien es bestimmte Bewusstseinszustände oder körperliche Fähigkeiten, immer geht es darum, sich so in etwas einzuüben, das man nach langer Übung „besser“ beherrscht. Anfang der Übung und Ziel der Übung fallen zeitlich auseinander, so dass es je nach gesetztem Ziel sehr lange dauern kann, bis sich der gewünschte Er14 Eigene Übersetzung aus dem japanischen Text mit dem Titel Bendōwa. Vgl. Dōgen: Shōbōgenzō (Jap.), hg. u. mit Anmerkungen v. Mizuno Yaoko, Tokyo 1990-1993, Bd. 1, S. 28f. Inzwischen liegt eine vollständige deutsche Übersetzung des Shōbōgenzō vor: Meister Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des Wahren dharma-Auges, übers. v. Gabriele Linnebach u. Gudō Wafu Nishijima, 4 Bde., Heidelberg 2001-2008. Leider ist die deutsche Übersetzung nicht in gleicher Weise gelungen wie das englische Parallelprojekt, das hier zur Lektüre empfohlen wird: Master Dōgen’s Shōbōgenzō, übers. v. Gudō Wafu Nishijima and Chodo Cross, 4 Bde., London 19941999.
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Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme folg einstellt. „Übendes Leben“, wie es Sloterdijk nennt, ist in den meisten Fällen in eine bestimmte zeitliche Relation zwischen Anfang der Übung und Ziel der Übung eingespannt, die häufig als Stufenweg ausgelegt wird, wie beispielsweise bei vielen indischen Übungsformen sowie den antiken Lebenswegführungen in Europa. Für die einzelnen Stufen werden dann entsprechende Mittel und Techniken – Meditations- oder Denkformen – entwickelt, die den Aufstieg zum gewünschten Ziel erleichtern oder gar garantieren. All dies wird in der Auslegung Dōgens dadurch unterlaufen, dass der konkrete Vollzug meiner selbst in jeder Situation immer schon das jeweilige Erwachen meiner selbst ist. Es gilt somit nicht, außerhalb des gegenwärtigen Vollzugs – der jedoch nicht als eine einfache, punktuelle Gegenwart gedacht werden darf15 – etwas zu erreichen, sondern der erwachende Vollzug selbst ist alles, was es zu erweisen gilt. Alles andere ist nur die ‚Vorstellung‘ von einem ‚Ziel‘, das den einzelnen wegführt von dem Vollzug, als der sie oder er gerade im Leben erwacht. Üben meiner selbst als Erwachen ist somit nichts anderes als das Erwachen zur radikalen „Performativität“ meiner selbst und des Lebens, um an dieser Stelle einen Begriff aus zeitgenössischen Diskursen aufzunehmen.16 Es stellt sich an diesem Punkt der Gedankenentwicklung die Frage, ob das Leben dann nicht ein bloßer Schein und ein großes Schauspiel ist, in dem nichts ‚Echtes‘ und ‚Beständiges‘ mehr zu erwarten ist. Wenn dieses ‚Echte‘ oder ‚Beständige‘ ein substantiell Wahres sein soll, dann ist genau dies bei Dōgen der Fall. Er zerstört mit seiner Position jeden substantialistischen Halt, so dass letztlich die reine Bodenlosigkeit übrig zu bleiben scheint. Es drängen sich hier alle Fragen auf, die sich in Europa im 19. Jahrhundert nach dem ersten Taumeln der metaphysischen Tradition einstellten und uns bis heute in viele Diskurse hinein verfolgen. Dōgen radikalisiert all diese Fragen auf seine Weise und markiert den Ort der Übung meiner selbst und der Welt in jeder einzelnen Situation als Möglichkeit des Erwachens zu mir selbst und zur Welt durch die Zurücknahme meiner selbst. Bei Dōgen zeichnet sich die Möglichkeit ab, mich selbst und die Welt zugleich als alles umfassenden Schein und als hyperreale Wirklichkeit zu vollziehen. Der radikalisierte Schein
15 Vgl. hierzu meine ausführliche Interpretation der Zeit bei Dōgen in: Elberfeld: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. 16 Die Übertragung dieses Begriffs auf den hier entwickelten Zusammenhang scheint mir nahezuliegen, auch wenn die beiden Kontexte sicher nicht deckungsgleich sind. Vor allem die besondere Aufmerksamkeit auf das ‚jeweils konkrete Ereignis‘ bindet jedoch die beiden Kontexte grundlegend zusammen.
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Rolf Elberfeld ist zugleich die hyperreale Wirklichkeit.17 Dōgen spitzt dieses Problem anhand des Bildes vom Traum zu, das ich unkommentiert an das Ende dieses Abschnitts stellen möchte: „Das durchgängige Erscheinen dieser Welt ist ein Traum und dieser Traum sind die unzähligen Gewächse jeweils für sich in voller Klarheit. [Dieses zu] bezweifeln ist genau dieses [nämlich ein Traum] und die Verwirrung darüber ist genau dieses [nämlich ein Traum]. Zu dieser Zeit erklären die Gewächse die Gewächse in den träumenden Gewächsen. Wenn [wir] dies inständig erfahren und erforschen, sind die Wurzeln, die Stämme, die Äste, die Blätter, die Blumen, die Früchte, das Licht und die Farben alle dieser große Traum. Verwechsele dies aber nicht mit einem einfachen Traum. Der Traum ist bodhi [erwachendes Erkennen], wer könnte daran zweifeln? Weil [der Traum] kein Gegenstand des Zweifels sein kann, ist [er] auch von niemandem zu erkennen und daher auch kein Gegenstand der Erkenntnis. Weil dieses grenzlose und höchste erwachte Erkennen (bodhi) grenzenloses und höchstes erwachtes Erkennen ist, nennen wir den Traum einen Traum. Es gibt den inneren Traum, es gibt die träumende Erklärung, es gibt den erklärenden Traum, es gibt das träumende Innen. Gäbe es kein Inmitten des Traumes, gäbe es auch kein Erklären von Träumen; gäbe es kein Erklären von Träumen, gäbe es auch kein Inmitten des Traumes […].“ 18
Selbstzurücknahme in den Zen-Künsten Gut zweihundert Jahre nach Dōgen erlebten in Japan verschiedene, vom Zen-Buddhismus geprägte Künste einen Aufschwung, zu denen die Haiku-Dichtung ebenso gehört wie die Malerei, das NōTheater, die Gartenkunst, das Bogenschießen, die Teezeremonie usw. Auch wenn nicht alle diese Künste ohne weiteres im Horizont unseres modernen, europäischen Kunstbegriffs gelesen werden können19, so kann doch gesagt werden, dass sich in Japan ein eigenständiges Kunstsystem ausgebildet hat, das aus anderen als den europäischen Quellen schöpfte.20 Dass es in den alten japanischen und auch den alten chinesischen Künsten in den meisten Fällen nicht um Repräsentation von Ideen, Bedeutungen oder Dingen ging, kann vor dem Hintergrund der europäischen Diskussionen der letzten dreißig Jahre vermutlich erst heute besser verstan17 Inwieweit dies mit dem Gedanken Nietzsches von einer „ästhetischen Existenz“ korrespondiert, könnte eigens untersucht werden. 18 Eigene Übersetzung aus dem japanischen Text mit dem Titel Muchūsetsumu. Vgl. Dōgen: Shōbōgenzō (Jap.), Bd. 2, S. 149f. 19 Vgl. Rolf Elberfeld/Günter Wohlfart (Hg.): Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa, Köln 2000. 20 Vgl. Rolf Elberfeld: „Einteilung der Künste in interkultureller Perspektive“, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 9 (2003), S. 5764.
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Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme den werden.21 Um aber in vertiefter Weise den Sinn der ostasiatischen Kunsttraditionen ausleuchten zu können, sind vor allem die im Hintergrund der Künste wirksamen Texte und Philosophien weiter zu erforschen, zu denen in Japan ohne Zweifel auch Dōgen zählt. Im Falle Dōgens könnte man behaupten, dass seine Texte die Konsequenz nahelegen, ausschließlich den konkreten Vollzug in Form einer bestimmten Bewegung als Übung aufzusuchen, wobei sich hierfür die Künste in besonderer Weise anbieten. Dass vor allem die vom Zen beeinflussten japanischen Künste immer wieder ausgehend vom Motiv der Bewegtheit des Lebens in seiner Alltäglichkeit ihre eigentliche Aufladung und ihren künstlerischen Sinn erhalten haben, ist somit sicher nicht zufällig. In der Einübung dieser Künste kommen dabei all die Ebenen der Selbstzurücknahme zum Tragen, die im Abschnitt über die Texte Dōgens angedeutet wurden. Um diese Möglichkeit und Entwicklung in den japanischen Künsten zu verdeutlichen, möchte ich abschließend zwei Beispiele – eines aus der Literatur und eines aus der Kunst des Bogenschießens – heranziehen. Matsuo Bashō (1644–1694) ist der berühmteste Haiku-Dichter Japans. Sein literarisches Genre ist aber nicht nur das Haiku, sondern auch das Reisetagebuch. Sein wohl bekanntestes Reisetagebuch trägt den mehrdeutigen Titel Oku no hosomichi. „Oku“ ist zum einen der Name einer weit abgelegenen nördlichen Region Japans und zum anderen die Bezeichnung für das Innerste, Verborgenste und Tiefste einer Sache. Das letzte Wort des Titels „hosomichi“ bedeutet „schmaler Pfad“ oder „Weg“, der eher unwegsam und schwer zu gehen und zu finden ist. Die mittlere Silbe „no“ verbindet die beiden Wendungen im Sinne von: Schmaler Pfad in die nördliche Region bzw. ins Innerste. Dem Tagebuch liegt eine Reise zugrunde, die Bashō zusammen mit einem Freund im Jahre 1689 in die nördlichen Regionen Japans unternahm. Nach der Reise verbrachte er fünf Jahre damit, seine Erfahrungen in ein literarisches Reisetagebuch zu verwandeln. Das Tagebuch besteht aus kurzen Beobachtungsskizzen und aus Haiku-Gedichten, die an bestimmten Orten entstanden sind. Es ist somit keine bloße Schilderung des Ablaufs der Reise, sondern eine auf das Höchste verdichtete literarische Form, in der die Zeit der Reise literarisch vollzogen und erfahren wird. Die Motive des Reisens und der Wanderschaft sind es, aus denen Bashō nicht nur den Sinn seines Lebens zieht, sondern auch
21 Vgl. hierzu die sehr eindringliche Studie von Mathias Obert: Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, Freiburg/München 2007.
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Rolf Elberfeld die Form seines Schreibens. Die Anfangspassage von Oku no hosomichi ist für beide Ebenen als programmatisch zu verstehen: „So wie Sonne und Mond vorüberziehende Gäste unendlich vieler Generationen sind, sind auch die kommenden und gehenden Jahre wie Reisende. [Nicht anders ergeht es den Menschen], die auf Booten ihr ganzes Leben dahinschaukeln und mit ihren am Zügel geführten Pferden dem Alter entgegenziehen: tagtäglich auf der Reise, machen sie das Reisen zu ihrem ständigen Wohnort. Viele Dichter in alter Zeit starben auf der Reise. Schon seit einigen Jahren steigt in mir die Lust auf, wohl angeregt durch den Wind, der die Wolken auseinandertreibt, wieder ungebunden umherzuwandern.“22
Das Bild des Bootes ist in Ostasien sowohl in der Literatur wie auch in der Malerei verbreitet. Häufig ist es Sinnbild – wie bei Dōgen und Bashō – für den fließenden und bewegten Charakter der menschlichen Existenz. Bei Bashō ist aber das zentrale Bild für das menschliche Leben nicht der Mensch, der auf einem Boot dahinschaukelt, sondern es ist vielmehr der Reisende, der das Reisen selbst zu seinem Wohnort wählt. Das Reisen zum eigenen Wohnort zu wählen hat die Folge, sich an keinem Ort festzusetzen und die Bewegung des Reisens selbst zum Inhalt des eigenen Lebens zu machen. Leben als Reise zu betrachten heißt somit, das eigene Leben als beständige Bewegung und Verwandlung zu vollziehen und genau in dieser Bewegung sich zu Hause zu fühlen. Das Leben als Reise zu vollziehen, muss aber nicht bedeuten, ausschließlich ortlos in der Welt umherzuwandern, da sich das Leben als Reise auf verschiedenen Ebenen der menschlichen Existenz realisieren lässt. Für Bashō und sein literarisches Schaffen war jedoch die konkrete Reise nicht nur ein unerlässliches Lebenselixier, sondern lieferte zentralen Texten seines Schaffens auch die Form. Auf seinen Reisen wandelte er ungebunden umher, wobei sich an bestimmten Orten immer wieder Erfahrungen verdichteten, die dann zu einem Haiku wurden oder zumindest als Grundlage für solche dienten. So trifft man in Japan bis heute an besonderen Orten auf Tafeln, die Gedichte verzeichnen, die der Überlieferung nach an dem jeweiligen Ort entstanden sein sollen. Raum und Zeit verschmelzen somit in der Entstehung eines Haiku, das immer die Verdichtung eines Resonanzraumes sinnlich-konkreter Erfahrung ist. Dies zeigt auch das berühmteste
22 Dem Zitat liegt die Übersetzung von G. S. Dombrady zugrunde in der Ausgabe: Bashō: Auf schalen Pfaden durchs Hinterland, a. d. Japanischen übertragen sowie mit einer Einführung u. Annotation versehen v. G. S. Dombrady, Mainz 1985, S. 43. Ich habe die Übersetzung ausgehend vom japanischen Text verändert.
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Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme Haiku von Bashō: „Alter Teich – ein Frosch hüpft hinein, Ton des Wassers“.23 In der weiter oben angeführten Anfangspassage taucht noch ein weiteres Bild auf, das eine Weise der Bewegung nennt, die für den ostasiatischen Bereich und auch für Bashō von besonderer Bedeutung ist. Es ist das Zusammenspiel von Wind und Wolken, die im Autor die Lust entstehen lassen, wieder ungebunden umherzuwandern. In sinnlicher Resonanz auf das Spiel der Wolken entsteht in Bashō der Entschluss, erneut auf Reisen zu gehen. Das Bild der im Wind auseinandertreibenden Wolken ist die Bewegung, die Bashō mit dem Reisen verbindet. Die Bewegungen von Wolken bestehen nie außerhalb ihrer Verwandlung. Sie selbst sind Verwandlung und nichts anderes. Genau diese Qualität der Bewegung hat schon früh in China dazu geführt, dass sie in Dichtung und Malerei von großer Bedeutung waren. Unablässige Bewegung und Verwandlung, die in Europa bis ins 18. Jahrhundert kaum geschätzt werden konnten – für Aristoteles sind Wolken ähnlich wie Pfützen nicht als ein ‚Etwas‘ ansprechbar, da sie in keiner Weise Beständigkeit zeigen –, sind für Dōgen und für Bashō gleichermaßen der eigentliche Ort der Übung, die darin besteht, sich immer wieder in diese Bewegung selbst zurückzunehmen. Als zweites Beispiel möchte ich hier auf die japanische Kunst des Bogenschießens eingehen. Dazu soll mir das Buch eines deutschen Philosophieprofessors als Ausgangspunkt dienen, das unter dem Titel Zen in der Kunst des Bogenschießens im deutschen Sprachraum berühmt wurde. Es stammt von Eugen Herrigel, der von 1924 bis 1929 in Japan europäische Philosophie unterrichtete und während dieser Zeit Unterweisungen in einer besonderen Form des japanischen Bogenschießens erhielt. Auch wenn inzwischen bekannt ist, dass das Buch viele literarische Stilisierungen enthält und sein Bogenlehrer sicher kein Zen-Meister gewesen ist, zeugt der Text von Erfahrungen, die mit den konkreten Übungserfahrungen in der Kunst des Bogenschießens verbunden werden können. Es lässt sich an dem in deutscher Sprache verfassten Text auch studieren, anhand welcher Sprachformen Herrigel versucht, diese Erfahrungen zum Ausdruck zu bringen. Das dabei auftauchende Übersetzungsproblem ist symptomatisch für die zentrale Bewegungserfahrung, die die Kunst des Bogenschießens bereithält: „Das absichtslose Verweilen in der höchsten Spannung mißriet nach wie vor, wie wenn es unmöglich wäre, aus eingefahrenen Spuren herauszukommen. Eines Tages fragte ich daher den Meister: ‚Wie kann denn überhaupt der Schuß gelöst werden, wenn ich es nicht tue?‘ ‚Es schießt‘, erwiderte er. ‚Das habe ich 23 Jap.: Furuike ya / kawazu tobikomu / mizu no oto. Eigene Übersetzung.
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Rolf Elberfeld schon einige Male von Ihnen gehört und muß daher anders fragen: wie kann ich denn selbstvergessen auf den Abschuß warten, wenn ‚ich‘ gar nicht mehr dabei sein soll?‘ ‚Es verweilt in höchster Spannung.‘ ‚Und wer oder was ist dieses Es?‘ […] ‚Sprechen wir nicht mehr darüber, sondern üben wir!‘“ 24
Wer jemals einen Menschen gesehen hat, der sich seit langen Jahren in der Kunst des Bogenschießens geübt hat, kann den Eindruck gewinnen, dass die Bewegung des Schießens zugleich von hoher Leichtigkeit und strenger Präzision geprägt ist. Der kurze Augenblick, den Herrigel zu Anfang der Passage anspricht, ist ein gewisser Höhepunkt in der Bewegung des Schießens und aus diesem Grunde besonders schwierig zu vollziehen. Ist der Bogen einmal bis aufs Äußerste gespannt, fällt es nicht leicht, jeden Gedanken an das Abschießen des Pfeils fallen zu lassen. Denn der Moment, in dem der Pfeil plötzlich beschleunigt wird, soll nicht vom Willen des Schützen ausgelöst werden, sondern aus der Bewegung des Schießens als einer in sich selbst hervorgehenden Bewegung erfolgen. Der Schütze ist dabei nicht das Zentrum des Schusses, sondern selbst nur Moment im Hervorgehen der Bewegung, zu dem er nur werden kann, wenn er ‚sich selbst vergisst‘. Ähnlich wie bei Dōgen bedeutet dies aber nicht ein Nachlassen in der Aufmerksamkeit. Vielmehr ist die Beteiligung am Gesamtgeschehen des Schusses umso durchdringender, je mehr sich der Schütze als ein wollendes ‚Ich‘ vergisst. Herrigel fragt nun den Meister in gut europäisch-philosophischer Manier, wie „ich“ denn etwas tun kann, ohne dass dieses von einem „Ich“, sprich Subjekt, getan wird. Der Meister antwortet in der Übersetzung von Herrigel „Es schießt“. An dieser Stelle kommt ein kleines Wort ins Spiel, das auch in Europa bereits für die Beschreibung ähnlicher Bewegungsqualitäten entdeckt, aber zugleich als unzureichend für die Beschreibung kritisiert worden ist. Nietzsche schreibt in Jenseits von Gut und Böse: „[…] Es ist eine Fälschung des Tatbestandes zu sagen: das Subjekt ‚ich‘ ist die Bedingung des Prädikats ‚denke‘. Es denkt: aber daß dies ‚es‘ gerade jenes alte berühmte ‚Ich‘ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor allem keine ‚unmittelbare Gewißheit‘. Zuletzt ist schon mit diesem ‚es denkt‘ zuviel getan: schon dies ‚es‘ enthält eine Auslegung des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst. Man schließt hier nach der grammatischen Gewohnheit ‚Denken‘ ist eine Tätigkeit, zu jeder Tätigkeit gehört einer, der tätig ist […].“25
24 Eugen Herrigel: Zen in der Kunst des Bogenschießens, München 1957, S. 64f. 25 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse (17), in: Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli/M. Montinari, München 1988, Bd. 5, S. 31.
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Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme Auch wenn Nietzsche zunächst das „es“ für eine Möglichkeit hält, die Bewegung des Denkens besser als mit dem Wort „ich“ zu verbinden, so verwirft er diesen Gedanken dann zugunsten der Wendung, dass es doch um den „Vorgang selbst“ gehe. Genau dies ist es vermutlich, was Herrigel in seiner literarischen Übersetzung den Meister versucht sagen zu lassen in der Wendung „Es schießt“. An dieser Stelle drängt sich von selbst die Frage auf, was der Meister denn auf Japanisch gesagt haben könnte. Um dies in Erfahrung zu bringen, kann zunächst auf die 1956 entstandene japanische Übersetzung von Herrigels Buch zurückgegriffen werden, das in Japan ein großer Verkaufserfolg war. An der entscheidenden Stelle ist dort zu lesen: „sore ga iru no desu“.26 Es handelt sich dabei um eine wörtliche Übersetzung der deutschsprachigen Stelle „Es schießt“, die zwar sprachlich möglich ist, aber keinen besonderen japanischen Ausdruck zum Einsatz bringt. Das Wort „sore“, das an dieser Stelle für „es“ steht, ist ein Demonstrativpronomen, das gewöhnlich Dinge bezeichnet, die sich in gewisser Entfernung vom Zeigenden befinden, und mit „dieses/jenes dort“ übersetzt werden kann. Da es in der japanischen Sprache keine Notwendigkeit gibt, immer wieder Ersatzsubjekte in die Sätze einzufügen, was eine häufige Funktion des impersonalen ‚es‘ in der deutschen Sprache ist, kann das „Es schießt“ auf diese Weise nur unzureichend übersetzt werden, und es ist davon auszugehen, dass der Meister dies sicher nicht gesagt hat. Um Auskunft zu erhalten, müssen somit ältere Texte herangezogen werden, die die bestimmte Qualität der gemeinten Bewegung thematisieren. Ich möchte hierfür auf einen Text zur Kunst des Schwertes zurückgreifen, da mir aus dem Bereich des Bogenschießens kein entsprechender Text vorliegt. Da die Bewegung des Schwertes und des Bogens im Horizont der hier thematisierten Bewegungen in der Grundqualität nicht verschieden sind, kann dies hier genügen. Der berühmte Samurai Miyamoto Musashi (1584– 1645) schreibt in seinem berühmten Buch der fünf Ringe (Gorin no sho): „Den Weg zu erreichen heißt, sich vom Weg zu entfernen; indem ich selbst frei bin vom Weg des Schwertes, wird eine außergewöhnliche Kraft erreicht. Die richtige Zeit zu treffen bedeutet, den Rhythmus zu kennen, von selbst (onozukara) zu schlagen und von selbst (onozukara) zu treffen: dies ist der Weg der Leere.“27
26 Yumi to zen (Bogen und Zen), übers. v. Inatomi Eijirō u. Ueda Takeshi, Tokyo 1981, S. 92. 27 Miyamoto Musashi: Gorin no sho (Jap.), hg. v. Watanabe Ichirō, Tokyo 1991, S. 25. Die Passage findet sich im ersten Abschnitt, dem „Buch von der Erde“.
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Rolf Elberfeld Die für den vorliegenden Zusammenhang wichtige Stelle ist: „von selbst zu schlagen und von selbst zu treffen“. Hier kommt ein Wort zum Einsatz, das auf eine alte ostasiatische Tradition zurückgeführt werden kann.28 Das Wort „onozukara“ kann mit „von selbst“ übersetzt werden und bezeichnet die Qualität einer Bewegung, die bei Dōgen, Bashō, Herrigel und Musashi in unterschiedlicher Weise zum Tragen kommt. Wenn etwas von selbst geschieht, so kann nicht eindeutig bestimmt werden, von welchem Punkt die Bewegung initiiert und unterhalten wird. Es ist eine Bewegung, die als Bewegung aus sich hervortritt, indem alle beteiligten Momente sich selbst ganz in die Bewegung zurücknehmen. In diesem Sinne zeigt sich in dieser Bewegung ein besonderer Modus der ‚Selbstzurücknahme‘. Die Selbstzurücknahme geschieht in der Bewegung und führt somit gerade nicht aus der Bewegung heraus, sondern in sie hinein. Die ostasiatischen Traditionen haben verschiedene philosophische und leibliche Ansätze entwickelt, um diese Form der Selbstzurücknahme inmitten von Bewegung und Veränderung zu entfalten und zu üben. Bei genauer Differenzierung der Übungswege würden sich sicher Unterschiede in den konkreten Vollzügen der Selbstzurücknahme zeigen. Dass Formen für eine in die Bewegung hineinführende Selbstzurücknahme in Europa wenig entwickelt wurden, mag mit dem eingangs thematisierten Grundunterschied hinsichtlich der Erfahrung und Bewertung von weltlicher Bewegung und Veränderung insgesamt zusammenhängen. Dass diese alten Formen der Selbstzurücknahme in Ostasien inzwischen durch die Praktiken in modernen Künsten weitergeführt und neu ausgelegt werden, ist noch zu wenig untersucht worden. Sicher ist, dass die Bewegung als Bewegung in der modernen und inzwischen globalisierten Kunstentwicklung immer mehr ins Zentrum des künstlerischen Schaffens getreten ist. Vielleicht könnte man sogar die These in fruchtbarer Weise verfolgen, dass die modernen Künste in Europa und den USA seit dem 19. Jahrhundert Therapien gegen die Angst entwickeln, die entsteht, wenn Menschen sich mit der Erfahrung vertraut machen, dass Mensch und Welt selbst nichts anderes als Bewegungen und Verwandlungen sind. Ob es hier zu weiteren Synergien zwischen den modernen Künsten und älteren ostasiatischen Übungswegen kommt, bleibt abzuwarten.
28 Eine der wichtigsten Stellen ist hierfür das 25. Kapitel des Daodejing, das der Tradition nach dem Laozi zugeschrieben wird. Dort heißt es im letzten Vers, dass das dao selbst in höchster Weise von der Qualität des „von selbst“ (chin. ziran) bestimmt sei. Zu diesem Motiv vgl. Günter Wohlfart: Der philosophische Daoismus, Köln 2001, S. 101-116.
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Japanisch-buddhistische Perspektiven der Selbstzurücknahme
Literatur Bashō: Auf schalen Pfaden durchs Hinterland, a. d. Japanischen übertragen sowie mit einer Einführung u. Annotation versehen v. G. S. Dombrady, Mainz 1985. Bormann, Hans-Friedrich: Verschwiegene Stille. John Cages performative Ästhetik, München 2005. Dōgen: Shōbōgenzō. Ausgewählte Texte. Anders Philosophieren aus dem Zen (Zweisprachige Ausgabe), hg. u. übers. v. Ryōsuke Ōhashi u. Rolf Elberfeld, Tokyo/Stuttgart-Bad Cannstatt 2006. – Shōbōgenzō (Jap.), hg. u. mit Anmerkungen von Mizuno Yaoko, Bd. 1–4, Tokyo 1990–1993. Master Dōgen’s Shōbōgenzō, übers. v. Gudō Wafu Nishijima and Chodo Cross, 4 Bde., London 1994–1999. Meister Dōgen: Shōbōgenzō. Die Schatzkammer des Wahren dharma-Auges, übers. v. Gabriele Linnebach u. Gudō Wafu Nishijima, 4 Bde., Heidelberg 2001–2008. Elberfeld, Rolf: Phänomenologie der Zeit im Buddhismus. Methoden interkulturellen Philosophierens, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004. – „Einteilung der Künste in interkultureller Perspektive“, in: Polylog. Zeitschrift für interkulturelles Philosophieren 9 (2003), S. 57–64. Elberfeld, Rolf/Günter Wohlfart (Hg.): Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen in Asien und Europa, Köln 2000. Hadot, Pierre: Wege zur Weisheit, oder: Was lehrt uns die antike Philosophie?, Frankfurt a. M. 1999. Herrigel, Eugen: Zen in der Kunst des Bogenschießens, München 1957. – Yumi to zen (Bogen und Zen, Jap.), übers. v. Inatomi Eijirō u. Ueda Takeshi, Tokyo 1981. Ikeda, Tadashi: Classical Japanese Grammer Illustrated with Texts, Tokyo 1975. Lewin, Bruno: Abriß der japanischen Grammatik, Wiesbaden 41996. Mirandola, Pico della: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen, Lateinisch/Deutsch, hg. u. übers. v. Gerd von der Gönna, Stuttgart 1997. Musashi, Miyamoto: Gorin no sho (Jap.), hg. v. Watanabe Ichirō, Tokyo 1991. Nietzsche, Friedrich: Kritische Studienausgabe, hg. v. G. Colli/M. Montinari, 2., durchges. Auflage, München 1988. Obert, Mathias: Welt als Bild. Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, Freiburg/München 2007. Sloterdijk, Peter: Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt a. M. 2009.
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Rolf Elberfeld Utz, Christan: Neue Musik in Interkulturalität. Von John Cage bis Tan Dun, Stuttgart 2002. Wohlfart, Günter: Der philosophische Daoismus, Köln 2001.
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Spielräume des Unverfügbaren: Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern ELFIE MIKLAUTZ
Klassische Musiker sind mit zahlreichen Verhaltenserwartungen konfrontiert: überzeugendes Auftreten, originelles Repertoire, virtuoses ‚Beherrschen‘ ihres Metiers, interpretatorisches Raffinement, Unverwechselbarkeit – und dies unter strikter Einhaltung des von den Institutionen des Kulturbetriebs vorgegebenen engen Rahmens. Sich diesen Anforderungen zu entziehen vermag nur, wer bereits etabliert ist. Musiker, deren Haltung durch Zurückhaltung gekennzeichnet ist, die minimieren statt maximieren, sind eine paradoxe Erscheinung im Kulturbetrieb, in dem alles auf Superlative hin ausgerichtet ist. Mein Beitrag stellt Figuren des Sich-Entziehens von Musikern vor und zielt darauf ab, zu zeigen, dass diese trotz differenten Äußerungsformen und Motivlagen tiefenstrukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen. Das Sich-Zurücknehmen, so die These, manifestiert sich nicht als Mangel, sondern fungiert als Bedingung der Möglichkeit, Spielräume des Unverfügbaren zu eröffnen.
Im Rahmen Aufführungen klassischer musikalischer Werke sind hochritualisierte Ereignisse, das Verhalten der beteiligten Akteure – Ausführende auf der einen, Zuhörende auf der anderen Seite – unterliegt strengen Normierungen. Die gegenwärtige Art der Darbietung von Musik im Konzertsaal mit allen damit verbundenen Spezifika ist eine historisch spät entwickelte Form, zu der vielfältige Alternativen existierten. Im Verhaltensrepertoire ausführender Musiker finden sich daher auch noch Relikte aus historisch anders gearteten Konstellationen. Es reicht vom ehemals bei Hof Bediensteten, nunmehr verbeamteten, sein ‚Handwerk‘ beflissen ausführenden Musiker über den ganz im Dienst des Werks stehenden Vermittler bis hin zum verehrungswürdigen genialen Virtuosen. Das Auftreten von Musikern bedarf jedenfalls einer ‚Haltung‘, die Resultat einer mehr 73
Elfie Miklautz oder weniger bewussten Orientierung ist. Die Zuhörer dagegen sind vergleichsweise restringiert in ihren Möglichkeiten. Sie beschränken sich auf in sich gekehrtes Zuhören in erstarrter Körperhaltung, achtsam jedes Geräusch ebenso vermeidend wie mimische, gestische oder gar den ganzen Körper einbeziehende Formen der bewegten Anteilnahme. Zuhören – und dies war nicht immer so – ist ein ganz im Inneren angesiedeltes Geschehen, bei dem jede nach außen wahrnehmbar werdende Reaktion peinlichst zu vermeiden ist. Bewegtheit und Enthusiasmus sind erst am Schluss der Darbietung angemessen und beschränken sich auf Klatschen, mitunter – bei besonderer Ergriffenheit – stehend und von einzelnen Ausrufen begleitet. Die grundsätzlich erwünschte Haltung, so scheint es, ist die der Zurückhaltung. Die Erwartungen an die ausführenden Künstler sind eher gegenteilig. Nur Orchestermusiker stehen nicht unter dem Druck, Bühnenpräsenz zu vermitteln und explizit zu zeigen, was sie tun. Solisten und Dirigenten sind auch als Darsteller, Schausteller, Schauspieler gefordert, die neben der Aufführung des Werks auch aufzuführen haben, was sie da vollziehen. Sie vermitteln zwischen Werk und Rezipienten, erläutern, weisen auf Spezifika hin und treten so in eine Beziehung zu den Zuhörenden. Wie mit den Anforderungen des Konzertbetriebs umgegangen wird, ist höchst unterschiedlich und abhängig vom Selbstverständnis des Musikers als Musiker. Eine mögliche Haltung, die im Folgenden erörtert wird, ist die der Zurückhaltung. Es handelt sich dabei um eine Gegen-Haltung, weil eigentlich sich entäußert werden soll, in den Vordergrund gerückt – gefordert ist nicht Zurück-, sondern Auftreten. Solches Auftrittsverhalten ist Resultat jahrelangen Trainings, überwundener Krisen, der Kontrolle zahlreicher Verhaltensparameter, fallweise begleitet von psychologischen Interventionen, mitunter gestützt von durchaus merkwürdig anmutenden einstimmenden Ritualen zur Konzentrationssteigerung und Angstabwehr. Den Musikern steht innerhalb der durch die Konzertsituation gegebenen Reglementierungen ein Repertoire von Verhaltensmöglichkeiten zur Verfügung, aus dem sie ihrem Selbstverständnis gemäß ‚wählen‘ können. Der Terminus ‚Wahl‘ vermittelt kein ganz zutreffendes Bild, verbindet man doch damit gewöhnlich eine bewusst getroffene Entscheidung zwischen verfügbaren Alternativen, mehr noch: man denkt dabei auch an selbst entwickelte Verhaltensformen. Die soziale Realität des Musik‚betriebs‘ beinhaltet allerdings zahlreiche Prädeterminationen, die das Verhalten strukturieren. Der Rahmen der Möglichkeiten ist eng gesteckt. Insofern ist es wichtig, das Augenmerk nicht vornehmlich auf den individuellen Akteur zu legen, der in einem vermeintlichen Akt der Selbsterschaffung sich zu dem macht, was er ist, sondern ihn auch in seinem Geworden-
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Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern sein als Produkt der historisch spezifischen sozioökonomischen Produktionsbedingungen von Musik zu verstehen. Das heißt, ein Musiker ist gleichermaßen das Produkt des institutionalisierten Musikbetriebs, zu dem Ausbildungseinrichtungen, Konzertagenturen, Manager, Veranstalter, Labels, Medien, Kritiker und Technologie gehören, wie seines Talents und disziplinierten Arbeitens. In Anlehnung an Pierre Bourdieu kann man Musiker als Akteure in einem sozialen Feld verstehen, dessen Spielregeln gekannt und anerkannt sein wollen, wenn man sich darin erfolgreich etablieren möchte.1 Erst Arrivierten werden Abweichungen zugestanden, die neu ins Feld Eintretenden haben wenig Spielraum, gilt es doch vorerst, überhaupt Zutritt zu erlangen, Fuß zu fassen und von den bereits im Feld Befindlichen wahr- und ernst genommen zu werden. Der Eintrittspreis – die weitgehende Anerkennung dessen, was als Norm gilt – ist hoch. Radikale Kritik am bestehenden Betrieb und von Standards abweichende Verhaltensformen sind jedenfalls keine vielversprechenden Maßnahmen, um die Zugehörigkeit zum Feld sicherzustellen. Der Dirigent, der sich bescheiden in den Hintergrund rückt, wird ebenso erfolglos bleiben wie jener, der unübliche Probenbedingungen fordert; der Solist, der Auftritte kurzfristig absagt, der Orchestermusiker, der eigene Interpretationsvorstellungen realisiert wissen möchte – sie alle werden wenig Chancen haben, die Zugangsbarrieren zu überwinden. Erst wer sich durchgesetzt hat, einen Namen erlangt hat, begehrt ist – profan gesprochen: wer bereits einen hohen Marktwert hat –, hat Spielräume und Wahlmöglichkeiten. Das heißt nicht, dass das Bedürfnis nach Abweichung erst mit erlangter Zugehörigkeit entstehen würde, es ist jedoch nur eingeschränkt in Handeln umsetzbar, weil Affirmationserfordernis und Abgrenzungswunsch in ständiger Balance gehalten werden müssen. Um sich vom ‚Betrieb‘ distanzieren zu können, muss man erst mal drin sein. Wer keine Konzertauftritte bekommt, dessen Abstinenz vom Konzertbetrieb wird als Haltung weder registriert noch diskutiert; wer keine Verträge mit TonträgerProduzenten hat, dessen wie gut auch immer begründete Ablehnung von Tonaufnahmen wird niemandem auffallen; wer als Dirigent nicht von wichtigen Orchestern nachgefragt wird, dessen Perfektionismus, Auftrittsscheu oder Repertoirebeschränkung wird als mangelnde Begabung oder unakzeptables Verhalten angesehen. Insofern sind Figuren der Zurückhaltung, von denen im Folgenden die Rede sein soll, als wirksame und wirkmächtige, wahrgenommene und anerkannte vornehmlich bei arrivierten Musikern anzutreffen. Bei allen anderen haben bzw. hätten sie einen Ausschluss aus dem
1
Vgl. Pierre Bourdieu: The Field of Cultural Production. Essays on Art and Literature, Cambridge 1993.
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Elfie Miklautz Feld zur Folge. Sich zurückhaltend zu verhalten kann natürlich auch als Strategie zur Erhöhung des Marktwerts eingesetzt werden oder zumindest diese Wirkung als ungeplante Handlungsfolge nach sich ziehen. Dies werde ich allerdings nicht berücksichtigen, sondern ausschließlich Musiker anführen, die diesbezüglich als authentisch und ‚wahrhaft‘ zurückhaltend zu bezeichnen sind. Die angeführten Musiker haben jeweils bestimmte Formen des Sich-Entziehens entwickelt, die die Spannungsfelder von Nähe und Distanz, Einsamkeit und Soziabilität, Klang und Stille, ausgreifender oder verhaltener Expressivität berühren. Gemeinsam ist ihnen, dass sie ablehnen, was zum kollektiv geteilten Grundbestand des Musikbetriebs gehört. Sie widersprechen damit nicht nur dem common sense, sondern auch der feldspezifischen Logik: Keine Auftritte vor Publikum, keine Aufnahmen, keine Interviews, keine solistischen Darbietungen, keine Interpretation von Werken wären Beispiele dafür, die auch in entsprechend abgeschwächter Form, geringer dosiert auftreten. Sie lassen sich als Figuren der Vermeidung lesen.
Der Welt abhandengekommen „Silence sounds.“ Henry David Thoreau
Profimusiker unterscheiden sich von Amateuren vor allem auch dadurch, dass sie für und vor anderen Musik machen und nicht in selbstgenügsamer Isolation nur für sich ‚spielen‘. Sie spielen eben nicht, sondern machen Ernst damit. Sich der Bühne zu entziehen und nicht vor Publikum aufzutreten – diese Form von Zurückhaltung widerspricht entschieden den mit dem Musikerdasein gesetzten Anforderungen. Glenn Gould hat diesen Schritt vollzogen und seine im Alter von 32 Jahren getätigte Ankündigung, keine Konzerte mehr zu geben, wahrgemacht. Nicht Selbstzweifel im Hinblick auf das eigene Können bewogen ihn zu diesem Schritt. Seine Abneigung richtete sich gegen eine Vielzahl von Charakteristika des öffentlichen Auftritts. So verabscheute er den Voyeurismus der Zuhörer, denen er Jagdinstinkte unterstellte, die sie auf Fehler lauern ließen. Das Publikum in seinen Bann zu ziehen, zu beherrschen, es in Spannung zu versetzen, es ‚in der Hand‘ oder, um mit Rubinstein zu sprechen, „seine Seele zu haben“ 2 – dieser Art von Macht konnte
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Auf den speziellen Reiz, den diese Macht in der Konzertsituation erzeugt, verwies Artur Rubinstein in einem Gespräch mit Glenn Gould, in dem dieser seine Enttäuschung über Goulds Konzertverweigerung zum Ausdruck
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Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern er ebenso wenig abgewinnen wie der Herausforderung, Höchstleistungen zu vollbringen, wie sie Zirkusartisten auszeichnet, deren mitunter misslingende Kunststücke veranschaulichen, wie riskant und schwer das scheinbar Mühelose eigentlich ist. Virtuosität war nichts, was ihm bedeutsam genug erschien, um sich der damit verbundenen Anstrengung auszusetzen. Am Klavierspielen fand er wenig Beeindruckendes, ja, er verachtete die physischen Anteile des Spiels und meinte, man könne es jedem in einer halben Stunde beibringen. Auch der in der Konzertsituation zum Vorschein kommende Wettbewerbsgeist war ihm zuwider wie jedes Sich-Messen unter widrigen Bedingungen. Seiner Ansicht nach haben die vermeintlichen Tugenden des Konzertpianisten weniger mit der Musik zu tun als „mit der Psychologie des ‚Vor-Angst-außer-sich-Seins‘ und des ‚Alles-auf-eine-Karte-Setzens‘“3. Warum, so meinte er, den Mount Everest erklimmen, wenn man kein Bedürfnis danach hat, und das auch noch vor tendenziell sadistisch gestimmten Zuschauermassen? Das bislang Angeführte ist allerdings nicht erschöpfend, die Hintergründe für seine Ablehnung des Konzertierens liegen tiefer: Die Aversion war zum einen verankert in der individuellen Präferenz für eine Lebensform, die sich durch größtmögliche Absonderung und eine starke Neigung zur Kontrolle aller situativen Parameter auszeichnet. Beidem widerspricht der öffentliche Auftritt. Zum anderen beruhte sie auf Überzeugungen, die sein Selbstverständnis als Künstler betreffen und ästhetische ebenso wie ethische Grundsatzfragen tangieren. Persönliche Idiosynkrasien, exzentrische Verhaltensweisen und theoretische Konzepte über die Aufgabe der Kunst und deren verantwortliche Ausübung haben sich bei Gould – nicht mehr voneinander trennbar – zu einer ‚Haltung‘ amalgamiert, die unbeirrt von äußeren Einflüssen gelebt wurde. So verband sich etwa Goulds Vorliebe für abgeschiedene Aufenthaltsorte und seine die Nähe zu anderen Menschen vermeidende Lebensform mit der ‚Idee‘ des Nordens, der seiner Ansicht nach der Kontemplation und Zentriertheit auf die vornehmlich in der Vorstellung stattfindende Arbeit des Musikers förderlich ist. Das Bedürfnis nach Distanz von der Betriebsamkeit, die Scheu vor Berührungen, die Vorliebe für Gespräche am Telefon anstelle des face to face fanden ihr Pendant in einer die taktile Erfahrung des Klavierspiels über weite Strecken vermeidenden Arbeitsweise bei der Vorbereitung von aufzunehmenden Werken. Bei dieser Haltung handelte es sich nicht um eine Ma-
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brachte (Glenn Gould: „Rubinstein“, in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II, München/Zürich 1987, S. 67). Glenn Gould: „Die Zukunftsaussichten der Tonaufzeichnung“, in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, S. 138.
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Elfie Miklautz rotte, sondern eher um eine Äußerungsform dessen, was ich als ‚Schaffen von Bedingungen für die Emergenz von Unverfügbarem‘ bezeichnen möchte. Gould war – um es mit einem Wort zu sagen – Platoniker. Er strebte nach dem Ideal, das sich mit weltlichen Mitteln nur annäherungsweise verwirklichen lässt. Jede Wiedergabe eines Werks ist ein Kompromiss und gewissermaßen nur eine Station auf der unabschließbaren Suche nach der weitestgehenden Annäherung an das Ideal. In dieser Perspektive mutet es nicht mehr merkwürdig an, dass das Klavier mitunter eher als Hindernis in den Weg tritt denn als Mittler. Aufgabe des Klavierspielers ist seiner Ansicht nach, dass dieses nicht als hinderlich wahrnehmbar wird – und zwar weder dem Spielenden noch dem Zuhörer. Und was könnte schlechter geeignet sein dazu, die Beschränkungen der physischen Mittel bei der Realisierung der Idee möglichst auszuschalten oder zumindest vergessen zu lassen, als die exponierte Extremsituation des Konzertauftritts – wenn der Annäherungsversuch zahlreichen, von außen kommenden, unkontrollierbaren Störfaktoren ausgesetzt ist? Auch das Aufnehmen des Werks vonseiten des Publikums ist in diesem Kontext erschwert. Stimmt meine Zuschreibung, wonach Gould ein Platoniker sei – und seine Aussagen legen dies durchaus nahe –, geht es beim Rezipieren um mehr als um bloßes Zuhören. Mit Walter Benjamin formuliert käme es nämlich darauf an, sich des Spannungsverhältnisses zwischen der Idee des Kunstwerks und dem sinnlich Hörbaren innezuwerden, dessen also, was nicht gehört, sondern nur vernommen werden kann.4 In diesem Sinne lässt sich auch Goulds selbstgestecktes Ziel interpretieren, wonach es darum geht, einen Zustand der Ekstase zu kultivieren, in dem sich Musik wie Musiker und Hörer eines Inneseins gewahrwerden, in das sie wie in ein Gewebe eingebunden sind.5 Aufgabe des Musikers ist es demnach nicht, den Zuhörenden einen interessanten, abwechslungsreichen Abend zu bieten, sie zu unterhalten, für sich einzunehmen oder was auch immer, sondern sozusagen gänzlich unbehelligt vom Ausführenden und dessen Beobachtern das Werk zum Erklingen zu bringen; und dafür gilt es, die optimalen Voraussetzungen zu schaffen. Das erste, was Gould diesbezüglich für unabdingbar hält, ist eine analytische Herangehensweise. Das Werk muss gedanklich durchdrungen und verfügbar sein, und zwar unabhängig vom Instrument und dessen taktiler Bearbeitung. Das heißt, man muss dem Klavier so lang es geht 4
Vgl. Walter Benjamin: Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tra-
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gödie, in: Gesammelte Schriften II/1, Frankfurt a. M. 1972, S. 137-140. Vgl. Geoffrey Payzant: Glenn Gould. Music & Mind, Toronto 1982, zit. in: Glenn Gould: „Eine Glenn-Gould-Biographie“, in: Ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, S. 290.
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Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern fernbleiben, um eine von der Berührung unabhängige Begegnung mit der Musik zu ermöglichen. Die Annäherung an das Ideal wird, so Gould, „durch den Kompromiss der Berührung verringert“6. Die akribische Kontrolle von Körperhaltung, Anschlag, Klang, Dynamik etc. diente ihm vor allem dazu, die schädlichen Folgen des physischen Spiels zu mildern, das „Pianistische“ zu vermeiden, und der Vorstellung vom Werk nahezukommen. Klavier spielt man eben, um ein häufig zitiertes Diktum von Gould aufzugreifen, nicht mit den Fingern, sondern mit dem Kopf. Analytische Klarheit und Erfassbarkeit der musikalischen Strukturen waren Goulds Gradmesser für eine erfolgreiche ‚Wieder‘gabe eines Werks. Nicht nur die Eigenschaften des Instruments wurden darauf hin optimiert, sondern auch die Finessen der Aufnahmetechnik ausgeschöpft. Sein „Liebesverhältnis“7 zum Mikrofon, das er dem zum Publikum bei weitem vorzog, ist legendär. Die Aufnahmetechnologie ist der Bereich, an dem neben ästhetischen auch moralische Gesichtspunkte bedeutsam werden. Gould argumentierte hier für eine moralische Verpflichtung, die mit der Technologie gegebenen Möglichkeiten der Verbesserung zu nutzen, und trat damit in Gegensatz zu all jenen, die Aufnahmen wenn nicht generell ablehnen, so doch nur als 1:1-Archivierung der stattgefundenen Werkwiedergabe gelten lassen wollen. Technische Eingriffe gelten ihnen als künstliche Zutat, als ‚entmenschend‘ und unredlich, weil sie die Einmaligkeit des stattgehabten Klangereignisses nicht wahren. Vor allem das nachträgliche Einfügen von Tonmaterial aus anderen Aufnahmesituationen wird als zerstörerisch erachtet, weil es angeblich die ‚große Linie‘ destruiere. Rubinstein etwa lehnte das „Zusammengestückte“ deswegen ab, weil es seiner Ansicht nach „keine Kunst mehr“ sei.8 Der heroische Gestus des Hochleistungssportlers scheint für ihn zu den Bestimmungsmerkmalen von Kunst zu gehören, Hand in Hand mit der Vorstellung von einer Art unio mystica, in der Werk, Ausführende und Aufführungssituation miteinander vereint sind, die nicht zerleg- und neu zusammensetzbar ist, ja überhaupt keine technische Intervention verträgt, weil sich der Zauber, die Aura sonst offenbar verflüchtige. Gould dagegen tritt dafür ein, „schöpferisch unehrlich“9 zu sein, um des besseren Ergebnisses willen. Technische Mittel vermögen seiner Ansicht nach musikalische Strukturen klarer hervortreten zu lassen, größere Ausgewogenheit zu erzeugen, den Klang zu transformieren und
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Jonathan Cott: Telefongespräche mit Glenn Gould, Berlin 1984, S. 43.
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Vgl. Glenn Gould: „Musik und Technologie“, in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, S. 161. Glenn Gould: „Rubinstein“, S. 70.
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Glenn Gould: „Musik und Technologie“, S. 162.
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Elfie Miklautz räumliche Eindrücke von Weite, Enge, Nähe und Ferne zu regulieren. Schopenhauer war bekanntlich davon ausgegangen, dass Musik uns mit einer anderen Art von Wirklichkeit konfrontiert, weil sie aus einer Welt außerhalb der unseren kommt, die noch vor der durch das principium individuationis aufgesplitterten Vielfalt liegt und zeitlose Dauer aufweist. Musiker verschaffen uns den Zugang zu dieser Welt. Führt man den Gedanken weiter, kann man annehmen, dass es, um diese ‚Entrückung‘ zu erreichen, auch aufseiten der Musiker einer Entindividualisierung bedarf, einer Selbstzurücknahme, eines kontemplativen Aufgehens im Gegenstand, die die Subjekt-ObjektTrennung unterläuft. Man darf meines Erachtens Gould eine Nähe zu dieser Sichtweise unterstellen. Er beließ es aber nicht bei der vertrauensvollen, durch akribische Vorbereitung als berechtigt gelten dürfenden Hoffnung auf mystische Erleuchtung, sondern nahm die Technik in den Dienst, die die Absonderung von der Welt und den Rückzug auf Vorstellungswelten zu unterstützen vermag, indem sie zusätzliche Anonymität und Verfremdungseffekte ermöglicht. In Anlehnung an den Theologen Jean Le Moyne sprach Gould von der „Barmherzigkeit der Maschine“, die zwischen „die Schwäche der Natur und die Vision der idealisierten Vollkommenheit“ tritt und zu kreativer Täuschung einlädt.10 Dies als Form von Betrug abzulehnen, verkennt die Veränderungen, die sich mit der technischen Reproduzierbarkeit des musikalischen Kunstwerks vollzogen haben und hält stattdessen an falschen humanistischen Idealen fest, die menschliche Schwächen als nur über Glück oder göttliche Gnade ausgleichbar ansehen und die ehrenvoll auf sich genommene Mühsal beim Versuch, das Unerreichbare zu erlangen, über das Ergebnis stellen. Gould hatte dafür nur den lapidaren Vergleich mit dem Film zur Hand, bei dem auch niemand erwarte, dass er sich an die Grenzen des Bühnenhandwerks halte. Szenen mehrfach zu drehen, Schnitte und Überblendungen einzusetzen, dies fasste Gould analog zum Film auch bei Tonaufnahmen als entlastend und befreiend auf. Im Konzert dagegen gebe es kein Innehalten, um Take two anzukündigen und es neuerlich zu versuchen; man muss es nehmen, wie es ist. Das heißt aber auch, dass man seine Version der Werkwiedergabe davor eineindeutig festgelegt haben muss und sich nicht situativ kreativ verhalten kann, weil man nicht weiß, ob das Ergebnis ‚stimmig‘ wäre. So besteht die Gefahr, dass der Auftritt im Konzert mechanischer abläuft als jede noch so technisch vermittelte Aufbereitung, weil man sich der Inspiration nicht überlassen kann. Gould liebte aber gerade das Experimentieren mit unterschiedlichen Darstellungsweisen. Das Sich-nicht-festlegen-Müssen war ihm
10 Ebd.
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Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern kreative Ressource, was zum obsessiven Kontrollbedürfnis in merkwürdigem Widerspruch steht und die Frage evoziert, ob man es mit einer skeptischen Haltung zu tun haben könnte. Er probierte viele Gestaltungsvarianten aus und entschied sich erst nachträglich für eine davon, für eine Kombination mehrerer oder für einen neuen Versuch. Nachträglich redigieren zu können, war ihm auch deshalb wichtig, weil er – so seine Beschreibung – am Beginn einer Sitzung nicht wisse, welche Konzeption er verfolge, weil diese sich erst am Weg bilde. Im Prozess Reflexionsschleifen einbauen zu können, erlebte er als Machtzuwachs, der den ausführenden Musiker dem Komponisten annähere. Die Aufzeichnung erlaubt das Überdenken im Nachhinein, ein, so Gould, „die Zeit transzendierender Luxus“, der ihm neue Sichtweisen eröffne. Kurz zusammengefasst: Die Technik des Tonstudios stellt dem Musiker einen Rückzugsort zur Verfügung, einen Schutzraum, der Anonymität zulässt und ihm die erforderliche Zeit und Freiheit gibt, um das Werk zu erarbeiten, „ohne sich über Trivialitäten wie Nerven oder Fingerfertigkeit Gedanken machen zu müssen“. Die Technik ermöglicht es, „jene scheußlichen, erniedrigenden und menschlich schädlichen Unsicherheiten auszuräumen, die das Konzert mit sich bringt; sie entfernt die Information über eine besondere persönliche Leistung aus der musikalischen Erfahrung. Ob der Künstler gerade bei dieser Gelegenheit den musikalischen Everest erklimmen wird, ist nicht länger von Belang.“11
Am Podium gestrandet „Zur unwägbaren Evidenz gehören die Feinheiten des Blicks, der Gebärde, des Tons.“ Ludwig Wittgenstein
Martha Argerichs Art des Sich-Zurücknehmens nimmt andere Wege. Während Gould seine Auftritte als Konzertpianist gänzlich einstellte, verweigert Argerich lediglich die Solistenrolle. Sie tritt nur noch als Teil eines Ensembles auf. Gould suchte die Einsamkeit, Argerich flieht sie. Beiden gemeinsam ist die Wahrnehmung der Konzertsituation als unerträgliches Ausgesetztsein. Gould trat die Flucht nach vorne an, indem er offensiv behauptete, Konzerte überhaupt seien eine technisch überholte Form der Präsentation von Musik. Argerichs Fluchtbewegung wirkt im Vergleich dazu defensiver. Sie leitet aus ihrem Unbehagen keine Doktrin ab, sondern bleibt
11 „Glenn Gould im Gespräch mit Tim Page“, in: ders.: Vom Konzertsaal zum Tonstudio, S. 299 (Hervorhebung E. M.).
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Elfie Miklautz ‚bei sich‘, spricht offen über ihre Scheu vor Auftritten und vermittelt damit der Öffentlichkeit Einblick in die psychodynamischen Prozesse des Virtuosendaseins. Bedenkt man ihre Zurückhaltung den Medien gegenüber – Interviews verweigert sie größtenteils, weil als Nötigung zum Exhibitionismus empfunden; Situationen, in denen Medienkontakt unabwendbar ist, entzieht sie sich durch Verweis auf dringliche anderweitige Verpflichtungen und lässt sich bestenfalls wenige unergiebige Worte entlocken – ist diese Art von Selbstentblößung durchaus mutig. Sie verbirgt sich weder hinter Allgemeinplätzen noch hinter kühnen Thesen. Ungeschützt lässt sie uns von der für sie unerträglichen Einsamkeit des Pianistendaseins wissen. Bereits als Kind habe sie Auftritte gehasst, sich bei Abendeinladungen unter dem Tisch versteckt, während der ebenfalls anwesende Daniel Barenboim mit Freude sein Können am Instrument vorgeführt habe. Als Sechzehnjährige reiste sie von Auftritt zu Auftritt, verbrachte ihre Zeit einsam in Hotelzimmern und sehnte sich nach unbeschwerter Gemeinsamkeit mit Gleichaltrigen. Legendär ist die mitunter lange Wartezeit des Publikums vor Konzertbeginn, bis Argerich endlich – fallweise von hinten handgreiflich unterstützt – das Podium betritt. Bei einem Konzert in Wien soll sie, wie berichtet, den Gang auf die Bühne zunächst nur dazu genutzt haben, den Flügel einmal zu umrunden, um sich dann nochmals ins Künstlerzimmer zurückzuziehen. Die Widerstände, die sie zu überwinden hatte, scheinen enorm gewesen zu sein. In einer Filmdokumentation, die Georges Gachot nach jahrelanger Hartnäckigkeit über sie drehen durfte12, berichtet sie von autosuggestiven Maßnahmen vor Konzertbeginn: Kniend auf der Toilette eingesperrt habe sie sich als Kind gesagt, dass sie sterben müsse, wenn sie auch nur einen Ton falsch spiele. Das war ihre Art, Kontrolle über ihr Spiel zu erlangen. Glaubt man dem über sie Kolportierten, scheint sie nicht zu jenen Instrumentalisten zu gehören, die die Kontrolle über ihr Spiel so lange durch extensives Üben zu erlangen versuchen, bis jede einzelne Phrase unverrückbar ‚sitzt‘. Dies widerspräche im Übrigen auch ihrer Vorstellung von Lebendigkeit und Spontaneität, die eine in ihren Augen gelungene Aufführung eines Werkes erfordert. Sie spiele gerne Klavier, sei aber nicht gerne Pianistin, sagt sie, und verwendet den Terminus ‚Pianistin‘ dabei als Kürzel für eine Fülle von unliebsamen Zumutungen, die Klavierspielen als Beruf beinhaltet. Sie fühle sich gestrandet, wenn sie auf die Bühne komme und einsam wie nie, sagt sie, sie müsse sich exponieren, das Klavier erscheine ihr wie ein riesiger Berg (sic!), die Tasten wie ein Gebiss, das sie zu verschlingen drohe.
12 Martha Argerich. Evening Talks. A Film by Georges Gachot, 2002.
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Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern Das Bild, das diese Szenen entstehen lassen, steht im Widerspruch zu den Etikettierungen, die man ihr verliehen hat: Sie sei ein Naturtalent, wild, leidenschaftlich, unzivilisiert, raubtierhaft, das Instrument drohe unter ihrem kräftigen Zugriff zu zerbrechen, sie wische mit Leichtigkeit Stellen vom Tisch, die für andere Pianisten lebenslang unüberwindbar blieben etc. Die von ihr selbst angeführte scheue Zurückhaltung steht dazu in merkwürdigem Widerspruch. Wie ein Insekt unter der Lampe fühle sie sich, wenn sie alleine auftrete. Ihre Antwort auf das Unbehagen an der Konzertsituation besteht nicht im Rückzug ins Aufnahmestudio, denn auch dort wäre sie alleine. Anonymität und Isolation haben für sie keine kreativitätsfördernde, befreiende Wirkung. Ihr geht es darum, sich in Beziehung zu setzen – nicht zur anonymen Masse des Publikums, sondern zu Weggefährten, zu Bundesgenossen im Sich-Erschließen des Raums der Musik. Seit Jahren tritt sie nicht mehr solistisch auf, sondern in kammermusikalischen Formationen. Sie spielt mit Freunden, ehemaligen Lebenspartnern, Verwandten, Nachwuchsmusikern, die in den Kreis der Freunde aufgenommen werden. Sie hat ein eigenes Kammermusikfestival gegründet, das jährlich mehrwöchig in Lugano stattfindet und sich durch ebendiese amikale Atmosphäre auszeichnet, in der kein Raum für konkurrenzistisches Gebaren und eitle Selbstdarstellung ist. Auch der Abstand zwischen Musikern und Publikum ist minimiert, alle scheinen Teil des Geschehens zu sein, hören einander gegenseitig zu. Beobachtet man Argerich, wenn sie selbst als Zuhörende im Saal ist, fällt auf, dass sie mit jeder Phrase mitgeht, ihr nicht nur mimisch sondern auch gestisch Ausdruck verleiht, als wäre sie selbst eine der Aufführenden. Sie vollzieht das Geschehen mit und lässt es nicht neben sich ablaufen. Ich hatte Goulds Haltung als Musiker als platonisch bezeichnet; bei Argerich bin ich dazu geneigt, sie mimetisch zu nennen. Damit meine ich nicht, dass ihr Zugang zur Musik sich darin erschöpfen würde oder ihre intellektuelle Leistung demgegenüber geringer zu veranschlagen wäre. Was ich damit sagen will, ist vielmehr, dass meiner Ansicht nach Mimesis ihre stärkste energetische Antriebsquelle zu sein scheint, ihr Reservoir, aus dem sie schöpft, das sie unvergleichbar macht. Und um diese Fähigkeit schöpferisch nutzbar zu machen, braucht es andere Rahmenbedingungen, als sie der individualistisch-elitistisch ausgerichtete Konzertbetrieb für Solisten bietet. Dem hat sie sich entzogen. Ihr SichZurücknehmen betrifft die Rollenattribute der gefeierten Starpianistin, die sie ihrer Kreativität berauben. Während Gould den Eindruck erweckt, dass Musik möglichst wenig von Körperlichkeit und Soziabilität kontaminiert und behindert werden sollte, scheint Musik bei Argerich ein eminent sinnliches, körperbezogenes Geschehen zu sein. Sie verkörpert Musik, ist
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Elfie Miklautz ihr Medium. Im Spiel findet eine Anverwandlung statt, bei der sie sich nicht nur zurücknimmt, sondern sich auf- und hingibt im Vollzug. Und dieses Geschehen ist ein mit-zu-teilendes, das deshalb auch einen sozialen Bezugsrahmen braucht, in dem es sich ereignet. Selbst die Art, wie sie sich zu Komponisten, deren Werke sie spielt, ins Verhältnis setzt, basiert auf Beziehungslogik. Sie spricht davon, dass Schumann sie möge – „ich habe etwas mit Schumann … irgendwie … ich fühle mich sehr nah“13 –, Chopin und Liszt ihretwegen aufeinander eifersüchtig seien, wenn sie sich beiden an einem Abend widme, Prokofjew ihr noch nie böse Streiche gespielt habe etc. Werke eignet sie sich mitunter „subliminal“ an, im Schlaf, während jemand anderer sie spielt, inklusive der dabei auftretenden Fehler. Durch Mimesis war auch ihr Verhältnis zu Friedrich Gulda gekennzeichnet, der die Dreizehnjährige unterrichtete. Sie beschreibt es als Osmose, weil sie immer sofort genau wusste, was er von ihr wollte, noch vor jeder Instruktion. Im Übrigen hatte dieser geäußert, er wisse nicht, was er ihr beibringen solle, weil sie schon alles könne. Auch andere Lehrer haben gezögert, ihren ungebändigten Zugang zur Musik durch Instruktionen zu domestizieren und kontrollierter zu gestalten. Intuitives Erfassen scheint eine ihrer Stärken zu sein. Planen, Strukturieren, Kontrollieren, Analysieren dagegen weniger. Nicht die aufwendig vorbereitete, in jedem Detail vielfach abgesicherte ‚Exekution‘ des Geprobten ist ihre Vorstellung vom gelungenen Auftritt, sondern das Unerwartete, Unvordenkliche, das sie selbst zu überraschen vermag. Das funktioniert nicht bei zu starren Sicherheitsvorkehrungen, sondern braucht Offenheit dem Augenblick gegenüber; nicht Kontrolliertheit, sondern den out-of-controlstate und den dafür obligaten Mut zum Risiko des Sich-Aussetzens und Sich-Verlierens. Die Offenheit dafür, zu spüren, in welcher Weise Musik immer wieder neu und anders zu berühren vermag, bezeichnet sie als Verletzlichkeit: „I’m attracted more to vulnerability than to security […]. I like it when something is not totally under control, when there is an unforeseen opening-up.“14 Die Emergenz des Unverfügbaren ereignet sich bei Argerich im Unbedingten, im Geschehenlassen, nicht im sforzato. Sie beschreibt es als ein Dem-Unbewussten-Raum-Geben, als etwas, das sich hinter ihrem Rücken ereignet, ohne dass sie es geplant hätte.15 Diese Erfahrung sucht sie bei Auftritten. Voraussetzung dafür sind Vorkehrungen, um der Gefahr des Sich-Wiederholens zu entgehen. Mit13 Transkript aus dem Film Martha Argerich. Evening Talks. 14 Interview mit Gaëlle Le Gallic, in: Progetto Martha Argerich, Lugano 9-28 giugno 2008, Festivalkatalog, Lugano 2008. 15 Vgl. Dan Elder: „Excerpts from a rare interview with Argerich“, in: www.andrys.com/arg-1979html (Stand: 15.8.2009).
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Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern unter hat sie es vermieden, ein Werk vor dem Auftritt ganz durchzuspielen und es bei abschnittweisen Proben belassen, damit das Besondere nicht vorweggenommen werde. Werke, mit denen sie eine besonders intensive Erfahrung verbindet, spielt sie gar nicht, aus Angst, dass dabei Ungeheures passieren könne. Sich selbst imitieren, indem man der Routine nachgibt, verhindert die Entdeckung von Neuem. Argerich sucht stattdessen die Unmittelbarkeit: „Es ist das Direkte mit der Musik, man muss versuchen es wiederzufinden, verstehst du. Wie mit einem Menschen. Wenn du dir sagst, dass du weißt, wie du reagieren wirst, dann ist es hinüber. So geht es nicht. Du musst aufmerksam sein und offen für das, was dieser Mensch in dem Augenblick ist. Nicht für die Idee, die du von ihm hast.“ 16 Argerich nimmt sich zurück, indem sie sich aussetzt. Im Wissen um diese Ungeschütztheit wird nachvollziehbar, inwiefern Auftritte als Solistin für sie dermaßen furchterregend sind, weiß sie doch selbst nicht, was auf sie und das Publikum zukommen wird. Sich selbst und die anderen mit dem eigenen Unbewussten zu überraschen, exponiert bis ins Intimste. So gesehen übersteigt ihr Mut den jedes kontrollbesessenen Musikers bei Weitem. Und nicht immer hält sie durch. Es gibt vereinzelt uninspirierte Aufnahmen von ihr, in denen sie sich selbst davonjagt, ein irrwitziges Tempo anschlägt, Werke technisch brillant abschnurren lässt oder sich ins Finale stürzt, nur um es hinter sich zu haben. Nachvollziehbar wird auch, dass sie sich im Umkreis von Vertrauten und im Austausch mit ihnen mehr Offenheit und Loslassen erlauben kann. Sich zurücknehmen, indem man sich exponiert, so lautet die paradoxale Formel ihrer Laufbahn als Pianistin.
Hinter Glas „[…] mit jener stillen, impertinenten Zurückhaltung, die noch unerträglicher ist als die volllauteste Aufschneiderei“ Heinrich Heine
Äußerste Zurückhaltung, apostrophiert als nobel und aristokratisch, kennzeichnet dagegen den Pianisten Arturo Benedetti Michelangeli. Bei ihm ist das Sich-Zurücknehmen als extreme Affektkontrolle figuriert. Argerich war wenig begeistert von ihrer Zeit als seine Schülerin. Sie habe in eineinhalb Jahren nur vier Mal Unterricht gehabt und das sei nicht einfach für sie gewesen, berichtet sie. Michelangeli, in einem Interview darauf angesprochen, bestätigte
16 Transkript aus dem Film Martha Argerich. Evening Talks.
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Elfie Miklautz das zwar, fand daran aber nichts Negatives, im Gegenteil, er habe sie, so seine Antwort, ‚den Klang der Stille gelehrt‘. Still blieb es häufig genug auch am Podium – Michelangeli war bekannt für häufige Konzertabsagen, oft in letzter Minute. Kleinste Irritationen waren ausreichend dafür, ein wenig Zugluft, zu hohe Luftfeuchtigkeit, ein nicht optimal vorbereitetes Klavier – er reiste immer mit dem eigenen –, diffuses Unwohlsein, es kam sogar vor, dass er bestellen ließ, dass er keine Lust habe. Sein Sich-Entziehen betraf Auftritte ebenso wie Aufnahmesitzungen, die oft genug ohne Ergebnis blieben, weil er der Veröffentlichung nicht zustimmte oder die Sitzung bereits vorzeitig abgebrochen hatte. Man hat sich dieses Verhalten so erklärt, dass er ständig auf der Suche nach einem Fluchtweg gewesen sei, um sich der Situation nicht aussetzen zu müssen und die Verantwortung für sein Nichterscheinen ebenso wie für seiner Ansicht nach nicht gänzlich zufriedenstellende Leistungen nach außen delegieren zu können. Dass Michelangeli geringste Irritationen schwer verstören konnten, ist ungeplante Nebenfolge oder auch sensibilitätsmäßige Voraussetzung seiner subtilen Klanggestaltung. Er vermochte feinste Unterschiede hörbar zu machen und verfügte über einen äußerst nuancierten Anschlag. Eine derartige Feinsinnigkeit und Hellhörigkeit, die in jahrelangem Training weiter ausdifferenziert wurde, dürfte sich im Alltag eher belastend bemerkbar gemacht haben. Michelangeli vermittelte seiner Umwelt den Eindruck der Unnahbarkeit. Der Presse verweigerte er sich, aus sozialen Situationen klinkte er sich zeitweise aus und wirkte abwesend, Begegnungen liefen unterkühlt ab, weil emotionale Regungen ihm unangenehm waren, ausgesuchte Höflichkeit diente der Distanzschaffung. Er nahm sich nicht nur als Musiker zurück, um nicht gegenüber der Musik zu stark im Vordergrund zu stehen, auch seine sozialen Kontakte gestaltete er in einer Weise, die ihn als anwesenden Abwesenden erscheinen ließen. Wie hinter einer unsichtbaren Wand agierte er. Dieselbe Entrücktheit kennzeichnet sein Klavierspiel. Es ist gleichsam außerhalb der Wirklichkeit, ätherisch, künstlich. Er bereitete sich jahrelang vor, bevor er ein Stück öffentlich präsentierte, hielt sein Repertoire über Jahrzehnte weitgehend konstant und spielte makellos, jedes Detail unter völliger Kontrolle, ohne aufgesetzte Effekte oder Hervorhebungen, ohne erkennbare emotionale Bezugnahme. Musik wie aus Glas, wie auf Eis gelegt. Er setzte gewissermaßen sich selbst, das jeweilige Werk und das Publikum auf Entzug. Dies produziert starke Spannung bei den Zuhörern. Der Bann wird durch das Abwesende erzeugt, das Fehlen des Erwarteten, das sich nicht einstellt. Sein sich-entziehendes, unterkühltes Klavierspiel hat dieselbe Wirkung wie asketische Praktiken, die das
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Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern Begehren nicht stilllegen, sondern in eine Steigerungsspirale führen. Man hat behauptet, Michelangeli habe seine Stücke durch das unausgesetzte Perfektionieren ‚totgespielt‘, wäre zu ernsthaft und verbissen damit verfahren und habe ihnen dadurch alles Spielerische genommen. In der Tat spielt er etwa Romantiker so, dass ihnen jede Romantik – und nicht nur falsche – ausgetrieben wurde. Doch warum, müsste man fragen, tat er das? Mein Eindruck ist, es ging ihm dabei um ein Stillstellen von Bedrohlichem. Es gab Momente, in denen er beim Spiel eigenes Ergriffensein zeigt, das sofort wieder von Beherrschtheit abgelöst wird.17 Man kann daraus schließen, dass Reserviertheit durch Affektkontrolle immer wieder neu hergestellt werden muss. Es handelt sich weniger um ‚Totgespieltes‘, das mechanisch abläuft, sondern um eine immer wieder neu errungene Bewältigung von zu viel unkontrollierbarem Eigenleben. Zurückhaltung wird nicht nur geübt, um das Werk ‚rein‘ zu halten und von allem allzu Persönlichen, Emotionalen, Lebensweltbezogenen freizuhalten, auch nicht nur aus Scheu, das eigene Involviertsein öffentlich zu zeigen, sondern auch um sich selbst freizuhalten von offenbar als bedrohlich erlebter innerer Bewegtheit. Das, was Argerich mit Verletzlichkeit bezeichnet, davor scheint Michelangeli sich schützen zu wollen; nicht, indem er diese Dimension völlig negiert, sondern indem er sie unter seine Kontrolle bringt, die Dosis selbst bestimmt und einen Abstand zwischen sich und das potenziell Verletzende legt. Das Spiel soll exorzieren. Man beherrscht das Werk ebenso wie sich, wenn man sich diszipliniert, bis vollkommene Perfektion erreicht ist und es wie ein in sich selbst ruhendes, eigenständiges Gebilde in unerreichbarer Distanz erklingt. Verfeinerung und Entstofflichung sind so weit getrieben, dass eine Entrückung stattfindet, zu der man sich – erst recht als versuchter und versuchender Zuhörender – kaum noch ins Verhältnis setzen kann. Und es doch immer wieder versuchen will. Ein Zustand, der nicht vor der Lust, sondern noch vor der Vorlust verharrt und das Begehren des Unverfügbaren weiter steigert. Adorno hat in seinem Versuch, die metaphysische Erfahrung zu benennen, darauf verwiesen, dass man das Gesuchte dabei notwendig nie erlangt18 – man kann es auf die Kurzformel ‚fast da, fast nah‘ bringen. Michelangeli hat sie in seiner Ausreizung des Spannungsverhältnisses von An- und Abwesenheit in ein ‚fast nicht mehr da‘ transformiert. Er
17 Vgl. Cord Garben: Arturo Benedetti Michelangeli. Gratwanderungen mit einem Genie, Hamburg 2002, S. 143. 18 Theodor W. Adorno: Metaphysik. Begriffe und Probleme, Frankfurt a. M. 2006, S. 218f.
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Elfie Miklautz selbst ist dabei ganz in den Hintergrund gerückt – derart, um mit Marcel Proust zu sprechen, „dass man nicht mehr weiß, ob man überhaupt einen Pianisten vor sich hat, weil eben dieses Spiel (insofern nicht mehr der Aufwand an Fingerübungen mit seiner immer wiederkehrenden Krönung durch brillante Effekte, jenes Aufsprühen und -schäumen von Klängen, bei denen mindestens der Zuhörer, der sich nicht genau auskennt, das Talent in seiner materiellen, greifbaren Wirklichkeit zu finden meint, dabei in Erscheinung tritt) so durchsichtig geworden ist, so ganz von seiner Aussage erfüllt, dass man es selbst gar nicht mehr bemerkt oder doch nur wie ein Fenster, das den Durchblick auf ein Meisterwerk eröffnet.“19
Nichts wollen „Man ist nie genug skeptisch, eine einzige Ausnahme: die Musik, die mit der Skepsis total unvereinbar ist.“ Emile Cioran
Dirigenten, die Zurückhaltung üben – eine Gedankenübung, die Schwierigkeiten macht. Besteht doch ihre Aufgabe darin, präsenter zu sein als jeder andere Musiker und das auch zu zeigen. Sie gestalten, indem sie darstellen; sie machen Musik, ohne selbst ein Instrument zu spielen. Ihre Aufgabe ist komplex: Sie haben aus einer Fülle von Instrumenten einen Klangkörper zu bilden und können dies nur über die Kooperationsbereitschaft der diese Instrumente spielenden Musiker erreichen. Um dies zu erlangen, müssen sie als Koordinatoren anerkannt werden, Überzeugungskraft besitzen, Autorität ausstrahlen, als Persönlichkeit wahrnehmbar sein und wahrgenommen werden. Sie brauchen Charisma. Sich zurücknehmen ist in dieser Rolle eher kontraproduktiv. Gilt es doch, seinen Willen durchzusetzen und zwar so, dass er Zustimmung erfährt. Ein Dirigent, der von sich behauptet, nichts zu wollen, konterkariert seine Aufgabe. Sergiu Celibidache hat genau dies getan und das eigene Sich-Zurücknehmen zum wichtigsten Erfolgsfaktor seines Tuns erklärt. ‚Erfolg‘ meint in diesem Fall, das seltene Ereignis erleben zu können, dass aus Klängen Musik entsteht. Es gibt Vorstellungen, wonach ein Dirigent vor allem dafür zu sorgen hat, dass ‚Ordnung‘ im Orchester herrscht, jeder zum richtigen Zeitpunkt das Richtige tut und alles sich bruchlos in- und aneinanderfügt. Ein Kontrollorgan, das die Einhaltung von Regeln überwacht wie die Polizei. Doch, wie Mahler sagte, steht alles in der 19 Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Welt der Guermantes I, Deutsch v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a. M. 1964, S. 60.
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Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern Partitur, nur das Wichtigste nicht. Und dies herauszufinden und zu vermitteln wäre die zweite Aufgabe des Dirigenten. Sie wird meist als Interpretation bezeichnet. Welche von beiden als wichtiger anzusehen ist, ist umstritten. Carlos Kleiber etwa – der im Übrigen auch zu den hier erörterten Musikern zu zählen wäre, hat man ihn doch in Nachrufen als genialen Nichtfunktionierer und virtuosen Verweigerer bezeichnet – ließ bei einer Probe verlauten „[M]ir ist lieber, […] das Ding ist heillos auseinander, und sagt einem was, als dass wir ganz sicher sind“20. Konsens herrscht üblicherweise im Hinblick darauf, dass keine der beiden Aufgaben gänzlich zu vernachlässigen sei. Celibidache hingegen war der Meinung, man komme als Dirigent ohne Interpretation aus, mehr noch: Die Vorstellung, dass es etwas zu interpretieren gebe, sei völlig falsch. Im Reigen der Figuren des Sich-Zurücknehmens steht er zum einen für die Verweigerung der interpretativen Leistung von Musikern, zum anderen lehnte er Tonträger ab und entzog sich damit der ökonomischen Verwertung seines Schaffens. Wer ein von Celibidache dirigiertes Werk hören wollte, konnte dies bis zu seinem Tod nahezu ausschließlich durch den Besuch von Konzerten oder Proben tun. Dies ist ein ungeheurer Schritt, weil folgenreicher als eine Ablehnung des Konzertierens; denn er sprengt die Verwertungskette an ihrem Ausgangspunkt. Celibidache verzichtete damit nicht nur auf eine nicht unerhebliche Einnahmequelle, sondern auch auf internationale Bekanntheit bei einem breiteren Publikum. Beide Formen des Sich-Zurücknehmens, die als Interpret wie die als Tonträgerproduzent, gründen in der Überzeugung, dass Musik ein Phänomen sei, bei dem sich die Wahrheitsfrage stellt. Musiker haben es also mit einem Erkenntnisproblem zu tun und Celibidache war nicht der Ansicht, dass Hermeneutik dabei eine zielführende Methode zum Erkenntnisgewinn sein könne. Es gelte nämlich nicht, Bedeutungen zu entschlüsseln. Seine Erläuterung der Behauptung, Musikmachen habe nichts mit Interpretation zu tun, ist schlicht und überzeugend: „Wenn du von Plön nach Eutin gehen musst, gibt es da Interpretationen?“21 Celibidache geht von einer Vorstellung von Wahrheit aus, die weder relativistisch noch pluralistisch angelegt ist. Seiner Ansicht nach gibt es eine Wahrheit und jene ist objektiv. Das Kriterium für gültige Erkenntnis ist Evidenz – die Evidenz des „So ist es“. Mehr lässt sich dazu auch nicht sagen. Ein Werk erkennen heißt, seine Wahrheit zu vollziehen. Die Leistung des Dirigenten ist eine „im besten Sinne entpersönlichte“, die 20 Zit. in: Jens Malte Fischer: Carlos Kleiber – der skrupulöse Exzentriker, Göttingen 2007, S. 37. 21 „Die Wirklichkeit hinter dem Denken“, Interview mit Sergiu Celibidache, in: Jan Schmidt-Garre (Hg.): Celibidache. Man will nichts – man lässt es entstehen. Texte zum Film, München 1992, S. 12.
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Elfie Miklautz nicht über seinen Willen funktioniert, den er dem Werk auferlegt, sondern über seine Identifikation und absichtslose Hingabe. Celibidaches Argumentation basiert auf phänomenologischen und zen-buddhistischen Annahmen, die das Verhältnis von Wissen, Wirklichkeit und Erfahrung betreffen. Über Husserls „intersubjektive Betreffbarkeit“ erschließt er sich die Objektivität der Wahrheit des musikalischen Geschehens.22 Diese ist von einem ständigen Oszillieren zwischen erarbeitetem Wissen und dessen Transzendierung gekennzeichnet. Jede Aufführung braucht die unvoreingenommene Spontaneität des ‚ersten Mals‘. Phänomenologie lehrt ihn, was der Musik im Wege steht. Die unzähligen ‚Neins‘, die die Probenarbeit bestimmen, sind Ausschlussvorgänge, die die Bedingung der Möglichkeit für das Entstehen von Musik darstellen. Ihnen steht ein einzig mögliches ‚Ja‘ gegenüber, das intellektuell nicht fassbar, sondern nur erlebbar ist, wenn man alles Wissen hinter sich gelassen hat. In Proben wird ausgeschlossen. Was danach zu tun bleibt, lässt sich als passive Aktivität beschreiben – man muss ungeheuer konzentriert sein, um alles zu verhindern, was das Entstehen von Musik behindern könnte, und passiv-aufnahmefähig, offen, um sie emergieren zu lassen, ihr einen Raum zu schaffen, in dem sie sich entfaltet. Mit Wirkungen, die bis ins Letzte festgelegt sind, wird man der Lebendigkeit der Werke nicht gerecht. Aktive Passivität und spontanes Geschehenlassen sind Haltungen, die Celibidache aus seiner Beschäftigung mit dem ZenBuddhismus in das Dirigieren transferiert hat. Auf die Frage eines Schülers, was hinter dem Denken liege, antwortete ein Zen-Meister mit „[D]ie Wirklichkeit“. Über das Denken hinweg zur Wirklichkeit zu gelangen heißt, bezogen auf Musik, über den bloßen Klang, die physikalischen Daten, das Wissen, das Gedächtnis, die Skepsis angesichts der Vielfalt von Möglichkeiten hinauszugelangen zur Erfahrung der Zeitlosigkeit, bei der das Ende im Anfang enthalten ist und alles so ist, wie es ist. Wirklichkeit lässt sich Celibidache zufolge nicht verdinglichen. Ebenso verhält es sich mit Musik, man kann sie weder definieren, noch über das Denken entstehen lassen: „Es findet die ganze Zeit nicht statt, solange Sie denken. Es liegt außerhalb des Denkens. Und es ist noch etwas anderes, was ganz undefinierbar bleibt: Sie können auch nicht anders, als es geschehen lassen. Sie lassen es entstehen. Man tut selbst nichts. Man sieht aber zu, dass nichts dazwischenkommt, was diese Entstehung, diese wunderbare Entstehung, irgendwie hindern könnte. Al-
22 Vgl. Sergiu Celibidache: „Über musikalische Phänomenologie“, in: Jan Schmidt-Garre (Hg.): Celibidache. Man will nichts – man lässt es entstehen. Texte zum Film, München 1992, S. 69-89.
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Figuren des Sich-Zurücknehmens von Musikern so, man ist unglaublich aktiv, und in der gleichen Zeit unglaublich passiv. Man will nichts, man lässt es entstehen.“23
Das Entstehenlassen ohne aktiv einzugreifen entspricht dem taoistischen Wu-wei-Prinzip. Wu wei bedeutet Handeln durch NichtHandeln; ein Tun, das spontan im Einklang mit dem Lauf der Dinge steht und daher auf keinen Widerstand trifft; ein intuitives, aryamosesque24 der Situation angeglichenes Handeln, das ohne Denken auskommt, ohne Absicht, ohne Eifer, ohne Ehrgeiz; ein Handeln, das im inneren Einklang mit dem Rhythmus der Dinge steht. Nach Alan Watts: mit dem Augenblick „fließen“, „nicht zwingen“, „mit dem Strich gehen, mit dem Stoß rollen, mit der Strömung schwimmen, die Segel nach dem Wind richten, die Gezeiten mit der Flut nützen, ‚sich erniedrigen, um zu erobern‘“25. Kreative Passivität also. So erlebt Celibidache das Dirigieren – als Nicht-anders-Können, Keine-Wahl-Haben, vom Bestehenden aus immer weiter zu gehen und nicht zwanghaft, sondern spontan zu reagieren. Um die Vielfalt zu realisieren und zu reduzieren – reduzieren im Sinne von die Interkorrespondenz der Elemente erlebbar machen –, ist Achtsamkeit erforderlich, weil jedes Element integriert werden muss. „Wenn ein Gras stirbt, weinen alle Wälder“ – diesen Zen-Satz hat Celibidache häufig geäußert. Um Vielfalt zu reduzieren und zu transzendieren, ist Zeit erforderlich, die im In-der-Situation-Sein aber nicht als Dauer erlebbar ist. Musik dauert nämlich nicht, ihre Zeitform ist die des nunc stans. Vom ‚richtigen‘ Tempo eines Werkes lässt sich deshalb nicht sinnvoll sprechen, weil alles davon abhängt, wie es klingt – und dies ist situationsbedingt, je nach Beteiligten, akustischen Verhältnissen, Raumbeschaffenheit etc. Solche Augenblicks-Gewahrsamkeit war der Hauptgrund für Celibidaches Verweigerung, Aufnahmen für Tonträger zu gestatten. Das Wichtigste auf ihnen fehlt. Es ist weniger Vielfalt vorhanden als in der Situation des Entstehens, weil diese Vielfalt nicht reproduzierbar ist. Musik sei ein Phänomen des Nu, und dieser ist weder wiederholbar noch fixierbar. Celibidaches Haltung ist eindeutig: „Ich lehne es ab, Dreck zu verkaufen und von verkauftem Dreck leben zu müssen“, meint er, „denn auf der Platte ist alles drauf, nur das Wesentliche nicht“, sie ist nicht mehr als „eine blasse Fotografie von einer unglaublich lebendigen Land-
23 Ebd., S. 15. 24 Deriv. zeitgenöss. urban legend; siehe Hannah Camoe/Jacopo Saintules: Codaic Notes, New York 2001, S. 27; svw. harmonisch, natürlich, auch zwangsläufig. 25 Alan Watts: Der Lauf des Wassers. Die Weisheit des Taoismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 116.
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Elfie Miklautz schaft“.26 Musik ist das Nicht-Aussprechbare, abspielend sich jenseits des Denkens.27 Daher äußerte sich Celibidache auch stets nur widerwillig über seine Arbeit. Sie lässt sich erfahren, nicht aber erläutern. In diesem Sinne hielt er es mit Ralph Waldo Emerson, demzufolge schweigendes Verständnis jedwede Erklärung beschämt.
Unverfügbares „Selbstverständlich ist es sinnlos, unsere Schritte in den Wald zu lenken, wenn wir dort nicht wirklich ankommen.“ Henry David Thoreau
Ausgestellte vier Portraits bieten Musiker dar, die ein SichZurücknehmen als Haltung exerzieren – in quintzirkelsekantiger, teils gar kontrapunktischer Interpretation, jedoch mit gleicher Zielsetzung: der Suche nach unerhörten Arten des Musizierens. Deshalb fürchten und scheuen und meiden sie all das Mögliche. Solches ‚unerhört‘ zu nennen heißt, sich beinah zuwenig zurückzunehmen (sic!); verständlich vielleicht wegen der Zwischentönigkeit dessen, was begrifflichem Zugreifen gern mit Entzug droht. Der trotzdem haschende Eingangsterminus des „Unverfügbaren“ behauptet, die Haltungen des Sich-Zurücknehmens, des SichEntziehens seien zwingend, um Spielräume für jenes Unverfügbare zu schaffen. Aber: Wollen all die Sucher nach Entzugs-Stationen im selben ‚Spiel-Raum‘ ankommen? Sind sie dort angekommen? Gibt es den Ort? Sie sind wohl als ungeschützte Selbstversuche betrachtbar und beträchtlich – Goulds nördliche Lichter der Transzendenz, Celibidaches multiple Verlangen nach nunc stans, Argerichs freie Fälle ins Unbewusste oder Michelangelis stumme Tauchgänge zur Entrücktheit. Gemeinsam ist diesen Neigungen oder Manien (je nach Hörweite) die Unverfügbarkeit des Ersehnten. Und sei es bloß, was an Musik mit Worten nicht zu stimmen ist. – Erfahrbar, unsagbar.
26 Zit. nach Stefan Piendl/Thomas Otto (Hg.): Stenographische Umarmung. Sergiu Celibidache beim Wort genommen, Regensburg 2003, S. 106ff. 27 Zur Frage der begrifflichen Erfassbarkeit des musikalischen Geschehens habe ich mich ausführlich geäußert in: Elfie Miklautz: „Music – Beyond the Frontiers of Language“, in: Jack Reynolds (Hg.): Local Arts, Global Knowledge, New York 2010 (i.E.).
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Literatur Adorno, Theodor W.: Metaphysik. Begriffe und Probleme, Frankfurt a. M. 2006. Benjamin, Walter: Die Bedeutung der Sprache in Trauerspiel und Tragödie, in: Gesammelte Schriften II/1, Frankfurt a. M. 1972, S. 137–140. Bourdieu, Pierre: The Field of Cultural Production. Essays on Art and Literature, Cambridge 1993. Camoe, Hannah/Jacopo Saintules: Codaic Notes, New York 2001. Celibidache, Sergiu: „Über musikalische Phänomenologie“, in: Jan Schmidt-Garre (Hg.): Celibidache. Man will nichts – man lässt es entstehen. Texte zum Film, München 1992, S. 69–89. Cott, Jonathan: Telefongespräche mit Glenn Gould, Berlin 1984. Elder, Dan: „Excerpts from a rare interview with Argerich“, in: www.andrys.com/arg-1979html (Stand: 15.8.2009). Fischer, Jens Malte: Carlos Kleiber – der skrupulöse Exzentriker, Göttingen 2007. Garben, Cord: Arturo Benedetti Michelangeli. Gratwanderungen mit einem Genie, Hamburg 2002. Gould, Glenn: Vom Konzertsaal zum Tonstudio. Schriften zur Musik II, hg. v. Tim Page, München/Zürich 1987. Miklautz, Elfie: „Music – Beyond the Frontiers of Language“, in: Jack Reynolds (Hg.): Local Arts, Global Knowledge, New York 2010 (i.E.). Piendl, Stefan/Thomas Otto (Hg.): Stenographische Umarmung. Sergiu Celibidache beim Wort genommen, Regensburg 2003. Progetto Martha Argerich, Lugano 9-28 giugno 2008, Festivalkatalog, Lugano 2008. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die Welt der Guermantes I, Deutsch v. Eva Rechel-Mertens, Frankfurt a. M. 1964. Schmidt-Garre, Jan (Hg.): Celibidache. Man will nichts – man lässt es entstehen. Texte zum Film, München 1992. Watts, Alan: Der Lauf des Wassers. Die Weisheit des Taoismus, Frankfurt a. M. 2003.
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Kaltes Herz und kühler Kopf. Coolness und andere Formen der Affektökonomie RÜDIGER ZILL
Gesetz und Gefühl Am Anfang war der Tod – und am Ende. In beiden Fällen sehen wir einen Erhängten. Doch die beiden Erhängten könnten unterschiedlicher nicht sein. Der erste Fall war ein versuchter Mord in Gestalt von Lynchjustiz, der zweite ein Selbstmord aus Furcht vor der Rache des Gesetzes. Das Opfer des ersten entkommt mit knapper Not, und diese Rettung führt schließlich unabwendbar zur Hinrichtung des Täters, eine Hinrichtung, bei der der Delinquent ebenfalls ein Opfer von Selbstjustiz wird, eine Urteilsvollstreckung allerdings, in der Täter und Opfer zusammenfallen: Selbstjustiz, weil der Schuldige selbst Hand an sich legt. Diese Geschichte der zwei ungleichen Männer am Strang ist Ted Posts Western Hang ’em High von 1968.1 Der Protagonist der Handlung, Jed Cooper, wird von Clint Eastwood gespielt, der mit diesem Film zum ersten Mal nach den Engagements bei Sergio Leone wieder nach Amerika zurückkehrte. Leones Dollar-Filme waren für Eastwood der Durchbruch. Sie machten ihn nicht nur berühmt, durch sie wurde aus ihm, der bis dahin nur als Nebendarsteller und Held in Fernsehserien untergekommen war, eine der Ikonen des Cool. Cool2 ist eine späte Erfindung im System der Affektökonomie. Cool ist zunächst ein Sammelbegriff, der die Zügelung des Emotionalen ebenso enthält wie seine Verheimlichung. So changieren die
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Hang ’em High, USA, 1968, R.: Ted Post, B.: Leonard Freeman, Mel Goldberg, D.: Clint Eastwood (Jed Cooper), Pat Hingle (Richter Fenton), Ed Begley (Captain Wilson), Inger Stevens (Rachel Warren). Die deutsche Version lief unter dem Titel Hängt ihn höher. Mir geht es im Folgenden nur um die ursprüngliche Bedeutung dieses Ausdrucks als Gefühlsverheimlichung, nicht um den inzwischen inflationierten Gebrauch, der „cool“ als Formel für alles Positive einsetzt.
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Rüdiger Zill Figuren des Cool in diesem Spannungsfeld von Restriktion des Gefühls und Diskretion im Umgang mit ihm, zwischen seiner Unterdrückung und seiner bloßen Maskierung. Das Cool hat viele Gestalten, aber seine Karriere im Film ist vergleichsweise kurz. Sie beginnt erst eigentlich in den frühen vierziger Jahren mit Humphrey Bogart, der die Heroen der dreißiger Jahre wie James Cagney oder Edward G. Robinson ablöst, und erlebt zu Anfang der achtziger Jahre einen raschen Verfall. Eastwood ist neben dem melancholischen Alain Delon eine der reinsten und härtesten Fassungen des Mythos Cool. Er gehört zu jenen Schauspielern, die Inkorporationen eines emotionalen Habitus geworden sind, so wie Klaus Kinski zum Darsteller des ekstatischen Zorns oder Romy Schneider zur Inkarnation der großen Liebenden. Dabei verschmelzen in diesen Inkorporationen Darsteller und Dargestellte. Anders als beim Charakterschauspieler, der idealiter hinter seinen Rollen verschwinden soll und daher auch sein Können durch die Unterschiedlichkeit seiner Darstellungen unter Beweis stellt, spielt der Typenschauspieler – zumindest vermeintlich – immer sich selbst. Er ist die Einheit in der Vielheit seiner Darstellungen, jedenfalls wird er vom Publikum so wahrgenommen. Das kann dann auch – wie in Eastwoods Fall – zum Ausgangspunkt für die Veränderung seiner Darstellerfigur, zu einer filmgeschichtlichen Selbstkritik werden. Am Anfang von Hang ’em High wird Eastwood alias Jed Cooper zu Unrecht des Viehdiebstahls und des Mordes bezichtigt und von einer Horde aufgebrachter Männer gelyncht. In letzter Sekunde kommt zufällig ein Marshal des Wegs und schneidet ihn vom Baum. Cooper überlebt nicht nur, bald erweist sich auch, da der wahre Täter gefasst wird, seine Unschuld. Der Rehabilitierte nimmt von seinem Richter nun selbst den Marshal-Stern an, nicht zuletzt, um sich an dem Mob, der ihn gehängt hat, zu rächen. Einen nach dem anderen kann er stellen und entweder festnehmen oder in Notwehr erschießen. Der Film ist ein Diskurs über Recht und Rache, Gesetz und Gefühl, ausgetragen zwischen Eastwood-Cooper und jenem Richter Adam Fenton, der ihn zum Marshal ernannt hat. In diesem Diskurs kristallisiert sich eine bestimmte Affekttheorie des Gesetzes heraus. Denn die Lynchjustiz agiert in doppeltem Sinn ohne Urteil. Nicht nur, dass der Hinrichtung kein ordnungsgemäßes Gerichtsverfahren und damit auch kein Urteil in juristischem Sinne vorausgeht, der Mob lässt sich seinen Schuldspruch auch ohne vernünftige Prüfung der Fakten diktieren, weil seine Urteilsfähigkeit durch den Affekt gestört ist. Im Einzelnen sind die Motive der Täter durchaus unterschiedlich: Sadismus, der einfach jemanden hängen sehen will, Habgier, die es auf Sattel und Pferd des Wehrlosen abgesehen hat, und blinder Hass, der als die Empörung von rechtschaffenen Rechtschaf-
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Coolness und andere Formen der Affektökonomie fenden auftritt. Alle aber eint die Herrschaft des Affekts über das abwägende Urteil. Wo einer aus der Gruppe der Lyncher doch noch zögert und Argumente zu Jed Coopers Gunsten finden will, da wird ihm nur kurz stattgegeben. Coopers Kaufvertrag, der den Erwerb der Viehherde beglaubigt, erscheint ihnen als gefälscht, und seine Beschreibung des Verkäufers stimmt nicht mit dem Aussehen des wahren Eigentümers überein; kein Wunder, denn Cooper ist selbst betrogen worden, hat er das Vieh doch von dem Mörder gekauft, ohne zu wissen, mit wem er da handelseinig geworden ist. Aber für Feinheiten und Abwägungen, Nachforschungen und Prüfungen nimmt man sich nicht die Zeit. Coopers Antworten sind unbefriedigend, und so wird er kurzerhand mit dem Mörder identifiziert. Die erbosten Bürger lassen ihrem Zorn seinen Lauf. Der Zorn sei, so bemerkt schon Seneca in seinem Buch De ira, das Gefühl selbst gleichsam personifizierend, von allen Leidenschaften die widerwärtigste, geradezu ein zeitweiliger Wahnsinn, ohne Anstand, nicht Herr seiner selbst, von nichtigen Anlässen erregt und durch Vernunft nicht zu bremsen: „Den übrigen [Emotionen] nämlich wohnt noch etwas Ruhiges und Gelassenes inne, diese ist ganz und gar leidenschaftlich erregt und steht unter dem Ansturm von Schmerz, in kaum noch menschlicher Gier nach Waffen, Blut, Hinrichtungen rasend“3. Eastwood alias Cooper ist das Gegenmodell zum Mob. Auch er lebt zunächst seine Rache aus, aber es ist eine Rache unter dem Stern des Gesetzes. Wo sich ein Konflikt zwischen seinen individuellen Interessen als Rächer und den allgemeinen Pflichten seines Amtes zeigt, entscheidet er sich – wenn auch schweren Herzens – für den Gesetzeshüter, zu dem er geworden ist. Eastwood trägt den Zorn in sich, sein Furor ist aber ein diskreter. Weder erscheint er in seiner Mimik, die immer die des coolen Helden ist, noch lässt er sein Urteil davon stören. Und so stellt er einen nach dem anderen seiner einstigen Peiniger. Am Ende bleibt nur noch der Anführer des Mobs, Captain Wilson, der sich in seinem Farmhaus verschanzt, wohl wissend, dass der Rächer vor der Tür wartet.4 Das Finale ist eine Inszenierung des 3 4
L. Annaeus Seneca: De ira/Vom Zorn, in: ders.: Philosophische Schriften, Bd. 1, Darmstadt 1995, S. 97. Zumindest steht der Tod des Captains am dramaturgischen Ende der Jagd, denn genau genommen sind zwei der Täter noch flüchtig. Ihre Tat bleibt am Schluss des Films zunächst noch ungesühnt, denn mit dem Selbstmord des Anführers Wilson ist Coopers Rachegefühl erloschen. Wenn er mit dem Abspann des Films dennoch aufbricht, die beiden Flüchtigen zu stellen, dann als ein Veränderter. Er tut es nicht mehr aus eigenem Antrieb, sondern weil der Richter ihn dazu zwingt, seiner Pflicht als Marshal nachzukommen.
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Rüdiger Zill Cool par excellence. Eastwood, ganz der unbewegte Beweger, kontrastiert dabei mit der Figur des Captains, der ein Ausbund an Panik ist. Verlassen von all seinen Freunden – zwei haben die Flucht ergriffen, zwei hat Cooper bereits erledigt –, versucht er seine Haut zu retten, indem er aus seinem Haus heraus wild auf alles schießt, was sich draußen zu bewegen scheint. Eastwood hingegen agiert bedachtsam, aber entschlossen und gezielt. Das pure Entsetzen des Captains steht hier Coopers kalter Entschlossenheit gegenüber. In der gesamten Szene fällt kein Wort. Das grimmige Schweigen des Rächers trifft sich mit dem Verstummen des Opfers im Entsetzen. Dem Captain steht der Schweiß auf der Stirn, die Augen sind weit aufgerissen, seine Gesten werden fahrig und unkontrolliert. Am Ende begeht er Selbstmord aus Furcht vor dem Tod.
Screenshot aus Hang ’em High, 1968 (R: Ted Post) Eastwood hingegen verliert in keinem Moment die Kontrolle. Sein Hut hat die Wirkung einer Sonnenbrille. Er verschattet seine Augen, nur wenige Fältchen in den Augenwinkeln drücken alles aus, was in Cooper vorgeht. Anders als bei seinem Gegner bleibt das Gesicht weitgehend starr, es ist das mimische Pendant des Schweigens. Hang ’em High markiert einen Augenblick in der Geschichte des Cool, an dem es über seine melodramatischen Anfänge im Film Noir schon hinaus ist und eine besondere Härte angenommen hat. Es ist nicht mehr das ruppig-zynische Cool Bogarts, sondern hat schon deutlich brutale Züge angenommen, wenn auch nicht in der nihilistischen Variante, der in den sechziger Jahren zum Beispiel Alain Delon Gestalt verliehen hat. Woher aber rührt die Popularität des Cool? Sind seine Figuren nur der überscharfe Ausdruck einer zeitgenössischen Gefühlstextur, eines Habitus, der am Ende einer historischen Entwicklung stünde, jenes Prozesses der Zivilisation, bei dem wir – zum Guten oder zum Schlechten – gelernt hätten, unsere
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Coolness und andere Formen der Affektökonomie Triebe zu moderieren?5 Aber wäre diese Moderation dann eine der Diskretion oder eine der Restriktion? Immerhin ruft die Figur des Cool noch einmal jene Diskussionen auf, die seit mehr als 2000 Jahren über die Ökonomie der Gefühle geführt worden sind. Ist das Cool damit nun eine Wiederauflage von bereits Bekanntem? Setzt es noch einmal im Rahmen bestimmter populärer Genres ins Bild, was an anderer Stelle schon theoretisch formuliert und praktisch vorgeführt worden ist? Oder ist es eine Ökonomie der Zurückhaltung eigener Färbung? Stellt es vielleicht sogar eine Phase in der Konstitution der modernen Individualität dar?6
Zügelungen. Kritik der Erregbarkeit Die Beherrschung der Affekte und Triebe nahm unter den Ökonomien der Zurückhaltung immer schon einen bedeutenden Platz ein. Wenn auch die Auffassungen darüber divergiert haben, wie stark sie zu zügeln seien und wie man jenen Akt der Selbstbeherrschung theoretisch verstehen könne, so herrschte doch von der antiken Philosophie bis in die frühe Neuzeit ein Konsens, dass man das Gefühl bewirtschaften, den Affekt beherrschen, die Leidenschaften zügeln müsse und dass hierfür in erster Linie eine Instanz in Frage komme: die Vernunft. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Vorstellung von der sophrosyne, wie wir sie bei Platon oder Aristoteles finden, nicht von dem stoischen Ideal der apatheia. Dabei zeigen diese Figuren der Selbstbeherrschung nicht selten etwas Heroisches. Die Anfänge sind allerdings noch vergleichsweise idyllisch. Das sokratische Verständnis von Willensschwäche, wie es sich in den frühen Dialogen Platons wiederfindet, ist ein intellektualistisches, da Sokrates diese akrasia als Fehlurteil versteht. Wo jemand seine Leidenschaften nicht beherrschen könne, da unterlaufe ihm schlichtweg ein Fehler in der Abwägung der Folgen. Er schätze die Vorteile der affektiven Handlungen in dem Moment höher ein als die Nachteile, obwohl es in Wahrheit nicht so sei. 7 Diese Fehlurteilstheorie revidiert Platon in seinem eigenen Ansatz und ersetzt sie durch ein Kräftemodell, in dem die Vernunft ei5
Vgl. Peter Stearns: American Cool. Constructing a Twentieth Century Emo-
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tional Style, New York 1994. Vgl. Josef Früchtl: „Helden stellen Helden dar. Coole Typen im Kino“, in: Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos – Affekt – Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin/New York 2004, S. 575–591, bzw. insgesamt Josef Früchtl: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 2004.
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Prot. 352.
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Rüdiger Zill ne Gewalt ist, die die emotionalen Teile der Seele in Schach zu halten vermag. Es verdichtet sich in dem Gleichnis des Wagenlenkers, der zwei Pferde im Zaum zu halten hat.8 Der Rossebändiger steht dabei für die Vernunft, die Pferde selbst für die Affekte des Menschen: Das erste, ein schwarzes, ist besonders wild und symbolisiert die niederen Begierden, das andere, ein weißes, ist verständiger, reagiert eher auf die Befehle des Lenkers und nimmt damit eine Art Mittlerstellung ein. Das weiße Pferd steht für ein Affektkonglomerat, das Platon thymos nennt und das wesentlich auch den Zorn meint. Zorn ist hier also noch nicht die am meisten gefürchtete Kraft, sondern ein potentieller Helfer der Vernunft. Aber selbst wenn der thymos auf die Stimme des Herrn hört, und somit im Gleichnis etwas von der Urteilstheorie der Affekte mitschwingt, sind es bei Platon doch im wesentlichen Instanzen, physische Kräfte, die miteinander ringen. Besonnen ist der, bei dem die Vernunft über die Leidenschaften herrscht. Das ist letztlich auch bei Aristoteles nicht anders, obwohl er eine viel subtilere Theorie der Selbstbeherrschung vertreten hat, für die ein Entwicklungsmoment zentral ist, die Fähigkeit sich selbst zu zügeln also vor allem als Produkt angemessener Erziehung verstanden wird. Bei Aristoteles kam zum ersten Mal in den Blick, dass der emotionale Habitus eines Menschen das Produkt seiner Geschichte ist, das Ergebnis seiner Erlebnisse und letztlich seiner Erziehung. Hier geht es um Charakterbildung, an deren Ende nicht die Reinigung der Seele von allem Affektiven steht, sondern das Austarieren extremer Bestrebungen.9 Aristoteles’ Mesotes-Lehre beschwört den maßvollen Umgang mit den emotionalen Aspekten der Seele. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Platon und erst recht zu den radikalen AbstinenzVorstellungen der Stoa, die ihm folgen wird, ist Aristoteles ein echter Haushälter in der Ökonomie der Gefühle. Dennoch sollte man sich nicht darüber täuschen, dass auch hier das Emotionale eine bedrohliche Potenz behält, die eingehegt bleiben muss. Das ist besonders deutlich in der Stoa, deren Ideal der apatheia in unserem umgangssprachlichen Begriff der Apathie nachklingt, dort aber die entscheidende Pointe verfehlt. Denn die philosophische Apathie ist, anders als die umgangssprachliche, kein deskriptiver, sondern ein normativer Begriff. Er beschreibt keinen Zustand wohliger oder depressiver Schlaffheit, wie sie unnachahmlich von Iwan Gontscharows Titelhelden aus dem Roman Oblomow symboli-
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Phaidr. 246ab. Aristoteles: Nikomachische Ethik, Buch III, vgl. auch Rüdiger Zill: Meßkünstler und Rossebändiger. Zur Funktion von Modellen und Metaphern in philosophischen Affekttheorien, Berlin 1994, S. 291ff.
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Coolness und andere Formen der Affektökonomie siert wird, sondern bezeichnet vielmehr ein bestimmtes, sehr weitgehendes Ideal von Affektbeherrschung, das ursprünglich von Zenon von Kition, dem Schulgründer der so genannten alten Stoa im dritten vorchristlichen Jahrhundert entworfen und von seinem Nachfolger Chrysipp entscheidend weiterentwickelt worden ist. Phänomenologisch reichhaltiger präsentiert es sich – zumindest uns heute, da die Überlieferung der älteren Stoa recht schlecht ist – in der jungen Stoa, vor allem etwa bei Seneca. In der bereits erwähnten Schrift über den Zorn findet sich eine seltsame Anekdote. Sie handelt von dem angesehenen römischen Edelmann Pastor, dessen Sohn von Kaiser Caligula gefangen gehalten wurde, weil dem Herrscher das Auftreten des Jünglings missfallen hatte. Es erschien ihm unangemessen ‚dandyhaft‘. Eines Tages nun bat Pastor für seinen Sohn um Gnade. Damit erreichte er aber nur, dass sich Caligula wieder an sein Opfer erinnerte und den Gefangenen sofort hinrichten ließ. Am Tag danach lud er den unglücklichen Vater zu Tisch. Pastor erschien, so wie im befohlen worden war, und ließ sich nichts anmerken. Unter Aufsicht eines Wächters wurde ihm ein halber Liter Wein serviert. „Es hielt der Arme durch, nicht anders, als wenn er seines Sohnes Blut tränke. Salböl und Kränze schickte Caligula und befahl zu beobachten, ob er sie nehme: er nahm sie. An diesem Tage, an dem er den Sohn begraben, vielmehr, an dem er ihn nicht begraben hatte, lag er bei Tische als hundertster Gast und schlürfte Getränke, kaum angemessen den Geburtstagen seiner Kinder, der gichtkranke alte Mann, ohne unterdessen eine Träne zu vergießen, ohne den Schmerz mit irgendeinem Zeichen hervorbrechen zu lassen.“10
Pastor verhält sich, als könne ihm kein Unglück etwas anhaben: Nicht nur, dass er sich nicht seinem Schmerz hingibt, er überzieht sogar emotional in die entgegengesetzte Richtung. Er tafelt und zecht, als gebe es etwas zu feiern. Seneca setzt in seiner Beschreibung noch einen weiteren Akzent: Pastor tut nicht nur seiner Seele Gewalt an, sondern auch seinem Körper: „der gichtkranke alte Mann“. – „Du fragst, warum?“, heißt es schließlich im Text der Anekdote: „Er hatte noch einen zweiten [Sohn]“.11 Schon in dieser Geschichte wird deutlich: apatheia ist ein Instrument, um dem Schicksal seine Macht zu rauben. Es ist Leidbekämpfung in vorauseilendem Gehorsam. Dennoch ist diese Anekdote irritierend. Warum sich Pastor verhält, wie er sich verhält, wissen wir nicht mit Sicherheit. Wir erfahren es nur aus zweiter Hand. Seneca interpretiert Pastors Verhalten als einen Ausdruck politischer 10 Seneca: De ira, S. 211. 11 Ebd.
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Rüdiger Zill Klugheit. Der weise Mann verbirgt seinen Schmerz, um seinen anderen Sohn nicht zu gefährden – eine durchaus plausible und überzeugende Deutung. Politische Klugheit war aber nicht das zentrale Motiv der philosophischen Stoa. Vielmehr zielte sie auf ein viel umfassenderes Ideal gelassener Heiterkeit. Um sich keiner Enttäuschung und Frustration, vor allem keinem Verlust und keinem Schmerz auszusetzen, werden alle sonst begehrten Güter als unwesentlich eingestuft. Was uns normalerweise wichtig erscheint: Gesundheit und Intelligenz, körperliche Stärke und Schönheit, Reichtum und Ruhm, werden von den Stoikern als so genannte adiaphora bezeichnet, Güter, die weder gut noch schlecht sind; etwas, das uns mehr oder weniger gleichgültig sein sollte, weil es nicht wirklich zur moralischen Tugend beiträgt. Man muss also von solchen Vorzügen absehen können, denn sie sind der Ort, an dem die Affekte entstehen. Affekte aber sind perturbationes animi, Geistesgestörtheiten. Damit kommt die von Sokrates inaugurierte intellektualistische Konzeption des Fehlurteils wieder ins Spiel. Die zentrale Idee dieser Konzeption ist, dass Affekte keine an sich körperlichen Triebe sind – obwohl sie von einem bestimmten Impuls begleitet werden –, sondern wesentlich Urteile, spezieller: falsche Urteile. Etwas vereinfacht gesagt: Emotionen sind immer vermittelt durch Urteile. Wenn wir etwas lieben oder wenn wir über etwas in Zorn geraten, dann liegt dem die Beurteilung einer Vorstellung zugrunde, die vor unserem geistigen Auge erscheint. Wir geraten zum Beispiel in Zorn, weil wir der Meinung sind, jemand habe uns beleidigt; wir sorgen uns, weil wir glauben, etwas schade unserer Gesundheit. Sobald wir aber unsere Beurteilung der Dinge ändern, können wir auch die Affekte eindämmen. Ob Pastor also seine Gefühle im strengen Sinne eines stoischen Weisen wegrationalisiert oder sie nur verheimlicht, um seinen zweiten Sohn nicht zu gefährden, bleibt letztlich offen. Für Seneca ist das pragmatische Argument übrigens eher ein zusätzliches, eine Art zweite Verteidigungslinie in seinem Kampf gegen den Zorn. Genau dieses Argument gibt aber einen Hinweis auch auf die soziale Relevanz der gesamten Theorie, denn die stoischen Beschreibungen und die Ratschläge, Leidenschaften zu überwinden, muss man in ihrem besonderen historischen Kontext lesen: vor dem Hintergrund einer militarisierten Gesellschaft höchster sozialer Unsicherheit. Hinter der stoischen Affekttheorie steckt also nicht nur eine persönliche Ethik, sondern gleichzeitig eine rudimentäre Sozialtheorie. Denn der Zorn wird auch für Aufruhr und Bürgerkrieg verantwortlich gemacht. Soziale Unruhen werden auf die Summe des Verhaltens einzelner reduziert. Hätte jeder nur seine eigenen Affekte im Zaum gehalten, wäre es nicht zum Bürgerkrieg gekommen. Sie ist
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Coolness und andere Formen der Affektökonomie also genau genommen eine Theorie des Sozialen auf der Grundlage individueller Moral. Es ist daher nicht überraschend, dass der Stoizismus immer dann Konjunktur hatte, wenn gesellschaftlicher Aufruhr auf der Tagesordnung stand; eine letzte große Renaissance erlebte er zum Beispiel in den europäischen Kriegen und Bürgerkriegen des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts. So nimmt der Traktat De Constantia des Neo-Stoikers Justus Lipsius etwa ausdrücklich Bezug auf den Terror der Zeit und stellt sich die Frage, ob man seine Furcht nicht eindämmen sollte, indem man dem Bürgerkrieg entflieht. Das aber, so seine Antwort, sei der falsche Weg. Man entkomme seiner Furcht nicht, indem man ihre äußeren Ursachen negiere, indem man sich etwa dem Terror physisch entziehe und außer Landes gehe, denn das sei keine wirklich sichere Therapie. Der Terror könne einen an jedem Ort zu jeder Zeit wieder einholen. Die einzig langfristig erfolgreiche Lösung sei, die Furcht in sich zu bekämpfen, die Verbindung also zwischen äußerem Anlass und innerer Reaktion zu zertrennen. So lasse sich die innere Ruhe auch noch inmitten der größten politischen Turbulenzen finden.12 Erst Thomas Hobbes hat das Verhältnis von Innen und Außen umgewertet. Er setzte nun vielmehr auf eine Beseitigung der äußeren Ursachen. Das ging aber mit einer völlig veränderten Anthropologie einher. Der Vernunft an sich traute er keine Beherrschung der mannigfaltigen Leidenschaften zu. Da im Kontext der neuen mechanistischen Philosophie die Vernunft weitgehend als Movens ausfiel, waren nun Kräfte nötig, die das konkrete Handeln der einzelnen Menschen erklären konnten. Diese Kräfte identifizierte Hobbes mit der menschlichen Triebstruktur. Nichts anderes setzt uns allererst in Bewegung, und nichts anderes kann uns auch wieder stoppen. Nur eine andere Emotion ist fähig, die weitestgehend egoistisch wirkenden Begierden auszubalancieren und nun, in diesem Gleichgewicht der Kräfte, auch rationalen Überlegungen eine Chance zu geben. Die wichtigste Gegenkraft ist in diesem Zusammenhang die Furcht. Sie verallgemeinert sich im Naturzustand des Menschen, der bei Hobbes ganz die Züge des realen Bürgerkriegs seiner Zeit trägt, tariert die selbstsüchtigen Begierden aus und bringt die Beteiligten dazu, einen starken Souverän einzusetzen, der politisch und militärisch so machtvoll ausgestattet ist, dass er in Zukunft den notwendigen Pegel allgemeiner Furcht aufrechterhalten kann, nun allerdings nicht mehr anarchisch im Sinne eines Kampfs aller gegen alle, sondern zentral und damit kalkulierbar und befriedend. Die
12 Justus Lipsius: De Constantia in males publicis libri duo, Antwerpen 1584, dt. schon früh als: Von der Bestendigkeit, übers. v. Andreas Viritius, 11599, 2
1601, faks. Nachdruck der 2. Auflage, Stuttgart 1965.
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Rüdiger Zill Furcht ist bei Hobbes also nicht mehr wie bei den Stoikern das zu überwindende Übel, sondern geradezu das Remedium. Dieser Statuswechsel ist nicht zuletzt durch einen veränderten theoretischen Zugriff auf die Emotionen bedingt. Aus der haushälterischen Bewirtschaftung individueller Gefühlszustände ist hier zum ersten Mal eine Art soziale Ökonomie der Affektbeherrschung geworden. Die Zurückhaltung, die in dieser Ökonomie waltet, ist nicht die einer fremden Macht, sondern einer wesensgleichen: Gefühl wird gegen Gefühl aufgewogen. Damit wird aber zum ersten Mal eine ganz andere Logik denkbar. Sind die Triebe und Emotionen bei Hobbes zwar nach wie vor negative, weil furchtbare und zerstörerische Kräfte, so sind sie doch erstmals auch nicht negierbare: Mit ihnen ist zu rechnen, sie sind sogar notwendig. Nichts anderes setzt die Maschine Mensch in Gang. Mit der aufkommenden bürgerlichen Ökonomie des 18. Jahrhunderts kann man nun auch in der psychologischen Theorie den Schritt machen, Leidenschaften als die Kräfte zu feiern, die allein Großes in der Welt vollbringen. „Die Begierde ist die Bewegung der Seele; ist sie der Begierden beraubt, stagniert sie. Man muß begehren, um zu handeln, und handeln, um glücklich zu sein“13, heißt es 1772 in Claude-Adrien Helvétius’ aus dem Nachlass herausgegebener Schrift De l’Homme. Leidenschaften bewegen alles: „Die Gewinnsucht treibt Schiffe über die öden Flächen des Weltmeers; der Ehrgeiz schüttet Täler zu, trägt Berge ab, bahnt sich Wege durch Felsen, errichtet die Pyramiden zu Memphis, gräbt den Mörissee und gießt den Koloß von Rhodos. Die Liebe, so sagt man, hat den Stift des ersten Zeichners gespitzt.“14 Damit war die Ökonomie der Zurückhaltung potentiell durch eine der Verausgabung ersetzbar. Nach und nach wird das Reich der Gefühle aufgewertet, sicher ein langsamer Prozess und einer, der viele Gestalten hat, langfristig aber einer mit großen Folgen. Im 18. Jahrhundert, das in Deutschland nicht umsonst auch das Zeitalter der Empfindsamkeit heißt, wird das Emotionale nun sogar zu einer moralisch positiven Kraft. Und so verwandelt sich die vielgepriesene Seelenruhe jetzt in Gefühlskälte. Der Zurückdrängung des Affektiven wird die Bilanz gemacht, und darin erscheinen die Kosten mit einem Mal als unangemessen hoch.
13 Claude-Adrien Helvétius: Vom Menschen, von seinen geistigen Fähigkeiten und von seiner Erziehung, übers. v. Hans-Manfred Militz und Theodor Lücke, Berlin/Weimar 1976, S. 396. 14 Claude-Adrien Helvétius: Vom Geist, übers. v. Theodor Lücke, Berlin/Weimar 1973, S. 284f.
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Herzschläge. Kritik der Gleichgültigkeit Das zeigt sich meisterhaft verdichtet in einer Urszene aus der Kindheitsgeschichte der Gefühlskälte. Sie findet sich in Wilhelm Hauffs Erzählung von dem Schwarzwald-Köhler Peter Munk, Das kalte Herz.15 Der Kohlenmunk-Peter, kein böser Charakter, aber ein bisschen dumm, sitzt an seinen Feuern, und beim Sinnieren über das Schicksal wird er unzufrieden. Er zieht daher in den Wald hinein, zu den Waldgeistern, um sie zu bitten, sein Geschick etwas aufzubessern, aus ihm einen reichen Mann zu machen, einen guten Tänzer und angesehenen Mitbürger. Das Glasmännchen, seine erste Adresse, gewährt ihm seine Wünsche, da sie aber alles in allem dumm formuliert sind, hat er bald sein Geld verspielt und Haus und Hof, die eben gerade erst neu gewonnen waren, wieder verloren. Aus lauter Verzweiflung flieht er vor dem Amtmann, der seinen Besitz pfänden will, und lässt sich mit dem Holländer-Michel ein, jenem großen und starken Waldgeist, den er eigentlich zunächst gefürchtet hat. Der verspricht ihm, den Reichtum wieder aufzufrischen, diesmal so, dass er an kein Ende kommen werde, und verlangt dafür nur eine Kleinigkeit, die der Kohlenmunk-Peter wohl nicht nur entbehren könne, die ihm eigentlich sogar lästig sei: sein Herz. „Wenn du im ganzen Körper Mut und Kraft, etwas zu unternehmen, hattest, da konnten ein paar Schläge des dummen Herzens dich zittern machen; und dann die Kränkungen der Ehre, das Unglück, für was soll sich ein vernünftiger Kerl um dergleichen bekümmern? Hast du’s im Kopfe empfunden, als dich letzthin einer einen Betrüger und schlechten Kerl nannte? Hat es dir im Magen wehe getan, als der Amtmann kam, dich aus dem Haus zu werfen? Was, sag an, was hat dir wehe getan?“16
Furcht, Ehrgefühl und Schmerz sitzen natürlich nicht im Kopf oder im Magen, sondern im Zentralorgan des Gefühls: im Herzen, dort, wo auch schon der Platonische thymos angesiedelt war. „Ich gebe mir alle Mühe, sagt der Köhler, es zu unterdrücken, und dennoch pocht mein Herz und tut mir wehe.“17 Der Holländer-Michel führt den Kohlenmunk-Peter in seine Hütte und zeigt ihm seine Organbank, lauter Herzen von angesehenen Mitbürgern, die dort in großen Gläsern umgeben von einer durch-
15 Erschienen 1827 im Märchenalmanach auf das Jahr 1928, nach: Wilhelm Hauff, Werke, Bd. II: Romane, Märchen, Gedichte, Stuttgart 1961, S. 800– 822 u. 889–906. 16 Ebd., S. 891. 17 Ebd., S. 892.
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Rüdiger Zill sichtigen, an Spiritus oder Formaldehyd erinnernden Flüssigkeit vor sich hinpochen. „‚Schau!‘ sprach Holländer-Michel, ‚diese alle haben des Lebens Ängste und Sorgen weggeworfen; keines dieser Herzen schlägt mehr ängstlich und besorgt, und ihre ehemaligen Besitzer befinden sich wohl dabei, daß sie den unruhigen Gast aus dem Hause haben.‘ ‚Aber was tragen sie denn jetzt dafür in der Brust?‘ fragte Peter, den dies alles, was er gesehen, beinahe schwindeln machte. ‚Dies‘, antwortete jener und reichte ihm aus einem Schubfach – ein steinernes Herz.“18
Zu spät merkt Peter, dass er, als er sich auf den Handel eingelassen hat, damit nicht nur Zorn und Zagen, Furcht und Zittern, Leid und Mitleid verloren hat, sondern auch den Spaß am Leben. Er reist durch die Welt, aber alles, was er erlebt, füllt zwar seine Taschen, nicht aber sein Herz. Das Erlebte lässt ihn als Person so kühl, wie der Stein in ihm immer schon war. Nur eine vage Erinnerung an frühere Zeiten beschleicht den Emotionstoten manchmal. „Hie und da erinnerte er sich zwar, daß er fröhlicher, glücklicher gewesen sei, als er noch arm war und arbeiten mußte, um sein Leben zu fristen. Da hatte ihn jede schöne Aussicht ins Tal, Musik und Gesang hatten ihm ergötzt, da hatte er sich stundenlang auf die einfache Kost, die ihm die Mutter zu dem Meiler bringen sollte, gefreut. Wenn er so über die Vergangenheit nachdachte, so kam es ihm ganz sonderbar vor, daß er jetzt nicht einmal lachen konnte, und sonst hatte er über den kleinsten Scherz gelacht. Wenn andere lachten, so verzog er nur aus Höflichkeit den Mund, aber sein Herz – lächelte nicht mit. Er fühlte dann, daß er zwar überaus ruhig sei, aber zufrieden fühlte er sich doch nicht. Es war nicht Heimweh oder Wehmut, sondern Öde, Überdruß, freudenloses Leben, was ihn endlich wieder zur Heimat trieb.“19
Dort stürzt er sich dann in Betriebsamkeit, vermehrt seinen Reichtum, heiratet, bleibt aber missgünstig und vor allem mitleidslos, ganz im Gegenteil zu seiner ersten Reichtumsphase, in der er die anderen durchaus an seinen Glücksgütern teilnehmen ließ und sich nicht scheute, den Armen Almosen zu geben. Erst ein erneuter Besuch beim Glasmännlein verhilft ihm zum glücklichen Ende der Wiedergewinnung seines Herzens. Aber der herzlose Peter in Hauffs Märchen ist nicht allein mitleidslos, sondern insgesamt gefühlsarm. Heute ginge der Kohlenmunk-Peter nicht zum Glasmännlein, um sich von seiner Gefühls-
18 Ebd., S. 892. 19 Ebd., S. 894.
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Coolness und andere Formen der Affektökonomie kälte befreien zu lassen, sondern würde einen Termin in der Neurologie verabreden. Seit 1973 kennt die Medizin, wenn keine Therapie, so doch eine Diagnose – zumindest kann sie das Leiden auf den Begriff bringen: den der Alexithymie. Und die experimentelle Psychologie würde auch die nur scheinbar expressive Fassade des Gefühlskalten als unecht durchschauen können. Wenn Peter „nur aus Höflichkeit den Mund“ verzieht, dann fällt das mimisch eher in die Kategorie des Cool, denn nicht nur „sein Herz – lächelte nicht mit“, sondern auch die Augen bleiben unbewegt.20 Nun ist die Geschichte von Peter Munk unschwer als Gleichnis zu erkennen. Ob wir daraus lesen, dass Geld nicht glücklich macht oder fehlendes Mitleid eine Gesellschaft zerstört, wir müssen die Botschaft nicht originell finden, sie zeigt uns aber einen fundamentalen Wandel im Umgang mit der Ökonomie der emotionalen Zurückhaltung. Auch wenn der Kontext der Geschichte deutlich vorindustrielle Spuren trägt, mag man darin doch mit eine Kritik an der sozialen Ungleichheit des aufkommenden Kapitalismus lesen. Die Herzen in Spiritus, die der Holländer-Michel in seiner Affektbank deponiert hat (allerdings noch als dummer Schatzbildner, nicht als aufgeklärter Fondverwalter), gehören alle der finanziellen und wirtschaftlichen Oberschicht des Schwarzwalds an. Wer seinen Reichtum mehrt, kann kein Mitleid walten lassen. Die Moral der Geschichte appelliert aber nicht im ethischen Sinne an ein übergreifendes Gemeinschaftsgefühl und die christliche Verpflichtung zur Nächstenliebe, sondern setzt sozialtechnisch an der Selbstliebe des Individuums an. Was Kohlenmunk-Peters Schicksal so beklagenswert macht, ist sein eigener Verfall. Kein Gefühl für andere zu haben, meint auch, keines für sich selbst zu haben. Ein Leben ohne Gefühle wird wertlos. Die Fähigkeit zum Mitgefühl bedeutet zugleich die Fähigkeit zum Selbstgefühl. Wenn Peter Munk schließlich das steinerne Implantat wieder loswerden will, dann allein, um selbst besser leben zu können. Diese Botschaft, einmal in die Welt gesetzt, wird von nun an weitergegeben. Ist Peter Munks Herzlosigkeit noch das Resultat einer Art magischen Chirurgie, treten heute eher pharmakologische Methoden an diese Stelle. So imaginiert Kurt Wimmers Film Equilibrium aus dem Jahr 2002 zum Beispiel eine Welt nach dem Dritten
20 Die gegenwärtige experimentelle Psychologie vermisst das Gesicht und katalogisiert die einzelnen Muskeln, so kann sie genau angeben, welcher Teil des Gesichts am Lachen beteiligt sein muss, um echt zu sein. Vgl. Willibald Ruch: „Lachen und Auslachen“, in: Peter Paul Kubitz/Gerlinde Waz/Rüdiger Zill (Hg.): Zum Lachen. Dokumentation eines Workshops der Deutschen Kinemathek, Museum für Film und Fernsehen, und des Einstein Forums, Berlin 2009, S. 21-33, S. 22f.
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Rüdiger Zill Weltkrieg.21 Ganz im frühneuzeitlichen Sinne eines Lipsius oder Hobbes wird die atomare Katastrophe, in der er endet, einem ungehinderten Freilauf aggressiver Gefühle zugerechnet. Damit diese Katastrophe sich nie wiederholen möge, verfügt eine Art großer Bruder, der hier sogar „Vater“ heißt, dass jeder sich einer chemisch bedingten Totalsedierung zu unterziehen habe und sich jeden Morgen die Droge Prozium injizieren müsse, ein Mittel, das alle Gefühle unterdrückt. „Im Herzen der Menschheit existiert eine Krankheit“, heißt es plakativ zu Beginn des Films in einer Rede „Vaters“. „Ihr Symptom ist Hass. Ihr Symptom ist Zorn. Ihr Symptom ist Krieg. Diese Krankheit ist die menschliche Emotion. Librier, es ist nur mir zu verdanken, dass die Menschheit gerettet werden konnte.“ Motivisch und stilistisch ist der Film eine Mischung aus 1984, Matrix, Fahrenheit 451 und Blade Runner, seine Botschaft ist aber letztlich ein Erbe des kalten Herzens: Ohne die Ausschreitungen des Gefühls lohnt es sich auch nicht zu leben. Inzwischen ist Gleichgültigkeit in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Hauptlaster geworden. Gleichzeitig hat sich philosophisch und wissenschaftlich die Stoßrichtung gewendet: Danach werden unsere Urteile über Gut und Böse nicht von der reinen Ratio gefällt; Moral geht vielmehr wesentlich auf Emotionen, die im Laufe seiner Evolution tief im Menschen verankert worden sind, zurück. Emotionen sind dann auch nicht mehr die bedrohliche Kraft, die das Individuum wie auch die Gesellschaft letztlich zu zerstören droht, sie sind ein notwendiges Element der Moral geworden. „Die Reizbarkeit der Sinne“, schrieb Wolfgang Sofsky unlängst, „ist unabdingbar für jede Erfahrung. Ebenso erfordern sittliche Erkenntnisse eine Empfänglichkeit des Willens für die Nötigung des Guten. Das moralische Sensorium begründet zwar kein moralisches Gesetz, aber es ist unabdingbar für jedes Bewusstsein der Tugend. Ohne die leiseste Unzufriedenheit mit den eigenen Unsitten hat das Gute kein emotionales Fundament. Ohne moralisches Gefühl ist der Mensch sittlich tot. Dem Gleichgültigen indes fehlt bereits die Unlust angesichts verwerflicher Neigungen. Moralische Urteilskraft findet keinen sinnlichen Anlass. Skrupel, Bedenken, Zweifel fechten ihn nicht an. Von Scham oder Schuld bleibt er verschont. Einsichten in das Gebotene, geschweige denn in die Folgen eigenen Tuns prallen an ihm ab. Daher ist die Gleichgültigkeit – neben der Vulgarität – das breiteste Einfallstor für das Böse.“22
21 Equilibrium, USA, 2002, R. und B.: Kurt Wimmer, D.: Christian Bale (John Preston, Kleriker), Emily Watson (Mary O’Brien). 22 Wolfgang Sofsky: „Am Nullpunkt des Sozialen. Ein Versuch über die Gleichgültigkeit“, in: Neue Zürcher Zeitung 262/2007 (10./11. November), S. 28.
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Coolness und andere Formen der Affektökonomie
Codes des Cool Nun darf man die Umwertungen in der Geschichte der Affektbeherrschung, die hier nur sehr kursorisch skizziert worden sind, nicht als eine teleologisch konstruierte große Erzählung vom Prozess der Zivilisation missverstehen. Sie deuten vielmehr auf eine Ermöglichungsgeschichte hin. Haben philosophische, politische oder literarische Diskurse erst einmal bestimmte Figuren vorstellbar gemacht, so finden sich auch neue Anschlussmöglichkeiten. Indem Hobbes zum Beispiel die Leidenschaften zu notwendigen Faktoren menschlicher Handlung erklärt hat, konnte das 18. Jahrhundert in ihnen auch insgesamt produktive Mächte sehen. Von dort war es dann nur noch ein kleiner Schritt, sie auch als moralisch positive und unentbehrliche Kräfte zu verstehen. Diese Möglichkeiten mussten natürlich nicht notwendigerweise realisiert werden; auch sind sie nicht alternativlos. Neben der Aufwertung des Gefühls als positiver Kraft kann die Hochschätzung strikter Selbstbeherrschung unter den Vorzeichen einer rigiden Vernunft weiter bestehen, sei es, dass sich beide Phänomene historisch in bestimmten Konjunkturen abwechseln, sei es auch, dass sie zu ein und derselben Zeit koexistieren, nur verteilt auf verschiedene nationale Traditionen oder gesellschaftliche Gruppen. So hat das 19. Jahrhundert zum Beispiel die Feier der Empfindsamkeit in vielen Aspekten zunächst wieder zurückgenommen. Zudem waren es immer gewisse gesellschaftliche Schichten wie die Aristokratie und das Militär oder bestimmte Berufsgruppen wie die Wissenschaftler, die ihre je eigenen emotionalen Gemeinschaften bildeten.23 In diesen Gemeinschaften herrschte ein besonderer Code, der die Ökonomie der Emotionen auf besondere Sparsamkeit verpflichtete. Nicht überall allerdings, wo sich kein Gefühl zeigt, ist schon eine Ökonomie der Zurückhaltung am Werk. Man ist häufig in der Versuchung, den, der kein Gefühl zeigt, mit dem zu verwechseln, der kein Gefühl hat. Bei einer pathologisch bedingten Unfähigkeit, emotional zu fühlen, wie der Alexithymie oder bei apathischen Charakteren, verweist das vermeintliche Sich-nicht-Zeigen zum Teil auf einen ursprünglichen Mangel, auf eine Abwesenheit: Wo nichts ist, kann sich auch nichts zeigen. Schon die Stoiker haben nicht den zum Weisen erklärt, der von Natur aus frei von emotionalen Versuchungen war, sondern den, der sie gespürt und dennoch überwunden hat. Ökonomie der Zurückhaltung bedeutet die Bewirtschaftung dessen, was sich eigentlich verausgaben will. Gehalten, zurück-
23 Zum Begriff der emotionalen Gemeinschaft vgl. Barbara Rosenwein: Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca/N. Y. 2007.
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Rüdiger Zill gehalten werden muss, was drängt und treibt. Ökonomie, vom Sprachursprung selbst nichts anderes als die Haushaltung, ist also, bezogen auf den Trieb, das Haushalten mit seinen Kräften. Die Art dieses Haushaltens äußert sich dann in Diskretion, der Beschränkung der gezeigten Äußerung, oder in Restriktion, der Beschränkung der Äußerung selbst. Nur im Extremfall zielt sie auf die Abstinenz und damit auf die Abwesenheit des Affektiven überhaupt, ein Ziel, von dem sich in letzter Konsequenz aber nicht vorstellen lässt, wie es zu verwirklichen wäre. Unter diesen Vorzeichen steht nun auch der affektive Code des Cool. Cool ist eine kulturell geprägte Form emotionaler Zurückhaltung, die vor dem Hintergrund der teilweise schon wirksam gewordenen Aufwertung des Affektiven zu lesen ist. Deswegen ist es keine reine Ethik der Emotionsfreiheit wie in der stoischen Philosophie. Es ist vielmehr eine Form der Zurückdrängung, bei der das Zurückgedrängte immer präsent bleibt. Coolness ist also eine Form modernen Affektmanagements, mehr noch: Coolness ist, obwohl das paradox erscheint, eine Form des Gefühlsausdrucks. Dieser Gefühlsausdruck ist eine polemische Antwort gegenüber je bestimmten Gefühlen: dem Zorn, der Furcht, aber auch dem Mitleid. Verkörperungen dieses Ideals beleihen dazu gern auch traditionelle Figuren wie etwa den Heiligen, den Krieger oder den Wissenschaftler. Cool ist darüber hinaus nicht das emotionale Schweigen schlechthin, sondern die Restriktion dieser bestimmten Gefühle auf bestimmte Weise, eine Zurückhaltung, die zudem in wesentlichen Bereichen auch auf Diskretion setzt. Man kann dabei ganz grob drei Varianten unterscheiden: die Affektabwehr, die Affekttaubheit und die Affektkanalisierung.24 Ein klassischer Fall der Affektabwehr wurde durch Humphrey Bogart verkörpert. Ob in Casablanca, The Maltese Falcon oder The Big Sleep, immer ist der Held in Abwehrstellung gegen die Liebe, die ihn meist enttäuscht hat oder die seine Integrität missbrauchen will. Die Affekttaubheit, die eigentlich eine Melancholie der Todgeweihten meint, wird zum Markenzeichen von Alain Delon. In Le Samouraï von Jean-Pierre Melville zeigt er auf unnachahmliche Weise die am weitesten reduzierte Version jeden Affektausdrucks. Delon spielt einen Killer, der am Ende selbst umgebracht werden soll. Seine Auftraggeber, die ihn für ein Sicherheitsrisiko halten, weil er bei seinem letzten Mord beobachtet worden ist, beauftragen nun seinen Tod. Er aber entkommt seinen Verfolgern, nur um scheinbar einen
24 Zu einem detaillierteren Vergleich der verschiedenen Varianten des Cool siehe Rüdiger Zill: „Coole Typen. Eine Familienaufstellung“, erscheint in: Annette Geiger/Gerald Schröder/Änne Söll (Hg.): Coolness. Zur Ästhetik einer kulturellen Verhaltensstrategie und Attitüde, Bielefeld 2010.
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Coolness und andere Formen der Affektökonomie weiteren Auftrag anzunehmen, einen Auftrag, zu dem er aber mit ungeladener Pistole geht. Er fingiert einen Mordversuch, um von der Polizei, von der er weiß, dass sie ihn beschattet, erschossen zu werden. Die letzte Frage seines vermeintlichen Opfers, „Pourquoi?“, bleibt ebenso unbeantwortet wie viele andere in diesem Film. Delon erscheint den gesamten Film über ungerührt und gelassen, sein Ausdruck grenzt an Apathie, nur dass seine Handlungen von zweifelsfreier Entschlossenheit und von maschinengleicher Stetigkeit und Unaufhaltsamkeit geprägt sind. Der französische Originaltitel spielt auf die japanische Kriegerethik an, ein Verweis, der aber rein metaphorisch wirkt, da er an keinem Punkt der Handlung wieder aufgenommen wird. Dieser indirekte Verweis findet seine Parallele in der Darstellung des Gefühlslebens der Protagonisten. Es zeigt sich nicht in ihrer Mimik oder Gestik, es wird durch die Kameraführung suggeriert und lässt dem Zuschauer einen weiten Interpretationsspielraum. Wo Bogart kein Detail unkommentiert lässt (und vielleicht gerade dadurch so manches verschleiert), tritt bei Delon zur Ökonomie emotionaler Zurückhaltung auch eine rhetorische hinzu: Sein Schweigen überdeckt alles ganz ebenso wie Bogarts Reden. Der deutsche Verleihtitel, Der eiskalte Engel, bedient sich der gleichen Methode, ruft aber ein ganz anderes, letztlich irreführendes Assoziationsfeld auf. Es changiert zwischen Todes- und Racheengel. Von Rache findet sich hier aber keine Spur, eher schon von Todessehnsucht, Müdigkeit, Melancholie und Schicksalsergebenheit.
Screenshot aus Le samouraï, 1967 (R: Jean-Pierre Melville) Die Rächergestalt steht hingegen häufig im Zentrum der dritten Art des Cool, der Affektkanalisierung. Deren Inbegriff ist zweifelsfrei Clint Eastwood, der dieser Figur nicht nur in Hang 'em High, sondern auch davor schon in den Dollar-Filmen und danach noch in
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Rüdiger Zill den vielen Varianten des Dirty Harry ihren Ausdruck verliehen hat. Bogarts Affektabwehr ist ein deutlicher Fall von Restriktion. Das Gefühl lauert im Untergrund, der Held ist aber unablässig bemüht, es nicht zuzulassen. In Delons Affekttaubheit erreicht diese Restriktion ihren ultimativen Grenzwert. Oft ist nicht einmal klar, ob überhaupt noch von Restriktion die Rede sein kann, so sehr ist hier das Reich des Emotionalen von Anfang an reduziert. In Eastwoods Affektkanalisierung aber bleibt das Gefühl in jedem Moment der Handlung lebendig. Es wird nur so weit gebändigt, als es nötig ist, um ihm zum besseren Erfolg verhelfen zu können. Nach außen hin ist das Cool eines der Maskierung und damit der Diskretion. Affektbeherrschung ist nicht gleich Affektbeherrschung. Unser Diskurs über die Ökonomie der emotionalen Zurückhaltung ist immer vor dem Hintergrund einer bestimmten historischen Signatur zu lesen. Die emotionale Signatur einer Zeit ist ein je spezifisches Konglomerat von affektiven Bestrebungen und emotionalen Grundierungen, bei dem sich die einzelnen Gefühle und Leidenschaften durch ihre jeweilige Kontextualisierung verändern. Daher unterscheidet sich die stoische apatheia vom modernen Cool, wenn nicht in der Intention, so doch im Ton.
Literatur Aristoteles: Nikomachische Ethik, übers. v. Franz Dirlmeier, Stuttgart 1990. Früchtl, Josef: Das unverschämte Ich. Eine Heldengeschichte der Moderne, Frankfurt a. M. 2004. – „Helden stellen Helden dar. Coole Typen im Kino“, in: Klaus Herding/Bernhard Stumpfhaus (Hg.): Pathos – Affekt – Gefühl. Die Emotionen in den Künsten, Berlin/New York 2004, S. 575–591. Hauff, Wilhelm: „Das kalte Herz“, in: ders., Werke, Bd. II: Romane, Märchen, Gedichte, Stuttgart 1961, S. 800–822 und 889–906. Helvétius, Claude-Adrien: Vom Geist, hg. v. Werner Krauss, übers. v. Theodor Lücke, Berlin/Weimar 1973. – Vom Menschen, von seinen geistigen Fähigkeiten und von seiner Erziehung, hg. v. Werner Krauss, übers. v. Hans-Manfred Militz und Theodor Lücke, Berlin/Weimar 1976. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, hg. u. eingel. v. Iring Fetscher, übers. v. Walter Euchner, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976. Lipsius, Justus: De Constantia in males publicis libri duo, Antwerpen 1584.
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Coolness und andere Formen der Affektökonomie –
Von der Bestendigkeit, übers. v. Andreas Viritius, 11599, 21601, faks. Nachdruck der 2. Auflage, Stuttgart 1965. Platon: Phaidros, in: ders.: Sämtliche Dialoge, Bd. 2, Hamburg 1993. – Protagoras, in: ders.: Sämtliche Dialoge, Bd. 1, Hamburg 1993. Rosenwein, Barbara: Emotional Communities in the Early Middle Ages, Ithaca/N. Y. 2007. Ruch, Willibald: „Lachen und Auslachen“, in: Peter Paul Kubitz/ Gerlinde Waz/Rüdiger Zill (Hg.): Zum Lachen. Dokumentation eines Workshops der Deutschen Kinemathek, Museum für Film und Fernsehen, und des Einstein Forums, Berlin 2009, S. 21-33. Seneca, L. Annaeus: De ira/Vom Zorn, in: ders.: Philosophische Schriften, Bd. 1, Darmstadt 1995. Stearns, Peter: American Cool. Constructing a Twentieth Century Emotional Style, New York 1994. Sofsky, Wolfgang: „Am Nullpunkt des Sozialen. Ein Versuch über die Gleichgültigkeit“, in: Neue Zürcher Zeitung 262/2007 (10./11. November), S. 28. Zill, Rüdiger: Meßkünstler und Rossebändiger. Zur Funktion von Modellen und Metaphern in philosophischen Affekttheorien, Berlin 1994. – „Coole Typen. Eine Familienaufstellung“, erscheint in: Annette Geiger/Gerald Schröder/Änne Söll (Hg.): Coolness. Zur Ästhetik einer kulturellen Verhaltensstrategie und Attitüde, Bielefeld 2010.
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Askese als kreative Strategie THOMAS MACHO
Asketische Techniken wurden häufig praktiziert, um eine spezifische Logik des „Besessenwerdens“ außer Kraft zu setzen. Sie intendierten keine narzisstische „Selbstverdoppelung“, keine dauerhafte Inszenierung von autoerotischen „Spiegelstadien“ des Selbstbesitzes, sondern vielmehr die Abwehr von bedrohlichen Obsessionen und externen Besitzansprüchen. Wer sich daran gewöhnen konnte, mit sich selbst zu sprechen, vermochte die Befehlsketten fremder Stimmen – gleichgültig, ob sie von Priestern, Ahnengeistern, Eltern, Lehrern oder Anführern stammten – durch Anhörung der eigenen Stimme zu neutralisieren; er parierte die internalisierten Unterwerfungszwänge des alltäglichen Gehorsams – einer nicht nur sozial verträglichen, sondern geradezu sozial konstitutiven Besessenheit – durch einen Zustand alternativer Besessenheit. Marc Aurel wollte die „citadelle intérieure“ errichten, um sein Ich vor allen Leidenschaften zu schützen und auf das unbezwingbare Leitprinzip des guten daimôn zu verpflichten; dabei war er keineswegs davon überzeugt, dieses Ich zu besitzen. Epiktet sprach von diesem „höheren Selbst“ als einem „Anderen“, der jeden realen Machthaber konterkariere: „Wenn du einen Mächtigen aufsuchst, so erinnere dich daran, daß es einen Anderen gibt, der von oben zuschaut, was vor sich geht, und daß du besser daran tust, diesem zu gefallen als jenem Menschen.“1 Die Rede vom Anderen erinnert an eine Vielzahl religiöser und spiritueller Praktiken: an die Entdeckung des „inneren Zeugen“ – des Purusa – im indischen Samkhya-Yoga2 oder auch an Gottes Selbstbezeichnung im brennenden Dornbusch: „Ich bin der ‚Ichbin-da‘.“3 In der Spätantike übten die frühchristlichen Wüstenmön-
1
Epiktet: Unterredungen I,30,1, zit. n. Pierre Hadot: Die innere Burg, Frankfurt a. M. 1996, S. 177.
2
Vgl. Mysore Hiriyanna: Vom Wesen der indischen Philosophie, München 1990, S. 162–182. Vgl. auch Albert Schweitzer: Die Weltanschauung der indischen Denker. Mystik und Ethik, München ²1965, S. 52–57.
3
Exodus 3,14, zit. n. Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg i. Br. 1985, S. 80.
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Thomas Macho che, diese „Athleten der Verzweiflung“ (nach einem Ausdruck von Hugo Ball),4 die Entwicklung und Differenzierung dieser asketischen Praktiken. Besondere Berühmtheit erlangten die Versuchungen des heiligen Antonius, die freilich – ganz im Gegensatz zu ihrer späteren Rezeption – keine mehr oder weniger ungeplant eintretenden Empfindungen darstellten, sondern geradezu die Projekte eines agonalen Wettstreits zwischen dem Mönch und dem Teufel, Effekte eines grandiosen Krisenexperiments, in dessen Verlauf der Anachoret immer weiter in die Wüste hinauszog, sich tagelang in Grabhöhlen legte und verschiedene Kämpfe gegen böse Geister austrug, die ihm Silberschüsseln, Goldklumpen oder weibliche Zuneigung anboten. Meditationen und Gebete bildeten – manchmal in Verbindung mit Atemtechniken – die konkreten Gestalten der Zwiegespräche mit dem spirituellen Doppelgänger; sie wurden unterstützt durch asketische Praktiken. Die stoische citadelle intérieure wurde – ebenso wie das Kloster – durch eine systematische Disziplinierung des Begehrens und der Affekte befestigt. Sexuelle Enthaltsamkeit, Fasten und zahlreiche andere körperliche Entbehrungs- und Reinigungsrituale galten häufig als Voraussetzungen gelingender Selbstbeziehungen; gelegentlich wurde in die Erfindung experimenteller Arrangements ein beträchtliches Maß an Kreativität investiert. Den Übungen fiel die Aufgabe zu, die Unabhängigkeit der Individuen von der äußeren Welt herzustellen und zu erproben. Bisweilen wurde versucht, die Techniken der Askese mit den Wirkungen konsumierter Rauschmittel zu vergleichen; demnach entsprangen die Versuchungen des heiligen Antonius den Giften der Skorpione (die sich gerne in den Felsengräbern aufhielten), während beispielsweise die Weltflucht Marc Aurels als Ergebnis einer veritablen Opiumsucht eingetreten sei. Während es den Experten antiker Enthaltungstechniken um eine Disziplinierung des Selbstgesprächs, um eine „Ichbegrenzung“ durch Orientierung an einem „großen Anderen“ ging – und zwar in einer Kultur, die zahllose Möglichkeiten der Besessenheit kannte –, bemühten sich die Avantgarden des 19. und 20. Jahrhunderts um eine methodisch kontrollierte „Entgrenzung“ des Ichs: in einer Kultur, die alle Besessenheiten dem therapeutischen Interesse zu erschließen hoffte. Der „große Andere“ Baudelaires hieß darum Joseph Moreau de Tours; und der „große Andere“ Rimbauds hieß Charles Baudelaire. Auf diesen „Gott“ berief sich der Sechzehnjährige in seinem – als zweiter „Seherbrief“ berühmt gewordenen – Schreiben an Paul Demeny (vom 15. Mai 1871), in dem er die Überbietung jeglicher Selbsterkenntnis durch eine Art von poetischer Al-
4
Hugo Ball: Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben, München/ Leipzig 1923, S. 13.
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Askese als kreative Strategie chemie postulierte: „Die erste Aufgabe des Menschen, der Poet werden will, ist die volle Kenntnis seiner selbst; er taucht nach seiner Seele, gewinnt Einsicht in sie, erprobt sie, lernt sie kennen. Sobald er sie begriffen hat, muß er sie aufbilden. Das klingt einfach: in jedem Gehirn vollzieht sich eine natürliche Entfaltung; daher erklären sich soviele Ego=isten zu Autoren; unter ihnen gibt es viele, die ihren geistigen Fortschritt SICH SELBST zuschreiben! – Aber es geht darum, die Seele ungeheuerlich zu machen: nach Art der Kinderschänder, was! Stellen Sie sich einen Menschen vor, der sich Warzen ins Gesicht pflanzt und großzüchtet. Ich sage, es ist notwendig, Seher zu sein, sich sehend zu machen. Der Poet macht sich sehend durch eine lange, gewaltige und überlegte Entregelung aller Sinne. Alle Arten von Liebe, Leiden, Wahnsinn; er sucht sich selbst, er erschöpft alle Giftwirkungen in sich, um nur die Quintessenz zu bewahren.“5 Rimbaud träumte von einer Strategie der Ausschweifungen und Entfesselungen, die das Holz plötzlich erkennen lassen, es sei eine Violine (oder das Blech, es sei eine Trompete);6 die frühchristlichen Wüstenmönche träumten dagegen eher vom „göttlichen Plektron“, das den disziplinierten Geist der frommen Asketen als eine „Zither oder Leier“7 verwendet. Doch noch Rimbaud wusste: „ICH ist ein ANDERER“, Je est un autre.8 Der Mythos seiner Biographie wurde nicht allein durch die frühen Gedichte begründet, sondern auch durch jenes solitärnomadische Leben, das ihn vielleicht enger mit den ägyptischen Wüstenmönchen verbindet als das Projekt einer prophetischen Poetik. Denn zu den ältesten Enthaltungstechniken und Künsten der Verweigerung zählt die Trennung, die anachoresis. Asketische Praktiken sind heterotopisch; sie projizieren ihre erwünschten (oder gefürchteten) Wirkungen auf einen fremden Ort, an dem keine anderen Menschen leben. Zu solchen Orten zählen die Felsenhöhlen des Anachoreten Antonius, die Meere des Odysseus, die Wüsten der syrischen Säulensteher, die Wälder Parzivals oder Dantes (bis zu den Wäldern Thoreaus), die Berge (von Petrarcas Mont Ventoux bis zum Monte Verità), die Inseln Robinsons oder Rousseaus, die leeren Steppen aller „Frontier“-Bewegungen (im Osten wie im Westen), die eisigen Polarregionen der Forschungsexpeditionen, die interstellaren Räume der Kosmonauten. Nicht selten sind diese Orte Zentren einer ,verkehrten Welt‘, in der die Toten mächtiger sind als die Lebenden, 5 6
Arthur Rimbaud: Das poetische Werk, München 1988, S. 15. Ebd., S. 12: „Pech für das Holz, das sich als Violine vorfindet“, bzw. S. 14: „Wenn das Blech als Trompete aufwacht, so ist das nicht im geringsten sein
7
Fehler.“ Pseudo-Justinus: Mahnrede an die Hellenen, in: Bibliothek der Kirchenväter, Bd. XXXIII, Kempten/München 1917, S. 253.
8
Arthur Rimbaud: Das poetische Werk, S. 12 u. 14.
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Thomas Macho und die Knechte stärker als die Herren; schon die lebhafte Imagination solcher Orte – in deren Verlauf der Wald zur Wüste, die Insel zur Höhle, das Meer zur Eiszone konvertieren kann – begünstigt die Meditation: als wäre die eigene Mitte identisch mit der unbewohnbaren Leere, dem ,Niemandsland‘ der Freiheit, aber auch dem Reich des „großen Anderen“ und aller konkurrierenden Dämonen. In seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 notierte Kant: „Tiefe Einsamkeit ist erhaben, aber auf eine schreckhafte Art. Daher große weitgestreckte Einöden, wie die ungeheure Wüste Schamo in der Tartarei, jederzeit Anlaß gegeben haben, fürchterliche Schatten, Kobolde und Gespensterlarven dahin zu versetzen.“9 Die Heterotopien der Askese zeichnen sich durch die Abwesenheit von Menschen aus, aber auch durch ihre Homogenität: Wüsten, Meere, Wälder, Steppen oder Schneefelder bilden (zumindest auf den ersten Blick) einförmige Umwelten, in denen man sich leicht verirren kann. Aber just diese Monotonie begünstigt die Erscheinung der Dämonen, der Gestalten des „Anderen“, der Engel und Genien; in dieser Hinsicht fungiert die Einöde wie jeder flache Stein, wie eine Tafel aus Ton oder Wachs, wie Leinwand, Papyrus oder ein Blatt Papier. Gerade die differenzarme Erscheinung ermöglicht die vielfältigsten Auftritte von Bedeutungen und Symbolen, die gewissermaßen als Zeichen auf einer anonymen Oberfläche, als Schauspieler auf einer neutralen Bühne ihren semantischen Glanz steigern. Offenbarungen bedürfen der Alphabetisierung. Denn die „großen Anderen“, die Zeugen und „Wächter“, entspringen nicht nur den geistigen Übungen und Meditationen, sondern auch den Kulturtechniken des Lesens und Schreibens. Briefe an sich selbst – von Platon bis Epiktet, von Seneca bis Marc Aurel, von Augustinus bis Petrarca – erzeugen die strategischen Verdoppelungen, die Doppelgänger jeder Confessio; Selbsttechniken referieren auf Medientechniken (und umgekehrt). Der Lesende spaltet sich auf in ein sprechendes und ein hörendes Selbst; der Schreibende spaltet sich auf in den Autor und den Adressaten seiner Texte, gleichgültig, ob er Dialoge oder Briefe verfasst. Wenn Montaigne Senecas Vorschlag zitiert, sich Cato oder Scipio als Begleiter vorzustellen, imaginiert er seinerseits den Erzieher Neros als seinen inneren Zeugen. Im Schreiben und Lesen, im Selbstgespräch oder im Dialog mit Ahnen, Wächtern und Zeugen, wird der Gewinn asketischer Strategien der Abwendung von der Welt und der Verbannung erwirtschaftet: nämlich der Verlust aller Ängste vor Leiden und Schmerzen,
9
Immanuel Kant: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [1764], in: Vorkritische Schriften bis 1768, Werkausgabe Bd. II, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, S. 827f. [A 6-7].
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Askese als kreative Strategie Kränkung und Kummer, Armut und Tod. Wie ein fernes Echo dieser alten asketischen Maximen wirken noch manche Aufzeichnungen der französischen Philosophin Simone Weil, die im Alter von vierunddreißig Jahren an Hunger und Auszehrung gestorben ist. Wenige Monate vor ihrem Tod – mitten im Zweiten Weltkrieg – notierte sie etwa: „Nichtgestilltes Verlangen, unersättlich durch sich selbst. Die Unmöglichkeit, es zu stillen, ist seine Wahrheit, die Hoffnung, es zu sättigen, ist falsch. […] In der wesentlichen Nicht-Sättigung berührt man eine andere Wirklichkeit, besitzt man auf eine andere Art. Jedes Begehren, wenn man ihm seine Aufmerksamkeit zuwendet, ob (relativ) erfüllt oder nicht, ist ein Weg zur Nicht-Sättigung.“10 Die Religionsphilosophin, Anarchistin und Übersetzerin der Ilias oder der Upanishaden verstand die asketische Haltung als eine Art von reflexiv aufgeklärter Sehnsucht: als eine Sehnsucht, die sich der Illusion entledigt hat, durch irgendeinen Menschen oder durch irgendein Objekt erfüllt werden zu können, ohne darum an ihrer Unstillbarkeit zu zerschellen. Das Zeichen „Gott“ bedeutete ihr nichts anderes, als die Möglichkeit solchen Begehrens und solcher Sehnsucht: „Von zwei Menschen ohne Gotteserfahrung ist der, welcher ihn leugnet, ihm vielleicht am nächsten.“11 Simone Weil entwarf eine asketische Therapeutik der Leere. Denn die „Leere ist die höchste Fülle, aber der Mensch hat nicht das Recht, dies zu wissen, und der Beweis liegt darin, daß Christus selber dieses Wissen, für die Dauer eines Augenblicks, ganz und gar verloren hat. […] Die negative Tugend ist Arbeit ins Leere. Sich dessen enthalten. Man müht sich ab, und draußen bleibt alles, wie es ist. Diese Frucht nicht pflücken. Eine Vorstellung von der Welt, in der es Leere gäbe, damit die Welt Gottes bedürfe. Das setzt das Übel voraus. Und gleichzeitig, als Manifestation Gottes, ist die Welt voll. […] Der Mensch entrinnt den Gesetzen dieser Welt nur für die Dauer eines Blitzstrahls. Augenblicke des Innehaltens, der Kontemplation, der reinen Intuition, der geistigen Leere, der Hinnahme der seelischen Leere. Durch diese Augenblicke ist er des Übernatürlichen fähig. Wer einen Augenblick lang die Leere erträgt, der empfängt entweder das übernatürliche Brot, oder er fällt.“12 Von solcher Praxis einer negativen Theologie, auch einer Askese der Bedeutungen und Symbole, schrieb – wohl fast zur selben Zeit – der junge Emile Cioran: „Ein von allen Bildern entblößtes Bewußtsein ist die unerläßliche Bedingung für die Erfahrung der Ekstase und der Leere. Nichts wird mehr wahrgenommen, ausgenommen das Nichts, und
10 Simone Weil: Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, hg. u. übers. v. Friedhelm Kemp, München 1990, S. 137. 11 Ebd., S. 146. 12 Ebd., S. 146–148.
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Thomas Macho dieses Nichts wird alles. Der ekstatische Zustand ist eine vollkommene, objektlose Gegenwart, eine erfüllte Leere. Ein Schauder durcheilt das Nichts, ein Einbruch von Sein in eine absolute Abwesenheit. Die Leere ist die Bedingung der Ekstase, ebenso wie die Ekstase die Bedingung der Leere ist.“13 Daß auch solche Ekstasen der Leere nirgendwo anders als im Horizont des Schreibens und Lesens – der Erzeugung spiritueller Doppelgänger – erschlossen werden, bezeugen die zahlreichen Aufzeichnungen Simone Weils oder Emile Ciorans. Sie werden nur noch überboten von der buchstäblichen und namentlichen Erfindung eines Doppelgängers: etwa des Monsieur Teste von Paul Valéry. Denn „es ist unmöglich“, so formulierte Valéry, „die ‚Wahrheit‘ von sich selber zu empfangen. Wenn man sie Gestalt annehmen fühlt (das ist ein Eindruck), formt man gleichzeitig ein anderes ungewohntes Selbst … auf das man stolz ist – auf das man eifersüchtig ist … (Das ist ein Höhepunkt innerer Politik.)“14 Mit diesem „ungewohnten Selbst“ befasste sich Valéry während seines gesamten intellektuellen Lebens; er nannte es den „Herrn Zeugen“, Monsieur Teste: „Monsieur Teste ist der Zeuge.“15 Dieser „Zeuge“ repräsentierte Valérys auctoritas custodi: „Mr. Teste ist mein Schwarzer Mann, wenn ich nicht brav bin, denke ich an ihn.“16 Zugleich verkörperte Monsieur Teste jedoch die – mystisch imaginierte – Bedingung kreativer Arbeit: „O Herr, ich war im Nichts, unendlich nichtig und ruhig. Ich bin aufgestört worden aus diesem Zustand, um in den seltsamen Karneval geworfen zu werden …“17 Valéry hat sich zwar bemüht, das Denken und die seltsame intellektuelle Physiognomie seines „Anderen“ möglichst genau zu beschreiben; doch blieb Monsieur Teste zuletzt das pure Ergebnis asketischer Praktiken – „Eine Art Angst schaffen, um ihrer Herr zu werden“18 – und vielgestaltiger Aufzeichnungen. „Eines Abends antwortete er mir: ‚Das Unendliche, mein Bester, stellt nicht mehr viel dar – es ist Sache des Schreibens. Das Universum existiert nur auf dem Papier. Keine Idee zeigt es. Kein Sinn beweist es. Es wird ausgesprochen, mehr nicht.‘“19 So viel gilt auch vom Selbst, vom Ich, dem Doppelgänger des Rückzugs: Es wird ausgesprochen, mehr nicht.
13 Emile M. Cioran: Von Tränen und von Heiligen, Frankfurt a. M. 1988, S. 39. 14 Paul Valéry: Monsieur Teste, Frankfurt a. M. 1995, S. 51. 15 Ebd., S. 66. 16 Paul Valéry: Cahiers/Hefte, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1987, S. 52. 17 Paul Valéry: Monsieur Teste, S. 49. 18 Ebd., S. 70. 19 Ebd., S. 62.
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Askese als kreative Strategie Vor zehn Jahren veranstaltete die Kunsthalle Wien eine Doppelausstellung zum Werk Samuel Becketts und Bruce Naumans.20 Sie dokumentierte nicht nur den Einfluss Becketts auf Nauman – exemplarisch im Film Slow Angle Walk (Beckett Walk) von 1968 – als eine wenig bekannte Vorgeschichte der Videokunst, sondern konkretisierte auch für ein größeres Publikum, was als ein „pictorial turn“ der Beckett-Forschung (spätestens nach Auffindung der German Diaries) bezeichnet werden kann. Seither ist evident, welchen Einfluss die Malerei – und insbesondere der abstrakte Expressionismus – auf das Werk Becketts ausgeübt hat;21 Beckett selbst bekannte gelegentlich, es sei Caspar David Friedrichs Bild Zwei Männer in Betrachtung des Mondes (von 1819) gewesen, das ihn zu En attendant Godot inspiriert habe.22 Gezeigt wurden in Wien – neben Naumans Video-Installationen – sämtliche Film- und Fernseharbeiten Becketts, außerdem zahlreiche Autographen. An Becketts Notizen, an seinen Zeichnungen, Raumkonstruktionen und rhythmischen Partituren ließ sich unmittelbar erkennen, dass sein literarisches Werk auf mediale Transgressionen abzielte, auf Passagen zwischen Texten, Bildern, architektonischen, mathematischen und musikalischen Strukturen. Die Niederschriften – etwa des Romans Watt (entstanden zwischen 1941 und 1945) – operierten mit zahlreichen Bildern am Seitenrand oder mit Berechnungen zyklischer Proportionen, als würden Bilder, Schriften, Noten, Zahlen stets aufeinander verweisen. Beckett als Dichter, Zeichner, Musiker; noch in fortgeschrittenem Alter spielte er Klaviersonaten von Schubert oder Chopin. Synästhesie als Medienspiel, so nannte Michael Lommel seine zum 100. Geburtstag Becketts publizierte Studie.23 Nicht zufällig also kam Beckett zu Theater, Film und Fernsehen: als Verfasser von Stücken und Drehbüchern, aber auch als Regisseur. Das erste Medium, mit dessen Grenzen er vielfach experimentierte, war freilich die Sprache selbst. Dabei ging es ihm nicht um die (in einer ersten Rezeptionswelle gern beschworenen) „mystischen“ Grenzen zwischen Sagbarem und Unsagbarem, zwischen Sprechen und Verstummen, sondern um den Wechsel konkreter Sprachen. Eine Sprache kann ausgetauscht werden. Watt blieb für lange Zeit das letzte Werk in englischer Sprache. Mit der Wende 20 Vgl. Kunsthalle Wien (Hg.): Samuel Beckett – Bruce Nauman, Ausstellung 4.2. bis 30.4.2000, Wien 2000. 21 Vgl. Gabriele Hartel: „…the eyes take over…“. Samuel Becketts Weg zum „gesagten Bild“. Eine Untersuchung von „The Lost Ones“, „Ill Seen Ill Said“ und „Stirrings Still“ im Kontext der visuellen Kunst, Trier 2004. 22 Vgl. James Knowlson: Samuel Beckett. Eine Biographie, Frankfurt a. M. 2001, S. 327f. u. 763. 23 Vgl. Michael Lommel: Samuel Beckett. Synästhesie als Medienspiel, München 2006.
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Thomas Macho zum Französischen verfolgte Beckett eine ästhetische Strategie der Askese, der Reduktion und Konzentration. Entscheidender als der Schritt zur Zweisprachigkeit (der häufig kommentiert wurde), war allerdings der Anfang einer vieljährigen Arbeit an den Übersetzungen der eigenen Texte – mit einer verblüffenden Konsequenz: Beckett schrieb einen großen Teil seiner Werke zweimal. Er wurde gleichsam zum eigenen Doppelgänger, seinem Monsieur Teste. Und eben diese pragmatische, nicht metaphysisch inspirierte Doublierung bildete den thematischen Kern zahlreicher Arbeiten. Just während der anstrengenden Arbeit an Übersetzungen von Fin de Partie oder L’innommable begann Beckett in den späten Fünfzigerjahren, Hörspiele wie All That Fall (1957) oder Embers (1959) zu schreiben, die von der BBC produziert und mit großem Erfolg ausgestrahlt wurden; zur selben Zeit entstand auch Krapp’s Last Tape (1958), das Stück, in dem ein Mann seiner Tonbandstimme lauscht, um die gehörten Sätze auf vergangene Wirklichkeiten zu beziehen, anzunehmen oder zu verwerfen. Krapp, ein Übersetzer? Kultur- und Medientechniken – Schreiben, Lesen, Hören, Aufzeichnen, Abbilden, Übersetzen – erzeugen Selbstverhältnisse, die in Bildern und Filmen die Gestalten des Doppelgängers anzunehmen pflegen. Bereits 1961 hatte Alan Schneider Waiting for Godot (mit Burgess Meredith als Vladimir und Zero Mostel als Estragon) verfilmt; im Sommer 1964 führte Schneider – mit dem Beckett eine lebenslange Freundschaft pflegte – die Regie bei Film. Das Drehbuch zu Film war im Mai 1963 entstanden; danach wurde ein Hauptdarsteller gesucht. Verhandlungen mit Charlie Chaplin, Zero Mostel und Jack MacGowran scheiterten; schließlich kamen Schneider und Barney Rosset – der Verleger von Grove Press – auf die Idee, Buster Keaton zu engagieren. Beckett und Keaton verstanden sich nicht sonderlich gut, doch passte Keatons Spiel hervorragend in ein echtes silent movie, das nicht (wie im klassischen Stummfilm) eine musikalische Begleitung verlangte. Die Stille in Film wird übrigens strategisch inszeniert durch eine einzige, schlichte Interjektion: „Psst“, sagt die ältere Frau mit dem Schoßäffchen zu ihrem Mann. In Becketts Film geht es um Doppelgänger, die dem Wechselspiel zwischen Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden entspringen. A (die Filmkamera) verfolgt O (Buster Keaton), der sein Gesicht (sein Gesehenwerden) verbirgt und nur in einem bestimmten Winkel dem Zugriff der Kamera entzogen ist. Während der ersten Filmsequenz flieht O (das Objekt) vor A, dem Auge (der Kamera), in ein Zimmer, wo ihn neue Risiken erwarten. Zunächst muss der Spiegel verhängt werden; danach gefährden ihn eine große Katze und ein kleiner Hund, die abwechselnd vor die Tür gesetzt werden, schließlich ein Bild an der Wand, der Papagei im Käfig, der Goldfisch im Aquarium. Nicht nur die Fotografien, die O in seinem Schaukelstuhl betrach-
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Askese als kreative Strategie tet, zeigen Gesichter (und werden systematisch zerrissen), auch die Mappe, in der die Fotos aufbewahrt werden, erinnert in der Gestalt ihrer Oberfläche an ein Gesicht. Im sichtbar-unsichtbaren Kampf zwischen A und O, dem Auge (eye) und dem Ich (I), siegt zuletzt die Kamera, die ihrerseits – nach Becketts Script – das Gesicht von O trägt: „aber mit einem ganz anderen Ausdruck, den man nicht beschreiben kann, weder streng noch gütig, sondern eher große Gespanntheit“24. Das Motto zu Film stammt von Bischof Berkeley: „Esse est percipi“,25 Sein ist Wahrgenommenwerden. Am 4. September 1965 wurde Film auf dem Festival von Venedig gezeigt und mit dem Preis der Filmkritik gewürdigt. Beckett schrieb zwar kein weiteres Filmdrehbuch mehr, beschäftigte sich jedoch in den folgenden Jahren zunehmend mit dem Medium des Fernsehens, das er als „key-hole art“ charakterisierte: „Schlüssellochkunst“. 1965 begann er mit der Niederschrift von Eh Joe, seinem ersten piece for television. Das Fernsehspiel verschränkte die Sätze einer Frauenstimme – „leise, deutlich, fern, beinahe farblos“26 – mit neun Bewegungen der Kamera, die sich in genau vorgeschriebenen Pausen von sieben Sekunden zwischen den Abschnitten des Scripts dem teilnahmslosen Gesicht Joes nähert. Sobald die Stimme wieder zu sprechen beginnt, hört die langsame Kamerabewegung auf. Und was erzählt die Stimme? Sie spricht von Beziehungen, „Mentalmorden“, von Joes „einziger Passion“: die Stimmen der „Toten im Kopf“ zu töten.27 Die Frauenstimme zitiert andere Stimmen – Vater, Mutter –, die Joe bereits erfolgreich zum Verstummen bringen konnte. Anders als in Film erscheinen die Doppelgänger also nicht im Bild, im Sehen und Gesehenwerden, sondern im Hören innerer Stimmen. In der Schlusseinstellung werden die Rollen getauscht: Das grinsende Gesicht Joes (im Close-up) signalisiert dem Zuschauer, der die Tötung der Stimmen beobachtet hat, dass er nun selbst unter ihren Bann geraten ist. Beckett bot das Fernsehspiel, das er für Jack MacGowran geschrieben und zwischenzeitlich auch ins Französische übersetzt hatte, der BBC an, die das Stück ankaufte, aber die Ausstrahlung verzögerte. So kam es, dass He, Joe erstmals in der deutschen Fassung von Erika und Elmar Tophoven gesendet wurde, und zwar vom Süddeutschen Rundfunk, zu Becketts 60. Geburtstag am 13. April 1966. Regie hatte Beckett selbst geführt. Mehr als zehn Jahre später wurde diese Zusammenarbeit mit dem Süddeutschen Rundfunk fortgesetzt. Für eine Reihe von Fernsehspielen – zusammenge-
24 Samuel Beckett: Film – He, Joe, Frankfurt a. M. 1968, S. 25. 25 Ebd., S. 7. 26 Ebd., S. 45. 27 Ebd., S. 49.
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Thomas Macho fasst unter dem Titel „Schatten“ – inszenierte Beckett zunächst das Geister-Trio (1976), danach …nur noch Gewölk… (1977). Das erstgenannte Fernsehspiel bezog sich auf das Largo von Beethovens fünftem Klavier-Trio. Wie in He, Joe werden eine Frauenstimme und eine männliche Gestalt miteinander verschränkt, doch nicht mehr, um das Drama innerer Stimmen auf die Zuschauer zu übertragen, sondern bloß, um in einer wiederholten Rückkopplungsschleife – in äußerster asketischer Reduktion – das Wechselspiel zwischen den (schriftlich aufgezeichneten) Regieanweisungen und ihrer (filmisch aufgezeichneten) Ausführung zur Darstellung zu bringen. Was aus dieser Leere des Selbstbezugs (des Spiels im Spiel, Übersetzung der Übersetzung, einer minutiösen Beobachtung der Beobachtung) radikal herausfällt, ist einzig die Musik Beethovens. Sie fungiert – wie später in Nacht und Träume – als Versprechen einer Erlösung. Aber welcher Erlösung? Beckett wurde häufig als Vertreter einer säkularen negativen Theologie charakterisiert; er selbst dementierte jedoch regelmäßig (wenngleich mit geringem Erfolg) etwa den unterstellten Zusammenhang zwischen „Gott“ und „Godot“, mit dem schlagenden Argument, er hätte schon „Gott“ gesagt, wenn er „Gott“ gemeint hätte. Nach dem Bericht seines Biographen James Knowlson ärgerte er sich sogar über Adornos Versuch, den Hamm aus Fin de Partie mit dem Hamlet zu assoziieren; Adornos Vortrag im Hause Unseld ertrug er zwar geduldig, konnte sich aber die Bemerkung nicht verkneifen, der „Fortschritt der Wissenschaft“ bestehe wohl darin, „daß die Professoren mit ihren Irrtümern weitermachen können“28. Beckett suchte keine Erlösung im metaphysischen Sinn, eher schon eine Erlösung als „Erschöpfung“, wie sie Gilles Deleuze in seinem Essay zu den Fernsehstücken29 analysierte: eine Erlösung von den endlosen Selbstbezügen des Sprechens, den Doppelgängern der Repräsentation, der Bilder und Stimmen, des Lesens und Schreibens. Mit diesen doppelgängerischen Selbstverhältnissen befasste sich Beckett auch in späteren Stücken wie dem Ohio Impromptu (1981), in dem L(eser) und H(örer) – „einander so ähnlich wie möglich“30 – die „traurige Geschichte“ ihrer „Versteinerung“ zur Geistlosigkeit, Lichtlosigkeit, Geräuschlosigkeit, Sprachlosigkeit lesen und hören. Unterbrochen wird die Stimme des Lesers lediglich durch ein Klopfen des Doppelgängers, das an die erste Form der 28 James Knowlson: Samuel Beckett, S. 602. 29 Vgl. Gilles Deleuze: „Erschöpft“, in: Samuel Beckett: Quadrat, Geister-Trio, …nur noch Gewölk…, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen, Frankfurt a. M. 1996, S. 49–101. – Zu den Fernsehstücken vgl. auch Catharina Wulf (Hg.): The Savage Eye. New Essays on Samuel Beckett’s Television Plays, Amsterdam 1995. 30 Samuel Beckett: „Ohio Impromptu“, in: Nacht und Träume. Gesammelte kurze Stücke, Frankfurt a. M. 2006, S. 307.
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Askese als kreative Strategie Geisterkommunikation im Spiritismus erinnert. Im selben Jahr 1981 schrieb und inszenierte Beckett Quadrat für den Süddeutschen Rundfunk, eine sprachlose, präzis choreographierte Bewegungsstudie, in der eine wachsende Anzahl von Personen, zunächst mit farbigen Kutten, danach in Schwarzweiß, eine quadratische Fläche abschreiten und durchqueren, wobei sie das Zentrum des Bildschirms im Bildschirm, den Punkt E – den „Abgrund“ ihres möglichen Zusammentreffens, zugleich den Schnittpunkt der Quadratdiagonalen – systematisch vermeiden. Die Bewegungen werden allein durch die individuellen Schrittgeräusche und ein Schlagzeug begleitet. Becketts SDR-Fernsehzyklus wurde 1983 abgeschlossen, und zwar durch Nacht und Träume. Auch dieses Fernsehspiel kommt ohne Sprache aus; es zeigt eine männliche Gestalt im Profil, die an einem Tisch sitzt und sich selbst, noch einmal als Doppelgänger, träumt, der – vergleichbar einer viktorianischen Gespensterfotografie – im rechten oberen Bilddrittel erscheint. Eine abgetrennte Hand reicht dem geträumten Doppelgänger einen Kelch, wischt ihm die Stirn ab, legt sich tröstend auf seinen Kopf. Die Szene wird wiederholt, wobei sie jetzt den ganzen Bildschirm ausfüllt. Dazu erklingt eine Melodie aus Schuberts Lied „Nacht und Träume“, gesummt und gesungen. Gesten und Töne verweisen aufeinander. „Das Stück ist selbstreflexiv in doppeltem Sinne“, bemerkte Therese FischerSeidel in ihrem Beitrag zum 2005 erschienenen Sammelband Der unbekannte Beckett: „Ein Träumer träumt sich selbst und träumt von seiner Erlösung.“31 Aber auch diese Schleife wird nicht gelöst, nicht einmal durch Schuberts Musik. Die Askese enthält sich der Askese; der Verzicht verzichtet auf sich selbst: „Hin und her im Schatten vom inneren zum äußeren Schatten / vom undurchdringlichen Selbst zum undurchdringlichen / Nicht-Selbst / durch weder noch / wie zwischen zwei erleuchteten Herbergen, deren Türen / beim Näherkommen / sich sachte schließen, beim Abwenden / sachte wieder aufgehn / von hier von dort herbeigewunken und abgewiesen / ohne Acht auf den Weg, allein auf den einen Schein / oder den anderen / ungehörte Tritte einziger Laut / bis schließlich für immer Halt, für immer fern / vom Selbst und dem anderen / dann kein Laut / dann sachte Licht unvermindert auf dem unbeachteten / weder noch / unaussprechliche Heimstatt“.32
31 Therese Fischer-Seidel: „Samuel Becketts Abschied: Nacht und Träume und das deutsche Fernsehen“, in: dies./Marion Fries-Dieckmann (Hg.): Der unbekannte Beckett. Samuel Beckett und die deutsche Kultur, Frankfurt a. M. 2005, S. 319–338, S. 331. 32 Samuel Beckett: „weder noch“, in: Dante und der Hummer. Gesammelte Prosa, Frankfurt a. M. 2000, S. 272.
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Thomas Macho
Literatur Ball, Hugo: Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben, München/Leipzig 1923. Beckett, Samuel: Film – He, Joe, dt. Übers. v. Erika und Elmar Tophoven, Frankfurt a. M. 1968. – „Ohio Impromptu“, übers. v. Erika und Elmar Tophoven, in: Nacht und Träume. Gesammelte kurze Stücke, Frankfurt a. M. 2006. – „weder noch“, in: Dante und der Hummer. Gesammelte Prosa, übers. v. Elmar und Erika Tophoven, Frankfurt a. M. 2000. Cioran, Emile M.: Von Tränen und von Heiligen, übers. v. Verena von der Heyden-Rynsch, Frankfurt a. M. 1988. Deleuze, Gilles: „Erschöpft“, übers. v. Erika Tophoven, in: Samuel Beckett: Quadrat, Geister-Trio, …nur noch Gewölk…, Nacht und Träume. Stücke für das Fernsehen, übers. v. Erika und Elmar Tophoven, Frankfurt a. M. 1996, S. 49–101. Epiktet: Unterredungen I,30,1, zit. n. Pierre Hadot: Die innere Burg. Anleitung zu einer Lektüre Marc Aurels, übers. v. Makoto Ozaki und Beate von der Osten, Frankfurt a. M. 1996, S. 177. Fischer-Seidel, Therese: „Samuel Becketts Abschied: Nacht und Träume und das deutsche Fernsehen“, in: dies./Marion FriesDieckmann (Hg.): Der unbekannte Beckett. Samuel Beckett und die deutsche Kultur, Frankfurt a. M. 2005, S. 319–338. Hartel, Gabriele: „…the eyes take over…“. Samuel Becketts Weg zum „gesagten Bild“. Eine Untersuchung von „The Lost Ones“, „Ill Seen Ill Said“ und „Stirrings Still“ im Kontext der visuellen Kunst, Trier 2004. Hiriyanna, Mysore: Vom Wesen der indischen Philosophie, übers. v. Karl-Heinz Golzio, München 1990. Kant, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen [1764], in: Vorkritische Schriften bis 1768, Werkausgabe Bd. II, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977. Knowlson, James: Samuel Beckett. Eine Biographie, übers. v. Wolfgang Held, Frankfurt a. M. 2001. Kunsthalle Wien (Hg.): Samuel Beckett – Bruce Nauman, Ausstellung 4.2. bis 30.4.2000, Wien 2000. Lommel, Michael: Samuel Beckett. Synästhesie als Medienspiel, München 2006. Neue Jerusalemer Bibel, hg. v. Alfons Deissler und Anton Vögtle, Freiburg i. Br. 1985. Pseudo-Justinus: Mahnrede an die Hellenen, in: Bibliothek der Kirchenväter, Bd. XXXIII, Kempten/München 1917.
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Askese als kreative Strategie Rimbaud, Arthur: Das poetische Werk, übers. v. Hans Therre und Rainer G. Schmidt, München 1988. Schweitzer, Albert: Die Weltanschauung der indischen Denker. Mystik und Ethik, München ²1965. Valéry, Paul: Cahiers/Hefte, Bd. 1, übers. v. Markus Jakob, Hartmut Köhler, Jürgen Schmidt-Radefeldt, Corona Schmiele und Karin Wais, Frankfurt a. M. 1987. – Monsieur Teste, übers. v. Max Rychner, Achim Russer und Bernd Schwibs, Frankfurt a. M. 1995. Weil, Simone: Zeugnis für das Gute. Traktate, Briefe, Aufzeichnungen, hg. u. übers. v. Friedhelm Kemp, München 1990. Wulf, Catharina (Hg.): The Savage Eye. New Essays on Samuel Beckett’s Television Plays, Amsterdam 1995.
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Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis BARBARA GRONAU „Wer Menschen sucht, findet Asketen; wer Asketen beobachtet, entdeckt Akrobaten.“1
Im heißen Sommer des Jahres 1905 hatten Zeitungen, Illustrierte und Gespräche des Wiener Bürgertums vor allem ein Thema: im ersten Kaffeehaus auf der Wiener Praterallee sollte das „größte Phänomen des 20. Jahrhunderts“ öffentlich auftreten. Nach Auskunft der Werbeprospekte handelte es sich dabei um die „erste Hungerkünstlerin der Welt“, die Grazer Schauspielerin Auguste Viktoria Schenk, die für ganze einundzwanzig Tage einen völligen Nahrungsverzicht praktizieren werde.2 „Die Einmauerung“ – so die Ankündigung – „findet am 22. Juli abends, 8 Uhr in einer mit großen Glasscheiben versehenen Hungerzelle statt. Auguste Viktoria Schenk ist Tag und Nacht zu sehen, wird von der Wach- und Schließgesellschaft ununterbrochen bewacht und nährt sich ausschließlich von [dem Tafelwasser] Krondorfer Sauerbrunn.“ Das zahlende Publikum könne das Spektakel gegen einen Eintritt von sechzig Hellern bei „Lagerbier“ und „feinster Wiener Küche“3 mitverfolgen. Den Schaulustigen bot sich am Eröffnungsabend denn auch ein imposantes Bild. Der beflissen auftretende Impresario ließ eine vornehm gekleidete, von der Presse als korpulent bezeichnete Dame vor das Publikum treten, um sie dort von den bereit stehenden Fotografen ein letztes Mal vor ihrer anstehenden physischen Verwandlung ablichten zu lassen. Frau Schenk, die zuvor von Ärzten untersucht worden war, stieg auf die Waage, der Impresario rief ihr Körpergewicht aus und gestattete dem Publikum, die Zelle auf eventuell
1
Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik,
2
Frankfurt a. M. 2009, S. 101. Siehe dazu und im Folgenden: Peter Payer: Hungerkünstler. Eine verschwundene Attraktion, Wien 2002, S. 63-86.
3
Ebd., S. 65.
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Barbara Gronau versteckte Nahrungsmittel abzusuchen. Danach setzte sich die Hungerkünstlerin an einer weiß gedeckten Tafel zu einem letzten Abendmahl nieder und verspeiste vor den Augen der neugierigen Zuschauer ein Beefsteak mit Spinat, Bier und Gebäck.
Werbepostkarte von Auguste Viktoria Schenk, Wien 1905 In den folgenden Tagen und Wochen stürmten täglich bis zu eintausend Zuschauer in das Kaffeehaus, um einen Blick in die von uniformierten Wächtern belagerte Vitrine zu werfen. Die Zahl der Verehrer wuchs beständig; man schickte der Dame Blumensträuße und Briefe, und kurz vor ihrem Namenstag spielte ein Infanterieregiment vor ihrem Glaskasten auf. Die Künstlerin hielt ihren Nahrungsverzicht Tag um Tag durch. Sie präsentierte sich dem Publikum zumeist im Sessel sitzend, widmete sich dem Studium neuer Rollentexte und zeigte sich hinter der Glaswand gern über Schillers Maria Stuart gebeugt. Nach Ablauf der drei Hungerwochen verlängerte sie ihre Frist auf eigenen Wunsch sogar um zwei Tage, um nach dreiundzwanzig Tagen ohne Nahrungsaufnahme am 13. August 1905 vor den Augen einer großen Menschenmenge aus ihrer 130
Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis Zelle befreit zu werden. Auch diese Inszenierung folgte einer festgelegten Dramaturgie. Nach dem Öffnen des Kastens prüfte ein Arzt ihren Gesundheitszustand. Sie wurde gewogen und der Verlust von zehn Kilogramm Körpergewicht durch den Impresario lauthals verkündet. Schließlich ließ sich die geschwächte Künstlerin unter großem Beifall an einer auf der Bühne hergerichteten Tafel nieder, verspeiste vor der neugierigen Menge ihre erste Mahlzeit (Wein, Biskuits, Kalbsbries) und verabschiedete sich mit einer Rede vom Wiener Publikum. Angesichts der Tatsache, dass in den europäischen Großstädten am Beginn des 20. Jahrhunderts der Hunger zum bitteren Schicksal breiter Bevölkerungsschichten gehörte, lässt sich fragen, warum ein wochenlanger Nahrungsentzug eine so große Aufmerksamkeit bei Medien und Publikum hervorzurufen vermochte. Warum bezahlen Zuschauer Eintritt, um jemanden beim Nichtessen zuzusehen? Zunächst einmal sei daran erinnert, dass asketische Praktiken seit der Antike Gegenstand von öffentlichen Aufführungen sind. So ziehen etwa die christlichen Anachoreten, die ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. in den Grenzgebieten des Nildeltas leben, hinaus in die unfruchtbare Wüste, aber nur, um dort mit ihrer Askese „an die Öffentlichkeit zu gehen“ – das heißt, in einer sich gegenseitig beobachtenden und kommentierenden Gemeinschaft Gleichgesinnter zu leben.4 Auch die Styliten – wie etwa Symeon in Syrien – präsentieren ihre Enthaltsamkeit auf bühnenförmigen Podesten in großer Höhe und predigen in regelmäßigen Abständen vor einer großen Zuschauermenge.5 Und schließlich sind Formen des Schauhungerns bereits seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert für den europäischen Raum bezeugt. Mit den sogenannten „Fastenwundern“ oder „Wundermädchen“ emanzipiert sich die Nahrungsaskese aus dem klösterlichen Kontext und etabliert sich als Laienpraxis im städtischen Raum.6 Am Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Hungerkunst im Rahmen öffentlicher Populärkultur bereits zu einer
4
Peter Brown: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und
5
Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München 1991, S. 228f. Vgl. Nicolaus Heutger: „Symeon Stylites der Ältere“, in: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XI, Nordhausen 1996, Sp. 353-356
6
(im Internet unter: http://www.bautz.de; letzter Zugriff: 01.02.2010). Vgl. Walter Vandereycken/Ron van Deth/Rolf Meermann: Wundermädchen, Hungerkünstler, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Essstörungen, Weinheim u.a. 2003; Waltraud Pulz: „Askese, Charisma oder Krankheit? Bedeutung und Funktion frühneuzeitlicher ‚Fastenwunder‘“, in: Irmela Marei Krüger-Fürhoff/Tanja Nusser (Hg.): Askese. Geschlecht und Geschichte der Selbstdisziplinierung, Bielefeld 2005, S. 43-54.
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Barbara Gronau eigenen Aufführungsgattung entwickelt und reicht von Tier- und Völkerschauen, in denen die Hungerkünstler als Exotikum inszeniert werden, über Zirkus, Pratergarten und Theater, in denen Hungerkünstler als Virtuosen auftreten, bis in den Bereich sportlicher Hungerschaukämpfe. Auch die Medizin zeigt ein wachsendes Interesse an dem Phänomen, so erhofft sich etwa Rudolf Virchow 1887 wissenschaftlichen Aufschluss über die Physiologie des Menschen durch Untersuchungen an dem berühmten Hungerkünstler Francisco Cetti.7 Im frühen 20. Jahrhundert verleihen Reformbewegung und Vegetarismus dem Interesse am Körper weitere Impulse, und Frauen dringen nun in die Männerdomäne virtuoser Kraftakte hervor: Es gibt neben den ersten Tierbändigerinnen nun auch die ersten Hungerkünstlerinnen. Ihre Faszinationskraft beziehen die Hungerschauen zuallererst aus einer Normabweichung – nämlich dem Ausschlagen von Nahrung und damit von physischer Selbsterhaltung. Sie stellen ein Theater der Askese dar, bei dem die existenzielle Bedrohung des Hungers gebannt und in Kunst transformiert werden soll. Im Mittelpunkt dieser Aufführungen steht ein als stark, leidend oder auch geheimnisvoll inszenierter Körper, dessen potentielles Zusammenbrechen das ganze Setting in ein Spiel mit dem Risiko verwandelt. Der Hunger ist damit „keine artistische Disziplin wie jede andere“ – so Peter Sloterdijk – sondern „[...] die metaphysische Askese par excellence. Von alters her stellte er die Übung dar, durch die, wenn sie gelingt, der gewöhnliche, dem Hunger unterworfene Mensch erfährt, oder an anderen beobachtet, wie man die Natur auf ihrem eigenen Terrain besiegt. Das Hungern der Asketen ist die Könnensform des Mangelleidens, das überall sonst nur passiv und unfreiwillig erfahren wird.“8
Problematisch an dieser ‚Könnensform‘ ist nur, dass sich ihre äußeren Wirkungen (also die Effekte des Nahrungsentzugs) bei gesunden Erwachsenen zunächst nur langsam und wenig sichtbar entfalten. Auch in Wien passiert drei Wochen lang wenig Spektakuläres: Frau Schenk sitzt, liest, wartet und trinkt Wasser – eine Szene, die als Sinnbild bürgerlichen Frauendaseins an der Jahrhundertwende taugt. Doch hier geschieht kein ‚süßes Nichtstun‘, sondern vielmehr ein gezieltes Nicht-Tun. Die Künstlerin vollzieht einen freiwilligen und kalkulierten Akt des Verzichts, der auf latente Weise Leib und Leben der Hungernden bedroht. Die immanente Gewalt der Hun7
„Professor Virchow über Cetti“, in: Berliner Zeitung vom 27. März 1887, Morgenausgabe; vgl. dazu: Nina Diezemann: Die Kunst des Hungerns. Essstörungen in Literatur und Medizin um 1900, Berlin 2006, S. 72-80.
8
Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern, S. 115.
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Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis gerkunst vollzieht sich damit nicht als grobe Selbstverletzung, sondern als subkutane Autoaggression, bei der die Zeitdauer die entscheidende Rolle spielt. Der Prozess der physischen und psychischen Transformation steuert auf das Erlöschen der Körperfunktionen zu. Weil dies nur für die Künstler spürbar ist, muss der Prozess nach außen inszenatorisch bekräftigt werden. Im Falle Auguste Viktoria Schenks besteht diese Inszenierung aus einer Verbindung von Theater, Ritual und Experiment. Sie ist durch einen medialen Apparat geprägt, der das, was sich den Blicken entzieht – nämlich die Entbehrung – durch Verweise, Aufzeichnungen und Kommentare sichtbar werden lässt. Dazu gehören die täglich erneuerten medizinischen Befunde, die sichtbar an der Hungerzelle angeschlagen werden, sowie die Werbeplakate, Fanpostkarten und journalistischen Glossen in der Tagespresse. Alle Beteiligten agieren dabei als Ensemble mit verschiedenen Rollen: Die Schauspielerin setzt sich als Faszinosum in Szene, der Impresario tritt als ihr ‚Sprachrohr‘ und Beschützer auf, die Wachen fungieren als Bewahrer der Spielregeln, die Ärzte messen und beglaubigen den Grad der physischen Leistung und die Zuschauer treten als Zweifler, Bewunderer oder Kritiker auf. Zusammen folgen sie einer Dramaturgie, die in geradezu exemplarischer Weise einen rite de passage nachahmt: Nach der Segregationsphase, das heißt dem letzten Abendmahl und der Einmauerung, folgt in der liminalen Phase des Hungerns eine Zeit der Absonderung und Prüfung, die schließlich in eine festlich vollzogene Wiedereingliederung in die Gemeinschaft der Essenden mündet. Die angestrebte Transformation findet dabei vor allem auf der physischen Ebene statt – als Prozess der Auszehrung, der „Autophagie“.9 Der drohenden Auslöschung des Subjekts durch den Hunger steht dabei der Triumph über den vegetativen Bereich des Körpers gegenüber. Der ‚natürliche‘ Zyklus aus Nahrungsaufnahme, -umwandlung und -ausscheidung soll unterbrochen und mithilfe des Willens einer Ökonomie der Zurückhaltung unterworfen werden. Das Theater der Askese führt damit eine Form der virtuosen Selbstermächtigung und der Selbstkontrolle vor, die den Sieg über die Lust am Essen als Voluntarismus feiert. Die Hungerschauen sind Aufführungen einer radikalisierten physischen Subjektautonomie. Nicht zuletzt erfüllen sie damit eine sozial-politische Funktion: In ihnen wird das elende Schicksal der ‚Anderen‘ (Proletarier, Migranten usw.) in Form einer virtuosen Leistung, eines sportlichen Wettkampfes oder einer Selbsterfahrung vor einem bürgerlichen – das heißt satten – Publikum zum Ausdruck gebracht. Das Schicksal
9
Zum Prinzip der Autophagie siehe Maud Ellmann: Die Hungerkünstler. Hungern, Schreiben, Gefangenschaft, Stuttgart 1994, S. 7-53.
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Barbara Gronau des Verhungerns soll so in einer distanzierten Form der Aufführung ferngehalten werden. Die Hungerschauen sind ein Abwehrritual.
Künstlerische Exerzitien Mit Beginn der Moderne verlagert sich die Askese von einer religiös konnotierten Praxis der Weltentsagung zusehends in den Bereich des säkularen Lebens. Sie wird – wie Max Weber ausführlich analysiert hat – „aus den Mönchszellen heraus in das Berufsleben übertragen“ und infolgedessen zur „innerweltlichen Askese“.10 Das Bürgertum hat sich einer Ökonomie der Zurückhaltung verschrieben, die von Entsagung, Verzicht und Enthaltsamkeit geprägt ist. In diesem Prozess gewinnt auch die antike Dimension des Begriffes ἄσκησις (Askesis) zunehmend Raum, nämlich die der Übung und Herstellung. Als Bearbeitung, ja Modellierung des Selbst geht die Askese mit zahlreichen Exerzitien einher, also mit jenen „Technologien des Selbst“,11 die Foucault so weitläufig analysiert hat. Die Übungen betreffen den Umgang mit dem eigenen Körper, mit der Sexualität, den Lüsten und der Ausbildung eines Selbst(bildes) im Verhältnis zu geltenden Normen und Regeln. Die Askese ist ein ästhetisches Programm zur „Selbsterzeugung des Menschen“,12 und ihr neuzeitlicher Auftrittsort nicht mehr das Kloster, sondern die Kunst. Folgt man Boris Groys, so bestimmt die Askese das Selbstverständnis des modernen Künstlers insofern, als dieser – um etwas Neues zu produzieren – nur noch strategisch weglassen kann: „[D]er [sic] Verdienst eines Künstlers der Moderne besteht nicht darin, dass er bestimmte neue Formen erfindet, […] sondern darin, dass er sich in seiner Kunst auf bestimmte Formen mit einer viel größeren Radikalität begrenzt, als
10 „Einer der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes, und eben nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur: die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, ist […] geboren aus dem Geist der christlichen Askese.“ Max Weber: „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1920, S. 17-206, S. 201. 11 Michel Foucault: „Technologien des Selbst“, in: ders.: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 287-317; vgl. Christoph Wulf/Jörg Zirfas: Askese, Paragrana. Zeitschrift für historische Anthropologie, Bd. 8 (1999), S. 9f. 12 Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern, S. 14.
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Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis es in der Kunst vor ihm üblich und sogar denkbar war […]. Keine Addition des Neuen – sondern der Verzicht auf das Alte ist der Grundgestus der Moderne.“13
Die Askese bildet also nicht nur – wie im Falle der Hungerkünstler – den spektakulären Gegenstand öffentlicher Aufführungen, sondern wird zum zentralen Modus der künstlerischen Darstellung selbst. Im Theater, das von jeher aus der Verbindung verschiedener Einzelkünste lebt, entwickelt sich am Beginn des 20. Jahrhunderts ein ganzes Spektrum solch asketischer Praktiken. So verwandelt etwa Adolphe Appia das naturalistische Bühnenbild in einen abstrakten Lichtraum, reduzieren Futurismus und Dadaismus das traditionelle Drama auf Leerstellen und Sprachfragmente und „befreit“ Wsewolod Meyerhold den Darsteller von Maske, Kostüm und Dekoration.14 Doch vor allem im Schauspiel zeigt sich die asketische Verschränkung von Zurückhaltung und Übung deutlich. Bereits bei Konstantin Stanislawski, dem ‚Grandseigneur‘ des Einfühlungstheaters, findet sich eine Schauspieltheorie, die sich der Ökonomie der Zurückhaltung verschrieben hat. In Stanislawskis Text Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst lernt der Ich-Erzähler, der fiktive Schauspielstudent Naswanow, alles Überflüssige aus der Bewegung herauszuläutern und nur noch „aufrichtig, produktiv und zielbewusst“ zu handeln, denn „eine Gebärde um ihrer selbst willen hat keinen Platz auf der Bühne“.15 Um diesen Grad von Reduziertheit zu erreichen, muss Beschränkung im Sinne der Zweckmäßigkeit und Kausalität vorgelebt und in zahllosen Körper-Etüden physisch eingeübt werden. Der Drill, also das Drehen, Abrichten, Abhärten von Körpern und Personen, für den die Moderne so viele Institutionen erfindet, ist nicht nur Schicksal der Soldaten, der Sportler, Gymnasiasten oder Haftinsassen, sondern ebenso ein Leitmotiv künstlerischer Ausbildung und Praxis. Im Tanz sind die asketischen Exerzitien als „permanente Exercise“,16 das heißt als tägliche, streng geregelte Übungen anwesend. Auch die Etüden, die Stanislawski unter
13 Boris Groys: „Strategien der künstlerischen Askese“, in: Konrad Paul Lissmann (Hg.): Im Rausch der Sinne: Kunst zwischen Animation und Askese, Wien 1999, S. 145-170, S. 148. 14 Richard C. Beacham: Adolphe Appia, Künstler und Visionär des modernen Theaters, Berlin 2006; Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (18801950), Frankfurt a. M. 1970; Wsewolod Meyerhold: „Der Lehrer Bubus und das Problem der Spielweise mit Musik“, in: ders.: Schriften, Bd. II, Berlin 1979, S. 58-87. 15 Konstantin Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Teil II, Berlin 1963, S. 20. 16 Gabriele Brandstetter: „Der Körper als Ornament. Zwischen Exerzitium und Exercise: die Ästhetisierung der Askese“, in: Irmela Marei Krüger-Fürhoff/ Tanja Nusser (Hg.): Askese, Bielefeld 2005, S. 133-144.
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Barbara Gronau dem Titel „Training und Drill“ für seine Schüler bereithält, zeugen von dem Bestreben, durch Übung, Widerholung und Drill einen idealen Darstellerkörper zu modellieren, der in der Lage ist, präzise zu agieren. Seine täglichen Übungen ähneln in bezeichnender Weise denen von Soldaten, wenn es heißt: „Sitzen Sie. Treten Sie durch die Tür. Begrüßen Sie alle Anwesenden. Stehen Sie. Gehen Sie. Stehen Sie auf und setzen Sie sich hin. Sehen Sie aus dem Fenster. Legen Sie sich hin und stehen Sie wieder auf. Liegen Sie. Gehen Sie zur Tür, um sie zu öffnen. Dasselbe um sie zu schließen. Dasselbe um nachzusehen, was hinter der Tür ist; kommen Sie wieder zurück und setzen Sie sich hin. Treten Sie zur Tür …“17
Stanislawskis Körper-Ökonomie deckt sich so mit der zeitgenössischen Erlösungsformel des Utilitarismus, wonach es gilt, die Eigenarten, Unwägbarkeiten und Überschüsse des Körpers aus dem Prozess der Darstellung herauszufiltern, um ihn zum Werkzeug einer Information zu machen. Der Körper soll dabei zur Chiffre werden, die die Zuschauer lesen und in die sie sich einfühlen können. Stanislawskis an Mimesis, Zweckmäßigkeit und Produktivität orientierte Handlungstheorie zeigt sich damit als Spiegel einer Vorstellung von Repräsentation, Ökonomie und Arbeit, die für die Moderne an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert kennzeichnend ist. Es ist, wie der Titel sagt, eine ‚Arbeit an sich selbst‘.
Techniken der Zurückhaltungen in der Performancekunst Spätestens mit der Neoavantgarde lösen sich Zurückhaltung und Askese auf der Bühne aus dieser Zweck-Mittel-Relation. Unter dem Leitmotiv der ‚Aktion‘ etabliert sich mit Happeningbewegung, Wiener Aktionismus und Body-Art ein prozess- und handlungsorientiertes Kunstverständnis, in dessen Zentrum ausladende, selbstreferentielle und überbordende Gesten stehen, etwa: durch Papierbahnen springen, auf Farbbeutel schießen, den Wald fegen, mit Schlamm kämpfen oder in Tierkadavern wühlen.18 Doch obwohl in diesen
17 Konstantin Stanislawski: Die Arbeit des Schauspielers an sich selbst, Teil II, S. 333. 18 Die Aktionen bezeichnen in ihrer Reihenfolge: Saburo Murakami: Durchbruch durch zahlreiche Papierwandschirme (Japan 1956), Niki de Saint Phalle: Tir de l’assemblage (1961), Allan Kaprow: Sweeping (Woodstock 1962), Kazuro Shiraga: Kämpfen mit Schlamm (Japan 1955), Hermann Nitsch: Orgien Mysterien Theater (Wien 1967). Vgl. Paul Schimmel (Hg.):
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Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis Kunstformen das Handeln und Tun bzw. die Verausgabung und Überschreitung zur zentralen Referenz werden, verdanken sie sich einer Reihe von Selbstbeschränkungen und Restriktionen. Die Aktionskunst ist – so meine These – entgegen ihrem aktivistischen Selbstverständnis durch eine Vielzahl von Techniken der Zurückhaltung geprägt. Dabei beschränkt sich die Zurückhaltung nicht nur auf die künstlerische Entscheidung, etwas zu unterlassen, um dadurch, wie Groys sagt, ‚Neues‘ zu produzieren.19 Sie erschöpft sich auch nicht in einer Reduktion der Darstellungsmittel, wie dies für die Minimal Art oder die Arte Povera kennzeichnend ist, sondern die Zurückhaltung wird als physischer Akt ausgestellt, das heißt am und mit dem eigenen Körper vor einem Kollektiv in Szene gesetzt. Dabei lassen sich (mindestens) drei verschiedene Techniken unterscheiden: (a) die Integration traditioneller Kulturtechniken der Askese wie Nahrungsentzug, meditative Versenkung und das sich einer widrigen Umwelt Aussetzen; (b) der Einsatz von Instrumenten und technischen Hilfsmitteln zur Behinderung oder Arretierung des Körpers; (c) die Erstarrung der Darsteller zum Bild oder Objekt in Tableau vivant und Living Sculpture. Wie die folgenden Beispiele zeigen, treten die genannten Elemente zumeist in Überschneidung auf und sind selten nur einer Künstlerposition oder Inszenierung zuzuordnen. Formen der Zurückhaltung werden eingesetzt, um künstlerische Wagnisse oder Prüfungen zu erzeugen. Zu solchen Aufführungen körperlicher Selbstgefährdung oder Selbstverletzung – die auch als Endurance-Art bezeichnet werden20 – gehören etwa die Arbeiten des amerikanischen Künstlers Chris Burden. In seinem Five Day Locker Piece von 1971 zeigte Burden eine radikale Variante der Selbstbeschränkung, als er sich fünf Tage lang in ein Schließfach der University of California einschließen ließ, das ca. 60 mal 60 mal 90 cm groß war. In dem Schließfach über ihm befanden sich fünf Gallonen Wasser, in dem Schließfach unter ihm eine leere Gallone für Urin, so dass der Körper des Eingesperrten zugleich Teil einer geschlossenen Kreislauf-Installation wurde. Wie bei den religiösen Asketen Out of Actions. Aktionismus, Body Art & Performance 1949-1979, Ausst.Kat., Wien/Ostfildern 1988. 19 Solche Positionen des künstlerischen Unterlassens wurden 2009 in der Ausstellung Vides/Voids im Centre Pompidou Paris und in der Kunsthalle Bern gezeigt. Vgl. Vides. Une Rétrospective / Voids. A Retrospective, Ausst.-Kat., Zürich 2009. 20 In Erweiterung des Begriffs ‚Body Art‘ markiert die Bezeichnung ‚Endurance Art‘ nicht nur den Gegenstand künstlerischen Handelns, sondern eine spezifische Art und Weise des Umgangs damit. Vgl. Performing Arts Journal 54, 18.3 (1996), S. 66-70.
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Barbara Gronau in ihrer Klause, war auch hier die physische Qual des Eingesperrtseins den Blicken der Zuschauer entzogen, so dass sich das Spektakuläre der Inszenierung nur in der Imagination des Publikums bzw. im nachträglichen Erfahrungsbericht des Künstlers entfalten konnte. 21 Eine extreme Form physischer Restriktion hat Peter Weibel in seiner Performance Raum der Sprache von 1973 gezeigt. Indem er seine Zunge mehrere Stunden lang in hart werdendem Beton versenkte, versuchte er eine „Skulptur mit angeschlossenem lebendem Organismus“ zu kreieren. Nach „extremen Angstzuständen und körperlicher Anstrengung“ wurde die Zunge beim Herauslösen verletzt, was Weibels Intention, unseren Beschränkungen durch die Sprache Ausdruck zu geben, in geradezu existenzieller Weise verdeutlichte.22
Peter Weibel, Raum der Sprache, Wien 1973 Selbst wenn die Zurückhaltung nicht als physische Grenzerfahrung inszeniert wird, liegt in der restriktiven Stillstellung des Körpers immer auch ein Moment seiner Verdinglichung. Auf einprägsame Weise führt dies seit Jahren die Künstlerin Vanessa Beecroft vor, die mit dem Ausstellen von nackten, sprach- und bewegungslosen Frauenkörpern Anschluss an die Kunsttradition des Tableau vivant
21 „I was locked in locker No. 5 for five consecutive days and did not leave the locker during this time. The locker measurements were two feet high, two feet wide, three feet deep (60x60x90cm). I stopped eating several days prior to entry, thereby eliminating the problem of solid waste. The locker directly above me contained five gallons of bottled water; the locker below me contained an empty five-gallon bottle.“ Vgl. Peter Noever (Hg.): Chris Burden. Beyond the limits – jenseits der Grenzen, Ausst.-Kat. MAK, Wien/ Ostfildern 1996. 22 Peter Weibel: Mediendichtung, Wien/München 1982, S. 55; www.peterweibel.at (letzter Zugriff: 01.03.2010).
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Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis sucht und die Darstellerinnen einer Reihe von Restriktionen unterwirft: „Bitte nicht sprechen. Seien Sie unkompliziert. Seien Sie natürlich. Schauspielern Sie nicht. Posieren Sie nicht. Stehen Sie still. Seien Sie gleichgültig. Interagieren Sie mit niemandem. Flüstern Sie nicht. Lachen Sie nicht. Bewegen Sie sich nicht theatralisch. Bewegen Sie sich nicht zu schnell. Bewegen Sie sich nicht zu langsam. Stellen Sie keinen direkten Blickkontakt her. Behalten Sie Ihre Körperhaltung und Position bei, solange Sie können. Behalten Sie Ihren zugewiesenen Platz im Kopf. Amüsieren Sie sich nicht mit den anderen. Wechseln Sie zwischen Ruheposition und Stehen ab. Wenn Sie müde sind, setzen Sie sich hin. Wenn Sie weggehen müssen, gehen Sie leise. Konzentrieren Sie sich auf sich selbst. Fühlen Sie sich groß. Seien Sie nicht gedanklich oder körperlich nachlässig. Seien Sie emotional stark. Handeln Sie aus keinem Grund sinnlich. Seien Sie in Ihren Haltungen klassisch. Seien Sie distanziert. Seien Sie allein. Seien Sie unabhängig. Seien Sie still.“23
Die Nacktheit, die in den Living Installations von Vanessa Beecroft inszeniert wird, gerinnt nicht nur – wie Giorgio Agamben betont hat – zum Sinnbild der „äußerste[n] und aussichtsloseste[n] Lage des Massenmenschen“, sondern geht aus der „Komplizenschaft von Ware und Theologie“ hervor.24 Die Logik der Ware findet ihren bezeichnenden Ausdruck in Vanessa Beecrofts Installation nackter Frauen im Warenregal neben Luis-Vuitton-Taschen zur Eröffnung des Pariser Espace Luis Vuitton 2006. Aus der vollkommen entgegengesetzten Perspektive ist die amerikanische Happeningbewegung in den 1960er Jahren angetreten, der Warenförmigkeit der Kunstwerke die Flüchtigkeit und Unkontrollierbarkeit kollektiver Aktionen entgegenzusetzen. Doch in vielen von Allan Kaprow initiierten Arbeiten treten stumme, reglose Akteure (oder besser Nicht-Akteure) auf, die wie Skulpturen auf Sockeln sitzen,25 nackt auf einer Bahre liegen, im Sand eingegraben sind26 oder in Säcke gehüllt durch die Stadt gefahren und in der Bahn23 Beecrofts Anweisung an die Darstellerinnen der Aktion VB 55 in der Neuen Nationalgalerie Berlin am 8. und 9. April 2005, siehe: Sheer to Waist, Film von Marikke Heinz-Hoek, 2005 unter: http://video.google.com/videoplay? docid=-3874983718872768613# (letzter Zugriff: 01.03.2010). 24 Giorgio Agamben: „Das verlorene paradiesische Kleid. Theologie der Nacktheit: Vanessa Beecrofts Berliner Performance“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. April 2005, Nr. 84, S. 37 (aus dem Italienischen von Andreas Hiepko). 25 Eat (New York 1964); vgl. Philip Ursprung: Grenzen der Kunst. Allan Kaprow und das Happening. Robert Smithson und die Land Art, München 2001, S. 114f. 26 A Service for the Dead (New York 1962); vgl. Philip Ursprung: Grenzen der Kunst, S. 112-116.
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Barbara Gronau hofshalle abgelegt werden27. Hier trifft zu, was Susan Sontag in ihrer Analyse der frühen New Yorker Happenings beobachtet hatte: „Menschen werden in Happenings oft so eingesetzt und ausstaffiert, dass sie wie Gegenstände wirken. […] Ein Großteil der Aktion der Happenings ist durch diesen Einsatz der Person als Gegenstand gekennzeichnet. Es wird ausgiebiger und intensiver Gebrauch von der physischen Person der Darsteller gemacht […].“28 Es scheint, als hätte das postdramatische Theater der Askese mit der Abkehr vom realistischen Schauspielstil und der Hinwendung zu dem was Michael Kirby treffend als „non-matrixed acting“29 bezeichnet hat, die Darsteller in reines Material verwandelt.
Dialektik des Verzichts Ich möchte mich abschließend einem Beispiel zuwenden, in dem sich die drei Techniken der Zurückhaltung – Arretierung, Objektwerdung, Nahrungsentzug und Exponierung – überschneiden und das zudem die Doppelstruktur der Askese, die Verbindung aus Verzicht und Übung, besonders deutlich werden lässt, nämlich Marina Abramovićs Arbeit The House with the Ocean View. Am Freitag, den 15. November 2002, um elf Uhr morgens, trat die ganz in Weiß gekleidete Performancekünstlerin Marina Abramović vor das Publikum der New Yorker Sean Kelly Gallery, ließ ihr Gewicht auf einer Waage messen, umarmte den Galeristen in Abschiedsmanier und begab sich auf eine spartanisch eingerichtete Empore in zwei Metern Höhe. Die dreiteilige Konstruktion schwebte am Ende des Raumes und war zum Fußboden hin mit Leitern verbunden, die an Stelle der Sprossen die blanken Klingen von dicken Fleischermessern trugen. Ausgestattet mit einer Liege, einem Stuhl, einem Tisch, einem Metronom, einer Dusche und einem WC aus Holz stellte sich die Künstlerin hier während der nächsten eineinhalb Wochen Tag und Nacht vor den Augen der Galeriebesucher aus. Die Art und Weise ihrer Exponierung regelte ein Set restriktiver Bedingungen der Stille und des Fastens, das an die Lebensregeln eines mittelalterlichen Klosters erinnerte: 27 Calling (New York and South Brunswick 1965); vgl. Philip Ursprung: Grenzen der Kunst, S. 116-120. 28 Susan Sontag: „Happenings. Die Kunst des radikalen Nebeneinanders“ (1962), in: dies.: Geist als Leidenschaft, Leipzig/Weimar 1989, S. 73-85, S. 77. 29 Siehe Michael Kirby: „Schauspielen und Nicht-Schauspielen“, in: Jens Roselt (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, Berlin 2005, S. 361-375.
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Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis „Duration of the piece: 12 days Food: no food Water: large quantity of pure mineral water Talking: no talking Singing: possible but unpredictable Writing: no writing Reading: no reading Sleeping: 7 hours a day Standing: unlimited Sitting: unlimited Lying: unlimited Shower: 3 times a day“30
Marina Abramović, The House with the Ocean View, New York 2002 Abramovićs The House with the Ocean View lässt sich als Aufführung einer Selbstbeschränkung lesen, deren Kern die beiden Grunddimensionen der Askese – der Verzicht und die Übung – bilden. Am Beginn der von ihr als Living Installation bezeichneten Arbeit steht eine gezielte Unterlassung, das heißt der Verzicht auf das Ausführen einer erwartbaren Handlung.31 Dieser Verzicht galt der 30 Marina Abramović: The House with the Ocean View, Mailand 2004, o.S. 31 „Zur Unterlassung kommt es nur, wenn die ausgeschlagene Handlung eine ist, die aus irgendeinem Grund angebracht oder erwartbar gewesen wäre. […] Unterlassen ist entsprechend der Verzicht auf das Ergreifen von Verhaltensmöglichkeiten durch den Vollzug äußerer oder innerer Handlungen“, Martin Seel: „Kleine Phänomenologie des Lassens“, in: ders.: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 270-278, S. 270f. Zu bedenken ist allerdings, dass Seels Definitionskriterium der „Erwartbarkeit“ gebotener Handlung im Rahmen künstlerischer Darstellung aufgrund ihres Spielcharakters schwer auszumachen ist. Vgl. dazu Barbara Gronau: „Eine Bühne für das Unterlassen – theatrale Formen des Nichttuns“, in: dies./Alice Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien 2008, S. 67-76.
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Barbara Gronau Nahrung, der Kommunikation und der Bewegung, und in gewissem Maße auch der künstlerischen Darstellung selbst, denn hier wurden keine Worte, gesprochen, keine Figuren dargestellt, und von einer aufgeführten ‚Aktion‘ zu sprechen, macht nur in Verbindung mit einer kalkulierten Passivität Sinn. Der monastische Habitus, der das Fasten, die Stille und die alltäglichen Rituale des Sitzens, Schlafens und Waschens thematisch verklammerte, erinnerte dabei an die christlichen Fasten- und Reinigungsregeln oder die indischen Praktiken des Vipassana (der zwölftägigen Meditationseinkehr), des Pranayama (der Atemkontrolle) und des Trataka (der Blickversenkung) und erweckte so bei einigen Zuschauern den Eindruck eines „meditation retreat made in public“.32 Abramovićs dauerhafte Exponierung vor den Augen des Publikums, die zudem von einem im Galerieraum angebrachten Fernglas unterstützt wurde, zitiert darüber hinaus die antiken Praktiken der Anachoreten, sich in unwirtlichen Gegenden wie der Wüste oder einem Gebirge, den Herausforderungen des Unbehaustseins zu stellen oder – im Falle der Styliten – ihr Leben vor den Augen der Gläubigen auf der Plattform hoher Säulen zu verbringen. Die Zurückhaltung war jedoch nicht nur das Thema, sondern auch der Modus von Abramovićs Darstellung. Untermalt vom Rhythmus des immer wieder aufgezogenen Metronoms wurden hier vor allem „rituals of daily life“33 präsentiert. Der siebte Tag verzeichnete etwa: „[…] getting dressed, filling the glass, drinking water, sitting on the chair, sitting on the bed, walking back and forth, standing at the front, filling the glass, drinking water, standing at the back, crouching at the back, filling the glass, drinking water, peeing, sitting on the chair, standing at the front, blowing my nose, sitting on the bed and singing, filling the glass, drinking water, peeing and singing, walking back and forth […].“34
Das ausführliche Protokoll dieser repetitiven Vorgänge umfasst einhundert Druckseiten. Der ermüdende Eindruck, den die Lektüre hervorruft, steht allerdings im Gegensatz zur sensationellen öffentlichen Anteilnahme, die der Aktion entgegengebracht wurde. Hunderte von Menschen suchten die Galerie während der zwölf Tage auf, harrten stundenlang bei der Künstlerin aus oder verfassten Minuten-Protokolle ihrer Erlebnisse im Galerieraum, und am Ende fand
32 Thomas McEvilley: „Performing the Present Tense“, in: Marina Abramović: The House with the Ocean View, S. 167-169, S. 168. 33 RoseLee Goldberg: „The Theater of the Body“, in: Marina Abramović: The House with the Ocean View, S. 157-159, S. 158. 34 Marina Abramović: The House with the Ocean View, S. 95-97.
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Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis die Aufführung (nachgestellt mit einem Abramović-Double) sogar Eingang in die Fernsehserie Sex and the City.35 Die Frage, warum das öffentliche Ausstellen eines Nichttuns so starke kollektive Resonanzen entfalten konnte, lässt sich mit dem Verweis auf die voyeuristische Seite der Inszenierung kaum erklären. Was die Galeriebesucher zu sehen bekamen, war ein Kunststück mit äußerst geringem Schauwert. Und trotzdem scheint der Eindruck der Galeriebesucher, „this theatrical work of waiting was suspensful as any production by Samuel Beckett“,36 die zentrale Intention Marina Abramovićs eingelöst zu haben, eine intensitätsgeladene Verbindung zum Publikum herzustellen. Das Ziel der Aktion bestand nämlich darin, mittels Askese ein „Energiefeld“ zu erzeugen bzw. zu manipulieren, das sowohl die Künstlerin selbst als auch den Galerieraum und das Publikum tangieren sollte: „This performance comes from my desire to see if it is possible to use simple daily discipline, rules, and restrictions to purify myself. Can I change my energy field? Can this energy field change the energy field of the audience and the space?“37
So diffus der Begriff der Energie hier zunächst erscheint, mit ihm wird etwas markiert, das sich als dialektische Ökonomie der Askese beschreiben lässt: eine Produktion qua Negation. Aus dem Nichts, der Leere, dem Warten, der Ereignislosigkeit soll etwas emergieren, das als Erleuchtung, als energetische Schwankung, als Überschuss oder sinnliche Erfahrung wirksam wird. Diese Dialektik aus Verzicht und Gewinn lässt sich als Grundregel der Askese beschreiben. Stets geht es darum, durch Selbstbeschränkung eine Befreiung, im selbst gewählten Mangel eine Fülle oder im Nichts eine Befriedigung zu erlangen. Für „Entsager ist Askese eben nicht Verzicht, sondern Gewinn: Erst diese macht den Menschen zum Menschen, unterscheidet ihn vom triebhaften Tier, gibt ihm Würde und Gottesebenbildlichkeit.“38 Im Fall von The House with the Ocean View richtet sich diese Dialektik auf das Erzeugen einer transpersonalen Verbindung, die den Charakter einer Widerfahrnis besitzt. Denn die Restriktionen, die von der Künstlerin in Szene gesetzt werden, sollen eine physische und mentale Reinigung in Gang setzen, die über das einzelne Subjekt hinaus wirksam wird. Die künstlerische Rede von der Energie ist – so scheint mir – als spezifischer Ausdruck ei35 Sex and the City, Season 6, Episode 86, Production: HBO, Directed by David Frankel, Written by Michael Patrick King. 36 RoseLee Goldberg: „The Theater of the Body“, S. 157. 37 Marina Abramović: The House with the Ocean View, o.S. 38 Axel Michaels: Die Kunst des einfachen Lebens. Eine Kulturgeschichte der Askese, München 2004, S. 119.
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Barbara Gronau ner säkularisierten Askese zu deuten. Dort, wo die religiöse Askese eine Transgression der Immanenz anstrebt, also das Göttliche, Heilige oder die innere Freiheit zum Ziel hat, suchen die von mir angesprochenen Künstler mit der Energie ein immaterielles und doch alle Daseinsebenen durchdringendes Prinzip zu umschreiben, eine Art neuzeitliche Transzendenz. Auch wenn energetische Prozesse bei jeder Handlung und Bewegung des Körpers ablaufen, so sind sie zumeist unsichtbar. Ein redundantes Motiv künstlerischer Produktion besteht deshalb darin, das Unsichtbare sichtbar werden zu lassen. Wahrnehmbar werden energetische Prozesse vor allem als Energieschwankung, etwa durch physische Transformationen. Aktionen mit langer zeitlicher Dauer, das Stehen mit großer Körperspannung oder das Halten des Körpers im Ungleichgewicht sind „Ausnahmetechniken“ (Eugenio Barba), die solche Schwankungen hervorrufen. Im Zittern, Schwanken und Weinen, aber auch im Gewichtsverlust materialisieren sich die energetischen Prozesse sichtbar nach außen. Auch deshalb steigt die Künstlerin Marina Abramović am Ende von The House with the Ocean View wie eine Hungerkünstlerin auf die Waage. Das verlorene Körpergewicht soll bezeugen, dass hier bei allem Nichttun eine körperliche Tätigkeit verrichtet wurde. Askese ist Arbeit.
Literatur Abramović, Marina: The House with the Ocean View, Mailand 2004. Agamben, Giorgio: „Das verlorene paradiesische Kleid. Theologie der Nacktheit: Vanessa Beecrofts Berliner Performance“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 12. April 2005, S. 37 (aus dem Italienischen von Andreas Hiepko). Beacham, Richard C.: Adolphe Appia, Künstler und Visionär des modernen Theaters, Berlin 2006. Brandstetter, Gabriele: „Der Körper als Ornament. Zwischen Exerzitium und Exercise: die Ästhetisierung der Askese“, in: Irmela Marei Krüger-Fürhoff/Tanja Nusser (Hg.): Askese. Geschlecht und Geschichte der Selbstdisziplinierung, Bielefeld 2005, S. 133–144. Brown, Peter: Die Keuschheit der Engel. Sexuelle Entsagung, Askese und Körperlichkeit am Anfang des Christentums, München 1991. Diezemann, Nina: Die Kunst des Hungerns. Essstörungen in Literatur und Medizin um 1900, Berlin 2006.
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Das Theater der Askese. Zurückhaltung als ästhetische Praxis Ellmann, Maud: Die Hungerkünstler. Hungern, Schreiben, Gefangenschaft, Stuttgart 1994. Foucault, Michel: „Technologien des Selbst“, in: ders.: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst, Frankfurt a. M. 2007, S. 287–317. Goldberg, RoseLee: „The Theater of the Body“, in: Marina Abramović: The House with the Ocean View, S. 157–159. Gronau, Barbara: „Eine Bühne für das Unterlassen – theatrale Formen des Nichttuns“, in: dies./Alice Lagaay (Hg.): Performanzen des Nichttuns, Wien 2008, S. 67–76. Groys, Boris: „Strategien der künstlerischen Askese“, in: Konrad Paul Lissmann (Hg.): Im Rausch der Sinne: Kunst zwischen Animation und Askese, Wien 1999, S. 145–170. Heutger, Nicolaus: „Symeon Stylites der Ältere“, in: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon, Bd. XI, Nordhausen 1996, Spalten 353–356 (im Internet unter: http://www.bautz.de; letzter Zugriff: 01.02.2010). Kirby, Michael: „Schauspielen und Nicht-Schauspielen“, in: Jens Roselt (Hg.): Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock bis zum postdramatischen Theater, Berlin 2005, S. 361– 375. McEvilley, Thomas: „Performing the Present Tense“, in: Marina Abramović: The House with the Ocean View, S. 167–169. Meyerhold, Wsewolod: „Der Lehrer Bubus und das Problem der Spielweise mit Musik“, in: ders.: Schriften, Bd. II, Berlin 1979, S. 58–87. Michaels, Axel: Die Kunst des einfachen Lebens. Eine Kulturgeschichte der Askese, München 2004. Noever, Peter (Hg.): Chris Burden. Beyond the limits – jenseits der Grenzen, Ausstellungskatalog MAK Wien/Ostfildern 1996. Payer, Peter: Hungerkünstler. Eine verschwundene Attraktion, Wien 2002. „Professor Virchow über Cetti“, in: Berliner Zeitung vom 27. März 1887, Morgenausgabe (ohne Autor). Pulz, Waltraud: „Askese, Charisma oder Krankheit? Bedeutung und Funktion frühneuzeitlicher ‚Fastenwunder‘“, in: Irmela Marei Krüger-Fürhoff/Tanja Nusser (Hg.): Askese. Geschlecht und Geschichte der Selbstdisziplinierung, Bielefeld 2005, S. 43–54. Schimmel, Paul (Hg.): Out of Actions. Aktionismus, Body Art & Performance 1949–1979, Ausst.-Kat., Wien/Ostfildern 1988. Seel, Martin: „Kleine Phänomenologie des Lassens“, in: ders.: Sich bestimmen lassen. Studien zur theoretischen und praktischen Philosophie, Frankfurt a. M. 2002, S. 270–278. Sloterdijk, Peter: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009.
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Ästhetik des Unterlassens. Zur Geschichte des Nicht-Geschehenen: Intervento minimo BAZON BROCK
Woran ich Euch erinnert habe: Asketen des Luxus – Gründung eines Konvents der goldenen Essstäbchen in München (2005) Der Konvent versammelt Künstler, Vermittler, Wissenschaftler, gelehrte Geschäftsfrauen und Hausmänner, also jedermann und jede Frau, die Liebe als Strategie der Nachhaltigkeit praktizieren –, die also zu sozialer Passion fähig sind. Diese Formen der Nachhaltigkeit lassen sich generalisieren. Die historisch nachweislich erfolgreichste Form ökologischer, ökonomischer, hygienischer und ästhetischer Sorge und Fürsorge, kurz, Nachhaltigkeit, ist durch Luxurieren als Ausdruck der Askese zu erreichen. Dieses Prinzip vergegenwärtigen die goldenen Essstäbchen. Wenn wir Milliarden asiatischer Essstäbchenbenutzer unsere goldenen Essstäbchen überreichen würden, müssten die erhabenen Wipfel südamerikanischer Urwälder nicht dem Holzraub zum Opfer fallen, der zur Fertigung hölzerner Essstäbchen betrieben wird. Also erweist sich hier Luxurieren als tatsächlich erfolgreiches Prinzip ökologischer Sorge, soweit wir mit Gründen vermuten können, dass goldene Essstäbchen auch nicht umstandslos in den Müll verfrachtet werden, wie das mit hölzernen oder mit Besteck aus Plastik geschieht. Es lässt sich leicht errechnen, dass die Kosten für ein paar hochwertiger goldener Essstäbchen pro wässrigem Mund sehr viel geringer sind als die Kosten für die lebenslange tägliche Anschaffung von drei Paar hölzernen Essstäbchen. Durch diese Rechnung erweist sich Luxurieren auch als das ökonomisch sinnvollste Konzept. Goldene Askese, wussten die Aristokraten des Stammbaums
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Bazon Brock und des Stils immer schon, heißt: Das Kostbare ist das Billigste, wenn es Generationen überdauert und dadurch seinen Wert noch steigert. Im Ästhetischen bewährt sich Askese durch Luxurieren am Beispiel der goldenen Essstäbchen nach dem Generalmotto der Moderne: less is more. Die Stäbchen, jeweils von Meistern des Reduktionismus entworfen, verkörpern geradezu die Gestalt des Weniger, auch wenn man als Kritiker der konzeptionellen reduktionistischen Moderne behauptet, less is less and more is more. Und schließlich nimmt Gold keinen Schmutz an. Die goldenen Essstäbchen sind das Emblem der Lebensreformmoderne „GeSoLei“ – Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen. Mit der sozialen Fürsorge schließt sich die Gemeinschaft der Liebenden aus sozialer Passion zur Tafelrunde zusammen, an der wir uns üben, das Unterlassen als nachhaltigste Form des Handelns zu verstehen. Askese heißt eben Ethik des Unterlassens als anspruchsvollste Form des Tuns. Dafür steht die phrygische Mütze, das revolutionäre Zeichen überwundener Kultureselei. Denn König Midas schuf diese Mütze, um die ihm vom Gotte Dionysos verpassten Eselsohren zu bedecken – eine pädagogisch wertvolle Maßnahme, weil der König auf diese Weise ständig daran erinnert wurde, wie armem Geiste und schwachem Charakter der Wunsch von Menschen entspringt, es möge sich alles, womit sie zu tun haben, in Gold verwandeln, und jede Unternehmung zur Gewinnmaximierung führen, weil das Maß aller Dinge das finanzamtlich eingeforderte Gewinnstreben sei. Gegen dieses Diktat der Ökonomisierung von Liebe, Recht, Bildung und sozialer Passion tritt der Konvent der goldenen Essstäbchen an.
Was ich Euch da neulich erzählt habe: Lustmarsch durchs Theoriegelände (2006) Jüngst, im Sommer 2006, habe ich in meinem Programm „Lustmarsch durchs Theoriegelände“ die Ästhetik des Unterlassens mit einem „Festival der Zivilisationsheroen“ auf dem Radlpass an der Grenzstation zwischen Österreich und Slowenien in Erinnerung gerufen. Das zielt auf eine grundlegende Umorientierung in der Bewertung von Handelnden und Aktivisten im Bereich des gesellschaftlichen Lebens – vom Kulturheros zum Zivilisationsheros. Wir wollten wissen, wie weit wir von dieser Umorientierung, von der Feier der Glorie des Außerordentlichen hin zur Würdigung der Sensation des Normalen, noch entfernt sind. Auf dem Radlpass versuchten wir, eine Würdigung derjenigen zu entwickeln, die nach allgemeinem Verständnis mit der Bewahrung der zivilisatorischen Grundsi-
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Ästhetik des Unterlassens. Zur Geschichte des Nicht-Geschehenen cherung von Alltagsleben beauftragt sind, also der Feuerwehrleute, der Notfalldienste, der Polizei, des THW und des Roten Kreuzes, derjenigen also, denen die Pflicht zur Rettung in ihren Tätigkeitsfeldern vertraut ist. Nach Meinung der höchsten wissenschaftlichen Autoritäten rangieren immer noch Personen und Personengruppen als Souveräne an erster Stelle, denen es gelingt, wie der Staatsrechtler Carl Schmitt es formulierte, über den Ausnahmefall, über die Außerordentlichkeit, über das große Ereignis zu bestimmen. Wir wissen aber, dass inzwischen jeder mit ein bisschen Dynamit sofort in jeder Großstadt, in jedem U-Bahnschacht etwas Außerordentliches inszenieren kann. Es gilt also längst, dass nicht mehr derjenige souverän ist, der den Ausnahmezustand erzwingt. Souverän ist nur noch, wer den Normalzustand garantiert. Die Zivilisationsagenten, Feuerwehrmänner, Rettungseinsatzkräfte, Ärzte im fliegenden und rollenden Verkehr sind für eine Gesellschaft die Garanten, dass überhaupt das Normal-Null der Ereignislosigkeit gewährleistet werden kann.
Logo für die ‚Asketen des Luxus‘ Wir als Künstler und Wissenschaftler werden normalerweise danach eingeschätzt, inwiefern es uns gelingt, etwas Außerordentliches als Ereignis zustande zu bringen. Heroen der Zivilisation gelingt es, dafür zu sorgen, dass nichts Entscheidendes geschieht. Was wir retten sollten, ist die Rettung der Ereignislosigkeit in einer Zeit, wo jeden Tag rund um die Uhr jeder Fernsehsender, jede Hochschule, jedes Theater das gesamte lebendige Dasein der Menschen als ereignishaft vermarktet. Allmählich wird es unlogisch, sich auf diese Ereignisse überhaupt noch einzulassen, da sich ihnen gegenüber ohnehin nichts mehr absetzen lässt. Handelt es sich um ein Großereignis, dass ein Flugzeug abstürzt oder ein Brand ausbricht? Ist es nur 149
Bazon Brock deswegen eine Einmaligkeit, weil es sehr selten auftritt? Es tritt nur deswegen als Ereignis mit Seltenheitswert auf, weil es Menschen gibt, die das normale Auftreten dieser Außerordentlichkeit von Abstürzen, Bränden und Unfällen verhindern. Unter den Entwicklungen der modernen Zivilisation gilt nicht mehr als die Aufmerksamkeit fesselnd, was spektakulär, großartig, noch nie dagewesen ist, weil derartiges täglich berichtet wird. Eine Einmaligkeit jagt die andere, die Überbietungskonkurrenz hat sich schon so weit erschöpft, dass man es nur noch als sensationell empfindet, wenn es nichts Außerordentliches zu behaupten gibt. Zur Größe eines zivilisatorischen Ausdrucks gehört die Fähigkeit, das Nicht-Ereignis zu schätzen. Wir möchten zum Bewusstsein bringen, inwieweit und auf welche Weise uns diese Umkehr in der Wertigkeit bereits beeinflusst. Als wir im Frühjahr 2006 im Karlsruher ZKM mit unserem Theoriemarsch anfingen, streikte dort die Müllabfuhr. Obwohl deren Tätigkeit in der Hierarchie der Kulturschöpfer so niedrig rangiert, dass sich für eine derartige Arbeit niemand mit ausgewiesener Berufsqualifikation zur Verfügung stellt, macht sich der Ausfall der Müllabfuhr sofort lähmend auf das gesamtgesellschaftliche Geschehen bemerkbar: ein krasses Missverhältnis von Bedeutung der Arbeit und ihrer öffentlichen Anerkennung. Wenn der Regierungspräsident, der Oberbürgermeister oder ähnlich hochrangiges Personal streiken, berührt diese Tatsache das Leben einer Großstadt in keiner Weise. Wenn aber die Müllabfuhr oder die Feuerwehr streiken, dann zerfällt das Zusammenleben der Menschen unter halbwegs antizipierbaren Bedingungen. Es ist offensichtlich, dass die faktische Bedeutung den hierarchischen Klassifikationen nicht entspricht. Die Bedeutung dieses Verständnisses von Zivilisierung wird dadurch verstärkt, dass auch die christliche Ethik mit dieser Handlungsform übereinstimmt. Es ist klar, dass die Zehn Gebote im Grunde Gebote des Unterlassens sind. Die Aufforderungen zum Unterlassen lauten: Du sollst nicht ehebrechen, du sollst nicht stehlen, du sollst nicht töten usw. Wenn uns allen gleichermaßen bewusst wäre, dass die Ethiken aller Zivilisationen auf Unterlassungsgeboten beruhen, dann sollte das in der Wertschätzung historischen Geschehens dazu führen, statt Religionsstifter und Kriegsherren diejenigen zu ehren, die nicht Schlachten schlagen. In der Diskussion über die Durchsetzung eines generellen Rauchverbots spielte die Überlegung eine Rolle, dass es, wie jeder Raucher weiß, sehr viel mehr Anstrengung, mehr Aktivität, mehr Selbstbeherrschung, also generell mehr erfolgreichen Verzichts bedarf, nicht zu rauchen, als zu rauchen. Zu rauchen ist eine nachgerade lachhafte Selbstverständlichkeit geworden, der wir keine Be-
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Ästhetik des Unterlassens. Zur Geschichte des Nicht-Geschehenen achtung mehr schenken. Aber nicht zu rauchen, verdient unsere Aufmerksamkeit. Durch die Mithilfe der Krankenkassen, die mit einer Erhöhung der Beiträge für Raucher wegen Selbstschädigung drohten, ist das Rauchverbot ja mittlerweile durchgesetzt. Zusätzlich zu dem bereits eingeführten Rauchverbot müsste jedoch noch ein Kult der Verehrung von ehemaligen Rauchern etabliert werden. In der modernen Kunst begegnen wir in Marcel Duchamp demjenigen Künstler, der durch den Übergang von der Bewertung großartiger einmaliger Leistungen auf Leinwand oder Bühne hin zur Würdigung des Unterlassens herausragende Einsichten gewährte. Duchamp ermöglichte die Anerkennung des Verzichts auf künstlerische Werktätigkeit. Dennoch will heute jedermann seine künstlerische Selbstentäußerung als Maler oder Bildhauer einer Öffentlichkeit präsentieren. Allein in der BRD gibt es zehntausende eingetragene, nämlich bei Finanzämtern registrierte Künstler. Was soll es da noch bedeuten, auch zu pinseln, auch zu bildhauern und auch zu schauspielern? Wir rühmen daher all diejenigen, die soweit zivilisiert sind, dass sie den Wert des Unterlassens im Bereich der Wissenschaft und der Künste zugunsten einer neuen Orientierung auf die Bedeutung des menschlichen Handelns als Unterlassen darstellen. Niemand weiß, was im absoluten Sinne gut, wahr oder schön ist. Wir wissen aber alle genau, was es zu unterlassen gilt an unguten, unwahren und unschönen Handlungen. Inzwischen haben wir angesichts weltweiter permanenter Kulturkämpfe allen Anlass, uns daran zu gewöhnen, dass die höchstrangigen Leistungen einer Zivilisation in der Sicherung des Friedens bestehen. Frieden heißt die Feier des Nicht-Ereignisses. Frieden existiert nur, wo es niemand nötig hat, sich in irgendeiner Weise hervorzutun, etwas Beliebiges in auffälliger Weise so zu behaupten, dass aus der Entgegnung ein Konflikt entsteht. Frieden ist die Souveränität der Möglichkeit, still in einem Zimmer zu sitzen, wie es bei Pascal heißt.1 Nur derjenige ist souverän und normal ethisch funktionstüchtig, der es versteht, ohne den ständigen Drang zum Außerordentlichen zu leben, weil er Phantasie genug besitzt, die aufgeilenden Attraktionen gedanklich zu produzieren, für seinen Gefühlshaushalt zu nutzen und sie dann auf sich beruhen zu lassen.
1
„Wenn ich mir mitunter vornahm, die vielfältigen Aufregungen der Menschen zu betrachten […] so fand ich, daß alles Unglück der Menschen einem entstammt, nämlich daß sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer zu bleiben […]. Die Unterhaltung und die Zerstreuung des Spiels sucht man nur, weil man nicht fähig ist, […] zu Hause zu sein.“ (Blaise Pascal) Siehe Kapitel „Musealisiert euch! Eröffnungsspiel: Preußische Partie“.
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Bazon Brock
DIE STILLE DER EREIGNISLOSIGKEIT Aus der Reihe der bedeutenden Agenten der Zivilisierung heben wir die Hoteliers hervor. Sie traten höflich den wilden Rabauken und herumrotzenden Lümmeln entgegen und baten, im Hotel nicht auf den Boden zu spucken, nicht die Finger in die Soße zu stecken und nicht in die Ecke zu urinieren. Die Hoteliers waren Zivilisationsheroen, die den Naturburschen in ihren wilden Antrieben der Entäußerungskraft beizubringen hatten, dass ein zivilisierter Mensch nur derjenige sei, der derartige Machtgesten unterlässt.2 Was besagt schon eine Machtdemonstration, bei der jemand mit einer Kalaschnikow Dutzende von Menschen in ein paar Sekunden niedermäht, gegenüber dem Bemühen, deren Lebensführung zu erleichtern? Feuerwehr und medizinische Helfer nehmen zwar bei uns an nahezu jeder Kulturveranstaltung teil, werden aber nicht in ihrer objektiven Bedeutung gewürdigt, weil man die für völlig selbstverständlich erachtet. Seit sich Terroristen weltweit zu Herren der Lage aufgeschwungen haben, ist das aber leider nicht gewährleistet. Es bleibt zu hoffen, dass die Stille der Ereignislosigkeit, die Souveränität des Unterlassens, des Nicht-Tuns doch noch als höchste Erfüllung eines ethischen Anspruchs geschätzt und belohnt wird. Immer noch empfindet es die Mehrheit nicht nur als tolerierbar, sondern als wünschenswert, mit allem Nachdruck Dauerspektakeln ausgesetzt zu werden. Bei Protest gegen derart grundgesetzwidrige Verletzung der Integrität und damit der Würde des Menschen wird man vom Personal der Restaurants, Boutiquen, Arztpraxen mit schöner Regelmäßigkeit beschieden, man nehme den Musikterror nicht mehr wahr; auf den Hinweis, wenn das Personal den Terror gar nicht wahrnehme, könne man ihn unterlassen, heißt es ausnahmslos, der Lärm sei im Interesse der Kunden von der Direktion angeordnet. Auf den weiteren Hinweis, man sei selber Kunde und wünsche, verschont zu werden, lautet die Antwort: Sie können ja woanders hingehen – was aber unmöglich ist, da man inzwischen überall gezwungen wird, bei rabiatester Beatmusik zu essen, ohne Rücksicht auf die Physiologie. Beschwerden sind sinnlos, weil der Terror systemimmanent ist, was man spätestens feststellt, wenn man den angeblichen Kundenservice als Dauerverweis von einer Warteschleife des Call Centers auf die nächste erfährt.
2
Gerade Appelle an humanitäre Tugenden pflegen von der dringlichen Bitte begleitet zu werden, man möge alles in seiner Macht Stehende unternehmen, um …; an den Appell „Wir bitten Sie, alles in Ihrer Macht Stehende zu unterlassen“ konnte man sich noch nicht gewöhnen, denn er wurde selten gehört.
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INTERVENTO MINIMO Die historisch hoch stehenden Gegenbewegungen gegen den Aktionismus bildeten die Zen- und die Hindu-Religionen, sowie im Westen die Mystiker. Sie legten es stets darauf an, im Bewusstsein der Zeitgenossen die Würde der Stille, die Großartigkeit des Nichteingreifens oder wenigstens des intervento minimo, des kleinstmöglichen Eingriffs zu würdigen, anstatt dem intervento maximo, dem pompösen Eingreifen mit allen Mitteln zu huldigen. Intervento minimo bedeutet, mit einer Minimalbewegung etwas zu wenden. Einen tausend Jahre unbewegt ruhenden Stein umzudrehen, ist eine Sensation für jemanden, der noch weiß, was Ereignishaftigkeit bedeutet. Der Flügelschlag eines Schmetterlings oder das Umblättern einer Seite sind Formen des intervento minimo; obwohl es natürlich Gewürm geben mag, das sich selbst durch einen sanften Spaziergänger gestört fühlt, aber bei dem entschuldigt man sich als spirituell sensibler Buddhist oder Hinduist durch Glöckchen am Armgelenk oder an den Schuhen, damit das Getier rechtzeitig Reißaus nehmen kann. Wenn wir uns hier erstmalig offiziell als Anwärter auf die Ehrenmitgliedschaft als Dichter und Künstler bei der Feuerwehr und bei der Polizei bemühen, dann in dem hoffenden Bewusstsein, dass sich auch Polizei, Feuerwehr und Ärzteschaft bei ihren Interventionen zu Wasser, zu Lande und in der Luft langsam ihrer eigenen Würde bewusst werden und sich deswegen nicht mehr so rigide zeigen müssen, wie das häufig der Fall ist. Ein Polizist in der Würde desjenigen, der den Normal-Null-Fall des Nicht-Ereignisses garantiert, ist eigentlich in keiner Hinsicht mehr, selbst für empfindlichste Künstler, der Ausdruck einer zwingenden Macht oder Autorität. Wir feiern die Hausmeister in den Museen, das Reinigungspersonal, die Polizisten, die Straßenbahnschaffner, die Müllabfuhr als Souveräne der Normalität. Im Zuge der Entwicklung einer neuen Kulturhierarchie der Bedeutungen sollten sie auf den Schild der öffentlichen Wahrnehmung gehoben werden. Als Einübung in ein derartiges Würdigen lobe ich bei Preisvergaben stets diejenigen, die den Preis nicht bekommen, aber die Bedingung der Möglichkeit einer Auszeichnung darstellen. In Ausstellungen oder Theatern sollte man diejenigen beglückwünschen, die nicht mehr schreiben, malen oder spielen müssen. Leider gibt es noch keinen Kult für die Würdigung des Unterlassens, aber genau auf diesen Weg haben wir uns mit unseren Veranstaltungen auf dem Radlpass und im Theoriegelände begeben.
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FESTIVAL DES NICHT-EREIGNISSES AM RADLPASS Der Vorschlag, den Radlpass als Ereignisort der Zivilisationsbewegung auszurufen, knüpft an eine alte hellenistische Tradition an. Wir befinden uns gleichsam auf dem Berg Haimon. Wir tun, was einst die Verpflichtung eines intelligenten Vorgesetzten war, nämlich eine Übersicht zu gewinnen. Übersicht heißt auf Lateinisch supervisio, was bedeutet, sich einmal um die eigene Achse zu drehen und die Einheit der Welt im Zusammenschluss von Anfang und Ende der Besichtigungsdrehung wieder herzustellen. Eine solche Verpflichtung erfüllten die hellenistischen Nachfolger Alexanders, wenn sie in alljährlichen Ritualen den Berg Haimon bestiegen. Diese Einheit der Wahrheitsorientierung wurde seit langem als gestört wahrgenommen. Wir glaubten, es komme nur auf Präsidenten, Staatssekretäre, auf große Individuen an, die ihre Außerordentlichkeit darin betonten, dass ihnen ohnehin niemand folgen könne; eine logische Idiotie für jeden Künstler und Wissenschaftler. Es geht längst um die entgegengesetzte Annahme: Überlegenheit in der Souveränität des Menschseins zeigen wir dann, wenn wir uns selbst als Supervisionäre betätigen und damit für die Allgemeinheit verantwortlich fühlen, deren Bestandteil wir sind.3 Das ist das, was wir auf Bergeskuppen oder in Furten als Stätten des Übergangs zu leisten hätten. Seien wir also Alexander-Nachfolger und übernehmen die Aufgabe der hellenistischen Fürsten, die Einheit der Welt zu stiften, indem wir dem Außerordentlichen in der Seltenheit seines Vorkommens eine Chance bieten. Denn solange es keine Normalität gibt, ist es unsinnig, etwas als außerordentlich zu behaupten. Wenn der Normalfall inzwischen das Außerordentliche geworden ist, dann ist die Souveränität in der Herstellung des Nicht-Ereignisses zu sehen.
3
Bazon Brock: „Das Plateau der Freundschaft – Probleme verbinden stärker als Bekenntnisse“, in: ders.: Der Barbar als Kulturheld – Bazon Brock III: Gesammelte Schriften 1991-2002. Ästhetik des Unterlassens, Kritik der Wahrheit – wie man wird, der man nicht ist, Köln 2002, S. 390-393.
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Wie Nicole Stratmann meine Erzählungen erzählte – Bazon Brock: Der Selbstfesselungskünstler. Einführung in eine Ästhetik des Unterlassens (1995)
„Denn das Gute, soviel steht fest, ist stets das Böse, das man unterläßt.“ Erich Kästner „… die Geschichte des Scheiterns zu schreiben. Die Tradition der Geschlagenen zu pflegen. Geschichten des Versagens zu erzählen: Es war der 9. November. Oder der 31. Oktober. So gegen Morgen. Was immer es dann war, und ob es morgens war oder nachmittags oder überhaupt stattfand. Soweit es als historischer Ablauf beschreibbar […] und abbildbar ist, und wenn es auch nur so hätte sein können, wie es nicht war und wenn es auch vergeblich war, wir müssten es dazu bestimmen, für uns gewesen zu sein, damit es Beispiele gibt, Hinweise, und wenn auch nur die falschen, aber immerhin, denn anders spricht man von den Opfern gar nicht. Und Opfer sind ja die, von denen man nicht spricht.“4
„WIR FORDERN SIE AUF, ALLES IN IHRER MACHT STEHENDE ZU UNTERLASSEN“ Auf dem Jahrmarkt in Wilster fand alljährlich die atemberaubende Vorstellung eines Entfesselungskünstlers statt. Tief beeindruckt muss der Schüler Jürgen Johannes Hermann Brock Jahr für Jahr diese Vorführung verfolgt haben. Damals mochte er nicht geahnt haben, dass jene heroische Selbstentfesselung später einmal – als Umkehr- und Kippfigur – sein Selbstverständnis als Unterlassungstäter und Künstler des Verzichts prägen und so zum zentralen Thema seines eigenen Schaffens werden sollte. Krieg und Vertreibung hatten Brock bereits als Kind gelehrt, dass es keiner Anstrengung bedarf, im Menschen den reißenden Wolf zu wecken, es hingegen aber ungeheures Durchsetzungsvermögen erfordert, die Zivilisierung zu meistern. Denn tatsächlich wird die Welt fast überall und zu jeder Zeit von Chaos beherrscht, von Krieg und Gewalt, Untergang und Vernichtung. Der sogenannte Normalfall, das langweilig
4
Bazon Brock: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten, Köln 1977, S. 145.
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Bazon Brock anmutende Alltägliche, ist in Wirklichkeit die Sensation – diesen Ausnahmezustand aufrechtzuerhalten die eigentliche Leistung einer Gesellschaft: Die großen Taten der Weltgeschichte sind diejenigen, die sich selbst verhindern.5 50 Millionen Tote forderte der Zweite Weltkrieg: Opfer, aus denen nichts folgte.6 Aus seinen biographischen Erfahrungen heraus schien es für Brock immer eine der dringlichsten Aufgaben zu sein, die – wie er es in einem Interview formulierte – „natürlichen Affen in jedem Menschen zu zähmen“7. Affe steht hier wohl für Affekt. Ein unbedingtes Ausleben der Affekte stellt eine Gefahr für das menschliche Miteinander dar, vor der man sich nur durch die Anstrengung der Reflexion schützen kann. Diese Haltung erinnert an den bekannten Affektverächter Spinoza, der ein von Gefühl und Irrationalität durchzogenes Leben für wenig erstrebenswert hält. In seinem Hauptwerk, der Ethik, empfiehlt er die Beurteilung sämtlicher Handlungen am Maßstab der Besonnenheit qua Vernunft: „Das menschliche Unvermögen im Beherrschen und Beschränken der Affekte nenne ich Knechtschaft. Denn der Affekten unterworfene Mensch ist nicht in seiner eigenen Gewalt, sondern in der des Zufalls, unter dessen Herrschaft er sich so sehr befindet, daß er oft, obwohl er das für ihn Bessere sieht, dennoch dem Schlechteren zu folgen gezwungen ist.“8 – Bazon Brock also ein verkappter Spinozist, dessen höchstes Ideal sich in stoischer Gelassenheit beschreibt? Wohl kaum. Brocks Unterlassungsstrategie zielt weniger darauf, die menschlichen Gefühls- und Erregungszustände an sich aufzuheben, als vielmehr den angemessenen Umgang mit ihnen zum Thema zu erheben. Damit bezieht sich Brock nicht auf Spinoza, sondern auf Kant. Als „Philosoph des Antititanismus“ hatte Kant die „Posi-tion der Bescheidung“ im Blick auf die Grenze und das Maß des menschlich Angemessenen systematisch entwickelt und erkenntnistheoretisch begründet, und zwar „mit der frappierenden und bis heute kaum akzeptierten Schlußfolgerung des humanen Skeptizismus, daß die einzige Form des rechtfertigbaren Verlangens nach Selbsttranszendierung die Anerkenntnis der unendlichen Beschränktheit menschlichen Vermögens ist“.9
5
Bazon Brock: Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit: Die Gottsucherbande, Schriften 1978-1986, Köln 1986, S. 432.
6 7
Vgl. „Querköpfe“. TV-Film von Ingo Hamacher. WDR Köln 1991. „Die utopische Vergangenheit ist für uns inzwischen wichtiger als die utopische Zukunft“, Hans Ulrich Reck im Gespräch mit Bazon Brock, in: Baseler
8
Magazin 1/1987, S. 9. Benedictus de Spinoza: Ethik, in: ders.: Opera. Werke, hg. von K. Blumenstock, Darmstadt 1967, Bd. II, Kap. IV, praef.
9
Brock, Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, S. 25.
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Ästhetik des Unterlassens. Zur Geschichte des Nicht-Geschehenen Unterlassen ist allein negativ beschreibbar. Da es dem Denken seit jeher darum geht, das, was ist, positiv zu fassen, findet jene Kategorie des Nicht-Tuns in der Philosophie kaum Erwähnung.10 Von dieser Tradition grenzt sich Brock insofern ab, als er Unterlassen nicht im Sinne der Passivität einer „unterlassenen Hilfeleistung“ definiert, sondern vielmehr als aktive Tat verstanden wissen will. Die weitreichende Bedeutung dieses Nicht-Tuns zeigt sich besonders in ethischer Hinsicht. Moralische Ziele werden vorwiegend negativ beschrieben. Immerhin neun der zehn Gebote (also alle bis auf das Gebot, seine Eltern zu ehren) befehlen, etwas zu unterlassen, sind also eigentlich Verbote, da sie sich an der Kraft des Faktischen als negativer Realität orientieren. Gesetze benutzen die schlechte Tat als zu verneinendes Positivum.11 Die Leistungsfähigkeit solcher Beschreibung liegt für Brock vor allem darin, dass sie die Negativität des Handelns in ihre Wahrheitsvorstellung mit einbezieht. Die Aufforderung, etwas nicht zu tun, umgeht die Versuchung, eine Wahrheit (als einzig denkbare) absolut zu setzen und zeigt, dass die Falschheit immer auch ein Teil von jeder Wahrheit ist – ebenso wie die Unvernunft nicht frei und unabhängig von der Vernunft gedacht werden kann: Nur der kann unvernünftig handeln, der zur Vernunft befähigt ist. Mit seinen Forderungen nach einer gewollten Beschränkung auf das menschlich Angemessene stand Brock im Nachkriegsdeutschland nicht alleine da. Das von ihm zum Lebensprogramm erklärte Motiv der Selbstfesselung spiegelt in seiner Negativität beispielhaft die Haltung einer ganzen Generation wider: der Generation all derer, die als Kinder das Grauen des Krieges miterleben und so am eigenen Leibe erfahren mussten, wohin das totale Ausleben des Willens, mag er sich noch so großartig und heldenhaft gebärden, am Ende führt – in Tod, Untergang, Vernichtung. Ahnend oder wissend, dass jeder neue Anspruch auf Totalität unweigerlich immer nur wieder in das gleiche furchterregende Elend führen würde, vollzogen jene Kriegskinder nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems einen überraschenden Rollenwechsel. Bis dahin allein geübt in der Identifikation mit den Tätern – vom Siegfried bis zum in der Wochenschau gezeigten jungen NS-Helden – weigerten sie sich, als potentielle Weltschöpfer und Geistestäter in Aktion zu treten und begnügen sich damit, das vermeintlich Große in sich klein zu halten. Und anders als bei anderen Heranwachsenden, bei denen der Widerstand gegen die Rollen und Klischees der Generation ihrer Eltern gewöhnlich nur solange währt, bis sie end-
10 Bei Kant ist das Unterlassen beispielsweise – in Abhebung zu konstitutiven Ideen – eine bloß regulative Idee. 11 In der Rechtsphilosophie wurde diese Figur von Georg Jellinek als „normative Kraft des Faktischen“ eingeführt.
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Bazon Brock lich selber fähig sind, diese auszufüllen, verweigerten sich jene Kriegskinder grundsätzlich einem wie auch immer gearteten Willen zur Macht. Der „Politik der Ekstase“ des Nationalsozialismus stellten sie den Verzicht auf die große Tat, den „Heroismus des NichtTuns“ und das „Pathos der Prätentionslosigkeit“ gegenüber. Das war das bewundernswerte „Grundgesetz des intellektuellen Nachkriegsdeutschland“, welches lehrte, sich im Prinzipiellen zu bescheiden, und „dem Wunder des Normalzustandes in Ruhe und Ordnung und äußerster Ereignislosigkeit gern das Opfer heldischer Größe“12 brachte. „Wer die Erfahrungen meiner Generation gemacht und selber miterlebt hat, wie wenig selbstverständlich das Selbstverständliche ist“, so Brock rückblickend in einem Interview, „der wird sein Leben lang nur damit beschäftigt sein, sich selber zu fesseln und alle […] unter der Dimension des Bösen angesprochenen Aspekte in sich selbst unter Kontrolle zu halten“.13 Bemerkenswert erscheint, dass Brocks aufklärerisches Selbstverständnis als „selbstgefesselter Prometheus“, als Verhinderer und Unterlasser keineswegs die moralisierenden Warnungen der Kulturkritik vor den Gefahren übermächtiger Rationalisierungsansprüche eines technischen Zeitalters wiederholt. Im Gegenteil. Sein beharrlicher Widerstand gegen jede Form hybrider Selbst- oder Fremderhöhung thematisiert vielmehr den Missstand, dass die Rede von der Grenze der menschlichen Vernunft in unserem modernen Verständnis eine zweifelhafte Verkehrung erfahren hat. Die von Kant geforderte Besinnung auf eben jene Grenze, die sich in der Unterscheidung zwischen dem „Ding an sich“ und dem „Ding als Erscheinung“ begründet, reduziert die Welt auf die der menschlichen Erkenntnis. Es geht nicht mehr um den pathetischen Begriff der Wahrheit als Erfüllung maßloser Erkenntnisansprüche (also die Welt an sich), sondern um die Einsicht in die pragmatischen Bedingungen menschlicher Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit. Die totale Erfassung der Welt, so wie sie eigentlich, d.h. an sich ist, erklärt ein kritischer Rationalismus für unmöglich.14 Rationalität im Kontext der Kantschen Kritik bedeutet eine freiwillige Beschränkung des menschlichen Geistes auf das ihm Angemessene. Im Kontext der Brockschen Unterlassungsprogrammatik zeigt sich Rationalität demgemäß dort, wo Heroen und Tätertypen – ihrer eigenen Gefährlichkeit bewusst – alles daran setzen, sich selber zu fesseln, 12 Brock, Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit, S. 24. 13 Bazon Brock: Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er Jahre. Mit Zeichnungen aus Tagebüchern der 80er Jahre von Simon E. Wassermann/Bazon Brock, München 1990, S. 184f. 14 Der Begriff des „kritischen Rationalismus“ wird heute wesentlich als Kennzeichnung der erkenntnistheoretischen Schule Karl R. Poppers verwendet. Vgl. Karl R. Popper: Logik der Forschung, Tübingen 1971.
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Ästhetik des Unterlassens. Zur Geschichte des Nicht-Geschehenen das heißt, die in jedem steckende Hemmungslosigkeit unter Kontrolle zu bringen. „Die großen, weil unvergleichlich mühevollen Taten sind die der Verweigerung und Verhinderung; heutzutage kann jeder kapitalkräftige Hanswurst zum Beispiel ein Atomkraftwerk bauen; es zu verhindern, verlangt Genie, Durchhaltevermögen und Überzeugungskraft“.15 Die Bedeutung des Unterlassungspostulates zeigt sich besonders im Blick auf den für Brock im negativen Sinne zentralen Begriff des „Ernstfalls“. Gleichgültig, ob Ökonomie, Ökologie, ob in Fragen sozialer Innenpolitik oder im außenpolitischen Bereich – wenn wir die Chance wahren wollen, auf unsere Zukunft noch Einfluss zu nehmen, dürfen wir den Ernstfall, verstanden als Durchsetzung eines irgendwie gearteten letzten Zieles, nicht länger in unser Kalkül einbeziehen.16 „Der tödliche Ernstfall ist keine Größe mehr, die sich ins Kalkül der Mächtigen einbeziehen ließe, es sei denn um den Preis von deren Selbstvernichtung“.17 In Militärfragen ist das schon lange ein offenes Geheimnis: Eine Armee schlagkräftig zu halten ist heutzutage bekanntlich nur so lange sinnvoll, wie es keinen Krieg gibt.18 Die Intellektuellen, so Brocks Kritik, werden diesen notwendigen Rationalisierungsansprüchen zumeist jedoch nicht gerecht. Statt sich auf das innerhalb der Grenzen der menschlichen Vernunft Mögliche zu beschränken, stimulieren diese hingegen im Kontext falsch verstandener „Selbstverwirklichung“ ein unmittelbares Ausleben der Triebe, der Empfindung, der Weltaneignung, der Allmachtsphantasie. In diesem Sinne leiden wir heutzutage nicht an einem Zuviel, sondern einem Zuwenig an rationaler Energie. Mit seiner Forderung nach einer Etablierung der „Kultur diesseits des Ernstfalles“ richtet sich Brock vor allem an die Intellektuellen. Diese müssen lernen, die Täterschaft in sich selbst zu suchen: Jene Katastrophe des Zweiten Weltkrieges, so Brock, wurde nicht von den Militärs provoziert, sondern ist das Ergebnis einer aus den Fugen geratenen Geisteswissenschaft. Es gilt, dem heroischen Kult des Entfesselungskünstlers, der sich Jahr für Jahr in die Flut des Jahrmarktteiches in Wilster stürzte, die Selbstfesselung als eigentlich heldenhafte Tat entgegenzustellen. Rationalität ist dabei die einzig legitime, zivilisatorisch akzeptable Fessel.
15 Brock, Die Re-Dekade, S. 224. 16 Ebd., S. 12. 17 Ebd., S. 59. 18 Ebd., S. 127.
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Bazon Brock
Ein Gleichnis vom verlorenen Intellektuellen (1982) Wie attraktiv Carl Schmitts Werk gerade wieder für Intellektuelle geworden ist, die sich mit der alternativlosen Entwicklung zu einer Kultur diesseits des Ernstfalls nicht abfinden wollen, zeigte 1982 Karl-Heinz Bohrer in seinen Kommentaren zum Falklandkrieg. Ihm sei ein intelligenter Faschist lieber als ein dummer Sozialist, hatte Bohrer vorher schon mal verlauten lassen. Dass es doch keine intelligenten Faschisten geben kann, demonstrierte Bohrer nun mit seinen Kommentaren in schamtreibender Offenheit; immerhin ein Gewinn, allerdings nur für diejenigen, die das schon wussten. Die anderen fanden, endlich habe einmal einer gesagt, was man sich in der Bundesrepublik so lange verkneifen musste. Wer die begeisterte Zustimmung auch liebenswerter Durchschnittsdenker zu Bohrers Kriegsaufruf miterlebte, musste sich leider eingestehen, dass Bohrer nur ein Gleichnis war. Um so schlimmer. Ihn und viele andere langweilte offensichtlich die Trivialität des Lebens. Die Frustrierten konnten sich nicht länger aus bloßen Spekulationen und poetischen Schreckensbildern jene Kitzel verschaffen, nach denen sich besonders autistische Intellektuelle sehnen. Aber kann ihnen wirklich entgangen sein, dass diese Welt weit davon entfernt ist, satt und pazifiziert vor sich hinzudämmern? Ökologische Zusammenbrüche, Dauerbürgerkriege in Nordirland, Libanon, Kambodscha, neuer Nationalismus, Bankrotteursgesinnung der Parlamentarier, Bestechungsskandale, Selbstverstümmelung der Gewerkschaften, Minderheiten- und Ausländerprobleme – ganz abgesehen von den Zuständen in den Ländern der Dritten Welt, sind das Trivialitäten, die von Bohrer als kleines Spießerglück der Mainzelmenschen gewertet werden können? Selbst die immergleiche Dummheit und Trägheit der Menschen sind gerade, wenn man mit ihnen rechnen wollte, alles andere als trivial. Nein, das Problem liegt schon so, wie Bohrer es vorführte; beim Mangel an intellektueller Selbstkontrolle, im Heroismus der aus Schwäche Gnadenlosen und in dem Versuch der Rhetoriker, endlich wieder, nachdem ihnen lange nichts mehr eingefallen ist, eine auffällige Rolle zu spielen. Diese phrasenspeienden Bombasten haben offensichtlich erfahren müssen, dass sie in allen wichtigen Bewegungen der jüngsten Vergangenheit keine Rolle spielten, weder in der Ökologiebewegung noch in der Friedensbewegung oder in den Demokratiebewegungen des Ostblocks, deren Strategien nicht aus Essaysammlungen oder Poesiebänden entnommen wurden. Solche Bedeutungslosigkeit empfinden die Rhetoren als Beleidigung ihrer intellektuellen Fähigkeiten. Auch Angebote von Professuren scheinen für den gekränkten Intellekt keine hinreichende Kompensation zu bieten, da die Studenten angeblich doch bloß labern. Da desavouieren die Herren sich schon lieber selbst, um we-
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Ästhetik des Unterlassens. Zur Geschichte des Nicht-Geschehenen nigstens radikal schick zu sein und um vom lahmen Pegasus auf einen apokalyptischen Gaul umsteigen zu können. Endlich wieder eine bedeutende Rolle spielen – Ritter zwischen Tod und Teufel. Wir glaubten bis dato, Bohrer habe Carl Schmitt, Ernst Jünger, Hanns Jost & Co. nur studiert; dass er ihnen nachschreiben wollte, hätten nur Böswillige vermuten können. Genau das aber tat er mit seinem Kommentar zum Thema „Falkland und die Deutschen“ in der FAZ vom 15. Mai 1982. Vor allem anderen mahnte Bohrer Prinzipientreue an – in der Prinzipienreiterei bis zum Selbstmord waren wir Deutschen ganz einmalig und sollten sie nun auf Bohrers Empfehlung bei den Engländern bewundern. Ein kluger Rat seit alters her: „principiis obsta!“ zu Deutsch, lass Dich auf nichts ein, das als unverzichtbar und notwendig ausgesprochen wird. Die Art der Zwangsläufigkeit bestimmen jene Prinzipien, jene „letzte causa“, die Bohrer bei uns Westdeutschen so schmerzlich vermisste. Ja, Gott sei Dank, denn wir haben aus unbeschreiblich grausamen Erfahrungen gelernt, dass man hehren Prinzipien nicht folgen sollte. Unterwirf Dich erst recht nicht Zwangsläufigkeiten, wenn der Gegner dieselben Prinzipien verficht. Bohrer hielt (und hält?), was Musil als tiefste Einsicht so formulierte: „Würde auch nur ein einziges Mal mit einer der Ideen, die unser Leben bewegen, restlos Ernst gemacht, unsere Kultur wäre nicht mehr die unsere“; oder wie Syberberg in seinem Hitlerfilm zu sagen versuchte: „Als Abraham den Auftrag erhielt, seinen eigenen Sohn zu opfern, um ernst zu machen mit der Religion und dem Gottesgesetz, war es Gott selber, der ihn im letzten Augenblick daran hinderte. Diese Gnade musste Hitler vermissen in gottloser Zeit.“19 Dergleichen Gnade zu zeigen, das allein war und ist „ein Stück europäischer Zivilisation“ – und nicht das Auslaufen von Truppentransportern bei Blasmusik, das Bohrer als Leistung dieser Zivilisation emphatisch feierte. Bohrer zeigte sich auf alles gefasst, „prinzipiell“. Wenn der Ernstfall anders ausgehe als prinzipienmäßig geplant, dann sei der Falklandkreuzzug dennoch sinnvoll gewesen, weil er gezeigt habe, „wie unberechenbar trotz eben diesen genauen Berechnungen Beginn, Ablauf und Ende eines Zukunftskrieges sein kann“; als ob man das nicht gerade zuvor schon aus dem Vietnamkrieg hätte lernen können, falls das nicht ohnehin jeder längst wusste. Bohrer behauptete, diese Erfahrungen der Unkalkulierbarkeit „stünden im grellen Kontrast zur angedeuteten Friedenssoziologie“ – und angedeutet hatte er, diese Soziologie vertrete „den Frieden der infantil Gewordenen“, einen „verlogenen Pazifismus“ und „winselnde Harmlosigkeit“. Als Ausdruck „sonorer, seriöser, lakonischer, spiritueller
19 Hans-Jürgen Syberberg: Hitler. Ein Film aus Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1978, S. 247.
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Bazon Brock Noblesse“ (Bohrers Hochstimulantien) mag der Maulheld so klägliches Geprotze verstanden haben, aber Prinzipienradikalität führt „prinzipiell“ entweder zur Lächerlichkeit oder in die Ausweglosigkeit, in der die letzten Grundsätze nur noch als Lügen ihre Aura wahren. Bohrer beschuldigte „Teile der politischen Elite Westdeutschlands“, schließlich aber „die kollektive westdeutsche Psyche“, zum Auslaufen der Kriegsschiffe ihr Plazet gegeben zu haben, um dann doch zu jammern, als es ernst wurde. Bohrer log, denn er wusste natürlich, dass das Kollektiv der Westdeutschen sein Plazet zum Falklandkrieg nicht gegeben hatte; das Gegenteil war von zahllosen Bevölkerungsgruppen so ausdrücklich bekundet worden, wie ihnen das möglich gewesen ist. „Die sonore Symbolik der bekannten englischen GameStimmung und des notorischen englischen Zivilistentums sind von uns Westdeutschen nicht verstanden worden“, so Bohrer. Gelangte die Game-Stimmung der notorischen Zivilisten auf englischen Fußballfeldern nur zu symbolischem Ausdruck? Für Bohrer mögen Tote und Verletzte nur symbolisch wahrnehmbar sein. Wir können uns nur allzu gut an die Wirkung derartiger sonorer Symbolik und an die Menschenschlächterei derer erinnern, die diese Symbolik propagierten. Bohrer propagierte (ganz gesetzwidrig) den Krieg, der ja zwangsläufig die symbolische Ebene verlassen muss. Ein Intellektueller sollte den Unterschied zwischen symbolischem und irreversiblem Handeln kennen; selbstverständlich kennt Bohrer diesen Unterschied, also täuschte er nur Emotionen vor, wo er tatsächlich Verhandlungsbereitschaft und Vermittlungswillen verhöhnen wollte, zur Stigmatisierung des Konfliktgegners zum Kriegsfeind aufforderte, die Suche nach Auswegen als Gelabere verächtlich machte und die Zurückweisung sonorer Staatssymbolik als Mangel an Staatsbewusstsein auslegte. Dafür schob Bohrer den Exdeutschen Kissinger vor: „In der Falklandkrise erinnerte Britannien uns alle daran, dass gewisse Grundprinzipien wie Ehre, Gerechtigkeit und Patriotismus gültig bleiben und durch mehr als bloße Worte erhalten werden müssen“, habe Kissinger gesagt. Von dem Grundprinzip „Freiheit“ ist auffälligerweise nicht die Rede. Zum Erhalt dieser Grundprinzipien beizutragen, hätte Kissinger in Vietnam, Chile, Salvador und rund um die Welt reichlich Gelegenheit gehabt. Kissinger war offensichtlich doch zu klug, um in all diesen Fällen die Grundprinzipien um ihrer selbst willen bis zum bitteren Ende aufrechtzuerhalten. Kein Wunder, dass Bohrer meinte, „die Instinkte der alten Großmacht sind offensichtlich bei den Amerikanern nicht mehr so intakt wie bei den Engländern!“. Bohrer gab die Empfehlung auf Ehre und Patriotismus und schrieb: „Die Westdeutschen werden wieder lernen müssen, dass ihre eigene geschichtliche Katastrophe oder die Desillusionierung in der Niederlage den Wert des Patriotismus keineswegs relativierte“,
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Ästhetik des Unterlassens. Zur Geschichte des Nicht-Geschehenen also nicht einmal relativierte, geschweige denn in Frage stellte. „Die heldische Erbschaft ist, da sie nur Ruin und Tod brachte, mit Erfolg ins Gegenteil verkehrt worden.“ Das ist der blanke Zynismus von Politikkriminellen als Friedensverbrechern: Ehre, Treue und Patriotismus führten die Deutschen „nur in Ruin und Tod“; daraus aber zu lernen, gilt dann als „Verkehrung ins Gegenteil“, was man ja nur gut psychoanalytisch, als ein Versagen auffassen kann. Versagt also haben die, so Bohrer, die aus dem Ruin und Tod, in den sie Ehre, Treue und Patriotismus geführt hatten, zu lernen versuchten. Es war nicht nur „vulgäre Begriffsstutzigkeit“ (Bohrer), sondern niederträchtigste Anmaßung, uns vorzuwerfen, seinen abgewrackten Begriff von Ehre und Patriotismus nicht verstehen zu können oder in feiger, winselnder Gesinnung nicht verstehen zu wollen. Wir waren in seinen Augen wieder die vaterlandslosen Gesellen und Vaterlandsverräter. „Wer sich als Bürger nicht mit seinem Land identifiziert, muss als Feind betrachtet werden“, hörten wir aus England von jenem Massenblatt „The Sun“, aus dem Bohrer auch das ihm offensichtlich sympathischste Schimpfwort „winselnd“ abschrieb. Mit derartiger Propaganda für den Tod durch Ehre, Treue und Patriotismus schändete Bohrer das Opfer von Millionen Menschen selbst dann, wenn sie selber an derartige radikal und wortwörtlich exekutierte Prinzipien geglaubt hatten. Noch schlimmer. Wie bekannt, hielten sich durchweg jene Nazi- und andere Staatsgrößen des Dritten Reiches, sobald es für sie ernst wurde, nicht im geringsten an Ehre und Treue, die sie noch im Frühjahr ’45 bei anderen mit Waffengewalt durchzusetzen versuchten. Solche Ehre und solcher Patriotismus der Maulhelden eine „heldische Erbschaft“? Die Händler reden hoffentlich nur vom Geldverdienen, und solange sie nur davon reden, sind sie uns lieber als die Pathetiker der Ehre. Ebenso bekanntlich bezichtigten aber stets diejenigen alle anderen des platten Krämergeistes, die mit Ehre und Patriotismus im Ernstfall des Krieges die größten Geschäfte machten. Bei uns stellten leider Intellektuelle, Professoren und Journalisten stets die Garde der Kriegstreiber und der Volksverhetzer. Dass es auch viele andere gibt, wird Bohrer wohl doch noch erfahren. Hoffentlich kehrt sich das von ihm geforderte „elementare Konsequenzbewusstsein“ nicht gegen ihn selbst, den damals frisch berufenen Herrn Professor, Intellektuellen und Journalisten, den CarlSchmitt-Kenner und radikalen Verächter jeglicher Kultur diesseits des Ernstfalls.
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Bazon Brock
Wie ich mir selbst die Referenz erweise vulgo mich kritikiere Dreißig Jahre Arbeit an den Theoremen der „Ästhetik des Unterlassens“ und dem des „verbotenen Ernstfalls“ in Stichproben und Denkzetteln zu einem Symposium „Ökonomien der Zurückhaltung – Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion“ 2008 vorzutragen, führt unmissverständlich vor Augen: Fürs Gewesene gibt der Glückliche nichts, der Unglückliche schon etwas mehr, weil ihn der Verweis auf die Vergeblichkeiten auch mit seiner Zukunft vertraut macht. In Deutschland muss man offensichtlich seine Interessantheit damit begründen, dass man nichts gelernt habe, weiterhin für die Bosse die Leichen im Keller unterbringe, mit Verbrechern auf Du und Du stehe und gnadenlos die tödliche Hingabe ans Ideal bei anderen einfordere. Wer nicht wenigstens einmal in Kuba der Revolution huldigte oder mit den FührerInnen in Bayreuth Erhabenheitsgefühle ausschwitzte, erhält niemals ein Stipendium, einen Produktionszuschuss oder einen Preis – erst Anrüchigkeit ist der Wohlgeruch der Machteliten! Immer schon galt als attraktiv, wer schlau genug ist, sich nicht erwischen zu lassen. Das verweist auf die ultima ratio unseres Sozialverständnisses: die Unterscheidung zwischen legaler Kriminalität und illegaler Kriminalität. Und der Triumph intellektueller Leistungsfähigkeit äußert sich in der politisch korrekten Behauptung: Wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht das Gleiche. Alle anderen Fähigkeiten des Urteilens sollte man opportunerweise gar nicht erst zur Geltung bringen. Deshalb mache ich jetzt lieber Schluss, denn auch ich möchte einmal ein Opportunist sein. Aber dafür bin ich wohl nicht schlau genug.
Literatur Brock, Bazon: Ästhetik als Vermittlung. Arbeitsbiographie eines Generalisten, Köln 1977. – Ästhetik gegen erzwungene Unmittelbarkeit: Die Gottsucherbande, Schriften 1978–1986, Köln 1986. – „Das Plateau der Freundschaft – Probleme verbinden stärker als Bekenntnisse“, in: ders.: Der Barbar als Kulturheld – Bazon Brock III: Gesammelte Schriften 1991–2002. Ästhetik des Unterlassens, Kritik der Wahrheit – wie man wird, der man nicht ist, Köln 2002, S. 390–393.
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Ästhetik des Unterlassens. Zur Geschichte des Nicht-Geschehenen –
Die Re-Dekade. Kunst und Kultur der 80er Jahre. Mit Zeichnungen aus Tagebüchern der 80er Jahre von Simon E. Wassermann/ Bazon Brock, München 1990. – „Die utopische Vergangenheit ist für uns inzwischen wichtiger als die utopische Zukunft“, Hans Ulrich Reck im Gespräch mit Bazon Brock, in: Baseler Magazin 1/1987, S. 9. Popper, Karl R.: Logik der Forschung, Tübingen 1971. Spinoza, Benedictus de: Ethik, in: ders.: Opera. Werke, hg. v. K. Blumenstock, Darmstadt 1967. Syberberg, Hans-Jürgen: Hitler. Ein Film aus Deutschland, Reinbek bei Hamburg 1978.
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit AAGE A. HANSEN-LÖVE
Malevičs Ökonomien Der Begriff der Ökonomie gehört in all seiner Vielfalt, Widersprüchlichkeit und Ideologie zum Kernbestand des russischen Utopie- und Avantgardedenkens an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert. Die Verwendung des Begriffes bei Kazimir Malevič bezeugt in exemplarischer Weise die Verflochtenheit von Ökonomiediskurs und Kunsttheorie.1 Die sachliche Grundbedeutung des Begriffes – im Sinne einer Wirtschaftstheorie oder einer politischen Ökonomie im kapitalistischen wie im marxistischen Sinne – steht jedoch weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit Malevičs.2 Hier lässt sich vielmehr eine ideologie- und gesellschaftskritische Perspektive erkennen, die sich gegen die Kapitalisierbarkeit von Kunst und Gesellschaft bzw. vom Menschen und dessen Kreativität richtet: „Das Streben nach Ökonomismus ist ein Streben nach Kapitalismus, nach Wert, nach Akkumulation. Die Befreiung vom Ökonomismus dagegen führt zu einem völlig neuen System und neuen Verhältnissen der Menschen untereinander. Die Kunst soll diesem neuen Muster dienen; hier gibt es keine ökonomische Basis und Werteakkumulation, denn kein einziger Produzent von Kunst kennt schon sein Produkt und kann es würdigen, wie auch keine einzige Naturerscheinung 1
2
Eine Kurzfassung dieses Textes ist bereits erschienen: Aage Hansen-Löve: „Die Kunst ist nicht gestürzt. Das suprematistische Jahrzehnt“, in: Kazimir Malevič: Gott ist nicht gestürzt! Schriften zu Kunst, Kirche, Fabrik, hg., eingeleitet u. kommentiert v. Aage Hansen-Löve, München 2004, S. 255-603, S. 409-419. Malevičs Ökonomie ist im Grunde eine ‚wilde‘ Anti-Ökonomie, die sich vor allem in der beginnenden NEP-Zeit gegen die Ökonomisierung der Kunst wie der Gesellschaft richtet. Vgl. Felix Philipp Ingold: „Kunst und Ökonomie. Zur Begründung der suprematistischen Ästhetik bei Kazimir Malevič“, in: Wiener Slawistischer Almanach 4 (1979), S. 153-193.
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Aage A. Hansen-Löve ihre Produktion würdigt […]. Der Künstler fühlt sich unerhört eingeschränkt und eingequetscht und kann seine Hervorbringungen nicht frei entfalten.“3
Anders als der slawophile oder sophiologische Ökonomiebegriff (etwa bei dem Religionsphilosophen Sergej Bulgakov)4 oder der Empiriokritizismus mit seinem Organisationsdenken, verfügt Malevičs Ökonomie-Konzept über keinerlei metaphysische oder rationalistische Strukturen, denn „[d]ie Religion ist nicht ökonomisch“.5 Malevičs Ökonomie bezeichnet vielmehr eine Dimension des kunst-avantgardistischen Denkens, nämlich die Effizienz des Einsatzes künstlerischer Verfahren im Sinne der Abstraktion. Darüber hinaus entfaltet sie sich als ‚Fünfte Dimension‘ des Suprematismus, in der die Alltagsökonomie der 3-D-Welt und ihre Nützlichkeiten und Sachzwänge radikal negiert, außer Kraft gesetzt und ins Absolute transzendiert werden. Für Malevič ist die Ökonomie Ausdruck und ‚Maß der fünften Dimension‘ und damit total ungegenständlich und unbegrifflich bzw. unbegreiflich. Erstmals begegnet uns das Prinzip der Ökonomie in Malevičs Schrift Über die Neuen Systeme in der Kunst (1919) und dann im Traktat über Die Faulheit als eigentliche Wahrheit der Menschheit (1921).6 Dabei wird klar, dass für den Künstler ‚Welt-Ökonomie‘ im
3
Kazimir Malevič: „Ökonomische Gesetze“ [1924], zit. nach: Boris Groys/ Aage Hansen-Löve (Hg.): Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde, Frankfurt a. M. 2005, S. 514-518, S. 514.
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Vgl. dazu Catherine Evtuhov: The Cross & the Sickle. Sergej Bulgakov and the Fate of Russian Religious Philosophy, Ithaca/London 1997, S. 145ff. („What is Sophic Economy?“).
5
„Die Religion ist nicht ökonomisch. Doch sie richtet sich auf ein praktisches Ziel in der Zukunft, im Himmelreich. Die Kunst hat weder Zukunft noch Vergangenheit, folglich ist sie ewig heutig. Für andere Situationen existiert sowohl die Vergangenheit, die Geschichte, als auch die Zukunft – die Hoffnung.“ Kazimir Malevič: „Ökonomische Gesetze“, S. 516. Die ausführlichste Darlegung von Malevičs Trias: Kunst – Kirche – Fabrik findet sich in seiner 1922 in Vitebsk publizierten Schrift „Gott ist nicht gestürzt. Kunst, Kirche, Fabrik“, in: Kazimir Malevič: Gott ist nicht gestürzt!, München 2004, S. 64119, S. 100ff. Die von Malevič immer wieder vorgetragene Lehre von den „drei Wegen“ (Kunst – Religion – Wissenschaft bzw. Ökonomie) zielt darauf ab, die genannten Sphären auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen (Suche nach Heil und Befriedigung von Trieben), dem dann die eigentliche Überrealität des völlig zweck- und ziellosen Suprematismus entgegengestellt wird. Zur Sophia-Lehre bei Solov’ev vgl. Samuel D. Cioran: Vladimir Solov’ev and the Knighthood of the Divine Sophia, Waterloo 1977.
6
Kasimir Malevič: O novych sistemach v iskusstve. Statika i skorost (1919) (Über die neuen Systeme in der Kunst. Statik und Geschwindigkeit), Faksimile-Ausgabe der Handschrift mit deutscher Übersetzung, München 1985, S. 153f.; dt. Übers.: Über die neuen Systeme in der Kunst, Zürich 1988;
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit suprematistischen Sinne keine Kategorie der Praxis und der Arbeit, sondern der ‚Kreativität‘ und des ‚reinen Wirkens‘ darstellt.7 Diese ÖKONOMIE (in Großbuchstaben) ist eine Ökonomie des Nicht(s) gegen die pragmatisch-materialistische „Freß-Welt“,8 die sich nicht nur in der offiziellen – von der Partei verfügten – Kunst des Realismus, Neoklassizismus und Monumentalismus manifestiert, sondern eben auch – was die Sache noch verwirrender macht – im Rahmen einer fehlgeleiteten Kunstavantgarde, die sich den angewandten, utilitaristischen Verfälschungen der authentischen Avantgardekunst verschrieben hat.9 Malevič verwendet also ein und denselben Begriff für mehrere entgegengesetzte Bereiche.10 Parallel zum neoprimitivistischen Aufund Erlösungsmythos, der den Menschen als Teil des Weltkörpers universalisiert, entwickelt Malevič übergangslos das mechanistische Konstrukt einer Neuen Ökonomie der Welt-Revolution, als deren Folge das naturhafte, körperliche Prinzip des ‚Organismus‘ durch das konstruktive der ‚Organisation‘ dupliziert wird. Typisch ist auch hier die Diskursmischung aus Organik und Mechanik, Bio- und Technosphäre, Ökologie und Ökonomie, NaturChaos und seine Wachstums-Alogik vs. Sozialutopik und Revolution: „Die Welt-Energie gelangt zur Ökonomie und ein jeder ihrer Schritte in das Unendliche äußert sich in einer neuen ökonomischen Kultur der Zeichen […]. Die
„Über die Faulheit als eigentliche Wahrheit der Menschheit“, in: Kasimir Malevič: Gott ist nicht gestürzt!, S. 107-119 [„Len’ kak dejstvitel’naja istina čelovečestva. Trud kak sredstvo dostiženija istiny. Filosofija socialističeskoj idei“ (Die Faulheit als eigentliche Wahrheit der Menschheit. Die Arbeit als Mittel zur Erlangung der Wahrheit. Eine Philosophie der sozialistischen Idee), Manuskript von Kazimir Malevič, unterschrieben mit: Vitebsk, 15. Februar 1921, 5 handgeschriebene Manuskriptseiten, Stedelijk Museum; engl. Übersetzung unter dem Titel „Sloth“, in: The Artist, Infinity, Suprematism. Unpublished writings 1913-1933, hg. v. Troels Andersen, Kopenha7
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gen 1978, Bd. 4, S. 73-85]. Tat’jana V. Gorjačeva: „K ponjatiju ėkonomii tvorčestva“, in: G. F. Kovalenko (Hg.): Russkij avangard 1910-1920-h godov v evropejskom kontekste, Moskau 2000, S. 272. Aage Hansen-Löve: „Die Kunst ist nicht gestürzt“, S. 435ff. Gemeint sind hier Proletkult, Produktionismus, angewandter Konstrukti-
vismus u.a. Vgl. dazu ausführlicher „Von der Natur- zur Kulturrevolution“, in: Aage Hansen-Löve, „Die Kunst ist nicht gestürzt“, S. 380-419. 10 Felix Philipp Ingold: „Kunst und Ökonomie“, S. 158ff.; „Das Prinzip der Ökonomie markierte die Transformation der plastischen Theorie in die sozioästhetische und wurde einer der wesentlichsten Elemente der Utopie Malevičs vom vollkommenen Menschen“, Tat’jana V. Gorjačeva: „K ponjatiju ėkonomii tvorčestva“, S. 272.
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Aage A. Hansen-Löve Revolution besteht immer in einer Zerstäubung aller ökonomischen Schlüsse (Konsequenzen) der vorhergehenden Zeit. Die Kunst geht unentwegt voran, denn in ihr lebt dieselbe Energie, mit demselben einen Ziel.“11
Der Zusammenhang mit der Verfremdungstheorie des russischen Formalismus liegt hier auf der Hand. Für diesen gilt – ebenso wie für Malevič – das Postulat der ‚Entautomatisierung‘ und damit der Entökonomisierung der ästhetisch-künstlerischen Produktionsund Rezepetionsprozesse. Anders als Herbert Spencer sah der russische Formalist Viktor Šklovskij den Effekt der Kunst nicht in einer Ökonomisierung von (mechanischen, rhythmischen) Arbeitsprozessen, sondern genau umgekehrt: Die künstlerische Verfremdung verhindert Entfremdung,12 und damit ist allemal ein Arbeitsprozess und die dazugehörige Bewusstlosigkeit gemeint, die den Arbeiter im Getriebe der Modern Times chaplinesk mechanisiert. Das Streben nach ‚Dekanonisierung‘ ebenso wie nach Entautomatisierung galt aus formalistischer Sicht zunächst als nicht weiter hinterfragbar – vergleichbar nur der Ökonomie der Triebe, die bei Freud ja auch als Dampfmaschinen der Evolution ad infinitum unterwegs sind oder bei Henri Bergson als élan vital alles durchwirken und in ein perpetuum mobile verwandeln. So führt auch Šklovskij die Veränderungen in der Kunstentwicklung nicht auf Wandlungen der Umwelt, des Milieus (des „byt“) zurück, sondern primär auf die Evolution der ‚Sensitivität‘ bzw. ‚Spürbarkeit‘ der Verfahren: „Jegliche künstlerische Form durchschreitet den Weg von der Entstehung zum Tod, vom Sehen und der sensitiven Rezeption […] zum Wiedererkennen […]. Es ist falsch zu glauben, dass sich die Kunst bei ihrer Veränderung verbessert. Der Begriff der Verbesserung, des Aufstiegs selbst ist anthropomorph. Die Formen der Kunst lösen einander ab“ – und das nicht auf Zuruf aus dem Publikum oder nach dem Privatvermögen der Dichter und Denker, sondern eigengesetzlich, quasi „naturgesetzlich“.13
11 Kazimir Malevič: Über die neuen Systeme in der Kunst, S. 182. 12 Viktor Šklovskij: „Die Kunst als Verfahren“, in: ders.: Theorie der Prosa, Frankfurt a. M. 1966, S. 7-26, S. 11ff.; ausführlich dazu Aage Hansen-Löve: Der russische Formalismus. Methodologische Rekonstruktion seiner Entwicklung aus dem Prinzip der Verfremdung, Wien 1978, S. 33 u. 207f. 13 Viktor Šklovskij: Chod konja [Rösselsprung], Moskau/Berlin 1923, S. 88 u. 103; vgl. ausführlich dazu Aage Hansen-Löve: Der russische Formalismus, S. 374f.
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit
Lob der Faulheit Der für die gesamte Ökonomie, besonders aber für die sozialistischen und dann bolschewistischen Wirtschaftskonzeptionen zentrale Begriff der Arbeit verbindet sich in seiner links-utopischen Variante einerseits mit technisch-organisatorischen, anderseits mit kreativ-schöpferischen, religiösen wie künstlerischen Zielsetzungen. Es gehört jedenfalls zu den geschilderten eschatologischen wie utopischen Herkünften des Marxismus und der linken Utopien, den Begriff der Arbeit aus einer reinen Produktionsfunktion zu einem universellen, das Leben und die Kultur insgesamt legitimierenden Faktor zu machen. Der Mensch rechtfertigt seine Existenz – im Kapitalismus wie im Kommunismus – vornehmlich durch die Arbeit, die sich im wesentlich als Transformation von Natur und Materialität in Kultur und Geist bzw. Bewusstsein versteht: Die Arbeit wird solchermaßen aus der niedrigen Sphäre von Broterwerb und Versklavung (des Arbeiters) und damit aus der Hierarchie von Herrschaft und Knechtschaft emanzipiert und sublimiert zu einer (re-)kreativen, die Schöpfung demiurgisch umorganisierenden und vervollkommnenden Tätigkeit. Diese utopische Dimension der Arbeit sollte zunächst für die linke Avantgarde die Sphäre der ‚Produktion‘ und der ‚Kreation‘, der maschinell-technischen Hervorbringung von praktischen Produkten und der künstlerischen Gestaltung und Konstruktion von Artefakten bruchlos verbinden. Die Geister schieden sich jedoch alsbald genau an jener Wegscheide, wo im einen Fall die praktisch-nützliche Seite der Arbeitsökonomie und die Heroik einer Arbeitsethik dominierte – und im andern Fall die kreativ-demiurgische Rolle des Künstler-Konstruktors im Zentrum individueller und kollektiver Sinngebung stand. Damit zerbrach die ursprüngliche Bipolarität der Avantgarde-Utopie bzw. Utopie-Avantgarde in den Nützlichkeitskult einerseits und einen Autonomismus anderseits, wobei beide Pole der Avantgarde ihrerseits einer avantgardefeindlichen, staatlich verordneten Monumentalkunst (des beginnenden Sozialistischen Realismus) entgegenstanden, die das Arbeitsthema nur noch als heroische Allegorik schablonisierte. Malevičs Kritik an der Utilitarisierung der Kunst reicht bis in die Vitebsker Periode zurück (1919–1922), ja wurzelt in seiner Vorstellung von einer ‚totalen Kunst‘ im Suprematismus, der die gesamte Gegenstandswelt und ihre Notwendigkeiten – Arbeit, Nützlichkeit, Zwecke, Sinngebungen, Normen – hinter sich gelassen hat. Mit biblischem Hass verfolgte Malevič die aus seiner Sicht abtrünnigen, weil ‚angewandten Avantgardisten‘ – vor allem Rodčenko und Tatlin; nur Lisickij gelang es, seinen Konstruktivismus mit dem unerbittlichen Ungegenständlichkeitspostulaten Malevičs immer wieder in
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Aage A. Hansen-Löve Einklang zu bringen.14 Die geradezu religiöse Überhöhung der Arbeit als Selbst- und Weltneuschöpfung bei den Biokosmisten und im „religiösen Sozialismus“ bzw. Bolschewismus15 fand bei Malevič durchaus Eingang in seine Dreieinigkeit von ‚Kirche‘, ‚Fabrik‘ und ‚Kunst‘, wie er sie bei vielen Gelegenheiten immer wieder durchaus in einem positiven Sinne beschwor: nämlich als Äquivalenz, als Gleichwertigkeit der Wege zur ‚Vollkommenheit‘ und damit zum Zustand Gott als höchste Ungegenständlichkeit bzw. Suprematie: „Die Fabrik ist die Hypostase der praktischen Wissenschaft – ihr Ziel ist die materielle Vollkommenheit. Auf der Ebene der empirischen Realität schließen einander Kirche und Fabrik aus – der Suprematist ist [dagegen] bestrebt, beiden zu sagen, dass beide sich auf Gott zubewegen – und damit auf die Ungegenständlichkeit.“16 Diese Egalität der drei Wege bedeutet freilich nicht automatisch deren völlige Gleichwertigkeit: Sobald der verbindende suprematistische Aspekt, die Betrachtung „sub specie aeternitatis“ verschwindet, treten die drei Pole der genannten Trias in einen verderblichen Konkurrenzkampf; wenn die drei Sphären einander jedoch gleichgesetzt werden oder aber eine die andere dominiert, tritt gleichfalls ein Zustand der Entropie bzw. des Totalitarismus ein. Dann kippt der kreativ-künstlerische Aspekt der Ökonomie um in einen bloß praktisch-nützlichen – und beide Aspekte fallen auseinander bzw. übereinander her, wobei das Diktat des ÖkonomischPraktischen die spezifisch künstlerische Ökonomie in die Ecke des ‚L’art pour l’art‘ stellt und damit marginalisiert wenn nicht liquidiert. In der Tradition des utopischen Sozialismus, vor allem in der französischen Variante, figuriert die Arbeit als zu überwindendes Übel, das durch ein kompliziertes kombinatorisches System von Anreizen und Konkurrenzen, Fluktuation der Arbeitsplätze und Variation „anziehend gemacht werden muss“: „Die Arbeit ist widerwär-
14 Aage Hansen-Löve: „Die Kunst ist nicht gestürzt“, S. 422 u. 426ff. 15 Raimund Sesterhenn: Das Bogostroitel’stvo bei Gor’kij und Lunačarskij bis 1909. Zur ideologischen und literarischen Vorgeschichte der Parteischule von Capri, München 1982, S. 61. Vgl. zuletzt auch die Dokumentation des Biokosmismus bei: Michael Hagemeister/Boris Groys (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2005. 16 Kazimir Malevič: „Suprematizm kak bespredmetnost’“ [1922] [Suprematismus als Ungegenständlichkeit], S. 302, in: Gesammelte Werke, Bd. 3, Moskau 2000, S. 218-324.
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit tig. – Man kann sie anziehend machen. – Keine Freiheit ohne das System der anziehenden Arbeit“.17 Das zentrale Problem der Arbeit aus dieser utopischen Perspektive ist weniger das Arbeitsleid (als Über-Anstrengung) oder die Knechtschaft (als Unter-Drückung), sondern die ‚Langeweile‘ einer automatisierten Tätigkeit, die dem Grundtrieb des Menschen nach Varianz und Selbstverwirklichung entgegensteht: „die Untätigkeit verursacht unerträgliche Langeweile“18. Worum es bei der Reorganisation der Arbeit geht, ist also nicht so sehr die Befreiung aus der Herrschaft der Arbeit, sondern eher aus dem Wiederholungszwang und der daraus resultierenden Langeweile. Das Problem ist ein kombinatorisches und kann daher nur durch Kombinatorik gelöst werden, indem die Arbeitsgruppen in immer neue „Serien“19 reorganisiert und konfiguriert werden: „Die heutige Industrie drückt den Menschen auf den Stand eines Automaten oder einer Maschine herunter. […] Der Arbeiter sieht, wie durch die ewige Widerholung derselben Bewegung seine Glieder sich verkrümmen“20. Malevič interessierte sich aber durchaus nicht für eine Reorganisation der Arbeit zu einem Gesellschaftsspiel, wie es den Franzosen vorschwebte – nochmals aufgegriffen dann in Černyševskijs berühmter Romanutopie Was tun? [1863], die auf Lenin so heftig wirken und ganze Generationen von russischen Sozialrevolutionären prägen sollte.21 Auch Fouriers der französischen Aufklärung verbundene Utopik zielte darauf ab, die „Arbeit in Lust zu transformieren“, das heißt zu einer Art Glücksmaschine zu machen.22 Bei Malevič fehlt jedoch in auffälliger Weise die Kategorie des Eudämonismus, der ja jede Utopie prägt, jedoch vollends: ‚Glück‘ als personale Kategorie hat in seinem Suprematismus ebenso wenig Platz wie das Triebleben oder irgendwelche Lustkalküle.23 Die Fourier’sche
17 Viktor Considerant: „Fouriers System der sozialen Revolution“, in: Frits Kool/Werner Krause (Hg.): Die frühen Sozialisten, Bd. 1, München 1972, S. 213-241, S. 227f. 18 Ebd., S. 228. 19 Ebd., S. 230. 20 Ebd., S. 230f. Zum Fortleben der Utopien Saint-Simons, Fouriers u.a. bei den linken Utopisten vgl. Frank Edward Manuel/Fritzie Prigohzy Manuel: Utopian Thought in the Western World, Oxford 1979, S. 581ff. 21 Vgl. dazu die bahnbrechende kultursoziologische Studie von Ira Paperno: Chernyshevsky and the Age of Realism. A Study in the Semiotics of Behavior, Stanford 1988. 22 Dazu Roland Barthes: Sade – Fourier – Loyola, Frankfurt a. M. 1974, S. 98 u. 122ff. 23 Helmut Swoboda (Hg.): Der Traum vom besten Staat. Texte aus Utopien von Platon bis Morris, München 1972, S. 295ff.
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Aage A. Hansen-Löve Ökonomie der Triebe (geschweige denn jene Sigmund Freuds) und das aus der Kombinatorik der Passionen und Leidenschaften gewonnene taxonomische Gesellschaftsbild mit ihrem Perfektionismus und Geometrismus war Malevič völlig fremd.24 Der den Utopien eigentümliche Kontroll- und Vollständigkeitswahn – idealisiert als totale Planbarkeit auch des All- wie Festtags – ließ Malevič gleichfalls kalt. Eher schon interessierte ihn die Auflösung des All-Tags im All(es) und Nichts eines postmundanen Kosmos, der die Lächerlichkeit der Utopie-Idyllik25 ebenso meidet wie die Potemkinschen Monumental- und Mammut-Fassaden urbanistischer Hybris der Stalinzeit. Der Maschinismus als Realisat der Utopie-Techniken bzw. Technik-Utopien fand bei Malevič weder ironischen Eingang wie im westlichen Dadaismus und Surrealismus, noch heroischen wie im konstruktivistischen Urbanismus des Bauhaus. Dies beweisen auch Malevičs ‚Architektonen‘, Modellversuche eines neuen Mediums jenseits von Architektur und/oder Plastik – und jenseits auch der Konstruktions-Konstrukte als Artefakte bei Tatlin und den seinen.26 Malevič interessierte auch nicht so sehr die Positivierung des Maschinenmenschen im russischen oder amerikanischen Taylorismus, für ihn war die Arbeit insgesamt, und damit auch die mit ihr verbundene Ökonomie, von Übel: Folge des ‚Sündenfalls‘ des Menschen und seiner Vertreibung aus dem Paradies.27 Wie so oft wollte es Malevič auch in diesem Punkt ganz wörtlich wissen und nehmen: Die Technik ebenso wie überhaupt die Befreiung des Menschen im Sozialismus hatte ausschließlich der Überwindung der Arbeit zu dienen – und nicht ihrer Verherrlichung als kollektive Fleißaufgabe.28 Für Malevič war die Arbeit ein Überbleibsel aus der alten Sklavenwelt, wogegen die Neue Welt und der Neue Mensch auf dem Prinzip des ‚Schöpferischen‘ und der ‚Erfindung‘ basiert.
24 Evgenij Zamjatin: Wir, Köln 1984. Christopher Collins: „Samjatin, Wells und die Tradition der literarischen Utopie“, in: Rudolf Villgardter/Friedrich Krey (Hg.): Der utopische Roman, Darmstadt 1973, S. 330-343. 25 Zu Černyševskijs utopischem Roman Was tun? als Objekt der Parodie durch Dostoevskij vgl. Aage Hansen-Löve: „Diskursapokalypsen: Endtexte und Textenden. Russische Beispiele“, in: Karlheinz Stierle/Rainer Warning (Hg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, Poetik und Hermeneutik, Bd. 16, München 1996, S. 183-250, S. 212-215. 26 Zu deren praktischer Unverwertbarkeit vgl. Boris Groys: „Das Kunstwerk als nichtfunktionelle Maschine: Wladirmir Tatlin“, in: ders.: Die Erfindung Rußlands, München 1995, S. 112-119. 27 Kazimir Malevič: Gott ist nicht gestürzt, S. 96ff.; vgl. ausführlich dazu Felix Philipp Ingold: „Kunst und Ökonomie“, S. 165ff. u. 177ff. 28 Felix Philipp Ingold: „Kunst und Ökonomie“, S. 169.
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit Die Auseinandersetzung um die Identität oder Differenz zwischen mechanischer „Arbeit“ („trud“) bzw. „Produktion“ und kreativem „Schaffen“ („tvorčestvo“), die zwischen den Hardlinern des Proletkultes und den Formalisten zur selben Zeit tobte (man denke an die Polemiken dazu in der Zeitschrift Kunst der Kommune (Iskusstvo kommuny),29 gipfelte einerseits in der Gleichsetzung von beiden Dimensionen des Kreativen bei den Vertretern einer radikalen Utopie der universellen Kreativität aller Menschen und aller Aktivitäten in der vorweggenommenen Kommune und andererseits in der professionalistischen These der Formalisten, die den Eigenwert des Künstlerischen im der Perfektion und Meisterschaft handwerklichtechnischen Vermögens ansetzten. Malevičs Kampf gegen die Utilitarisierung des Künstlerischen in Theorie und Praxis der radikalen Konstruktivisten erinnert jedenfalls deutlich an die formalistischen Positionen und ihr Artifizialismus-Konzept, erfährt aber eine religiöse Überhöhung in seiner Gleichsetzung von ungegenständlicher und göttlicher Schöpferkraft, die er klar gegen die Zweckwelt der Arbeit und des gegenständlichen ‚Technikums‘ absetzt: „Gott arbeitet nicht, er schuf nur …“30, und auch dieses Schaffen findet ein Ende und seine Erfüllung im Zustand der Vollkommenheit am ‚Siebenten Tag‘, dem Tag der ‚Ruhe‘, in die sich Gott – ganz deistisch gedacht – am Ende der Erschaffung der Welt bzw. des Kosmos zurückzieht: „In sechs Tagen oder nach sechsmaligem ‚Es werde‘ hatte er die Schöpfung vollendet. Die Unvorsichtigkeit des Menschen ließ den Zorn Gottes über ihn kommen, und der Schöpfer schlug ihn dafür mit dem Fluch der Arbeit, der Geburt, dem Schweiß und dem Blut (so die Allgemeinheit). Aber hat der Mensch wirklich gesündigt und konnte Gott ihn strafen? So kann es nicht geschehen sein, denn nach der Erschaffung der Welt zog sich Gott in die ewige Ruhe zurück, betrat am siebten Tag sein nicht-denkendes Reich, folglich konnte er bereits nicht mehr wissen, was mit seinem Werk geschehen war, obwohl er eigentlich allwissend sein müßte.“31
Der mit dem Schöpfergott eins gewordene Suprematist hat die Bewegung des Schaffens – und damit der Arbeit – gleichfalls überschritten und befindet sich im Ruhezustand totaler Selbstheit. Malevič übersteigert die Weltferne der Übergottheit (die mit dem gnostisch negativ gewerteten Demiurgen nichts mehr zu tun hat), indem er die Welt- und Menschenferne Gottes ebenso postuliert wie
29 Aage Hansen-Löve: „Im Namen des Todes. Endspiele und Nullformen der russischen Avantgarde“, in: ders./Boris Groys (Hg.), Am Nullpunkt, S. 700748, S. 712ff. 30 Kazimir Malevič: Gott ist nicht gestürzt!, S. 103. 31 Ebd.
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Aage A. Hansen-Löve auch die Vollkommenheit bzw. endgültige Vollendetheit der Welt, in der es/er nichts mehr zu schaffen gibt/hat. Vorweggenommen wird dieser absolute Ruhezustand durch die von der Arbeits- und Produktionswelt diskriminierte ‚Faulheit‘, die Malevič aus der eschatologischen Sicht der absoluten Ruhe als eigentlicher und wahrer Zustand der Menschheit gilt: Diese Idee steht denn auch im Zentrum seiner Schrift Die Faulheit als wirkliche Wahrheit der Menschheit.
Die Ruhe des Absoluten Konsequenterweise mündet das Lob der Faulheit nicht in einer karnevalesk-hedonistischen Verherrlichung des Schlaraffenlandes im Geiste von Gončarovs Oblomov-Romans, sondern vielmehr in einer Verteidigung der Faulheit als Vorwegnahme der Ruhe des Absoluten, angesichts derer das im Kapitalismus wie Sozialismus gängige Lob der Arbeit diskreditiert wird. Wenn es einen Sieg des sozialistischen Systems gibt, dann doch in der Realutopie einer durch Maschinen und Technik ermöglichten Überwindung der Arbeit. „Das sozialistische System wird die Maschine noch weiter entwickeln, in eben diesem Sinn und Zweck. Ihr Sinn besteht darin, die arbeitenden Hände so weit wie möglich von der Arbeit zu befreien, in anderen Worten, das ganze arbeitende Volk oder die gesamte Menschheit zu einem faulen Hausherrn zu machen, der wie der Kapitalist seine Schwielen und seine Arbeit in die Hände des Volkes legt. Die sozialistische Menschheit überantwortet ihre Schwielen und ihren Schweiß den Muskeln der Maschinen und versorgt auch die Maschine mit unendlicher Arbeit, die nicht eine Sekunde Ruhe gibt. In Zukunft muß sich die Maschine frei machen und ihre Arbeit einem anderen Wesen auferlegen, in dem sie sich vom Joch der sozialistischen Gesellschaft befreit und auch sich selbst das Recht auf ‚Faulheit‘ sichert.“32
Im Zustand der realisierten Utopie der „Allwissenheit und Allgegenwärtigkeit“33 ist die Welt ebenso erschlossen wie abgeschlossen. Wie Gott am Siebenten Tag ruht die Arbeit und damit auch die universelle Bewegung allgemein: „Wenn wir eine solche Vollkommenheit erreicht haben, dann haben wir Gott erreicht, eben jenes Bild, das die Menschheit in ihrer Vorstellung, in Legenden oder in der Wirklichkeit entworfen hat. Es tritt das Prinzip einer neuen, letztlich göttlichen Untätigkeit und Zustandslosigkeit ein; der Mensch verschwindet,
32 Kazimir Malevič: „Die Faulheit als wirkliche Wahrheit des Menschen“, S. 111. 33 Ebd., S. 114.
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit denn er geht ein in jenes großartige Bild seines vollkommenen Entwurfes. Dasselbe wird auch die Arbeit betreffen; auch in ihr wird die Menschheit eine solche Vollkommenheit erlangen, in der seine ganze Produktion in die elementare Natur eintritt, so dass ohne jede Mühe alles im Organismus eingeht wie der Atem, der dem ganzen Organismus als die eigentliche bewegende Kraft, als Leben dient. Jenes vollkommene Bild Gottes wird auch von einer Arbeit erträumt, die den Menschen von der Arbeit befreien und jenen glückseligen Zustand erlangen will, in dem alle Fabriken und Betriebe des Menschen von sich aus funktionieren …“34
Damit ist auch schon der argumentative Zirkel wieder geschlossen, denn die Vervollkommnung bzw. Gottwerdung des Menschen macht ja tatsächlich denselben wie die Welt obsolet. Der ruhende Gott befindet sich – ganz mystisch gedacht – im übervollkommenen Zustand reiner und totaler Anschauung. Wenn der im Irdischen verharrende Mensch eine bloße „kleine Kopie jener Gottheit“ ist,35 stellt auch die menschliche Faulheit und Erholung eine kleine Kopie der großen Ruhe und Faulheit Gottes dar. Nur die Neuerer, Erfinder, die wahrhaft schöpferischen Menschen leben in der Vorwegnahme dieses großen Zustands: „Solche Menschen existieren bislang in Gestalt von Führer-Regenten, Ideengebern und Vervollkommnern“,36 die ein Ganzes Volk „in Bewegung“ versetzen können, Arbeit schaffen.37 Die der Arbeit solchermaßen enthobene Menschheit (der „Zukunft“) nimmt folglich den Ruhe- und Schau-Platz Gottes ein, in dessen Bild sie eingegangen sein wird. Aber Vorsicht! Noch ist es nicht so weit, „noch ist die Menschheit nicht in das Naturwesen der (selbsttragenden) Bewegung einbezogen“38 und zugleich herrscht noch die Angst, der Ruhezustand würde Welt und Menschheit in den Abgrund treiben. Das Paradoxon des Nichtseins besteht also im Mut, alles – die Welt und sich selbst eingeschlossen – zu verlieren bzw. aufzugeben, um in den göttlichen Zustand der Ruhe einzugehen. In der Schrift Die Welt als Ungegenständlichkeit (1923)39 nähert sich Malevič diesem Paradoxon mit dem Argument, „Arbeit und ErErholung“ seien zwei Seiten ein und desselben und damit untrenn-
34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 115. 37 Vgl. ausführlich dazu in: Aage Hansen-Löve: „Von der Bewegung zur Ruhe mit Kazimir Malevič“, in: Inke Arns/Mirjam Goller/Susanne Strätling/Georg Witte (Hg.): Kinetographien, Bielefeld 2004, S. 79-114. 38 Kazimir Malevič: Die Faulheit als wirkliche Wahrheit des Menschen, S. 115. 39 „Mir kak bespredmetnost“, dt. Übers. in: Kazimir Malevič: Gott ist nicht gestürzt!, S. 120-145.
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Aage A. Hansen-Löve bar miteinander verbunden wie „Körper und Schatten“.40 Daher ist die Erholung noch keine wirkliche (große, göttliche) Ruhe; diese kann nicht der Arbeits-Mensch (also auch nicht der Produktionist) bewirken, sondern einzig der (wahre) Künstler, also der Suprematist, der „Architekt“, dessen ungegenständliches Schaffen nicht Gebäude und Betriebe produziert, sondern ein „Weltgebäude, […] das als Ausdruck des Friedens und der Ruhe existiert“41. „Die Kunst gehört dem Volk im Grunde als Ruhe, denn sie selbst ist Ruhe, die ‚Dunkelheit‘, die man mit dem Licht psychischer Visionen von Ideen-Menschen stört: Was aber offenbart das Licht in sich dem Volke? Es sind dies neue Ideen, Bilder nützlicher Dinge, das, was es im Dunkeln nicht gibt, was Völker nicht sehen, die das Licht und die Schriftkundigkeit fürchten und die Ruhe – als das Dunkle über alles schätzen, und die der Natur, dem rein Physischen, näher stehen. Die Natur ist nur deswegen Ruhe, weil es in ihr keine Arbeit gibt, keine Tätigkeit, sondern Untätigkeit.“42
Der Produktionist bzw. die linksutopischen Konstruktivisten der 20er Jahre dagegen schaffen „utilitaristische Gebäude“ des praktischen Lebens, und damit der Welt der „Bewegung“, was es ja eben zu übersteigen gilt. Überhaupt ist das Schaffen praktischer, bequemer Dinge eine Illusion oder Fiktion, die Malevič mit der ihm eigenen Ironie als Anhäufung von Misserfolgen schildert, die an die Slapstick-Szenen bei Daniil Charms erinnern: „Obgleich es wohl überlegt war und einer rationalistischen, logischen Absicht entsprang, das wirklich bequeme Ding zu schaffen, erwies sich alles Bequeme für meinen Leib als Bequemlichkeit von kurzer Dauer; denn kaum hat sich der Leib zur Ruhe gelegt, zeigt es sich, dass, so gut das Bett auch sein mag, mir trotzdem der Arm vom Liegen steif wird, dass es sich auf der Seite nicht bequem liegt, die Stuhllehne mich nicht ruhig und gut sitzen läßt und der Körper sich hin und her wirft: […] Die praktischen Gegenstände sind in Wirklichkeit zutiefst unpraktisch, weil sie nicht einmal die von ihnen versprochenen Funktionen erfüllen: Indem sie der Bewegung verhaftet sind, bieten sie keine Ruhe.“43
Die wahre Kunst aber „vermag es, der Bewegung Einhalt zu gebieten, das Bildnis aus der Zeit zu befreien, während das Ingenieurwesen dies nicht kann, wohl aber anstrebt.“44 Um nichts besser aber funktionieren der „Geist“ und die „Seele“: Ihr Hauptfehler besteht darin, dass sie in der Welt der „Vorstellungen“ („Ideen“) gefangen sind und Erlösung durch Arbeit oder andere Leistungen verspre40 Kazimir Malevič: Die Faulheit als wirkliche Wahrheit des Menschen, S. 120. 41 Ebd. 42 Ebd., S. 121. 43 Kazimir Malevič: Die Welt als Ungegenständlichtkeit, S. 126. 44 Ebd.
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit chen, die gleichwohl in der „Statik“ (hier negativ gewertet!) des Irdischen einzementiert bleiben.45 Hier herrschen die Idee – was immer schlecht ist – und die bloße Vorstellung oder Projektion von Vollkommenheit; die falsche Statik soll diese durch Abgeschlossenheit simulieren.
‚Höhere Ökonomie‘ als Kunst der Sparsamkeit Auf ganz andere Weise herrschte das Ökonomieprinzip in der Avantgardekunst auch im Sinne von „Sparsamkeit“, rationellem Einsatz der Mittel: einmal in einem antirationalen und unpraktischen Sinne wie in Kručenychs „zaum‘“-Poetik (Laut-Dichtung] oder Malevičs Alogismus und Suprematismus, einmal in einem eher utilitären Sinne wie in Majakovskijs „angewandtem Futurismus“ als Synthese aus Agitation und Faktographie, wie er sie etwa in seinem Traktat Wie macht man Verse? theoretisch und praktisch vorexerziert hatte.46 Zweifellos spielte der Ökonomismus im Sinne von Sparsamkeit und minimalem Einsatz von Verfahren bei maximalem Effekt eine bedeutende Rolle im Kunstdenken der Avantgarde. Auch Malevič spricht in allen möglichen Varianten von einer „Verbindung von utilitärer Form und ästhetischer Wirksamkeit“.47 Gerade das in jener Zeit verbreitete Interesse an Fragen der Energetik legte eine Auseinandersetzung mit dem Prinzip der „Erhaltung der Energie“ durchaus nahe. So auch in der Kunst, wo mit vergleichbaren Argumenten der Energieersparnis „schmückende Schönheit“ und verschwenderische Ornamentik (man denke an Adolf Loos’ Verurteilung desselben) verworfen wurden.48 Dieser bloßen Schönheitsfassade stellt Malevič jene „Schönheit in der Natur“ entgegen, die auf einer Ästhetik basiert, in der zwischen den „zerstäubten Elementen“ eine ökonomische Korrelation,49 eine Art „ökonomischer Geometrismus“ (kurz „Ökonomie“) als 5. Dimension der Kunst herrscht.50 „… und dass jeder Körper bemüht ist, seine Energie zu bewahren; deshalb müssen alle meine Aktionen das Resultat ökonomischer
45 Ebd. 46 Vladimir Majakovskij: Kak delat’ stichi? (1926), dt. Übers.: Wie macht man Verse?, Frankfurt a. M. 1964. 47 Kazimir Malevič: Über die neuen Systeme in der Kunst, S. 153. 48 Adolf Loos: Ornament und Verbrechen, Wien 2000. 49 Kazimir Malevič: Über die neuen Systeme in der Kunst, S. 154. 50 Vgl. Miroslav Lamač/Jiři Padrta: „Zum Begriff des Suprematismus“, in: Antonina Gmurzynska (Hg.): Kasimir Malewitsch zum 100. Geburtstag, Köln 1978, S. 134-181, S. 164.
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Aage A. Hansen-Löve Methode sein. So bewegen sich Natur und Körper, und so bewegt sich die gesamte menschliche Kreativität.“51 Das Prinzip der Sparsamkeit reflektiert zweifellos jenen asketischen (oder etwa bei Piet Mondrian puritanischen) Zug, der auch den gesamten Abstraktionismus – vor allem dann in seiner konstruktivistischen und Bauhaus-Variante52 – prägte: Abstraktion gedacht als „Einsparung“ von Energie – im Vorgriff auf eine Ökonomie, die in Ökologie umschlägt.53 Bei Malevič bedeutet dagegen Ökonomie nicht so sehr Ein- und Ersparung von Energie (ein Prinzip, das ja auch in Freuds Trieb-Ökonomik eine zentrale Rolle spielt), sondern eher eine aktive, hyperbolische, ekstatische „Umgestaltung des Bewusstseins“ auf der Basis der Objektivierung von Naturgesetzen.54 Die Kritik an einer Schmuck-Schönheit (im Gegensatz zur einer Struktur-Schönheit des Konstruktiven in Kunst und Natur) steht auch am Ursprung einer konstruktivistischen Deutung des Suprematismus, den El Lissitzky auf die Kurzformel bringt: „Anstatt der Schönheit [der traditionellen Illusionskunst] – die Ökonomie“.55 Auch in der UNOVIS-Phase des Suprematismus in Vitebsk waren Ökonomismus-Parolen dieser Art durchaus die Regel: „Wir sind Plan, System, Organisation! Die Ökonomie sei das Richtmaß eures Schaffens! Der Sturz der alten Welt der Künste möge auf euren Handflächen eingezeichnet sein! Dass das Gesicht der Gegenwart unser Gesicht werden. Wir sind jugendlich […]
51 Kazimir Malevič: Über die neuen Systeme in der Kunst, S. 155. 52 Vgl. zum verborgenen Asketismus der Avantgarde aus der Sicht von Boris Groys: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München 1992, S. 127ff. Der Vergleich der radikalen Avantgarde mit dem frühen Christentum, wie ihn Malevič immer wieder positiv zieht, findet sich bezeichnenderweise auch im entsprechenden Kapitel bei Groys („Innovativer Tausch und Christentum“, S. 123ff. u. 127ff.). Die Verwandlung des „frühen Christentums“ in eine dem Irdischen verhaftete Reichskirche betrachtet Malevič als Paradigma für eine analoge Vergegenständlichung und Profanierung der (Kunst-)Revolution im Zuge ihrer Verstaatlichung zur offiziellen Kunstlehre bzw. zu einem aufs Praktische reduzierten Konstruktivismus. 53 Neben dem energetischen Ökonomieprinzip, das in der Biosphäre wirksam ist, orientiert sich Malevič an einem „Gesetz der Ökonomie des Denkens“, das eher auf den Empiriokritizismus verweist (Tat’jana V. Gorjačeva: „K ponjatiju ėkonomii tvorčestva“, S. 264ff. u. 273). Im Empiriokritizismus Machs und Avenarius’ wurde das Newtonsche Prinzip der Energieersparnis von der Mechanik auf die Perzeptions- und Denkprozesse selbst übertragen (M. Lamač/J. Padrta: „Zum Begriff des Suprematismus“, S. 165). 54 Ebd., S. 166; vgl. auch Felix Philipp Ingold: „Kunst und Ökonomie“, S. 156f. 55 Eliezer Lissitzky: „Neue russische Kunst“ [1922], in: El Lissitzky. Maler, Architekt, Typograph, Fotograf. Erinnerungen, Briefe, Schriften, hg. v. Sophie Lissitzky-Küppers, Dresden, 21980, S. 334-344, S. 339.
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit WIR SIND DIE SUPREMATIE DES NEUEN. Nur wir können sie schaffen, wir sind jung und rein, durch uns wird sich die neue Kunst entwickeln. […] Wir bringen der Welt neue Dinge, wir werden sie anders benennen. Die Neuerer der Jugend des ökonomischen Lebens haben die Banner der Revolution erhoben, indem sie die ehrwürdigen Greise vernichtet und die Jugend befreit haben“56
Dieser Kunst-Ökonomismus orientiert sich für Malevič einerseits an der technisch-rationellen Funktionalität (Prägnanz, Klarheit, Schnelligkeit des Erreichens eines Zieles) bzw. an der Arbeitswelt (Taylorismus) und anderseits an eben diesem rationellen Einsatz der Mittel der „energetischen Prozesse“ in der Natur selbst: „Eine jede Handlung vollzieht sich durch die Energie des Körpers“, und jeder Körper strebt nach der Erhaltung der Energie, womit er eine Antwort auf die „ökonomische Frage“ zu geben versucht. Dieses energetische Prinzip, das im Kubismus, Futurismus und schließlich im Suprematismus dominiert, kontrastiert mit dem einer „schmückenden Schönheit“ in der Naturnachahmung.57 Insofern sind die „ästhetische“ und die „ökonomische Wirksamkeit“ bzw. „Wirkung“ identisch.58 „Die Schönheit der Natur kann nicht festgehalten werden – weil wir selbst die Natur sind und zum allerraschesten Weggang streben, zur Umgestaltung der sichtbaren Welt. Die Natur will keine ewigen Schönheiten und verändert daher permanent ihre Formen und entwickelt aus dem Geschaffenen ständig neues und neues. […] Mit jedem Tag tritt die Natur mehr und mehr hervor aus der alten grünen Welt des Fleisches und Knochens und gelangt zu dem Moment, da die grüne Welt erlischt […] und durch eine neue Welt ersetzt wird.“59
Der russische Futurist Aleksej Kručenych selbst wollte – analog zu Malevičs Schwarzem Quadrat – ein ‚Modul‘ in der Dichtung schaffen (so die Zeile „cho-bo-ro“), das als Devise einer „ökonomischen Dichtung“ gelten sollte. Erstmals postulierte Kručenych 1916/17 dieses Prinzip einer ästhetischen Ökonomie, einer „Öko-Kunst“ („ėkochud“), die zugleich auch Ausdruck einer höchsten und endgültigen Universalität und Dynamik sein sollte.60 Kručenych wie Malevič arbeiteten in jener Periode gemeinsam an einer „Denk-Ökonomie“, de56 „Von der UNOWIS“, S. 297, zit. nach: Larissa A. Shadova: Suche und Experiment. Aus der Geschichte der russischen und sowjetischen Kunst zwischen 1910-1930, Dresden 1978. 57 Kazimir Malevič: Über die neuen Systeme in der Kunst, S. 155. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 157f. 60 Tat’jana V. Gorjačeva: „K ponjatiju ėkonomii tvorčestva“, S. 268; Felix Philipp Ingold: „Kunst und Ökonomie“, S. 157; Aage Hansen-Löve: „Die Kunst ist nicht gestürzt“, S. 266ff.
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Aage A. Hansen-Löve ren Tempobegeisterung durchaus italienisch-futuristische Elemente aufweist, die man an anderer Stelle durchaus kritisch abgelehnt hatte.61 Schon 1912 hatte Marinetti im „Technischen Manifest des Futurismus“ vom Prinzip der „Ökonomie der Worte“ in der Dichtung gesprochen.62
Das Schwarze Quadrat – die fünfte Dimension der Ökonomie Die futuristischen Wurzeln der „zaum‘“-Phase Malevičs (dokumentiert in seinem Briefwechsel mit Kručenych in den Jahren 1916/17)63 erfuhren dann in der suprematistischen, zumal der Vitebsker Periode eine enorme Ausweitung und Universalisierung: Dabei wurde der Ökonomiebegriff – wie so oft in Malevičs terminologischen Kipp-Figuren – in sein Gegenteil sublimiert bzw. ‚suprematisiert‘ und jeglicher Nützlichkeit oder Ersparniseleganz entkleidet. Was blieb, war die nackte Suprematie einer imaginären fünften Dimension, in der sich die Null-Form des Suprematismus bewegt und die nunmehr als ‚Ökonomie‘ bezeichnet wird.64 Die „reine Ökonomie“ wird bei Malevič nicht näher definiert, ja der Begriff selbst gehört ins Feld jener idiosynkratischen Privatsprachlichkeit, der für die Schreibweise Malevičs so typisch ist.65 Wie alle apophatischen Begriffe ist er in sich indifferent, überdimensional und also bloß apophatisch-negativ zu bestimmen als ein Jenseits der Zweckhaftigkeit und der Nutzwelt. Genau diese Idee einer
61 Vgl. Kručenychs Formel von der „zaum‘-Geschwindigkeit“ (Tat’jana V. Gorjačeva: „K ponjatiju ėkonomii tvorčestva“, S. 268). Malevičs eigenes Kunstdenken war aufs engste mit den Sprachrevolutionen der „zaum‘“-Poetik verknüpft, ja es war nur konsequent, wenn er jene Verfahren, die die Dichter aus der Bildkunst in ihre verbale Sphäre übernommen hatten, solchermaßen poetisiert in die Bildkunst repatriieren wollte. Malevič strebte nach einer „zaumnaja živopis’“, also einer transrationalen Malerei, die in jenen Jahren um 1913 eher als „Alogismus“ bekannt war (vgl. Aage Hansen-Löve: „Die Kunst ist nicht gestürzt“, S. 263ff.). 62 In: Umbro Apollonio: Der Futurismus. Manifeste und Dokumente, Köln 1972, S. 40-43. 63 Aage Hansen-Löve: „Malevičs verbaler Suprematismus als Kritik des russischen Sprach-Futurismus“, in: Reinhard Kacianka/Peter Zima (Hg.): Krise und Kritik der Sprache. Literatur zwischen Spätmoderne und Postmoderne, Tübingen/Basel 2004, S. 171-192. 64 Hans-Peter Riese: Kasimir Malewitsch, Reinbek b. Hamburg 1999, S. 84. Zu Malevič und Kručenych vgl. Tat’jana V. Gorjačeva: „K ponjatiju ėkonomii tvorčestva“, S. 266ff. 65 Felix Philipp Ingold: „Kunst und Ökonomie“, S. 154ff.
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit Null-Ökonomie der fünften Dimension (der Kunst) gewinnt im spätavantgardistischen Kunstdenken der Oberiu-Bewegung seit dem Ende der 20er Jahre eine zentrale Bedeutung.66 Analog zur Farbtrias Schwarz – Rot – Weiß entfaltet sich auch der Suprematismus aus der Phase der Ökonomie (Schwarz) in jene der Revolution und schließlich in die Sphäre reiner Wirksamkeit und Ruhe bzw. ungegenständlicher Untätigkeit („weißer Suprematismus“):67 „Als Selbsterkenntnis in der rein utilitaristischen Vollendung des ‚Allmenschen‘ im allgemeinen Lebensbereich haben sie eine weitere Bedeutung bekommen: das schwarze [Quadrat] als Zeichen der Ökonomie, das rote als Signal der Revolution, und das weiße als reine Wirkung. Das schwarze Quadrat definierte die Ökonomie, die ich als fünftes Maß in der Kunst eingeführt habe.“68
Auch in der Schrift Über neue Systeme in der Kunst ist der Begriff der Ökonomie zentral und hat mit Wirtschaft nur mehr sehr wenig zu tun: „Die ökonomische Frage ist zu meiner obersten Warte geworden, von der herab ich alle Werke der dinglichen Welt betrachte, was nicht mehr entscheidend meinen Pinsel, sondern meine Feder beschäftigen wird“.69 „Ökonomie reguliert dann die Gestaltung und die Farbgebung der suprematistischen Elemente. Das schwarze Quadrat ist das fundamentale Symbol jeder möglichen Konstruktion und jeder möglichen Bewegung von suprematistischen Formen im Raum. Es ist die regulierende innere Kraft, die jede Form hervorbringt und selber einen Aspekt der Dynamik darstellt. Durch die Ökonomie entstehen alle Dinge und bewegen sich im Raum und in der Zeit.“70 In diesem Sinne ist das Schwarze Quadrat jenes Tor, das aus der 3-D-Welt in eine andere, fünfte Dimension führt, wo die piktoralen Darstellungsmittel auf das Elementare reduziert und ökonomisiert sind und nur noch die Naturgesetze dieser Sphäre verbal projiziert, konzeptuell entworfen werden können. Das Schwarze Quadrat ist insofern auch der Rahmen bzw. der Carroll’sche Spiegel, durch
66 Aage Hansen-Löve: „Konzepte des Nichts im Kunstdenken der russischen Dichter des Absurden (Oberiu)“, in: Poetika, Bd. 26, H. 3-4, 1994, S. 308373. 67 Zur Unterscheidung verschiedener Entwicklungsphasen des Suprematismus siehe: Kazimir Malevič: Suprematismus. 34 Zeichnungen, Vitebsk 1920. 68 Kazimir Malevič: „Suprematizm. 34 risunka“, in: ders.: Essays on art, 19151928, hg. v. Troels Andersen, Kopenhagen 1968, Bd.1, S. 188; zit. nach Hans-Peter Riese: Kasimir Malewitsch, S. 84. 69 Kazimir Malevič: Über die neuen Systeme in der Kunst, S. 84. 70 Ebd., S. 85; vgl. auch Patricia Railing: On Suprematism – 34 Drawings. A little handbook of Suprematism, Forest Row 1990, S. 41.
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Aage A. Hansen-Löve den das Bewusstsein – wie Alice – in eine andere, höhere Dimension tritt. Dieser Weg durch die verschiedenen Stadien der Vervollkommnung des Neuen Menschen verfügt über seine eigene Ökonomie, deren höchster Grad eben jenseits der 3-D-Welt, ja sogar jenseits der 4-D-Welt (der Zeit) in einer 5. Dimension gipfelt. Das neue Maß – die fünfte Dimension – bezeichnet als die Ökonomie: „Nachdem ich auf die ökonomische suprematistische Fläche des Quadrats als der Vervollkommnung der Vollendung der Modernität gelangt bin, lasse ich sie zurück als Grundlage des Lebens – der ökonomischen Entwicklung seiner Wirksamkeit.“71 Die höchste Ökonomie gipfelt damit in der Überwindung des Mal-Mediums, also des Pinsels, und seine totale ‚Einsparung‘ durch die „Feder“, das heißt die programmatische „Schrift“, die alleine jene Schwelle markieren kann, über die der Geist in die Sphäre reiner Ungegenständlichkeit vordringen kann:72 „Das Problem der Ökonomie ist zu meiner wichtigsten Plattform geworden, von der aus ich alle Schöpfungen der Dingwelt betrachte, was für mich zur wichtigsten Arbeit – nicht mehr des Pinsels, sondern der Feder – geworden ist.“73 Fluchtpunkt der Evolutionsökonomie und damit der „Vervollkommnung“ vom schwarzen über das rote Quadrat ist das „weiße Quadrat“ und damit der „weiße Weltbau“ der „reinen Handlung bzw. Wirkung“ in der 5. Dimension der Kunst:74 „Die Ökonomie ist das 5. Maß (Dimension) der Modernität. […] die Ökonomie als Dimension ist immer revolutionär und niemals reaktionär. Die Ökonomie ist der Schlüssel zur Einheit. […] Durch sie wird das Wesen der Persönlichkeit eingeführt in den Sinn der Allgemeinheit der Einheit… Deshalb sind die Kollektive die Sammelkraft der Persönlichkeit, um das zerstäubte Wesen in eine Welt der Einheit der allgemeinen Wirkung überzuführen.“75
71 Kazimir Malevič: Über die neuen Systeme in der Kunst, S. 153. 72 Aage Hansen-Löve: „Feder statt Pinsel – Malevičs Korrespondenzen mit Michail Geršenzon“, Vortrag (München 2005, Oldenburg 2007), erschienen in: Rainer Grübel (Hg.): Michail Geršenzon. Seine Korrespondenz und sein Spätwerk, Oldenburg 2007, S. 163-204. 73 Zit. nach Felix Philipp Ingold: „Kunst und Ökonomie“, S. 153f. 74 Kazimir Malevič: „Suprematizm. 34 risunka“, S. 188. 75 Kazimir Malevič: „O ‚Ja‘ i kollektive“ [Über das Ich und das Kollektiv], 1920, in: ders.: Essays on art, Bd. 1, S. 233.
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit
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Aage A. Hansen-Löve –
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Kazimir Malevičs Ökonomien: Zwischen Perfektion und Faulheit –
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Ästhetik der Fadheit – Zur energetischen Ökonomie des Selbst FABIAN HEUBEL
Energiewandel in der chinesischen Schreibkunst Jean François Billeters Diskussion chinesischer Schreibkunst vermag auf beeindruckende Weise in den Zusammenhang von Energiewandel und Ästhetik einzuführen, ohne den die Kultur chinesischer Literaten unverständlich bleiben muss. Billeter zufolge haben diese ihre kreative Arbeit, in welchem Feld auch immer, „als Ergebnis einer gewissen Mobilisierung von Energien des Leibes (corps propre)“ aufgefasst.1 Entscheidend ist dabei, dass das Schreiben mit Pinsel und Tusche den Zugang zu einem Modus der Aktivität erlaubt (Billeter spricht von „activité propre“), in dem einerseits eine „vollständige Mobilisierung“ der Energien erfolgt, andererseits jedoch diese „höchste Form der Aktivität des Leibes“ die Energien nicht verausgabt, vielmehr dem Leben nährend und fördernd zugute kommen lässt. So problematisch in diesem Zusammenhang die Rede von „Mobilisierung“ und „Intensivierung“ auch sein mag, führt sie doch direkt zur Bedeutsamkeit des Motivs einer Ökonomie der Energien im Kontext der chinesischen Literatenästhetik. Im Schreiben als Übungsweg wird eine perfekte Aktivität ins Auge gefasst, die einerseits „die Virtualitäten des Leibes auf vollkommene Weise ins Werk setzt“, andererseits jede selbstzerstörerische Verschwendung und Verausgabung von Energien meidet. Im Zusammenhang seiner Diskussion des Gleichnisses vom Ochsen zerteilenden Koch Ding aus dem dritten Kapitel des Zhuangzi spricht Billeter auch von perfekt regulierter Aktivität, in der sich die „spontane Aktivität des ganzen Seins“ manifestiert und das Nähren des Lebens an das Ideal des „heiligen Menschen“ (shèngrén )) rührt.2 Dieses Verständnis korrespondiert auf interessante, in gewisser Hinsicht wohl auch irritierende Weise mit einem Verständnis von 1
Jean François Billeter: L’art chinois de l’écriture, Genf 1989, S. 174.
2
Vgl. ebd., S. 269-274.
189
Fabian Heubel Biopolitik, in der das Regieren seiner selbst und das Regieren anderer Menschen zusammenläuft: Sowohl auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene geht es darum, Lebensenergien gleichzeitig zu steigern und zu steuern. In dieser Hinsicht zeugt moderne Biopolitik allerdings bisher von einem katastrophalen Scheitern: Die Mobilisierung kreativer Energien ging einher mit einer Mobilisierung destruktiver Energien, deren Nachwirkungen letztlich das Leben der Menschheit als solcher gefährden. Übt nicht von daher die Idee von Energien, die sich ‚mobilisieren‘ lassen und gleichzeitig derart ‚effektiv‘ genutzt werden können, dass Verausgabung vermieden wird, eine gewisse Faszination aus? Vor dem Hintergrund einer solchen Fragestellung dürfte kaum ein Text besser als das Buch Zhuangzi geeignet sein, den Anfängen der chinesischen Literatenästhetik und ihrem kritischen Gehalt nachzuspüren. In diesem Sinne scheint es mir folgerichtig, dass sich Billeter nach seiner Studie zur chinesischen Kunst des Schreibens dem vertieften Studium des Zhuangzi zugewandt hat, durch die er die französischsprachige ZhuangziForschung maßgeblich beeinflusst hat.3 Besondere Bedeutung kommt dabei der Konzeption verschiedener „Regime der Aktivität“ zu, von der her sich Billeter dem eigentümlichen „Paradigma der Subjektivität“ im Zhuangzi nähert (Unterscheidung zwischen einem „himmlischen“ und einem „menschlichen“ Regime der Aktivität).4 Der Übergang von einem niederen zu einem höheren Modus der Aktivität wird dabei als ein synergetischer Effekt verstanden, als eine Verbesserung der „Integration“ von Ressourcen und Kräften im Selbst, die in ein unblockiertes und freies Spiel eintreten. Der Eintritt in den höheren Modus der Aktivität wird allerdings weniger als Aufstieg vom Körperlichen zum Geistigen gedacht, bei dem man das Körperliche überwindet und hinter sich lässt, denn als Fähigkeit, somatische und spirituelle Momente des Selbst auf dem Wege einer subtilen Regulation von Energien kommunizieren zu lassen. Dabei lässt sich Regulation keineswegs auf bewusste Kontrolle reduzieren, denn nicht das Bewusstsein wird als Sitz von Subjektivität angesehen, sondern der Leib (corps propre).5 Auch wenn sich Billeter durchaus darüber im Klaren ist, dass das Moment des Geistigen (shén 神) im Zhuangzi vielfach diesen synergetischen Zustand „perfekt integrierter Aktivität“ bezeich-
3 4
Jean François Billeter: Leçons sur le Tchouang-Tseu, Paris 2002; ders.: Études sur Tchouang-Tseu, Paris 2004. Vgl. dazu auch Romain Graziani: Fictions philosophiques du TchouangTseu, Paris 2006, S. 308; François Jullien: Nourrir sa vie, à l’écart du bonheur, Paris 2005, S. 45; deutsche Übersetzung: Sein Leben nähren. Abseits vom Glück, hg. u. übers. v. Ronald Voullié, Berlin 2006, S. 57.
5
Jean François Billeter: L’art chinois de l’écriture, S. 281.
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Ästhetik der Fadheit net,6 insistiert er auf dem Zusammenhang von „activité propre“ und „corps propre“, um auf diese Weise eine klare Abgrenzung vom dualistischen Vokabular vollziehen zu können. Dieser leibphänomenologisch geprägte Ansatz scheint mir allerdings nicht unproblematisch zu sein, weil dem chinesischen Zusammenhang von Energetik und Kreativität damit unnötige Beschränkungen auferlegt werden. Ich halte es deshalb für ratsam, begrifflich zwischen Leiblichem und Energetischem zu unterscheiden, um sodann die Differenzierung zwischen Somatischem und Spirituellem in eine energetische Konzeption des Lebens einzulassen. Sein Leben zu nähren bedeutet von daher, in eine energetische Ökonomie individuellen und kollektiven Lebens einzutreten, deren Ziel zunächst darin besteht, sich durch andauernde Kultivierung einen Zustand der Wandlungsfähigkeit zu bewahren. Billeter versucht die Bedeutung des höheren Regimes der Aktivität durch die Unterscheidung von Aktivität und Aktion (Handlung) zu erläutern: „Dies ist in der Tat der Blickwinkel der Chinesen: sie haben allenthalben die Eigenaktivität des Menschen als primäres Phänomen und seine äußere Aktion als sekundäres Phänomen betrachtet. In ihren Augen war der Edle jemand, der seine Eigenaktivität perfekt reguliert hatte und dadurch die Fähigkeit besaß, mit größter Richtigkeit und größter Ökonomie zu handeln, wenn es die Umstände erforderten. Seine Aktivität hatte Aktion nicht zum Zweck, machte jedoch seine Aktion äußerst effektiv, sobald er handelte. Die chinesische Vorliebe für „NichtHandeln“ (wu-wei) war letztlich eine Vorliebe für eine als Selbstzweck verstandene, äußerst gut regulierte Aktivität und eine praktische Wirksamkeit, die daraus zusätzlich resultierte, wenn die Gelegenheit es verlangte.“7
Billeter bemerkt weiterhin, dass die Idee einer perfekten menschlichen Aktivität aus der Perspektive der griechischen Antike oder aus derjenigen des Christentums zunächst befremdlich anmutet. Die obige Beschreibung sieht er deshalb geprägt durch einen von außen auf China gerichteten Blick, welcher der untergründigen Kohärenz des chinesischen Denkens in einer Weise theoretische Artikulation verleihen möchte, die sich so in keinem chinesischen Text findet.8 Dieser Ansatz ähnelt dem von Jullien unternommenen Versuch, das Motiv der „Effektivität“ (efficacité) auf eine Weise begrifflich zu ana-
6 7
Jean François Billeter: Leçons sur Tchouang-Tseu, S. 48; vgl. Romain Graziani: Fictions philosophiques du Tchouang-Tseu, S. 73. Jean François Billeter: L’art chinois de l’écriture, S. 269.
8
Ebd., S. 283.
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Fabian Heubel lysieren, die in China selber so nicht entwickelt worden ist.9 In beiden Fällen wird versucht, im Begriff der Effektivität (oder „Wirksamkeit“) eine Grundtendenz chinesischen Denkens zu erfassen.
Fadheit und Effektivität Vor diesem Hintergrund ist auch das Motiv energetischer Regulation von Bedeutung, welches der „wunderbaren Effektivität“ höherer Aktivität zugrunde liegt. Dieses findet sich sowohl in als daoistisch geltenden Texten als auch in solchen, die zum Kanon der konfuzianischen Klassiker gehören. Für die Erörterung des Motivs der Fadheit ist neben den Büchern Laozi und Zhuangzi vor allem der Text Zhongyong (Richard Wilhelm übersetzt „Maß und Mitte“) von Bedeutung, mit dessen Konzeption der Mitte Jullien, ähnlich wie bereits James Cahill, seine Diskussion der Fadheit beginnen lässt.10 Jullien bemerkt in seinem Kommentar zum 33. Abschnitt des Zhongyong, der Fadheit als Merkmal für den Weg des Edlen versteht, das „Herzstück des Denkens der Regulation“ sei die Überzeugung, dass „Effektivität um so größer ist, je diskreter sie bleibt“.11 Dementsprechend betont Jullien, das Unspektakuläre an der „Fadheit des Weisen“ sei die Bedingung seiner „Nicht-Erschöpfung“ (non-épuisement). Fadheit verweist auf eine unerschöpfliche Virtualität des Möglichen, die durch den Drang zur augenfälligen Aktion Schaden nimmt. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Jullien das Sich-wandlungsfähig-Halten des Selbst als einen Prozess von „Verfeinerung und Nichterlahmen“ (affinement – désenlisement) versteht, der ebenfalls vom Motiv der Fadheit geprägt ist. An dieser Stelle rührt die energetische Ökonomie des Selbst an einen Aspekt, der sich nicht in die eingeschliffene Verbindung von Energie und Intensität einfügen will. Energetik verweist in diesem Zusammenhang auf die Fähigkeit zum subtilen Übergang zwischen somatischen und spirituellen Erfahrungen sowie auf die Sphäre einer „Ästhetik der Fadheit“, die nicht positiv auf einen bestimmten Zustand der Intensität zielt, sondern negativ auf einen der „Unerschöpflichkeit“.12 Um das kritische Potential des scheinbar paradoxen Verhältnisses von Energiewandel und Ethos der Fadheit zu verstehen, ist es notwendig, dieses im Gegensatz zu Akkumulation, Mobilisierung 9
François Jullien: La propension des choses. Pour une histoire de l’efficacité en Chine, Paris 1992, S. 13. 10 Vgl. James Cahill: „Confucian elements in the theory of painting“, in: Arthur F. Wright (Hg.): The Confucian Persuasion, Stanford/ CA 1960, S. 137. 11 François Jullien: Zhong Yong. La Régulation à usage ordinaire, hg., übers. u. kommentiert v. François Jullien, o. O. 1993, S. 140. 12 Jean François Billeter: L’art chinois de l’écriture, S. 26f.
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Ästhetik der Fadheit oder Intensivierung individueller Energien zu sehen. Diese Begriffe sind mit der Tendenz zur Forcierung des Lebens untrennbar verbunden. Deshalb scheint es anachronistisch oder schlicht jenseits des Denkmöglichen zu sein, dass das Buch Zhuangzi auf eine vergleichbare Tendenz mit De-Intensivierung reagiert hat, mit einem Ideal von „Fadheit, Leere und Ohne-Tun“ (dànbó xuwú wúweí 淡泊虛無無為).13 Energetik verweist damit auf ein Zwischen, das als „Übergangsstadium des Subtilen“ (stade transitoire du subtil) die Kontinuität zwischen dem somatischen und dem spirituellen Moment von Erfahrung gewährleistet.14 Es ist dieses Moment der „Subtilität“, welches die Öffnung von Atemenergie in Richtung einer ästhetischen Erfahrung der Fadheit ermöglicht. Die Erörterung der kritischen Bedeutung des Verhältnisses von Energie und Fadheit scheint mir bestimmt von der Schwierigkeit, das zu denken. Ich jedenfalls halte das sowohl in konfuzianischen als auch in daoistischen Schriften evozierte Ethos der Fadheit auch deshalb für interessant, weil es sich heute als bedenkenswerter Versuch verstehen lässt, die transgressive Verengung der energetischen Ökonomie des Lebens immanent zu kritisieren.
Fadheit in der chinesischen Landschaftsmalerei Die chinesische Landschaftsmalerei, oder genauer: „Berg-WasserMalerei“ (shan shuĭ huà +/ ), ist nach der Schreibkunst das wichtigste Anwendungsgebiet von Pinsel und Tusche innerhalb der chinesischen Literatenkultur, über das eine Fülle von Bild- und Textmaterial Aufschluss zu geben vermag.15 Obwohl die Schreibkunst auch ohne Kenntnis der chinesischen Schrift zu faszinieren vermag, ist jene doch für eingehendere Kennerschaft unverzichtbar. Von der Landschaftsmalerei vermag eine direkte Wirksamkeit auszugehen, die, über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg, Leben verändert. Aus ihr spricht der so zarte wie nachdrückliche Appell, sich auf ein Leben zwischen Berg und Wasser einzulassen, dessen Darstellung denn auch ihr unermüdlich variierter Hauptgegenstand ist: Wanderer auf schmalen Bergpfaden; in einem Pavilion, einem luftigen Haus, bei einem Fluss oder in einem Boot „alleine sitzende“ (dúzùo @) Literaten, welche die umliegende Landschaft betrachten, in
13 Vgl. Zhuangzi, Kap. 15. 14 François Jullien: Nourrir sa vie, S. 26; dt. S. 32f. 15 Vgl. Mathias Obert: Welt als Bild: Die theoretische Grundlegung der chinesischen Berg-Wasser-Malerei zwischen dem 5. und dem 12. Jahrhundert, Freiburg/München 2007.
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Fabian Heubel Lektüre vertieft sind, ein Musikinstrument spielen; das Gespräch unter Freunden beim Betrachten eines Wasserfalls usw. Ein Xia Gui (5, 1195–1224) zugeschriebenes Bild zeigt einen die Griffbrettzither Qin spielenden Literaten mit langärmligem Gewand und aufgebundenen Haaren, der am Ufer eines schmalen Flusses sitzt.
Xia Gui (zugeschrieben), „Qin-Spiel am Fluss“ (Linliu fuqin tu ) Der im Vordergrund rechts mit kräftigen Konturlinien gezeichnete Baum bestimmt das Bild in der Vertikale, während die Horizontale vom gegenüberliegenden Flussufer geprägt ist, dessen Darstellung durch einfließendes Wasser sowie die blasser werdende Zeichnung von flächigem Ufer und angedeutetem Pflanzenwuchs auf eine Weise Ferne evoziert, die insbesondere für die song-zeitliche Malerei charakteristisch ist. Das Spiel zwischen der Leere des Wassers in der unteren Bildhälfte sowie des Himmels in der oberen und der Fülle von Nuancierungen der Tusche, die das Bild strukturieren, lässt jene Subtilität erahnen, welche mir für die chinesische Ästhe-
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Ästhetik der Fadheit tik der Fadheit charakteristisch zu sein scheint. In der Malerei, wie auch in der Qin-Musik, ist es der Verzicht auf Farben und expressive Effekte, durch den sich erst die Sphäre subtiler Erfahrungen im diffusen Grenzbereich zwischen Leere und Fülle, Sichtbarem und Unsichtbarem, Hörbarem und Unhörbarem eröffnet. 16 Die Landschaftsmalerei arbeitet auf der Grenze des Sichtbaren, die Qin-Musik auf der Grenze des Hörbaren. In diesem Sinne kreisen die Reflexionen zur Malerei um das Motiv der Atem-Energie als einem Zwischen, das im Mittelpunkt eines Prozesses der Wandlung steht, in dem das Sichtbare aus dem Unsichtbaren auftaucht und im Unsichtbaren verschwindet. Es sind die feinen Schattierungen und minimalen Übergänge von Zuständen zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die hier ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. In der chinesischen Landschaftsmalerei, so möchte ich deshalb behaupten, wird eine ästhetische Grenzerfahrung geübt, die mit energetischen Zuständen zu tun hat, aber sich des Malens von Kräften der Intensität, des Schocks, der Provokation und der Deformation enthält, aus dem die moderne europäische und amerikanische Malerei jenen Wahrheitsgehalt bezogen hat, der sie zu einer Herausforderung für die philosophische Reflexion werden ließ. Moderne Malerei ist untrennbar mit einer Ästhetik der Intensivierung und der Transgression verbunden, die sich nicht davor scheut, das „Unnatürliche“ aufzusuchen und zu verteidigen. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat in Europa die moderne Malerei begonnen, gegen die normative Gewalt klassizistischer Natürlichkeit zu rebellieren, um sodann mit dem Ideal des Naturschönen gänzlich zu brechen. Aus dieser Perspektive gesehen, scheint die klassische chinesische Landschaftsmalerei hoffnungslos befangen in einer normativ überhöhten und sentimental verklärten Konzeption von Natur. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die ästhetische Reflexion im Umkreis der Kritischen Theorie, von Adorno bis Böhme, versucht hat, das Naturschöne zu rehabilitieren und Naturästhetik als Bereich zeitgenössischer Ästhetik zu etablieren.17 Bei Adorno steht insbesondere der Begriff der Mimesis für die Bemühung um ein ästhetisches „Eingedenken der Natur“ und bildet mit demjenigen der Konstruktion einen Mittelpunkt seiner ästhetischen
16 Zur Qin-Ästhetik vgl. Robert van Gulik: The Lore of the Chinese Lute. An Essay in the Ideology of the Ch’in, Tokyo 1969. 17 Diese Ansätze sind in den Zusammenhang der allgemeineren Bemühung zu stellen, „Natur“ als ein Thema kritischer Theorie zu entwickeln. Vgl. dazu Gernot Böhme: „ …vom Interesse an vernünftigen Zuständen durchherrscht… “, in: ders./Alexandra Manzei (Hg.): Kritische Theorie der Technik und der Natur, München 2003; vgl. auch Gernot Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt a. M. 1989.
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Fabian Heubel Dialektik.18 Konstruktion und Mimesis dienen nicht nur als Leitmotive der Werkanalyse,19 sondern werden darüber hinaus zu einer Dialektik der Lebenshaltungen mit verschiedenen, aufeinander bezogenen Modi von Erfahrung und Erkenntnis stilisiert. Mimesis wird in diesem Zusammenhang über den Bereich objektivierender Nachahmung erweitert und verweist auf die Kultivierung der eigenen Erfahrungsfähigkeit in Richtung der Wahrnehmung subtiler Differenzen und Differenzierungen, in Richtung eines SichEinlassens auf die interne Bewegungsstruktur eines Objekts, auf dass dieses von selbst zu „sprechen“ beginne. Im Begriff der Mimesis zeigt sich Adornos explizit gegen den Baudelaireschen Kult von Schock und Transgression gerichtete Suche nach einer subjektiven Ökonomie der Zurückhaltung, welche sich in der Aufmerksamkeit für eine ästhetische Erfahrung äußert, die an den Bereich des Ungreifbaren, Sich-Entziehenden, Nichtidentischen heranreichen soll, ohne dass dieser metaphysisch, mystisch oder religiös verklärt würde. Ich meine, dass Fadheit (píngdàn #) einen ähnlichen Modus ästhetischer Erfahrung innerhalb der chinesischen Literatenkultur bezeichnet. Im Verlauf von Julliens Erörterung verdichtet sich Fadheit zu einem Begriff, in dem versucht wird, durch den Begriff hindurch das sich dem begrifflichen Denken Entziehende zu denken. Julliens Nachdenken über die Schwierigkeit, Vages und Unbestimmtes zu denken, korrespondiert mit Adornos Bemühen, in Begriffen Nichtidentisches zu artikulieren. Am Schluss seiner Lobrede auf die Fadheit schreibt Jullien zum Motiv der „Geschmacklosigkeit“ in China: „Ihre Transzendenz mündet nicht in einer anderen Welt, sondern wird im Modus der Immanenz selbst gelebt (aus dieser Perspektive hören die beiden Termini endlich auf, einander entgegengesetzt zu sein). Fadheit ist diese Erfah-
18 Vgl. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, S. 180. 19 Dabei steht die musikalische Werkanalyse im Vordergrund, so dass Adorno etwa bei Schönberg das konstruktive Moment und bei Webern das mimetische Moment betonen kann. Im hiesigen Zusammenhang ist bemerkenswert, dass dabei vom Atmen in Weberns Musik die Rede ist (vgl. Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 17, Frankfurt a. M. 1973-1986, S. 208). Als Modelle mimetischer Erfahrung standen Adorno neben Marcel Prousts „Suche nach der verlorenen Zeit“ oder auch Goethes ästhetische Naturerkenntnis vor Augen; vgl. dazu Alfred Schmidt: Goethes herrlich leuchtende Natur. Philosophische Studie zur deutschen Spätaufklärung, München 1984.
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Ästhetik der Fadheit rung von ‚Transzendenz‘ versöhnt mit der Natur und: entbunden vom Glauben.20
Mit dieser vom Begriff der Fadheit geprägten Bestimmung immanenter Transzendenz scheint mir der tiefste Punkt ästhetischer Korrespondenz zwischen kritischer Theorie und Neukonfuzianismus berührt zu sein. An dieser Stelle kann ich selbstverständlich nur andeutungsweise auf die philosophische Bedeutung des Zusammenhangs von Malerei und Fadheit eingehen. Ich möchte dies tun, indem ich Adornos Ästhetische Theorie und das in den 1960er Jahren publizierte Buch von Xu Fuguan (7) mit dem Titel Der Geist der chinesischen Kunst (zhongguó yìshù jingshén =,) in Beziehung setze.21 Dieses Vorgehen ist für mich methodologisch naheliegend, insofern damit versucht wird, die chinesischsprachige Philosophie des 20. Jahrhunderts in zeitgenössische Diskussionen einzubeziehen und, im hiesigen Zusammenhang, als Brücke zwischen der Ästhetik Adornos und der chinesischen Kunst zu verwenden.
Hart und weich Im letzten Teil von Der Geist der chinesischen Kunst kritisiert Xu Fuguan den einflussreichen Maler und Malereitheoretiker der MingZeit Dong Qichang ($, 1555–1636) und die von ihm eingeführte idealtypische Unterscheidung der Berg-Wasser-Malerei in Nord- und Südschule, wobei erstere die professionelle Hofmalerei und zweitere die freie Literatenmalerei bezeichnet, die Dong im Besonderen durch Fadheit charakterisiert sah. Xu wendet sich allerdings nicht gegen den Zusammenhang von Literatenmalerei und Fadheit als solchen, wirft Dong vielmehr ein allzu „weiches“ Verständnis von Fadheit vor. Diese Kritik ist auch bemerkenswert, weil Julliens Interpretation von Fadheit ebenfalls zu einem solchen Verständnis tendiert, indem
20 François Jullien: Eloge de la fadeur. A partir de la pensée et de l’esthtétique de la Chine, Paris 1991, S. 127; deutsche Übersetzung: Über das Fade. Eine Eloge, Berlin 1999, S. 180. 21 Xu Fuguan (1903-1983) gilt als einer der herausragenden Vertreter des zeitgenössischen Neokonfuzianismus, der sich nach 1949 in Taiwan und Hongkong entwickelt hat. Er hat sich vor allem mit der chinesischen Geistesgeschichte und mit dem politischen Denken Chinas beschäftigt. Darüber hinaus gehört sein Buch über den Geist der chinesischen Kunst zu den Klassikern ästhetischer Theorie im chinesischsprachigen Kontext. In diesem nimmt die Diskussion der Landschaftsmalerei breiten Raum ein, und es erörtert beispielhaft die Bedeutung asketischer Kultivierung für die chinesische Literatenästhetik.
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Fabian Heubel Fadheit eindimensional mit Subjektlosigkeit, Positionslosigkeit, Unbestimmtheit, In-Differenz und Virtualität assoziiert wird. Was dabei außer Acht bleibt, ist die Bedeutung von Fadheit als Verwirklichung und Idealzustand einer Haltung, die weder loslässt noch anhaftet: zwischen Subjektivierung und Subjektlosigkeit, zwischen Position und Positionslosigkeit, zwischen Bestimmtheit und Unbestimmtheit, zwischen Differenzierung und In-Differenz, zwischen Aktualisierung und Virtualität. Bei aller Sympathie, die bei ihm für das Motiv der Fadheit zu spüren ist, gilt ihm diese doch kaum mehr denn als ästhetische Überhöhung von politischem Konformismus und intellektueller Kritiklosigkeit, die dem literarischen Denken pauschal unterstellt wird. Aus Xu Fuguans Perspektive ist dies eine „weiche“ Interpretation von Fadheit und ihrer Bedeutung in Denken und Ästhetik chinesischer Literaten. Xu insistiert darauf, dass das Moment des „Weichen“ (róu *) in den Lehren von Laozi und Zhuangzi auf „Hartem und Großem“ fußt, einer „hart-großen Atem-Energie“ (gangdà zhi qì < ), und dass die „Kultivierungsstufe der Fadheit“ (pingdàn de jìngjìe # )22 Weiches und Hartes, eine weiche und eine harte Lebenshaltung zu vereinen vermag. Zhuangzi, so Xus Beispiel, habe das Anstellungsangebot des Königs von Chu ausgeschlagen und damit eine weltflüchtige, weiche Haltung eingenommen. Aber zeugt die furchtlose Entschiedenheit dieser Haltung nicht auch von Härte? (Vgl. Zhuangzi, Kap. 17) Dieses Moment der Härte, das Xu auch in Zhuangzis literarischem Stil ausgedrückt sieht, tut, seiner Auffassung nach, dessen „Geist der Fadheit“ (pingdàn de jingshén # ,) keinen Abbruch.23 Dementsprechend wirft er Dong Qichang vor, das Fade einseitig als Übereinstimmung mit „natürlich-weicher Schönheit“ verstanden (A?'*< .) und die Seite der „harten Schönheit“ (yánggang zhi mĕi < ) vernachlässigt zu haben.24 Wie werden weiche und harte Fadheit in der Tuschmalerei dargestellt? Diese Frage möchte ich mit dem Hinweis auf zwei Bildbeispiele beantworten. Als Beispiel für weiche Fadheit oder, negativ konnotiert, weichliche Fadheit ließen sich Dong Qichangs eigene Bilder anführen, weil sie die von Xu Fuguan beschriebene Tendenz besonders deutlich zum Ausdruck bringen. Ich möchte jedoch an dieser Stelle keine Negativbeispiele diskutieren, sondern das Bild eines Malers anführen, der zu den auch von Dong besonders hoch geschätzten Vertretern der Literatenmalerei gehört. Das Bild „Grünliche Jiuzhu-Gipfel“
22 Xu Fuguan: Der Geist der chinesischen Kunst (Zhongguo yishu jingshen 中國藝術精神), Taipei 1966, S. 412. 23 Ebd., S. 462. 24 Ebd., S. 463.
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Ästhetik der Fadheit (Jiŭzhufeng cuìtu > ) von Huang Gongwang (1269–1354), der von der chinesischen Kunstkritik als einer der vier großen Meister der Yuan-Zeit (1271–1368) bezeichnet wird, fallen zunächst die flächig-schattiert gezeichneten Berge auf.
Huang Gongwang , „Grünliche Jiuzhu-Gipfel“ (Jiuzhufeng cuitu ) Im Unterschied zu dem oben erwähnten Bild des Qin-Spielers fehlt ein dominantes Motiv im Vordergrund, und im Unterschied zu Huangs berühmtestem, im Palastmuseum von Taipei erhaltenen Bild
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Fabian Heubel mit dem Titel „Wohnen in den Fuchun-Bergen“ (Fùchun shanjutú +) bleiben die langgezogenen Strukturlinien eher unauffällig. Stattdessen gleitet der betrachtende Blick über das vom unteren Bildrand aus schmaler werdende, leicht gewundene Wasser in das Bild hinein, bis zu einem mit wenigen Strichen angedeuteten Haus in der Tiefe des Bildes, hinter dem ineinandergeschobene Berge aufragen. Diese führen auf der linken Bildseite zu mehreren Gipfeln, werden hingegen auf der rechten Bildseite nach der Ferne hin flacher, um in blass angedeuteten Hügeln auszuklingen. Bei genauerem Betrachten zeigt sich, dass sich an der Stelle des Hauses in der Bildmitte zwei diagonale Konstruktionslinien kreuzen, von denen die eine vom rechten vorderen Bildwinkel auf den linken hinteren und die andere vom linken vorderen auf den rechten hinteren zuläuft. Der zweiten Linie scheint insofern ein gewisser Vorrang zuzukommen, insofern die links vorne mit kräftiger Tusche gemalten Baumblätter eine nächste Nähe bezeichnen, welche in der fernsten Ferne im rechten oberen Bereich des Bildes verdämmert, die zudem durch die Leere der rechten oberen Ecke betont wird. Zu diesen konstruktiven Bildelementen kommt die außerordentliche Differenziertheit des Malers im Umgang mit Wasser und Tusche (shuĭmò /!), die dem Bild jene subtile Lebendigkeit verleiht, die „unerschöpflich“ ist, weil sie die malerischen Mittel nicht ausschöpft und große Zurückhaltung im Umgang mit schnellen Effekten übt. Möglichkeiten nicht auszuschöpfen und ungenutzt zu lassen, deutet auf das Motiv des Restlassens (yú ), das bereits in antiken Texten in diesem Zusammenhang auftaucht und dem in der zeitgenössischen Diskussion von Fadheit besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird.25 Die Übung des Restlassens ermöglicht einen gelassenen Umgang mit dem Leeren im Bild, das wiederum den Charakter von Unendlichkeit und Unbegrenztheit hervortreten lässt. Als Beispiel für harte Fadheit möchte ich das Bild „Wunderliches gelbes Meer“ (Huánghăi língqí %) von Hong Ren ((, 1610–1664) anführen, dessen Kunst Ni Zan (1301–1374) – neben Huang Gongwang einer der Großmeister fader Malerei in der YuanZeit – beerbt.
25 Vgl. Xia Kejun 5, Philosophie der Fadheit (Pingdan de zhexue # ;), Beijing 2009.
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Ästhetik der Fadheit
Hong Ren , „Wunderliches gelbes Meer“ (Huanghai lingqi )
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Fabian Heubel Er verleiht Fadheit eine Härte, in deren „trocken-bitterer“ (kŭsè ) Note manche Kritiker jene subtile wie unerschöpfliche Lebendigkeit vermissen, durch welche der erste Eindruck von Mangel und Leere bei der Wahrnehmung eines faden Kunstwerks sich als oberflächlich erweist, um dann, allmählich, der Wahrnehmung von Reichtum und Fülle zu weichen. Der Aufbau dieses Bildes von Hong Ren zeigt allerdings gerade nicht jene flächige Ferne, die durch Ni Zans Bilder populär wurde, sondern erinnert durch die steil aufragende Felswand im Vordergrund eher an die massive Wuchtigkeit der Berge in den klassischen Werken der nördlichen Song-Zeit, auf die Xu Fuguans Rede von der harten Schönheit vor allem anspielt. Im Vergleich etwa mit dem Bild „Vorfrühling“ (Zăochun tú :) von Guo Xi (4, ca.1020–1090) fällt allerdings sogleich eine geradezu extreme Verarmung auf, die so weit geht, dass die Bäume im Vordergrund eher an den sterbenden Baum aus Samuel Becketts Waiting for Godot erinnern als an die im Frühling neu zum Leben erwachenden, sich fingergleich gen Himmel streckenden aus Guo Xis Bild. Dazu kommt die schroffe Scharflinigkeit der langgezogenen Konturlinien und die mit trockener Tusche angedeutete Flächigkeit des Berges, der nur sehr spärlich bewachsen ist. In dieser menschenleeren Szenerie wirken Haus und Pavillon nicht gerade heimelig, verstärken vielmehr die Atmosphäre kühler Einsamkeit, die schon Ni Zans Bildern verströmten. Die konstruktive Verarmung des Bildes und die Trockenheit von Tuschebehandlung und Pinseltechnik bezeugen sicherlich Hong Rens Aufarbeitung jener historisch-kulturellen Bitterkeit, die durch die Turbulenzen des Übergangs von der Ming-Zeit zur Qing-Zeit ausgelöst wurde. Die reduzierte Lebendigkeit lässt das Bild jedoch nicht in Verzweiflung versinken. Die harte, aber gleichwohl fragil wirkende Sehnigkeit der Linien verleiht ihm vielmehr einen Gestus zarter Widerständigkeit, in der Fadheit und Kritik sich berühren.
Unendliche Ferne In diesem Sinne lässt sich auch Xu Fuguans Versuch verstehen, die in den wirkmächtigen Schriften Dong Qichangs sich ausdrückende ästhetische Tendenz in einen größeren kultur- und sozialhistorischen Zusammenhang zu stellen: Die Unterscheidung zwischen Nord- und Südschule der Malerei zeugt ihm von einer Betonung der „Techniken egoistischer Weltanpassung“ (yìngshi zìsi zhi shù -?0